1.
Cnossos war dem Wolfsrudel vorausgeflogen, um die
Gegend zu erkunden. Nun kehrte er zufrieden zurück.
Das enge Wasser, jene Meerenge, an der die
Westländer mit den Ländern des Ostens fast
zusammenstießen, war nur noch einen Tagesritt
entfernt. Morgen um diese Zeit würden die Horden der
Nacht das enge Wasser überqueren können.
Eine besonders erfreuliche Tatsache für Cnossos
war, daß auf dem Weg dorthin keine einzige Stadt
mehr lag. Es gab nur noch einige wenige Gehöfte, die
von seinen Wolfsmenschen und deren Wölfen spielend
überrannt werden würden.
Die Wolfsmenschen wurden sicherlich enttäuscht
sein, daß ihnen auf dem Weg nach Osten nicht mehr
Opfer in die Hände fielen, an deren Blut sie sich
berauschen konnten. Aber Cnossos war es ganz recht
so. Je weniger Menschen sich den Horden der Nacht in
den Weg stellten, desto rascher kamen sie voran, desto
eher würden sie die Ostländer überschwemmen, und
um so schneller würden sie auf Dragons Heer stoßen.
Cnossos dürstete nach Rache – und er wollte sie bald
haben.
Er wollte keine Rücksicht mehr nehmen.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte er
Hemmungen verspürt, Dragon einfach kaltblütig zu
ermorden. Dabei hätte er Gelegenheit dazu gehabt,
damals, im Lager der Söhne Nuaks, als Dragon unter
der Wirkung des Traumpulvers stand und ihm hilflos
ausgeliefert war. Doch Cnossos hatte zu lange
gezögert.
Er erkannte Dragon als einen der Atlanter aus der
Zeit vor der großen Katastrophe. Er erkannte ihn als
einen seiner Widersacher und brachte es nicht über
sich, ihn kurzerhand zu töten wie irgendeinen anderen
Menschen dieser barbarischen Welt. Dieser Anflug von
Sentimentalität hatte Dragon das Leben gerettet.
Noch einmal würde Cnossos jedoch nicht weich
werden, das schwor er sich. Er legte auch keinen
besonderen Wert mehr darauf, Dragon durch eigene
Hand sterben zu lassen. Das konnten auch die Horden
der Nacht erledigen und ohne daß er selbst anwesend
war. Er hatte seine diesbezüglichen Pläne geändert.
Er, Cnossos, war zweifellos das mächtigste Wesen
dieser Welt. Seine Macht reichte über alle Kontinente
und in alle Länder dieses Planeten, aber er beherrschte
ihn nicht vollkommen. Er hatte seine Macht bisher zu
nachlässig gehandhabt, weil er keine Notwendigkeit
sah, härter durchzugreifen.
Bisher hatte es einfach keinen Gegner für ihn
gegeben, mit dem er sich messen konnte. Seit Dragon
jedoch erwacht war und seinen Schrein verlassen hatte,
war das anders. Plötzlich stand Cnossos ein
Widersacher gegenüber, der ihm ebenbürtig war.
Cnossos‘ Stärke bestand jedoch darin, daß er überall
Diener hatte, die ihn als Gott verehrten und ihm
bedingungslos gehorchten – wie die Vampire, die
Untoten und die Horden der Nacht.
Letztere vor allem wollte er nun einsetzen, um
Dragon vernichtend zu schlagen und seinen steilen
Höhenflug blitzartig zu beenden. Für Cnossos gab es
keinen Zweifel, daß die Wolfsmenschen das Heer des
Atlanters aufreiben würden. Deshalb plante er schon
weiter. Er mußte seine Macht festigen, um zu
verhindern, daß es in der Zukunft noch einmal einem
Mann wie Dragon gelingen konnte, zu einem
ernstzunehmenden Widersacher zu werden.
Aus diesem Grunde zog es Cnossos nach Myra, um
dort das für sich zu verwirklichen, was Dragon
anstrebte: Cnossos wollte sich zum König von
Myranien ausrufen lassen, um mit den Streitkräften
dieses Landes alle gegnerischen Heere hinwegzufegen.
Die Sonne war bereits untergegangen, als Cnossos über
den noch rauchenden Trümmern der kleinen Stadt
kreiste.
Die Horden der Nacht hatten diese Ansiedlung um
die Mittagsstunde erreicht und hier schrecklich
gewütet.
Cnossos hatte seine Kinder des schwarzen Blutes
gewähren lassen, obwohl sie das einen ganzen Tag
lang aufhielt. Er hätte sie lieber vorangetrieben, damit
sie rascher auf Dragons Armee stießen. Aber er konnte
ihr Temperament nicht zügeln.
Cnossos, noch immer in Geiergestalt, ging tiefer.
Während er über den Trümmern kreiste, hielt er nach
Wirch Ausschau. Wirch war nicht nur stark, sondern
auch überaus klug. Es gab sogar stärkere
Wolfsmenschen, aber seiner überragenden Intelligenz
hatte er es zu verdanken, daß er sich als Rudelführer
behaupten konnte.
Die Wölfe stimmten ein ehrfürchtiges Geheul an, als
sie den Riesengeier über sich hinwegsegeln sahen. Ihr
Verstand reichte nicht aus, um die Zusammenhänge zu
erkennen, aber da ihre Herren den Riesengeier als
ihren Gott verehrten, unterwarfen sie sich ihm
ebenfalls.
Mit zunehmender Dunkelheit hatten immer mehr
Wolfsmenschen ihre Verwandlung abgeschlossen. Sie
kamen in Begleitung ihrer Tiere aus den Verstecken
und streunten unruhig durch die Ruinen. Sie suchten
nach weiteren Opfern, stießen aber überall nur auf
Tote.
Auch ihrem Rudelführer Wirch erging es nicht
anders. Nach der vollzogenen Verwandlung lief er mit
seinen Wölfen unruhig durch die Ruinenstadt.
Als Cnossos ihn erspähte, hockte er gerade auf einer
der Mauern und heulte den Mond an. Cnossos stürzte
auf ihn hinunter, während er gleichzeitig sein
Aussehen veränderte. Er verscheuchte Wirch mit
einigen Flügelschlägen von seinem Platz und ließ sich
selbst darauf nieder, nachdem ihm menschliche Beine
gewachsen waren.
Wirch warf sich mit eingezogenem Schwanz vor ihm
zu Boden. Sein Geheul rief die anderen Wolfsmenschen
herbei, und bald hatte sich das gesamte Rudel
eingefunden und um Cnossos‘ Standplatz versammelt.
Der Balamiter hatte immer noch die Schwingen
eines Geiers, wenngleich sein. Körper der eines
Menschen war und sein Gesicht die Fratze eines
Wolfes.
Der Umhang, der ihm vom Rücken wehte und die
Geierschwingen halb verbarg, war ebenfalls aus seiner
Körpersubstanz geschaffen.
Er war sich der Wirkung, die er auf die
Wolfsmenschen hatte, vollauf bewußt, als er mit seiner
donnerartigen Stimme zu ihnen sprach.
»Ich habe euch einen nie versiegenden Strom von
Menschenblut versprochen, wenn ihr mir in die Länder
des Ostens folgt, meine Söhne!« rief er. »Und ich kann
eure Enttäuschung und eure Ungeduld verstehen, daß
ihr noch nicht an dieser Quelle euren Durst stillen
könnt. Aber ihr wißt, daß das Blut dem Wolf nicht
entgegenfließt, der Wolf muß ihm nachlaufen.«
Cnossos wartete ab, bis das Geheul der
Wolfsmenschen verebbte. Dann fuhr er fort, indem er
die Geierschwingen ausbreitete, die sich plötzlich in
Menschenarme verwandelten:
»Dies hier ist nur eine unbedeutende Station auf
dem Weg zu den Quellen des Blutes und nicht wert,
daß man sich hier länger aufhält. Ihr müßt weiter nach
Osten ziehen – und ihr müßt euch beeilen, bevor euch
das unstillbare Verlangen den Kopf verlieren läßt.
Verlaßt diesen Ort wieder, der nur eure Sehnsüchte
geweckt, aber euren Durst nicht gestillt hat. Ihr werdet
den Weg zu den Quellen des Blutes auch finden, selbst
wenn ich euch nicht mehr den Weg weise. Denn ihr
habt in Wirch einen Rudelführer, wie er nur alle zwölf
Sommer bei Vollmond geboren wird.«
Die Wolfsmenschen huldigten ihrem Rudelführer in
einem vielkehligen Geheul, aber Cnossos merkte auch,
daß sie verwirrt und enttäuscht waren. Sie waren klug
genug, um seinen Worten entnehmen zu können, daß
er sie bald verlassen und nicht, wie versprochen, bis
ans Ziel geleiten wurde.
Er mußte etwas tun, um ihren Unmut zu
verscheuchen. Er konnte nicht riskieren, daß sie gegen
ihren Rudelführer aufbegehrten und sich in alle Winde
zerstreuten, kaum daß er, Cnossos, sie verlassen hatte.
Die Wolfsmenschen brauchten ein Wunder, ein
magisches Ereignis, das die Erinnerung und den
Glauben an ihn festigte und bewirkte, daß sie ihre
Bestimmung nicht vergaßen.
Cnossos wollte ihnen das Wunder geben.
»Wenn ich nicht mehr bei euch bin, so werde ich
euch nicht wirklich verlassen haben, sondern in Wirch
weiterleben«, rief Cnossos seinen Geschöpfen zu. »Ihr
sollt mit eigenen Augen sehen, wie Wirch zu einem
Teil von mir wird.«
Der Rudelführer starrte fasziniert zu seinem Gott
auf. Bei seinen letzten Worten wurde er jedoch
unruhig. Er spürte mit seinem Instinkt, daß ein
Ereignis bevorstand, das ihn zum Mittelpunkt eines
übernatürlichen Vorgangs machen würde. Das ehrte
ihn, aber er fürchtete sich auch davor.
»Komm zu mir herauf, Wirch!« befahl Cnossos.
Der Wolfsmensch richtete sich zu seiner vollen
Größe auf und kam mit eingezogener Rute den Hang
zu dem Mauerrest herauf.
Es wurde vollkommen still, als sich Cnossos‘
Umhang plötzlich von seinen Schultern löste und aus
eigener Kraft in die Luft schwebte. Die Wolfsmenschen
verfolgten mit glühenden Augen jede Phase der
Verwandlung, die mit dem Umhang vor sich ging.
Das stoffähnliche Gebilde schrumpfte zusammen,
ein Körper bildete sich ... und ein Vogelkopf mit einem
langen, spitzen Schnabel ... ein Teil des wallenden
Stoffes breitete sich zu majestätischen Flügeln aus und
wurde unter den Blicken der Wolfsmenschen gefiedert.
Auf diese Weise bildete sich aus der Körpersubstanz
des Wolfsgottes ein Vogel, wie er im Wolfsland noch
nie gesehen worden war. Er war nicht klein, aber auch
nicht besonders groß und gerade so schwer, daß ein
Mann ihn mühelos auf dem Arm tragen konnte.
Dieser Vogel, einer übergroßen Krähe ähnlich, nur
mit viel längerem Schnabel und dem gesträubten
Gefieder eines Geiers, kreiste über Wirchs Kopf, der
mit gesenktem Kopf unsicher zu ihm hinaufschielte.
»Halt still, Wirch«, rief Cnossos ihn an. »Es ist mit
Schmerz verbunden, wenn das Göttliche in dich
eindringt.«
Wirch wagte sich nicht zu rühren, als der Vogel
plötzlich kreischend auf ihn hinabstieß und mit seinem
Schnabel auf ihn einhackte. Wirch unterdrückte nur
mühsam den Wunsch, laut aufzuheulen, als er
plötzlich einen stechenden Schmerz verspürte, der von
einer Stelle über seinen Augen ausging. Er wußte, daß
ihm der Vogel über einem jeden Auge eine Wunde
zugefügt hatte, aber er duldete es mit der Demut eines
treuen Dieners.
»Du bist stark, Wirch«, ertönte wieder Cnossos
gewaltige Stimme. »Du bist klug, Wirch. Du bist
unbesiegbar, Wirch. Ich gebe dir ein Stück von mir, auf
daß du unsterblich wirst, Wirch!«
Die Wolfsmenschen sahen, wie Cnossos sich ins
Wolfsgesicht griff. Als er die Hände wieder wegnahm
und sie in Wirchs Richtung hielt, waren zwischen
seinen Fingern zwei Augen zu sehen.
Seine eigenen Augenhöhlen aber waren leer ...
Cnossos hielt die beiden Augen lange genug von
sich gestreckt, damit sie für alle Wolfsmenschen
sichtbar waren. Dann erst pflanzte er sie in die
Wunden, die der Krähengeier an Wirchs Stirn gehackt
hatte.
»Jetzt bist du allgewaltig, Wirch«, sagte Cnossos
salbungsvoll. »Ich bin du – und du bist ich.«
Cnossos ging zu dem Wolfsmenschen, griff ihm ins
Nackenhaar und schwang sich auf seinen Rücken. Der
Krähengeier stieß herab und landete auf Cnossos‘
linker Schulter.
»Auf, in die Ostländer!« schrie Cnossos den
Wolfsmenschen zu.
Cnossos war die ganze Nacht durchgeritten. Jetzt, kurz
vor Sonnenaufgang, als der Mond langsam verblaßte,
merkte er, daß Wirch der Erschöpfung nahe war.
Er würde dem Rudelführer die wohlverdiente Ruhe
gönnen, denn er hatte erreicht, was er wollte. Die
Wolfsmenschen und ihre Wölfe waren ihnen gefolgt,
ohne sich von der Beute links und rechts des Weges
verlocken zu lassen.
Wirch war nun viel mehr als nur ein Rudelführer für
sie, seit Cnossos ihm einen Teil von sich eingepflanzt
hatte. Er verkörperte nicht nur Kraft und Verstand,
sondern auch das Göttliche, dem zu Ehren die
Wolfsmenschen nach Xanth gezogen waren.
Cnossos konnte zufrieden sein, das Rudel wurde
Wirch überall hin folgen, auch wenn er selbst sich
absetzte.
Der Balamiter saß aufrecht auf dem Rücken des
riesigen Wolfes mit den vier Augen. Auf seiner
Schulter hockte der Krähengeier, den langen, spitzen
Schnabel an die Brust gedruckt, den Kopf gegen den
Wind gereckt.
Wirch begann bereits unter seiner Last zu keuchen,
sein Lauf wurde immer schleppender. Aber er wagte es
nicht, seinem Gott die beginnende Erschöpfung
einzugestehen.
Cnossos war von der Ausdauer des Wolfsmenschen
beeindruckt und ließ es ihn auch wissen.
Als sie in ein Tal kamen, in dem eine von den Hirten
im Stich gelassene Schafherde graste, kletterte Cnossos
vom Rücken des Wolfsmenschen. Er wirkte viel kleiner
als sonst, was darauf zurückzuführen war, daß er nicht
nur den Krähengeier aus seiner Körpersubstanz
geformt hatte, sondern auch den Sattel und das
Zaumzeug – und sogar das Schwert, das ihm von der
Hüfte baumelte.
»Du hast dich tapfer gehalten, Wirch«, lobte
Cnossos. »Ruh dich jetzt aus. Ich werde veranlassen,
daß dir deine Wölfe eines der Schafe zutreiben.«
Wirch blieb mit zitternden Läufen stehen. Plötzlich
spürte er, wie sich das Zaumzeug zwischen seinen
Zähnen auflöste und das Gewicht des Sattels von
seinem Rücken verschwand. Als er den Kopf wandte,
sah er, daß der Sattel mitsamt dem Zaumzeug zu einer
formlosen Masse wurde, auf Cnossos zustrebte und mit
ihm verschmolz.
Der Wolfsmensch ahnte, daß nun der Zeitpunkt
gekommen war, wo sein Gott ihn verlassen wollte. Er
erschauerte vor der Kälte, die sich plötzlich in seinem
Körper ausbreitete und heulte den verblassenden
Mond an. Bald würde es Tag werden, und die Kräfte,
die ihm die Gestalt des Wolfes verliehen, würden
schwinden.
Cnossos schien seine Gedanken erraten zu haben,
denn er sagte:
»Die Stunde des Abschieds ist gekommen, Wirch.
Du und deine Brüder, ihr mußt jetzt den Weg allein
gehen, den ich euch vorgezeigt habe.«
Wirch spürte, wie der Schmerz der beginnenden
Verwandlung seinen Körper durchjagte und kauerte
sich auf dem Boden zusammen. Seine Wölfe kamen
heran, um ihn gegen jedwede Gefahren zu beschützen,
achteten aber darauf, Cnossos nicht zu nahe zu
kommen.
Cnossos fuhr fort:
»Aber ich werde euch nicht wirklich verlassen.
Wenn ich mich jetzt als Geier in die Lüfte erhebe, lasse
ich meine Augen in dir zurück, Wirch. Mit ihnen werde
ich euren Weg nach Osten verfolgen, ich werde sehen,
wie ihr die Menschen reißt und ihr Blut trinkt. Ich
werde dabei sein, wenn ihr auf das Heer der Urgoriten
stößt und Dragon und seine Leute im Licht des
Mondes in Stücke reißt.«
Wirch hörte die Stimme seines Gottes wie aus weiter
Ferne. Aber er konnte jedes einzelne Wort
verstehen – und obwohl der Schmerz der Verwandlung
seinen Körper nun in immer schneller
aufeinanderfolgenden Wellen überkam, schenkte er
seinem Gott die gebührende Aufmerksamkeit.
»Ihr seid nicht nur stark, weil ihr viele seid – mehr
als doppelt so viele, wie Dragon Krieger auf die Beine
stellen kann«, drang Cnossos‘ Stimme von weit her zu
Wirchs Geist. »Ihr seid vor allem stark, weil ihr
Geschöpfe meines Blutes seid. Kein Schwert und kein
Pfeil kann euch etwas anhaben. Aber nehmt euch vor
Silber in acht!«
Wirch krümmte sich vor Kälte und Schmerz. Er
vermerkte es dankbar, wie seine Wölfe mit heißer
Zunge über seinen Körper leckten, der immer
deutlicher menschliche Züge annahm. Wirch verspürte
Scham darüber, daß er sich in diesem Augenblick der
Schwäche seinem Gott zeigen mußte. Er wollte nicht,
daß ihn dieser so hilflos sah.
»So unbesiegbar ihr seid«, fuhr Cnossos fort, »Silber
kann euch töten. Doch selbst wenn Dragon davon
weiß, so wird ihm dieses Wissen nichts nützen. Er ahnt
nicht, daß ihr auf dem Wege zu ihm seid, und wenn ihr
ihm dann gegenübersteht, wird es zu spät für ihn sein,
Mittel und Wege zu finden, um euch zu bekämpfen.
Ihr werdet wie ein Sturm über sein Heer hinwegfegen.«
Wirch fühlte sich so müde und schwach, daß er am
liebsten schlafen wollte. Aber der dumpfe Schmerz in
seinem Kopf und die Stimme seines Herrn hielten ihn
wach.
Er öffnete mühevoll seine Augen. Aber während
ihm die ihn umsorgenden Wölfe als verschwommene
Flecken erschienen, sah er Cnossos gestochen scharf –
und er wußte, daß er seinen Herrn durch das zweite
Augenpaar sah, das dieser ihm eingepflanzt hatte.
»Wirch, du wirst dafür sorgen, daß Dragons Blut
fließt!«
Das waren die letzten Worte, die der Rudelführer
von seinem Gott hörte. Er hätte gerne noch etwas zum
Abschied gesagt, aber er besaß nicht mehr die Kraft
dazu.
Mit seinem zweiten Augenpaar sah er noch, wie sich
der Riesengeier majestätisch in die Luft erhob und sich
in Richtung Süden entfernte. Dann übermannte ihn die
Müdigkeit endgültig, und er schlief ein.
Vor ihnen lag das enge Wasser.
Im Schein des abnehmenden Mondes lag es da wie
ein riesiger Spiegel mit unzähligen dunklen Flecken.
Diese dunklen Stellen waren die Inseln, die sich überall
über die Oberfläche des Wassers erhoben.
Wirch drehte sich nach seinen Brüdern und deren
Wölfen um.
Sie waren schon die ganze Zeit über unruhig
gewesen, seit sie das Wasser gewittert hatten. Jetzt
hatte sich die Unruhe in Panik verwandelt und von den
Wolfsmenschen auf deren Wölfe übertragen.
Wirch hatte die gleiche Scheu vor dem Wasser wie
seine Brüder. Aber er überwand sie besser als die
anderen, denn in ihm war die Kraft seines Gottes.
Das andere Ufer war so nahe, daß er im Mondlicht
Einzelheiten erkennen konnte. Er sah Bäume und
einige Felsen und dazwischen flackerte etwas wie ein
Lagerfeuer. Vielleicht lagerten dort sogar Menschen,
die ahnungslos waren und eine leichte Beute abgeben
würden.
Er witterte, aber der Wind trieb ihm nur den
ekelhaften Geruch des Meerwassers zu.
Er machte einige Schritte ins Wasser, erschauerte
und rannte sofort wieder ans Ufer zurück. Es war
schon schrecklich genug, vom Wasser umspült zu
werden, wenn man Grund unter den Läufen hatte –
das Gefühl, abgetrieben und auf das offene Meer
hinausgetragen zu werden, würde sich aber noch
verstärken, wenn man mit den Läufen ins Leere trat
und nichts anderes als Wasser unter ihnen hatte.
Die Panik unter den Wolfsmenschen wurde immer
arger. Wirch hörte etliche von ihnen kläglich heulen..
Sie verwünschten den Mond und ihren Gott, der von
ihnen verlangte, daß sie sich den Tücken des Meeres
ausliefern sollten.
Wirch war klar, daß er schnell handeln mußte, wenn
er vermeiden wollte, daß die Panik seine Gefährten zur
Umkehr trieb. Noch hielt sie das Wort ihres Gottes im
Bann. Aber mit jedem Atemzug, den sie zuwarteten,
würde sich der Einfluß des Wolfsgottes verringern und
die Furcht vor dem nassen Element verstärken.
Er hatte keine andere Wahl, er mußte das Wagnis
sofort eingehen. Er heulte auf, um die anderen
mitzureißen, und stürzte sich mit Todesverachtung in
die Fluten.
Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen,
das salzige Naß drang ihm in die Schnauze, und er
mußte es schlucken. Ihm wurde beinahe übel dabei.
Aber dann tauchte er wieder auf und reckte den Kopf
so hoch, daß er über die Wasseroberfläche ragte.
Wenig später hatte er die erste Insel erreicht. Als er
sich umdrehte, sah er, daß ihm seine Wölfe gefolgt
waren. Sie kamen hechelnd aus dem Wasser,
schüttelten sich und schmiegten sich an seine Seite.
Wirch heulte herausfordernd auf, knurrte seine
Brüder am Festland wütend an und vollführte wilde
Sprünge, um seinem Zorn über ihr Zaudern Ausdruck
zu verleihen.
»Seid ihr Söhne des schwarzen Blutes, oder seid ihr
Hasen im Wolfspelz« schrie er ihnen entgegen. Er sah,
daß einige von ihnen den Sprung ins Wasser wagten,
aber sofort wieder zum Ufer zurückschwammen. Nur
zwei seiner Bruder kehrten nicht wieder um und
kamen zu ihm auf die Insel.
»Wollt ihr keine Beute? Wollt ihr die Quelle des
Blutes nicht sprudeln sehen?«
Wieder stürzten sich einige Wolfsmenschen, gefolgt
von ihren Wölfen, ins Wasser. Nur ein einziger von
ihnen bekam es im letzten Augenblick mit der Angst
zu tun und kehrte zum Ufer zurück.
»Wer von euch wagt es, sich gegen seinen Gott zu
stellen! Ihr alle habt ihm gelobt, in die Länder des
Ostens zu ziehen!«
Diesmal überwanden noch mehr Wolfsmenschen
ihre Scheu vor dem Wasser. Am Ufer entstand ein
Gedränge, als sie sich in Bewegung setzten und in die
Fluten sprangen.
»Er wird euch alle sehen – die Feigen ebenso wie die
Tapferen!«
Endlich war der Bann gebrochen. Die Horden der
Nacht drängten vorwärts; die Wolfsmenschen der
vorderen Linien wurden von den Nachdrängenden ins
Meer gestoßen und einfach weitergetrieben, ob sie nun
wollten oder nicht. Es gab kein Zurück mehr.
Wirch stieß mit der Schnauze seine Wölfe von der
Insel ins Wasser und sprang ihnen nach.
Er schwamm wie ein Besessener, als wäre ihm eine
Meute mit Silberspeeren auf den Fersen. Er schwamm,
als ginge es um sein Leben, nur um so rasch wie
möglich die nächste Insel zu erreichen und dem
schaurigen Naß zu entfliehen.
Und hinter ihm folgten alle seine Bruder und deren
Wölfe nach.
Bald hatten sie das andere Ufer erreicht – und dann
gab es nichts mehr, das sie noch aufhalten konnte. Sie
würden das Land überschwemmen und sich den
Feinden des Wolfsgottes entgegenwerfen.
Wirchs zweites Augenpaar würde ihnen den Weg
weisen.
2.
Die Gedanken des Mannes waren dunkel und böse.
Er war an Yina vorbeigekommen und hatte ein
finsteres Gesicht gemacht. Das war Anlaß genug für
sie, kurz in ihn hineinzuhorchen.
Yrnor, Lash, Rogho und ich werden die
ahnungslosen Wächter schon erledigen. Dann wird
dieser verfluchte Tyrann noch im Tode brennen ...
Das waren die dunklen Gedanken des Mannes, der
den Harnisch eines myranischen Hauptmanns trug
und sich entschlossen seinen Weg durch das Heerlager
suchte. Yina folgte ihm. Sie konnte sich im ersten
Augenblick nicht vorstellen, was der Krieger vorhatte,
aber ihr war sofort klar, daß er gegen Dragons
Interessen handeln wollte.
Erst nach und nach kam sie dahinter, was er
wirklich plante.
... die Wächter erledigen!
... der Tyrann noch im Tode brennen!
Damit konnte nur die Mumie von König Zogor
gemeint sein!
Nachdem Dragons Heer von Eskis aufgebrochen
war, hatte er den mumifizierten Leichnam des toten
Königs von Myranien auf einem Karren aufbahren
lassen, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Da es sich
bei den Zugtieren um Ochsen und nicht um edle
Pferde handelte, wurde jedem klar, daß Dragon den
toten König noch im Tode verhöhnen wollte.
Vielleicht paßte das einigen Myranern nicht?
Die Mumie wurde ständig von zehn Soldaten
bewacht, damit sich niemand an ihr vergreifen konnte.
Aber ungeachtet der Wachen plante dieser myranische
Hauptmann, die Mumie zu verbrennen.
Als sich Yina darüber klar geworden war, ließ sie
von dem Mann ab und lief in die Richtung, in der
Dragons Zelt lag.
Dragons Hauptstreitmacht lagerte zwei Tagesritte
von Eskis entfernt. Aber die Zelte wurden bereits
wieder abgebrochen. Die Vorhut aus tausend Mann
hatte gemeldet, daß auf einer Strecke von zwei
Tagesritten in Richtung Myra alle Hindernisse beseitigt
wären und die Bevölkerung den Eroberern aus dem
Osten mit großer Erwartung entgegensehe. Die Wege
zur Hauptstadt des myranischen Reiches schienen
geebnet.
Yina rannte mit wehenden Kleidern. Sie hatte ihre
knöchellangen Rocke gerafft, um nicht darüber zu
stolpern.
»He, nicht so hastig, junge Maid«, rief ein Söldner
belustigt, den Yina anrempelte. Er wollte nach ihrem
Arm fassen, aber sie entwich ihm geschickt.
»Deine Augen lassen nach, Bydon«, rief ein anderer
Krieger lachend. »Was du für eine junge Maid hältst,
ist in Wirklichkeit ein Bengel in Kitteln ...«
Grölendes Lachen folgte dieser Bemerkung.
Yina überhörte solche Bemerkungen schon längst.
Sie hatte sich damit abgefunden, daß niemand sie als
Mädchen anerkannte. Sie wußte, daß sie unansehnlich
war und für ein Mädchen von sechzehn Sommern noch
reichlich unentwickelt. Und wenn sie von den anderen
scherzhaft Maus genannt wurde, so wußte sie doch,
daß dieser Name seine Berechtigung hatte.
Sie war so unansehnlich, grau und spitz wie eine
Maus.
Das gesamte Lager befand sich im Aufbruch. Pferde
wurden gesattelt, Zelte auf die Wagen geladen, die
Ausrüstung wurde darauf verstaut, Ochsen vor die
Wagen gespannt; die Krieger schnallten sich die
Waffengürtel fester, wetzten die Klingen ihrer
Schwerter im niedergetrampelten Gras. Überall lagen
leere Weinkrüge herum.
Yina mußte immer wieder Reitern und Fußsoldaten
ausweichen, die sich in Marsch gesetzt hatten. Obwohl
sie wie eine Besessene lief, näherte sie sich Dragons
Hauptquartier nur langsam. Da sah sie Partho, wie er
mit seinem Pferd zwischen den marschierenden
Kriegern hindurchtänzelte.
»Partho!«
»Agrion ist so kratzbürstig und widerspenstig wie
eine schwangere Amazone«, so dachte der Hauptmann
aus Urgor gerade.
Yina spürte einen Stich in ihrem Kopf, als Partho aus
seinen Gedanken schreckte. Der Hauptmann aus
Urgor, der Amee anbetete und sich, nachdem er sie an
Dragon verloren hatte, Agrion zuwandte, büßte nun
auch die Liebe der ehemaligen Sklavin ein. Als
Trägerin des Mondrings war sie zur Nachfolgerin der
Amazonenkönigin bestimmt.
Partho lächelte Yina zu.
»Du läufst ja, als ginge es um dein Leben, Maus«,
meinte er belustigt, als sie ihn erreichte und sich
erschöpft an den Sattel seines Pferdes klammerte.
»Wo ist Dragon?« sagte sie keuchend. »Ich muß zu
ihm ... ihn warnen. Man will die Mumie verbrennen.«
Partho zog Yina mit einem kräftigen Ruck zu sich in
den Sattel hinauf und preschte mit ihr davon.
»Damit brauchen wir Dragon nicht zu belästigen«,
sagte er. »Wieviele sind es?«
»Vier«, sagte Yina immer noch atemlos. »Myraner ...
Ich habe nicht herausfinden können, was sie zu dieser
Tat treibt.«
»Endlich gibt es wieder einmal Abwechslung für
mich«, rief Partho erfreut. »Vier sagtest du?«
Als er an einem urgoritischen Reitersoldaten
vorbeikam, rief er diesem zu: »Mir nach!«
Er ritt rücksichtslos weiter. Die Krieger, die das
Hufgetrappel in ihrem Rücken hörten, stoben
auseinander und konnten sich oftmals nur durch
waghalsige Sprünge in Sicherheit bringen. Als vor
Partho plötzlich ein Wagen auftauchte, wich er dem
Hindernis nicht aus, sondern brachte sein Pferd dazu,
mit einem Satz darüber hinwegzuspringen.
Yina, die vor ihm saß und sich ängstlich in die
Mähne des Pferdes verkrallte, sah, daß auf dem Wagen
nichts als ein mit einer Decke verhüllter Körper lag.
»Das ist der Wagen mit König Zogor!« rief sie.
»Ich weiß«, sagte Partho und brachte sein Pferd zum
Stillstand.
Die verdutzten Krieger, die den Wagen bewachten,
hatten ihre Krummschwerter gezogen. Als sie ihren
Hauptmann erkannten, ließen sie sie zögernd sinken.
»Verrat!« rief Partho ihnen zu. »Man will ...«
Weiter kam er nicht. Bei dem Wort »Verrat« hieben
drei der Soldaten mit ihren Schwertern auf die anderen
ein. Drei Wachen brachen blutüberströmt zusammen,
bevor die anderen überhaupt begriffen, was das zu
bedeuten hatte.
Für Partho war die Situation augenblicklich klar. Die
drei, die den Kampf begonnen hatten, waren
wahrscheinlich jene drei Myraner, die zusammen mit
einem vierten den Anschlag auf die Mumie von König
Zogor planten.
Und da tauchte auch schon der vierte auf. Er trug
noch seinen myranischen Harnisch und schwang eine
Fackel. Partho hatte Yina aus dem Sattel gehoben. Jetzt
stieß er seinem Pferd die Fersen in die Flanken, daß es
wie von der Sehne geschnellt auf den Fackelträger
zuschoß. Er holte gerade aus, um die Fackel auf den
Wagen zu werfen, da begruben ihn die Hufe des
Pferdes unter sich.
Partho wirbelte auf seinem Pferd herum. Aber der
Kampf war bereits entschieden. Zwei der anderen
Verräter waren tot. Der dritte hockte wimmernd im
Sand und hielt sich den rechten Arm.
Hinter ihm stand ein Urgorit mit erhobenem
Schwert, um ihm den Gnadenstoß zu geben.
»Halt!« rief Partho, gegen seine Überzeugung. Aber
er hatte von Dragon gelernt, daß es oft vorteilhafter
war, das Leben eines Gegners zu schonen. Manchmal
wurde aus einem Gegner ein Verbündeter – und
manchmal erfuhr man von ihm wichtige
Informationen.
»Wir brauchen ihn lebend. Er muß uns sagen, wer
ihn zu dieser Tat angestiftet hat.«
Kim und Kano, die beiden Zwillinge, die sich auch
über weite Entfernungen nur mittels ihrer Gedanken
miteinander verständigen konnten, hatten ein Gespür
dafür, wo etwas los war.
Sie hatten gehört, daß Partho einen Myraner
gefangen hatte, der die Mumie des Königs verbrennen
wollte und machten sich sofort auf den Weg zu
Dragons Lagerplatz. Sie sahen schon von weitem die
Krieger, die sich vor dem Zelt drängten und den
Vorfall untereinander mit einander widersprechenden
Meinungen besprachen.
Es fiel den beiden dreizehn Sommer zählenden
Jünglingen nicht schwer, sich zwischen den Beinen der
Krieger einen Weg zu suchen und den Zelteingang zu
erreichen. Als Kano jedoch den Vorhang hob und einen
Blick ins Innere warf, tauchte das Gesicht Sardaks vor
ihm auf.
Der Hirte, der seine Herden im Stich gelassen hatte,
um an Dragons Seite gegen Cnossos zu kämpfen,
schnitt eine Grimasse und sagte:
»Das ist nichts für kleine Jungen. Verschwindet!«
Die Zwillinge zogen sich schmollend zurück.
»Es ist eine Frechheit«, machte Kim seinem Ärger
Luft. »Immer wenn es irgendwo spannend ist,
verscheucht man uns.«
»Dabei ist Yina nicht viel älter, aber sie darf dabei
sein«, beschwerte sich Kano. »Ich habe sie neben
Dragon und Agrion im Zelt gesehen.«
»Vielleicht verrät sie uns wenigstens, worum es
wirklich geht«, meinte Kim. Er konnte nicht nur mit
seinem Bruder Kano in Gedankenverbindung treten,
sondern auch mit Yina – wenn er sich einigermaßen
anstrengte.
He, Maus! dachte er eindringlich. Was geht in
Dragons Zelt vor!
Stört mich jetzt nicht, kam die Antwort. Ich habe
andere Sorgen, als mich mit dummen Jungen zu
unterhalten. Ich muß den Verräter aushorchen.
»Überhebliche, dumme Ziege«, schimpfte Kim. Und
in Gedanken fügte er zornig hinzu: Dafür bekommst
du nie einen Mann.
Aber Yina hörte seine Gedanken nicht mehr. Sie
widmete sich wieder voll und ganz den Geschehnissen
im Zelt.
Dragon sagte gerade zu dem verwundeten Myraner,
der noch immer die Rüstung eines Urgoriten trug:
»Du wirst deinen Arm verlieren, Rogho.«
»Dafür werde ich meine Ehre behalten«, erwiderte
der Myraner mit schmerzverzerrtem Gesicht.
»Wenn du uns sagst, wer dir befohlen hat, den toten
König zu verbrennen, werden wir dich pflegen«, sagte
Dragon wieder. »Nenne uns den Namen deines Herrn,
und wir schenken dir das Leben.«
»Mein Herr ist der König von Myranien«, sagte der
Verwundete, und seine Stimme bebte vor Haß. »Er
wird euch vernichten, noch ehe ihr die Mauern von
Myra seht!«
»Cnossos?« entfuhr es Partho.
Sardak war gebückt herangekommen und
betrachtete den Gefangenen so scharf, daß dieser den
Blick senkte.
»Nein«, sagte der Helfer der Hirten dann überzeugt.
»Dieser Mann hat aus freiem Willen gehandelt.
Cnossos aber bedient sich nur willenloser Sklaven.«
»Ich kenne keinen Cnossos«, behauptete der
Verwundete und preßte die Zähne so fest aufeinander,
daß es knirschte.
Dragon warf Yina einen fragenden Blick zu, und
diese bestätigte:
»Er spricht die Wahrheit.«
Dragon wandte sich wieder dem Gefangenen zu
und deutete über seine Schulter auf Yina.
»Sieh dieses Mädchen an«, verlangte er. »Bringst du
es fertig, ihr in die Augen zu sehen und zu lügen?«
Der Gefangene wurde unsicher. Er betrachtete Yina
kritisch und verzog dann abfällig die Mundwinkel.
»Was für ein häßliches Ding«, sagte er und grinste,
als er Yina zusammenzucken sah. »Wollt ihr mir
einreden, daß sie eine Hexe ist? Ich glaube nicht an die
Kraft von dämonischen Weibern.«
»Ich schlage dir einen Handel vor, Hogho«, meinte
Dragon. »Wenn es dir gelingt, Yina anzulügen, dann
lassen wir dich laufen. Gelingt es dir dagegen nicht,
dann gibst du uns dein gesamtes Wissen preis.«
»Das ist ein Handel, auf den ich mich gerne
einlasse«, behauptete Rogho ... Ich soll dieses Kind
nicht belügen können?«
»Du wirst es sehen«, sagte Dragon. Nach einer
Atempause fuhr er fort: »Ich frage dich jetzt. Rogho:
Wer hat dich und deine Kumpane damit beauftragt, die
Mumie zu vernichten« »
»Es war der geizige Almoro«, antwortete Rogho und
lachte glucksend.
»Er lügt«, sagte Yina. »Der Name seines
Auftraggebers ist Ermyras.«
Roghos Lachen erstarb. Er preßte seine heile Hand
gegen die Wunde seines Oberarms und starrte Yina mit
offenem Mund an.
»Bei Amyron ...!«
Dragon war aufgesprungen. Er blickte abwechselnd
von Partho zu Agrion.
»Erinnert ihr euch dieses Namens?« fragte er sie.
»Einige der Myraner, die nach Zogors Tod zu uns
übergelaufen sind, haben ihn genannt.«
Partho hatte die Hände zu Fäusten geballt.
»Natürlich«, stieß er hervor. »Ermyras ist der Neffe
König Zogors und sein Thronerbe. Zogor ließ ihn in
den Kerker werfen, um sich vor seinen
Mordanschlagen zu schützen. Sollte er noch am Leben
sein?«
»Er hat den verwaisten Thron bestiegen«, erklärte
Rogho würdevoll. »Es gibt kaum einen in diesem Land,
der Zogor nachtrauert. Und Ermyras hatte schon zu
Lebzeiten des Königs viele Getreue, die den Tag kaum
erwarten konnten, daß er auf den Thron kommt. Als
die Kunde von Zogors Tod nach Myra gelangte, wurde
Ermyas im Triumph aus dem Kerker geholt und in sein
rechtmäßiges Erbe eingesetzt.«
Dragon starrte schweigend auf den Gefangenen. Mit
dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Nach
König Zogors Tod, den die Myraner und deren
Brudervölker fast ebenso begrüßten wie die Zunter,
Daniter und Urgoriten, hatte Dragon keine besonderen
Schwierigkeiten mehr erwartet – der Thron von
Myranien schien ihm sicher.
Aber da nun plötzlich der rechtmäßige Thronfolger
auftauchte, glaubte er nicht mehr, daß er in Myra mit
offenen Armen aufgenommen werden wurde. Es sei
denn, das Ermyas in die Fußstapfen seines Onkels trat.
Wenn er sich dagegen als weiser Herrscher entpuppte,
dann wollte Dragon auf die Eroberung des
myranischen Reiches verzichten.
»Was hat Ermyas veranlaßt, den Auftrag zu geben,
seinen toten Onkel zu verbrennen?« wollte Dragon
wissen.
»Er schickte uns aus, damit wir uns vor allem mit
eigenen Augen davon überzeugen sollten, daß Zogor
tatsächlich von Amyron geholt worden ist«, antwortete
Rogho. »Es fiel uns nicht sehr schwer, sich als
Überläufer auszugeben und sich deinem Heer
anzuschließen. Ermyas hat uns befohlen, die Mumie zu
vernichten, wenn es sich um Zogor handelt. Er möchte,
daß nichts mehr in diesem Land an seinen Onkel
erinnert. In diesen Tagen rollen viele Köpfe in Myra.
Ermyas rächt sich furchtbar an jenen, die ihn einst
verhöhnten und erniedrigten. Zogors Günstlinge sind
die beliebteste Beute von Ermyas Häschern geworden.
»Der Junge scheint doch nicht aus der Art
geschlagen zu sein«, meinte Dragon düster. »Sicher
haben die Myraner Ermyas zum König gemacht, weil
sie glaubten, es könne nicht mehr schlimmer kommen.
Aber das scheint ein Irrtum gewesen zu sein ...«
»Die Myraner werden dir sicher dankbar sein, wenn
du sie auch von diesem Übel befreist. Dragon«, meinte
Partho.
»Ermyas ist stark – und sein Arm ist lang!« rief
Rogho und sprang auf; in seiner gesunden Hand blitzte
plötzlich die scharfe Klinge eines Dolches. »Er wird
euch alle vernichten. Stirb, Dragon!«
Roghos Worte gingen in einen Schmerzensschrei
über. Yina, die seine Mordabsicht aus seinen Gedanken
gelesen hatte, hatte einen Stock ergriffen und ihm
damit auf seine Wunde geschlagen.
Der Myraner brach bewußtlos zusammen.
Was war das für ein Schrei? fragten Kanos
Gedanken bei Yina an.
Das war kein Schrei, sondern ich habe gehustet!
»Na warte, Maus, das zahle ich dir heim«, ärgerte
sich Kano.
Sein Bruder stieß ihn an.
»Sieh einmal. Was ist das dort vorne für ein
Tumult?«
Kano kniff die Augen zusammen.
»Ich sehe zwei Reiter, die von den Kriegern umringt
werden«, erklärte Kano, während er sich bereits in
Bewegung setzte. »Die Reiter sind staubbedeckt und
machen einen erschöpften Eindruck. Es scheint, daß sie
einen langen Ritt hinter sich haben ...«
»Der eine von ihnen kann sich nicht mehr im Sattel
halten ...«
»Nichts wie hin!«
In Dragons Zelt fragte Partho:
»Was soll mit dem Verräter geschehen?«
»Laß das Schwert stecken, Partho!« verlangte
Dragon mit schneidender Stimme. »Wir sind
schließlich keine Barbaren, und deshalb werden wir
ihn ...«
Niemand erfuhr, welches Schicksal er dem
Gefangenen zugedacht hatte, denn in diesem
Augenblick sagte Yina:
»Kim und Kano behaupten, daß soeben Nabib, der
Händler, in das Heerlager eingeritten ist.«
»Wenn ich das Fett eines Lammes im Feuer prasseln
höre, der Schatten eines Weinkruges auf meine Lippen
fällt und die süße Stimme eines Weibes meinem Ohr
schmeichelt, dann würde ich selbst von den Toten
erwachen«, verkündete Nabib.
Es war die Antwort auf Dragons Feststellung, daß
der Händler von dem langen Ritt müde sein müsse
und sich besser ausruhen solle, als an der
Lagebesprechung teilzunehmen.
Der Händler von Thinayda hatte in wenigen Worten
über die Gefahr berichtet, die Dragons Armee durch
die Horden der Nacht drohte. Bodo, der junge Mann
aus dem Wolfsland, der dabeigewesen war, als
Cnossos seine Wolfsmenschen zum Sturm auf die
Länder des Ostens aufgerufen hatte, wirkte etwas
frischer als Nabib. Wenn dem Händler der Atem
ausgegangen war, hatte er den Faden aufgenommen
und die Lücken des Berichts gefüllt, so daß Dragon
und seine Gefährten ein abgerundetes Bild erhielten.
Nachdem Nabib und Bodo erschöpft geendet hatten,
wiederholte Dragon das Gehörte, um sich die
Tatsachen in Erinnerung zu rufen.
»Wenn man Bodos Angaben über die Stärke der
Horden der Nacht glauben darf, dann handelt es sich
um zwanzig Hundertschaften Wolfsmenschen und
zweihundertvierzig Hundertschaften Wölfe. Das ist
eine stattliche Streitmacht, die uns auch gefährlich
werden konnte, wenn die Wolfsmenschen nicht
unverwundbar waren. Aber alles wird dadurch noch
schlimmer, daß sie nur durch die Kraft des Silbers zu
töten sind.«
Dragon wich Agrions Blick aus, die ihn mit leichtem
Spott betrachtete. Sie saß mit einem Dutzend ihrer
Kriegerinnen auf der einen Seite des Lagerfeuers. Den
Katmahzari gegenüber hatten Dragon, Partho, Sardak
und an die drei Dutzend Heerführer Platz genommen.
Dazwischen saßen Nabib und Bodo.
Dragon konnte sich denken, welcher Vorwurf
Agrion auf den Lippen lag, deshalb fuhr er schnell fort:
»Die Horden der Nacht dürften gerade das enge
Wasser überqueren. Bodo hat gesagt, daß sie vor
großen Seen und vor dem Meer eine Scheu haben. Aber
wir können nicht hoffen, daß sie deshalb ihr Vorhaben
aufgeben werden. Cnossos‘ Einfluß wird sie die Angst
vor dem Wasser vergessen lassen. Also müssen wir
damit rechnen, daß sie in etwa zwei Tagen Ad‘zhari,
den westlichsten Stützpunkt der Katmahzari, erreichen
werden.«
»Die Katmahzari sind gewappnet«, warf Agrion ein.
»Sie werden die Horden der Nacht aufhalten, bis
Verstärkung eintrifft.«
»Darauf komme ich noch zu sprechen«, entgegnete
Dragon, der sich darüber ärgerte, daß ihm Agrion bei
jeder sich bietenden Gelegenheit versteckte
Vorhaltungen machte.
Dabei durfte sie ihm nicht wirklich einen Vorwurf
machen. Hätte er nur auf die Erzählung eines Alten hin
sein Heer anstatt nach Myra zum engen Wasser ziehen
lassen sollen?
Sardak hatte ihn auf die alten Weissagungen
aufmerksam gemacht, die ihm der Märchenerzähler
Adrar zugetragen hatte. Demnach sollten eines Tages
die Horden der Nacht, die nur mit Silberwaffen zu
töten sind, die Ostländer überfallen. Und dieser Tag, so
hatte Adrar prophezeit, sei nicht mehr fern.
Sardak und Agrion hatten diese Weissagung ernst
genommen und ihn, Dragon, bedrängt. Silberwaffen
schmieden zu lassen, um gegen die Gefahr aus dem
Norden gewappnet zu sein. Aber welcher vernünftige
Mann hätte diesem Drängen schon nachgegeben? Er
fand, daß Agrion keine Veranlassung hatte, ihm
Vorhaltungen zu machen, obgleich sich die
Weissagungen erfüllt hatten.
Er war ein Mann der Tat und kein Magier, der die
Zukunft erschauen konnte.
Und doch fühlte er sich unter den Blicken
Agrions – und nun auch unter denen Nabibs – nicht
recht wohl. Es schien ihm fast so, als ob sich die beiden
gegen ihn verschworen hatten.
Dragon räusperte sich und fuhr fort:
»Für uns stellt sich die entscheidende Frage: Können
wir mit einem großen Aufgebot in zwei Tagen
Ad‘zhari erreichen, um gleichzeitig mit den Horden
der Nacht an der Grenze von Katmahzar einzutreffen?
Es scheint unmöglich zu sein, daß ein Heer wie das
unsere diese Strecke in zwei Tagen bewältigt, wo
Nabib und Bodo in einem Gewaltritt fast ebenso lange
dafür gebraucht haben. Abgesehen davon, daß uns die
Beförderung der Verpflegung für etwa zehntausend
Mann viel Zeit kostet, ist ein solches Heer auch viel
unbeweglicher.«
»Hast du vor, den Horden der Nacht alle deine
Streitkräfte entgegenzuwerfen?« fragte Partho
ungläubig.
»Ich könnte dreimal so viele Krieger haben – und es
wären nicht zu viele«, entgegnete Dragon. »Du hast
gehört, daß die Wolfsmenschen schier unverwundbar
sind. Wenn überhaupt, dann können wir über sie nur
triumphieren, wenn wir stark in der Übermacht sind.«
»Oder wenn wir Silberwaffen besäßen«, warf Agrion
wieder ein.
Jetzt war es gesagt.
Dragon wandte sich ihr zu.
»Ich gebe zu, daß es nach Lage der Dinge besser
gewesen wäre, auf deinen Vorschlag zu hören und
Silberwaffen schmieden zu lassen«, sagte er mit
unterdrücktem Groll. »Aber das Eingeständnis eines
Fehlers bringt uns nun nicht weiter.«
»Warum so hitzig. Dragon«, sagte Agrion ruhig.
»Ich habe gar nicht vor, dich wegen einer Unterlassung
anzuklagen. Du hast nach bestem Wissen gehandelt.
Und ich habe es auch getan.«
Eine Weile herrschte Schweigen, dann fragte
Dragon:
»Was hast du getan?«
Nabib warf einen Knochen ins Feuer und meinte
grinsend:
»Spann Dragon nicht auf die Folter, Agrion, sondern
gestehe dein eigenmächtiges Handeln schon ein.«
»Das habe ich auch vor.« Agrion sprach mit ruhiger
Stimme weiter: »Als du mir deutlich machtest, daß du
nichts auf die uralten Weissagungen über die Horden
der Nacht gibst, habe ich in aller Stille eine meiner
Kriegerinnen nach West-Katmahzar geschickt. Sie
sollte in meinem Namen alles erreichbare Silber
einsammeln und einschmelzen und daraus Waffen,
Speer – und Lanzenspitzen und Schwert – und
Dolchklingen, schmieden lassen.«
»Das war sehr vorausblickend«, war alles, was
Dragon über die Lippen brachte.
»Ich war mir nicht sicher, inwieweit meine
Anordnungen befolgt würden«, fuhr Agrion fort. »Erst
durch Nabib erfuhr ich, wie sich die Kriegerinnen von
West-Katmahzar zu meinen Worten stellten. Berichte
du selbst über deine Erlebnisse, Nabib.«
Der Händler wechselte seine Sitzstellung, nahm
langsam einen Krug Wein – und trank genüßlich
daraus.
Er hatte schon darüber berichtet, daß er an die
Wolfsküste verschlagen worden war, dort Bodo
aufgegriffen hatte und sofort in die Bucht der Kiesel
gesegelt war, als er von ihm die Pläne der Horden der
Nacht erfahren hatte.
Deshalb begann er jetzt mit seinen Erlebnissen nach
der Landung in der Bucht der Kiesel, streifte seine
Gefangennahme durch die Myraner und kam auf die
Ereignisse zu sprechen, die alle von ihm hören wollten.
»Als wir zum erstenmal mit den Kriegerinnen
zusammenstießen, da glaubte ich, daß sie von einem
bösen Geist besessen seien. Sie waren über die Grenze
ihres Landes gekommen, beraubten harmlose
Wanderer und plünderten die Hirten – und
Fischersiedlungen. Niemand schien zu wissen,‘ was sie
eigentlich erbeuten wollten.
Dann, als sie selbst nicht davor zurückschreckten,
mein Schiff zu überfallen, aber enttäuscht wieder
abzogen, weil sie nichts als Weinfässer fanden, erfuhr
ich, daß sie es grundsätzlich nur auf Silber abgesehen
hatten.«
Nabib vermittelte die so wichtigen Informationen in
gemütlichem Plauderton, der selbst Dragon veranlaßte,
sich unwillkürlich zu entspannen.
»Erst später traf ich mit Grisha zusammen, jener
Kriegerin, die Agrion ausgeschickt hatte, um
Silberwaffen zu besorgen«, berichtete Nabib weiter.
»Von ihr hörte ich, wie weit das Unternehmen bereits
gediehen war. In West-Katmahzar kennt man die
Wolfsmenschen besser als anderswo in diesem Land,
und man weiß auch um die Kraft des Silbers. Deshalb
tragen dort die jungen Mädchen silberne
Keuschheitsgürtel, die Kriegerinnen versilbern
teilweise die Brustdornen ihrer Harnische – und fast
jede Katmahzari hat irgend etwas am Körper, das aus
Silber ist. Einige wohlhabende Kriegerinnen besitzen
sogar silberne Dolche.
Wer mit Silber handelt, ist in West-Katmahzar eines
guten Geschäftes gewiß. Aus allen Himmelsrichtungen
strömt das Silber in diesen Teil des Landes, die
Amazonen dort haben große Mengen dieses Metalls
gehortet. Ich erwähne das nicht, um meine Erzählung
auszuschmücken, sondern um besser erklärbar zu
machen, wieso die West-Katmahzari so erfolgreich sein
konnten.
Jede Kriegerin in Ad‘zhari ist im Besitz irgendeiner
Waffe aus Silber. Darüber hinaus konnten aus den
gehorteten Schätzen zusätzlich Klingen, Pfeil – und
Lanzenspitzen geschmiedet werden. Doch damit
begnügten sich die Amazonen nicht. Sie gingen auf
Raubzüge, um noch mehr Silber zu beschaffen. Sie
gehen dabei rücksichtslos vor, ihr könnt es mir
glauben. Ich hatte ein wertvolles Silberamulett, eine
Erinnerung an wunderschöne Stunden ... aber das ist
eine andere Geschichte, geeignet für einen
beschaulicheren Abend. Das Silber dieses Amuletts
ziert jetzt die Spitzen von zwanzig Pfeilen. Auf
ähnliche Weise haben die Kriegerinnen Silberwaffen
für zweitausend Krieger beschafft.
Das bedeutet, daß auf jeden Wolfsmenschen mehr
als eine Silberwaffe kommt. Ein Krieger gegen einen
Wolfsmenschen! Daß das ein Vorteil ist, kann man erst
erkennen, wenn man weiß, daß schon die kleinste
Wunde geschlagen mit einem silbernen Gegenstand,
den Tod für einen Wolfsmenschen bedeutet. Bodo hat
einmal einen von ihnen mit einer Haarnadel getötet.«
Bodo nickte bestätigend, wagte aber nicht, dabei
jemandem in die Augen zu blicken. Die Menschen hier
waren so anders als die Menschen, die im Wolfsland
lebten. Er mußte sich erst daran gewöhnen, daß sie zu
jedermann, auch zu Fremden, sofort Beziehungen
aufnahmen. Im Wolfsland konnte es Wochen dauern,
bis man es wagte, einem Fremden zu trauen ...
»Glaubst du jetzt, daß es den Amazonen gelingen
wird, die Horden der Nacht aufzuhalten, bis
Verstärkung eingetroffen ist?« wandte sich Agrion an
Dragon, nachdem Nabib geendet hatte.
»Ich bin tief beeindruckt«, gestand Dragon. »Aber
wir dürfen uns nicht allein auf die Kraft des Silbers
verlassen. Wir haben es bei den Horden der Nacht
auch mit vierundzwanzigtausend Wölfen zu tun.
Deshalb bleibe ich dabei, daß wir den größten Teil des
Heeres nach Ad‘zhan, in die Ebene von Sapca,
entsenden müssen.«
Yina hörte nicht mehr richtig zu, als Dragon, Agrion
und Partho den Schlachtplan besprachen. Sie
beschäftigte sich in Gedanken mit dem Mann aus dem
Wolfsland.
Er wirkte hier, unter Menschen, so einsam wie eine
Träne im Meer. Eine Träne ist salzig, und das
Meerwasser ist salzig, aber eine Träne hat einen ganz
anderen Ursprung ... Und obwohl Bodo ein Mensch
unter Menschen war, merkte sie ihm an, daß er sich
ihnen nicht zugehörig fühlte.
Dragon, Agrion und Partho einigten sich darauf,
daß der urgoritische Hauptmann und die Trägerin dos
Mondrings mit hundert Hundertschaften auf dem
schnellsten Weg zur Ebene von Sapca ziehen sollten,
um sich dort den Horden der Nacht zu stellen. Wenn
es den West-Katmahzari gelang, die Wolfsmenschen
und deren Wolfsrudel einen knappen Tag lang
aufzuhalten, dann standen ihnen fast drei Tage für die
Überbrückung dieser Strecke zur Verfügung. In dieser
Zeit mußten sie es schaffen. Zumal Nabib von großen
Schafherden zu berichten wußte, die zwischen hier und
der Ebene von Sapca weideten. Da somit für Nahrung
gesorgt sein
würde – Wasser gab es in diesem Gebiet ebenfalls
reichlich –, konnte man den gesamten Troß
zurücklassen. Das ersparte viel Mühe und Ärger – und
Zeit.
Während die Hauptstreitmacht nach Norden zog,
wollte Dragon mit den tausend Mann der Vorhut den
Weg nach Myra fortsetzen. Sie, Yina, und Kim sollten
ihn begleiten – Kano wurde der Hauptstreitmacht
unter der Führung von Partho und Agrion zugeteilt,
damit beide Heere auf gedanklichem Wege standig
miteinander in Verbindung treten konnten.
Yina konnte der Versuchung nicht länger
widerstehen und drang in Bodos Gedanken ein. Sie
zuckte aber sofort wieder zurück, als sie dort auf ein
solches verwirrendes Durcheinander stieß, daß ihr
davon schwindelte.
Als sie ihren Blick wieder festigte, sah sie, daß er ihr
das Gesicht zugewandt hatte. Er betrachtete sie mit
offener Neugierde, aber in seinen Augen war noch
etwas anderes, etwas wie Wärme und Zuneigung.
Yina schwindelte wieder, wie vorhin, als sie in seine
Gedanken eingedrungen war. Sie lächelte unsicher und
wußte sich nicht anders zu helfen, als auf Agrion zu
deuten und zu sagen: »Siehst du, wie es an ihrem
Finger funkelt, Bodo?«
Der junge Mann aus dem Wolfsland blickte ebenfalls
zu Agrion hinüber und schien für einen Augenblick
von dem geheimnisvollen Leuchten an einem ihrer
Finger gebannt.
»Ein Schmuckstück«, sagte er dann jedoch
unbeeindruckt. »Es ist sicherlich besonders wertvoll.«
»Es ist kein gewöhnliches Schmuckstück«, erwiderte
Yina, »sondern der Mondring. Er ist am Tage matt und
unscheinbar, aber wenn das Licht des Mondes auf ihn
fällt, dann geht ein geheimnisvolles Leuchten von ihm
aus. Hast du nicht auch die Ahnung, daß
übernatürliche Kräfte in ihm schlummern?«
»Nein«, sagte Bodo nur.
»Und doch ist es so«, behauptete Yina. »Wenn schon
keine andere Macht von ihm ausgeht, dann doch die,
um das Volk der Katmahzari zu beherrschen. Agrion
war früher eine Sklavin. Der Mondring befand sich
schon früher in ihrem Besitz, ohne daß sie jedoch seine
Bedeutung kannte. Von den Amazonen erfuhr sie
dann, daß der Mondring sie zur Nachfolgerin der
Königin macht.«
»Warum erzählst du mir das?« fragte Bodo.
Diese direkte Frage brachte Yina noch mehr in
Verlegenheit.
»Ich weiß nicht ... Die Nacht ist so schön – hättest du
nicht Lust, ein wenig durch das Lager zu streifen?«
»Ja«, sagte Bodo erfreut, »ich möchte fort von den
Menschen. Sie erdrücken mich fast.«
»Wenn du lieber allein sein möchtest?«
»Nein, ich fühle mich wohl in deiner Nähe. Du ...«
Yina schwieg erwartungsvoll, aber da Bodo nicht
weitersprach, fragte sie:
»Was wolltest du sagen?«
»Du erinnerst mich an jemanden, Yina.«
Sie wagte es nicht, sich die Antwort aus seinen
Gedanken zu holen.
»An wen?«
»An einen Wolf.«
Im ersten Moment war sie enttäuscht. Aber dann
merkte sie, daß es etwas ganz anderes war, von Bodo
mit einem Wolf verglichen zu werden, als wenn Kim
oder Kano sie »Maus« nannten.
Bodo fuhr fort:
»Der Wolf war mein Freund. Ich nannte ihn Achr. Er
blieb mir viele Sommer und Winter treu. Wir gehörten
zusammen. Aber dann kamen die Horden der Nacht,
und Achr schloß sich ihnen an. Ich glaubte, ihn für
immer verloren zu haben. Doch als ich in Lebensgefahr
geriet, opferte er für mich sein Leben.«
Sie gingen eine Weile schweigend durch die Nacht.
Schließlich fragte Yina:
»Und was erinnert dich bei mir an ihn?«
Bodo blieb stehen und ergriff ihre Hände.
»Ich fühle, daß wir beide auch Freunde werden
könnten.«
Yina spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug.
Was war denn in sie gefahren, daß sie so aufgeregt
war? Bodo hatte ihr doch bloß die Freundschaft
angeboten. Oder war es mehr?
»Ich möchte, daß ... daß wir Freunde werden!« Sie
hatte ihre Hemmungen überwunden. »Wir werden in
den nächsten Tagen immer zusammenbleiben, und du
wirst sehen, mit meiner Hilfe wirst du die Scheu vor
den Menschen verlieren ...«
Er unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»In den nächsten Tagen werden wir nicht
Zusammensein, Yina«, meinte er bedauernd. »Ich habe
gehört, daß du mit Dragon nach Myra ziehen sollst. Ich
aber werde mich den Kriegern anschließen, die sich
nach Norden schlagen.«
»Warum?« war alles, was sie sagen konnte.
»Wenn Männer gegen Wölfe kämpfen, kann ich
nicht zurückstehen. Aber wir werden uns wiedersehen
Yina. Und werden wir Freunde bleiben?«
Sie nickte, den Tränen nahe.
»Darf ich dich küssen, Yina?«
Der Schreck fuhr ihr so heftig in die Glieder, daß er
sie lähmte. Sie stand nur da, zu keinem Ton und keiner
Bewegung fähig. Nie hätte sie gedacht, daß einmal ein
Mann sie dies fragen wurde.
»Verzeih, Yina!«
Bodo wandte sich um und verschwand in der Nacht.
»Wir bleiben Freunde, Bodo!« rief sie ihm nach.
3.
»Hat es den Fettsack doch erwischt – und ohne daß ich
einen Finger rührte!« Das sagte Ermyas, mit einer
Mischung aus Verwunderung und Spott, als man ihn
nach dem Bekanntwerden von König Zogors Tod aus
dem Kerker holte.
Das war Mitte Mond des Löwen gewesen.
Zwei Tage später hatte Ermyas Krönung
stattgefunden.
Jetzt, wenige Tage danach, gegen Ende dieses
Mondes, saß er auf seinem Thron und hielt die Macht
in Händen. Aber der Thron wackelte, und seine Macht
reichte nicht weit über die Mauern Myras hinaus.
Aber selbst in Myra gärte es, und viele der Bürger,
die dem Neffen des toten Königs den Vorzug vor dem
Barbaren gaben, der aus dem Osten nahte, bereuten
ihren Entschluß aus tiefstem Herzen.
Ermyas war erbarmungsloser, rachsüchtiger und
unmenschlicher, als es König Zogor jemals sein könnte.
Er ging rücksichtslos gegen seine Feinde und gegen
jene vor, die er für seine Feinde hielt – und zeigte sich
kalt und undankbar gegenüber all jenen, die ihn aus
dem Kerker geholt hatten.
Gleich am Tage nach seiner Krönung hielt er ein
fürchterliches Gericht.
Er lud alle Daikane, Günstlinge und Edelleute, die
höheren Berater des Königshauses und die Heerführer
zu einem Fest zu sich in den Thronsaal. Aber viele der
dreihundert Plätze blieben vorerst unbesetzt – Daikane
der entfernteren Provinzen waren abtrünnig geworden
und geflohen. Günstlinge, Edelleute und Heerführer,
die mit Zogor gen Osten gezogen waren, lebten nicht
mehr, und einige der königlichen Berater hatten es
vorgezogen, ihre Dienste dem neuen König zu
verweigern. So kam es, daß nur die Hälfte der
geladenen Gäste erschien.
Doch Ermyas wußte Abhilfe. Er schickte seine Boten
und Schergen aus und holte Edelleute niedrigeren
Ranges zu sich, die er für wert erachtete, an diesem
Fest teilzunehmen.
Ermyas gab sich zufrieden, als die Tafel doch noch
bis auf den letzten Platz besetzt wurde. Doch innerlich
ärgerte es ihn, daß so viele nicht den Mut besessen
hatten, ihm unter die Augen zu treten. Er betrachtete
dies nicht als einen Akt der Unhöflichkeit, sondern als
Feigheit. Wenngleich er sie zu ihrem untrüglichen
Spürsinn beglückwünschen mußte, der ihnen den
baldigen Tod erspart hätte ...
Ermyas: vierundzwanzig Sommer alt – oder
genauer, vierundzwanzig Winter, denn er hatte im
Mond des Wolfes das Licht der Welt erblickt – von
kleinem Wuchs, aber muskulös, mit einer unnatürlich
blassen Haut, die an seinen Aufenthalt im Verlies
gemahnte. Er hatte schmale, aber kraftvolle Hände,
deren Finger kostbare Ringe zierten.
Er hatte das Kinn auf einer Hand aufgestützt, mit
der er an der Lehne des Thronsessels lehnte. Hinter
ihm war das Waffengeklirr der vier Dutzend Wachen
zu hören, die sich ständig in seiner Nähe aufhielten.
Rund um den Thron lagen schlanke Knaben
ausgestreckt, die eine Haut besaßen, die von solch
fahler Farbe wie das Mondlicht war, ihre Haare waren
von reinem Goldgelb und ihre Augen so blau wie die
unendliche See. Es waren kostbare Sklaven, deren
Heimat der Hohe Norden war.
Zu Ermyas Rechten stand Gorey, sein Kanzler.
Gorey war zu Zogors Lebzeiten ein Berater unter vielen
gewesen, der sich weder durch Gutes noch durch
Schlechtes aus der Masse der anderen hervorhob. Aber
er war damals schon klug genug gewesen, mit Ermyas
zu paktieren, denn für ihn war es gewiß, daß eines
Tages der Neffe des Königs den Thron besteigen
würde.
Nachdem in Myra bekanntgeworden war, daß
Zogor in der Schlacht gegen die Urgoriten und deren
Verbündete das Leben eingebüßt hatte, war Ermyas auf
sein Betreiben aus dem Kerker geholt und zum neuen
König von Myranien gemacht worden. Ermyas dankte
es Gorey, indem er ihn zum Kanzler machte.
Aber inzwischen hatte sich das Verhältnis zwischen
Gorey und Ermyas getrübt. Der Kanzler, der geglaubt
hatte, daß Ermyas auf dem Thron zu Weisheit und
Gerechtigkeit gelangen wurde, mußte bald erkennen,
daß er sich bitter getäuscht hatte. Aber er hoffte immer
noch, daß Ermyas geläutert würde und darum sparte
er nicht mit Ermahnungen und guten Ratschlägen.
»Du bist deinen Gästen eine Rede schuldig,
Erhabener«, raunte der Kanzler dem jungen König zu.
Ermyas warf seinem Lieblingsjüngling Torffson
einen belustigten Blick zu und meinte, halb an ihn
gewandt:
»Man könnte meinen, Gorey sei nicht mein Kanzler,
sondern meine Amme. Er scheint nicht zu wissen, daß
er mich beraten und nicht erziehen soll.«
Gorey schnappte sichtlich nach Luft. Aber bevor er
eine seiner Ermahnungen von sich geben konnte,
winkte Ermyas ab.
»Schon gut, Kanzler. Ich werde eine Rede halten.«
Ermyas zwinkerte seinem Lieblingsjüngling zu und
erhob sich. Augenblicklich verstummte das Gemurmel
unter den Gästen. Sie blickten erwartungsvoll zum
Thron.
»Ich habe euch zu mir bestellt, daß ihr mit mir das
Fest meiner Krönung feiert. Aber ihr sollt nicht nur auf
mein langes Leben anstoßen, sondern auch auf den
gerechten Tod meines Onkels.«
»Zogor ist tot, es lebe der König!« riefen einige der
Gäste zaghaft.
Ermyas nahm es mit einem zynischen Lächeln zur
Kenntnis, daß die meisten sich enthalten hatten, in
diesen Hochruf einzustimmen. Er fuhr fort, indem er
den Musselinumhang des Königs mit einer gezierten
Bewegung bis an seine Brust hochhob:
»Freilich entgeht es mir nicht, daß einige unter euch
viel lieber auf meinen Tod trinken würden. Aber denen
sei gesagt, daß ich nicht gewillt bin, ihnen schon bald
in das Reich Amyrons nachzufolgen.«
Er blickte aus zusammengekniffenen Augen auf die
Anwesenden, so daß für jeden einzelnen der Eindruck
entstehen mußte, er selbst werde von dem König
geradewegs angestarrt.
»Trinkt und eßt also, meine Freunde – und auch
jene, die nicht gewillt sind, den Ruhm in den
kommenden Sommern mit mir zu teilen.«
Ermyas nahm unter dem betroffenen Gemurmel der
Gäste und unter den mißbilligenden Blicken seines
Kanzlers wieder Platz. Er klatschte in die Hände. Die
Tore am anderen Ende des Thronsaales wurden unter
dem Klang von Hörnern geöffnet, und herein kamen
Sklaven, die hochrädrige Wägelchen hereinführten, auf
denen sich Speisen und Getränke türmten.
»Mit deinen Worten hast du den Gästen die Speisen
vergällt«, murmelte der Kanzler zu seinem König.
»Im Vertrauen, mein Kanzler«, sagte Ermyas
spöttisch hinter vorgehaltener Hand. »Manche der
Speisen sind tatsächlich vergällt. Die Sklaven wissen es
und werden sie an jene reichen, die sie verdient
haben.«
Gorey zuckte zusammen und blickte seinen König
entsetzt an. Dieser fand diese Reaktion so komisch, daß
er lauthals lachte.
Die Speisen wurden gereicht. Die Gäste machten
sich zuerst lustlos, aber dann mit steigendem
Wohlgefallen darüber. Ermyas hatte die Gerichte von
den besten Köchen zubereiten lassen. Die Festgäste,
denen Ermyas‘ düstere Worte noch deutlich in den
Ohren klangen, wurden immer gelöster, die
Unterhaltung wurde angeregter, und so mancher
verschworene Feind des neuen Königs war gewillt,
seine Meinung über ihn noch einmal zu überdenken
und womöglich zu ändern ...
Bis dann der erste der Gäste plötzlich mit einem
gurgelnden Laut aufsprang, davontaumelte und nach
wenigen Schritten zusammenbrach. Ein zweiter folgte,
dann wurden mehrere Stühle gleichzeitig gerückt ...
Der Daikan einer nahen Provinz riß sein Schwert aus
dem Gürtel, während er mit unkontrolliert zuckendem
Körper auf den Thron losstürmte. Doch er kam nicht
weit. Sein Körper verkrampfte sich, und er brach
zusammen.
Tödliches Schweigen hatte sich über den Thronsaal
gesenkt, als zwei Dutzend Männer reglos auf dem
Boden rund um die Tafel lagen. Niemand wagte mehr,
ein Glas oder einen Teller anzurühren. Und in die Stille
hinein sagte Ermyas, ohne sich von seinem Thron zu
erheben:
»Amyron hat diese Männer zu sich geholt, weil sie
Verräter waren. Nicht ich habe das Urteil gesprochen,
sondern der Gott der Totenwelt. Laßt es euch weiterhin
schmecken, meine Getreuen, denn ihr müßt nicht
befürchten, daß die kalte Hand Amyrons nach euch
greift. Musik! Tänzer!«
Kaum hatte Ermyas in die Hände geklatscht, als aus
verborgenen Nischen verführerische Klange in den
Thronsaal drangen. Bemalte Jünglinge erschienen auf
der freien Fläche zwischen den Tischen und boten
einen Liebestanz dar.
Aber nur Ermyas und seine Jünglinge wurden sich
der hintergründigen Erotik gewahr, die Gäste standen
immer noch zu sehr unter dem Eindruck des lautlosen
Todes, der scheinbar wahllos zugeschlagen hatte.
»Vielleicht wird es doch noch ein stimmungsvolles
Fest«, tröstete Ermyas seinen Kanzler, der
bewegungslos wie eine Statue dastand und dem das
Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand.
»Du hast mir nichts von deinem Vorhaben gesagt,
daß du aus dem Krönungsfest eine Massenhinrichtung
machen willst«, sagte Gorey tonlos.
»Dabei war das erst der Anfang«, erwiderte Ermyas
ungerührt.
Gorey wandte sich ihm erschrocken zu.
»Du willst doch nicht ...«
»Was will ich nicht, mein Kanzler?« fragte Ermyas
höhnisch. »Habe ich nicht das Recht, meine Feinde
auszuschalten! Soll ich diese Brut, die mir den Tod und
die Pest an den Hals wünscht, an meinem Busen
nähren, bis sie stark genug ist, die Wünsche in die Tat
umzusetzen. Ich schütze nur mein Leben, wenn ich den
Tod unter jenen säe, die ihn verdient haben – und
wenn ich ein Schauspiel daraus mache, dann ist das
mein königliches Recht!«
»Du nennst es königliches Recht, meinst aber ein
gottgleiches Verhalten«, erwiderte Gorey.
»Bin ich nicht Herr über Leben und Tod?«
»Doch, Erhabener«, antwortete der Kanzler. »Aber
du scheint den kleinen Unterschied zu mißachten, der
zwischen dem Tod besteht, den ein König gibt, und
dem Tod, den die Götter schenken.«
»Solche Worte möchte ich nicht aus dem Mund
meines Kanzlers hören, Gorey«, sagte Ermyas drohend.
»Ich bin der Gottkönig von Myramen, und vielleicht
lasse ich mir einen Tempel bauen, wenn das dir
Zweifler zum Glauben an mich verhilft. Und jetzt geh!
Was folgt, wird deinen Augen schmerzen!«
Der Kanzler enthielt sich jeder weiteren
Entgegnung, verneigte sich und ging rückwärts aus
dem Thronsaal.
Die blonden Jünglinge tanzten immer noch, ihre
Bewegungen wurden unter der anschwellenden Musik
immer ekstatischer. Plötzlich brach die Musik ab, die
Tänzer lagen wie leblos auf den marmornen Boden
hingestreckt. Die Festgaste blickten zum Thron, wo
Ermyas nachlässig lungerte und den Kopf auf die
Hand stützte. Alles wartete auf eine Reaktion von ihm.
Hatten ihm die Darbietungen der Tänzer gefallen, dann
würden die Gäste ihnen mit ihm Beifall zollen.
»Demis!«
Ermyas sagte es nicht besonders laut, aber jeder im
Saal konnte seine Worte hören. Der Angesprochene
erhob sich. Es war ein Siliker aus dem Süden des
Landes und vertrat sein Volk als Nachfolger von El
Haleb, der im Verlies den Tod gefunden hatte.
»Mein König«, sagte Demis, der Daikan von
Silikhur.
»Wie kommt es, daß sich unter den königlichen
Kriegern keine Siliker finden?« fragte Ermyas im
Plauderton.
»Mein König«, sagte Demis mit fester Stimme, »du
kennst die Eigenart der Siliker. Sie stellen sich nicht
unter den Befehl der myranischen Heerführer. Aber
wenn es gilt, das Königreich zu verteidigen, dann
werden sie unter der Führung ihrer Stammesfürsten ihr
Leben für dich geben.«
»Das sind leere Worte«, erwiderte Ermyas spöttisch.
»Warum haben sich die Siliker dann nicht Dragon zum
Kampf gestellt?«
Demis wurde unsicher. Er zuckte die Achseln und
wollte zum Sprechen ansetzen, aber Ermyas unterbrach
ihn.
»Die Siliker haben ruhig zugesehen, daß sich dieser
Barbar mit seinen Horden immer weiter Myra näherte.
Niemand in Silikhur hat daran gedacht, den
myranischen Kriegern zu Hilfe zu kommen. Das sagt
mir genug darüber aus, wie sehr ich mit der
Unterstützung der Silikerfürsten rechnen kann. Ich
habe den Verdacht, daß die Siliker im stillen auf den
Zerfall des myranischen Reiches hoffen, und darum
nenne ich dich hier vor allen einen Verräter!«
Demis machte einen Schritt nach vorne. Weiter kam
er nicht. Ein rotweiß gefiederter Pfeil pfiff heran und
bohrte sich ihm in den Rücken. Durch die Reihen der
Festgäste ging ein vielstimmiger Aufschrei. Alle
blickten in die Höhe, wo zwischen den Säulen des
Rundganges Bogenschützen erschienen waren – eine
ganze Hundertschaft.
Noch ehe sich die Gäste von ihrer Überraschung
erholt hatten, nannte Ermyas vier weitere Namen.
»Yn Wedo, Yean, Marabeo, Argango!«
Noch ehe die vier Aufgerufenen recht begriffen,
ragten aus ihren Körpern die Schäfte von Pfeilen. Die
Bogenschützen legten neue Pfeile ein.
»Daikane, deren Truppen sich dem Feind
widerstandslos unterwerfen, sind besser tot!«
begründete Ermyas sein Todesurteil.
Der König ließ weitere Namen fallen, und wieder
löschte sie der gefiederte Tod aus dem Buch der
Lebenden. Einige der Todeskandidaten suchten hinter
den Tischen und Stühlen Deckung. Aber die
Bogenschützen, die den Rundgang in halber Höhe des
Saales auf allen Seiten besetzt hatten, erspähten
blitzschnell die wunden Punkte ihrer Deckung und
schickten ihre Pfeile mit tödlicher Sicherheit ins Ziel.
»Ergedes!«
Der alte Mann, der wie unbeteiligt an der Tafel
sitzengeblieben war, erhob sich gefaßt. Bevor er sich
aufgerichtet hatte, sauste ein Pfeil heran und bohrte
sich ihm in die Lenden. Er krümmte sich und taumelte
in die Saalmitte. Er schleppte sich mit letzter Kraft bis
zehn Schritte vor den Thron. Dort brach er zusammen.
Aber er war noch nicht tot. Er hob den Kopf seitwärts
hoch und fragte:
»Warum?«
»Du bist ein Mann mit viel Wissen, Ergedes«, sagte
Ermyas. »Du hast mich von Kind an bis ins
Mannesalter viele Dinge gelehrt, die mir sehr geholfen
haben. Aber einmal sagtest du mir, daß alle Menschen
gleichwertig seien, ob sie nun in Lumpen gingen oder
ein Königsgewand trugen. Du sagtest, daß ein Mensch
Mensch bliebe, egal welches Schicksal oder welche
Gnade er erfahren würde. Und deshalb mußt du
sterben. Du hast damals mich und jeden von den
Göttern Erwählten mit jedem Bettler gleichgestellt. Du
verstehst, Meister Ergedes, daß ich diesen Frevel
bestrafen muß!«
Auf einen Wink Ermyas‘ schoß ein weiterer Pfeil
heran und bohrte sich in den Körper des am Boden
liegenden Mannes.
»Rueyf! El Molo! Dardanin! Yorgon ...!«
Sie alle starben – und noch mehr.
Als Ermyas sein furchtbares Strafgericht beendete,
bedeckten zweihundert tote Frauen und Männer den
Marmorboden des Thronsaales.
Damit leitete Ermyas seine Schreckensherrschaft ein,
den man in Myra noch lange als »König der vierzehn
Tage« in Erinnerung behalten würde ...
»Du brauchst keinen Kanzler, sondern einen Henker,
Erhabener«, sagte Gorey.
Ermyas hatte ihm den Rücken zugekehrt und aus
dem Fenster über die Stadt hinuntergeblickt. Die Stadt,
so prachtvoll sie angelegt war, mit den Palästen der
Reichen, den je nach Zunftzugehörigkeit gestalteten
Häusern der Händler und Handwerker und den
Tempeln der unzähligen Götter, wirkte selbst im roten
Licht der Abendsonne wie tot und ausgestorben. Kaum
jemand wagte sich bei Einbruch der Dunkelheit noch
auf die Straße, weil man sich vor den Schergen des
Königs fürchtete, deren schwere Schritte zu dieser
Stunde gespenstisch von den Häusern widerhallten.
Der Hafen, einst Ankerplatz für Schiffe aus allen
Ländern der bekannten Welt, bot ein trostloses Bild der
Leere. Es fehlten die schlanken Händlerboote mit ihren
bunten Segeln und mehr noch, die bauchigen
Galeeren – die unbezwingbaren myranischen
Kriegsschiffe, Sinnbild für die Macht des Königs von
Myranien.
»Zogor hat mir ein schlechtes Erbe überlassen«,
sagte Ermyas verbittert. Er wandte sich Gorey zu, und
zum erstenmal seit seiner Freilassung aus dem Kerker
sah der Kanzler im Gesicht des jungen Königs einen
Ausdruck menschlicher Schwäche. Fast empfand er
Mitleid mit Ermyas, aber eben nur fast, denn im
nächsten Augenblick schon verschwanden die
menschlichen Züge.
»Dieser Fettwanst hat für diesen sinnlosen Krieg die
Schatzkammer geplündert!« rief Ermyas wütend. »Er
hat das Gold mit vollen Händen Männern zugeworfen,
um sie zu kaufen. Er hat geglaubt, Geld macht ihren
Arm stark und ihr Herz mutig ... und jetzt laufen sie,
Myras Geld in Taschen, zum Feind über! Zogor hat fast
die gesamte Flotte nach Dan geschickt. Jetzt liegen die
Galeeren dort im Hafen, und die Daniter versteigern
sie an die Meistbietenden. Das sind die düsteren
Vorzeichen, unter denen ich den Thron bestiegen habe,
Gorey!«
Der Kanzler schwieg, weil er vermutete, daß Ermyas
noch nicht am Ende seiner Rede war. Er hatte richtig
vermutet.
»Zogor war ein Weichling«, fuhr Ermyas bitter fort.
»Er hat nicht die Treuen und Starken gewürdigt,
sondern die Schmeichler. Einen aufrechten Mann hat er
mit einem Dolchstoß, mit Gift und Feuer bestraft,
einen, der schöne Worte machen konnte oder ihm sein
Weib aufs Lager brachte, hat er mit Reichtümern
überschüttet. So kam es, daß das gesamte Königshaus
von Heuchlern und Lügnern durchsetzt wurde. Ich
habe mir seit vielen Jahren alle genau angesehen, die in
den Thronsaal kamen, denn so klar, wie am Ende eines
Tages die Reise der Sonne zu Ende ist, so sicher mußte
auch der Abend für Zogor kommen. Ich habe mir alle
seine Günstlinge angesehen, weil ich wissen wollte,
woran ich mit ihnen sein würde, wenn ich selbst
einmal den Thron bestieg. Und ich schwor mir, daß für
die Intriganten, Heuchler, Lügner und Schwächlinge
mein Krönungsgeschenk der Tod sein würde. Jetzt
weißt du, warum die Krönungsfeier diesen blutigen
Verlauf genommen hat. Ich wollte mich aller
Schmarotzer entledigen. Jetzt fühle ich mich gereinigt«
»Hast du mich rufen lassen, um mir das zu sagen,
Erhabener?« erkundigte sich Gorey nach einer Weile.
»Als Kanzler bist du für meine Sorgen und
Probleme zuständig«, herrschte Ermyas sein
Gegenüber an. »Verstehst du denn, was ich will? Ich
will auf der Kraft, die den Leichen der Schwachen
entströmt, eine starke, verschworene Gemeinschaft um
mich aufbauen. Wenn ich von hundert Männern nur
einen am Leben lasse, so ist das das richtige Verhältnis,
denn dieser eine Auserwählte ersetzt mir zehn
Hundertschaften. Verstehst du das. Kanzler?«
Gorey nickte.
»Ich verstehe, was du sagen willst, aber ich
bezweifle, ob das der richtige Weg für eine Auslese
ist.«
Ermyas verzog spöttisch die Mundwinkel.
»Ich sehe, daß du nicht einer von hundert bist. Wenn
ich dich dennoch zu den Auserwählten zähle, dann
nur, weil du mich zufällig aus dem Kerker geholt hast »
»Wie kannst du meine Handlungsweise dem Zufall
zuschreiben?« wunderte sich Gorey.
Ermyas winkte ab.
»Ich wollte gar nicht darüber mit dir reden. Ich habe
ein Problem, Gorey. Im Osten steht dieser Dragon mit
einer tausend Mann starken Vorhut keine drei
Tagesritte von Myra entfernt. Dahinter lauern hundert
kampferprobte Hundertschaften ... Aber ich habe nicht
genügend Krieger, um den barbarischen
Emporkömmling aufzuhalten. Warum ist das so,
Gorey? Als Zogor mit seiner Streitmacht nach Osten
zog, ließ er zwanzigtausend Krieger in Myra und den
umliegenden Garnisonen zurück. Wo sind diese
Männer?«
»Kannst du dir die Antwort darauf nicht selbst
geben, mein König?« sagte Gorey. »Als die Kunde von
der Niederlage Zogors in Myra eintraf, löste sich das
riesige Heer auf. Die Krieger, ohne Hoffnung auf die
versprochene Beute und reichlichen Sold, streckten ihre
Waffen und verstreuten sich in alle Teile des Landes.
Sie kehrten nach Hause zurück, wurden Hirten und
Bauern oder Räuber und Plünderer. Du sagtest vorhin
selbst, daß die Schatzkammer leer ist. Wovon sollten
die Krieger bezahlt werden?«
»Wir werden die Schatzkammern wieder füllen!«
sagte Ermyas entschlossen.
»Wenn du so sicher bist, daß dir das gelingt, dann
hast du auch schon einen Plan, Erhabener?«
»Nichts einfacher als das«, erklärte Ermyas. »Ich
werde meine Männer in jedes Haus in dieser Stadt
schicken und sie die Steuern für die kommenden Jahre
eintreiben lassen. Jeder Bürger hat die Pflicht, sein
gesamtes Vermögen zum Wohle der Stadt zur
Verfügung zu stellen. Was hältst du davon, Kanzler?«
»Die Bürger klagen schon jetzt unter der Last der
Steuern, Erhabener«, sagte Gorey. »Aber wenn du
ihnen alles nimmst, dann werden sie nicht nur noch
lauter klagen, sondern handeln. Das kann dich ihre
Gunst kosten, mein König.«
»Aber es wird mir die verlorenen Heerscharen
wiederbringen«, entgegnete Ermyas. »Mit dem Geld
der Bürger bezahle ich die Krieger, und die Krieger
werden die Bürger im Zaum halten und die Barbaren
aus dem Osten bezwingen. Ich rechne mit deinem
Einverständnis für diese Maßnahme, Kanzler. Mit
deinem Namen unter dieser Verfügung wird sich der
Widerstand der Bürger in Grenzen halten. Du stehst
bei ihnen in einem guten Ruf.«
Gorey verneigte sich leicht vor dem König. Damit
gab er schweigend sein Einverständnis für dessen
Maßnahme.
Gorey zog sich aus dem Königsgemach zurück. Es
hatte keinen Sinn mehr gehabt, irgendeinen Einwand
zu wagen. Ermyas erwartete keine vernünftigen
Ratschläge, sondern grundsätzlich nur eine
Bestätigung für seine eigenen Beschlüsse.
Der Kanzler suchte zuerst sein Gemach auf, um
allen Beobachtern glauben zu machen, daß er sich dort
aufhielt, dann begab er sich auf Schleichwegen aus
dem Palast und in die Stadt.
Die Sonne war schon lange untergegangen, als er
das Haus des reichsten Händlers der Stadt erreichte
und es unbeobachtet betrat. In einem streng bewachten
Raum wurde er bereits von zwei Dutzend der
einflußreichsten Männern erwartet, darunter nicht
wenige, die im Palast ständig ein – und ausgingen und
die Ermyas zu seinen Getreuen zählte.
»Ich habe gefehlt, als ich Ermyas aus dem Verlies
holte«, gestand Gorey vor den Versammelten ein.
»Aber es ist noch nicht zu spät, um meinen Fehler
wiedergutzumachen. Ich habe elf Tage, gewartet, weil
ich hoffte, daß Ermyas Vernunft annehmen würde.
Aber in dieser Zeit, in der er über Myra geherrscht hat,
hat er mehr Leid über die Stadt gebracht als Zogor in
zwanzig Sommern über das gesamte Reich. Ich sage
euch, Dämonon hat Ermyas in den Klauen. Wir müssen
handeln!«
Kaum aus dem Kerker befreit, hatte Ermyas alle Frauen
König Zogors mitsamt deren Kindern hinrichten
lassen; jetzt bewohnten seine nordischen Jünglinge den
Harem.
Die Tür zu Ermyas‘ Gemächer stand jederzeit offen,
doch wagte es keiner der Jünglinge, sie zu
durchschreiten, ohne gerufen zu werden.
In dieser Nacht wälzte sich Torffson auf seinem
Lager aus samtweichen Kissen unruhig hin und her.
Obwohl eine kühle Brise durch die geöffneten Fenster
wehte, war er schweißgebadet, und sein leichtes
Seidengewand klebte ihm förmlich am Körper. Er hatte
schlecht geträumt und war aus dem Schlaf geschreckt.
Aber als er dann wieder einschlief, verfolgten ihn
dieselben furchtbaren Träume. Weiber mit Fackeln und
geraden Schwertern hetzten ihn.
Ein Schrei.
Torffson und die anderen Jünglinge fuhren zitternd
hoch.
»Torffson!«
Der König erschien in der Tür Sein Gesicht war
kreidebleich, und er mußte sich an der Wand
abstützen.
Der Jüngling eilte leichtfüßig zu seinem König.
»Ich hatte einen furchtbaren Traum«, sagte Ermyas
und starrte mit blicklosen Augen vor sich hin. Er zog
die Augenbrauen zusammen, so daß sein Gesicht einen
Ausdruck von Verblüffung bekam. »Oder war es gar
kein Traum? Komm mit in mein Zimmer. Torffson,
und sage mir, ob du etwas Ungewöhnliches sehen
kannst.«
Der Jüngling folgte ihm und durchsuchte seine
Gemächer.
»Ich kann nichts finden, Herr.«
»Hast du in allen Winkeln und hinter allen Türen
nachgesehen? Bist du sicher, daß sich hier niemand
versteckt hält?«
»Ich bin sicher, Herr!«
Ermyas atmete erleichtert auf.
»Dann habe ich wohl nur geträumt«, sagte er. »Ich
mochte trotzdem, daß du in meinem Zimmer Wache
hältst. Hole dir Kissen, richte dir ein Lager vor meinem
Bett. Wenn du Geräusche hörst oder etwas siehst, dann
wecke mich sofort.«
»Ja, Herr!«
Torffson wagte nicht von seinen eigenen
Schreckenstraumen zu berichten. Er rollte sich auf den
Kissen vor Ermyas‘ Bett zusammen und hielt die
Augen geöffnet. Er konnte nicht einschlafen, auch dann
nicht, als du regelmäßigen Atemzüge seines Herrn
verrieten, daß er längst Ruhe gefunden hatte.
Ermyas‘ Ruhe dauerte jedoch nicht lange ...
»Ermyas, wach auf! Ich bin wieder zurückgekehrt.
Ermyas, hier ist Zogor!«
Der junge König erwachte, aber er hielt die Augen
geschlossen. Er lauschte, aber die Stimme meldete sich
nicht sofort wieder. Dafür hörte er Geräusche an
seinem Bett, und ihm war, als höre er das verhaltene
Atmen eines Wesens.
Nein, er war nicht wach! Er träumte alles nur. Zogor
war tot, und so sehr er es sich vielleicht wünschen
mochte, aus dem Reich der Toten zu den Lebenden
zurückzukommen – Amyron hielt ihn mit sicherem
Griff zurück. Zogor war es nur möglich, seine Feinde
durch die Träume zu verfolgen ...
»Ermyas, wach auf! Öffne die Augen und sieh mich
an. Ich bin es, Zogor!«
Ermyas konnte die Augen nicht länger mehr
geschlossen halten.
Er riß sie auf – und sah Torffson über sich gebeugt.
»Was ist in dich gefahren ...«, begann Ermyas
wütend.
Aber Torffson sagte ungerührt, »Ich bin Zogor. Du
sollst wissen, daß ich gekommen bin, um mir den
Thron zurückzuholen.«
»Torffson!« kreischte Ermyas.
Der Jüngling wich einen Schritt zurück, und Ermyas
sah, wie eine Verwandlung mit ihm vor sich ging. Sein
schmales, feingeschnittenes Gesicht blähte sich auf,
wurde voll, rund und fett. Er schien zu wachsen, sein
Körper wurde immer breiter, bis die knabenhafte
Gestalt unförmig war.
»Sieh mich an, ich bin Zogor«, sagte das, was aus
Torffson geworden war, mit Zogors Stimme.
Und es war tatsächlich Zogor!
Ermyas schrie auf und barg sein Gesicht in den
Händen.
»Torffson!« rief er mit sich überschlagender Stimme.
»Berühre mich, verscheuche diese schrecklichen
Bilder!«
Langsam beruhigte sich Ermyas wieder. Als er das
Gefühl hatte, daß der Spuk sich wieder aufgelöst hatte,
nahm er die Arme vom Gesicht. Er lugte vorsichtig
darüber.
Die Erscheinung hatte sich tatsachlich wieder in
Nichts aufgelost. Das Bild Zogors war verschwunden,
aber dafür sah Ermyas etwas, daß viel schrecklicher
war als alles in seinen vorangegangenen Träumen.
Er erhob sich langsam aus dem Bett und schritt
schwankend auf die Haremstür zu. Sie war
verschlossen. Torffson lehnte zusammengekrümmt
dagegen. Zwei unterarmlange Parierdolche steckten in
seinem Körper.
Als Ermyas bei ihm war, streckte er die Hand aus
und hegte die stille Hoffnung, daß sie durch Torffson
hindurchgleiten wurde. Aber seine Hände fühlten
festes Fleisch, das noch nicht erkaltet war.
Torffson tot! Von Zogor ermordet!
Zogor? Nein! Das alles war nicht wirklich. Der
Traum war noch nicht zu Ende, er ging noch weiter.
Ermyas nahm seine Hände zurück. Sie fühlten sich
klebrig an. Als er darauf sah und dunkles Blut an ihnen
entdeckte, da erst löste sich der Schrei aus seiner Kehle.
»Wache!«
Die Türen wurden aufgerissen, und die Wachen
stürmten mit gezückten Säbeln ins Zimmer.
»Schafft den Toten fort«, befahl er ihnen.
Sie taten, wie ihnen geheißen.
Ermyas beobachtete sie mit großen, ungläubig
blickenden Augen.
»Könnt ihr ihn sehen?« fragte er. »Könnt ihr ihn
fühlen?«
»Jawohl, Erhabener«, sagte der Wachkommandant.
»Er ist unwiderruflich tot.«
»Das hat Zogor getan«, sagte Ermyas zu sich selbst.
Kaum hatte sich die Tür hinter den Wachen
geschlossen, da erklang hinter ihm ein spöttisches
Lachen.
Ermyas wirbelte herum und blickte suchend um
sich.
»Ich bin hier, Ermyas«, vernahm er Zogors Stimme
aus Richtung des Fensters. Bauschte sich dort nicht der
Vorhang auf eine Art, als verstecke sich jemand hinter
ihm?
Ermyas war mit drei Schritten bei seinem Schwert
und stürmte damit auf den Vorhang los. Mit vier, fünf
Streichen hatte er ihn in Fetzen geschlagen – aber
dahinter kam nicht Zogors Leichnam zum Vorschein.
Dafür konnte Ermyas beobachten, wie der zerfetzte
Vorhang aus der Halterung glitt und in sich
zusammenfiel. Der Stoffberg bewegte sich, als besäße
er ein eigenes Leben und hatte plötzlich eine Form, wie
wenn sich darunter ein menschliches Wesen befände.
Langsam begann Ermyas an seinem Verstand zu
zweifeln. Er wich Schritt für Schritt vor dem Vorhang
zurück, der immer mehr menschliche Formen annahm.
Das Schwert hielt Ermyas fest in der Hand, er war
bereit, selbst gegen Dämonen und Tote zu kämpfen.
Aber er hoffte immer noch, daß dies alles nur ein
Traum sein möge.
Wenn dieser Traum zu Ende war, dann würde er in
allen Tempeln der Stadt Opfer darbringen – nur nicht
im Tempel von Dämonon. Er wurde alle Götter
anrufen und ihre Hilfe gegen den Gott der Dämonen
erbitten, jenen furchtbaren Herrscher über die
Geschöpfe der Finsternis, der seinen Geist mit den
Bildern von Zogor durchsetzte.
Und da war er wieder – aus dem Vorhang war
Zogor geworden.
»Sieh mich an, Ermyas. Ich, Zogor, bin
zurückgekommen, um den Thron zu besteigen.«
Ermyas stürmte unerschrocken auf ihn los. Er hieb
ihm zuerst den Kopf vom Rumpf, dann die Arme und
Beine vom Körper und verstümmelte zuletzt den
Torso. Als das getan war, wusch er seine Hände im
Blut seines Onkels.
Dann ging er zu einer der Türen und befahl den dort
stehenden Wachen:
»Schafft die sterblichen Überreste von Zogor aus
meinem Gemach. Verbrennt sie, nur den Kopf hebt auf.
Er soll an einem Pfahl durch die Stadt getragen
werden, damit alle sehen, daß er unwiderruflich tot
ist.«
Die Wachen wunderten sich über den seltsamen
Befehl ihres Königs, aber sie schickten sich
widerspruchslos an, ihn auszuführen. Nur konnten sie
ihm nicht nachkommen, weil keine sterblichen
Überreste aufzufinden waren.
Ermyas blickte auf seine Hände. Kein Blut war an
ihnen.
Er schickte die Wachen fort. In der nächsten Nacht
tötete er Zogor wieder.
4.
Cnossos‘ Pläne wurden durch eine Reihe
unvorhergesehener Zwischenfälle durchkreuzt.
Sein Plan war es gewesen, während seine Horden
der Nacht Dragons Heer im Nordwesten von Myranien
schlugen, in Myra als König Zogor aufzutreten und
den Thron für sich zu beanspruchen.
Nun war aber Dragon nicht, wie erwartet, mit seiner
Hauptstreitmacht in den Kampf gegen die Horden der
Nacht gezogen, sondern marschierte an der Spitze der
Vorhut unbeirrbar nach Myra weiter. Das bedeutete
aber, daß sich Cnossos persönlich mit ihm befassen
mußte.
Der zweite unvorhergesehene Zwischenfall war, daß
man in Myra von König Zogors Tod bereits überzeugt
war. Die Kunde, daß Dragon die Mumie des toten
Königs mit sich führte, war ihm weit vorausgeeilt und
wurde von niemand in Myra angezweifelt. Und das
war etwas, mit dem Cnossos nicht gerechnet hatte.
Er hatte angenommen, daß man nach seinem
Auftritt als Zogor allgemein davon überzeugt sein
wurde, er sei der echte König von Myranien – und das
Gerücht von seinem Tod sei eben nur ein Gerücht
gewesen.
Darauf durfte er aber aus einem einfachen Grund
nicht hoffen, und zwar aus einem Grund, der ihm am
wenigsten behagte: Ermyas, der rechtmäßige
Thronerbe, war aus dem Kerker entlassen und auf den
Thron gesetzt worden. Damit hatte Cnossos am
allerwenigsten gerechnet. Ermyas würde mit allen zur
Verfugung stehenden Mitteln um den Thron kämpfen.
Cnossos würde über ihn nur triumphieren können,
wenn er alle glauben machen konnte, daß Zogor noch
am Leben war. Und so erschien er Ermyas in dieser
Nacht als Zogor.
Er tötete Torffson, nahm dessen Gestalt ‚ an und
verwandelte sich vor Ermyas Augen in Zogor. Dann
ließ er sich von diesem scheinbar töten. Als der junge
König jedoch die Wachen hereinrief, vereinte Cnossos
seine über den Boden verstreuten Körperteile zu einem
Ganzen, wobei auch das Blut an Ermyas‘ Händen zur
Hauptkörpermasse zurückkehrte, und flog als Geier in
östlicher Richtung davon.
Die Wachen, die Ermyas gerufen hatte, mußten am
Verstand des jungen Königs zu zweifeln beginnen ...
Es war aber nicht damit getan, daß allein Ermyas zu
der Überzeugung kam, daß Zogor noch lebte und
zurückgekehrt war, um Rache zu üben und den Thron
wieder an sich zu reißen. Er mußte das allen glaubhaft
machen – und deshalb blieb ihm keine andere Wahl,
als die Mumie zu beseitigen, so daß Dragon keinen
Beweis für Zogors Tod vorbringen konnte.
Aus diesem Grunde flog Cnossos nach Osten. Als er
das Lager von Dragons tausend Mann starkem Heer
erreichte, kreiste er solange darüber, bis er den Wagen
ausgemacht hatte, auf dem Zogors Mumie aufgebahrt
war.
Er ging in der Nähe nieder. Aber gerade, als er seine
Geiergestalt aufgeben und sich in einen Menschen
verwandeln wollte, entdeckte ihn ein aufmerksamer
Wachtposten. Ein Pfeil bohrte sich in Cnossos‘ Körper
... kurz darauf starb der Wachtposten am Biß einer
Schlange, die Cnossos aus sich geformt hatte.
Jetzt stand der Verwirklichung seiner Pläne nichts
mehr im Wege. Es gab keine weiteren Zeugen, die sein
Kommen beobachtet hatten.
In einem Versteck nahm er Zogors Aussehen an.
Dann schlich er sich zu dem Wagen und betäubte die
dort wachenden Urgoriten mit Traumpulver, das er
aus seiner Körpersubstanz gewann. Sie würden zwei
Stunden lang schlafen, gerade bis zum Morgengrauen.
Und dann würde Cnossos‘ großer Auftritt als von
den Toten wiederauferstandener Zogor kommen! Er
holte die Mumie vom Wagen, versteckte sie unter einer
Plane, wo er sie später vernichten konnte, und nahm
selbst ihren Platz ein.
So wartete er auf den Sonnenuntergang und darauf,
daß das Heerlager zu Leben erwachen würde.
Yina erwachte, noch bevor die Sonne die ersten
Strahlen über den Horizont schickte. Sie hatte davon
geträumt, daß Bodo bei ihr war.
Jetzt war sie hellwach, und das Bewußtsein, daß
Bodo vier Tagesritte von ihr entfernt war, stimmte sie
traurig. Er würde in spätestens einem Tag auf die
Horden der Nacht stoßen – und dann würde sie mit
Dragons tausend Kriegern bereits vor den Toren von
Myra stehen. Was erwartete sie dort?
Sie blickte abwechselnd von Dragon zu Kim, die
beide noch fest schliefen. Für einen Augenblick war sie
versucht, Kim zu wecken, um ihn zu bitten, mit seinem
Bruder Kano in Gedankenverbindung zu treten und
durch ihn zu erfahren, wie es Bodo ging.
Aber diesen Gedanken schlug sie sich sofort wieder
aus dem Kopf. Als sie wieder zu Dragon blickte, sah
sie, wie dessen Amulett, das ein Stück unter der Decke
hervorsah, leicht zu pulsieren begann. Dragon wälzte
sich unruhig hin und her.
Yina dachte sich nichts weiter dabei und verließ das
Zelt.
Es war ein schöner Morgen, die Luft war frisch und
kühl und ließ noch nichts von der Hitze des
kommenden Tages ahnen.
Yina wanderte durch das schlafende Heerlager. Sie
war so in Gedanken versunken, daß sie nicht wußte, in
welche Richtung sie sich begab. Plötzlich sah sie den
Wagen vor sich, auf dem die Mumie König Zogors
aufgebahrt war.
Die dort aufgestellten Wachen lagen reglos auf dem
Boden oder gegen die Deichsel und die Räder des
Wagens gelehnt. Einer lag zusammengerollt auf dem
Kutschbock, den Bogen fest umspannt – aber er rührte
sich ebensowenig wie die anderen.
Ein furchtbarer Verdacht stieg in Yina auf. Aber sie
beruhigte sich sofort wieder, als sie die leisen
Gedanken der Wachen las. Sie waren nicht tot, sondern
schliefen nur.
Dennoch ahnte Yina, daß irgend etwas vorgefallen
sein mußte. Dragon hatte nur die verläßlichsten
Männer zur Bewachung der Mumie abgestellt; es war
unwahrscheinlich, daß sie alle eingeschlafen waren.
Sie kletterte schnell und behende auf den
Kutschbock.
König Zogors Mumie lag scheinbar unberührt da.
Sie hätte aufatmen können, aber dann entdeckte sie
etwas, das sie in helle Panik versetzte...
Dragon richtete sich auf und griff gleichzeitig zu
seinem Schwert. Mit einem Blick übersah er die Lage
im Zelt.
Kim schlief tief, aber Yina war verschwunden. Das
Amulett auf seiner Brust pulsierte, und in seinem Kopf
war ein Pochen, das im gleichen Takt wie das Pulsieren
des Amuletts verlief.
Schritte ertönten vor dem Eingang des Zeltes. Der
Vorhang wurde zurückgeschlagen, und Yina kam
hereingelaufen. Atemlos blieb sie vor ihm stehen.
»Dragon! Dragon!«
Er umfaßte ihre Schulter.
»Was ist denn Schreckliches passiert, Maus?« fragte
er ruhig.
»Ich war beim Wagen mit der Mumie ... und habe
ihre Gedanken gehört!«
Er umfaßte mit einer Hand das Amulett und drückte
so fest zu, als könne er dadurch das Leuchten zum
Erlöschen bringen.
»Du mußt dich geirrt haben, Maus«, sagte er
gepreßt.
»Nein, bestimmt nicht, Dragon«, sagte sie überzeugt.
»Die Wachen sind alle eingeschlafen ... und der tote
Zogor denkt!«
Das konnte nur eines bedeuten: Cnossos!
Dragon hatte schon lange mit einer neuen Attacke
von ihm gerechnet, und er glaubte auch zu wissen, was
Cnossos im Schilde führte.
Kim richtete sich auf und wischte sich den Schlaf
aus den Augen.
»Warum macht ihr denn solchen Krach?« fragte er
mit verschlafener Stimme.
»Du bleibst im Zelt, Kim«, befahl Dragon, während
er sich in Bewegung setzte. »Komm, Yina!«
Er eilte aus dem Zelt, das Mädchen hinter ihm her.
Noch lag das Lager still und friedlich da. Die
meisten Krieger hatten bis lange in die Nacht hinein
gezecht. Dragon hatte ihnen gesagt, daß sie nicht vor
Mittag aufbrechen würden und ihnen alle vertretbaren
Freiheiten gelassen, weil mit einem massiven
Widerstand der Myraner nicht zu rechnen war. Die
Späher hatten berichtet, daß vor der Stadt keine
Kriegerheere lagerten und in Myra selbst die
königlichen Soldaten nur in geringer Zahl zu sehen
waren.
Jetzt erwies es sich als günstig, daß Dragon seinen
Kriegern erlaubte, länger als sonst zu schlafen. Er war
ziemlich sicher, daß Cnossos erst zuschlagen würde,
wenn alle erwacht waren. Wenn es stimmte, daß er den
Platz der Mumie eingenommen hatte, dann war es
zweifellos seine Absicht, den Männern die
Auferstehung König Zogors zu demonstrieren.
Zwei Wachen eilten herbei, als sie Dragon in voller
Kampfausrüstung erblickten.
»Weckt zehn gute Bogenschützen, die weder Tod
noch Dämonen fürchten«, trug er ihnen auf. »Laßt aber
die anderen Männer schlafen.«
Die beiden Wachen eilten davon, Dragon folgte
ihnen mit Yina.
Wenig später waren sie von einer kleinen Schar
Urgoriten umringt, die Bogen in den Fäusten hielten.
»Nehmt nur Brandpfeile mit euch«, befahl er ihnen.
»Und jeder von euch soll sich mit einer Pechfackel
ausrüsten. Steckt die Fackeln in Brand, noch bevor wir
aufbrechen. Später werdet ihr vielleicht keine Zeit
mehr dazu haben.«
Ohne lange Fragen zu stellen, entzündeten die
Männer ihre Fackeln in den Resten eines Lagerfeuers.
Einige der Krieger wurden von den Geräuschen
geweckt, aber als sie Dragons Befehl – »Bleibt, wo ihr
seid!« – hörten, rührten sie sich nicht vom Fleck.
Der kleine Trupp mit Dragon und Yina an der Spitze
setzte sich fast geräuschlos in Bewegung. Die Wachen,
die ihnen zu Hilfe kommen wollten, winkte Dragon auf
ihre Plätze zurück.
Je näher sie dem Wagen mit der Mumie kamen,
desto stärker begann Dragons Amulett zu pulsieren.
Als er zwischen den Zelten auftauchte, hielt Dragon
seine Männer an.
»Wir werden so tun, als hatten wir uns entschlossen,
König Zogors Mumie zu verbrennen«, raunte Dragon
den Kriegern zu. Als er ihre verständnislosen Gesichter
sah, fuhr er fort: »Fragt euch nicht, wozu das gut sein
soll. Nur soviel: Was auf dem Wagen liegt, ist nicht
Zogors Mumie. Ihr mußt also damit rechnen, daß
etwas Unheimliches passiert, das ihr mit eurem
Verstand nicht begreifen könnt. Laßt euch davon nicht
einschüchtern. Wahrscheinlich wird sich irgendein
schreckliches Ungeheuer vom Wagen erheben, wenn
wir ihn in Brand setzen. Wenn es soweit ist, dann
beschießt das Ding mit euren Brandpfeilen. Zuerst
müssen wir aber die Bewußtlosen aus dem
Gefahrenbereich schaffen.«
Die Männer bohrten ihre brennenden Fackeln in den
Boden und rannten geduckt zum Wagen, wo sie sich
der scheinbar Schlafenden annahmen und sie
davonschleiften.
»Sind die Gedanken noch da?« erkundigte sich
Dragon bei Yina.
Sie fröstelte.
»Ja, ich kann sie noch immer hören. Aber jetzt merke
ich, daß es nicht Zogors Gedanken sind. Sie sind so
fremdartig, daß ich keinen Sinn dann finden kann.«
»Das muß Cnossos sein!« Nun war Dragon ganz
sicher. Für ihn stand es fest, daß Cnossos nur abwarten
wollte, bis das Lager erwacht war und alle Krieger
sehen würden, wie König Zogor sich plötzlich erhob,
als sei er nie tot gewesen. In weiterer Folge
beabsichtigte er wahrscheinlich, in Myra einzureiten
und den Thron zu besteigen. Und die Myraner wurden
ihn mit offenen Armen aufnehmen, da sie unter
Ermyas Schreckensherrschaft viel mehr litten, als
jemals unter Zogors Regime.
Die Männer kamen zurück und ergriffen wieder ihre
Fackeln.
Dragon ließ Yina zurück und näherte sich an ihrer
Spitze dem Wagen.
»Die Mumie hat ihre Schuldigkeit getan«, sagte er so
laut zu den Kriegern, daß es Cnossos hören mußte.
»Zündet sie an.«
Die Krieger schleuderten ihre Fackeln auf den
Wagen. Einige landeten auf der Ladeflache, andere bei
den Rädern, wo das ausgedorrte Gras sofort Feuer fing.
Eine Fackel behielt Dragon in der Hand. Die Krieger
entzündeten ihre Brandpfeile daran.
Einige Augenblicke lang geschah überhaupt nichts.
Aber als dann die ersten höheren Flammen von der
Ladeflache züngelten, entstand auf dem Wagen
plötzlich Bewegung.
Die Mumie sprang auf die Beine. Sofort schwirrten
zehn Pfeile von den Sehnen und bohrten sich in die
Zogorgestalt. Ein Aufschrei erklang, wie ihn weder ein
Mensch noch ein Tier dieser Welt hervorbringen
konnte.
Die Zogorgestalt zerfloß, mächtige Schwingen
bildeten sich, das Ungeheuer, das nur noch ein entfernt
menschliches Aussehen hatte, erhob sich in die Lüfte
und flog davon. Zehn weitere Pfeile zogen ihre feurige
Bahn und trafen teilweise ins Ziel.
Vor Schmerz und Wut schreiend, flog Cnossos als
lebende Fackel aus dem Lager hinaus. Als er sich über
einem Wassertümpel befand, stürzte er sich hinein. Das
Wasser zischte auf, und aus den hoch aufspritzenden
Fontänen stießen unzählige kleine Vögel, die sich erst
in sicherer Entfernung zu der bekannten Gestalt des
Riesengeiers vereinten.
»Cnossos wird die Lehre aus dieser Niederlage
ziehen und uns bestimmt nicht mehr behelligen«,
meinte Dragon zuversichtlich. »Aber er wird jetzt sein
Glück in Myra versuchen. Ich wage nicht daran zu
denken, welches Unheil er dort für uns
heraufbeschwören kann.«
Dragon betrachtete die Bogenschützen. Das eben
Erlebte hatte Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen.
Aber sie würden es schon verkraften, denn als
Urgoriten hatten sie das unheimliche Wirken des
Gottes mit den vielen Namen schon früher erlebt.
»Jetzt müssen wir nach der echten Mumie suchen«,
befahl Dragon. »Cnossos hatte sicher nicht genügend
Zeit, um sie weit genug fortzubringen oder gar zu
vernichten.«
Zusammen mit Yina kehrte er zu seinem Zelt
zurück.
»Ich habe gute Nachrichten von Kano«, meldete
Kim. »Während ihr fort wart, habe ich mich mit ihm
unterhalten. Parthos und Agrions Truppen sind einen
Tagesritt von der Bucht der Kiesel auf eine Abteilung
Katmahzari-Kriegerinnen gestoßen, die eine Ladung
Silberwaffen mit sich führten. Kano meinte, nach
Parthos Aussage wurden es genügend sein um
zweitausend Krieger und zusätzlich hundert
Bogenschützen auszurüsten.«
»Das ist in der Tat eine erfreuliche Nachricht«,
meinte Dragon. »Weiß Kano, ob es bereits zu
Kampfhandlungen mit den Horden der Nacht
gekommen ist?«
»Kano sagte, daß die Späherinnen der Amazonen
das Herannahen der Horden der Nacht gemeldet
hätten«, antwortete Kim. »Aber bisher sind sie ihnen
immer ausgewichen. Inzwischen könnten die Horden
aber die Ebene von Sapca bereits erreicht haben.«
Die Ereignisse spitzen sich zu, dachte Dragon.
Es würde bald zur Entscheidung kommen. An der
Grenze von West-Katmahzar ebenso wie in Myra.
Die Amazonen waren mit solcher Begeisterung von
den Kriegern empfangen worden, daß ihnen bange
zumute wurde. Ihre Hände griffen unwillkürlich nach
den Waffen, aber dann ließen sie es doch mit sich
geschehen, von den Kriegern umarmt zu werden. Sie
konnten sehr wohl zwischen zudringlichen Männern
und solchen unterscheiden, die nur ihrer Freude über
kostbare Geschenke Ausdruck verliehen.
Und die Silberwaffen waren in der Tat ein Geschenk
der Götter!
Die Krieger rissen die Decken von den Wagen und
wühlten wie verspielte Kinder in den Schwertern mit
den silbernen Klingen, den Lanzen und Pfeilen, deren
Spitzen ebenfalls im Licht der aufgehenden Sonne
silbrig schimmerten.
Plötzlich erschien jedoch Agrion auf einem der
Wagen und verscheuchte die Männer mit ihrem
Schwert.
»Sag deinen Leuten, daß sie diesen Unfug lassen
sollen, Partho«, rief sie mit zorniger Stimme. »Es geht
nicht an, daß die Krieger wahllos Waffen an sich
nehmen. Wir müssen sie sinnvoll verteilen, damit wir
im Kampf gegen die Wolfsmenschen die größte
Wirkung erzielen.«
Partho schwang sich vom Pferd auf den Wagen und
stellte sich neben sie.
»Die Trägerin des Mondrings hat recht, Männer«,
pflichtete er ihr bei. »Ich möchte keinen dabei
erwischen, daß er unerlaubt einen Silberdolch, oder
auch nur einen Pfeil an sich nimmt! Es sind nicht genug
Waffen für jeden da. Ich schätze, daß wir zweitausend
Krieger damit bewaffnen können. Deshalb werden wir
uns überlegen müssen, wie wir sie verteilen. Geht jetzt
wieder an eure Plätze. Wir legen eine Pause ein. Wenn
die Sonne am höchsten steht, werden wir wieder
aufbrechen und bis zur Ebene von Sapca durchreiten.«
Die Männer zogen sich murrend zurück.
»Das schaffen wir nie«, meinte Agrion so leise, daß
nur Partho es hören konnte. »Die Pferde sind total
erschöpft. Viele werden zusammenbrechen, bevor wir
am Ziel sind.«
»Dann werden wir die Pferde eben zuschanden
reiten, wenn wir dadurch rechtzeitig die Ebene von
Sapca erreichen!«
Agrion nickte und sprang vom Wagen.
»Komm, wir werden uns von den Kriegerinnen
Auskunft darüber holen, wie die Lage im Norden ist.«
Nabib war herangekommen und blickte sehnsüchtig
auf die Silberwaffen.
»Zwanzig Speerspitzen sind aus dem Amulett
geformt, das für mich ein Andenken an eine glutheiße
Liebe war.« Er seufzte. »Aber ich will es gerne opfern,
wenn dadurch zwanzig Wolfsmenschen den Tod
finden.«
Sardak war an seine Seite gekommen. Das silberne
Leuchten der Waffen blendete ihn, er starrte mit
zusammengekniffenen Augen darauf. Dann langte er
hinein und ergriff ein kurzes, gerades Schwert.
»Keine gekrümmte Klinge«, sagte er enttäuscht.
»Nur Amazonenschwerter! Aber sie werden gut genug
sein, um den Geschöpfen des Cnossos den Tod zu
bringen.«
Er wollte sich das Schwert in den Gürtel stecken, da
sprang eine Amazone hinzu und setzte ihm den Dolch
an die Kehle.
»Gib es zurück«, verlangte sie drohend.
»Partho!« rief Sardak erschrocken »Sag dieser
Närrin, daß mir eine Silberwaffe zusteht.«
Anstelle von Partho griff Agrion ein.
»Er darf die Waffe behalten«, sagte sie zu der
Kriegerin. »Suche dir ebenfalls eine aus, Nabib.« Sie
wandte sich dem jungen Mann aus dem Wolfsland zu,
der sich schüchtern im Hintergrund gehalten hatte.
»Bodo, welche Waffe wählst du?«
Bodo kam mit drei schnellen Schritten heran und
schwang sich auf die Bordwand des Wagens. Er
überflog die Waffen mit Kennerblick und ergriff dann
eine zwei Meter lange Lanze mit einer langen
Silberspitze.
Er sprang wieder zu Boden und machte mit der
Lanze einige Scheinangriffe und Abwehrbewegungen.
Dann sagte er zufrieden:
»Damit kann ich mir die Wolfsmenschen vom Leibe
halten und sie gleichzeitig in den Tod befördern. Glaub
mir, Sardak, es wäre klüger, wenn du auch eine Lanze
wähltest.«
Der Helfer der Hirten schüttelte grinsend den Kopf.
»Ich behalte das Schwert.«
Nabib hatte sich ebenfalls ein Schwert genommen.
Er vertraute zwar Bodos Urteil, aber er fand, daß ein
Schwert besser in seiner Hand lag als eine Lanze. Nun
schloß er sich mit den anderen Partho und Agrion an,
die sich zu der Anführerin der Amazonen begaben, die
die Waffen befördert hatten.
Da tauchte Kano an Parthos Seite auf.
»Kim hat sich wieder gemeldet«, sagte er aufgeregt.
Partho blieb stehen und blickte auf den Jungen
herunter.
»Hat sich Cnossos eine neue Tücke einfallen lassen,
um Zogors Mumie zu vernichten?« erkundigte er sich.
Kano hatte ihm erst vor wenigen Augenblicken von
dem Zwischenfall mit Cnossos berichtet.
»Nein, Cnossos hat genug«, sagte Kano. »Aber
Dragons Männer haben die echte Mumie gefunden, die
dieses Scheusal versteckt hat.«
Partho klopfte ihm auf die Schulter und schickte ihn
wieder fort.
Die Anführerin des Amazonentrupps hieß Yileia
und war nicht halb so hübsch wie ihr Name klangvoll.
Sie hatte Arme, so dick wie die Schenkel manchen
Mannes, und Brüste, die ihren Harnisch zu sprengen
drohten. Das schwarze Haar hing ihr fett und strähnig
in die Stirn.
Bei Nabibs Anblick setzte sie die Hammelkeule ab,
an der sie gerade aß, und sagte begeistert:
»Endlich mal ein richtig gewachsener Mann!«
»Laß dich von meinem Äußeren nicht täuschen«,
sagte Nabib schnell. »Ich besitze überhaupt kein Mark
in den Knochen.«
»Das werde ich bei Gelegenheit nachprüfen«, meinte
die fette Amazone schmunzelnd.
Agrion nahm ihr gegenüber Platz und fragte:
»Was hast du uns über die Lage im Norden zu
berichten?«
Als der Blick der Amazone auf den Mondring an
Agrions Hand fiel, wurde sie sich bewußt, daß sie ihrer
zukünftigen Königin gegenübersaß. Sie warf die
Hammelkeule einer Kriegerin zu, wischte sich die
fetten Finger im Haupthaar ab und schickte sich an,
ihre Lippen auf den Mondring zu drücken. Agrion zog
die Hand jedoch zurück.
»Die Kriegerinnen warten mit der Silberwaffe in der
Hand auf den unheimlichen Feind«, sagte die fette
Amazone.
»Das hast du uns schon bei deinem Eintreffen
berichtet«, erwiderte Agrion ungehalten. »Mich
interessiert, welche Maßnahmen Grisha im einzelnen
getroffen hat. Die Zeit wird nicht reichen, daß wir uns
vor dem Kampf mit ihrem Heer vereinen. Wir müssen
schon vorher einen Schlachtplan entwerfen.«
»Wir müssen unsere Kampfweise auf die
Geländebedingungen und auf das Verhalten der
Wolfsmenschen abstimmen«, erklärte die fette
Amazone mit dem klangvollen Namen. Sie ergriff
einen abgenagten Knochen und zeichnete mit ihm ein
großes Oval in den Sand.
»Das ist die Ebene von Sapca«, fuhr sie fort. »Grisha
hofft, daß sie die Wolfsmenschen durch eine List einen
Tag lang, bis zu eurem Eintreffen, im Westen der Ebene
aufhalten kann. Hier, nordöstlich von Sapca liegt ein
heimtückisches Sumpfgebiet mit einem See. Im Osten
liegt die Grenzstadt Ad‘zhari – aber bis dorthin werden
die Horden der Nacht hoffentlich nicht vordringen. Im
Süden, also in der Richtung, aus der ihr kommt, wird
Sapca ebenfalls von einem See begrenzt. Er ist groß
und tief, so daß ihr ihn umrunden müßt. Ihr könnt ihn
nach Osten umgehen, so daß ihr zu Grishas Heer stoßt,
oder aber ihr weicht ihm nach Westen aus, um so den
Horden der Nacht in den Rücken zu fallen.«
Agrion betrachtete die einfache Zeichnung, die
Yileia in den Sand gemacht hatte, dann blickte sie
fragend zu Partho.
»Yileia hat uns die Entscheidung abgenommen«,
sagte er. »Wenn wir den Horden in den Rücken fallen
können, dann werden wir von dieser Möglichkeit
Gebrauch machen. Viel wichtiger als unsere
Kampfweise ist die Art, wie wir die Silberwaffen
einsetzen. Die Wölfe selbst können ja mit
herkömmlichen Waffen bekämpft werden. Unser
Problem ist, die Silberwaffenträger so zu verteilen, daß
die Wolfsmenschen in ihre Linie geraten und sie ihre
Kräfte nicht auf die Wölfe verzetteln. Andererseits
müssen wir trachten, daß die Krieger mit den
herkömmlichen Waffen nicht an die Wolfsmenschen
geraten.«
»Das sind gescheite Worte«, meinte Agrion. »Ich
hoffe nur, daß es uns gelingen wird, sie in die Tat
umzusetzen.«
»Ich brenne auf den Kampf«, sagte Sardak, der seit
seinen Erlebnissen in Bo-gah einen unstillbaren Haß
gegen Cnossos und dessen Geschöpfe in sich trug.
»Ich brenne weniger auf den Kampf«, gestand Nabib
ein. »Ich habe mich euch eigentlich nur angeschlossen,
um zu meinem Schiff zu kommen, das in der Bucht der
Kiesel vor Anker liegt.« Er wandte sich der fetten
Amazone zu. »Weißt du, wie es meiner Mannschaft
geht? Ich hoffe, daß an Bord alle wohlauf sind.«
Yileia grinste.
»Deine Männer haben sich schnell mit den
Kriegerinnen angefreundet. Es geht ihnen prächtig.«
Nabib machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Der Abschied wird ihnen nicht so schwerfallen.
Seeleute hält es nirgendwo lange, sie finden in jedem
Hafen ein Mädchen. Wenn ich in die Bucht der Kiesel
komme, werde ich sofort den Anker lichten und Kurs
auf Myra nehmen. Bis dahin ist Dragon schon längst in
die Stadt einmarschiert, und mein Wein wird
reißenden Absatz finden.«
Yileia begann schallend zu lachen.
»Du kannst dir den Weg nach Myra sparen, Nabib«,
brachte die fette Amazone schließlich hervor. »Grisha
hat die gesamte Ladung Wein für einen ganz
bestimmten Zweck beschlagnahmt.«
Wo war die Quelle des nie endenwollenden
Blutstroms?
Wo waren die vielen Taggespenster, die ihnen ihr
Gott versprochen hatte?
Bisher waren sie nur einigen wenigen begegnet, und
die waren schnell gerissen.
Die zweite Nacht, die die Mondherren und deren
Wölfe jenseits des engen Wassers zubrachten, ging
ihrem Ende zu, und die toten Nachtschläfer, die ihren
Weg markierten, konnte man zahlen.
Wirch hatte nur zweimal in zwei Nächten Blut
geleckt, frisches Blut von zwei Nachtschläfern, jetzt
verlangte sein Körper nach mehr.
Hatte sie der Wolfsgott belogen?
Nein!
Hatte er sie in die Ostländer gelockt, um sie zu
prüfen?
Vielleicht – aber warum sollte er es tun?
Die Mondherren und deren Wölfe waren ihm treu
ergeben, nie hatten sie gefrevelt, nie sich gegen ihn
gewandt oder sich gegen ihn versündigt. Sie waren
willens, alles für ihn zu tun. Er würde sich dessen nicht
erst durch eine Prüfung vergewissern müssen.
Das wußte der Wolfsgott, der Wirch einen Teil
seines Körpers in die Stirn eingepflanzt hatte. Wirchs
zweites Augenpaar war ein Stück von seinem Gott; es
machte ihn unsterblich und allgewaltig.
Aber wo waren die Nachtschläfer?
Die Horden wurden immer unruhiger und
unzufriedener, je weiter sie nach Osten kamen. Wirch
gelang es immer wieder, sie zu beruhigen und ihren
Tatendrang zu wecken.
»Bald«, versprach er ihnen, »bald sind wir an den
Quellen des Blutstroms. Das verrät mir der Gottesteil
auf meiner Stirn.«
Das waren nicht nur bloße Worte, es war die
Wahrheit. Das göttliche Augenpaar über seinen
eigenen Augen verlieh im einen untrügbaren Instinkt,
der ihm den Weg zu den großen Herden der
Taggespenster wies.
»Bald«, heulte Wirch sehnsüchtig zum
verblassenden Mond hinauf, während der Schmerz der
beginnenden Verwandlung bereits an seinem
Wolfskörper zerrte.
Er verkoch sich in einen Holzberg der Nachtschläfer
und ergab sich dem unwiderstehlichen Drang, seinen
Wolfskörper in den eines Taggängers zu verwandeln.
Der Duft der Menschen, der von allen Gegenständen
im Innern des Holzberges ausgestrahlt wurde, brachte
ihn fast zur Raserei. Der Wunsch, Menschenblut zu
schlürfen, wurde übermächtig.
Als Wirch die Hütte verließ, die von seinen zwölf
Wölfen bewacht worden war, war er ein
großgewachsener, muskelbepackter Mann mit vier
Augen: seinen eigenen und den beiden Götterteilen,
die seine Stirn über den Augenbrauen zierten.
Er kraulte seinen Zwölften liebevoll am Hals, um
ihm die Scheu zu nehmen. Nachdem er Achr verloren
hatte, mußte er sich nach einem anderen Zwölften
umsehen, denn ein Rudelführer wie er, der
zweitausend Mondherren befehligte, konnte es sich
nicht leisten, nur elf Wölfe zu Gefährten zu haben. Er
mußte einen anderen Mondherren töten, um einen
Zwölften zu bekommen.
Der Zwölfte hatte sich noch nicht in das Rudel
eingelebt, deshalb bevorzugte ihn Wirch den anderen
gegenüber; das sahen besonders die beiden Weibchen
nicht gerne, denn auch der Zwölfte war ein Weibchen.
Deshalb dachte sich Wirch nichts Besonderes dabei,
daß sie ihn hektisch umsprangen, während er sich von
der Hütte entfernte.
Die meisten der anderen Mondherren hatten
ebenfalls schon ihre Verwandlung hinter sich, und
Wirch fiel plötzlich auf, daß sich auch deren Wölfe
ganz seltsam benahmen.
Einer der Mondherren machte mit den Armen wilde
Bewegungen in Wirchs Richtung und rief:
»Blut! Viele Behälter voll Blut!«
Wirchs Argwohn war sofort erwacht. Blut war nur
in den Körpern von Lebewesen zu finden, denn es war
ihr Lebenssaft.
Er ging zu dem Mondherrn, die Zwölf in seinem
Gefolge, und fragte nur:
»Wo?«
»Komm mit, Wirch. Die anderen baden bereits im
Blut!«
Wirch spürte, wie Zorn in ihm hochstieg, während
er seinem Bruder folgte. Wie konnten es die anderen
wagen, sich über eine Beute herzumachen, von der er
noch nicht genossen hatte!
Sie bahnten sich ihren Weg durch die Reihen der
Wölfe und deren Herren und kamen auf einen Hügel.
Von dort sah Wirch auf ein kleines Dorf hinunter, in
dem sich nur Wolfsmenschen tummelten, die Wölfe
warteten, jämmerlich heulend, außerhalb.
Wirch rannte wie das Mondlicht den Hügel
hinunter. Noch bevor er die Siedlung betrat, stach ihm
ein süßlicher Geruch in die Nase, der eine
berauschende Wirkung auf ihn hatte. Es war kein
Blutgeruch, das erkannte Wirch sofort, aber er war
nicht minder verführerisch.
»Halt!« rief er einigen Mondherren zu, die einen der
erwähnten Behälter erbrachen und ihre Gesichter in
das blutrote Naß tauchen wollten, das aus der Öffnung
hervorquoll.
»Trink, Wirch«, rief ihm einer der Wolfsmenschen
zu, während er mit seltsam verschwommenem Blick zu
ihm stierte. »Es ist süß wie Menschenblut!«
»Du gibst dich wie trunken, Arrng«, sagte Wirch
streng.
»Ich bin es«, erwiderte Arrng mit schwerer Zunge.
»Von diesem herrlichen Saft, der trunken macht wie
Blut!«
Wirch kostete von der roten Flüssigkeit. Sie
schmeckte. Da er keine berauschende Wirkung an sich
feststellen konnte, tauchte er sein Gesicht noch einmal
in den roten Saft ein und nahm einen Mundvoll davon.
Es reichte für zwei große Schlucke.
»Nicht übel«, bestätigte Wirch.
Der rote Saft ersetzte einem Mondherren nicht das
Menschenblut. Aber wenn man schon solange dürstete
wie Wirchs Rudel, dann begnügte man sich schon mit
dieser Flüssigkeit, die süß wie Blut war und nicht
minder berauschte.
Wirch war dem roten Saft gegenüber immer noch
mißtrauisch. Irgend etwas in ihm – vielleicht der
Gottesteil an seiner Stirn? – warnte ihn davor, seine
Leute den Inhalt der Behälter trinken zu lassen. Aber er
schlug die Warnung seines Instinkts in den Wind.
Er mußte sein Rudel bei Laune halten. Und wenn
dieser rote Saft ihre Stimmung hob, dann sollte es ihm
recht sein.
Sie würden die Enthaltsamkeit der letzten Tage
vergessen und den Verzicht auf Menschenblut
überwinden. Wenn die Wirkung des roten Saftes
nachließ, wurde ihr Durst wieder unstillbar werden.
Aber dann würde Wirch sich an ihre Spitze setzen und
sie weiter nach Osten führen. Dort, irgendwo hinter
der Ebene, mußte es Menschen geben.
Dorthin würden sie ziehen. Aber nicht sofort,
sondern später. Vielleicht nach Einbruch der Nacht,
wenn sie wieder Wolfsgestalt angenommen hatten und
die unbesiegbaren Mondherren waren.
Aber solange noch etwas von dem roten Saft da war,
konnten sie hier verweilen.
Wirch beugte sich über das Faß und trank in
gierigen Zügen Nabibs Wein.
5.
Bei Einbruch der Nacht erreichten sie den See, der
südlich der Ebene von Sapca lag. Dort erwartete sie
eine Abteilung von Kriegerinnen, die zu berichten
wußten, daß der Trick mit den Weinfässern ein voller
Erfolg gewesen war: Die Wolfsmenschen hatten sich in
den Morgenstunden darüber hergemacht und von
Nabibs Wein getrunken, bis sie nicht mehr stehen
konnten. Den ganzen Tag über hatten sie ihren Rausch
ausgeschlafen.
Agrion konnte zufrieden sein. Sie kamen nicht zu
spät. Der weibliche Bote, den sie zu Grisha geschickt
hatte, mußte sein Ziel ebenfalls schon längst erreicht
und Bericht erstattet haben. Hoffentlich richtete Grisha
die Kampfweise ihrer tausend Kriegerinnen darauf ein,
daß Parthos und Agrions Streitkräfte vom Westen
kamen und den Werwölfen in den Rücken fielen, um
ihnen den Fluchtweg abzuschneiden und sie nach
Osten zu treiben.
Als Nabib hörte, was mit seinem Wein geschehen
war, schüttelte er traurig den Kopf.
»Was für eine Vergewaltigung für diesen köstlichen
Rebensaft.«
»Er hat hier einen besseren Zweck erfüllt, als er es in
Myra getan hätte«, tröstete ihn Partho, der seine
Silberlanze auf den Steigbügel stützte. »Der Wein wird
die Sinne der Wolfsmenschen benebelt, ihre Blicke
getrübt und ihre Kampfkraft gelähmt haben.« Er lachte.
»Werden die Brummschädel haben!«
»Mein Wein verursacht keinen schweren Kopf«,
erwiderte Nabib gekränkt.
Als die Ufer des Sees zurücktraten und sich vor
ihnen die Ebene von Sapca ausbreitete, hielten sie an.
Die Krieger, die selbst ohne Pferde waren und bei den
Reitern aufgesessen waren, schwangen sich aus den
Sätteln und setzten ihren Weg entlang des nördlichen
Seeufers zu Fuß fort.
Es waren etwa viertausend Krieger, von denen nur
wenige Bogenschützen mit Silberpfeilen ausgerüstet
waren. Die Aufgabe dieser Fußtruppe war es, sich aus
dem Kampf gegen die Wolfsmenschen herauszuhalten
und nur deren Wölfe abzufangen, die in ihre Richtung
verschlagen wurden.
Fast die gesamte Reiterei zog unter Parthos und
Agrions Führung weiter nach Norden. Tausend
Reitersoldaten, die sich aus Urgoriten und Zuntern
zusammensetzten, waren mit Silberwaffen ausgerüstet.
Ebenfalls tausend Amazonen hatten die restlichen
Silberwaffen zugeteilt bekommen. Die anderen
Krieger, die nur mit herkömmlichen Waffen
ausgerüstet waren, sollten sich während des Kampfes
im Hintergrund halten und ihren gegen die
Wolfsmenschen vorgehenden Kameraden die Wölfe
vom Leibe halten.
Partho war sich klar darüber, daß es nicht immer
leicht sein würde, in dem Gewühl von
sechsundzwanzigtausend Geschöpfen die Wölfe von
den Wolfsmenschen zu unterscheiden. Aber es war
eine helle Mondnacht, so daß sie eine gute Sicht hatten,
und außerdem waren die Wolfsmenschen doppelt so
groß, wie deren wölfische Begleiter. Zumindest hatte
Bodo das behauptet.
Sie ritten nicht allzu schnell, um erstens die Pferde
für den bevorstehenden Sturmlauf zu schonen und
zweitens keinen übermäßigen Lärm zu machen. Je
später sie von den Horden der Nacht entdeckt wurden,
desto größer würde das Überraschungsmoment sein –
und davon konnte die Entscheidung der Schlacht
abhängen.
Agrion war bis jetzt an Parthos Seite geritten. Als sie
nun auf die ersten Wolfsspuren trafen, sagte sie zu
ihm:
»Es ist besser, wenn wir uns jetzt trennen. Halte du
dich mit deinen Männern weiter nördlich, damit du
meinen Kriegerinnen nicht in die Quere kommst.«
Partho grinste und wollte etwas entgegnen, aber er
unterließ es. Von irgendwo aus dem Osten klang das
Heulen von Wölfen zu ihnen herüber.
Parthos Zähne schimmerten im Mondlicht, als er
Agrion zulächelte und die Hand zum Abschied hob. Er
riß sein Pferd herum und ritt mit seinen Kriegern in
nordöstlicher Richtung weiter.
Agrion schwenkte nach Osten ab, die tausend mit
Silberwaffen ausgerüsteten Amazonen folgten ihr.
Auf der Ebene von Sapca kamen sie rasch weiter.
Über weite Strecken wuchs hier nur Gras, vereinzelte
Büsche und Bäume ragten wie Fremdkörper aus
diesem flachen Wiesenland heraus.
Das Wolfsgeheul vor ihnen wurde immer lauter.
Agrion war froh, daß der Wind ihnen entgegenschlug,
so daß die Wölfe nicht schon ihre Witterung
aufnehmen konnten, bevor sie sie sahen.
Agrion wollte einer Gebüschgruppe ausweichen, die
vor ihr den Weg versperrte. Plötzlich stutzte sie jedoch
und zügelte ihr Pferd. Da – eine Blutspur, die
geradewegs auf die Büsche führte.
Hatte sich ein Verwundeter – ein Mensch – mit
letzter Kraft in die Büsche in Sicherheit gebracht?
Vielleicht. Es war aber auch möglich, daß es sich um
einen verwundeten Wolf oder Wolfsmenschen
handelte, der vor ihnen in die Büsche geflüchtet war.
Sie konnte sich vorstellen, daß es auch bei den Horden
der Nacht blutige Machtkämpfe gab.
Mit gezücktem Silberschwert näherte sie sich auf
ihrem Pferd langsam den Büschen. Plötzlich hörte sie
ein wütendes Fauchen, die Äste teilten sich, und ein
riesiger Wolf erschien.
Agrion war so nahe, daß er sie mit einem einzigen
Sprung hätte erreichen können. Deshalb wunderte sie
sich, daß er es nicht tat. Er stand nur bewegungslos da,
den Körper zum Sprung geduckt, starrte sie aus wilden
Augen an.
Für Agrion war diese Verhaltensweise unerklärlich.
Was mochte den Wolfsmenschen zur
Bewegungslosigkeit verdammt haben?
Der starre Blick der funkelnden Augen war
geradewegs auf sie gerichtet. Blendete ihn das Silber
ihrer Schwertklinge, in dem sich das Mondlicht
spiegelte? Sie ließ die Hand etwas sinken, weil das
Leuchten des Mondrings sie etwas blendete ...
War der Mondring die Erklärung? Hatte dieser
Ring, der am Tage nur matt schimmerte, aber im Licht
des Mondes ein faszinierendes, geheimnisvolles
Strahlen aussandte, die Kraft, Wolfsmenschen für
einige Zeit an einen Platz zu bannen?
Agrion verfolgte diesen Gedanken im Augenblick
nicht weiter. Sie würde bald herausfinden können, ob
etwas an dieser Vermutung war.
Sie setzte ihr Pferd in Trab, beugte sich aus dem
Sattel und hieb dem Riesenwolf die Silberklinge des
Schwertes auf den mächtigen Schädel.
Das Tier brach mit einer klaffenden Kopfwunde
zusammen. Die Wunde schloß sich nicht auf
wundersame Weise, sondern verfärbte sich dunkel –
wo das Silber hingetroffen hatte, ging das Fleisch so
schnell in Verwesung über, daß man die Veränderung
mit den Augen beobachten konnte. Jetzt erst war
Agrion von der zersetzenden Wirkung des Silbers auf
die Wolfsmenschen überzeugt.
Was war das nur für ein Teufelszeug gewesen, das sie
da in großen Mengen geschlürft hatten? Wenn es in
den Körper kam, da machte es so leicht, daß man
vermeinte, man schwebe. Und es hatte anfangs die
berauschende Wirkung von Blut gehabt. Aber wenn
man dann aus dem Rausch erwachte, da fühlten sich
die Glieder an, als seien sie gelähmt, der Kopf war so
schwer, daß man sich anstrengen mußte, ihn oben zu
halten.
Wirch, der soeben die Verwandlung hinter sich
gebracht hatte, heulte den Mond an, der heute
besonders hell strahlte. Es war eine gute Nacht für die
Jagd, die Voraussetzungen waren überaus günstig.
Aber da war das Pochen in seinem Kopf – er
schüttelte ihn, um das Pochen zu verscheuchen. Für
einen Augenblick war es auch wirklich verschwunden,
dann setzte es jedoch wieder mit unverminderter
Heftigkeit ein.
Seinen Brüdern erging es nicht anders. Sie wußten
sich nicht anders zu helfen, als dem Mond ihr Leid zu
klagen.
Wirch setzte sich in Bewegung, um die anderen
mitzureißen.
Es war eine Mondnacht, geschaffen für die Jagd.
Diesmal mußten sie auf Opfer stoßen. Und wenn sie
die ganze Nacht durchwanderten, bis der Mond
verblaßte und der häßlichen, heißen, blendenden
Sonne Platz machte. Sie würden nicht eher ruhen, bis
sie den Ort erreicht hatten, wo es Taggespenster in
großer Zahl gab.
Der Gottesteil über seinen Augen trieb ihn voran.
Der Wind kam von Osten, war also günstig, aber er
trieb Wirch nur die Witterung von Gras und blühenden
Sträuchern zu.
»Vorwärts!« drängte Wirch seine Brüder. Wenn sie
sich bewegten, wurde der Nebel aus ihren Köpfen
verscheucht werden. Wirch merkte es, wie sein Kopf
während des Laufens immer klarer wurde.
Den anderen Mondherren erging es nicht anders.
Ihre Niedergeschlagenheit verschwand, sie wurden
immer wilder. Aber mit der Klarheit ihres Verstandes
kam auch die Unzufriedenheit zurück. Viele von ihnen
hatten zuletzt in Xanth Menschenblut getrunken, und
es gab Tausende von Wölfen, die seit dem Opferfest am
Ort des Blutes kein Tagesgespenst mehr gerissen
hatten.
Wo war das gelobte Land, das ihnen ihr Gott
verheißen hatte?
Es ist überall hier, pochte es in Wirchs Kopf. Ihr
müßt nur die Tagesgespenster aus ihren Verstecken
scheuchen, wohin sie sich verkrochen haben!
In Wirch stiegen bereits die gleichen Zweifel wie in
seinen Brüdern hoch – da hatte er eine Witterung. Der
Geruch der Taggespenster, der ganz eigene Geruch von
Weibchen, stieg ihm in die Schnauze und war gleich
darauf wieder verschwunden.
Aber er hatte eine Witterung gehabt, und das
machte ihn rasend. Er irrte sich bestimmt nicht, denn
seinen Brüdern erging es ähnlich wie ihm. Sie konnten
sich das nicht alle gleichzeitig einbilden. Irgendwo vor
ihnen hatten sich weibliche Nachtschläfer
zusammengeschart.
Und dann erblickte Wirch die Taggespenster.
Sie standen in einer langen Reihe in der Ebene. In
vorderster Linie befanden sich Weibchen ohne
Reittiere, und dahinter hatten die berittenen Weibchen
Aufstellung genommen. Sie mußten die Mondherren
und deren gewaltiges Wolfsrudel schon längst bemerkt
haben. Aber sie flohen nicht.
Das verstand Wirch nicht. Obwohl er und seine
Brüder, vom immer stärker werdenden Geruch
aufgestachelt, mit rasender Geschwindigkeit näher
kamen, rührten sich die Taggespenster nicht vom
Fleck.
Wollten sie sich freiwillig opfern?
Das enttäuschte Wirch ein wenig. Er hatte sich auf
die Jagd gefreut.
Seine Brüder waren nicht mehr im Zaum zu halten.
Sie kümmerten sich nicht mehr um ihren Rudelführer,
die schnellfüßigeren preschten an ihm vorbei, ohne
daran zu denken, daß ihm der erste Biß zustand.
Wirch tadelte das nicht. Nach so vielen Nächten der
Enthaltsamkeit konnte er verstehen, wenn das
zügellose Temperament mit den Mondherren
durchging.
Sie stimmten ein schauriges Geheul an, um die
Taggespenster zu ängstigen und sie vielleicht doch
noch in die Flucht zu schlagen. Aber diese rührten sich
nicht von der Stelle.
Gut, dachte Wirch, dann nehmen wir eben das
dargebotene Opfer an.
Plötzlich blitzte es bei den Taggespenstern silbern
auf.
Wirch wurde unwillkürlich langsamer, weil ihn der
silberne Schein blendete. Er heulte verärgert auf, aber
so nahe vor dem Ziel konnte ihn kein Hindernis mehr
abschrecken.
Die Taggespenster setzten sich in Bewegung – und
es schien fast, als wollten sie zum Angriff übergehen.
Die unberittenen Taggespenster in vorderster Linie
hielten lange Stangen von sich gestreckt, deren Spitzen
aus tödlichem Silber waren. Die Reiterinnen, die sich
gestaffelt hinter ihnen hielten und jederzeit durch die
Lücken der vordersten Linie brechen konnten, hatten
kurze Silberstöcke in der Hand, die flach und breit
waren und deren Ränder einen scharfen Grat hatten
Schwerter hießen diese Waffen bei den
Taggespenstern!
Die ersten Mondherren hatten die vorderste Linie
der Taggespenster erreicht, die langen Stangen stießen
nach vorne, die Mondherren wollten den silbernen
Spitzen ausweichen, ihre Wölfe sprangen die
Taggespenster an, um sie niederzuringen und ihren
Herren eine Bresche zu schlagen ...
Die ersten Todesschreie klangen auf beiden Seiten
auf. Mondherren, die von den Silberspitzen
aufgespießt worden waren, schrien ihren Schmerz
ebenso in die Nacht hinaus wie die Taggespenster,
denen der Biß des Wolfes den Garaus machte.
Wirch wich dem Todesstoß einer Lanze aus, verbiß
sich in der Kehle der Lanzenträgerin und schleuderte
sie vor die Hufe des nachfolgenden Reittiers. Danach
konnte er mit knapper Not dem Streich eines
Silberschwertes entgehen. Seine Wölfe sprangen die
Reiterin an, rissen sie aus dem Sattel und töteten sie.
Wirch sah das Blut sprudeln, aber er hatte keine
Zeit, sich daran zu laben.
Die Taggespenster waren nie und nimmer willige
Opfer. Sie wollten den Kampf, sie hatten die
Mondherren mit List und Tücke herangelockt, um
dann ihre Silberwaffen hervorzuholen und sich damit
auf sie zu stürzen.
Wirch sah, wie ein silberner Schwarm über den
mondhellen Himmel zog – Pfeile mit silbernen Spitzen.
Der Pfeilhagel ergoß sich über die nachdrängenden
Mondherren, und Todesschreie zeigten, daß die Pfeile
ihre Ziele gefunden hatten.
Die Linien der widerspenstigen Taggespenster
lichteten sich, so daß die Horden weiterstürmen
konnten. Aber Wirch verspürte keinen Triumph über
diesen Teilerfolg. Zu viele seiner Brüder wälzten sich
sterbend am Boden, ihre Wölfe, nun führungslos,
streunten verwirrt umher.
Wirch befand sich an der Spitze des Rudels, das die
Bresche in die Reihen der Taggespenster geschlagen
hatte. Nur wenige Mondherren hatten mit ihm den
Durchbruch geschafft, aber dafür befanden sich
Hunderte von herrenlosen Wölfen in seiner Begleitung.
Plötzlich tauchten vor ihnen weitere Taggespenster
auf. Sie hatten mächtige Bogen gespannt, von deren
Sehnen sie einen Hagel von Pfeilen schnellen ließen.
Wirch spürte, wie drei der Geschosse in seinen Körper
eindrangen. Er glaubte sich verloren, doch als die Pfeile
keine Wirkung an ihm zeigten, erkannte er erleichtert,
daß sie keine silbernen Spitzen besaßen.
Er entfernte die Pfeile aus seinem Körper und
schleuderte sie wütend von sich. Während er das tat,
starben die Wölfe dutzendweise links und rechts von
ihm. So ungefährlich die Pfeile für die Mondherren
waren, ihren Wolfsgefährten brachten sie den sicheren
Tod.
Wirch schwor bittere Rache. Er würde unter den
Taggespenstern, die nicht mit Silberwaffen ausgerüstet
waren, fürchterlich wüten.
Noch ehe er jedoch die Bogenschützen erreicht hatte,
preschten von allen Seiten Reiter heran, die mit Silber
bewaffnet waren. Es war ein unübersehbares Heer, das
nicht nur aus weiblichen Taggespenstern bestand –
unter den Silberwaffenträgern waren auch viele
Männchen, die sich mit großem Kampfgeist in die
Schlacht warfen.
Wirch mußte hilflos mit ansehen, wie sich die
Reihen der Mondherren und deren Wölfen immer
mehr lichteten. Und er erkannte, daß er sich in einem
verlorenen Haufen befand, der rettungslos vom
Hauptrudel abgeschnitten war. Er sah seine einzige
Rettung in der Flucht. Er mußte sich zum Hauptrudel
durchschlagen, um seine Horden vielleicht doch noch
zum Sieg über die Taggespenster zu führen.
Hatte ihr Gott nicht gesagt, daß sie unverwundbar
und unbesiegbar waren? Ihr Gott hatte nicht gelogen,
aber er schien nicht gewußt zu haben, daß die
Taggespenster mit Silber bewaffnet waren.
Wirch wirbelte herum. Doch mitten in der
Bewegung verhielt er. Bei einem der Taggespenster
war ein Leuchten, das den Schein des Mondes bei
weitem übertraf. Und von diesem Leuchten ging auch
eine Kraft aus, die ihn viel mehr in den Bann schlug als
die Strahlung des Vollmondes.
Sein Körper war auf einmal wie gelähmt und
erstarrte ...
Grisha hatte sich mit ihren Silberwaffenträgerinnen
den Horden der Nacht unerschrocken
entgegengeworfen. Nachdem die meisten der
Wolfsmenschen aus der vordersten Front gefallen
waren, wichen ihre mit Silber bewaffneten
Kriegerinnen nach Süden und Norden zurück, um die
Horden von den Flanken her anzugreifen. Gleichzeitig
setzte sich das Heer der mit normalen Waffen
ausgerüsteten Kriegerinnen vom Osten her in Marsch,
um sich dem Rudel der führungslos gewordenen Wölfe
entgegenzuwerfen.
Grishas Silberwaffenträgerinnen trafen im Norden
mit Parthos Truppen zusammen, die in einem großen
Halbkreis, der bis nach Westen reichte, die Horden
einkesselten. Im Süden stießen sie auf Agrions
Amazonen. Die Heere schlossen sich zusammen und
gingen vereint gegen die Wolfsmenschen vor.
Agrion hatte inzwischen die Überzeugung
gewonnen, daß die Ausstrahlung ihres Mondrings die
Wolfsmenschen lähmte. Sie fragte nicht danach,
warum das so war. Sie vermutete nur, daß der Ring das
Mondlicht in sich aufsog und verstärkt widerspiegelte.
Wie dem auch war, wo das Leuchten ihres Mondrings
auf die Riesenwölfe traf, erstarrten sie zur
Bewegungslosigkeit. Agrions Kriegerinnen hatten dann
leichtes Spiel mit ihnen, denn die erstarrten
Wolfsmenschen leisteten keinen Widerstand.
Das machte Agrion leichtsinnig. Der Mondring gab
ihr ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, seine Ausstrahlung
machte die Wolfsmenschen zu einer leichten Beute. Es
war fast wie bei Reiterspielen, bei denen man durch
eine Gasse von Pfählen mußte und im Vorbeireiten so
viele Ziele wie möglich von den Pfählen zu schlagen
hatte.
Agrion hatte den Mondring auf den Mittelfinger der
linken Hand gesteckt und hielt den Arm von sich
gestreckt. In der Rechten hielt sie das Silberschwert. So
preschte sie mitten durch die Horden der Nacht und
fällte die Wolfsmenschen Schlag auf Schlag, die links
und rechts von ihr zur Bewegungslosigkeit erstarrt
waren.
In ihrer Nähe befanden sich ständig ein halbes
Dutzend Kriegerinnen, die ihr die Wölfe vom Leibe
hielten, denn die Wölfe, denen das Leuchten des
Mondrings nichts anhaben konnte, stellten die einzige
wirkliche Gefahr für sie dar.
Zwei ihrer Begleiterinnen fielen, als sie plötzlich von
mehreren Wölfen gleichzeitig angesprungen wurden.
Die Tiere zerrten sie aus den Satteln und zerrissen ihre
Kehlen, als sie hilflos am Boden lagen.
Eine andere Kriegerin verlor ihr Leben, als ihr Pferd
strauchelte, an dessen Vorderbein sich ein Wolf
verbissen hatte. Als die Kriegerin auf dem Boden
landete, waren sofort mehrere Wölfe über ihr. Agrion
hörte ihre verzweifelten Schreie, aber weder sie noch
die anderen Amazonen konnten ihr helfen.
Agrion hatte sich in ihrer Siegesgewißheit immer
tiefer in das Rudel vorgewagt. Im hellen Mondlicht sah
sie, daß dieses Rudel von allen Seiten eingekesselt war.
Kriegerinnen und Reiter aus Parthos Truppe hatten sie
vom Hauptrudel abgedrängt und eingekreist. Es war
nur eine Frage der Zeit, bis dieses Rudel zerschlagen
war, denn es stand einer Übermacht von Kriegern und
Kriegerinnen gegenüber.
Das machte Agrion überheblich. Sie verließ sich
ganz auf die Kraft ihres Mondrings und auf ihre
Begleiterinnen, die ihr die Wölfe vom Hals schafften.
Plötzlich stellte sie jedoch zu ihrem Schrecken fest,
daß alle ihre Begleiterinnen den Wölfen zum Opfer
gefallen waren. Und diese blutrünstigen Tiere
umringten sie jetzt, sprangen zu ihr hoch und griffen
ihr Pferd an.
Agrion ließ ihr Pferd im Kreise tänzeln, damit die
Wölfe kein sicheres Angriffsziel hatten. Dabei mußte
sie sich gleichzeitig des Ansturms der Tiere erwehren
und fand keine Zeit, die zur Bewegungslosigkeit
verdammten Wolfsmenschen anzugreifen.
Als sie sich für einen kurzen Augenblick aus der
ärgsten Bedrängnis befreien konnte, sah sie sich auf
einmal einem Riesenwolf mit vier Augen gegenüber.
Ihr war sofort klar, daß dieser Wolfsmensch etwas
Besonderes war. Allein seine Größe hob ihn von den
anderen ab. Außerdem unterschied er sich von der
Masse der Wolfsmenschen durch seine vier Augen. Er
war etwas Außergewöhnliches.
Möglicherweise handelte es sich hier um den
Anführer der Horden der Nacht!
Aber auch dieser Wolfsmensch wurde vom
Leuchten des Mondrings in den Bann geschlagen.
Agrion, die erkannte, daß ihre Lage aussichtslos
geworden war, hatte nur noch den einen Wunsch,
wenigstens den Rudelführer mit in den Tod zu
nehmen.
Sie trieb ihr Pferd voran und schwang das
Silberschwert über dem Kopf, um Wirch den Todesstoß
zu geben. Doch bevor sie ihn erreicht hatte, wurde sie
von seinen Wölfen angesprungen. Es waren noch
sieben an der Zahl, die die ersten Angriffe überlebt
hatten. Gemeinsam stürzten sie sich auf Agrion und
auf ihr Pferd, als sie sahen, daß ihr Mondherr in Gefahr
war.
Agrions Reittier wieherte schrill auf und brach mit
zerrissener Kehle zusammen. Es begrub drei Wölfe
unter seinem Körper, ein vierter flog in hohem Bogen
davon ... aber die anderen drei stürzten sich auf
Agrion. Sie hatte, noch während sie aus dem Sattel
sprang, ihren Dolch aus dem Gürtel gezogen und stieß
ihn dem Wolf in den Rachen, der sie an der Kehle
packen wollte.
Die beiden übrigen Wölfe zogen sich seltsamerweise
winselnd zurück.
Gleich darauf tauchte ein Reiter vor ihr auf und zog
sie zu sich in den Sattel hinauf. Sie erkannte Bodo, den
jungen Mann aus dem Wolfsland, und sie bekam von
ihm auch die Erklärung für den unverständlichen
Rückzug der Wölfe. Während sie vor ihm im Sattel saß,
gab er seltsame Knurrlaute von sich, unter denen sich
die Wölfe duckten und sich zum Rückzug anschickten.
Agrion blickte sich nach dem Wolfsmenschen mit
den vier Augen um, aber er war verschwunden. Als die
Wirkung des Mondrings nachließ, mußte er die
Gelegenheit zur Flucht sofort genutzt haben und
zwischen den Kämpfenden untergetaucht sein.
»Beherrscht du die Sprache der Wölfe?« erkundigte
sich Agrion bei Bodo, nachdem sie aus der
Gefahrenzone waren.
Er ergriff ein herrenloses Pferd am Zügel und hielt
es fest, damit Agrion in den anderen Sattel klettern
konnte.
»Ich war viele Sommer und Winter mit einem Wolf
zusammen«, antwortete Bodo, dann wirbelte er sein
Pferd herum und preschte mit vorgehaltener Lanze
mitten in die Reihen der Kämpfenden hinein.
Er kannte die Wölfe wie kein anderer, und er wußte
auch einiges über die Horden der Nacht. Wenn ein
Rudelführer fiel, dann waren dessen zwölf Wölfe fast
hilflos. Da sie es gewohnt waren, von einem
Wolfsmenschen beherrscht zu werden und nach dessen
Befehlen zu handeln, wußten sie nicht mehr, wie sie
sich in bestimmten Situationen verhalten sollten, wenn
sie führungslos geworden waren.
Diese Eigenart machte sich Bodo zunutze. Er
vergrößerte die Verwirrung unter ihnen, indem er
ihnen Laute in ihrer Sprache zurief, die oftmals von
widersprechender Bedeutung waren. Er wußte, daß er
die Wölfe nicht auf seine Seite bringen konnte, nur weil
er sich ihnen verständlich machen konnte.
Bodo hatte auch nicht die Absicht, die Wölfe für sich
zu gewinnen. Er wollte sie nur verwirren, sie
verunsichern und das Chaos in ihren Reihen
vergrößern.
Das gelang ihm ganz gut.
Er lenkte die Aufmerksamkeit der Wölfe auf sich,
indem er ihnen vertraute Laute aus ihrer Sprache
zurief – und tötete dann die Wolfsmenschen mit seiner
Silberlanze.
Keine Wolke zeigte sich am nächtlichen Himmel, der
von der hell strahlenden Mondsichel beherrscht wurde.
Er schickte sein fahles Licht auf die Ebene von Sapca
hinunter und enthüllte schonungslos die blutigen
Kämpfe, die zwischen den Menschen und den Horden
der Nacht stattfanden.
Viele sagten später, daß sich in dieser Nacht der
Mond im Widerschein des Blutes, das auf der Ebene
von Sapca floß, rot gefärbt hatte.
Dieser Mond, den die Wölfe anheulten und den die
Wolfsmenschen verehrten, gab ihnen in dieser
unseligen Nacht nicht die Kraft, die sie zum Siegen
brauchten, sondern brachte ihnen mit seinen Strahlen
den Tod.
Es war ein kleiner Ring, der die Niederlage der
Wolfsmenschen besiegelte. Der Ring am Finger einer
Frau, der die fahlen Mondstrahlen in sich speicherte
und verstärkt wieder versprühte. Die Wolfsmenschen
erstarrten, wenn sie in das Leuchten des Mondrings
gerieten, waren unfähig, den vernichtenden Stößen der
Silberwaffen auszuweichen ...
Wenn der Bann sie dann wieder losließ, hatte die
tödliche Kraft des Silbers, ihre Körper bereits
durchsetzt. Die Wunden selbst waren nur selten
schwer, denn den Kriegern blieb keine Zeit, die Lanze
zielsicher zu stoßen oder einen wohlüberdachten
Schwertstreich zu führen, denn sie wurden ständig von
den Wölfen bedrängt, die verzweifelt das Leben ihrer
Herren zu verteidigen versuchten.
Aber Zielsicherheit war nicht das Gebot der Stunde,
es genügte, den Wolfsmenschen mit der Silberwaffe
eine Wunde zuzufügen.
Und so kam es, daß Riesenwölfe auf dem
Schlachtfeld zurückblieben, die keinen Tropfen Blut
verloren hatten. Die Wunden, die ihnen die
Silberwaffen geschlagen hatten, waren nicht rot,
sondern zeigten sich als häßliche, schwarze Flecken,
die sich unaufhaltsam und rasch vergrößerten. Es half
den Mondherren nichts, wenn sie sich das verwesende
Fleisch aus dem Körper rissen; sie bissen sich die vom
Silber getroffenen Läufe ab und humpelten auf dreien
weiter.
Aber sie kamen nicht weit, denn die zersetzende
Kraft des Silbers war mit dem Blut durch ihren ganzen
Körper gewandert, hatte sich überall festgesetzt und
führte das zerstörerische Werk fort.
Mondherren mit schwarzen Wunden überall am
Körper, den unabwendbaren Tod vor Augen, ließen
sich von ihren Wölfen töten, um sich die Leiden zu
verkürzen. Es ging immer ganz schnell, ein Biß in die
Kehle genügte ... denn ein durch Silber verwundeter
Wolfsmensch hatte die Fähigkeit verloren, seine
Wunden wieder schließen zu können.
Andere vom Silber gezeichnete Mondherren
stürzten sich in ihrer Verzweiflung auf ihre durch die
Silberwaffen übermächtig gewordenen Feinde, um sich
von ihnen den Gnadenstoß zu holen.
Viele von ihnen begriffen rechtzeitig, daß sie sich in
einer aussichtslosen Lage befanden. Wenn es ihnen
gelang, eines der Taggespenster zu reißen, dann
tauchten zwei von ihnen auf, um furchtbare Rache zu
nehmen.
Es blieb nur noch die Flucht.
Doch der Rückweg war abgeschnitten. Aus der
Richtung, in der das Land der Wölfe lag, wälzte sich
ein riesiges Heer von Reitern und Kriegern ohne Pferde
heran. Um deren geschlossene Schlachtreihe zu
durchbrechen, hatten sich die Horden der Nacht
sammeln und vereint zum Angriff übergehen müssen.
Daran war jedoch nicht zu denken. Die Mondherren
hatten genug damit zu tun, um ihr Leben zu kämpfen.
Sie konnten sich nicht untereinander absprechen. Zu all
dem Übel kam noch dazu, daß die herrenlosen Wölfe
kopflos herumstreunten und den Mondherren im
Wege waren.
Die Wolfsmenschen sahen nur eine Möglichkeit, sich
in Sicherheit zu bringen. Sie mußten weiter nach Osten
ziehen, denn dort war eine große Lücke in den Reihen
der Angreifer entstanden, durch die die Horden
entweichen konnten.
Und so geschah es. Die Mondherren flüchteten mit
ihren Wölfen in nordöstliche Richtung, die herrenlosen
Wölfe schlossen sich ihnen an.
Da ihnen die Taggespenster mit ihren Silberwaffen
ständig im Nacken saßen, blieben ihnen keine Zeit, den
sichersten Weg durch das unbekannte Land zu suchen.
Sie waren nur darauf bedacht, von hier fortzukommen,
dem tödlichen Silber zu entfliehen.
Der Abstand zwischen den Horden der Nacht und
den Verfolgern wurde immer größer, denn die Wölfe
konnten schneller laufen als die Reittiere der
Taggespenster.
Der Kampflärm, der über der Ebene von Sapca lag,
wurde immer leiser, das Donnern der Pferdehufe
verklang in der Ferne ...
Die Mondherren rannten weiter. Die ersten
verlangsamten erst ihre Geschwindigkeit, als sie
weichen, nachgiebigen Boden unter ihren Läufen
spürten. Aber sie konnten nicht anhalten, um
vorsichtig zu wittern und das Gelände zu überprüfen,
das vor ihnen lag.
Die nachfolgenden Wölfe drängten sie vorwärts,
immer tiefer hinein in den Sumpf.
Die ersten Wölfe versanken in dem schlammigen
Boden, die nachfolgenden setzten über sie hinweg,
drückten sie noch tiefer in den Sumpf hinab, bis sie sich
nicht mehr daraus befreien konnten. Immer mehr
Wölfe gerieten in die Umklammerung des Sumpfes,
wurden unerbittlich in den bodenlosen Schlamm
hinabgezogen – und erstickten.
Manche von ihnen hatten den Sumpf lebend hinter
sich gebracht und sahen sich plötzlich vor einem
endlos scheinenden Wasser, in dem sich die
Mondsichel tausendfach widerspiegelte.
Ihr Verstand riet den Mondherren und deren
Wölfen, nicht in den Sumpf zurückzukehren, dem sie
gerade noch lebend entronnen waren. So stürzten sie
sich in den See hinein, in dem sie den Mond erblickten.
Das Spiegelbild des Mondes war die Insel, die ihnen
Rettung verhieß, aber je weiter sie schwammen – der
Mond rückte von ihnen ab. Sie erreichten ihn nie.
Sie kamen nicht einmal ans gegenüberliegende Ufer.
Irgendwann verließen sie die Kräfte, und sie
ertranken. Ein letztes Heulen, ein verzweifeltes
Um-sich-schlagen, ein Aufschäumen der
Wasseroberfläche, einige platzende Luftblasen ...
Dieser Vorgang wiederholte sich oftmals. Dann
wurde der See wieder ruhig. Der Mond spiegelte sich
in der glatten Wasseroberfläche, auf der immer mehr
dunkle Körper auftauchten, die die Tiefe wieder
freigab.
Es war doch noch eine stille, friedliche Nacht
geworden. Aus der Ebene von Sapca drangen noch
vereinzelt Geräusche herüber. Aber bald verstummten
auch sie.
Die Entscheidung war gefallen, der Kampf der
Menschen gegen die Horden der Nacht beendet.
Die Menschen hatten viele Opfer zu beklagen, aber
der Sieg gehörte ihnen. Und auf jeden gefallenen
Menschen kamen dreißig Wölfe und Wolfsmenschen.
»Wir haben sie nicht alle gekriegt«, sagte Sardak
fluchend. »Einige von ihnen sind uns nach Westen
entkommen. Wir können nicht verhindern, daß sie das
enge Wasser erreichen und zum Wolfsland
überwechseln.«
»Viele werden es nicht sein«, meintePartho. »Ich
glaube nicht, daß uns von den Horden der Nacht noch
einmal Gefahr droht. Selbst wenn sie sich sammeln,
sind es zuwenige, um etwas gegen unsere Silberwaffen
ausrichten zu können.«
»Trotzdem werde ich Kriegerinnen ausschicken, die
das Land zwischen Ad‘zhari und dem engen Wasser
durchstreifen sollen«, erklärte Agrion. »Ich will sicher
sein, daß kein Wolfsmensch in diesem Land am Leben
bleibt.«
Bodo starrte auf das Schlachtfeld hinaus. Wie zu sich
selbst sagte er:
»Ein Wolf merkt sich den Ort seiner Niederlage. Er
kehrt nie mehr an ihn zurück!«
Wirch heulte seine Wut zum Mond hinauf.
Die sechs Wölfe, die er während der Flucht
aufgegriffen und um sich geschart hatte, stimmten in
das Geheul ein. Zwei von ihnen waren verwundet und
würden die Überquerung des engen Wassers nicht
überleben, so ließ er sie auf der Stelle von den anderen
Wölfen reißen.
Er selbst beteiligte sich nicht bei dem folgenden
Mahl.
Die anderen Mondherren, denen die Flucht
zusammen mit ihm gelungen war, ruhten sich vor dem
schweren Gang über das enge Wasser aus. Sie waren
alle erschöpft und ausgehungert und von den
vorangegangenen Kämpfen gezeichnet.
Der Mond verblaßte langsam.
Die Mondherren zogen sich zurück, um die
bevorstehende Verwandlung zu erwarten. Vielleicht
gönnten ihnen die Taggespenster eine kurze Pause,
damit sie sich ausruhen und zu Kräften kommen
konnten. Dann würden sie den langen Weg antreten
und nicht eher ruhen, bis sie am engen Wasser waren.
Sie würden dieses Land verlassen, das nicht das ihre
war.
Und sie würden nie mehr wiederkommen, das
schworen sie sich alle, auch wenn der Wolfsgott es von
ihnen verlangte.
Der Mond verschwand vom Himmel, und die Sonne
kam. Als sie ihre ersten Strahlen über den Horizont
schickte, kam ein großgewachsener Mann aus einer
Mulde. Vier Wölfe drängten sich mit wedelnden Ruten
um ihn.
Er hatte vier Augen.
Sein markantes Gesicht verzog sich plötzlich wie
unter Schmerzen. Seine Hände zuckten empor, packten
das zusätzliche Augenpaar und rissen es sich aus der
Stirn.
Wirch schmetterte den Gottesteil von sich und sagte:
»Nie mehr will ich deinem Wort gehorchen,
Wolfsgott! Nie mehr in diesem Leben!«
Wirch sah nicht mehr, wie sich der Gottesteil in
einen Vogel verwandelte und gen Süden davonflog. Er
hockte sich ins Gras und ließ sich die Stirnwunde von
seinen Wölfen ablecken.
6.
Es dauerte einige Zeit, bis sich Cnossos erholt hatte.
Die Wunden, die ihm das Feuer der Brandpfeile
gebrannt hatten, waren nicht besonders schwer. Nur
geringe Teile seines Körpers waren davon betroffen,
weil es ihm noch rechtzeitig gelungen war, sich in
einen Tümpel zu stürzen und die Flammen zu löschen.
Er verfluchte Dragon, der wieder einmal seine Pläne
durchkreuzt hatte. Cnossos fragte sich, welche Waffen
der Atlanter besaß, daß er ihn, Cnossos, entlarven
konnte, obwohl er keinen Fehler begangen hatte.
War er nicht das genaue Ebenbild von König Zogors
Mumie gewesen? Wie war es Dragon möglich
gewesen, ihn dennoch zu entlarven? Cnossos war
sicher, daß Dragon seine Erinnerung noch nicht
wiedererlangt hatte. Der Atlanter hatte
Gedächtnislücken, was die Zeit vor dem Untergang
von Atlantis betraf. Er wußte nicht mehr, daß er einst
einem mächtigen Volk von Sternfahrern angehört hatte
und konnte sich auch nicht mehr daran erinnern, daß
er Cnossos schon damals begegnet war.
Dragon schlief zweitausend Jahre lang und erwachte
dann in dieser barbarischen Zeit, in der das sagenhafte
Atlantis in Vergessenheit geraten war. Dragon
erwachte ohne Erinnerung an die Vergangenheit, so
daß er nicht wissen konnte, wer Cnossos war und
welche Fähigkeiten er besaß, Wie war es ihm dennoch
möglich gewesen, Cnossos zu entlarven, als dieser sich
in die Mumie des toten Zogors verwandelt hatte?
Möglicherweise war Dragon durch die Impulse des
Amuletts gewarnt worden, das er um den Hals trug
und dessen wahre Bedeutung er nicht einmal kannte.
Cnossos grübelte nicht mehr darüber nach. Er hatte
eine Niederlage hinnehmen müssen, aber dadurch
waren seine Pläne noch lange nicht vereitelt worden.
Wenn es ihm auch nicht gelungen war, Dragons Leute
an König Zogors Tod zweifeln zu lassen, hieß das nicht
auch, daß es nicht möglich wäre, zumindest die
Myraner zu täuschen.
Einen von ihnen hatte er schon soweit, daß er an
König Zogors Tod zweifelte: Ermyas, der den Thron
vor vierzehn Tagen bestiegen hatte und ihn nun an ihn,
Cnossos, verlieren würde.
Cnossos hatte sich nach der Niederlage in Dragons
Lager in den Palast zurückgezogen, wo er sich vorerst
mit der Rolle des stillen, unsichtbaren Beobachters
begnügte. Er wollte Zeit gewinnen, um seine Wunden
auszukurieren und die Situation im Palast
auszukundschaften.
Es tat sich einiges, ein Unheil braute sich zusammen,
das sich irgendwann gegen Ermyas entladen würde.
Cnossos, der sich einmal in eine steinerne Figur
verwandelte, dann wieder in ein Möbel und ein
andermal mit seiner Körpersubstanz als Relief eine
Säule schmückte, war anwesend, wann und wo immer
Gerüchte um den jungen König geboren oder Ränke
gegen ihn geschmiedet wurden.
Man sagte hinter Ermyas‘ Rücken, daß er nahe
daran war, den Verstand zu verlieren. Man erzählte
sich, daß er seinen Lieblingsjüngling Torffson erdolcht
und die Tat dem toten Zogor angedichtet hatte. Man
war überzeugt, daß Dämonen ihn befallen hatten, denn
er traf Entscheidungen, die kein König mit klarem
Verstand getroffen hätte.
Und Ermyas nährte diese Gerüchte, als er vor
einigen Zeugen behauptete, König Zogor wäre ihm,
springlebendig und in Fleisch und Blut,
gegenübergetreten.
Niemand wagte, dem jungen König offen zu
widersprechen; sie dienerten vor ihm, kamen scheinbar
unterwürfig seinen Befehlen nach, aber kaum waren sie
außer seiner Reichweite, zeigten sie ihr wahres Gesicht:
Es gab kaum einen im Palast, der Ermyas noch treu
war. Fast alle wünschten ihn in den Kerker zurück, von
wo sie ihn vor vierzehn Tagen geholt hatten, und am
sehnlichsten wünschte sich dies Gorey, der Ermyas in
dem Glauben befreit hatte, der Neffe des toten Königs
könne das myranische Reich vor dem Zusammenbruch
retten.
Gorey, der von Ermyas zum Kanzler ernannt
worden war, war es auch, der am stärksten gegen den
jungen König intrigierte.
Cnossos war dabei, als sich Gorey mit dem
Hauptmann der Palastwache an einem geheimen
Treffpunkt besprach und ihn für den bevorstehenden
Aufstand gewann.
Cnossos war der unsichtbare Dritte, wenn sich
irgendwo zwei Adelige gegen den jungen König
verschworen, er stand als steinerner Götze hinter dem
Eunuchen, als dieser in den Plan eingeweiht wurde,
Ermyas‘ Jünglinge zu vergiften.
Cnossos erfuhr aber auch, welches Ziel die Rebellen
mit ihren Intrigen gegen den jungen König verfolgten:
Da alle Myraner der Meinung waren, daß König Zogor
tot, Ermyas aber nicht würdig sei, seine Nachfolge
anzutreten, wollten sie sich Dragons Heer kampflos
ergeben und sich seinem Willen unterwerfen.
Das würde Cnossos jedoch zu verhindern wissen,
indem er zum gegebenen Zeitpunkt, noch ehe der Tag
vorüber war, als König Zogor auftrat. Und zwar würde
sein Auftritt zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem alle
wichtigen Persönlichkeiten von Myra anwesend waren.
Der Balamiter war siegessicher.
Gorey stand neben Ermyas, als dieser von seinem
Fenster aus dem Henker das Zeichen gab. Der Kanzler
blickte weg, als der Henker das Beil hob. Dreimal hörte
er das Henkersbeil dumpf auf den Richtblöcken
aufschlagen.
Den Kanzler schmerzte es, daß er den Tod dieser
drei Männer nicht hatte verhindern können. Aber er
hoffte, daß es die letzten Opfer waren, denen Ermyas
Launen das Leben gekostet hatte.
Ermyas wandte sich vom Fenster ab, sah Gorey mit
spöttischem Lächeln an und meinte anzüglich:
»Du bist auf einmal so blaß, Kanzler. Dabei hast du
der Hinrichtung gar nicht zugesehen. Waren diese drei
Verräter vielleicht deine Freunde?«
»In diesen Tagen kann sich niemand rühmen,
Freunde zu besitzen«, meinte Gorey ausweichend und
doppelsinnig zugleich. »Aber ich war von Anfang an
der Meinung, daß diese drei Männer kein so ruchloses
Vergehen begangen haben, das ihre Hinrichtung
rechtfertigte.«
»Das waren Feinde des Königs«, rief Ermyas
aufgebracht. »Sie haben sich geweigert, den von mir
geforderten Tribut zu zahlen. Ihr Tod wird den
anderen eine Warnung sein. Du wirst sehen, daß keiner
der Reichen sich mehr weigern wird, sein Vermögen an
die königliche Schatzkammer abzuliefern.«
Gorey nickte.
»Die Angst um ihr Leben wird sie gefügig machen.
Aber kann dich das triumphieren lassen, Erhabener?
Du kannst die königliche Schatzkammer auf diese
Weise füllen, aber bedenke, daß du dann ein Herrscher
über ein Volk von Armen bist.«
»Das wird sich wieder ändern, wenn ich erst die
Barbaren aus dem Osten zurückgeschlagen habe«,
entgegnete Ermyas erregt. »Ich benötige das Geld, um
ein schlagkräftiges Heer auf die Beine zu stellen. Und
jene, die mir dabei geholfen haben, indem sie mir ihr
Vermögen freiwillig überließen, werden es nach
meinem Sieg doppelt zurückerstattet bekommen.«
Gorey hätte einwenden können, daß kaum einer der
Bürger seine Schätze dem König freiwillig überließ.
Aber er schwieg, um den König nicht unnötig zu
reizen. All diese Probleme wurden sich bald von selbst
gelöst haben.
Der Entschluß des Kanzlers stand längst fest,
Ermyas seiner Macht zu entheben. Gorey mußte sich
nur noch über einen Punkt Klarheit verschaffen, damit
er wußte, wie das Schicksal von Myranien nach
Ermyas‘ Entmachtung aussehen würde.
Der Kanzler wechselte das Thema.
»Ich habe von den Wachen den gesamten Palast
durchsuchen lassen, mein König. Sie haben von den
tief unter der Erde liegenden Verliesen bis zu den
Dächern der Türme hinauf jeden Raum und jeden
Winkel durchsucht. Aber sie fanden keine Spur von
König Zogor.«
»So?« machte Ermyas und fügte lauernd hinzu:
»Dann bist du wohl der Meinung, daß ich mich geirrt
habe?«
»Das wollte ich damit nicht sagen«, erwiderte
Gorey. »Wie käme ich dazu, die Aussage meines
Königs anzuzweifeln.«
»Nun, du könntest zu der Ansicht gekommen sein,
daß sich mein Verstand verwirrt hat, oder gar, daß ein
Dämon ihn befallen hat«, meinte Ermyas gedehnt.
»Solche Gedanken haben in meinem Kopf keinen
Platz«, wehrte Gorey mit gespieltem Entsetzen ab.
»Soll ich dann deine Worte so auslegen, daß du
daran glaubst, Zogor sei noch am Leben?« erkundigte
sich Ermyas.
»Ich glaube daran, daß du als rechtmäßiger
Nachfolger von Zogor den Thron bestiegen hast«,
antwortete Gorey. Er vermied geschickt, sich irgendwie
festzulegen. Es wäre Ermyas zuzutrauen gewesen, daß
er ihm aus einem einzigen unbedachten Wort einen
Strick gedreht hätte. So nahe dem Ziel wollte der
Kanzler nichts tun, was Ermyas, der immer noch König
von Myranien war, gegen ihn aufbringen könnte.
»Du bist vorsichtig, Kanzler«, stellte Ermyas
spöttisch fest. »Aber mit Vorsicht allein kannst du
deinen Kopf nicht retten. Wie würdest du dich
verhalten, wenn Zogor, entgegen aller Gerüchte, doch
noch am Leben ist? Nein, warte mit der Antwort.
Diesmal lasse ich es nicht zu, daß du mir ausweichst.
Ich möchte eine klare Stellungnahme von dir hören.
Wenn Zogor lebend in Erscheinung treten würde, wer
wäre dann in deinen Augen der rechtmäßige König, er
oder ich?«
»Du treibst ein ungnädiges Spiel mit mir,
Erhabener«, meinte Gorey. »Aber da du eine klare
Stellungnahme von mir wünschst, werde ich so klar
antworten, wie es mir möglich ist. Eher werde ich mit
dir sterben, mein König, als mich Zogor unterwerfen.«
Ermyas nickte, obwohl er nicht ganz zufrieden mit
der Antwort zu sein schien. Er hatte gehofft, daß sich
Gorey eine Blöße gab, die es ermöglichte, gegen ihn
vorzugehen. Ermyas hätte sich des Kanzlers gerne
entledigt, denn er besaß in Myra einen zu starken
Einfluß. Aber eben weil er ein mächtiger und beliebter
Mann war, konnte ihn Ermyas nicht grundlos aus dem
Weg räumen.
»Hast du noch Staatsgeschäfte mit mir zu
besprechen, Kanzler?« fragte Ermyas ungeduldig.
»Wenn nicht, dann brauche ich dich nicht mehr
länger.«
»Es gäbe noch viel zu besprechen«, entgegnete
Gorey, »aber es ist nichts, was unaufschiebbar wäre.
Nur eine einzige Angelegenheit gibt es, die keinen
Aufschub duldet.«
»Und was wäre das?«
»Du weißt, mein König, daß die Bürgerschaft von
Myra seit je Vertrauen in mich gesetzt hat«, begann
Gorey. »Ich habe schon unter Zogor oft zwischen dem
Königshaus und den Bürgern als Vermittler gedient
und so manche Konflikte bereinigt. Als nun dein Anruf
an die Bürger Myras erging, ihr gesamtes Vermögen an
das Königshaus abzutreten, setzte man sich mit mir in
Verbindung. Ich machte den Bürgern klar, daß es in
dieser Angelegenheit keine Zwischenlösung geben
könne. Ich konnte ihnen verständlich machen, daß es
dem König in der augenblicklichen Lage unmöglich
sei, auf die Unterstützung der Bürger zu verzichten. Sie
schienen eingesehen zu haben, daß es keine
Möglichkeit gibt, die Beschlagnahmung ihres
Vermögens zu verhindern, es sei denn ...«
»Sprich schon«, verlangte Ermyas ungeduldig.
»Es sei denn, sie überlassen ihr Vermögen freiwillig
dem Königshaus«, beendete Gorey den Satz. »Einige
der Bürger haben eingesehen, daß das der
vernünftigere Weg ist und wollen heute bei dir
vorsprechen, um den Tribut bei dir abzuliefern.«
Ermyas war für einen Augenblick sprachlos vor
Überraschung.
»Vielleicht bist du doch ein besserer Kanzler, als ich
gedacht habe, Gorey«, meinte er schließlich. Er straffte
sich und sagte: »Ich werde die Abordnung der
Bürgerschaft empfangen und die Geschenke
annehmen. Aber laß sie meine Warnung hören: Wer
von ihnen glaubt, mir auf diese Weise auch nur einen
Silberling seines Vermögens vorenthalten zu können,
wird mit dem Tode bestraft!«
Gorey verneigte sich.
»Ich bin sicher, daß dies niemand wagen wird, mein
König.«
Diesmal suchte der Kanzler in Begleitung seiner
Dienerschaft das Haus des reichsten Mannes der Stadt
auf. Er brauchte sich nicht auf Schleichwegen hin zu
begeben, weil er vom König den Befehl zu diesem
Besuch bekommen hatte.
Doch verlief das Gespräch in den Wänden des
Hauses ganz anders, als es der König auch nur ahnen
konnte. Sämtliche Mitglieder der verschworenen
Gemeinschaft waren bereits anwesend, als Gorey
eintraf.
»Der König will euch empfangen«, erklärte der
Kanzler bei seinem Eintreffen.
Die Männer nickten zufrieden, aber ihre Gesichter
blieben ernst. Sie waren sich bewußt, daß von nun an
die Entscheidung über das Schicksal von Myra und des
gesamten myranischen Reiches auf ihren Schultern
ruhte.
»Wir können dir auch mit einer guten Nachricht
aufwarten«, sagte einer der Männer. »Gelogor ist
zurückgekehrt.«
»Wo ist er?« wollte Gorey wissen.
Ein großgewachsener Mann trat in den Raum, der in
die Kutte eines Wanderpriesters gekleidet war. Aber
seinem Auftreten war anzumerken, daß er die Kutte
nur vorübergehend trug und eher ein Kämpfer mit
dem Schwert als ein Verfechter eines Götzenkultes war.
Die Gruppe um Gorey, die sich gegen Ermyas
verschworen hatte, hatte sich entschlossen, sich
Gewißheit über König Zogors Schicksal zu verschaffen.
Deshalb war einer von ihnen auserwählt worden, als
Unterhändler zum Lager von Dragons Heer zu reiten.
»Nun, was hast du zu berichten. Gelogor?«
erkundigte sich Gorey.
»Ich war im Lager der Urgoriten«, berichtete der
Unterhändler, »und wurde zu Dragon vorgelassen. Er
ist ganz anders, als ihn die Geschichten beschreiben,
die man sich über ihn erzählt. Er ist kein Gott und kein
Barbar, kein Wilder und kein Weiser, sondern ein
kluger und aufrechter Mann, für den Ehre kein leeres
Wort ist.«
»Wenn man dich so reden hört, dann konnte man
meinen, daß er dich verhext hat«, warf Gorey
stirnrunzelnd ein.
»Er hat mich in seinen Bann geschlagen«, gab
Gelogor zu. »Aber er tat es nicht mit den Mitteln der
Zauberei, sondern allein durch seine Person. Wenn
man seit Jahren nichts anderes kennt als Hinterlist,
Verschlagenheit und Bösartigkeit, dann tut es gut,
einem Mann zu begegnen, für den das alles fremde
Begriffe sind. Ich sage euch, dieser Dragon besitzt das
Herz eines Kriegers, die Klugheit und Gerechtigkeit
eines wahrren Königs und ist verständnisvoll wie ein
Bruder.«
»Ich hoffe, die Götter haben dir ein gutes
Urteilsvermögen bei deinen Beobachtungen beschert«,
meinte Gorey. »Und hoffentlich haben sie dich deine
eigentliche Aufgabe nicht vergessen lassen.«
Gelogor schüttelte den Kopf.
»Ich habe nicht vergessen, aus welchem Grund ich
zu Dragons Heerlager ritt. Er hatte auch nichts
dagegen, daß ich mir die Mumie ansah.«
»Und?«
»Es kann keinen Zweifel geben, daß es sich um
König Zogor handelt«, erklärte Gelogor. »Aber Dragon
gab zu, daß sich Ermyas vielleicht nicht nur einbildete,
Zogor gesehen zu haben. Dragon sagte, es sei sogar
möglich, daß König Zogor noch einmal und vor einem
größeren Personenkreis in Erscheinung treten könnte.«
»Aber wenn Zogor tot ist, wie kann er in Myra in
Erscheinung treten?« fragte Gorey.
»Nicht Zogor wird erscheinen, sondern ein Dämon,
der uns glauben machen will, daß er Zogor sei«,
antwortete Gelogor. »Vor diesem Geschöpf müssen wir
uns in acht nehmen ...«
Ermyas saß mit der ihm eigenen Nachlässigkeit im
Thron, umgeben von seinen blonden Jünglingen,
seinen Kanzler zur Rechten.
Der junge König traute den Bürgern nicht ganz,
deshalb hatte er vorsichtshalber seine Bogenschützen
hinter den Säulen des Rundgangs Aufstellung nehmen
lassen. Zehn von ihnen hatten den Befehl, auf ein
Zeichen des Königs den Kanzler unter Beschuß zu
nehmen. Ermyas wollte endlich reinen Tisch machen
und sich in seinen Handlungen nicht mehr von dem
viel zu sanften Gorey behindern lassen.
Ermyas winkte den Kanzler heran und fragte:
»Bist du sicher, daß die Bürger ihre Haltung mir
gegenüber so plötzlich geändert haben?«
Gorey machte ein verwundertes Gesicht.
»Sie waren dir von Anfang an treu verbunden, mein
König. Warum sollten sich ihre Gefühle zu dir
gewandelt haben? Als sie von Zogors Tod hörten, war
es ihre einstimmige Meinung, daß du nun seine
Nachfolge antreten solltest.«
»Du mißverstehst mich – etwa mit Absicht?« sagte
Ermyas mit einem Lächeln, das feinen Spott zeigte.
»Das anfängliche Wohlwollen der Bürger verwandelte
sich bald nach meiner Thronbesteigung ins Gegenteil.
Meine Spione haben mir zugetragen, daß viele meiner
Maßnahmen vom Volk mißbilligt wurden. Deshalb
wundert es mich, daß mich die Bürger auf einmal
wieder ins Herz geschlossen haben sollen.«
»Sie lieben dich nicht, Erhabener, sie fürchten dich«,
entgegnete Gorey. »Aber da du noch nie etwas auf die
Meinung des Volkes gegeben hast, braucht es dich
nicht zu kümmern, welche Beweggründe sie haben, dir
ihr Vermögen zu Füßen zu legen.«
Ermyas preßte die Lippen so fest zusammen, daß
alles Blut aus ihnen wich. Zum erstenmal hatte Gorey
offen gegen ihn Stellung bezogen. Das zeigte, wie gut
es gewesen war, die Beseitigung des Kanzlers
vorzubereiten. Ermyas beruhigte sich wieder – es sollte
das Vorrecht der Todgeweihten sein, ihre Meinung
noch einmal frei äußern zu dürfen.
»Du hast recht, Kanzler«, sagte er deshalb mit
erzwungener Ruhe. »Für mich und Myranien ist es nur
wichtig, daß Geld in die königliche Schatzkammer
fließt. Durch das einsichtige Verhalten der Bürger
gewinne ich die nötige Zeit, die ich brauche, um ein
Heer auf die Beine zu stellen, die Dragon und seine
tausend Urgoriten in die Flucht schlagen kann. Wie
entgegenkommend von dem Barbar, seine
Hauptstreitmacht gen Norden zu schicken, um
Myranien vor den Horden der Nacht zu schützen! Er
sah sich wohl schon als König, denn er handelte, als
gelte es sein Reich zu verteidigen.«
»Vielleicht handelte er aber auch gar nicht aus
selbstherrlichen Motiven, sondern dachte an das Wohl
der Menschen, als er seine Krieger in den Kampf gegen
die Horden der Nacht schickte«, gab Gorey zu
bedenken.
Das hörte sich beinahe so an, als hätte der Kanzler
für den Barbar aus dem Osten Partei ergriffen! Ermyas
hätte ihn zur Rede stellen müssen, aber er ging mit
voller Absicht nicht näher darauf ein, um Goreys
Hinrichtung noch hinausschieben zu können.
»Welche Beweggründe Dragon auch gehabt haben
mag, mir kann es nur recht sein, wenn sein Heer im
Norden aufgerieben wird«, sagte Ermyas, »und wir es
nur mit einem verlorenen Haufen von tausend
Kriegern zu tun haben. Aber genug davon. Ich nehme
an, den Bürgern brennt das Gold in den Händen, und
sie wollen es so rasch wie möglich an mich loswerden.
Ich will sie also nicht länger warten lassen.«
Gorey verneigte sich vor dem jungen König und gab
den Palastwachen ein Zeichen. Die Herolde stießen in
ihre Hörner, und unter deren Klängen wurde das
riesige Tor zum Thronsaal geöffnet.
Dahinter wartete bereits die Abordnung der Bürger
mit ihren Sklaven im Gefolge.
Ermyas blickte unwillkürlich zum Rundgang hinauf,
wo sich die Bogenschützen bereithielten. Noch waren
sie nicht zu sehen, aber sie würden augenblicklich in
Erscheinung treten, wenn Ermyas es wollte.
»Ich glaube, wir können uns das sonst bei solchen
Anlässen übliche Zeremoniell ersparen, Kanzler«, sagte
Ermyas. »Wir würden dabei nur unnötige Zeit
verlieren. Die Bürger sollen den Tribut beim
Schatzmeister abliefern, das genügt.«
»Wie du befiehlst, Erhabener.« Gorey verneigte sich
leicht, ging zu einem der Wachkommandanten und
leitete den Befehl des Königs an ihn weiter.
Inzwischen war die Bürgerabordnung vollzählig in
den Thronsaal gekommen. Das Tor schloß sich wieder,
die Wachen postierten sich davor.
Die Bürger in ihrer bunten und kostbaren
Festtagspracht, hatten in zwei Reihen Aufstellung
genommen. Die dunkelhäutigen Sklaven, die die
schweren Truhen geschultert hatten, hielten sich im
Hintergrund.
Als der Klang der Hörner erstarb und der erste der
Bürger dem König seine Aufwartung machen wollte,
wurde er von der Palastwache zurückgedrängt und
darüber unterrichtet, daß seine persönliche Vorsprache
unerwünscht sei und er nur das Geschenk an seinen
König beim Schatzmeister abzuliefern habe.
Ermyas schien es sich in diesem Augenblick jedoch
anders überlegt haben. Er winkte den Wachtposten
zurück und beugte sich in seinem Thronsessel etwas
vor.
»Ah, Yazilio«, sagte er zu dem Bürger, der die
Abordnung anführte. »Man sagt über dich, daß du der
reichste Mann von Myra seist. Stimmt das?«
Yazilio, in dessen Haus sich die Verschwörer
getroffen hatten, war ein unglaublich dicker,
kahlköpfiger Mann, der das fehlende Haupthaar durch
ein Netz aus gesponnenem Gold ersetzte, in das an die
hundert edle Steine eingefaßt waren. Er verneigte sich
demütig und meinte bescheiden:
»Man sagt so vieles über mich, wobei meine Neider
ganz anderer Meinung sind als meine Gönner. Ich
selbst glaube, daß ich trotz meines Goldes ein armer
Mann wäre ohne die Großmut meines Königs.« Ermyas
meinte spöttisch: »Nennst du es großmütig, wenn ich
mich deines Reichtums bemächtige?«
»Was ich besitze, gehört auch meinem König.«
Ermyas lächelte kalt. »Dann laß sehen, was du besitzt –
und von nun an mir gehört.«
Zehn Sklaven schleppten fünf große Truhen heran,
die sie an der Treppe abstellten, die zum Thron
hinaufführte. Ermyas beleckte sich die Lippen. Wenn
diese fünf riesigen Truhen mit Goldstücken gefüllt
waren, dann konnte er allein damit zweitausend
Krieger kaufen und sie für zwei Monde entlohnen.
Aber selbst wenn es sich bei dem Inhalt der Truhen nur
um Silberlinge handelte, dann reichte er als Sold für
dieselbe Anzahl von Kriegern für einen Mond.
Der Schatzmeister kam herangewatschelt, und unter
seiner Aufsicht klappten die Sklaven die Deckel der
Schatztruhen zurück.
»Steine!« entfuhr es dem Schatzmeister, als er den
Inhalt der Truhen erblickte. »Wertlose Steine!« Ermyas
sprang auf die Beine und beugte sich nach vorne, um in
die Truhen blicken zu können. Für einen Moment war
er fassungslos, aber dann rötete sich sein blasses
Gesicht vor Zorn.
»Du wolltest mich hintergehen, Yazilio!« schrie er
mit sich überschlagender Stimme. »Aber damit rettest
du deine Schätze nicht und verlierst noch zusätzlich
dein Leben. Wachen, ergreift ihn!«
Aber die Wachen rührten sich nicht vom Fleck.
Ermyas begriff in diesem Augenblick noch nicht die
ganze Tragweite dieser offensichtlichen
Befehlsverweigerung. Er machte eine Handbewegung,
die von den Bogenschützen auf dem Rundgang
gesehen werden mußte. Aber kein Pfeil schnellte von
der Sehne.
»Ich habe nicht gelogen, als ich behauptete, alles was
mein ist, gehöre auch meinem König«, sagte Yazilio
würdevoll. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Haß,
und er spie die folgenden Worte förmlich aus: »Nur
erkenne ich dich nicht mehr als meinen König an.
Ermyas.«
Ermyas wurde blaß. Er griff nach seinem Schwert,
um Yazilio eigenhändig zu töten. Doch bevor er es
noch aus der Scheide ziehen konnte, ertönte aus dem
Hintergrund des Thronsaales eine donnerartige
Stimme, die allen vertraut war.
»Yazilio verleugnet dich mit Recht, Ermyas. Denn
solange ich lebe, hast du keinen Anspruch auf den
Thron von Myranien.«
»Zogor!«
Zogor, den alle für tot gehalten hatten schritt
hoheitsvoll durch die Gasse, die sich zwischen den
zurückweichenden Bürgern bildete. Er kam so nahe an
ihnen vorbei, daß sie alle Einzelheiten an ihm erkennen
konnten – und keiner an ihnen zweifelte, daß das
Wesen, das vor ihren Augen den Thronsaal
durchquerte, ganz genau so aussah wie König Zogor.
Ermyas stieß einen Wutschrei aus und zückte sein
Schwert. Vergessen war die Demütigung des reichen
Yazilio, vergessen auch die Befehlsverweigerung der
Palastwachen und der Bogenschützen. In dem jungen
König wurden wieder die Erlebnisse jener beiden
Nächte wach, in denen er gegen Zogor gekämpft und
in denen er ihn auch getötet hatte.
»Wie viele Leben hast du noch, Zogor!« schrie
Ermyas, außer sich vor Haß und Wut. »Wie oft muß ich
dich noch töten, um Ruhe vor dir zu haben.«
Die Zogorgestalt hatte ebenfalls das Schwert
gezogen.
»Ich bin nicht gekommen, um mich vor dir töten zu
lassen, Ermyas, sondern um als rechtmäßiger König
den Thron zu besteigen. Und diesmal werde ich keine
Gnade kennen. Dein Blut soll fließen, Ermyas!«
Gorey mußte sich in Erinnerung rufen, was ihm
Gelogor berichtet hatte, um standhaft zu bleiben. Er
glaubte wirklich und wahrhaftig, König Zogor vor sich
zu haben. Er sah aus wie Zogor, sprach mit der Stimme
Zogors und bewegte sich wie Zogor.
Aber Gelogor hatte die Mumie gesehen und
geschworen, daß es sich um König Zogor handelte.
Gorey durfte sich nicht täuschen lassen, er mußte
seinen kühlen Verstand bewahren und jeden seiner
Schritte vorher reiflich überlegen.
Es war so gekommen, wie Dragon es Gelogor
vorausgesagt hatte. Die Zogorgestalt war im
Augenblick der Entscheidung aufgetreten, um die
größtmögliche Wirkung zu erzielen. Fast alle im
Thronsaal standen gegen Ermyas. Gorey hatte es
wohlweislich so eingerichtet, daß nur Männer seines
Vertrauens an diesem Tage für die Palastwache
eingeteilt wurden. Die anderen Palastsoldaten, die
seinem Wort gehorchten, hatten Ermyas
Bogenschützen schon vorher überwältigt und deren
Plätze eingenommen. Damit wollte Gorey alle
Voraussetzungen für einen unblutigen Sturz des
Königs schaffen.
Aber er hatte auch mit der Möglichkeit gerechnet,
daß Dragons Voraussage zutraf und der Dämon in der
Zogorgestalt auf den Plan trat, und hatte seine Männer
darauf vorbereitet.
Als er Zogor jetzt allerdings vor sich sah, kamen ihm
Zweifel, daß es sich um einen Dämon handelte. War es
nicht möglich, daß Zogor doch noch lebte, obwohl man
ihn tausendfach totgesagt hatte?
Gorey verscheuchte seine Gedanken, um sich durch
sie nicht von den Geschehnissen ablenken zu lassen.
Ermyas war die Stufen heruntergesprungen, griff in
eine der Truhen, die Yazilios Sklaven herangeschleppt
hatten, und holte einen schweren Stein heraus, den er
nach Zogor schleuderte. Zogor wich dem Geschoß aus,
und Gorey war es, als hätte er gesehen, daß Zogors
Umhang davonwirbelte, als besäße er ein eigenes
Leben. Wenn sich Gorey nicht geirrt hatte, dann
stimmte seine Beobachtung mit Dragons Aussage
überein, der Gelogor versichert hatte, daß der Dämon
in der Zogorgestalt auch seine Kleider aus seinem
Körper formte.
Die Zogorgestalt wich einem Schwertstreich
Ermyas‘ geschickt aus, täuschte dann einen Angriff von
links vor, wirbelte das Schwert jedoch über den Kopf
und ließ es von der rechten Seite auf Ermyas
niedersausen. Der junge König konnte den Schlag zwar
parieren, aber durch die Wucht des Aufschlags wurde
ihm das Schwert aus der Hand geschlagen. Er selbst
stolperte über eine der Truhen hinter sich und fiel zu
Boden.
Noch ehe er auf die Beine kommen konnte, war die
Zogorgestalt über ihm.
»Ich werde dir nicht die Ehre antun, dich durch die
Waffe sterben zu lassen«, rief Zogor und ließ das
Schwert fallen. »Ich werde dich erwürgen wie einen
räudigen Wolf!«
Ermyas schrie auf, als sich Zogors Hände um seinen
Hals legten und zudrückten. Der Schrei ging in ein
Gurgeln und Röcheln über, das immer leiser wurde
und schließlich erstarb. Ermyas war tot.
Die Zogorgestalt erhob sich und drehte sich zu den
Versammelten um. Gorey stellte fest, daß Zogor vom
Kampf überhaupt nicht gezeichnet war. Obwohl er
eine beachtliche Leibesfülle hatte, schien ihn die
Auseinandersetzung überhaupt keine Anstrengung
gekostet zu haben – er atmete nicht einmal schneller als
sonst.
Zogor wies seine Hände vor und sagte:
»Seht her, ich habe mich nicht mit dem Blut meines
Neffen beschmutzt. Ich habe reine Hände‘, auch wenn
ich damit getötet habe. Das ist ein Zeichen der Götter,
das richtig gedeutet werden soll. Die Götter wollen
damit sagen, daß ich mir reine Hände bewahrt habe,
als ich die inneren Feinde Myras auslöschte. Aber das
soll auch heißen, daß ich meine Hände nun im Blut der
Feinde baden muß, die aus dem Osten gegen unsere
Stadt ziehen.«
Die Bürger standen unschlüssig da. Sie wußten
offensichtlich nicht, wie sie sich zu verhalten hatten.
Nicht anders erging es den Palastwachen, die
geschlossen hinter Gorey standen, von diesem jedoch
keinen Befehl zum Handeln erhielten.
Gorey überlegte sich fieberhaft, wie er Zogor prüfen
konnte, um eindeutig herauszufinden, ob es sich um
den Dämon handelte.
Zogor nützte das Schweigen, um einen flammenden
Aufruf an seine Untertanen zu richten.
»Feiert ihr so die Rückkehr eures Königs? Sinkt
nieder und dankt den Göttern, daß sie mich am Leben
ließen, obwohl rings um mich Tausende meiner
Krieger starben. Dies soll ein Freudentag für Myra
werden, denn ich werde euch heute zum Sieg über die
Barbaren aus dem Osten führen.«
Gorey sah, wie sich einige der Wachen in Bewegung
setzten. Es waren fünf Männer, die ihre Schwerter
gezückt hatten und Fackeln in den Händen trugen. An
ihrer Spitze erkannte er Gelogor.
Er riß die anderen aus ihrer Erstarrung, als er rief:
»Du kannst nicht Zogor sein, denn ich habe den
Leichnam unseres Königs gesehen. Du bist ein Dämon
in Zogors Gestalt, der uns heimsucht, um Verderben
über unsere Stadt zu bringen.«
»Wer bist du, daß du es wagst, an mir zu zweifeln!«
rief die Zogorgestalt aufgebracht.
»Ich werde solange an dir zweifeln, bis du die
Feuerprobe bestanden hast!« erwiderte Gelogor.
Er sprang plötzlich und unerwartet, nach vorne und
stieß die Fackel nach der Zogorgestalt ...
Als Cnossos die Flammen auf sich zukommen kam,
die Hitze gegen sein Gesicht schlagen spürte, wich er
mit einem Entsetzensschrei zurück. Er fürchtete nichts
so sehr auf dieser Welt wie das Feuer, denn es war das
einzige Element, das ihm gefährlich werden konnte.
Die Furcht davor, daß das Feuer ihn versengen
konnte, ließ ihn für kurze Zeit die Herrschaft über
seinen Körper verlieren. In seinem Gesicht zuckte es
und es schien langsam zu zerfließen. Zu spät merkte er,
daß er sich eine Blöße gegeben hatte. Die Umstehenden
hatten die Veränderung bemerkt, die in seinem Gesicht
vor sich gegangen war, und jetzt kam auch Bewegung
in sie. Sie drangen mit ihren Waffen auf ihn ein,
bedachten ihn mit Schmährufen und verfluchten ihn.
Cnossos sah sein Spiel endgültig verloren. Er
erkannte, daß er alle Trümpfe verloren hatte und daß
er sich nur noch durch Flucht retten konnte.
Die Schwertstiche und die Pfeile, die sich in seinen
Körper bohrten, spürte er kaum. Aber da war immer
noch das Feuer der Fackeln, das ihn ernstlich bedrohte.
Er ließ sich Klauen wachsen und verteidigte sich so gut
es ging, während er darauf wartete, daß seine
Geierschwingen ihre endgültige Form erhielten und
stark genug waren, ihn davonzutragen.
Cnossos konnte zwei der Fackelträger töten. Aber
kaum hatte er sie ausgeschaltet, traten andere an ihre
Stelle, die ihn mit dem Feuer bedrängten. Er
erschauerte unter dem furchtbaren Schmerz, den die
Flammen seinem Körper verursachten, wenn sie über
ihn hinwegzüngelten.
Cnossos dachte nur daran, sich endlich in Sicherheit
zu bringen. Als seine Schwingen endlich soweit
gediehen waren, daß er sich auf ihnen erheben konnte,
brachte er sich aus dem Gefahrenbereich. Aber jetzt, da
er in Sicherheit war, als furchtbare Gestalt, halb Geier,
halb Zogor, über seinen Feinden schwebte, da wurde
der Wunsch nach Rache in ihm übermächtig.
»Ihr habt euch gegen die Götter versündigt«,
schmetterte er den Männern unter sich entgegen.
»Dieser Frevel bleibt nicht ungesühnt! Euch wird eine
Strafe treffen, die furchtbarer sein wird als ihr erahnen
könnt. Ich schicke euch die Schrecken der Meere, die
Myra überrennen, plündern und dem Erdoben
gleichmachen werden. Wenn sie wieder abziehen, wird
dies eine Stätte des Todes sein.«
Mit diesen Worten flog die furchterregende
Geiergestalt durch eines der hohen Fenster und
verschwand.
Dragon wartete an der Spitze seines tausend Mann
starken Heeres vor dem Osttor von Myra. Dort war
eine Abteilung von Bürgern und Adeligen erschienen,
von der sich ein einzelner Reiter löste und ohne
besondere Eile herangeritten kam.
»Jetzt wirst du König von Myranien«, sagte Yina
dumpf, die mit ihrem Pferd an Dragons Seite stand.
Dragon gab keine Antwort. Es stimmte, er hatte auf
allen Linien gesiegt. Aber das war nicht sein
persönliches Verdienst, sondern der Sieg einer durch
die Bande der Freundschaft zusammengehaltenen
Gemeinschaft.
Von Kim hatte Dragon schon am Morgen dieses
Tages erfahren, daß Parthos und Agrions Truppen die
Horden der Nacht besiegt hatten und daß die Verluste
in den eigenen Reihen weit unter den Erwartungen
geblieben waren. Allerdings hatte Kims Bruder Kano,
der mit Parthos Streitmacht nach Norden gezogen war,
noch keine Angaben über das Schicksal ihrer Freunde
machen können. Partho und Agrion hatten den Kampf
überlebt, aber was aus Nabib, Sardak, Bodo und den
anderen geworden war, darüber hatte Kano nichts
aussagen können.
»Wirst du, da du nun König von Myranien wirst,
Amee zur Frau nehmen. Dragon?« erkundigte sich
Yina.
Dragon lächelte ihr zu, gab jedoch keine Antwort. Er
blickte sich kurz zu dem Krieger um, der dicht hinter
ihm stand und einen Vogelkäfig in der Hand hielt.
Darin war eine weiße Brieftaube, die mit Dragons
Botschaft nach Urgor zu Amee fliegen würde. Er wollte
die Botschaft jedoch erst abschicken, bis sich alles
entschieden hatte.
Das würde in wenigen Minuten sein, bis der
einzelne Reiter aus Myra ihn erreicht hatte. Dragon
konnte schon Einzelheiten an ihm erkennen – es war
Gelogor, der Abgesandte des Kanzlers, der schon
einmal in sein Lager gekommen war, um sich von der
Echtheit der Königsmumie zu überzeugen.
Gelogor zügelte sein Pferd wenige Schritte vor
Dragon. Er schwang sich aus dem Sattel, ging vor
Dragon auf die Knie und senkte das Haupt.
»Verfügt über Myra und über Myranien und dessen
Bewohner. Herr«, sagte er feierlich. »Gorey erwartet
euch mit seinem Gefolge und den Daikanen, um euch
die Stadt und den Thron anzubieten.«
»Danke«, sagte Dragon nur und ließ Gelogor wieder
sein Pferd besteigen.
»Wie wirst du dich entscheiden. Dragon?« fragte
Yina.
Er tippte ihr mit dem Finger auf die Nase und
meinte lächelnd:
»Sei nicht so neugierig, kleine Maus und unterstehe
dich, in meinen Gedanken zu forschen.«
Sie beobachtete, wie er eine Nachricht aus der
Tasche holte, sie an das Bein der Brieftaube band und
die Tür des Vogelkäfigs öffnete. Die Brieftaube flatterte
heraus und flog in Richtung Osten davon.
Trotz des Verbots konnte Yina der Versuchung nicht
widerstehen. Sie drang vorsichtig in Dragons
Gedanken ein.
Komm bitte nach Myra, liebe Amee, und werde
meine Frau ... Jetzt erst bin ich würdig, um deine Hand
anzuhalten ... Es wird eine Ehe aus Liebe, aber auch
eine Ehe zwischen Urgor und Myranien ...
Zum erstenmal in ihrem Leben wurde Yina neidisch
auf das Glück anderer Menschen.
»Endlich«, sagte Kim, als sie sich in Bewegung
setzten und auf Myra losritten. »Endlich ist diese
Schlafmütze aufgewacht. Kano hat den ganzen lieben
langen Tag verschlafen.«
»Hast du Verbindung zu ihm?« fragte Yina
aufgeregt. »Was sagt er? Sind alle wohlauf? Nabib,
Sardak und ...«
»Und Bodo«, fügte Kim hinzu. »Keinem von ihnen
ist ein Härchen gekrümmt worden.«
»Und?« drängte Yina. »Hast du mir nichts von Kano
auszurichten?«
»Von ihm nichts«, antwortete Kim »Aber dafür von
Bodo. Er läßt dir sagen, daß er dich mag ...«
Yina war auf einmal viel gelöster, und sie konnte
sich selbst nicht verstehen, daß sie eben noch auf das
Glück der anderen neidisch gewesen war. Plötzlich war
ihr jedoch, als stürze sie in einen endlosen Abgrund.
Kims Worte drangen wie von Ferne durch einen
dichten Nebel zu ihr, als er fortfuhr:
»Aber Bodo wird nicht nach Myra kommen. Das
Leben unter so vielen Menschen behagt ihm nicht, er
braucht die endlose Weite und die Einsamkeit des
Wolfslandes ...«
Yina nahm an diesem Tag kaum noch wahr, was um
sie vorging. Es war alles so wie in einem Traum ... als
sie auf die Abgeordneten von Myra trafen ... in
Triumph in die Stadt einritten ... von den Bewohnern
als Befreier gefeiert wurden.
Aber Yina weinte nicht. Tapfer unterdrückte sie die
Tränen.
ENDE
Die Entscheidung vollzog sich im Zeichen des Mondes, und
dem Atlanter, dessen Verbündete die Horden der Nacht
bezwangen, fiel Myra, des toten Königs Zogor mächtige
Kapitale, kampflos in die Hand.
Wie Dragon, der neue König von Myranien, die Früchte
seines Sieges nutzt, wird erst die Zukunft erweisen. Wir
blenden jetzt um zu den Himmelsbergen und ihren
mächtigen Bewohnern, die einen Racheakt des Cnossos
erleben.
Schauplatz des düsteren Geschehens ist DAS TAL DER
DRACHEN ...
DAS TAL DER DRACHEN so heißt auch der Titel des
nächsten Dragon-Bandes. Als Verfasser des Romans
zeichnet William Voltz.