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Im Zeichen des Mondes

Date post: 03-Jan-2017
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Page 1: Im Zeichen des Mondes
Page 2: Im Zeichen des Mondes

1.

Cnossos war dem Wolfsrudel vorausgeflogen, um die

Gegend zu erkunden. Nun kehrte er zufrieden zurück.

Das enge Wasser, jene Meerenge, an der die

Westländer mit den Ländern des Ostens fast

zusammenstießen, war nur noch einen Tagesritt

entfernt. Morgen um diese Zeit würden die Horden der

Nacht das enge Wasser überqueren können.

Eine besonders erfreuliche Tatsache für Cnossos

war, daß auf dem Weg dorthin keine einzige Stadt

mehr lag. Es gab nur noch einige wenige Gehöfte, die

von seinen Wolfsmenschen und deren Wölfen spielend

überrannt werden würden.

Die Wolfsmenschen wurden sicherlich enttäuscht

sein, daß ihnen auf dem Weg nach Osten nicht mehr

Opfer in die Hände fielen, an deren Blut sie sich

berauschen konnten. Aber Cnossos war es ganz recht

so. Je weniger Menschen sich den Horden der Nacht in

den Weg stellten, desto rascher kamen sie voran, desto

eher würden sie die Ostländer überschwemmen, und

um so schneller würden sie auf Dragons Heer stoßen.

Cnossos dürstete nach Rache – und er wollte sie bald

haben.

Er wollte keine Rücksicht mehr nehmen.

Page 3: Im Zeichen des Mondes

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte er

Hemmungen verspürt, Dragon einfach kaltblütig zu

ermorden. Dabei hätte er Gelegenheit dazu gehabt,

damals, im Lager der Söhne Nuaks, als Dragon unter

der Wirkung des Traumpulvers stand und ihm hilflos

ausgeliefert war. Doch Cnossos hatte zu lange

gezögert.

Er erkannte Dragon als einen der Atlanter aus der

Zeit vor der großen Katastrophe. Er erkannte ihn als

einen seiner Widersacher und brachte es nicht über

sich, ihn kurzerhand zu töten wie irgendeinen anderen

Menschen dieser barbarischen Welt. Dieser Anflug von

Sentimentalität hatte Dragon das Leben gerettet.

Noch einmal würde Cnossos jedoch nicht weich

werden, das schwor er sich. Er legte auch keinen

besonderen Wert mehr darauf, Dragon durch eigene

Hand sterben zu lassen. Das konnten auch die Horden

der Nacht erledigen und ohne daß er selbst anwesend

war. Er hatte seine diesbezüglichen Pläne geändert.

Er, Cnossos, war zweifellos das mächtigste Wesen

dieser Welt. Seine Macht reichte über alle Kontinente

und in alle Länder dieses Planeten, aber er beherrschte

ihn nicht vollkommen. Er hatte seine Macht bisher zu

nachlässig gehandhabt, weil er keine Notwendigkeit

sah, härter durchzugreifen.

Bisher hatte es einfach keinen Gegner für ihn

gegeben, mit dem er sich messen konnte. Seit Dragon

Page 4: Im Zeichen des Mondes

jedoch erwacht war und seinen Schrein verlassen hatte,

war das anders. Plötzlich stand Cnossos ein

Widersacher gegenüber, der ihm ebenbürtig war.

Cnossos‘ Stärke bestand jedoch darin, daß er überall

Diener hatte, die ihn als Gott verehrten und ihm

bedingungslos gehorchten – wie die Vampire, die

Untoten und die Horden der Nacht.

Letztere vor allem wollte er nun einsetzen, um

Dragon vernichtend zu schlagen und seinen steilen

Höhenflug blitzartig zu beenden. Für Cnossos gab es

keinen Zweifel, daß die Wolfsmenschen das Heer des

Atlanters aufreiben würden. Deshalb plante er schon

weiter. Er mußte seine Macht festigen, um zu

verhindern, daß es in der Zukunft noch einmal einem

Mann wie Dragon gelingen konnte, zu einem

ernstzunehmenden Widersacher zu werden.

Aus diesem Grunde zog es Cnossos nach Myra, um

dort das für sich zu verwirklichen, was Dragon

anstrebte: Cnossos wollte sich zum König von

Myranien ausrufen lassen, um mit den Streitkräften

dieses Landes alle gegnerischen Heere hinwegzufegen.

Die Sonne war bereits untergegangen, als Cnossos über

den noch rauchenden Trümmern der kleinen Stadt

kreiste.

Die Horden der Nacht hatten diese Ansiedlung um

die Mittagsstunde erreicht und hier schrecklich

gewütet.

Page 5: Im Zeichen des Mondes

Cnossos hatte seine Kinder des schwarzen Blutes

gewähren lassen, obwohl sie das einen ganzen Tag

lang aufhielt. Er hätte sie lieber vorangetrieben, damit

sie rascher auf Dragons Armee stießen. Aber er konnte

ihr Temperament nicht zügeln.

Cnossos, noch immer in Geiergestalt, ging tiefer.

Während er über den Trümmern kreiste, hielt er nach

Wirch Ausschau. Wirch war nicht nur stark, sondern

auch überaus klug. Es gab sogar stärkere

Wolfsmenschen, aber seiner überragenden Intelligenz

hatte er es zu verdanken, daß er sich als Rudelführer

behaupten konnte.

Die Wölfe stimmten ein ehrfürchtiges Geheul an, als

sie den Riesengeier über sich hinwegsegeln sahen. Ihr

Verstand reichte nicht aus, um die Zusammenhänge zu

erkennen, aber da ihre Herren den Riesengeier als

ihren Gott verehrten, unterwarfen sie sich ihm

ebenfalls.

Mit zunehmender Dunkelheit hatten immer mehr

Wolfsmenschen ihre Verwandlung abgeschlossen. Sie

kamen in Begleitung ihrer Tiere aus den Verstecken

und streunten unruhig durch die Ruinen. Sie suchten

nach weiteren Opfern, stießen aber überall nur auf

Tote.

Auch ihrem Rudelführer Wirch erging es nicht

anders. Nach der vollzogenen Verwandlung lief er mit

seinen Wölfen unruhig durch die Ruinenstadt.

Page 6: Im Zeichen des Mondes

Als Cnossos ihn erspähte, hockte er gerade auf einer

der Mauern und heulte den Mond an. Cnossos stürzte

auf ihn hinunter, während er gleichzeitig sein

Aussehen veränderte. Er verscheuchte Wirch mit

einigen Flügelschlägen von seinem Platz und ließ sich

selbst darauf nieder, nachdem ihm menschliche Beine

gewachsen waren.

Wirch warf sich mit eingezogenem Schwanz vor ihm

zu Boden. Sein Geheul rief die anderen Wolfsmenschen

herbei, und bald hatte sich das gesamte Rudel

eingefunden und um Cnossos‘ Standplatz versammelt.

Der Balamiter hatte immer noch die Schwingen

eines Geiers, wenngleich sein. Körper der eines

Menschen war und sein Gesicht die Fratze eines

Wolfes.

Der Umhang, der ihm vom Rücken wehte und die

Geierschwingen halb verbarg, war ebenfalls aus seiner

Körpersubstanz geschaffen.

Er war sich der Wirkung, die er auf die

Wolfsmenschen hatte, vollauf bewußt, als er mit seiner

donnerartigen Stimme zu ihnen sprach.

»Ich habe euch einen nie versiegenden Strom von

Menschenblut versprochen, wenn ihr mir in die Länder

des Ostens folgt, meine Söhne!« rief er. »Und ich kann

eure Enttäuschung und eure Ungeduld verstehen, daß

ihr noch nicht an dieser Quelle euren Durst stillen

könnt. Aber ihr wißt, daß das Blut dem Wolf nicht

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entgegenfließt, der Wolf muß ihm nachlaufen.«

Cnossos wartete ab, bis das Geheul der

Wolfsmenschen verebbte. Dann fuhr er fort, indem er

die Geierschwingen ausbreitete, die sich plötzlich in

Menschenarme verwandelten:

»Dies hier ist nur eine unbedeutende Station auf

dem Weg zu den Quellen des Blutes und nicht wert,

daß man sich hier länger aufhält. Ihr müßt weiter nach

Osten ziehen – und ihr müßt euch beeilen, bevor euch

das unstillbare Verlangen den Kopf verlieren läßt.

Verlaßt diesen Ort wieder, der nur eure Sehnsüchte

geweckt, aber euren Durst nicht gestillt hat. Ihr werdet

den Weg zu den Quellen des Blutes auch finden, selbst

wenn ich euch nicht mehr den Weg weise. Denn ihr

habt in Wirch einen Rudelführer, wie er nur alle zwölf

Sommer bei Vollmond geboren wird.«

Die Wolfsmenschen huldigten ihrem Rudelführer in

einem vielkehligen Geheul, aber Cnossos merkte auch,

daß sie verwirrt und enttäuscht waren. Sie waren klug

genug, um seinen Worten entnehmen zu können, daß

er sie bald verlassen und nicht, wie versprochen, bis

ans Ziel geleiten wurde.

Er mußte etwas tun, um ihren Unmut zu

verscheuchen. Er konnte nicht riskieren, daß sie gegen

ihren Rudelführer aufbegehrten und sich in alle Winde

zerstreuten, kaum daß er, Cnossos, sie verlassen hatte.

Die Wolfsmenschen brauchten ein Wunder, ein

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magisches Ereignis, das die Erinnerung und den

Glauben an ihn festigte und bewirkte, daß sie ihre

Bestimmung nicht vergaßen.

Cnossos wollte ihnen das Wunder geben.

»Wenn ich nicht mehr bei euch bin, so werde ich

euch nicht wirklich verlassen haben, sondern in Wirch

weiterleben«, rief Cnossos seinen Geschöpfen zu. »Ihr

sollt mit eigenen Augen sehen, wie Wirch zu einem

Teil von mir wird.«

Der Rudelführer starrte fasziniert zu seinem Gott

auf. Bei seinen letzten Worten wurde er jedoch

unruhig. Er spürte mit seinem Instinkt, daß ein

Ereignis bevorstand, das ihn zum Mittelpunkt eines

übernatürlichen Vorgangs machen würde. Das ehrte

ihn, aber er fürchtete sich auch davor.

»Komm zu mir herauf, Wirch!« befahl Cnossos.

Der Wolfsmensch richtete sich zu seiner vollen

Größe auf und kam mit eingezogener Rute den Hang

zu dem Mauerrest herauf.

Es wurde vollkommen still, als sich Cnossos‘

Umhang plötzlich von seinen Schultern löste und aus

eigener Kraft in die Luft schwebte. Die Wolfsmenschen

verfolgten mit glühenden Augen jede Phase der

Verwandlung, die mit dem Umhang vor sich ging.

Das stoffähnliche Gebilde schrumpfte zusammen,

ein Körper bildete sich ... und ein Vogelkopf mit einem

langen, spitzen Schnabel ... ein Teil des wallenden

Page 9: Im Zeichen des Mondes

Stoffes breitete sich zu majestätischen Flügeln aus und

wurde unter den Blicken der Wolfsmenschen gefiedert.

Auf diese Weise bildete sich aus der Körpersubstanz

des Wolfsgottes ein Vogel, wie er im Wolfsland noch

nie gesehen worden war. Er war nicht klein, aber auch

nicht besonders groß und gerade so schwer, daß ein

Mann ihn mühelos auf dem Arm tragen konnte.

Dieser Vogel, einer übergroßen Krähe ähnlich, nur

mit viel längerem Schnabel und dem gesträubten

Gefieder eines Geiers, kreiste über Wirchs Kopf, der

mit gesenktem Kopf unsicher zu ihm hinaufschielte.

»Halt still, Wirch«, rief Cnossos ihn an. »Es ist mit

Schmerz verbunden, wenn das Göttliche in dich

eindringt.«

Wirch wagte sich nicht zu rühren, als der Vogel

plötzlich kreischend auf ihn hinabstieß und mit seinem

Schnabel auf ihn einhackte. Wirch unterdrückte nur

mühsam den Wunsch, laut aufzuheulen, als er

plötzlich einen stechenden Schmerz verspürte, der von

einer Stelle über seinen Augen ausging. Er wußte, daß

ihm der Vogel über einem jeden Auge eine Wunde

zugefügt hatte, aber er duldete es mit der Demut eines

treuen Dieners.

»Du bist stark, Wirch«, ertönte wieder Cnossos

gewaltige Stimme. »Du bist klug, Wirch. Du bist

unbesiegbar, Wirch. Ich gebe dir ein Stück von mir, auf

daß du unsterblich wirst, Wirch!«

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Die Wolfsmenschen sahen, wie Cnossos sich ins

Wolfsgesicht griff. Als er die Hände wieder wegnahm

und sie in Wirchs Richtung hielt, waren zwischen

seinen Fingern zwei Augen zu sehen.

Seine eigenen Augenhöhlen aber waren leer ...

Cnossos hielt die beiden Augen lange genug von

sich gestreckt, damit sie für alle Wolfsmenschen

sichtbar waren. Dann erst pflanzte er sie in die

Wunden, die der Krähengeier an Wirchs Stirn gehackt

hatte.

»Jetzt bist du allgewaltig, Wirch«, sagte Cnossos

salbungsvoll. »Ich bin du – und du bist ich.«

Cnossos ging zu dem Wolfsmenschen, griff ihm ins

Nackenhaar und schwang sich auf seinen Rücken. Der

Krähengeier stieß herab und landete auf Cnossos‘

linker Schulter.

»Auf, in die Ostländer!« schrie Cnossos den

Wolfsmenschen zu.

Cnossos war die ganze Nacht durchgeritten. Jetzt, kurz

vor Sonnenaufgang, als der Mond langsam verblaßte,

merkte er, daß Wirch der Erschöpfung nahe war.

Er würde dem Rudelführer die wohlverdiente Ruhe

gönnen, denn er hatte erreicht, was er wollte. Die

Wolfsmenschen und ihre Wölfe waren ihnen gefolgt,

ohne sich von der Beute links und rechts des Weges

verlocken zu lassen.

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Wirch war nun viel mehr als nur ein Rudelführer für

sie, seit Cnossos ihm einen Teil von sich eingepflanzt

hatte. Er verkörperte nicht nur Kraft und Verstand,

sondern auch das Göttliche, dem zu Ehren die

Wolfsmenschen nach Xanth gezogen waren.

Cnossos konnte zufrieden sein, das Rudel wurde

Wirch überall hin folgen, auch wenn er selbst sich

absetzte.

Der Balamiter saß aufrecht auf dem Rücken des

riesigen Wolfes mit den vier Augen. Auf seiner

Schulter hockte der Krähengeier, den langen, spitzen

Schnabel an die Brust gedruckt, den Kopf gegen den

Wind gereckt.

Wirch begann bereits unter seiner Last zu keuchen,

sein Lauf wurde immer schleppender. Aber er wagte es

nicht, seinem Gott die beginnende Erschöpfung

einzugestehen.

Cnossos war von der Ausdauer des Wolfsmenschen

beeindruckt und ließ es ihn auch wissen.

Als sie in ein Tal kamen, in dem eine von den Hirten

im Stich gelassene Schafherde graste, kletterte Cnossos

vom Rücken des Wolfsmenschen. Er wirkte viel kleiner

als sonst, was darauf zurückzuführen war, daß er nicht

nur den Krähengeier aus seiner Körpersubstanz

geformt hatte, sondern auch den Sattel und das

Zaumzeug – und sogar das Schwert, das ihm von der

Hüfte baumelte.

Page 12: Im Zeichen des Mondes

»Du hast dich tapfer gehalten, Wirch«, lobte

Cnossos. »Ruh dich jetzt aus. Ich werde veranlassen,

daß dir deine Wölfe eines der Schafe zutreiben.«

Wirch blieb mit zitternden Läufen stehen. Plötzlich

spürte er, wie sich das Zaumzeug zwischen seinen

Zähnen auflöste und das Gewicht des Sattels von

seinem Rücken verschwand. Als er den Kopf wandte,

sah er, daß der Sattel mitsamt dem Zaumzeug zu einer

formlosen Masse wurde, auf Cnossos zustrebte und mit

ihm verschmolz.

Der Wolfsmensch ahnte, daß nun der Zeitpunkt

gekommen war, wo sein Gott ihn verlassen wollte. Er

erschauerte vor der Kälte, die sich plötzlich in seinem

Körper ausbreitete und heulte den verblassenden

Mond an. Bald würde es Tag werden, und die Kräfte,

die ihm die Gestalt des Wolfes verliehen, würden

schwinden.

Cnossos schien seine Gedanken erraten zu haben,

denn er sagte:

»Die Stunde des Abschieds ist gekommen, Wirch.

Du und deine Brüder, ihr mußt jetzt den Weg allein

gehen, den ich euch vorgezeigt habe.«

Wirch spürte, wie der Schmerz der beginnenden

Verwandlung seinen Körper durchjagte und kauerte

sich auf dem Boden zusammen. Seine Wölfe kamen

heran, um ihn gegen jedwede Gefahren zu beschützen,

achteten aber darauf, Cnossos nicht zu nahe zu

Page 13: Im Zeichen des Mondes

kommen.

Cnossos fuhr fort:

»Aber ich werde euch nicht wirklich verlassen.

Wenn ich mich jetzt als Geier in die Lüfte erhebe, lasse

ich meine Augen in dir zurück, Wirch. Mit ihnen werde

ich euren Weg nach Osten verfolgen, ich werde sehen,

wie ihr die Menschen reißt und ihr Blut trinkt. Ich

werde dabei sein, wenn ihr auf das Heer der Urgoriten

stößt und Dragon und seine Leute im Licht des

Mondes in Stücke reißt.«

Wirch hörte die Stimme seines Gottes wie aus weiter

Ferne. Aber er konnte jedes einzelne Wort

verstehen – und obwohl der Schmerz der Verwandlung

seinen Körper nun in immer schneller

aufeinanderfolgenden Wellen überkam, schenkte er

seinem Gott die gebührende Aufmerksamkeit.

»Ihr seid nicht nur stark, weil ihr viele seid – mehr

als doppelt so viele, wie Dragon Krieger auf die Beine

stellen kann«, drang Cnossos‘ Stimme von weit her zu

Wirchs Geist. »Ihr seid vor allem stark, weil ihr

Geschöpfe meines Blutes seid. Kein Schwert und kein

Pfeil kann euch etwas anhaben. Aber nehmt euch vor

Silber in acht!«

Wirch krümmte sich vor Kälte und Schmerz. Er

vermerkte es dankbar, wie seine Wölfe mit heißer

Zunge über seinen Körper leckten, der immer

deutlicher menschliche Züge annahm. Wirch verspürte

Page 14: Im Zeichen des Mondes

Scham darüber, daß er sich in diesem Augenblick der

Schwäche seinem Gott zeigen mußte. Er wollte nicht,

daß ihn dieser so hilflos sah.

»So unbesiegbar ihr seid«, fuhr Cnossos fort, »Silber

kann euch töten. Doch selbst wenn Dragon davon

weiß, so wird ihm dieses Wissen nichts nützen. Er ahnt

nicht, daß ihr auf dem Wege zu ihm seid, und wenn ihr

ihm dann gegenübersteht, wird es zu spät für ihn sein,

Mittel und Wege zu finden, um euch zu bekämpfen.

Ihr werdet wie ein Sturm über sein Heer hinwegfegen.«

Wirch fühlte sich so müde und schwach, daß er am

liebsten schlafen wollte. Aber der dumpfe Schmerz in

seinem Kopf und die Stimme seines Herrn hielten ihn

wach.

Er öffnete mühevoll seine Augen. Aber während

ihm die ihn umsorgenden Wölfe als verschwommene

Flecken erschienen, sah er Cnossos gestochen scharf –

und er wußte, daß er seinen Herrn durch das zweite

Augenpaar sah, das dieser ihm eingepflanzt hatte.

»Wirch, du wirst dafür sorgen, daß Dragons Blut

fließt!«

Das waren die letzten Worte, die der Rudelführer

von seinem Gott hörte. Er hätte gerne noch etwas zum

Abschied gesagt, aber er besaß nicht mehr die Kraft

dazu.

Mit seinem zweiten Augenpaar sah er noch, wie sich

der Riesengeier majestätisch in die Luft erhob und sich

Page 15: Im Zeichen des Mondes

in Richtung Süden entfernte. Dann übermannte ihn die

Müdigkeit endgültig, und er schlief ein.

Vor ihnen lag das enge Wasser.

Im Schein des abnehmenden Mondes lag es da wie

ein riesiger Spiegel mit unzähligen dunklen Flecken.

Diese dunklen Stellen waren die Inseln, die sich überall

über die Oberfläche des Wassers erhoben.

Wirch drehte sich nach seinen Brüdern und deren

Wölfen um.

Sie waren schon die ganze Zeit über unruhig

gewesen, seit sie das Wasser gewittert hatten. Jetzt

hatte sich die Unruhe in Panik verwandelt und von den

Wolfsmenschen auf deren Wölfe übertragen.

Wirch hatte die gleiche Scheu vor dem Wasser wie

seine Brüder. Aber er überwand sie besser als die

anderen, denn in ihm war die Kraft seines Gottes.

Das andere Ufer war so nahe, daß er im Mondlicht

Einzelheiten erkennen konnte. Er sah Bäume und

einige Felsen und dazwischen flackerte etwas wie ein

Lagerfeuer. Vielleicht lagerten dort sogar Menschen,

die ahnungslos waren und eine leichte Beute abgeben

würden.

Er witterte, aber der Wind trieb ihm nur den

ekelhaften Geruch des Meerwassers zu.

Er machte einige Schritte ins Wasser, erschauerte

und rannte sofort wieder ans Ufer zurück. Es war

Page 16: Im Zeichen des Mondes

schon schrecklich genug, vom Wasser umspült zu

werden, wenn man Grund unter den Läufen hatte –

das Gefühl, abgetrieben und auf das offene Meer

hinausgetragen zu werden, würde sich aber noch

verstärken, wenn man mit den Läufen ins Leere trat

und nichts anderes als Wasser unter ihnen hatte.

Die Panik unter den Wolfsmenschen wurde immer

arger. Wirch hörte etliche von ihnen kläglich heulen..

Sie verwünschten den Mond und ihren Gott, der von

ihnen verlangte, daß sie sich den Tücken des Meeres

ausliefern sollten.

Wirch war klar, daß er schnell handeln mußte, wenn

er vermeiden wollte, daß die Panik seine Gefährten zur

Umkehr trieb. Noch hielt sie das Wort ihres Gottes im

Bann. Aber mit jedem Atemzug, den sie zuwarteten,

würde sich der Einfluß des Wolfsgottes verringern und

die Furcht vor dem nassen Element verstärken.

Er hatte keine andere Wahl, er mußte das Wagnis

sofort eingehen. Er heulte auf, um die anderen

mitzureißen, und stürzte sich mit Todesverachtung in

die Fluten.

Das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen,

das salzige Naß drang ihm in die Schnauze, und er

mußte es schlucken. Ihm wurde beinahe übel dabei.

Aber dann tauchte er wieder auf und reckte den Kopf

so hoch, daß er über die Wasseroberfläche ragte.

Wenig später hatte er die erste Insel erreicht. Als er

Page 17: Im Zeichen des Mondes

sich umdrehte, sah er, daß ihm seine Wölfe gefolgt

waren. Sie kamen hechelnd aus dem Wasser,

schüttelten sich und schmiegten sich an seine Seite.

Wirch heulte herausfordernd auf, knurrte seine

Brüder am Festland wütend an und vollführte wilde

Sprünge, um seinem Zorn über ihr Zaudern Ausdruck

zu verleihen.

»Seid ihr Söhne des schwarzen Blutes, oder seid ihr

Hasen im Wolfspelz« schrie er ihnen entgegen. Er sah,

daß einige von ihnen den Sprung ins Wasser wagten,

aber sofort wieder zum Ufer zurückschwammen. Nur

zwei seiner Bruder kehrten nicht wieder um und

kamen zu ihm auf die Insel.

»Wollt ihr keine Beute? Wollt ihr die Quelle des

Blutes nicht sprudeln sehen?«

Wieder stürzten sich einige Wolfsmenschen, gefolgt

von ihren Wölfen, ins Wasser. Nur ein einziger von

ihnen bekam es im letzten Augenblick mit der Angst

zu tun und kehrte zum Ufer zurück.

»Wer von euch wagt es, sich gegen seinen Gott zu

stellen! Ihr alle habt ihm gelobt, in die Länder des

Ostens zu ziehen!«

Diesmal überwanden noch mehr Wolfsmenschen

ihre Scheu vor dem Wasser. Am Ufer entstand ein

Gedränge, als sie sich in Bewegung setzten und in die

Fluten sprangen.

»Er wird euch alle sehen – die Feigen ebenso wie die

Page 18: Im Zeichen des Mondes

Tapferen!«

Endlich war der Bann gebrochen. Die Horden der

Nacht drängten vorwärts; die Wolfsmenschen der

vorderen Linien wurden von den Nachdrängenden ins

Meer gestoßen und einfach weitergetrieben, ob sie nun

wollten oder nicht. Es gab kein Zurück mehr.

Wirch stieß mit der Schnauze seine Wölfe von der

Insel ins Wasser und sprang ihnen nach.

Er schwamm wie ein Besessener, als wäre ihm eine

Meute mit Silberspeeren auf den Fersen. Er schwamm,

als ginge es um sein Leben, nur um so rasch wie

möglich die nächste Insel zu erreichen und dem

schaurigen Naß zu entfliehen.

Und hinter ihm folgten alle seine Bruder und deren

Wölfe nach.

Bald hatten sie das andere Ufer erreicht – und dann

gab es nichts mehr, das sie noch aufhalten konnte. Sie

würden das Land überschwemmen und sich den

Feinden des Wolfsgottes entgegenwerfen.

Wirchs zweites Augenpaar würde ihnen den Weg

weisen.

2.

Die Gedanken des Mannes waren dunkel und böse.

Page 19: Im Zeichen des Mondes

Er war an Yina vorbeigekommen und hatte ein

finsteres Gesicht gemacht. Das war Anlaß genug für

sie, kurz in ihn hineinzuhorchen.

Yrnor, Lash, Rogho und ich werden die

ahnungslosen Wächter schon erledigen. Dann wird

dieser verfluchte Tyrann noch im Tode brennen ...

Das waren die dunklen Gedanken des Mannes, der

den Harnisch eines myranischen Hauptmanns trug

und sich entschlossen seinen Weg durch das Heerlager

suchte. Yina folgte ihm. Sie konnte sich im ersten

Augenblick nicht vorstellen, was der Krieger vorhatte,

aber ihr war sofort klar, daß er gegen Dragons

Interessen handeln wollte.

Erst nach und nach kam sie dahinter, was er

wirklich plante.

... die Wächter erledigen!

... der Tyrann noch im Tode brennen!

Damit konnte nur die Mumie von König Zogor

gemeint sein!

Nachdem Dragons Heer von Eskis aufgebrochen

war, hatte er den mumifizierten Leichnam des toten

Königs von Myranien auf einem Karren aufbahren

lassen, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Da es sich

bei den Zugtieren um Ochsen und nicht um edle

Pferde handelte, wurde jedem klar, daß Dragon den

toten König noch im Tode verhöhnen wollte.

Vielleicht paßte das einigen Myranern nicht?

Page 20: Im Zeichen des Mondes

Die Mumie wurde ständig von zehn Soldaten

bewacht, damit sich niemand an ihr vergreifen konnte.

Aber ungeachtet der Wachen plante dieser myranische

Hauptmann, die Mumie zu verbrennen.

Als sich Yina darüber klar geworden war, ließ sie

von dem Mann ab und lief in die Richtung, in der

Dragons Zelt lag.

Dragons Hauptstreitmacht lagerte zwei Tagesritte

von Eskis entfernt. Aber die Zelte wurden bereits

wieder abgebrochen. Die Vorhut aus tausend Mann

hatte gemeldet, daß auf einer Strecke von zwei

Tagesritten in Richtung Myra alle Hindernisse beseitigt

wären und die Bevölkerung den Eroberern aus dem

Osten mit großer Erwartung entgegensehe. Die Wege

zur Hauptstadt des myranischen Reiches schienen

geebnet.

Yina rannte mit wehenden Kleidern. Sie hatte ihre

knöchellangen Rocke gerafft, um nicht darüber zu

stolpern.

»He, nicht so hastig, junge Maid«, rief ein Söldner

belustigt, den Yina anrempelte. Er wollte nach ihrem

Arm fassen, aber sie entwich ihm geschickt.

»Deine Augen lassen nach, Bydon«, rief ein anderer

Krieger lachend. »Was du für eine junge Maid hältst,

ist in Wirklichkeit ein Bengel in Kitteln ...«

Grölendes Lachen folgte dieser Bemerkung.

Yina überhörte solche Bemerkungen schon längst.

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Sie hatte sich damit abgefunden, daß niemand sie als

Mädchen anerkannte. Sie wußte, daß sie unansehnlich

war und für ein Mädchen von sechzehn Sommern noch

reichlich unentwickelt. Und wenn sie von den anderen

scherzhaft Maus genannt wurde, so wußte sie doch,

daß dieser Name seine Berechtigung hatte.

Sie war so unansehnlich, grau und spitz wie eine

Maus.

Das gesamte Lager befand sich im Aufbruch. Pferde

wurden gesattelt, Zelte auf die Wagen geladen, die

Ausrüstung wurde darauf verstaut, Ochsen vor die

Wagen gespannt; die Krieger schnallten sich die

Waffengürtel fester, wetzten die Klingen ihrer

Schwerter im niedergetrampelten Gras. Überall lagen

leere Weinkrüge herum.

Yina mußte immer wieder Reitern und Fußsoldaten

ausweichen, die sich in Marsch gesetzt hatten. Obwohl

sie wie eine Besessene lief, näherte sie sich Dragons

Hauptquartier nur langsam. Da sah sie Partho, wie er

mit seinem Pferd zwischen den marschierenden

Kriegern hindurchtänzelte.

»Partho!«

»Agrion ist so kratzbürstig und widerspenstig wie

eine schwangere Amazone«, so dachte der Hauptmann

aus Urgor gerade.

Yina spürte einen Stich in ihrem Kopf, als Partho aus

seinen Gedanken schreckte. Der Hauptmann aus

Page 22: Im Zeichen des Mondes

Urgor, der Amee anbetete und sich, nachdem er sie an

Dragon verloren hatte, Agrion zuwandte, büßte nun

auch die Liebe der ehemaligen Sklavin ein. Als

Trägerin des Mondrings war sie zur Nachfolgerin der

Amazonenkönigin bestimmt.

Partho lächelte Yina zu.

»Du läufst ja, als ginge es um dein Leben, Maus«,

meinte er belustigt, als sie ihn erreichte und sich

erschöpft an den Sattel seines Pferdes klammerte.

»Wo ist Dragon?« sagte sie keuchend. »Ich muß zu

ihm ... ihn warnen. Man will die Mumie verbrennen.«

Partho zog Yina mit einem kräftigen Ruck zu sich in

den Sattel hinauf und preschte mit ihr davon.

»Damit brauchen wir Dragon nicht zu belästigen«,

sagte er. »Wieviele sind es?«

»Vier«, sagte Yina immer noch atemlos. »Myraner ...

Ich habe nicht herausfinden können, was sie zu dieser

Tat treibt.«

»Endlich gibt es wieder einmal Abwechslung für

mich«, rief Partho erfreut. »Vier sagtest du?«

Als er an einem urgoritischen Reitersoldaten

vorbeikam, rief er diesem zu: »Mir nach!«

Er ritt rücksichtslos weiter. Die Krieger, die das

Hufgetrappel in ihrem Rücken hörten, stoben

auseinander und konnten sich oftmals nur durch

waghalsige Sprünge in Sicherheit bringen. Als vor

Partho plötzlich ein Wagen auftauchte, wich er dem

Page 23: Im Zeichen des Mondes

Hindernis nicht aus, sondern brachte sein Pferd dazu,

mit einem Satz darüber hinwegzuspringen.

Yina, die vor ihm saß und sich ängstlich in die

Mähne des Pferdes verkrallte, sah, daß auf dem Wagen

nichts als ein mit einer Decke verhüllter Körper lag.

»Das ist der Wagen mit König Zogor!« rief sie.

»Ich weiß«, sagte Partho und brachte sein Pferd zum

Stillstand.

Die verdutzten Krieger, die den Wagen bewachten,

hatten ihre Krummschwerter gezogen. Als sie ihren

Hauptmann erkannten, ließen sie sie zögernd sinken.

»Verrat!« rief Partho ihnen zu. »Man will ...«

Weiter kam er nicht. Bei dem Wort »Verrat« hieben

drei der Soldaten mit ihren Schwertern auf die anderen

ein. Drei Wachen brachen blutüberströmt zusammen,

bevor die anderen überhaupt begriffen, was das zu

bedeuten hatte.

Für Partho war die Situation augenblicklich klar. Die

drei, die den Kampf begonnen hatten, waren

wahrscheinlich jene drei Myraner, die zusammen mit

einem vierten den Anschlag auf die Mumie von König

Zogor planten.

Und da tauchte auch schon der vierte auf. Er trug

noch seinen myranischen Harnisch und schwang eine

Fackel. Partho hatte Yina aus dem Sattel gehoben. Jetzt

stieß er seinem Pferd die Fersen in die Flanken, daß es

wie von der Sehne geschnellt auf den Fackelträger

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zuschoß. Er holte gerade aus, um die Fackel auf den

Wagen zu werfen, da begruben ihn die Hufe des

Pferdes unter sich.

Partho wirbelte auf seinem Pferd herum. Aber der

Kampf war bereits entschieden. Zwei der anderen

Verräter waren tot. Der dritte hockte wimmernd im

Sand und hielt sich den rechten Arm.

Hinter ihm stand ein Urgorit mit erhobenem

Schwert, um ihm den Gnadenstoß zu geben.

»Halt!« rief Partho, gegen seine Überzeugung. Aber

er hatte von Dragon gelernt, daß es oft vorteilhafter

war, das Leben eines Gegners zu schonen. Manchmal

wurde aus einem Gegner ein Verbündeter – und

manchmal erfuhr man von ihm wichtige

Informationen.

»Wir brauchen ihn lebend. Er muß uns sagen, wer

ihn zu dieser Tat angestiftet hat.«

Kim und Kano, die beiden Zwillinge, die sich auch

über weite Entfernungen nur mittels ihrer Gedanken

miteinander verständigen konnten, hatten ein Gespür

dafür, wo etwas los war.

Sie hatten gehört, daß Partho einen Myraner

gefangen hatte, der die Mumie des Königs verbrennen

wollte und machten sich sofort auf den Weg zu

Dragons Lagerplatz. Sie sahen schon von weitem die

Krieger, die sich vor dem Zelt drängten und den

Page 25: Im Zeichen des Mondes

Vorfall untereinander mit einander widersprechenden

Meinungen besprachen.

Es fiel den beiden dreizehn Sommer zählenden

Jünglingen nicht schwer, sich zwischen den Beinen der

Krieger einen Weg zu suchen und den Zelteingang zu

erreichen. Als Kano jedoch den Vorhang hob und einen

Blick ins Innere warf, tauchte das Gesicht Sardaks vor

ihm auf.

Der Hirte, der seine Herden im Stich gelassen hatte,

um an Dragons Seite gegen Cnossos zu kämpfen,

schnitt eine Grimasse und sagte:

»Das ist nichts für kleine Jungen. Verschwindet!«

Die Zwillinge zogen sich schmollend zurück.

»Es ist eine Frechheit«, machte Kim seinem Ärger

Luft. »Immer wenn es irgendwo spannend ist,

verscheucht man uns.«

»Dabei ist Yina nicht viel älter, aber sie darf dabei

sein«, beschwerte sich Kano. »Ich habe sie neben

Dragon und Agrion im Zelt gesehen.«

»Vielleicht verrät sie uns wenigstens, worum es

wirklich geht«, meinte Kim. Er konnte nicht nur mit

seinem Bruder Kano in Gedankenverbindung treten,

sondern auch mit Yina – wenn er sich einigermaßen

anstrengte.

He, Maus! dachte er eindringlich. Was geht in

Dragons Zelt vor!

Stört mich jetzt nicht, kam die Antwort. Ich habe

Page 26: Im Zeichen des Mondes

andere Sorgen, als mich mit dummen Jungen zu

unterhalten. Ich muß den Verräter aushorchen.

»Überhebliche, dumme Ziege«, schimpfte Kim. Und

in Gedanken fügte er zornig hinzu: Dafür bekommst

du nie einen Mann.

Aber Yina hörte seine Gedanken nicht mehr. Sie

widmete sich wieder voll und ganz den Geschehnissen

im Zelt.

Dragon sagte gerade zu dem verwundeten Myraner,

der noch immer die Rüstung eines Urgoriten trug:

»Du wirst deinen Arm verlieren, Rogho.«

»Dafür werde ich meine Ehre behalten«, erwiderte

der Myraner mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Wenn du uns sagst, wer dir befohlen hat, den toten

König zu verbrennen, werden wir dich pflegen«, sagte

Dragon wieder. »Nenne uns den Namen deines Herrn,

und wir schenken dir das Leben.«

»Mein Herr ist der König von Myranien«, sagte der

Verwundete, und seine Stimme bebte vor Haß. »Er

wird euch vernichten, noch ehe ihr die Mauern von

Myra seht!«

»Cnossos?« entfuhr es Partho.

Sardak war gebückt herangekommen und

betrachtete den Gefangenen so scharf, daß dieser den

Blick senkte.

»Nein«, sagte der Helfer der Hirten dann überzeugt.

»Dieser Mann hat aus freiem Willen gehandelt.

Page 27: Im Zeichen des Mondes

Cnossos aber bedient sich nur willenloser Sklaven.«

»Ich kenne keinen Cnossos«, behauptete der

Verwundete und preßte die Zähne so fest aufeinander,

daß es knirschte.

Dragon warf Yina einen fragenden Blick zu, und

diese bestätigte:

»Er spricht die Wahrheit.«

Dragon wandte sich wieder dem Gefangenen zu

und deutete über seine Schulter auf Yina.

»Sieh dieses Mädchen an«, verlangte er. »Bringst du

es fertig, ihr in die Augen zu sehen und zu lügen?«

Der Gefangene wurde unsicher. Er betrachtete Yina

kritisch und verzog dann abfällig die Mundwinkel.

»Was für ein häßliches Ding«, sagte er und grinste,

als er Yina zusammenzucken sah. »Wollt ihr mir

einreden, daß sie eine Hexe ist? Ich glaube nicht an die

Kraft von dämonischen Weibern.«

»Ich schlage dir einen Handel vor, Hogho«, meinte

Dragon. »Wenn es dir gelingt, Yina anzulügen, dann

lassen wir dich laufen. Gelingt es dir dagegen nicht,

dann gibst du uns dein gesamtes Wissen preis.«

»Das ist ein Handel, auf den ich mich gerne

einlasse«, behauptete Rogho ... Ich soll dieses Kind

nicht belügen können?«

»Du wirst es sehen«, sagte Dragon. Nach einer

Atempause fuhr er fort: »Ich frage dich jetzt. Rogho:

Wer hat dich und deine Kumpane damit beauftragt, die

Page 28: Im Zeichen des Mondes

Mumie zu vernichten« »

»Es war der geizige Almoro«, antwortete Rogho und

lachte glucksend.

»Er lügt«, sagte Yina. »Der Name seines

Auftraggebers ist Ermyras.«

Roghos Lachen erstarb. Er preßte seine heile Hand

gegen die Wunde seines Oberarms und starrte Yina mit

offenem Mund an.

»Bei Amyron ...!«

Dragon war aufgesprungen. Er blickte abwechselnd

von Partho zu Agrion.

»Erinnert ihr euch dieses Namens?« fragte er sie.

»Einige der Myraner, die nach Zogors Tod zu uns

übergelaufen sind, haben ihn genannt.«

Partho hatte die Hände zu Fäusten geballt.

»Natürlich«, stieß er hervor. »Ermyras ist der Neffe

König Zogors und sein Thronerbe. Zogor ließ ihn in

den Kerker werfen, um sich vor seinen

Mordanschlagen zu schützen. Sollte er noch am Leben

sein?«

»Er hat den verwaisten Thron bestiegen«, erklärte

Rogho würdevoll. »Es gibt kaum einen in diesem Land,

der Zogor nachtrauert. Und Ermyras hatte schon zu

Lebzeiten des Königs viele Getreue, die den Tag kaum

erwarten konnten, daß er auf den Thron kommt. Als

die Kunde von Zogors Tod nach Myra gelangte, wurde

Ermyas im Triumph aus dem Kerker geholt und in sein

Page 29: Im Zeichen des Mondes

rechtmäßiges Erbe eingesetzt.«

Dragon starrte schweigend auf den Gefangenen. Mit

dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Nach

König Zogors Tod, den die Myraner und deren

Brudervölker fast ebenso begrüßten wie die Zunter,

Daniter und Urgoriten, hatte Dragon keine besonderen

Schwierigkeiten mehr erwartet – der Thron von

Myranien schien ihm sicher.

Aber da nun plötzlich der rechtmäßige Thronfolger

auftauchte, glaubte er nicht mehr, daß er in Myra mit

offenen Armen aufgenommen werden wurde. Es sei

denn, das Ermyas in die Fußstapfen seines Onkels trat.

Wenn er sich dagegen als weiser Herrscher entpuppte,

dann wollte Dragon auf die Eroberung des

myranischen Reiches verzichten.

»Was hat Ermyas veranlaßt, den Auftrag zu geben,

seinen toten Onkel zu verbrennen?« wollte Dragon

wissen.

»Er schickte uns aus, damit wir uns vor allem mit

eigenen Augen davon überzeugen sollten, daß Zogor

tatsächlich von Amyron geholt worden ist«, antwortete

Rogho. »Es fiel uns nicht sehr schwer, sich als

Überläufer auszugeben und sich deinem Heer

anzuschließen. Ermyas hat uns befohlen, die Mumie zu

vernichten, wenn es sich um Zogor handelt. Er möchte,

daß nichts mehr in diesem Land an seinen Onkel

erinnert. In diesen Tagen rollen viele Köpfe in Myra.

Page 30: Im Zeichen des Mondes

Ermyas rächt sich furchtbar an jenen, die ihn einst

verhöhnten und erniedrigten. Zogors Günstlinge sind

die beliebteste Beute von Ermyas Häschern geworden.

»Der Junge scheint doch nicht aus der Art

geschlagen zu sein«, meinte Dragon düster. »Sicher

haben die Myraner Ermyas zum König gemacht, weil

sie glaubten, es könne nicht mehr schlimmer kommen.

Aber das scheint ein Irrtum gewesen zu sein ...«

»Die Myraner werden dir sicher dankbar sein, wenn

du sie auch von diesem Übel befreist. Dragon«, meinte

Partho.

»Ermyas ist stark – und sein Arm ist lang!« rief

Rogho und sprang auf; in seiner gesunden Hand blitzte

plötzlich die scharfe Klinge eines Dolches. »Er wird

euch alle vernichten. Stirb, Dragon!«

Roghos Worte gingen in einen Schmerzensschrei

über. Yina, die seine Mordabsicht aus seinen Gedanken

gelesen hatte, hatte einen Stock ergriffen und ihm

damit auf seine Wunde geschlagen.

Der Myraner brach bewußtlos zusammen.

Was war das für ein Schrei? fragten Kanos

Gedanken bei Yina an.

Das war kein Schrei, sondern ich habe gehustet!

»Na warte, Maus, das zahle ich dir heim«, ärgerte

sich Kano.

Sein Bruder stieß ihn an.

»Sieh einmal. Was ist das dort vorne für ein

Page 31: Im Zeichen des Mondes

Tumult?«

Kano kniff die Augen zusammen.

»Ich sehe zwei Reiter, die von den Kriegern umringt

werden«, erklärte Kano, während er sich bereits in

Bewegung setzte. »Die Reiter sind staubbedeckt und

machen einen erschöpften Eindruck. Es scheint, daß sie

einen langen Ritt hinter sich haben ...«

»Der eine von ihnen kann sich nicht mehr im Sattel

halten ...«

»Nichts wie hin!«

In Dragons Zelt fragte Partho:

»Was soll mit dem Verräter geschehen?«

»Laß das Schwert stecken, Partho!« verlangte

Dragon mit schneidender Stimme. »Wir sind

schließlich keine Barbaren, und deshalb werden wir

ihn ...«

Niemand erfuhr, welches Schicksal er dem

Gefangenen zugedacht hatte, denn in diesem

Augenblick sagte Yina:

»Kim und Kano behaupten, daß soeben Nabib, der

Händler, in das Heerlager eingeritten ist.«

»Wenn ich das Fett eines Lammes im Feuer prasseln

höre, der Schatten eines Weinkruges auf meine Lippen

fällt und die süße Stimme eines Weibes meinem Ohr

schmeichelt, dann würde ich selbst von den Toten

erwachen«, verkündete Nabib.

Page 32: Im Zeichen des Mondes

Es war die Antwort auf Dragons Feststellung, daß

der Händler von dem langen Ritt müde sein müsse

und sich besser ausruhen solle, als an der

Lagebesprechung teilzunehmen.

Der Händler von Thinayda hatte in wenigen Worten

über die Gefahr berichtet, die Dragons Armee durch

die Horden der Nacht drohte. Bodo, der junge Mann

aus dem Wolfsland, der dabeigewesen war, als

Cnossos seine Wolfsmenschen zum Sturm auf die

Länder des Ostens aufgerufen hatte, wirkte etwas

frischer als Nabib. Wenn dem Händler der Atem

ausgegangen war, hatte er den Faden aufgenommen

und die Lücken des Berichts gefüllt, so daß Dragon

und seine Gefährten ein abgerundetes Bild erhielten.

Nachdem Nabib und Bodo erschöpft geendet hatten,

wiederholte Dragon das Gehörte, um sich die

Tatsachen in Erinnerung zu rufen.

»Wenn man Bodos Angaben über die Stärke der

Horden der Nacht glauben darf, dann handelt es sich

um zwanzig Hundertschaften Wolfsmenschen und

zweihundertvierzig Hundertschaften Wölfe. Das ist

eine stattliche Streitmacht, die uns auch gefährlich

werden konnte, wenn die Wolfsmenschen nicht

unverwundbar waren. Aber alles wird dadurch noch

schlimmer, daß sie nur durch die Kraft des Silbers zu

töten sind.«

Dragon wich Agrions Blick aus, die ihn mit leichtem

Page 33: Im Zeichen des Mondes

Spott betrachtete. Sie saß mit einem Dutzend ihrer

Kriegerinnen auf der einen Seite des Lagerfeuers. Den

Katmahzari gegenüber hatten Dragon, Partho, Sardak

und an die drei Dutzend Heerführer Platz genommen.

Dazwischen saßen Nabib und Bodo.

Dragon konnte sich denken, welcher Vorwurf

Agrion auf den Lippen lag, deshalb fuhr er schnell fort:

»Die Horden der Nacht dürften gerade das enge

Wasser überqueren. Bodo hat gesagt, daß sie vor

großen Seen und vor dem Meer eine Scheu haben. Aber

wir können nicht hoffen, daß sie deshalb ihr Vorhaben

aufgeben werden. Cnossos‘ Einfluß wird sie die Angst

vor dem Wasser vergessen lassen. Also müssen wir

damit rechnen, daß sie in etwa zwei Tagen Ad‘zhari,

den westlichsten Stützpunkt der Katmahzari, erreichen

werden.«

»Die Katmahzari sind gewappnet«, warf Agrion ein.

»Sie werden die Horden der Nacht aufhalten, bis

Verstärkung eintrifft.«

»Darauf komme ich noch zu sprechen«, entgegnete

Dragon, der sich darüber ärgerte, daß ihm Agrion bei

jeder sich bietenden Gelegenheit versteckte

Vorhaltungen machte.

Dabei durfte sie ihm nicht wirklich einen Vorwurf

machen. Hätte er nur auf die Erzählung eines Alten hin

sein Heer anstatt nach Myra zum engen Wasser ziehen

lassen sollen?

Page 34: Im Zeichen des Mondes

Sardak hatte ihn auf die alten Weissagungen

aufmerksam gemacht, die ihm der Märchenerzähler

Adrar zugetragen hatte. Demnach sollten eines Tages

die Horden der Nacht, die nur mit Silberwaffen zu

töten sind, die Ostländer überfallen. Und dieser Tag, so

hatte Adrar prophezeit, sei nicht mehr fern.

Sardak und Agrion hatten diese Weissagung ernst

genommen und ihn, Dragon, bedrängt. Silberwaffen

schmieden zu lassen, um gegen die Gefahr aus dem

Norden gewappnet zu sein. Aber welcher vernünftige

Mann hätte diesem Drängen schon nachgegeben? Er

fand, daß Agrion keine Veranlassung hatte, ihm

Vorhaltungen zu machen, obgleich sich die

Weissagungen erfüllt hatten.

Er war ein Mann der Tat und kein Magier, der die

Zukunft erschauen konnte.

Und doch fühlte er sich unter den Blicken

Agrions – und nun auch unter denen Nabibs – nicht

recht wohl. Es schien ihm fast so, als ob sich die beiden

gegen ihn verschworen hatten.

Dragon räusperte sich und fuhr fort:

»Für uns stellt sich die entscheidende Frage: Können

wir mit einem großen Aufgebot in zwei Tagen

Ad‘zhari erreichen, um gleichzeitig mit den Horden

der Nacht an der Grenze von Katmahzar einzutreffen?

Es scheint unmöglich zu sein, daß ein Heer wie das

unsere diese Strecke in zwei Tagen bewältigt, wo

Page 35: Im Zeichen des Mondes

Nabib und Bodo in einem Gewaltritt fast ebenso lange

dafür gebraucht haben. Abgesehen davon, daß uns die

Beförderung der Verpflegung für etwa zehntausend

Mann viel Zeit kostet, ist ein solches Heer auch viel

unbeweglicher.«

»Hast du vor, den Horden der Nacht alle deine

Streitkräfte entgegenzuwerfen?« fragte Partho

ungläubig.

»Ich könnte dreimal so viele Krieger haben – und es

wären nicht zu viele«, entgegnete Dragon. »Du hast

gehört, daß die Wolfsmenschen schier unverwundbar

sind. Wenn überhaupt, dann können wir über sie nur

triumphieren, wenn wir stark in der Übermacht sind.«

»Oder wenn wir Silberwaffen besäßen«, warf Agrion

wieder ein.

Jetzt war es gesagt.

Dragon wandte sich ihr zu.

»Ich gebe zu, daß es nach Lage der Dinge besser

gewesen wäre, auf deinen Vorschlag zu hören und

Silberwaffen schmieden zu lassen«, sagte er mit

unterdrücktem Groll. »Aber das Eingeständnis eines

Fehlers bringt uns nun nicht weiter.«

»Warum so hitzig. Dragon«, sagte Agrion ruhig.

»Ich habe gar nicht vor, dich wegen einer Unterlassung

anzuklagen. Du hast nach bestem Wissen gehandelt.

Und ich habe es auch getan.«

Eine Weile herrschte Schweigen, dann fragte

Page 36: Im Zeichen des Mondes

Dragon:

»Was hast du getan?«

Nabib warf einen Knochen ins Feuer und meinte

grinsend:

»Spann Dragon nicht auf die Folter, Agrion, sondern

gestehe dein eigenmächtiges Handeln schon ein.«

»Das habe ich auch vor.« Agrion sprach mit ruhiger

Stimme weiter: »Als du mir deutlich machtest, daß du

nichts auf die uralten Weissagungen über die Horden

der Nacht gibst, habe ich in aller Stille eine meiner

Kriegerinnen nach West-Katmahzar geschickt. Sie

sollte in meinem Namen alles erreichbare Silber

einsammeln und einschmelzen und daraus Waffen,

Speer – und Lanzenspitzen und Schwert – und

Dolchklingen, schmieden lassen.«

»Das war sehr vorausblickend«, war alles, was

Dragon über die Lippen brachte.

»Ich war mir nicht sicher, inwieweit meine

Anordnungen befolgt würden«, fuhr Agrion fort. »Erst

durch Nabib erfuhr ich, wie sich die Kriegerinnen von

West-Katmahzar zu meinen Worten stellten. Berichte

du selbst über deine Erlebnisse, Nabib.«

Der Händler wechselte seine Sitzstellung, nahm

langsam einen Krug Wein – und trank genüßlich

daraus.

Er hatte schon darüber berichtet, daß er an die

Wolfsküste verschlagen worden war, dort Bodo

Page 37: Im Zeichen des Mondes

aufgegriffen hatte und sofort in die Bucht der Kiesel

gesegelt war, als er von ihm die Pläne der Horden der

Nacht erfahren hatte.

Deshalb begann er jetzt mit seinen Erlebnissen nach

der Landung in der Bucht der Kiesel, streifte seine

Gefangennahme durch die Myraner und kam auf die

Ereignisse zu sprechen, die alle von ihm hören wollten.

»Als wir zum erstenmal mit den Kriegerinnen

zusammenstießen, da glaubte ich, daß sie von einem

bösen Geist besessen seien. Sie waren über die Grenze

ihres Landes gekommen, beraubten harmlose

Wanderer und plünderten die Hirten – und

Fischersiedlungen. Niemand schien zu wissen,‘ was sie

eigentlich erbeuten wollten.

Dann, als sie selbst nicht davor zurückschreckten,

mein Schiff zu überfallen, aber enttäuscht wieder

abzogen, weil sie nichts als Weinfässer fanden, erfuhr

ich, daß sie es grundsätzlich nur auf Silber abgesehen

hatten.«

Nabib vermittelte die so wichtigen Informationen in

gemütlichem Plauderton, der selbst Dragon veranlaßte,

sich unwillkürlich zu entspannen.

»Erst später traf ich mit Grisha zusammen, jener

Kriegerin, die Agrion ausgeschickt hatte, um

Silberwaffen zu besorgen«, berichtete Nabib weiter.

»Von ihr hörte ich, wie weit das Unternehmen bereits

gediehen war. In West-Katmahzar kennt man die

Page 38: Im Zeichen des Mondes

Wolfsmenschen besser als anderswo in diesem Land,

und man weiß auch um die Kraft des Silbers. Deshalb

tragen dort die jungen Mädchen silberne

Keuschheitsgürtel, die Kriegerinnen versilbern

teilweise die Brustdornen ihrer Harnische – und fast

jede Katmahzari hat irgend etwas am Körper, das aus

Silber ist. Einige wohlhabende Kriegerinnen besitzen

sogar silberne Dolche.

Wer mit Silber handelt, ist in West-Katmahzar eines

guten Geschäftes gewiß. Aus allen Himmelsrichtungen

strömt das Silber in diesen Teil des Landes, die

Amazonen dort haben große Mengen dieses Metalls

gehortet. Ich erwähne das nicht, um meine Erzählung

auszuschmücken, sondern um besser erklärbar zu

machen, wieso die West-Katmahzari so erfolgreich sein

konnten.

Jede Kriegerin in Ad‘zhari ist im Besitz irgendeiner

Waffe aus Silber. Darüber hinaus konnten aus den

gehorteten Schätzen zusätzlich Klingen, Pfeil – und

Lanzenspitzen geschmiedet werden. Doch damit

begnügten sich die Amazonen nicht. Sie gingen auf

Raubzüge, um noch mehr Silber zu beschaffen. Sie

gehen dabei rücksichtslos vor, ihr könnt es mir

glauben. Ich hatte ein wertvolles Silberamulett, eine

Erinnerung an wunderschöne Stunden ... aber das ist

eine andere Geschichte, geeignet für einen

beschaulicheren Abend. Das Silber dieses Amuletts

Page 39: Im Zeichen des Mondes

ziert jetzt die Spitzen von zwanzig Pfeilen. Auf

ähnliche Weise haben die Kriegerinnen Silberwaffen

für zweitausend Krieger beschafft.

Das bedeutet, daß auf jeden Wolfsmenschen mehr

als eine Silberwaffe kommt. Ein Krieger gegen einen

Wolfsmenschen! Daß das ein Vorteil ist, kann man erst

erkennen, wenn man weiß, daß schon die kleinste

Wunde geschlagen mit einem silbernen Gegenstand,

den Tod für einen Wolfsmenschen bedeutet. Bodo hat

einmal einen von ihnen mit einer Haarnadel getötet.«

Bodo nickte bestätigend, wagte aber nicht, dabei

jemandem in die Augen zu blicken. Die Menschen hier

waren so anders als die Menschen, die im Wolfsland

lebten. Er mußte sich erst daran gewöhnen, daß sie zu

jedermann, auch zu Fremden, sofort Beziehungen

aufnahmen. Im Wolfsland konnte es Wochen dauern,

bis man es wagte, einem Fremden zu trauen ...

»Glaubst du jetzt, daß es den Amazonen gelingen

wird, die Horden der Nacht aufzuhalten, bis

Verstärkung eingetroffen ist?« wandte sich Agrion an

Dragon, nachdem Nabib geendet hatte.

»Ich bin tief beeindruckt«, gestand Dragon. »Aber

wir dürfen uns nicht allein auf die Kraft des Silbers

verlassen. Wir haben es bei den Horden der Nacht

auch mit vierundzwanzigtausend Wölfen zu tun.

Deshalb bleibe ich dabei, daß wir den größten Teil des

Heeres nach Ad‘zhan, in die Ebene von Sapca,

Page 40: Im Zeichen des Mondes

entsenden müssen.«

Yina hörte nicht mehr richtig zu, als Dragon, Agrion

und Partho den Schlachtplan besprachen. Sie

beschäftigte sich in Gedanken mit dem Mann aus dem

Wolfsland.

Er wirkte hier, unter Menschen, so einsam wie eine

Träne im Meer. Eine Träne ist salzig, und das

Meerwasser ist salzig, aber eine Träne hat einen ganz

anderen Ursprung ... Und obwohl Bodo ein Mensch

unter Menschen war, merkte sie ihm an, daß er sich

ihnen nicht zugehörig fühlte.

Dragon, Agrion und Partho einigten sich darauf,

daß der urgoritische Hauptmann und die Trägerin dos

Mondrings mit hundert Hundertschaften auf dem

schnellsten Weg zur Ebene von Sapca ziehen sollten,

um sich dort den Horden der Nacht zu stellen. Wenn

es den West-Katmahzari gelang, die Wolfsmenschen

und deren Wolfsrudel einen knappen Tag lang

aufzuhalten, dann standen ihnen fast drei Tage für die

Überbrückung dieser Strecke zur Verfügung. In dieser

Zeit mußten sie es schaffen. Zumal Nabib von großen

Schafherden zu berichten wußte, die zwischen hier und

der Ebene von Sapca weideten. Da somit für Nahrung

gesorgt sein

würde – Wasser gab es in diesem Gebiet ebenfalls

reichlich –, konnte man den gesamten Troß

zurücklassen. Das ersparte viel Mühe und Ärger – und

Page 41: Im Zeichen des Mondes

Zeit.

Während die Hauptstreitmacht nach Norden zog,

wollte Dragon mit den tausend Mann der Vorhut den

Weg nach Myra fortsetzen. Sie, Yina, und Kim sollten

ihn begleiten – Kano wurde der Hauptstreitmacht

unter der Führung von Partho und Agrion zugeteilt,

damit beide Heere auf gedanklichem Wege standig

miteinander in Verbindung treten konnten.

Yina konnte der Versuchung nicht länger

widerstehen und drang in Bodos Gedanken ein. Sie

zuckte aber sofort wieder zurück, als sie dort auf ein

solches verwirrendes Durcheinander stieß, daß ihr

davon schwindelte.

Als sie ihren Blick wieder festigte, sah sie, daß er ihr

das Gesicht zugewandt hatte. Er betrachtete sie mit

offener Neugierde, aber in seinen Augen war noch

etwas anderes, etwas wie Wärme und Zuneigung.

Yina schwindelte wieder, wie vorhin, als sie in seine

Gedanken eingedrungen war. Sie lächelte unsicher und

wußte sich nicht anders zu helfen, als auf Agrion zu

deuten und zu sagen: »Siehst du, wie es an ihrem

Finger funkelt, Bodo?«

Der junge Mann aus dem Wolfsland blickte ebenfalls

zu Agrion hinüber und schien für einen Augenblick

von dem geheimnisvollen Leuchten an einem ihrer

Finger gebannt.

»Ein Schmuckstück«, sagte er dann jedoch

Page 42: Im Zeichen des Mondes

unbeeindruckt. »Es ist sicherlich besonders wertvoll.«

»Es ist kein gewöhnliches Schmuckstück«, erwiderte

Yina, »sondern der Mondring. Er ist am Tage matt und

unscheinbar, aber wenn das Licht des Mondes auf ihn

fällt, dann geht ein geheimnisvolles Leuchten von ihm

aus. Hast du nicht auch die Ahnung, daß

übernatürliche Kräfte in ihm schlummern?«

»Nein«, sagte Bodo nur.

»Und doch ist es so«, behauptete Yina. »Wenn schon

keine andere Macht von ihm ausgeht, dann doch die,

um das Volk der Katmahzari zu beherrschen. Agrion

war früher eine Sklavin. Der Mondring befand sich

schon früher in ihrem Besitz, ohne daß sie jedoch seine

Bedeutung kannte. Von den Amazonen erfuhr sie

dann, daß der Mondring sie zur Nachfolgerin der

Königin macht.«

»Warum erzählst du mir das?« fragte Bodo.

Diese direkte Frage brachte Yina noch mehr in

Verlegenheit.

»Ich weiß nicht ... Die Nacht ist so schön – hättest du

nicht Lust, ein wenig durch das Lager zu streifen?«

»Ja«, sagte Bodo erfreut, »ich möchte fort von den

Menschen. Sie erdrücken mich fast.«

»Wenn du lieber allein sein möchtest?«

»Nein, ich fühle mich wohl in deiner Nähe. Du ...«

Yina schwieg erwartungsvoll, aber da Bodo nicht

weitersprach, fragte sie:

Page 43: Im Zeichen des Mondes

»Was wolltest du sagen?«

»Du erinnerst mich an jemanden, Yina.«

Sie wagte es nicht, sich die Antwort aus seinen

Gedanken zu holen.

»An wen?«

»An einen Wolf.«

Im ersten Moment war sie enttäuscht. Aber dann

merkte sie, daß es etwas ganz anderes war, von Bodo

mit einem Wolf verglichen zu werden, als wenn Kim

oder Kano sie »Maus« nannten.

Bodo fuhr fort:

»Der Wolf war mein Freund. Ich nannte ihn Achr. Er

blieb mir viele Sommer und Winter treu. Wir gehörten

zusammen. Aber dann kamen die Horden der Nacht,

und Achr schloß sich ihnen an. Ich glaubte, ihn für

immer verloren zu haben. Doch als ich in Lebensgefahr

geriet, opferte er für mich sein Leben.«

Sie gingen eine Weile schweigend durch die Nacht.

Schließlich fragte Yina:

»Und was erinnert dich bei mir an ihn?«

Bodo blieb stehen und ergriff ihre Hände.

»Ich fühle, daß wir beide auch Freunde werden

könnten.«

Yina spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug.

Was war denn in sie gefahren, daß sie so aufgeregt

war? Bodo hatte ihr doch bloß die Freundschaft

angeboten. Oder war es mehr?

Page 44: Im Zeichen des Mondes

»Ich möchte, daß ... daß wir Freunde werden!« Sie

hatte ihre Hemmungen überwunden. »Wir werden in

den nächsten Tagen immer zusammenbleiben, und du

wirst sehen, mit meiner Hilfe wirst du die Scheu vor

den Menschen verlieren ...«

Er unterbrach sie mit einer Handbewegung.

»In den nächsten Tagen werden wir nicht

Zusammensein, Yina«, meinte er bedauernd. »Ich habe

gehört, daß du mit Dragon nach Myra ziehen sollst. Ich

aber werde mich den Kriegern anschließen, die sich

nach Norden schlagen.«

»Warum?« war alles, was sie sagen konnte.

»Wenn Männer gegen Wölfe kämpfen, kann ich

nicht zurückstehen. Aber wir werden uns wiedersehen

Yina. Und werden wir Freunde bleiben?«

Sie nickte, den Tränen nahe.

»Darf ich dich küssen, Yina?«

Der Schreck fuhr ihr so heftig in die Glieder, daß er

sie lähmte. Sie stand nur da, zu keinem Ton und keiner

Bewegung fähig. Nie hätte sie gedacht, daß einmal ein

Mann sie dies fragen wurde.

»Verzeih, Yina!«

Bodo wandte sich um und verschwand in der Nacht.

»Wir bleiben Freunde, Bodo!« rief sie ihm nach.

3.

Page 45: Im Zeichen des Mondes

»Hat es den Fettsack doch erwischt – und ohne daß ich

einen Finger rührte!« Das sagte Ermyas, mit einer

Mischung aus Verwunderung und Spott, als man ihn

nach dem Bekanntwerden von König Zogors Tod aus

dem Kerker holte.

Das war Mitte Mond des Löwen gewesen.

Zwei Tage später hatte Ermyas Krönung

stattgefunden.

Jetzt, wenige Tage danach, gegen Ende dieses

Mondes, saß er auf seinem Thron und hielt die Macht

in Händen. Aber der Thron wackelte, und seine Macht

reichte nicht weit über die Mauern Myras hinaus.

Aber selbst in Myra gärte es, und viele der Bürger,

die dem Neffen des toten Königs den Vorzug vor dem

Barbaren gaben, der aus dem Osten nahte, bereuten

ihren Entschluß aus tiefstem Herzen.

Ermyas war erbarmungsloser, rachsüchtiger und

unmenschlicher, als es König Zogor jemals sein könnte.

Er ging rücksichtslos gegen seine Feinde und gegen

jene vor, die er für seine Feinde hielt – und zeigte sich

kalt und undankbar gegenüber all jenen, die ihn aus

dem Kerker geholt hatten.

Gleich am Tage nach seiner Krönung hielt er ein

fürchterliches Gericht.

Er lud alle Daikane, Günstlinge und Edelleute, die

höheren Berater des Königshauses und die Heerführer

Page 46: Im Zeichen des Mondes

zu einem Fest zu sich in den Thronsaal. Aber viele der

dreihundert Plätze blieben vorerst unbesetzt – Daikane

der entfernteren Provinzen waren abtrünnig geworden

und geflohen. Günstlinge, Edelleute und Heerführer,

die mit Zogor gen Osten gezogen waren, lebten nicht

mehr, und einige der königlichen Berater hatten es

vorgezogen, ihre Dienste dem neuen König zu

verweigern. So kam es, daß nur die Hälfte der

geladenen Gäste erschien.

Doch Ermyas wußte Abhilfe. Er schickte seine Boten

und Schergen aus und holte Edelleute niedrigeren

Ranges zu sich, die er für wert erachtete, an diesem

Fest teilzunehmen.

Ermyas gab sich zufrieden, als die Tafel doch noch

bis auf den letzten Platz besetzt wurde. Doch innerlich

ärgerte es ihn, daß so viele nicht den Mut besessen

hatten, ihm unter die Augen zu treten. Er betrachtete

dies nicht als einen Akt der Unhöflichkeit, sondern als

Feigheit. Wenngleich er sie zu ihrem untrüglichen

Spürsinn beglückwünschen mußte, der ihnen den

baldigen Tod erspart hätte ...

Ermyas: vierundzwanzig Sommer alt – oder

genauer, vierundzwanzig Winter, denn er hatte im

Mond des Wolfes das Licht der Welt erblickt – von

kleinem Wuchs, aber muskulös, mit einer unnatürlich

blassen Haut, die an seinen Aufenthalt im Verlies

gemahnte. Er hatte schmale, aber kraftvolle Hände,

Page 47: Im Zeichen des Mondes

deren Finger kostbare Ringe zierten.

Er hatte das Kinn auf einer Hand aufgestützt, mit

der er an der Lehne des Thronsessels lehnte. Hinter

ihm war das Waffengeklirr der vier Dutzend Wachen

zu hören, die sich ständig in seiner Nähe aufhielten.

Rund um den Thron lagen schlanke Knaben

ausgestreckt, die eine Haut besaßen, die von solch

fahler Farbe wie das Mondlicht war, ihre Haare waren

von reinem Goldgelb und ihre Augen so blau wie die

unendliche See. Es waren kostbare Sklaven, deren

Heimat der Hohe Norden war.

Zu Ermyas Rechten stand Gorey, sein Kanzler.

Gorey war zu Zogors Lebzeiten ein Berater unter vielen

gewesen, der sich weder durch Gutes noch durch

Schlechtes aus der Masse der anderen hervorhob. Aber

er war damals schon klug genug gewesen, mit Ermyas

zu paktieren, denn für ihn war es gewiß, daß eines

Tages der Neffe des Königs den Thron besteigen

würde.

Nachdem in Myra bekanntgeworden war, daß

Zogor in der Schlacht gegen die Urgoriten und deren

Verbündete das Leben eingebüßt hatte, war Ermyas auf

sein Betreiben aus dem Kerker geholt und zum neuen

König von Myranien gemacht worden. Ermyas dankte

es Gorey, indem er ihn zum Kanzler machte.

Aber inzwischen hatte sich das Verhältnis zwischen

Gorey und Ermyas getrübt. Der Kanzler, der geglaubt

Page 48: Im Zeichen des Mondes

hatte, daß Ermyas auf dem Thron zu Weisheit und

Gerechtigkeit gelangen wurde, mußte bald erkennen,

daß er sich bitter getäuscht hatte. Aber er hoffte immer

noch, daß Ermyas geläutert würde und darum sparte

er nicht mit Ermahnungen und guten Ratschlägen.

»Du bist deinen Gästen eine Rede schuldig,

Erhabener«, raunte der Kanzler dem jungen König zu.

Ermyas warf seinem Lieblingsjüngling Torffson

einen belustigten Blick zu und meinte, halb an ihn

gewandt:

»Man könnte meinen, Gorey sei nicht mein Kanzler,

sondern meine Amme. Er scheint nicht zu wissen, daß

er mich beraten und nicht erziehen soll.«

Gorey schnappte sichtlich nach Luft. Aber bevor er

eine seiner Ermahnungen von sich geben konnte,

winkte Ermyas ab.

»Schon gut, Kanzler. Ich werde eine Rede halten.«

Ermyas zwinkerte seinem Lieblingsjüngling zu und

erhob sich. Augenblicklich verstummte das Gemurmel

unter den Gästen. Sie blickten erwartungsvoll zum

Thron.

»Ich habe euch zu mir bestellt, daß ihr mit mir das

Fest meiner Krönung feiert. Aber ihr sollt nicht nur auf

mein langes Leben anstoßen, sondern auch auf den

gerechten Tod meines Onkels.«

»Zogor ist tot, es lebe der König!« riefen einige der

Gäste zaghaft.

Page 49: Im Zeichen des Mondes

Ermyas nahm es mit einem zynischen Lächeln zur

Kenntnis, daß die meisten sich enthalten hatten, in

diesen Hochruf einzustimmen. Er fuhr fort, indem er

den Musselinumhang des Königs mit einer gezierten

Bewegung bis an seine Brust hochhob:

»Freilich entgeht es mir nicht, daß einige unter euch

viel lieber auf meinen Tod trinken würden. Aber denen

sei gesagt, daß ich nicht gewillt bin, ihnen schon bald

in das Reich Amyrons nachzufolgen.«

Er blickte aus zusammengekniffenen Augen auf die

Anwesenden, so daß für jeden einzelnen der Eindruck

entstehen mußte, er selbst werde von dem König

geradewegs angestarrt.

»Trinkt und eßt also, meine Freunde – und auch

jene, die nicht gewillt sind, den Ruhm in den

kommenden Sommern mit mir zu teilen.«

Ermyas nahm unter dem betroffenen Gemurmel der

Gäste und unter den mißbilligenden Blicken seines

Kanzlers wieder Platz. Er klatschte in die Hände. Die

Tore am anderen Ende des Thronsaales wurden unter

dem Klang von Hörnern geöffnet, und herein kamen

Sklaven, die hochrädrige Wägelchen hereinführten, auf

denen sich Speisen und Getränke türmten.

»Mit deinen Worten hast du den Gästen die Speisen

vergällt«, murmelte der Kanzler zu seinem König.

»Im Vertrauen, mein Kanzler«, sagte Ermyas

spöttisch hinter vorgehaltener Hand. »Manche der

Page 50: Im Zeichen des Mondes

Speisen sind tatsächlich vergällt. Die Sklaven wissen es

und werden sie an jene reichen, die sie verdient

haben.«

Gorey zuckte zusammen und blickte seinen König

entsetzt an. Dieser fand diese Reaktion so komisch, daß

er lauthals lachte.

Die Speisen wurden gereicht. Die Gäste machten

sich zuerst lustlos, aber dann mit steigendem

Wohlgefallen darüber. Ermyas hatte die Gerichte von

den besten Köchen zubereiten lassen. Die Festgäste,

denen Ermyas‘ düstere Worte noch deutlich in den

Ohren klangen, wurden immer gelöster, die

Unterhaltung wurde angeregter, und so mancher

verschworene Feind des neuen Königs war gewillt,

seine Meinung über ihn noch einmal zu überdenken

und womöglich zu ändern ...

Bis dann der erste der Gäste plötzlich mit einem

gurgelnden Laut aufsprang, davontaumelte und nach

wenigen Schritten zusammenbrach. Ein zweiter folgte,

dann wurden mehrere Stühle gleichzeitig gerückt ...

Der Daikan einer nahen Provinz riß sein Schwert aus

dem Gürtel, während er mit unkontrolliert zuckendem

Körper auf den Thron losstürmte. Doch er kam nicht

weit. Sein Körper verkrampfte sich, und er brach

zusammen.

Tödliches Schweigen hatte sich über den Thronsaal

gesenkt, als zwei Dutzend Männer reglos auf dem

Page 51: Im Zeichen des Mondes

Boden rund um die Tafel lagen. Niemand wagte mehr,

ein Glas oder einen Teller anzurühren. Und in die Stille

hinein sagte Ermyas, ohne sich von seinem Thron zu

erheben:

»Amyron hat diese Männer zu sich geholt, weil sie

Verräter waren. Nicht ich habe das Urteil gesprochen,

sondern der Gott der Totenwelt. Laßt es euch weiterhin

schmecken, meine Getreuen, denn ihr müßt nicht

befürchten, daß die kalte Hand Amyrons nach euch

greift. Musik! Tänzer!«

Kaum hatte Ermyas in die Hände geklatscht, als aus

verborgenen Nischen verführerische Klange in den

Thronsaal drangen. Bemalte Jünglinge erschienen auf

der freien Fläche zwischen den Tischen und boten

einen Liebestanz dar.

Aber nur Ermyas und seine Jünglinge wurden sich

der hintergründigen Erotik gewahr, die Gäste standen

immer noch zu sehr unter dem Eindruck des lautlosen

Todes, der scheinbar wahllos zugeschlagen hatte.

»Vielleicht wird es doch noch ein stimmungsvolles

Fest«, tröstete Ermyas seinen Kanzler, der

bewegungslos wie eine Statue dastand und dem das

Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand.

»Du hast mir nichts von deinem Vorhaben gesagt,

daß du aus dem Krönungsfest eine Massenhinrichtung

machen willst«, sagte Gorey tonlos.

»Dabei war das erst der Anfang«, erwiderte Ermyas

Page 52: Im Zeichen des Mondes

ungerührt.

Gorey wandte sich ihm erschrocken zu.

»Du willst doch nicht ...«

»Was will ich nicht, mein Kanzler?« fragte Ermyas

höhnisch. »Habe ich nicht das Recht, meine Feinde

auszuschalten! Soll ich diese Brut, die mir den Tod und

die Pest an den Hals wünscht, an meinem Busen

nähren, bis sie stark genug ist, die Wünsche in die Tat

umzusetzen. Ich schütze nur mein Leben, wenn ich den

Tod unter jenen säe, die ihn verdient haben – und

wenn ich ein Schauspiel daraus mache, dann ist das

mein königliches Recht!«

»Du nennst es königliches Recht, meinst aber ein

gottgleiches Verhalten«, erwiderte Gorey.

»Bin ich nicht Herr über Leben und Tod?«

»Doch, Erhabener«, antwortete der Kanzler. »Aber

du scheint den kleinen Unterschied zu mißachten, der

zwischen dem Tod besteht, den ein König gibt, und

dem Tod, den die Götter schenken.«

»Solche Worte möchte ich nicht aus dem Mund

meines Kanzlers hören, Gorey«, sagte Ermyas drohend.

»Ich bin der Gottkönig von Myramen, und vielleicht

lasse ich mir einen Tempel bauen, wenn das dir

Zweifler zum Glauben an mich verhilft. Und jetzt geh!

Was folgt, wird deinen Augen schmerzen!«

Der Kanzler enthielt sich jeder weiteren

Entgegnung, verneigte sich und ging rückwärts aus

Page 53: Im Zeichen des Mondes

dem Thronsaal.

Die blonden Jünglinge tanzten immer noch, ihre

Bewegungen wurden unter der anschwellenden Musik

immer ekstatischer. Plötzlich brach die Musik ab, die

Tänzer lagen wie leblos auf den marmornen Boden

hingestreckt. Die Festgaste blickten zum Thron, wo

Ermyas nachlässig lungerte und den Kopf auf die

Hand stützte. Alles wartete auf eine Reaktion von ihm.

Hatten ihm die Darbietungen der Tänzer gefallen, dann

würden die Gäste ihnen mit ihm Beifall zollen.

»Demis!«

Ermyas sagte es nicht besonders laut, aber jeder im

Saal konnte seine Worte hören. Der Angesprochene

erhob sich. Es war ein Siliker aus dem Süden des

Landes und vertrat sein Volk als Nachfolger von El

Haleb, der im Verlies den Tod gefunden hatte.

»Mein König«, sagte Demis, der Daikan von

Silikhur.

»Wie kommt es, daß sich unter den königlichen

Kriegern keine Siliker finden?« fragte Ermyas im

Plauderton.

»Mein König«, sagte Demis mit fester Stimme, »du

kennst die Eigenart der Siliker. Sie stellen sich nicht

unter den Befehl der myranischen Heerführer. Aber

wenn es gilt, das Königreich zu verteidigen, dann

werden sie unter der Führung ihrer Stammesfürsten ihr

Leben für dich geben.«

Page 54: Im Zeichen des Mondes

»Das sind leere Worte«, erwiderte Ermyas spöttisch.

»Warum haben sich die Siliker dann nicht Dragon zum

Kampf gestellt?«

Demis wurde unsicher. Er zuckte die Achseln und

wollte zum Sprechen ansetzen, aber Ermyas unterbrach

ihn.

»Die Siliker haben ruhig zugesehen, daß sich dieser

Barbar mit seinen Horden immer weiter Myra näherte.

Niemand in Silikhur hat daran gedacht, den

myranischen Kriegern zu Hilfe zu kommen. Das sagt

mir genug darüber aus, wie sehr ich mit der

Unterstützung der Silikerfürsten rechnen kann. Ich

habe den Verdacht, daß die Siliker im stillen auf den

Zerfall des myranischen Reiches hoffen, und darum

nenne ich dich hier vor allen einen Verräter!«

Demis machte einen Schritt nach vorne. Weiter kam

er nicht. Ein rotweiß gefiederter Pfeil pfiff heran und

bohrte sich ihm in den Rücken. Durch die Reihen der

Festgäste ging ein vielstimmiger Aufschrei. Alle

blickten in die Höhe, wo zwischen den Säulen des

Rundganges Bogenschützen erschienen waren – eine

ganze Hundertschaft.

Noch ehe sich die Gäste von ihrer Überraschung

erholt hatten, nannte Ermyas vier weitere Namen.

»Yn Wedo, Yean, Marabeo, Argango!«

Noch ehe die vier Aufgerufenen recht begriffen,

ragten aus ihren Körpern die Schäfte von Pfeilen. Die

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Bogenschützen legten neue Pfeile ein.

»Daikane, deren Truppen sich dem Feind

widerstandslos unterwerfen, sind besser tot!«

begründete Ermyas sein Todesurteil.

Der König ließ weitere Namen fallen, und wieder

löschte sie der gefiederte Tod aus dem Buch der

Lebenden. Einige der Todeskandidaten suchten hinter

den Tischen und Stühlen Deckung. Aber die

Bogenschützen, die den Rundgang in halber Höhe des

Saales auf allen Seiten besetzt hatten, erspähten

blitzschnell die wunden Punkte ihrer Deckung und

schickten ihre Pfeile mit tödlicher Sicherheit ins Ziel.

»Ergedes!«

Der alte Mann, der wie unbeteiligt an der Tafel

sitzengeblieben war, erhob sich gefaßt. Bevor er sich

aufgerichtet hatte, sauste ein Pfeil heran und bohrte

sich ihm in die Lenden. Er krümmte sich und taumelte

in die Saalmitte. Er schleppte sich mit letzter Kraft bis

zehn Schritte vor den Thron. Dort brach er zusammen.

Aber er war noch nicht tot. Er hob den Kopf seitwärts

hoch und fragte:

»Warum?«

»Du bist ein Mann mit viel Wissen, Ergedes«, sagte

Ermyas. »Du hast mich von Kind an bis ins

Mannesalter viele Dinge gelehrt, die mir sehr geholfen

haben. Aber einmal sagtest du mir, daß alle Menschen

gleichwertig seien, ob sie nun in Lumpen gingen oder

Page 56: Im Zeichen des Mondes

ein Königsgewand trugen. Du sagtest, daß ein Mensch

Mensch bliebe, egal welches Schicksal oder welche

Gnade er erfahren würde. Und deshalb mußt du

sterben. Du hast damals mich und jeden von den

Göttern Erwählten mit jedem Bettler gleichgestellt. Du

verstehst, Meister Ergedes, daß ich diesen Frevel

bestrafen muß!«

Auf einen Wink Ermyas‘ schoß ein weiterer Pfeil

heran und bohrte sich in den Körper des am Boden

liegenden Mannes.

»Rueyf! El Molo! Dardanin! Yorgon ...!«

Sie alle starben – und noch mehr.

Als Ermyas sein furchtbares Strafgericht beendete,

bedeckten zweihundert tote Frauen und Männer den

Marmorboden des Thronsaales.

Damit leitete Ermyas seine Schreckensherrschaft ein,

den man in Myra noch lange als »König der vierzehn

Tage« in Erinnerung behalten würde ...

»Du brauchst keinen Kanzler, sondern einen Henker,

Erhabener«, sagte Gorey.

Ermyas hatte ihm den Rücken zugekehrt und aus

dem Fenster über die Stadt hinuntergeblickt. Die Stadt,

so prachtvoll sie angelegt war, mit den Palästen der

Reichen, den je nach Zunftzugehörigkeit gestalteten

Häusern der Händler und Handwerker und den

Tempeln der unzähligen Götter, wirkte selbst im roten

Page 57: Im Zeichen des Mondes

Licht der Abendsonne wie tot und ausgestorben. Kaum

jemand wagte sich bei Einbruch der Dunkelheit noch

auf die Straße, weil man sich vor den Schergen des

Königs fürchtete, deren schwere Schritte zu dieser

Stunde gespenstisch von den Häusern widerhallten.

Der Hafen, einst Ankerplatz für Schiffe aus allen

Ländern der bekannten Welt, bot ein trostloses Bild der

Leere. Es fehlten die schlanken Händlerboote mit ihren

bunten Segeln und mehr noch, die bauchigen

Galeeren – die unbezwingbaren myranischen

Kriegsschiffe, Sinnbild für die Macht des Königs von

Myranien.

»Zogor hat mir ein schlechtes Erbe überlassen«,

sagte Ermyas verbittert. Er wandte sich Gorey zu, und

zum erstenmal seit seiner Freilassung aus dem Kerker

sah der Kanzler im Gesicht des jungen Königs einen

Ausdruck menschlicher Schwäche. Fast empfand er

Mitleid mit Ermyas, aber eben nur fast, denn im

nächsten Augenblick schon verschwanden die

menschlichen Züge.

»Dieser Fettwanst hat für diesen sinnlosen Krieg die

Schatzkammer geplündert!« rief Ermyas wütend. »Er

hat das Gold mit vollen Händen Männern zugeworfen,

um sie zu kaufen. Er hat geglaubt, Geld macht ihren

Arm stark und ihr Herz mutig ... und jetzt laufen sie,

Myras Geld in Taschen, zum Feind über! Zogor hat fast

die gesamte Flotte nach Dan geschickt. Jetzt liegen die

Page 58: Im Zeichen des Mondes

Galeeren dort im Hafen, und die Daniter versteigern

sie an die Meistbietenden. Das sind die düsteren

Vorzeichen, unter denen ich den Thron bestiegen habe,

Gorey!«

Der Kanzler schwieg, weil er vermutete, daß Ermyas

noch nicht am Ende seiner Rede war. Er hatte richtig

vermutet.

»Zogor war ein Weichling«, fuhr Ermyas bitter fort.

»Er hat nicht die Treuen und Starken gewürdigt,

sondern die Schmeichler. Einen aufrechten Mann hat er

mit einem Dolchstoß, mit Gift und Feuer bestraft,

einen, der schöne Worte machen konnte oder ihm sein

Weib aufs Lager brachte, hat er mit Reichtümern

überschüttet. So kam es, daß das gesamte Königshaus

von Heuchlern und Lügnern durchsetzt wurde. Ich

habe mir seit vielen Jahren alle genau angesehen, die in

den Thronsaal kamen, denn so klar, wie am Ende eines

Tages die Reise der Sonne zu Ende ist, so sicher mußte

auch der Abend für Zogor kommen. Ich habe mir alle

seine Günstlinge angesehen, weil ich wissen wollte,

woran ich mit ihnen sein würde, wenn ich selbst

einmal den Thron bestieg. Und ich schwor mir, daß für

die Intriganten, Heuchler, Lügner und Schwächlinge

mein Krönungsgeschenk der Tod sein würde. Jetzt

weißt du, warum die Krönungsfeier diesen blutigen

Verlauf genommen hat. Ich wollte mich aller

Schmarotzer entledigen. Jetzt fühle ich mich gereinigt«

Page 59: Im Zeichen des Mondes

»Hast du mich rufen lassen, um mir das zu sagen,

Erhabener?« erkundigte sich Gorey nach einer Weile.

»Als Kanzler bist du für meine Sorgen und

Probleme zuständig«, herrschte Ermyas sein

Gegenüber an. »Verstehst du denn, was ich will? Ich

will auf der Kraft, die den Leichen der Schwachen

entströmt, eine starke, verschworene Gemeinschaft um

mich aufbauen. Wenn ich von hundert Männern nur

einen am Leben lasse, so ist das das richtige Verhältnis,

denn dieser eine Auserwählte ersetzt mir zehn

Hundertschaften. Verstehst du das. Kanzler?«

Gorey nickte.

»Ich verstehe, was du sagen willst, aber ich

bezweifle, ob das der richtige Weg für eine Auslese

ist.«

Ermyas verzog spöttisch die Mundwinkel.

»Ich sehe, daß du nicht einer von hundert bist. Wenn

ich dich dennoch zu den Auserwählten zähle, dann

nur, weil du mich zufällig aus dem Kerker geholt hast »

»Wie kannst du meine Handlungsweise dem Zufall

zuschreiben?« wunderte sich Gorey.

Ermyas winkte ab.

»Ich wollte gar nicht darüber mit dir reden. Ich habe

ein Problem, Gorey. Im Osten steht dieser Dragon mit

einer tausend Mann starken Vorhut keine drei

Tagesritte von Myra entfernt. Dahinter lauern hundert

kampferprobte Hundertschaften ... Aber ich habe nicht

Page 60: Im Zeichen des Mondes

genügend Krieger, um den barbarischen

Emporkömmling aufzuhalten. Warum ist das so,

Gorey? Als Zogor mit seiner Streitmacht nach Osten

zog, ließ er zwanzigtausend Krieger in Myra und den

umliegenden Garnisonen zurück. Wo sind diese

Männer?«

»Kannst du dir die Antwort darauf nicht selbst

geben, mein König?« sagte Gorey. »Als die Kunde von

der Niederlage Zogors in Myra eintraf, löste sich das

riesige Heer auf. Die Krieger, ohne Hoffnung auf die

versprochene Beute und reichlichen Sold, streckten ihre

Waffen und verstreuten sich in alle Teile des Landes.

Sie kehrten nach Hause zurück, wurden Hirten und

Bauern oder Räuber und Plünderer. Du sagtest vorhin

selbst, daß die Schatzkammer leer ist. Wovon sollten

die Krieger bezahlt werden?«

»Wir werden die Schatzkammern wieder füllen!«

sagte Ermyas entschlossen.

»Wenn du so sicher bist, daß dir das gelingt, dann

hast du auch schon einen Plan, Erhabener?«

»Nichts einfacher als das«, erklärte Ermyas. »Ich

werde meine Männer in jedes Haus in dieser Stadt

schicken und sie die Steuern für die kommenden Jahre

eintreiben lassen. Jeder Bürger hat die Pflicht, sein

gesamtes Vermögen zum Wohle der Stadt zur

Verfügung zu stellen. Was hältst du davon, Kanzler?«

»Die Bürger klagen schon jetzt unter der Last der

Page 61: Im Zeichen des Mondes

Steuern, Erhabener«, sagte Gorey. »Aber wenn du

ihnen alles nimmst, dann werden sie nicht nur noch

lauter klagen, sondern handeln. Das kann dich ihre

Gunst kosten, mein König.«

»Aber es wird mir die verlorenen Heerscharen

wiederbringen«, entgegnete Ermyas. »Mit dem Geld

der Bürger bezahle ich die Krieger, und die Krieger

werden die Bürger im Zaum halten und die Barbaren

aus dem Osten bezwingen. Ich rechne mit deinem

Einverständnis für diese Maßnahme, Kanzler. Mit

deinem Namen unter dieser Verfügung wird sich der

Widerstand der Bürger in Grenzen halten. Du stehst

bei ihnen in einem guten Ruf.«

Gorey verneigte sich leicht vor dem König. Damit

gab er schweigend sein Einverständnis für dessen

Maßnahme.

Gorey zog sich aus dem Königsgemach zurück. Es

hatte keinen Sinn mehr gehabt, irgendeinen Einwand

zu wagen. Ermyas erwartete keine vernünftigen

Ratschläge, sondern grundsätzlich nur eine

Bestätigung für seine eigenen Beschlüsse.

Der Kanzler suchte zuerst sein Gemach auf, um

allen Beobachtern glauben zu machen, daß er sich dort

aufhielt, dann begab er sich auf Schleichwegen aus

dem Palast und in die Stadt.

Die Sonne war schon lange untergegangen, als er

das Haus des reichsten Händlers der Stadt erreichte

Page 62: Im Zeichen des Mondes

und es unbeobachtet betrat. In einem streng bewachten

Raum wurde er bereits von zwei Dutzend der

einflußreichsten Männern erwartet, darunter nicht

wenige, die im Palast ständig ein – und ausgingen und

die Ermyas zu seinen Getreuen zählte.

»Ich habe gefehlt, als ich Ermyas aus dem Verlies

holte«, gestand Gorey vor den Versammelten ein.

»Aber es ist noch nicht zu spät, um meinen Fehler

wiedergutzumachen. Ich habe elf Tage, gewartet, weil

ich hoffte, daß Ermyas Vernunft annehmen würde.

Aber in dieser Zeit, in der er über Myra geherrscht hat,

hat er mehr Leid über die Stadt gebracht als Zogor in

zwanzig Sommern über das gesamte Reich. Ich sage

euch, Dämonon hat Ermyas in den Klauen. Wir müssen

handeln!«

Kaum aus dem Kerker befreit, hatte Ermyas alle Frauen

König Zogors mitsamt deren Kindern hinrichten

lassen; jetzt bewohnten seine nordischen Jünglinge den

Harem.

Die Tür zu Ermyas‘ Gemächer stand jederzeit offen,

doch wagte es keiner der Jünglinge, sie zu

durchschreiten, ohne gerufen zu werden.

In dieser Nacht wälzte sich Torffson auf seinem

Lager aus samtweichen Kissen unruhig hin und her.

Obwohl eine kühle Brise durch die geöffneten Fenster

wehte, war er schweißgebadet, und sein leichtes

Page 63: Im Zeichen des Mondes

Seidengewand klebte ihm förmlich am Körper. Er hatte

schlecht geträumt und war aus dem Schlaf geschreckt.

Aber als er dann wieder einschlief, verfolgten ihn

dieselben furchtbaren Träume. Weiber mit Fackeln und

geraden Schwertern hetzten ihn.

Ein Schrei.

Torffson und die anderen Jünglinge fuhren zitternd

hoch.

»Torffson!«

Der König erschien in der Tür Sein Gesicht war

kreidebleich, und er mußte sich an der Wand

abstützen.

Der Jüngling eilte leichtfüßig zu seinem König.

»Ich hatte einen furchtbaren Traum«, sagte Ermyas

und starrte mit blicklosen Augen vor sich hin. Er zog

die Augenbrauen zusammen, so daß sein Gesicht einen

Ausdruck von Verblüffung bekam. »Oder war es gar

kein Traum? Komm mit in mein Zimmer. Torffson,

und sage mir, ob du etwas Ungewöhnliches sehen

kannst.«

Der Jüngling folgte ihm und durchsuchte seine

Gemächer.

»Ich kann nichts finden, Herr.«

»Hast du in allen Winkeln und hinter allen Türen

nachgesehen? Bist du sicher, daß sich hier niemand

versteckt hält?«

»Ich bin sicher, Herr!«

Page 64: Im Zeichen des Mondes

Ermyas atmete erleichtert auf.

»Dann habe ich wohl nur geträumt«, sagte er. »Ich

mochte trotzdem, daß du in meinem Zimmer Wache

hältst. Hole dir Kissen, richte dir ein Lager vor meinem

Bett. Wenn du Geräusche hörst oder etwas siehst, dann

wecke mich sofort.«

»Ja, Herr!«

Torffson wagte nicht von seinen eigenen

Schreckenstraumen zu berichten. Er rollte sich auf den

Kissen vor Ermyas‘ Bett zusammen und hielt die

Augen geöffnet. Er konnte nicht einschlafen, auch dann

nicht, als du regelmäßigen Atemzüge seines Herrn

verrieten, daß er längst Ruhe gefunden hatte.

Ermyas‘ Ruhe dauerte jedoch nicht lange ...

»Ermyas, wach auf! Ich bin wieder zurückgekehrt.

Ermyas, hier ist Zogor!«

Der junge König erwachte, aber er hielt die Augen

geschlossen. Er lauschte, aber die Stimme meldete sich

nicht sofort wieder. Dafür hörte er Geräusche an

seinem Bett, und ihm war, als höre er das verhaltene

Atmen eines Wesens.

Nein, er war nicht wach! Er träumte alles nur. Zogor

war tot, und so sehr er es sich vielleicht wünschen

mochte, aus dem Reich der Toten zu den Lebenden

zurückzukommen – Amyron hielt ihn mit sicherem

Griff zurück. Zogor war es nur möglich, seine Feinde

durch die Träume zu verfolgen ...

Page 65: Im Zeichen des Mondes

»Ermyas, wach auf! Öffne die Augen und sieh mich

an. Ich bin es, Zogor!«

Ermyas konnte die Augen nicht länger mehr

geschlossen halten.

Er riß sie auf – und sah Torffson über sich gebeugt.

»Was ist in dich gefahren ...«, begann Ermyas

wütend.

Aber Torffson sagte ungerührt, »Ich bin Zogor. Du

sollst wissen, daß ich gekommen bin, um mir den

Thron zurückzuholen.«

»Torffson!« kreischte Ermyas.

Der Jüngling wich einen Schritt zurück, und Ermyas

sah, wie eine Verwandlung mit ihm vor sich ging. Sein

schmales, feingeschnittenes Gesicht blähte sich auf,

wurde voll, rund und fett. Er schien zu wachsen, sein

Körper wurde immer breiter, bis die knabenhafte

Gestalt unförmig war.

»Sieh mich an, ich bin Zogor«, sagte das, was aus

Torffson geworden war, mit Zogors Stimme.

Und es war tatsächlich Zogor!

Ermyas schrie auf und barg sein Gesicht in den

Händen.

»Torffson!« rief er mit sich überschlagender Stimme.

»Berühre mich, verscheuche diese schrecklichen

Bilder!«

Langsam beruhigte sich Ermyas wieder. Als er das

Gefühl hatte, daß der Spuk sich wieder aufgelöst hatte,

Page 66: Im Zeichen des Mondes

nahm er die Arme vom Gesicht. Er lugte vorsichtig

darüber.

Die Erscheinung hatte sich tatsachlich wieder in

Nichts aufgelost. Das Bild Zogors war verschwunden,

aber dafür sah Ermyas etwas, daß viel schrecklicher

war als alles in seinen vorangegangenen Träumen.

Er erhob sich langsam aus dem Bett und schritt

schwankend auf die Haremstür zu. Sie war

verschlossen. Torffson lehnte zusammengekrümmt

dagegen. Zwei unterarmlange Parierdolche steckten in

seinem Körper.

Als Ermyas bei ihm war, streckte er die Hand aus

und hegte die stille Hoffnung, daß sie durch Torffson

hindurchgleiten wurde. Aber seine Hände fühlten

festes Fleisch, das noch nicht erkaltet war.

Torffson tot! Von Zogor ermordet!

Zogor? Nein! Das alles war nicht wirklich. Der

Traum war noch nicht zu Ende, er ging noch weiter.

Ermyas nahm seine Hände zurück. Sie fühlten sich

klebrig an. Als er darauf sah und dunkles Blut an ihnen

entdeckte, da erst löste sich der Schrei aus seiner Kehle.

»Wache!«

Die Türen wurden aufgerissen, und die Wachen

stürmten mit gezückten Säbeln ins Zimmer.

»Schafft den Toten fort«, befahl er ihnen.

Sie taten, wie ihnen geheißen.

Ermyas beobachtete sie mit großen, ungläubig

Page 67: Im Zeichen des Mondes

blickenden Augen.

»Könnt ihr ihn sehen?« fragte er. »Könnt ihr ihn

fühlen?«

»Jawohl, Erhabener«, sagte der Wachkommandant.

»Er ist unwiderruflich tot.«

»Das hat Zogor getan«, sagte Ermyas zu sich selbst.

Kaum hatte sich die Tür hinter den Wachen

geschlossen, da erklang hinter ihm ein spöttisches

Lachen.

Ermyas wirbelte herum und blickte suchend um

sich.

»Ich bin hier, Ermyas«, vernahm er Zogors Stimme

aus Richtung des Fensters. Bauschte sich dort nicht der

Vorhang auf eine Art, als verstecke sich jemand hinter

ihm?

Ermyas war mit drei Schritten bei seinem Schwert

und stürmte damit auf den Vorhang los. Mit vier, fünf

Streichen hatte er ihn in Fetzen geschlagen – aber

dahinter kam nicht Zogors Leichnam zum Vorschein.

Dafür konnte Ermyas beobachten, wie der zerfetzte

Vorhang aus der Halterung glitt und in sich

zusammenfiel. Der Stoffberg bewegte sich, als besäße

er ein eigenes Leben und hatte plötzlich eine Form, wie

wenn sich darunter ein menschliches Wesen befände.

Langsam begann Ermyas an seinem Verstand zu

zweifeln. Er wich Schritt für Schritt vor dem Vorhang

zurück, der immer mehr menschliche Formen annahm.

Page 68: Im Zeichen des Mondes

Das Schwert hielt Ermyas fest in der Hand, er war

bereit, selbst gegen Dämonen und Tote zu kämpfen.

Aber er hoffte immer noch, daß dies alles nur ein

Traum sein möge.

Wenn dieser Traum zu Ende war, dann würde er in

allen Tempeln der Stadt Opfer darbringen – nur nicht

im Tempel von Dämonon. Er wurde alle Götter

anrufen und ihre Hilfe gegen den Gott der Dämonen

erbitten, jenen furchtbaren Herrscher über die

Geschöpfe der Finsternis, der seinen Geist mit den

Bildern von Zogor durchsetzte.

Und da war er wieder – aus dem Vorhang war

Zogor geworden.

»Sieh mich an, Ermyas. Ich, Zogor, bin

zurückgekommen, um den Thron zu besteigen.«

Ermyas stürmte unerschrocken auf ihn los. Er hieb

ihm zuerst den Kopf vom Rumpf, dann die Arme und

Beine vom Körper und verstümmelte zuletzt den

Torso. Als das getan war, wusch er seine Hände im

Blut seines Onkels.

Dann ging er zu einer der Türen und befahl den dort

stehenden Wachen:

»Schafft die sterblichen Überreste von Zogor aus

meinem Gemach. Verbrennt sie, nur den Kopf hebt auf.

Er soll an einem Pfahl durch die Stadt getragen

werden, damit alle sehen, daß er unwiderruflich tot

ist.«

Page 69: Im Zeichen des Mondes

Die Wachen wunderten sich über den seltsamen

Befehl ihres Königs, aber sie schickten sich

widerspruchslos an, ihn auszuführen. Nur konnten sie

ihm nicht nachkommen, weil keine sterblichen

Überreste aufzufinden waren.

Ermyas blickte auf seine Hände. Kein Blut war an

ihnen.

Er schickte die Wachen fort. In der nächsten Nacht

tötete er Zogor wieder.

4.

Cnossos‘ Pläne wurden durch eine Reihe

unvorhergesehener Zwischenfälle durchkreuzt.

Sein Plan war es gewesen, während seine Horden

der Nacht Dragons Heer im Nordwesten von Myranien

schlugen, in Myra als König Zogor aufzutreten und

den Thron für sich zu beanspruchen.

Nun war aber Dragon nicht, wie erwartet, mit seiner

Hauptstreitmacht in den Kampf gegen die Horden der

Nacht gezogen, sondern marschierte an der Spitze der

Vorhut unbeirrbar nach Myra weiter. Das bedeutete

aber, daß sich Cnossos persönlich mit ihm befassen

mußte.

Der zweite unvorhergesehene Zwischenfall war, daß

Page 70: Im Zeichen des Mondes

man in Myra von König Zogors Tod bereits überzeugt

war. Die Kunde, daß Dragon die Mumie des toten

Königs mit sich führte, war ihm weit vorausgeeilt und

wurde von niemand in Myra angezweifelt. Und das

war etwas, mit dem Cnossos nicht gerechnet hatte.

Er hatte angenommen, daß man nach seinem

Auftritt als Zogor allgemein davon überzeugt sein

wurde, er sei der echte König von Myranien – und das

Gerücht von seinem Tod sei eben nur ein Gerücht

gewesen.

Darauf durfte er aber aus einem einfachen Grund

nicht hoffen, und zwar aus einem Grund, der ihm am

wenigsten behagte: Ermyas, der rechtmäßige

Thronerbe, war aus dem Kerker entlassen und auf den

Thron gesetzt worden. Damit hatte Cnossos am

allerwenigsten gerechnet. Ermyas würde mit allen zur

Verfugung stehenden Mitteln um den Thron kämpfen.

Cnossos würde über ihn nur triumphieren können,

wenn er alle glauben machen konnte, daß Zogor noch

am Leben war. Und so erschien er Ermyas in dieser

Nacht als Zogor.

Er tötete Torffson, nahm dessen Gestalt ‚ an und

verwandelte sich vor Ermyas Augen in Zogor. Dann

ließ er sich von diesem scheinbar töten. Als der junge

König jedoch die Wachen hereinrief, vereinte Cnossos

seine über den Boden verstreuten Körperteile zu einem

Ganzen, wobei auch das Blut an Ermyas‘ Händen zur

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Hauptkörpermasse zurückkehrte, und flog als Geier in

östlicher Richtung davon.

Die Wachen, die Ermyas gerufen hatte, mußten am

Verstand des jungen Königs zu zweifeln beginnen ...

Es war aber nicht damit getan, daß allein Ermyas zu

der Überzeugung kam, daß Zogor noch lebte und

zurückgekehrt war, um Rache zu üben und den Thron

wieder an sich zu reißen. Er mußte das allen glaubhaft

machen – und deshalb blieb ihm keine andere Wahl,

als die Mumie zu beseitigen, so daß Dragon keinen

Beweis für Zogors Tod vorbringen konnte.

Aus diesem Grunde flog Cnossos nach Osten. Als er

das Lager von Dragons tausend Mann starkem Heer

erreichte, kreiste er solange darüber, bis er den Wagen

ausgemacht hatte, auf dem Zogors Mumie aufgebahrt

war.

Er ging in der Nähe nieder. Aber gerade, als er seine

Geiergestalt aufgeben und sich in einen Menschen

verwandeln wollte, entdeckte ihn ein aufmerksamer

Wachtposten. Ein Pfeil bohrte sich in Cnossos‘ Körper

... kurz darauf starb der Wachtposten am Biß einer

Schlange, die Cnossos aus sich geformt hatte.

Jetzt stand der Verwirklichung seiner Pläne nichts

mehr im Wege. Es gab keine weiteren Zeugen, die sein

Kommen beobachtet hatten.

In einem Versteck nahm er Zogors Aussehen an.

Dann schlich er sich zu dem Wagen und betäubte die

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dort wachenden Urgoriten mit Traumpulver, das er

aus seiner Körpersubstanz gewann. Sie würden zwei

Stunden lang schlafen, gerade bis zum Morgengrauen.

Und dann würde Cnossos‘ großer Auftritt als von

den Toten wiederauferstandener Zogor kommen! Er

holte die Mumie vom Wagen, versteckte sie unter einer

Plane, wo er sie später vernichten konnte, und nahm

selbst ihren Platz ein.

So wartete er auf den Sonnenuntergang und darauf,

daß das Heerlager zu Leben erwachen würde.

Yina erwachte, noch bevor die Sonne die ersten

Strahlen über den Horizont schickte. Sie hatte davon

geträumt, daß Bodo bei ihr war.

Jetzt war sie hellwach, und das Bewußtsein, daß

Bodo vier Tagesritte von ihr entfernt war, stimmte sie

traurig. Er würde in spätestens einem Tag auf die

Horden der Nacht stoßen – und dann würde sie mit

Dragons tausend Kriegern bereits vor den Toren von

Myra stehen. Was erwartete sie dort?

Sie blickte abwechselnd von Dragon zu Kim, die

beide noch fest schliefen. Für einen Augenblick war sie

versucht, Kim zu wecken, um ihn zu bitten, mit seinem

Bruder Kano in Gedankenverbindung zu treten und

durch ihn zu erfahren, wie es Bodo ging.

Aber diesen Gedanken schlug sie sich sofort wieder

aus dem Kopf. Als sie wieder zu Dragon blickte, sah

Page 73: Im Zeichen des Mondes

sie, wie dessen Amulett, das ein Stück unter der Decke

hervorsah, leicht zu pulsieren begann. Dragon wälzte

sich unruhig hin und her.

Yina dachte sich nichts weiter dabei und verließ das

Zelt.

Es war ein schöner Morgen, die Luft war frisch und

kühl und ließ noch nichts von der Hitze des

kommenden Tages ahnen.

Yina wanderte durch das schlafende Heerlager. Sie

war so in Gedanken versunken, daß sie nicht wußte, in

welche Richtung sie sich begab. Plötzlich sah sie den

Wagen vor sich, auf dem die Mumie König Zogors

aufgebahrt war.

Die dort aufgestellten Wachen lagen reglos auf dem

Boden oder gegen die Deichsel und die Räder des

Wagens gelehnt. Einer lag zusammengerollt auf dem

Kutschbock, den Bogen fest umspannt – aber er rührte

sich ebensowenig wie die anderen.

Ein furchtbarer Verdacht stieg in Yina auf. Aber sie

beruhigte sich sofort wieder, als sie die leisen

Gedanken der Wachen las. Sie waren nicht tot, sondern

schliefen nur.

Dennoch ahnte Yina, daß irgend etwas vorgefallen

sein mußte. Dragon hatte nur die verläßlichsten

Männer zur Bewachung der Mumie abgestellt; es war

unwahrscheinlich, daß sie alle eingeschlafen waren.

Sie kletterte schnell und behende auf den

Page 74: Im Zeichen des Mondes

Kutschbock.

König Zogors Mumie lag scheinbar unberührt da.

Sie hätte aufatmen können, aber dann entdeckte sie

etwas, das sie in helle Panik versetzte...

Dragon richtete sich auf und griff gleichzeitig zu

seinem Schwert. Mit einem Blick übersah er die Lage

im Zelt.

Kim schlief tief, aber Yina war verschwunden. Das

Amulett auf seiner Brust pulsierte, und in seinem Kopf

war ein Pochen, das im gleichen Takt wie das Pulsieren

des Amuletts verlief.

Schritte ertönten vor dem Eingang des Zeltes. Der

Vorhang wurde zurückgeschlagen, und Yina kam

hereingelaufen. Atemlos blieb sie vor ihm stehen.

»Dragon! Dragon!«

Er umfaßte ihre Schulter.

»Was ist denn Schreckliches passiert, Maus?« fragte

er ruhig.

»Ich war beim Wagen mit der Mumie ... und habe

ihre Gedanken gehört!«

Er umfaßte mit einer Hand das Amulett und drückte

so fest zu, als könne er dadurch das Leuchten zum

Erlöschen bringen.

»Du mußt dich geirrt haben, Maus«, sagte er

gepreßt.

»Nein, bestimmt nicht, Dragon«, sagte sie überzeugt.

Page 75: Im Zeichen des Mondes

»Die Wachen sind alle eingeschlafen ... und der tote

Zogor denkt!«

Das konnte nur eines bedeuten: Cnossos!

Dragon hatte schon lange mit einer neuen Attacke

von ihm gerechnet, und er glaubte auch zu wissen, was

Cnossos im Schilde führte.

Kim richtete sich auf und wischte sich den Schlaf

aus den Augen.

»Warum macht ihr denn solchen Krach?« fragte er

mit verschlafener Stimme.

»Du bleibst im Zelt, Kim«, befahl Dragon, während

er sich in Bewegung setzte. »Komm, Yina!«

Er eilte aus dem Zelt, das Mädchen hinter ihm her.

Noch lag das Lager still und friedlich da. Die

meisten Krieger hatten bis lange in die Nacht hinein

gezecht. Dragon hatte ihnen gesagt, daß sie nicht vor

Mittag aufbrechen würden und ihnen alle vertretbaren

Freiheiten gelassen, weil mit einem massiven

Widerstand der Myraner nicht zu rechnen war. Die

Späher hatten berichtet, daß vor der Stadt keine

Kriegerheere lagerten und in Myra selbst die

königlichen Soldaten nur in geringer Zahl zu sehen

waren.

Jetzt erwies es sich als günstig, daß Dragon seinen

Kriegern erlaubte, länger als sonst zu schlafen. Er war

ziemlich sicher, daß Cnossos erst zuschlagen würde,

wenn alle erwacht waren. Wenn es stimmte, daß er den

Page 76: Im Zeichen des Mondes

Platz der Mumie eingenommen hatte, dann war es

zweifellos seine Absicht, den Männern die

Auferstehung König Zogors zu demonstrieren.

Zwei Wachen eilten herbei, als sie Dragon in voller

Kampfausrüstung erblickten.

»Weckt zehn gute Bogenschützen, die weder Tod

noch Dämonen fürchten«, trug er ihnen auf. »Laßt aber

die anderen Männer schlafen.«

Die beiden Wachen eilten davon, Dragon folgte

ihnen mit Yina.

Wenig später waren sie von einer kleinen Schar

Urgoriten umringt, die Bogen in den Fäusten hielten.

»Nehmt nur Brandpfeile mit euch«, befahl er ihnen.

»Und jeder von euch soll sich mit einer Pechfackel

ausrüsten. Steckt die Fackeln in Brand, noch bevor wir

aufbrechen. Später werdet ihr vielleicht keine Zeit

mehr dazu haben.«

Ohne lange Fragen zu stellen, entzündeten die

Männer ihre Fackeln in den Resten eines Lagerfeuers.

Einige der Krieger wurden von den Geräuschen

geweckt, aber als sie Dragons Befehl – »Bleibt, wo ihr

seid!« – hörten, rührten sie sich nicht vom Fleck.

Der kleine Trupp mit Dragon und Yina an der Spitze

setzte sich fast geräuschlos in Bewegung. Die Wachen,

die ihnen zu Hilfe kommen wollten, winkte Dragon auf

ihre Plätze zurück.

Je näher sie dem Wagen mit der Mumie kamen,

Page 77: Im Zeichen des Mondes

desto stärker begann Dragons Amulett zu pulsieren.

Als er zwischen den Zelten auftauchte, hielt Dragon

seine Männer an.

»Wir werden so tun, als hatten wir uns entschlossen,

König Zogors Mumie zu verbrennen«, raunte Dragon

den Kriegern zu. Als er ihre verständnislosen Gesichter

sah, fuhr er fort: »Fragt euch nicht, wozu das gut sein

soll. Nur soviel: Was auf dem Wagen liegt, ist nicht

Zogors Mumie. Ihr mußt also damit rechnen, daß

etwas Unheimliches passiert, das ihr mit eurem

Verstand nicht begreifen könnt. Laßt euch davon nicht

einschüchtern. Wahrscheinlich wird sich irgendein

schreckliches Ungeheuer vom Wagen erheben, wenn

wir ihn in Brand setzen. Wenn es soweit ist, dann

beschießt das Ding mit euren Brandpfeilen. Zuerst

müssen wir aber die Bewußtlosen aus dem

Gefahrenbereich schaffen.«

Die Männer bohrten ihre brennenden Fackeln in den

Boden und rannten geduckt zum Wagen, wo sie sich

der scheinbar Schlafenden annahmen und sie

davonschleiften.

»Sind die Gedanken noch da?« erkundigte sich

Dragon bei Yina.

Sie fröstelte.

»Ja, ich kann sie noch immer hören. Aber jetzt merke

ich, daß es nicht Zogors Gedanken sind. Sie sind so

fremdartig, daß ich keinen Sinn dann finden kann.«

Page 78: Im Zeichen des Mondes

»Das muß Cnossos sein!« Nun war Dragon ganz

sicher. Für ihn stand es fest, daß Cnossos nur abwarten

wollte, bis das Lager erwacht war und alle Krieger

sehen würden, wie König Zogor sich plötzlich erhob,

als sei er nie tot gewesen. In weiterer Folge

beabsichtigte er wahrscheinlich, in Myra einzureiten

und den Thron zu besteigen. Und die Myraner wurden

ihn mit offenen Armen aufnehmen, da sie unter

Ermyas Schreckensherrschaft viel mehr litten, als

jemals unter Zogors Regime.

Die Männer kamen zurück und ergriffen wieder ihre

Fackeln.

Dragon ließ Yina zurück und näherte sich an ihrer

Spitze dem Wagen.

»Die Mumie hat ihre Schuldigkeit getan«, sagte er so

laut zu den Kriegern, daß es Cnossos hören mußte.

»Zündet sie an.«

Die Krieger schleuderten ihre Fackeln auf den

Wagen. Einige landeten auf der Ladeflache, andere bei

den Rädern, wo das ausgedorrte Gras sofort Feuer fing.

Eine Fackel behielt Dragon in der Hand. Die Krieger

entzündeten ihre Brandpfeile daran.

Einige Augenblicke lang geschah überhaupt nichts.

Aber als dann die ersten höheren Flammen von der

Ladeflache züngelten, entstand auf dem Wagen

plötzlich Bewegung.

Die Mumie sprang auf die Beine. Sofort schwirrten

Page 79: Im Zeichen des Mondes

zehn Pfeile von den Sehnen und bohrten sich in die

Zogorgestalt. Ein Aufschrei erklang, wie ihn weder ein

Mensch noch ein Tier dieser Welt hervorbringen

konnte.

Die Zogorgestalt zerfloß, mächtige Schwingen

bildeten sich, das Ungeheuer, das nur noch ein entfernt

menschliches Aussehen hatte, erhob sich in die Lüfte

und flog davon. Zehn weitere Pfeile zogen ihre feurige

Bahn und trafen teilweise ins Ziel.

Vor Schmerz und Wut schreiend, flog Cnossos als

lebende Fackel aus dem Lager hinaus. Als er sich über

einem Wassertümpel befand, stürzte er sich hinein. Das

Wasser zischte auf, und aus den hoch aufspritzenden

Fontänen stießen unzählige kleine Vögel, die sich erst

in sicherer Entfernung zu der bekannten Gestalt des

Riesengeiers vereinten.

»Cnossos wird die Lehre aus dieser Niederlage

ziehen und uns bestimmt nicht mehr behelligen«,

meinte Dragon zuversichtlich. »Aber er wird jetzt sein

Glück in Myra versuchen. Ich wage nicht daran zu

denken, welches Unheil er dort für uns

heraufbeschwören kann.«

Dragon betrachtete die Bogenschützen. Das eben

Erlebte hatte Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen.

Aber sie würden es schon verkraften, denn als

Urgoriten hatten sie das unheimliche Wirken des

Gottes mit den vielen Namen schon früher erlebt.

Page 80: Im Zeichen des Mondes

»Jetzt müssen wir nach der echten Mumie suchen«,

befahl Dragon. »Cnossos hatte sicher nicht genügend

Zeit, um sie weit genug fortzubringen oder gar zu

vernichten.«

Zusammen mit Yina kehrte er zu seinem Zelt

zurück.

»Ich habe gute Nachrichten von Kano«, meldete

Kim. »Während ihr fort wart, habe ich mich mit ihm

unterhalten. Parthos und Agrions Truppen sind einen

Tagesritt von der Bucht der Kiesel auf eine Abteilung

Katmahzari-Kriegerinnen gestoßen, die eine Ladung

Silberwaffen mit sich führten. Kano meinte, nach

Parthos Aussage wurden es genügend sein um

zweitausend Krieger und zusätzlich hundert

Bogenschützen auszurüsten.«

»Das ist in der Tat eine erfreuliche Nachricht«,

meinte Dragon. »Weiß Kano, ob es bereits zu

Kampfhandlungen mit den Horden der Nacht

gekommen ist?«

»Kano sagte, daß die Späherinnen der Amazonen

das Herannahen der Horden der Nacht gemeldet

hätten«, antwortete Kim. »Aber bisher sind sie ihnen

immer ausgewichen. Inzwischen könnten die Horden

aber die Ebene von Sapca bereits erreicht haben.«

Die Ereignisse spitzen sich zu, dachte Dragon.

Es würde bald zur Entscheidung kommen. An der

Grenze von West-Katmahzar ebenso wie in Myra.

Page 81: Im Zeichen des Mondes

Die Amazonen waren mit solcher Begeisterung von

den Kriegern empfangen worden, daß ihnen bange

zumute wurde. Ihre Hände griffen unwillkürlich nach

den Waffen, aber dann ließen sie es doch mit sich

geschehen, von den Kriegern umarmt zu werden. Sie

konnten sehr wohl zwischen zudringlichen Männern

und solchen unterscheiden, die nur ihrer Freude über

kostbare Geschenke Ausdruck verliehen.

Und die Silberwaffen waren in der Tat ein Geschenk

der Götter!

Die Krieger rissen die Decken von den Wagen und

wühlten wie verspielte Kinder in den Schwertern mit

den silbernen Klingen, den Lanzen und Pfeilen, deren

Spitzen ebenfalls im Licht der aufgehenden Sonne

silbrig schimmerten.

Plötzlich erschien jedoch Agrion auf einem der

Wagen und verscheuchte die Männer mit ihrem

Schwert.

»Sag deinen Leuten, daß sie diesen Unfug lassen

sollen, Partho«, rief sie mit zorniger Stimme. »Es geht

nicht an, daß die Krieger wahllos Waffen an sich

nehmen. Wir müssen sie sinnvoll verteilen, damit wir

im Kampf gegen die Wolfsmenschen die größte

Wirkung erzielen.«

Partho schwang sich vom Pferd auf den Wagen und

stellte sich neben sie.

Page 82: Im Zeichen des Mondes

»Die Trägerin des Mondrings hat recht, Männer«,

pflichtete er ihr bei. »Ich möchte keinen dabei

erwischen, daß er unerlaubt einen Silberdolch, oder

auch nur einen Pfeil an sich nimmt! Es sind nicht genug

Waffen für jeden da. Ich schätze, daß wir zweitausend

Krieger damit bewaffnen können. Deshalb werden wir

uns überlegen müssen, wie wir sie verteilen. Geht jetzt

wieder an eure Plätze. Wir legen eine Pause ein. Wenn

die Sonne am höchsten steht, werden wir wieder

aufbrechen und bis zur Ebene von Sapca durchreiten.«

Die Männer zogen sich murrend zurück.

»Das schaffen wir nie«, meinte Agrion so leise, daß

nur Partho es hören konnte. »Die Pferde sind total

erschöpft. Viele werden zusammenbrechen, bevor wir

am Ziel sind.«

»Dann werden wir die Pferde eben zuschanden

reiten, wenn wir dadurch rechtzeitig die Ebene von

Sapca erreichen!«

Agrion nickte und sprang vom Wagen.

»Komm, wir werden uns von den Kriegerinnen

Auskunft darüber holen, wie die Lage im Norden ist.«

Nabib war herangekommen und blickte sehnsüchtig

auf die Silberwaffen.

»Zwanzig Speerspitzen sind aus dem Amulett

geformt, das für mich ein Andenken an eine glutheiße

Liebe war.« Er seufzte. »Aber ich will es gerne opfern,

wenn dadurch zwanzig Wolfsmenschen den Tod

Page 83: Im Zeichen des Mondes

finden.«

Sardak war an seine Seite gekommen. Das silberne

Leuchten der Waffen blendete ihn, er starrte mit

zusammengekniffenen Augen darauf. Dann langte er

hinein und ergriff ein kurzes, gerades Schwert.

»Keine gekrümmte Klinge«, sagte er enttäuscht.

»Nur Amazonenschwerter! Aber sie werden gut genug

sein, um den Geschöpfen des Cnossos den Tod zu

bringen.«

Er wollte sich das Schwert in den Gürtel stecken, da

sprang eine Amazone hinzu und setzte ihm den Dolch

an die Kehle.

»Gib es zurück«, verlangte sie drohend.

»Partho!« rief Sardak erschrocken »Sag dieser

Närrin, daß mir eine Silberwaffe zusteht.«

Anstelle von Partho griff Agrion ein.

»Er darf die Waffe behalten«, sagte sie zu der

Kriegerin. »Suche dir ebenfalls eine aus, Nabib.« Sie

wandte sich dem jungen Mann aus dem Wolfsland zu,

der sich schüchtern im Hintergrund gehalten hatte.

»Bodo, welche Waffe wählst du?«

Bodo kam mit drei schnellen Schritten heran und

schwang sich auf die Bordwand des Wagens. Er

überflog die Waffen mit Kennerblick und ergriff dann

eine zwei Meter lange Lanze mit einer langen

Silberspitze.

Er sprang wieder zu Boden und machte mit der

Page 84: Im Zeichen des Mondes

Lanze einige Scheinangriffe und Abwehrbewegungen.

Dann sagte er zufrieden:

»Damit kann ich mir die Wolfsmenschen vom Leibe

halten und sie gleichzeitig in den Tod befördern. Glaub

mir, Sardak, es wäre klüger, wenn du auch eine Lanze

wähltest.«

Der Helfer der Hirten schüttelte grinsend den Kopf.

»Ich behalte das Schwert.«

Nabib hatte sich ebenfalls ein Schwert genommen.

Er vertraute zwar Bodos Urteil, aber er fand, daß ein

Schwert besser in seiner Hand lag als eine Lanze. Nun

schloß er sich mit den anderen Partho und Agrion an,

die sich zu der Anführerin der Amazonen begaben, die

die Waffen befördert hatten.

Da tauchte Kano an Parthos Seite auf.

»Kim hat sich wieder gemeldet«, sagte er aufgeregt.

Partho blieb stehen und blickte auf den Jungen

herunter.

»Hat sich Cnossos eine neue Tücke einfallen lassen,

um Zogors Mumie zu vernichten?« erkundigte er sich.

Kano hatte ihm erst vor wenigen Augenblicken von

dem Zwischenfall mit Cnossos berichtet.

»Nein, Cnossos hat genug«, sagte Kano. »Aber

Dragons Männer haben die echte Mumie gefunden, die

dieses Scheusal versteckt hat.«

Partho klopfte ihm auf die Schulter und schickte ihn

wieder fort.

Page 85: Im Zeichen des Mondes

Die Anführerin des Amazonentrupps hieß Yileia

und war nicht halb so hübsch wie ihr Name klangvoll.

Sie hatte Arme, so dick wie die Schenkel manchen

Mannes, und Brüste, die ihren Harnisch zu sprengen

drohten. Das schwarze Haar hing ihr fett und strähnig

in die Stirn.

Bei Nabibs Anblick setzte sie die Hammelkeule ab,

an der sie gerade aß, und sagte begeistert:

»Endlich mal ein richtig gewachsener Mann!«

»Laß dich von meinem Äußeren nicht täuschen«,

sagte Nabib schnell. »Ich besitze überhaupt kein Mark

in den Knochen.«

»Das werde ich bei Gelegenheit nachprüfen«, meinte

die fette Amazone schmunzelnd.

Agrion nahm ihr gegenüber Platz und fragte:

»Was hast du uns über die Lage im Norden zu

berichten?«

Als der Blick der Amazone auf den Mondring an

Agrions Hand fiel, wurde sie sich bewußt, daß sie ihrer

zukünftigen Königin gegenübersaß. Sie warf die

Hammelkeule einer Kriegerin zu, wischte sich die

fetten Finger im Haupthaar ab und schickte sich an,

ihre Lippen auf den Mondring zu drücken. Agrion zog

die Hand jedoch zurück.

»Die Kriegerinnen warten mit der Silberwaffe in der

Hand auf den unheimlichen Feind«, sagte die fette

Amazone.

Page 86: Im Zeichen des Mondes

»Das hast du uns schon bei deinem Eintreffen

berichtet«, erwiderte Agrion ungehalten. »Mich

interessiert, welche Maßnahmen Grisha im einzelnen

getroffen hat. Die Zeit wird nicht reichen, daß wir uns

vor dem Kampf mit ihrem Heer vereinen. Wir müssen

schon vorher einen Schlachtplan entwerfen.«

»Wir müssen unsere Kampfweise auf die

Geländebedingungen und auf das Verhalten der

Wolfsmenschen abstimmen«, erklärte die fette

Amazone mit dem klangvollen Namen. Sie ergriff

einen abgenagten Knochen und zeichnete mit ihm ein

großes Oval in den Sand.

»Das ist die Ebene von Sapca«, fuhr sie fort. »Grisha

hofft, daß sie die Wolfsmenschen durch eine List einen

Tag lang, bis zu eurem Eintreffen, im Westen der Ebene

aufhalten kann. Hier, nordöstlich von Sapca liegt ein

heimtückisches Sumpfgebiet mit einem See. Im Osten

liegt die Grenzstadt Ad‘zhari – aber bis dorthin werden

die Horden der Nacht hoffentlich nicht vordringen. Im

Süden, also in der Richtung, aus der ihr kommt, wird

Sapca ebenfalls von einem See begrenzt. Er ist groß

und tief, so daß ihr ihn umrunden müßt. Ihr könnt ihn

nach Osten umgehen, so daß ihr zu Grishas Heer stoßt,

oder aber ihr weicht ihm nach Westen aus, um so den

Horden der Nacht in den Rücken zu fallen.«

Agrion betrachtete die einfache Zeichnung, die

Yileia in den Sand gemacht hatte, dann blickte sie

Page 87: Im Zeichen des Mondes

fragend zu Partho.

»Yileia hat uns die Entscheidung abgenommen«,

sagte er. »Wenn wir den Horden in den Rücken fallen

können, dann werden wir von dieser Möglichkeit

Gebrauch machen. Viel wichtiger als unsere

Kampfweise ist die Art, wie wir die Silberwaffen

einsetzen. Die Wölfe selbst können ja mit

herkömmlichen Waffen bekämpft werden. Unser

Problem ist, die Silberwaffenträger so zu verteilen, daß

die Wolfsmenschen in ihre Linie geraten und sie ihre

Kräfte nicht auf die Wölfe verzetteln. Andererseits

müssen wir trachten, daß die Krieger mit den

herkömmlichen Waffen nicht an die Wolfsmenschen

geraten.«

»Das sind gescheite Worte«, meinte Agrion. »Ich

hoffe nur, daß es uns gelingen wird, sie in die Tat

umzusetzen.«

»Ich brenne auf den Kampf«, sagte Sardak, der seit

seinen Erlebnissen in Bo-gah einen unstillbaren Haß

gegen Cnossos und dessen Geschöpfe in sich trug.

»Ich brenne weniger auf den Kampf«, gestand Nabib

ein. »Ich habe mich euch eigentlich nur angeschlossen,

um zu meinem Schiff zu kommen, das in der Bucht der

Kiesel vor Anker liegt.« Er wandte sich der fetten

Amazone zu. »Weißt du, wie es meiner Mannschaft

geht? Ich hoffe, daß an Bord alle wohlauf sind.«

Yileia grinste.

Page 88: Im Zeichen des Mondes

»Deine Männer haben sich schnell mit den

Kriegerinnen angefreundet. Es geht ihnen prächtig.«

Nabib machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Der Abschied wird ihnen nicht so schwerfallen.

Seeleute hält es nirgendwo lange, sie finden in jedem

Hafen ein Mädchen. Wenn ich in die Bucht der Kiesel

komme, werde ich sofort den Anker lichten und Kurs

auf Myra nehmen. Bis dahin ist Dragon schon längst in

die Stadt einmarschiert, und mein Wein wird

reißenden Absatz finden.«

Yileia begann schallend zu lachen.

»Du kannst dir den Weg nach Myra sparen, Nabib«,

brachte die fette Amazone schließlich hervor. »Grisha

hat die gesamte Ladung Wein für einen ganz

bestimmten Zweck beschlagnahmt.«

Wo war die Quelle des nie endenwollenden

Blutstroms?

Wo waren die vielen Taggespenster, die ihnen ihr

Gott versprochen hatte?

Bisher waren sie nur einigen wenigen begegnet, und

die waren schnell gerissen.

Die zweite Nacht, die die Mondherren und deren

Wölfe jenseits des engen Wassers zubrachten, ging

ihrem Ende zu, und die toten Nachtschläfer, die ihren

Weg markierten, konnte man zahlen.

Wirch hatte nur zweimal in zwei Nächten Blut

Page 89: Im Zeichen des Mondes

geleckt, frisches Blut von zwei Nachtschläfern, jetzt

verlangte sein Körper nach mehr.

Hatte sie der Wolfsgott belogen?

Nein!

Hatte er sie in die Ostländer gelockt, um sie zu

prüfen?

Vielleicht – aber warum sollte er es tun?

Die Mondherren und deren Wölfe waren ihm treu

ergeben, nie hatten sie gefrevelt, nie sich gegen ihn

gewandt oder sich gegen ihn versündigt. Sie waren

willens, alles für ihn zu tun. Er würde sich dessen nicht

erst durch eine Prüfung vergewissern müssen.

Das wußte der Wolfsgott, der Wirch einen Teil

seines Körpers in die Stirn eingepflanzt hatte. Wirchs

zweites Augenpaar war ein Stück von seinem Gott; es

machte ihn unsterblich und allgewaltig.

Aber wo waren die Nachtschläfer?

Die Horden wurden immer unruhiger und

unzufriedener, je weiter sie nach Osten kamen. Wirch

gelang es immer wieder, sie zu beruhigen und ihren

Tatendrang zu wecken.

»Bald«, versprach er ihnen, »bald sind wir an den

Quellen des Blutstroms. Das verrät mir der Gottesteil

auf meiner Stirn.«

Das waren nicht nur bloße Worte, es war die

Wahrheit. Das göttliche Augenpaar über seinen

eigenen Augen verlieh im einen untrügbaren Instinkt,

Page 90: Im Zeichen des Mondes

der ihm den Weg zu den großen Herden der

Taggespenster wies.

»Bald«, heulte Wirch sehnsüchtig zum

verblassenden Mond hinauf, während der Schmerz der

beginnenden Verwandlung bereits an seinem

Wolfskörper zerrte.

Er verkoch sich in einen Holzberg der Nachtschläfer

und ergab sich dem unwiderstehlichen Drang, seinen

Wolfskörper in den eines Taggängers zu verwandeln.

Der Duft der Menschen, der von allen Gegenständen

im Innern des Holzberges ausgestrahlt wurde, brachte

ihn fast zur Raserei. Der Wunsch, Menschenblut zu

schlürfen, wurde übermächtig.

Als Wirch die Hütte verließ, die von seinen zwölf

Wölfen bewacht worden war, war er ein

großgewachsener, muskelbepackter Mann mit vier

Augen: seinen eigenen und den beiden Götterteilen,

die seine Stirn über den Augenbrauen zierten.

Er kraulte seinen Zwölften liebevoll am Hals, um

ihm die Scheu zu nehmen. Nachdem er Achr verloren

hatte, mußte er sich nach einem anderen Zwölften

umsehen, denn ein Rudelführer wie er, der

zweitausend Mondherren befehligte, konnte es sich

nicht leisten, nur elf Wölfe zu Gefährten zu haben. Er

mußte einen anderen Mondherren töten, um einen

Zwölften zu bekommen.

Der Zwölfte hatte sich noch nicht in das Rudel

Page 91: Im Zeichen des Mondes

eingelebt, deshalb bevorzugte ihn Wirch den anderen

gegenüber; das sahen besonders die beiden Weibchen

nicht gerne, denn auch der Zwölfte war ein Weibchen.

Deshalb dachte sich Wirch nichts Besonderes dabei,

daß sie ihn hektisch umsprangen, während er sich von

der Hütte entfernte.

Die meisten der anderen Mondherren hatten

ebenfalls schon ihre Verwandlung hinter sich, und

Wirch fiel plötzlich auf, daß sich auch deren Wölfe

ganz seltsam benahmen.

Einer der Mondherren machte mit den Armen wilde

Bewegungen in Wirchs Richtung und rief:

»Blut! Viele Behälter voll Blut!«

Wirchs Argwohn war sofort erwacht. Blut war nur

in den Körpern von Lebewesen zu finden, denn es war

ihr Lebenssaft.

Er ging zu dem Mondherrn, die Zwölf in seinem

Gefolge, und fragte nur:

»Wo?«

»Komm mit, Wirch. Die anderen baden bereits im

Blut!«

Wirch spürte, wie Zorn in ihm hochstieg, während

er seinem Bruder folgte. Wie konnten es die anderen

wagen, sich über eine Beute herzumachen, von der er

noch nicht genossen hatte!

Sie bahnten sich ihren Weg durch die Reihen der

Wölfe und deren Herren und kamen auf einen Hügel.

Page 92: Im Zeichen des Mondes

Von dort sah Wirch auf ein kleines Dorf hinunter, in

dem sich nur Wolfsmenschen tummelten, die Wölfe

warteten, jämmerlich heulend, außerhalb.

Wirch rannte wie das Mondlicht den Hügel

hinunter. Noch bevor er die Siedlung betrat, stach ihm

ein süßlicher Geruch in die Nase, der eine

berauschende Wirkung auf ihn hatte. Es war kein

Blutgeruch, das erkannte Wirch sofort, aber er war

nicht minder verführerisch.

»Halt!« rief er einigen Mondherren zu, die einen der

erwähnten Behälter erbrachen und ihre Gesichter in

das blutrote Naß tauchen wollten, das aus der Öffnung

hervorquoll.

»Trink, Wirch«, rief ihm einer der Wolfsmenschen

zu, während er mit seltsam verschwommenem Blick zu

ihm stierte. »Es ist süß wie Menschenblut!«

»Du gibst dich wie trunken, Arrng«, sagte Wirch

streng.

»Ich bin es«, erwiderte Arrng mit schwerer Zunge.

»Von diesem herrlichen Saft, der trunken macht wie

Blut!«

Wirch kostete von der roten Flüssigkeit. Sie

schmeckte. Da er keine berauschende Wirkung an sich

feststellen konnte, tauchte er sein Gesicht noch einmal

in den roten Saft ein und nahm einen Mundvoll davon.

Es reichte für zwei große Schlucke.

»Nicht übel«, bestätigte Wirch.

Page 93: Im Zeichen des Mondes

Der rote Saft ersetzte einem Mondherren nicht das

Menschenblut. Aber wenn man schon solange dürstete

wie Wirchs Rudel, dann begnügte man sich schon mit

dieser Flüssigkeit, die süß wie Blut war und nicht

minder berauschte.

Wirch war dem roten Saft gegenüber immer noch

mißtrauisch. Irgend etwas in ihm – vielleicht der

Gottesteil an seiner Stirn? – warnte ihn davor, seine

Leute den Inhalt der Behälter trinken zu lassen. Aber er

schlug die Warnung seines Instinkts in den Wind.

Er mußte sein Rudel bei Laune halten. Und wenn

dieser rote Saft ihre Stimmung hob, dann sollte es ihm

recht sein.

Sie würden die Enthaltsamkeit der letzten Tage

vergessen und den Verzicht auf Menschenblut

überwinden. Wenn die Wirkung des roten Saftes

nachließ, wurde ihr Durst wieder unstillbar werden.

Aber dann würde Wirch sich an ihre Spitze setzen und

sie weiter nach Osten führen. Dort, irgendwo hinter

der Ebene, mußte es Menschen geben.

Dorthin würden sie ziehen. Aber nicht sofort,

sondern später. Vielleicht nach Einbruch der Nacht,

wenn sie wieder Wolfsgestalt angenommen hatten und

die unbesiegbaren Mondherren waren.

Aber solange noch etwas von dem roten Saft da war,

konnten sie hier verweilen.

Wirch beugte sich über das Faß und trank in

Page 94: Im Zeichen des Mondes

gierigen Zügen Nabibs Wein.

5.

Bei Einbruch der Nacht erreichten sie den See, der

südlich der Ebene von Sapca lag. Dort erwartete sie

eine Abteilung von Kriegerinnen, die zu berichten

wußten, daß der Trick mit den Weinfässern ein voller

Erfolg gewesen war: Die Wolfsmenschen hatten sich in

den Morgenstunden darüber hergemacht und von

Nabibs Wein getrunken, bis sie nicht mehr stehen

konnten. Den ganzen Tag über hatten sie ihren Rausch

ausgeschlafen.

Agrion konnte zufrieden sein. Sie kamen nicht zu

spät. Der weibliche Bote, den sie zu Grisha geschickt

hatte, mußte sein Ziel ebenfalls schon längst erreicht

und Bericht erstattet haben. Hoffentlich richtete Grisha

die Kampfweise ihrer tausend Kriegerinnen darauf ein,

daß Parthos und Agrions Streitkräfte vom Westen

kamen und den Werwölfen in den Rücken fielen, um

ihnen den Fluchtweg abzuschneiden und sie nach

Osten zu treiben.

Page 95: Im Zeichen des Mondes

Als Nabib hörte, was mit seinem Wein geschehen

war, schüttelte er traurig den Kopf.

»Was für eine Vergewaltigung für diesen köstlichen

Rebensaft.«

»Er hat hier einen besseren Zweck erfüllt, als er es in

Myra getan hätte«, tröstete ihn Partho, der seine

Silberlanze auf den Steigbügel stützte. »Der Wein wird

die Sinne der Wolfsmenschen benebelt, ihre Blicke

getrübt und ihre Kampfkraft gelähmt haben.« Er lachte.

»Werden die Brummschädel haben!«

»Mein Wein verursacht keinen schweren Kopf«,

erwiderte Nabib gekränkt.

Als die Ufer des Sees zurücktraten und sich vor

ihnen die Ebene von Sapca ausbreitete, hielten sie an.

Die Krieger, die selbst ohne Pferde waren und bei den

Reitern aufgesessen waren, schwangen sich aus den

Sätteln und setzten ihren Weg entlang des nördlichen

Seeufers zu Fuß fort.

Es waren etwa viertausend Krieger, von denen nur

wenige Bogenschützen mit Silberpfeilen ausgerüstet

waren. Die Aufgabe dieser Fußtruppe war es, sich aus

dem Kampf gegen die Wolfsmenschen herauszuhalten

und nur deren Wölfe abzufangen, die in ihre Richtung

verschlagen wurden.

Fast die gesamte Reiterei zog unter Parthos und

Agrions Führung weiter nach Norden. Tausend

Reitersoldaten, die sich aus Urgoriten und Zuntern

Page 96: Im Zeichen des Mondes

zusammensetzten, waren mit Silberwaffen ausgerüstet.

Ebenfalls tausend Amazonen hatten die restlichen

Silberwaffen zugeteilt bekommen. Die anderen

Krieger, die nur mit herkömmlichen Waffen

ausgerüstet waren, sollten sich während des Kampfes

im Hintergrund halten und ihren gegen die

Wolfsmenschen vorgehenden Kameraden die Wölfe

vom Leibe halten.

Partho war sich klar darüber, daß es nicht immer

leicht sein würde, in dem Gewühl von

sechsundzwanzigtausend Geschöpfen die Wölfe von

den Wolfsmenschen zu unterscheiden. Aber es war

eine helle Mondnacht, so daß sie eine gute Sicht hatten,

und außerdem waren die Wolfsmenschen doppelt so

groß, wie deren wölfische Begleiter. Zumindest hatte

Bodo das behauptet.

Sie ritten nicht allzu schnell, um erstens die Pferde

für den bevorstehenden Sturmlauf zu schonen und

zweitens keinen übermäßigen Lärm zu machen. Je

später sie von den Horden der Nacht entdeckt wurden,

desto größer würde das Überraschungsmoment sein –

und davon konnte die Entscheidung der Schlacht

abhängen.

Agrion war bis jetzt an Parthos Seite geritten. Als sie

nun auf die ersten Wolfsspuren trafen, sagte sie zu

ihm:

»Es ist besser, wenn wir uns jetzt trennen. Halte du

Page 97: Im Zeichen des Mondes

dich mit deinen Männern weiter nördlich, damit du

meinen Kriegerinnen nicht in die Quere kommst.«

Partho grinste und wollte etwas entgegnen, aber er

unterließ es. Von irgendwo aus dem Osten klang das

Heulen von Wölfen zu ihnen herüber.

Parthos Zähne schimmerten im Mondlicht, als er

Agrion zulächelte und die Hand zum Abschied hob. Er

riß sein Pferd herum und ritt mit seinen Kriegern in

nordöstlicher Richtung weiter.

Agrion schwenkte nach Osten ab, die tausend mit

Silberwaffen ausgerüsteten Amazonen folgten ihr.

Auf der Ebene von Sapca kamen sie rasch weiter.

Über weite Strecken wuchs hier nur Gras, vereinzelte

Büsche und Bäume ragten wie Fremdkörper aus

diesem flachen Wiesenland heraus.

Das Wolfsgeheul vor ihnen wurde immer lauter.

Agrion war froh, daß der Wind ihnen entgegenschlug,

so daß die Wölfe nicht schon ihre Witterung

aufnehmen konnten, bevor sie sie sahen.

Agrion wollte einer Gebüschgruppe ausweichen, die

vor ihr den Weg versperrte. Plötzlich stutzte sie jedoch

und zügelte ihr Pferd. Da – eine Blutspur, die

geradewegs auf die Büsche führte.

Hatte sich ein Verwundeter – ein Mensch – mit

letzter Kraft in die Büsche in Sicherheit gebracht?

Vielleicht. Es war aber auch möglich, daß es sich um

einen verwundeten Wolf oder Wolfsmenschen

Page 98: Im Zeichen des Mondes

handelte, der vor ihnen in die Büsche geflüchtet war.

Sie konnte sich vorstellen, daß es auch bei den Horden

der Nacht blutige Machtkämpfe gab.

Mit gezücktem Silberschwert näherte sie sich auf

ihrem Pferd langsam den Büschen. Plötzlich hörte sie

ein wütendes Fauchen, die Äste teilten sich, und ein

riesiger Wolf erschien.

Agrion war so nahe, daß er sie mit einem einzigen

Sprung hätte erreichen können. Deshalb wunderte sie

sich, daß er es nicht tat. Er stand nur bewegungslos da,

den Körper zum Sprung geduckt, starrte sie aus wilden

Augen an.

Für Agrion war diese Verhaltensweise unerklärlich.

Was mochte den Wolfsmenschen zur

Bewegungslosigkeit verdammt haben?

Der starre Blick der funkelnden Augen war

geradewegs auf sie gerichtet. Blendete ihn das Silber

ihrer Schwertklinge, in dem sich das Mondlicht

spiegelte? Sie ließ die Hand etwas sinken, weil das

Leuchten des Mondrings sie etwas blendete ...

War der Mondring die Erklärung? Hatte dieser

Ring, der am Tage nur matt schimmerte, aber im Licht

des Mondes ein faszinierendes, geheimnisvolles

Strahlen aussandte, die Kraft, Wolfsmenschen für

einige Zeit an einen Platz zu bannen?

Agrion verfolgte diesen Gedanken im Augenblick

nicht weiter. Sie würde bald herausfinden können, ob

Page 99: Im Zeichen des Mondes

etwas an dieser Vermutung war.

Sie setzte ihr Pferd in Trab, beugte sich aus dem

Sattel und hieb dem Riesenwolf die Silberklinge des

Schwertes auf den mächtigen Schädel.

Das Tier brach mit einer klaffenden Kopfwunde

zusammen. Die Wunde schloß sich nicht auf

wundersame Weise, sondern verfärbte sich dunkel –

wo das Silber hingetroffen hatte, ging das Fleisch so

schnell in Verwesung über, daß man die Veränderung

mit den Augen beobachten konnte. Jetzt erst war

Agrion von der zersetzenden Wirkung des Silbers auf

die Wolfsmenschen überzeugt.

Was war das nur für ein Teufelszeug gewesen, das sie

da in großen Mengen geschlürft hatten? Wenn es in

den Körper kam, da machte es so leicht, daß man

vermeinte, man schwebe. Und es hatte anfangs die

berauschende Wirkung von Blut gehabt. Aber wenn

man dann aus dem Rausch erwachte, da fühlten sich

die Glieder an, als seien sie gelähmt, der Kopf war so

schwer, daß man sich anstrengen mußte, ihn oben zu

halten.

Wirch, der soeben die Verwandlung hinter sich

gebracht hatte, heulte den Mond an, der heute

besonders hell strahlte. Es war eine gute Nacht für die

Jagd, die Voraussetzungen waren überaus günstig.

Aber da war das Pochen in seinem Kopf – er

Page 100: Im Zeichen des Mondes

schüttelte ihn, um das Pochen zu verscheuchen. Für

einen Augenblick war es auch wirklich verschwunden,

dann setzte es jedoch wieder mit unverminderter

Heftigkeit ein.

Seinen Brüdern erging es nicht anders. Sie wußten

sich nicht anders zu helfen, als dem Mond ihr Leid zu

klagen.

Wirch setzte sich in Bewegung, um die anderen

mitzureißen.

Es war eine Mondnacht, geschaffen für die Jagd.

Diesmal mußten sie auf Opfer stoßen. Und wenn sie

die ganze Nacht durchwanderten, bis der Mond

verblaßte und der häßlichen, heißen, blendenden

Sonne Platz machte. Sie würden nicht eher ruhen, bis

sie den Ort erreicht hatten, wo es Taggespenster in

großer Zahl gab.

Der Gottesteil über seinen Augen trieb ihn voran.

Der Wind kam von Osten, war also günstig, aber er

trieb Wirch nur die Witterung von Gras und blühenden

Sträuchern zu.

»Vorwärts!« drängte Wirch seine Brüder. Wenn sie

sich bewegten, wurde der Nebel aus ihren Köpfen

verscheucht werden. Wirch merkte es, wie sein Kopf

während des Laufens immer klarer wurde.

Den anderen Mondherren erging es nicht anders.

Ihre Niedergeschlagenheit verschwand, sie wurden

immer wilder. Aber mit der Klarheit ihres Verstandes

Page 101: Im Zeichen des Mondes

kam auch die Unzufriedenheit zurück. Viele von ihnen

hatten zuletzt in Xanth Menschenblut getrunken, und

es gab Tausende von Wölfen, die seit dem Opferfest am

Ort des Blutes kein Tagesgespenst mehr gerissen

hatten.

Wo war das gelobte Land, das ihnen ihr Gott

verheißen hatte?

Es ist überall hier, pochte es in Wirchs Kopf. Ihr

müßt nur die Tagesgespenster aus ihren Verstecken

scheuchen, wohin sie sich verkrochen haben!

In Wirch stiegen bereits die gleichen Zweifel wie in

seinen Brüdern hoch – da hatte er eine Witterung. Der

Geruch der Taggespenster, der ganz eigene Geruch von

Weibchen, stieg ihm in die Schnauze und war gleich

darauf wieder verschwunden.

Aber er hatte eine Witterung gehabt, und das

machte ihn rasend. Er irrte sich bestimmt nicht, denn

seinen Brüdern erging es ähnlich wie ihm. Sie konnten

sich das nicht alle gleichzeitig einbilden. Irgendwo vor

ihnen hatten sich weibliche Nachtschläfer

zusammengeschart.

Und dann erblickte Wirch die Taggespenster.

Sie standen in einer langen Reihe in der Ebene. In

vorderster Linie befanden sich Weibchen ohne

Reittiere, und dahinter hatten die berittenen Weibchen

Aufstellung genommen. Sie mußten die Mondherren

und deren gewaltiges Wolfsrudel schon längst bemerkt

Page 102: Im Zeichen des Mondes

haben. Aber sie flohen nicht.

Das verstand Wirch nicht. Obwohl er und seine

Brüder, vom immer stärker werdenden Geruch

aufgestachelt, mit rasender Geschwindigkeit näher

kamen, rührten sich die Taggespenster nicht vom

Fleck.

Wollten sie sich freiwillig opfern?

Das enttäuschte Wirch ein wenig. Er hatte sich auf

die Jagd gefreut.

Seine Brüder waren nicht mehr im Zaum zu halten.

Sie kümmerten sich nicht mehr um ihren Rudelführer,

die schnellfüßigeren preschten an ihm vorbei, ohne

daran zu denken, daß ihm der erste Biß zustand.

Wirch tadelte das nicht. Nach so vielen Nächten der

Enthaltsamkeit konnte er verstehen, wenn das

zügellose Temperament mit den Mondherren

durchging.

Sie stimmten ein schauriges Geheul an, um die

Taggespenster zu ängstigen und sie vielleicht doch

noch in die Flucht zu schlagen. Aber diese rührten sich

nicht von der Stelle.

Gut, dachte Wirch, dann nehmen wir eben das

dargebotene Opfer an.

Plötzlich blitzte es bei den Taggespenstern silbern

auf.

Wirch wurde unwillkürlich langsamer, weil ihn der

silberne Schein blendete. Er heulte verärgert auf, aber

Page 103: Im Zeichen des Mondes

so nahe vor dem Ziel konnte ihn kein Hindernis mehr

abschrecken.

Die Taggespenster setzten sich in Bewegung – und

es schien fast, als wollten sie zum Angriff übergehen.

Die unberittenen Taggespenster in vorderster Linie

hielten lange Stangen von sich gestreckt, deren Spitzen

aus tödlichem Silber waren. Die Reiterinnen, die sich

gestaffelt hinter ihnen hielten und jederzeit durch die

Lücken der vordersten Linie brechen konnten, hatten

kurze Silberstöcke in der Hand, die flach und breit

waren und deren Ränder einen scharfen Grat hatten

Schwerter hießen diese Waffen bei den

Taggespenstern!

Die ersten Mondherren hatten die vorderste Linie

der Taggespenster erreicht, die langen Stangen stießen

nach vorne, die Mondherren wollten den silbernen

Spitzen ausweichen, ihre Wölfe sprangen die

Taggespenster an, um sie niederzuringen und ihren

Herren eine Bresche zu schlagen ...

Die ersten Todesschreie klangen auf beiden Seiten

auf. Mondherren, die von den Silberspitzen

aufgespießt worden waren, schrien ihren Schmerz

ebenso in die Nacht hinaus wie die Taggespenster,

denen der Biß des Wolfes den Garaus machte.

Wirch wich dem Todesstoß einer Lanze aus, verbiß

sich in der Kehle der Lanzenträgerin und schleuderte

sie vor die Hufe des nachfolgenden Reittiers. Danach

Page 104: Im Zeichen des Mondes

konnte er mit knapper Not dem Streich eines

Silberschwertes entgehen. Seine Wölfe sprangen die

Reiterin an, rissen sie aus dem Sattel und töteten sie.

Wirch sah das Blut sprudeln, aber er hatte keine

Zeit, sich daran zu laben.

Die Taggespenster waren nie und nimmer willige

Opfer. Sie wollten den Kampf, sie hatten die

Mondherren mit List und Tücke herangelockt, um

dann ihre Silberwaffen hervorzuholen und sich damit

auf sie zu stürzen.

Wirch sah, wie ein silberner Schwarm über den

mondhellen Himmel zog – Pfeile mit silbernen Spitzen.

Der Pfeilhagel ergoß sich über die nachdrängenden

Mondherren, und Todesschreie zeigten, daß die Pfeile

ihre Ziele gefunden hatten.

Die Linien der widerspenstigen Taggespenster

lichteten sich, so daß die Horden weiterstürmen

konnten. Aber Wirch verspürte keinen Triumph über

diesen Teilerfolg. Zu viele seiner Brüder wälzten sich

sterbend am Boden, ihre Wölfe, nun führungslos,

streunten verwirrt umher.

Wirch befand sich an der Spitze des Rudels, das die

Bresche in die Reihen der Taggespenster geschlagen

hatte. Nur wenige Mondherren hatten mit ihm den

Durchbruch geschafft, aber dafür befanden sich

Hunderte von herrenlosen Wölfen in seiner Begleitung.

Plötzlich tauchten vor ihnen weitere Taggespenster

Page 105: Im Zeichen des Mondes

auf. Sie hatten mächtige Bogen gespannt, von deren

Sehnen sie einen Hagel von Pfeilen schnellen ließen.

Wirch spürte, wie drei der Geschosse in seinen Körper

eindrangen. Er glaubte sich verloren, doch als die Pfeile

keine Wirkung an ihm zeigten, erkannte er erleichtert,

daß sie keine silbernen Spitzen besaßen.

Er entfernte die Pfeile aus seinem Körper und

schleuderte sie wütend von sich. Während er das tat,

starben die Wölfe dutzendweise links und rechts von

ihm. So ungefährlich die Pfeile für die Mondherren

waren, ihren Wolfsgefährten brachten sie den sicheren

Tod.

Wirch schwor bittere Rache. Er würde unter den

Taggespenstern, die nicht mit Silberwaffen ausgerüstet

waren, fürchterlich wüten.

Noch ehe er jedoch die Bogenschützen erreicht hatte,

preschten von allen Seiten Reiter heran, die mit Silber

bewaffnet waren. Es war ein unübersehbares Heer, das

nicht nur aus weiblichen Taggespenstern bestand –

unter den Silberwaffenträgern waren auch viele

Männchen, die sich mit großem Kampfgeist in die

Schlacht warfen.

Wirch mußte hilflos mit ansehen, wie sich die

Reihen der Mondherren und deren Wölfen immer

mehr lichteten. Und er erkannte, daß er sich in einem

verlorenen Haufen befand, der rettungslos vom

Hauptrudel abgeschnitten war. Er sah seine einzige

Page 106: Im Zeichen des Mondes

Rettung in der Flucht. Er mußte sich zum Hauptrudel

durchschlagen, um seine Horden vielleicht doch noch

zum Sieg über die Taggespenster zu führen.

Hatte ihr Gott nicht gesagt, daß sie unverwundbar

und unbesiegbar waren? Ihr Gott hatte nicht gelogen,

aber er schien nicht gewußt zu haben, daß die

Taggespenster mit Silber bewaffnet waren.

Wirch wirbelte herum. Doch mitten in der

Bewegung verhielt er. Bei einem der Taggespenster

war ein Leuchten, das den Schein des Mondes bei

weitem übertraf. Und von diesem Leuchten ging auch

eine Kraft aus, die ihn viel mehr in den Bann schlug als

die Strahlung des Vollmondes.

Sein Körper war auf einmal wie gelähmt und

erstarrte ...

Grisha hatte sich mit ihren Silberwaffenträgerinnen

den Horden der Nacht unerschrocken

entgegengeworfen. Nachdem die meisten der

Wolfsmenschen aus der vordersten Front gefallen

waren, wichen ihre mit Silber bewaffneten

Kriegerinnen nach Süden und Norden zurück, um die

Horden von den Flanken her anzugreifen. Gleichzeitig

setzte sich das Heer der mit normalen Waffen

ausgerüsteten Kriegerinnen vom Osten her in Marsch,

um sich dem Rudel der führungslos gewordenen Wölfe

entgegenzuwerfen.

Grishas Silberwaffenträgerinnen trafen im Norden

Page 107: Im Zeichen des Mondes

mit Parthos Truppen zusammen, die in einem großen

Halbkreis, der bis nach Westen reichte, die Horden

einkesselten. Im Süden stießen sie auf Agrions

Amazonen. Die Heere schlossen sich zusammen und

gingen vereint gegen die Wolfsmenschen vor.

Agrion hatte inzwischen die Überzeugung

gewonnen, daß die Ausstrahlung ihres Mondrings die

Wolfsmenschen lähmte. Sie fragte nicht danach,

warum das so war. Sie vermutete nur, daß der Ring das

Mondlicht in sich aufsog und verstärkt widerspiegelte.

Wie dem auch war, wo das Leuchten ihres Mondrings

auf die Riesenwölfe traf, erstarrten sie zur

Bewegungslosigkeit. Agrions Kriegerinnen hatten dann

leichtes Spiel mit ihnen, denn die erstarrten

Wolfsmenschen leisteten keinen Widerstand.

Das machte Agrion leichtsinnig. Der Mondring gab

ihr ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, seine Ausstrahlung

machte die Wolfsmenschen zu einer leichten Beute. Es

war fast wie bei Reiterspielen, bei denen man durch

eine Gasse von Pfählen mußte und im Vorbeireiten so

viele Ziele wie möglich von den Pfählen zu schlagen

hatte.

Agrion hatte den Mondring auf den Mittelfinger der

linken Hand gesteckt und hielt den Arm von sich

gestreckt. In der Rechten hielt sie das Silberschwert. So

preschte sie mitten durch die Horden der Nacht und

fällte die Wolfsmenschen Schlag auf Schlag, die links

Page 108: Im Zeichen des Mondes

und rechts von ihr zur Bewegungslosigkeit erstarrt

waren.

In ihrer Nähe befanden sich ständig ein halbes

Dutzend Kriegerinnen, die ihr die Wölfe vom Leibe

hielten, denn die Wölfe, denen das Leuchten des

Mondrings nichts anhaben konnte, stellten die einzige

wirkliche Gefahr für sie dar.

Zwei ihrer Begleiterinnen fielen, als sie plötzlich von

mehreren Wölfen gleichzeitig angesprungen wurden.

Die Tiere zerrten sie aus den Satteln und zerrissen ihre

Kehlen, als sie hilflos am Boden lagen.

Eine andere Kriegerin verlor ihr Leben, als ihr Pferd

strauchelte, an dessen Vorderbein sich ein Wolf

verbissen hatte. Als die Kriegerin auf dem Boden

landete, waren sofort mehrere Wölfe über ihr. Agrion

hörte ihre verzweifelten Schreie, aber weder sie noch

die anderen Amazonen konnten ihr helfen.

Agrion hatte sich in ihrer Siegesgewißheit immer

tiefer in das Rudel vorgewagt. Im hellen Mondlicht sah

sie, daß dieses Rudel von allen Seiten eingekesselt war.

Kriegerinnen und Reiter aus Parthos Truppe hatten sie

vom Hauptrudel abgedrängt und eingekreist. Es war

nur eine Frage der Zeit, bis dieses Rudel zerschlagen

war, denn es stand einer Übermacht von Kriegern und

Kriegerinnen gegenüber.

Das machte Agrion überheblich. Sie verließ sich

ganz auf die Kraft ihres Mondrings und auf ihre

Page 109: Im Zeichen des Mondes

Begleiterinnen, die ihr die Wölfe vom Hals schafften.

Plötzlich stellte sie jedoch zu ihrem Schrecken fest,

daß alle ihre Begleiterinnen den Wölfen zum Opfer

gefallen waren. Und diese blutrünstigen Tiere

umringten sie jetzt, sprangen zu ihr hoch und griffen

ihr Pferd an.

Agrion ließ ihr Pferd im Kreise tänzeln, damit die

Wölfe kein sicheres Angriffsziel hatten. Dabei mußte

sie sich gleichzeitig des Ansturms der Tiere erwehren

und fand keine Zeit, die zur Bewegungslosigkeit

verdammten Wolfsmenschen anzugreifen.

Als sie sich für einen kurzen Augenblick aus der

ärgsten Bedrängnis befreien konnte, sah sie sich auf

einmal einem Riesenwolf mit vier Augen gegenüber.

Ihr war sofort klar, daß dieser Wolfsmensch etwas

Besonderes war. Allein seine Größe hob ihn von den

anderen ab. Außerdem unterschied er sich von der

Masse der Wolfsmenschen durch seine vier Augen. Er

war etwas Außergewöhnliches.

Möglicherweise handelte es sich hier um den

Anführer der Horden der Nacht!

Aber auch dieser Wolfsmensch wurde vom

Leuchten des Mondrings in den Bann geschlagen.

Agrion, die erkannte, daß ihre Lage aussichtslos

geworden war, hatte nur noch den einen Wunsch,

wenigstens den Rudelführer mit in den Tod zu

nehmen.

Page 110: Im Zeichen des Mondes

Sie trieb ihr Pferd voran und schwang das

Silberschwert über dem Kopf, um Wirch den Todesstoß

zu geben. Doch bevor sie ihn erreicht hatte, wurde sie

von seinen Wölfen angesprungen. Es waren noch

sieben an der Zahl, die die ersten Angriffe überlebt

hatten. Gemeinsam stürzten sie sich auf Agrion und

auf ihr Pferd, als sie sahen, daß ihr Mondherr in Gefahr

war.

Agrions Reittier wieherte schrill auf und brach mit

zerrissener Kehle zusammen. Es begrub drei Wölfe

unter seinem Körper, ein vierter flog in hohem Bogen

davon ... aber die anderen drei stürzten sich auf

Agrion. Sie hatte, noch während sie aus dem Sattel

sprang, ihren Dolch aus dem Gürtel gezogen und stieß

ihn dem Wolf in den Rachen, der sie an der Kehle

packen wollte.

Die beiden übrigen Wölfe zogen sich seltsamerweise

winselnd zurück.

Gleich darauf tauchte ein Reiter vor ihr auf und zog

sie zu sich in den Sattel hinauf. Sie erkannte Bodo, den

jungen Mann aus dem Wolfsland, und sie bekam von

ihm auch die Erklärung für den unverständlichen

Rückzug der Wölfe. Während sie vor ihm im Sattel saß,

gab er seltsame Knurrlaute von sich, unter denen sich

die Wölfe duckten und sich zum Rückzug anschickten.

Agrion blickte sich nach dem Wolfsmenschen mit

den vier Augen um, aber er war verschwunden. Als die

Page 111: Im Zeichen des Mondes

Wirkung des Mondrings nachließ, mußte er die

Gelegenheit zur Flucht sofort genutzt haben und

zwischen den Kämpfenden untergetaucht sein.

»Beherrscht du die Sprache der Wölfe?« erkundigte

sich Agrion bei Bodo, nachdem sie aus der

Gefahrenzone waren.

Er ergriff ein herrenloses Pferd am Zügel und hielt

es fest, damit Agrion in den anderen Sattel klettern

konnte.

»Ich war viele Sommer und Winter mit einem Wolf

zusammen«, antwortete Bodo, dann wirbelte er sein

Pferd herum und preschte mit vorgehaltener Lanze

mitten in die Reihen der Kämpfenden hinein.

Er kannte die Wölfe wie kein anderer, und er wußte

auch einiges über die Horden der Nacht. Wenn ein

Rudelführer fiel, dann waren dessen zwölf Wölfe fast

hilflos. Da sie es gewohnt waren, von einem

Wolfsmenschen beherrscht zu werden und nach dessen

Befehlen zu handeln, wußten sie nicht mehr, wie sie

sich in bestimmten Situationen verhalten sollten, wenn

sie führungslos geworden waren.

Diese Eigenart machte sich Bodo zunutze. Er

vergrößerte die Verwirrung unter ihnen, indem er

ihnen Laute in ihrer Sprache zurief, die oftmals von

widersprechender Bedeutung waren. Er wußte, daß er

die Wölfe nicht auf seine Seite bringen konnte, nur weil

er sich ihnen verständlich machen konnte.

Page 112: Im Zeichen des Mondes

Bodo hatte auch nicht die Absicht, die Wölfe für sich

zu gewinnen. Er wollte sie nur verwirren, sie

verunsichern und das Chaos in ihren Reihen

vergrößern.

Das gelang ihm ganz gut.

Er lenkte die Aufmerksamkeit der Wölfe auf sich,

indem er ihnen vertraute Laute aus ihrer Sprache

zurief – und tötete dann die Wolfsmenschen mit seiner

Silberlanze.

Keine Wolke zeigte sich am nächtlichen Himmel, der

von der hell strahlenden Mondsichel beherrscht wurde.

Er schickte sein fahles Licht auf die Ebene von Sapca

hinunter und enthüllte schonungslos die blutigen

Kämpfe, die zwischen den Menschen und den Horden

der Nacht stattfanden.

Viele sagten später, daß sich in dieser Nacht der

Mond im Widerschein des Blutes, das auf der Ebene

von Sapca floß, rot gefärbt hatte.

Dieser Mond, den die Wölfe anheulten und den die

Wolfsmenschen verehrten, gab ihnen in dieser

unseligen Nacht nicht die Kraft, die sie zum Siegen

brauchten, sondern brachte ihnen mit seinen Strahlen

den Tod.

Es war ein kleiner Ring, der die Niederlage der

Wolfsmenschen besiegelte. Der Ring am Finger einer

Page 113: Im Zeichen des Mondes

Frau, der die fahlen Mondstrahlen in sich speicherte

und verstärkt wieder versprühte. Die Wolfsmenschen

erstarrten, wenn sie in das Leuchten des Mondrings

gerieten, waren unfähig, den vernichtenden Stößen der

Silberwaffen auszuweichen ...

Wenn der Bann sie dann wieder losließ, hatte die

tödliche Kraft des Silbers, ihre Körper bereits

durchsetzt. Die Wunden selbst waren nur selten

schwer, denn den Kriegern blieb keine Zeit, die Lanze

zielsicher zu stoßen oder einen wohlüberdachten

Schwertstreich zu führen, denn sie wurden ständig von

den Wölfen bedrängt, die verzweifelt das Leben ihrer

Herren zu verteidigen versuchten.

Aber Zielsicherheit war nicht das Gebot der Stunde,

es genügte, den Wolfsmenschen mit der Silberwaffe

eine Wunde zuzufügen.

Und so kam es, daß Riesenwölfe auf dem

Schlachtfeld zurückblieben, die keinen Tropfen Blut

verloren hatten. Die Wunden, die ihnen die

Silberwaffen geschlagen hatten, waren nicht rot,

sondern zeigten sich als häßliche, schwarze Flecken,

die sich unaufhaltsam und rasch vergrößerten. Es half

den Mondherren nichts, wenn sie sich das verwesende

Fleisch aus dem Körper rissen; sie bissen sich die vom

Silber getroffenen Läufe ab und humpelten auf dreien

weiter.

Aber sie kamen nicht weit, denn die zersetzende

Page 114: Im Zeichen des Mondes

Kraft des Silbers war mit dem Blut durch ihren ganzen

Körper gewandert, hatte sich überall festgesetzt und

führte das zerstörerische Werk fort.

Mondherren mit schwarzen Wunden überall am

Körper, den unabwendbaren Tod vor Augen, ließen

sich von ihren Wölfen töten, um sich die Leiden zu

verkürzen. Es ging immer ganz schnell, ein Biß in die

Kehle genügte ... denn ein durch Silber verwundeter

Wolfsmensch hatte die Fähigkeit verloren, seine

Wunden wieder schließen zu können.

Andere vom Silber gezeichnete Mondherren

stürzten sich in ihrer Verzweiflung auf ihre durch die

Silberwaffen übermächtig gewordenen Feinde, um sich

von ihnen den Gnadenstoß zu holen.

Viele von ihnen begriffen rechtzeitig, daß sie sich in

einer aussichtslosen Lage befanden. Wenn es ihnen

gelang, eines der Taggespenster zu reißen, dann

tauchten zwei von ihnen auf, um furchtbare Rache zu

nehmen.

Es blieb nur noch die Flucht.

Doch der Rückweg war abgeschnitten. Aus der

Richtung, in der das Land der Wölfe lag, wälzte sich

ein riesiges Heer von Reitern und Kriegern ohne Pferde

heran. Um deren geschlossene Schlachtreihe zu

durchbrechen, hatten sich die Horden der Nacht

sammeln und vereint zum Angriff übergehen müssen.

Daran war jedoch nicht zu denken. Die Mondherren

Page 115: Im Zeichen des Mondes

hatten genug damit zu tun, um ihr Leben zu kämpfen.

Sie konnten sich nicht untereinander absprechen. Zu all

dem Übel kam noch dazu, daß die herrenlosen Wölfe

kopflos herumstreunten und den Mondherren im

Wege waren.

Die Wolfsmenschen sahen nur eine Möglichkeit, sich

in Sicherheit zu bringen. Sie mußten weiter nach Osten

ziehen, denn dort war eine große Lücke in den Reihen

der Angreifer entstanden, durch die die Horden

entweichen konnten.

Und so geschah es. Die Mondherren flüchteten mit

ihren Wölfen in nordöstliche Richtung, die herrenlosen

Wölfe schlossen sich ihnen an.

Da ihnen die Taggespenster mit ihren Silberwaffen

ständig im Nacken saßen, blieben ihnen keine Zeit, den

sichersten Weg durch das unbekannte Land zu suchen.

Sie waren nur darauf bedacht, von hier fortzukommen,

dem tödlichen Silber zu entfliehen.

Der Abstand zwischen den Horden der Nacht und

den Verfolgern wurde immer größer, denn die Wölfe

konnten schneller laufen als die Reittiere der

Taggespenster.

Der Kampflärm, der über der Ebene von Sapca lag,

wurde immer leiser, das Donnern der Pferdehufe

verklang in der Ferne ...

Die Mondherren rannten weiter. Die ersten

verlangsamten erst ihre Geschwindigkeit, als sie

Page 116: Im Zeichen des Mondes

weichen, nachgiebigen Boden unter ihren Läufen

spürten. Aber sie konnten nicht anhalten, um

vorsichtig zu wittern und das Gelände zu überprüfen,

das vor ihnen lag.

Die nachfolgenden Wölfe drängten sie vorwärts,

immer tiefer hinein in den Sumpf.

Die ersten Wölfe versanken in dem schlammigen

Boden, die nachfolgenden setzten über sie hinweg,

drückten sie noch tiefer in den Sumpf hinab, bis sie sich

nicht mehr daraus befreien konnten. Immer mehr

Wölfe gerieten in die Umklammerung des Sumpfes,

wurden unerbittlich in den bodenlosen Schlamm

hinabgezogen – und erstickten.

Manche von ihnen hatten den Sumpf lebend hinter

sich gebracht und sahen sich plötzlich vor einem

endlos scheinenden Wasser, in dem sich die

Mondsichel tausendfach widerspiegelte.

Ihr Verstand riet den Mondherren und deren

Wölfen, nicht in den Sumpf zurückzukehren, dem sie

gerade noch lebend entronnen waren. So stürzten sie

sich in den See hinein, in dem sie den Mond erblickten.

Das Spiegelbild des Mondes war die Insel, die ihnen

Rettung verhieß, aber je weiter sie schwammen – der

Mond rückte von ihnen ab. Sie erreichten ihn nie.

Sie kamen nicht einmal ans gegenüberliegende Ufer.

Irgendwann verließen sie die Kräfte, und sie

ertranken. Ein letztes Heulen, ein verzweifeltes

Page 117: Im Zeichen des Mondes

Um-sich-schlagen, ein Aufschäumen der

Wasseroberfläche, einige platzende Luftblasen ...

Dieser Vorgang wiederholte sich oftmals. Dann

wurde der See wieder ruhig. Der Mond spiegelte sich

in der glatten Wasseroberfläche, auf der immer mehr

dunkle Körper auftauchten, die die Tiefe wieder

freigab.

Es war doch noch eine stille, friedliche Nacht

geworden. Aus der Ebene von Sapca drangen noch

vereinzelt Geräusche herüber. Aber bald verstummten

auch sie.

Die Entscheidung war gefallen, der Kampf der

Menschen gegen die Horden der Nacht beendet.

Die Menschen hatten viele Opfer zu beklagen, aber

der Sieg gehörte ihnen. Und auf jeden gefallenen

Menschen kamen dreißig Wölfe und Wolfsmenschen.

»Wir haben sie nicht alle gekriegt«, sagte Sardak

fluchend. »Einige von ihnen sind uns nach Westen

entkommen. Wir können nicht verhindern, daß sie das

enge Wasser erreichen und zum Wolfsland

überwechseln.«

»Viele werden es nicht sein«, meintePartho. »Ich

glaube nicht, daß uns von den Horden der Nacht noch

einmal Gefahr droht. Selbst wenn sie sich sammeln,

sind es zuwenige, um etwas gegen unsere Silberwaffen

ausrichten zu können.«

»Trotzdem werde ich Kriegerinnen ausschicken, die

Page 118: Im Zeichen des Mondes

das Land zwischen Ad‘zhari und dem engen Wasser

durchstreifen sollen«, erklärte Agrion. »Ich will sicher

sein, daß kein Wolfsmensch in diesem Land am Leben

bleibt.«

Bodo starrte auf das Schlachtfeld hinaus. Wie zu sich

selbst sagte er:

»Ein Wolf merkt sich den Ort seiner Niederlage. Er

kehrt nie mehr an ihn zurück!«

Wirch heulte seine Wut zum Mond hinauf.

Die sechs Wölfe, die er während der Flucht

aufgegriffen und um sich geschart hatte, stimmten in

das Geheul ein. Zwei von ihnen waren verwundet und

würden die Überquerung des engen Wassers nicht

überleben, so ließ er sie auf der Stelle von den anderen

Wölfen reißen.

Er selbst beteiligte sich nicht bei dem folgenden

Mahl.

Die anderen Mondherren, denen die Flucht

zusammen mit ihm gelungen war, ruhten sich vor dem

schweren Gang über das enge Wasser aus. Sie waren

alle erschöpft und ausgehungert und von den

vorangegangenen Kämpfen gezeichnet.

Der Mond verblaßte langsam.

Die Mondherren zogen sich zurück, um die

bevorstehende Verwandlung zu erwarten. Vielleicht

gönnten ihnen die Taggespenster eine kurze Pause,

Page 119: Im Zeichen des Mondes

damit sie sich ausruhen und zu Kräften kommen

konnten. Dann würden sie den langen Weg antreten

und nicht eher ruhen, bis sie am engen Wasser waren.

Sie würden dieses Land verlassen, das nicht das ihre

war.

Und sie würden nie mehr wiederkommen, das

schworen sie sich alle, auch wenn der Wolfsgott es von

ihnen verlangte.

Der Mond verschwand vom Himmel, und die Sonne

kam. Als sie ihre ersten Strahlen über den Horizont

schickte, kam ein großgewachsener Mann aus einer

Mulde. Vier Wölfe drängten sich mit wedelnden Ruten

um ihn.

Er hatte vier Augen.

Sein markantes Gesicht verzog sich plötzlich wie

unter Schmerzen. Seine Hände zuckten empor, packten

das zusätzliche Augenpaar und rissen es sich aus der

Stirn.

Wirch schmetterte den Gottesteil von sich und sagte:

»Nie mehr will ich deinem Wort gehorchen,

Wolfsgott! Nie mehr in diesem Leben!«

Wirch sah nicht mehr, wie sich der Gottesteil in

einen Vogel verwandelte und gen Süden davonflog. Er

hockte sich ins Gras und ließ sich die Stirnwunde von

seinen Wölfen ablecken.

Page 120: Im Zeichen des Mondes

6.

Es dauerte einige Zeit, bis sich Cnossos erholt hatte.

Die Wunden, die ihm das Feuer der Brandpfeile

gebrannt hatten, waren nicht besonders schwer. Nur

geringe Teile seines Körpers waren davon betroffen,

weil es ihm noch rechtzeitig gelungen war, sich in

einen Tümpel zu stürzen und die Flammen zu löschen.

Er verfluchte Dragon, der wieder einmal seine Pläne

durchkreuzt hatte. Cnossos fragte sich, welche Waffen

der Atlanter besaß, daß er ihn, Cnossos, entlarven

konnte, obwohl er keinen Fehler begangen hatte.

War er nicht das genaue Ebenbild von König Zogors

Mumie gewesen? Wie war es Dragon möglich

gewesen, ihn dennoch zu entlarven? Cnossos war

sicher, daß Dragon seine Erinnerung noch nicht

wiedererlangt hatte. Der Atlanter hatte

Gedächtnislücken, was die Zeit vor dem Untergang

von Atlantis betraf. Er wußte nicht mehr, daß er einst

einem mächtigen Volk von Sternfahrern angehört hatte

und konnte sich auch nicht mehr daran erinnern, daß

er Cnossos schon damals begegnet war.

Dragon schlief zweitausend Jahre lang und erwachte

dann in dieser barbarischen Zeit, in der das sagenhafte

Atlantis in Vergessenheit geraten war. Dragon

Page 121: Im Zeichen des Mondes

erwachte ohne Erinnerung an die Vergangenheit, so

daß er nicht wissen konnte, wer Cnossos war und

welche Fähigkeiten er besaß, Wie war es ihm dennoch

möglich gewesen, Cnossos zu entlarven, als dieser sich

in die Mumie des toten Zogors verwandelt hatte?

Möglicherweise war Dragon durch die Impulse des

Amuletts gewarnt worden, das er um den Hals trug

und dessen wahre Bedeutung er nicht einmal kannte.

Cnossos grübelte nicht mehr darüber nach. Er hatte

eine Niederlage hinnehmen müssen, aber dadurch

waren seine Pläne noch lange nicht vereitelt worden.

Wenn es ihm auch nicht gelungen war, Dragons Leute

an König Zogors Tod zweifeln zu lassen, hieß das nicht

auch, daß es nicht möglich wäre, zumindest die

Myraner zu täuschen.

Einen von ihnen hatte er schon soweit, daß er an

König Zogors Tod zweifelte: Ermyas, der den Thron

vor vierzehn Tagen bestiegen hatte und ihn nun an ihn,

Cnossos, verlieren würde.

Cnossos hatte sich nach der Niederlage in Dragons

Lager in den Palast zurückgezogen, wo er sich vorerst

mit der Rolle des stillen, unsichtbaren Beobachters

begnügte. Er wollte Zeit gewinnen, um seine Wunden

auszukurieren und die Situation im Palast

auszukundschaften.

Es tat sich einiges, ein Unheil braute sich zusammen,

das sich irgendwann gegen Ermyas entladen würde.

Page 122: Im Zeichen des Mondes

Cnossos, der sich einmal in eine steinerne Figur

verwandelte, dann wieder in ein Möbel und ein

andermal mit seiner Körpersubstanz als Relief eine

Säule schmückte, war anwesend, wann und wo immer

Gerüchte um den jungen König geboren oder Ränke

gegen ihn geschmiedet wurden.

Man sagte hinter Ermyas‘ Rücken, daß er nahe

daran war, den Verstand zu verlieren. Man erzählte

sich, daß er seinen Lieblingsjüngling Torffson erdolcht

und die Tat dem toten Zogor angedichtet hatte. Man

war überzeugt, daß Dämonen ihn befallen hatten, denn

er traf Entscheidungen, die kein König mit klarem

Verstand getroffen hätte.

Und Ermyas nährte diese Gerüchte, als er vor

einigen Zeugen behauptete, König Zogor wäre ihm,

springlebendig und in Fleisch und Blut,

gegenübergetreten.

Niemand wagte, dem jungen König offen zu

widersprechen; sie dienerten vor ihm, kamen scheinbar

unterwürfig seinen Befehlen nach, aber kaum waren sie

außer seiner Reichweite, zeigten sie ihr wahres Gesicht:

Es gab kaum einen im Palast, der Ermyas noch treu

war. Fast alle wünschten ihn in den Kerker zurück, von

wo sie ihn vor vierzehn Tagen geholt hatten, und am

sehnlichsten wünschte sich dies Gorey, der Ermyas in

dem Glauben befreit hatte, der Neffe des toten Königs

könne das myranische Reich vor dem Zusammenbruch

Page 123: Im Zeichen des Mondes

retten.

Gorey, der von Ermyas zum Kanzler ernannt

worden war, war es auch, der am stärksten gegen den

jungen König intrigierte.

Cnossos war dabei, als sich Gorey mit dem

Hauptmann der Palastwache an einem geheimen

Treffpunkt besprach und ihn für den bevorstehenden

Aufstand gewann.

Cnossos war der unsichtbare Dritte, wenn sich

irgendwo zwei Adelige gegen den jungen König

verschworen, er stand als steinerner Götze hinter dem

Eunuchen, als dieser in den Plan eingeweiht wurde,

Ermyas‘ Jünglinge zu vergiften.

Cnossos erfuhr aber auch, welches Ziel die Rebellen

mit ihren Intrigen gegen den jungen König verfolgten:

Da alle Myraner der Meinung waren, daß König Zogor

tot, Ermyas aber nicht würdig sei, seine Nachfolge

anzutreten, wollten sie sich Dragons Heer kampflos

ergeben und sich seinem Willen unterwerfen.

Das würde Cnossos jedoch zu verhindern wissen,

indem er zum gegebenen Zeitpunkt, noch ehe der Tag

vorüber war, als König Zogor auftrat. Und zwar würde

sein Auftritt zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem alle

wichtigen Persönlichkeiten von Myra anwesend waren.

Der Balamiter war siegessicher.

Gorey stand neben Ermyas, als dieser von seinem

Page 124: Im Zeichen des Mondes

Fenster aus dem Henker das Zeichen gab. Der Kanzler

blickte weg, als der Henker das Beil hob. Dreimal hörte

er das Henkersbeil dumpf auf den Richtblöcken

aufschlagen.

Den Kanzler schmerzte es, daß er den Tod dieser

drei Männer nicht hatte verhindern können. Aber er

hoffte, daß es die letzten Opfer waren, denen Ermyas

Launen das Leben gekostet hatte.

Ermyas wandte sich vom Fenster ab, sah Gorey mit

spöttischem Lächeln an und meinte anzüglich:

»Du bist auf einmal so blaß, Kanzler. Dabei hast du

der Hinrichtung gar nicht zugesehen. Waren diese drei

Verräter vielleicht deine Freunde?«

»In diesen Tagen kann sich niemand rühmen,

Freunde zu besitzen«, meinte Gorey ausweichend und

doppelsinnig zugleich. »Aber ich war von Anfang an

der Meinung, daß diese drei Männer kein so ruchloses

Vergehen begangen haben, das ihre Hinrichtung

rechtfertigte.«

»Das waren Feinde des Königs«, rief Ermyas

aufgebracht. »Sie haben sich geweigert, den von mir

geforderten Tribut zu zahlen. Ihr Tod wird den

anderen eine Warnung sein. Du wirst sehen, daß keiner

der Reichen sich mehr weigern wird, sein Vermögen an

die königliche Schatzkammer abzuliefern.«

Gorey nickte.

»Die Angst um ihr Leben wird sie gefügig machen.

Page 125: Im Zeichen des Mondes

Aber kann dich das triumphieren lassen, Erhabener?

Du kannst die königliche Schatzkammer auf diese

Weise füllen, aber bedenke, daß du dann ein Herrscher

über ein Volk von Armen bist.«

»Das wird sich wieder ändern, wenn ich erst die

Barbaren aus dem Osten zurückgeschlagen habe«,

entgegnete Ermyas erregt. »Ich benötige das Geld, um

ein schlagkräftiges Heer auf die Beine zu stellen. Und

jene, die mir dabei geholfen haben, indem sie mir ihr

Vermögen freiwillig überließen, werden es nach

meinem Sieg doppelt zurückerstattet bekommen.«

Gorey hätte einwenden können, daß kaum einer der

Bürger seine Schätze dem König freiwillig überließ.

Aber er schwieg, um den König nicht unnötig zu

reizen. All diese Probleme wurden sich bald von selbst

gelöst haben.

Der Entschluß des Kanzlers stand längst fest,

Ermyas seiner Macht zu entheben. Gorey mußte sich

nur noch über einen Punkt Klarheit verschaffen, damit

er wußte, wie das Schicksal von Myranien nach

Ermyas‘ Entmachtung aussehen würde.

Der Kanzler wechselte das Thema.

»Ich habe von den Wachen den gesamten Palast

durchsuchen lassen, mein König. Sie haben von den

tief unter der Erde liegenden Verliesen bis zu den

Dächern der Türme hinauf jeden Raum und jeden

Winkel durchsucht. Aber sie fanden keine Spur von

Page 126: Im Zeichen des Mondes

König Zogor.«

»So?« machte Ermyas und fügte lauernd hinzu:

»Dann bist du wohl der Meinung, daß ich mich geirrt

habe?«

»Das wollte ich damit nicht sagen«, erwiderte

Gorey. »Wie käme ich dazu, die Aussage meines

Königs anzuzweifeln.«

»Nun, du könntest zu der Ansicht gekommen sein,

daß sich mein Verstand verwirrt hat, oder gar, daß ein

Dämon ihn befallen hat«, meinte Ermyas gedehnt.

»Solche Gedanken haben in meinem Kopf keinen

Platz«, wehrte Gorey mit gespieltem Entsetzen ab.

»Soll ich dann deine Worte so auslegen, daß du

daran glaubst, Zogor sei noch am Leben?« erkundigte

sich Ermyas.

»Ich glaube daran, daß du als rechtmäßiger

Nachfolger von Zogor den Thron bestiegen hast«,

antwortete Gorey. Er vermied geschickt, sich irgendwie

festzulegen. Es wäre Ermyas zuzutrauen gewesen, daß

er ihm aus einem einzigen unbedachten Wort einen

Strick gedreht hätte. So nahe dem Ziel wollte der

Kanzler nichts tun, was Ermyas, der immer noch König

von Myranien war, gegen ihn aufbringen könnte.

»Du bist vorsichtig, Kanzler«, stellte Ermyas

spöttisch fest. »Aber mit Vorsicht allein kannst du

deinen Kopf nicht retten. Wie würdest du dich

verhalten, wenn Zogor, entgegen aller Gerüchte, doch

Page 127: Im Zeichen des Mondes

noch am Leben ist? Nein, warte mit der Antwort.

Diesmal lasse ich es nicht zu, daß du mir ausweichst.

Ich möchte eine klare Stellungnahme von dir hören.

Wenn Zogor lebend in Erscheinung treten würde, wer

wäre dann in deinen Augen der rechtmäßige König, er

oder ich?«

»Du treibst ein ungnädiges Spiel mit mir,

Erhabener«, meinte Gorey. »Aber da du eine klare

Stellungnahme von mir wünschst, werde ich so klar

antworten, wie es mir möglich ist. Eher werde ich mit

dir sterben, mein König, als mich Zogor unterwerfen.«

Ermyas nickte, obwohl er nicht ganz zufrieden mit

der Antwort zu sein schien. Er hatte gehofft, daß sich

Gorey eine Blöße gab, die es ermöglichte, gegen ihn

vorzugehen. Ermyas hätte sich des Kanzlers gerne

entledigt, denn er besaß in Myra einen zu starken

Einfluß. Aber eben weil er ein mächtiger und beliebter

Mann war, konnte ihn Ermyas nicht grundlos aus dem

Weg räumen.

»Hast du noch Staatsgeschäfte mit mir zu

besprechen, Kanzler?« fragte Ermyas ungeduldig.

»Wenn nicht, dann brauche ich dich nicht mehr

länger.«

»Es gäbe noch viel zu besprechen«, entgegnete

Gorey, »aber es ist nichts, was unaufschiebbar wäre.

Nur eine einzige Angelegenheit gibt es, die keinen

Aufschub duldet.«

Page 128: Im Zeichen des Mondes

»Und was wäre das?«

»Du weißt, mein König, daß die Bürgerschaft von

Myra seit je Vertrauen in mich gesetzt hat«, begann

Gorey. »Ich habe schon unter Zogor oft zwischen dem

Königshaus und den Bürgern als Vermittler gedient

und so manche Konflikte bereinigt. Als nun dein Anruf

an die Bürger Myras erging, ihr gesamtes Vermögen an

das Königshaus abzutreten, setzte man sich mit mir in

Verbindung. Ich machte den Bürgern klar, daß es in

dieser Angelegenheit keine Zwischenlösung geben

könne. Ich konnte ihnen verständlich machen, daß es

dem König in der augenblicklichen Lage unmöglich

sei, auf die Unterstützung der Bürger zu verzichten. Sie

schienen eingesehen zu haben, daß es keine

Möglichkeit gibt, die Beschlagnahmung ihres

Vermögens zu verhindern, es sei denn ...«

»Sprich schon«, verlangte Ermyas ungeduldig.

»Es sei denn, sie überlassen ihr Vermögen freiwillig

dem Königshaus«, beendete Gorey den Satz. »Einige

der Bürger haben eingesehen, daß das der

vernünftigere Weg ist und wollen heute bei dir

vorsprechen, um den Tribut bei dir abzuliefern.«

Ermyas war für einen Augenblick sprachlos vor

Überraschung.

»Vielleicht bist du doch ein besserer Kanzler, als ich

gedacht habe, Gorey«, meinte er schließlich. Er straffte

sich und sagte: »Ich werde die Abordnung der

Page 129: Im Zeichen des Mondes

Bürgerschaft empfangen und die Geschenke

annehmen. Aber laß sie meine Warnung hören: Wer

von ihnen glaubt, mir auf diese Weise auch nur einen

Silberling seines Vermögens vorenthalten zu können,

wird mit dem Tode bestraft!«

Gorey verneigte sich.

»Ich bin sicher, daß dies niemand wagen wird, mein

König.«

Diesmal suchte der Kanzler in Begleitung seiner

Dienerschaft das Haus des reichsten Mannes der Stadt

auf. Er brauchte sich nicht auf Schleichwegen hin zu

begeben, weil er vom König den Befehl zu diesem

Besuch bekommen hatte.

Doch verlief das Gespräch in den Wänden des

Hauses ganz anders, als es der König auch nur ahnen

konnte. Sämtliche Mitglieder der verschworenen

Gemeinschaft waren bereits anwesend, als Gorey

eintraf.

»Der König will euch empfangen«, erklärte der

Kanzler bei seinem Eintreffen.

Die Männer nickten zufrieden, aber ihre Gesichter

blieben ernst. Sie waren sich bewußt, daß von nun an

die Entscheidung über das Schicksal von Myra und des

gesamten myranischen Reiches auf ihren Schultern

ruhte.

»Wir können dir auch mit einer guten Nachricht

Page 130: Im Zeichen des Mondes

aufwarten«, sagte einer der Männer. »Gelogor ist

zurückgekehrt.«

»Wo ist er?« wollte Gorey wissen.

Ein großgewachsener Mann trat in den Raum, der in

die Kutte eines Wanderpriesters gekleidet war. Aber

seinem Auftreten war anzumerken, daß er die Kutte

nur vorübergehend trug und eher ein Kämpfer mit

dem Schwert als ein Verfechter eines Götzenkultes war.

Die Gruppe um Gorey, die sich gegen Ermyas

verschworen hatte, hatte sich entschlossen, sich

Gewißheit über König Zogors Schicksal zu verschaffen.

Deshalb war einer von ihnen auserwählt worden, als

Unterhändler zum Lager von Dragons Heer zu reiten.

»Nun, was hast du zu berichten. Gelogor?«

erkundigte sich Gorey.

»Ich war im Lager der Urgoriten«, berichtete der

Unterhändler, »und wurde zu Dragon vorgelassen. Er

ist ganz anders, als ihn die Geschichten beschreiben,

die man sich über ihn erzählt. Er ist kein Gott und kein

Barbar, kein Wilder und kein Weiser, sondern ein

kluger und aufrechter Mann, für den Ehre kein leeres

Wort ist.«

»Wenn man dich so reden hört, dann konnte man

meinen, daß er dich verhext hat«, warf Gorey

stirnrunzelnd ein.

»Er hat mich in seinen Bann geschlagen«, gab

Gelogor zu. »Aber er tat es nicht mit den Mitteln der

Page 131: Im Zeichen des Mondes

Zauberei, sondern allein durch seine Person. Wenn

man seit Jahren nichts anderes kennt als Hinterlist,

Verschlagenheit und Bösartigkeit, dann tut es gut,

einem Mann zu begegnen, für den das alles fremde

Begriffe sind. Ich sage euch, dieser Dragon besitzt das

Herz eines Kriegers, die Klugheit und Gerechtigkeit

eines wahrren Königs und ist verständnisvoll wie ein

Bruder.«

»Ich hoffe, die Götter haben dir ein gutes

Urteilsvermögen bei deinen Beobachtungen beschert«,

meinte Gorey. »Und hoffentlich haben sie dich deine

eigentliche Aufgabe nicht vergessen lassen.«

Gelogor schüttelte den Kopf.

»Ich habe nicht vergessen, aus welchem Grund ich

zu Dragons Heerlager ritt. Er hatte auch nichts

dagegen, daß ich mir die Mumie ansah.«

»Und?«

»Es kann keinen Zweifel geben, daß es sich um

König Zogor handelt«, erklärte Gelogor. »Aber Dragon

gab zu, daß sich Ermyas vielleicht nicht nur einbildete,

Zogor gesehen zu haben. Dragon sagte, es sei sogar

möglich, daß König Zogor noch einmal und vor einem

größeren Personenkreis in Erscheinung treten könnte.«

»Aber wenn Zogor tot ist, wie kann er in Myra in

Erscheinung treten?« fragte Gorey.

»Nicht Zogor wird erscheinen, sondern ein Dämon,

der uns glauben machen will, daß er Zogor sei«,

Page 132: Im Zeichen des Mondes

antwortete Gelogor. »Vor diesem Geschöpf müssen wir

uns in acht nehmen ...«

Ermyas saß mit der ihm eigenen Nachlässigkeit im

Thron, umgeben von seinen blonden Jünglingen,

seinen Kanzler zur Rechten.

Der junge König traute den Bürgern nicht ganz,

deshalb hatte er vorsichtshalber seine Bogenschützen

hinter den Säulen des Rundgangs Aufstellung nehmen

lassen. Zehn von ihnen hatten den Befehl, auf ein

Zeichen des Königs den Kanzler unter Beschuß zu

nehmen. Ermyas wollte endlich reinen Tisch machen

und sich in seinen Handlungen nicht mehr von dem

viel zu sanften Gorey behindern lassen.

Ermyas winkte den Kanzler heran und fragte:

»Bist du sicher, daß die Bürger ihre Haltung mir

gegenüber so plötzlich geändert haben?«

Gorey machte ein verwundertes Gesicht.

»Sie waren dir von Anfang an treu verbunden, mein

König. Warum sollten sich ihre Gefühle zu dir

gewandelt haben? Als sie von Zogors Tod hörten, war

es ihre einstimmige Meinung, daß du nun seine

Nachfolge antreten solltest.«

»Du mißverstehst mich – etwa mit Absicht?« sagte

Ermyas mit einem Lächeln, das feinen Spott zeigte.

»Das anfängliche Wohlwollen der Bürger verwandelte

sich bald nach meiner Thronbesteigung ins Gegenteil.

Page 133: Im Zeichen des Mondes

Meine Spione haben mir zugetragen, daß viele meiner

Maßnahmen vom Volk mißbilligt wurden. Deshalb

wundert es mich, daß mich die Bürger auf einmal

wieder ins Herz geschlossen haben sollen.«

»Sie lieben dich nicht, Erhabener, sie fürchten dich«,

entgegnete Gorey. »Aber da du noch nie etwas auf die

Meinung des Volkes gegeben hast, braucht es dich

nicht zu kümmern, welche Beweggründe sie haben, dir

ihr Vermögen zu Füßen zu legen.«

Ermyas preßte die Lippen so fest zusammen, daß

alles Blut aus ihnen wich. Zum erstenmal hatte Gorey

offen gegen ihn Stellung bezogen. Das zeigte, wie gut

es gewesen war, die Beseitigung des Kanzlers

vorzubereiten. Ermyas beruhigte sich wieder – es sollte

das Vorrecht der Todgeweihten sein, ihre Meinung

noch einmal frei äußern zu dürfen.

»Du hast recht, Kanzler«, sagte er deshalb mit

erzwungener Ruhe. »Für mich und Myranien ist es nur

wichtig, daß Geld in die königliche Schatzkammer

fließt. Durch das einsichtige Verhalten der Bürger

gewinne ich die nötige Zeit, die ich brauche, um ein

Heer auf die Beine zu stellen, die Dragon und seine

tausend Urgoriten in die Flucht schlagen kann. Wie

entgegenkommend von dem Barbar, seine

Hauptstreitmacht gen Norden zu schicken, um

Myranien vor den Horden der Nacht zu schützen! Er

sah sich wohl schon als König, denn er handelte, als

Page 134: Im Zeichen des Mondes

gelte es sein Reich zu verteidigen.«

»Vielleicht handelte er aber auch gar nicht aus

selbstherrlichen Motiven, sondern dachte an das Wohl

der Menschen, als er seine Krieger in den Kampf gegen

die Horden der Nacht schickte«, gab Gorey zu

bedenken.

Das hörte sich beinahe so an, als hätte der Kanzler

für den Barbar aus dem Osten Partei ergriffen! Ermyas

hätte ihn zur Rede stellen müssen, aber er ging mit

voller Absicht nicht näher darauf ein, um Goreys

Hinrichtung noch hinausschieben zu können.

»Welche Beweggründe Dragon auch gehabt haben

mag, mir kann es nur recht sein, wenn sein Heer im

Norden aufgerieben wird«, sagte Ermyas, »und wir es

nur mit einem verlorenen Haufen von tausend

Kriegern zu tun haben. Aber genug davon. Ich nehme

an, den Bürgern brennt das Gold in den Händen, und

sie wollen es so rasch wie möglich an mich loswerden.

Ich will sie also nicht länger warten lassen.«

Gorey verneigte sich vor dem jungen König und gab

den Palastwachen ein Zeichen. Die Herolde stießen in

ihre Hörner, und unter deren Klängen wurde das

riesige Tor zum Thronsaal geöffnet.

Dahinter wartete bereits die Abordnung der Bürger

mit ihren Sklaven im Gefolge.

Ermyas blickte unwillkürlich zum Rundgang hinauf,

wo sich die Bogenschützen bereithielten. Noch waren

Page 135: Im Zeichen des Mondes

sie nicht zu sehen, aber sie würden augenblicklich in

Erscheinung treten, wenn Ermyas es wollte.

»Ich glaube, wir können uns das sonst bei solchen

Anlässen übliche Zeremoniell ersparen, Kanzler«, sagte

Ermyas. »Wir würden dabei nur unnötige Zeit

verlieren. Die Bürger sollen den Tribut beim

Schatzmeister abliefern, das genügt.«

»Wie du befiehlst, Erhabener.« Gorey verneigte sich

leicht, ging zu einem der Wachkommandanten und

leitete den Befehl des Königs an ihn weiter.

Inzwischen war die Bürgerabordnung vollzählig in

den Thronsaal gekommen. Das Tor schloß sich wieder,

die Wachen postierten sich davor.

Die Bürger in ihrer bunten und kostbaren

Festtagspracht, hatten in zwei Reihen Aufstellung

genommen. Die dunkelhäutigen Sklaven, die die

schweren Truhen geschultert hatten, hielten sich im

Hintergrund.

Als der Klang der Hörner erstarb und der erste der

Bürger dem König seine Aufwartung machen wollte,

wurde er von der Palastwache zurückgedrängt und

darüber unterrichtet, daß seine persönliche Vorsprache

unerwünscht sei und er nur das Geschenk an seinen

König beim Schatzmeister abzuliefern habe.

Ermyas schien es sich in diesem Augenblick jedoch

anders überlegt haben. Er winkte den Wachtposten

zurück und beugte sich in seinem Thronsessel etwas

Page 136: Im Zeichen des Mondes

vor.

»Ah, Yazilio«, sagte er zu dem Bürger, der die

Abordnung anführte. »Man sagt über dich, daß du der

reichste Mann von Myra seist. Stimmt das?«

Yazilio, in dessen Haus sich die Verschwörer

getroffen hatten, war ein unglaublich dicker,

kahlköpfiger Mann, der das fehlende Haupthaar durch

ein Netz aus gesponnenem Gold ersetzte, in das an die

hundert edle Steine eingefaßt waren. Er verneigte sich

demütig und meinte bescheiden:

»Man sagt so vieles über mich, wobei meine Neider

ganz anderer Meinung sind als meine Gönner. Ich

selbst glaube, daß ich trotz meines Goldes ein armer

Mann wäre ohne die Großmut meines Königs.« Ermyas

meinte spöttisch: »Nennst du es großmütig, wenn ich

mich deines Reichtums bemächtige?«

»Was ich besitze, gehört auch meinem König.«

Ermyas lächelte kalt. »Dann laß sehen, was du besitzt –

und von nun an mir gehört.«

Zehn Sklaven schleppten fünf große Truhen heran,

die sie an der Treppe abstellten, die zum Thron

hinaufführte. Ermyas beleckte sich die Lippen. Wenn

diese fünf riesigen Truhen mit Goldstücken gefüllt

waren, dann konnte er allein damit zweitausend

Krieger kaufen und sie für zwei Monde entlohnen.

Aber selbst wenn es sich bei dem Inhalt der Truhen nur

um Silberlinge handelte, dann reichte er als Sold für

Page 137: Im Zeichen des Mondes

dieselbe Anzahl von Kriegern für einen Mond.

Der Schatzmeister kam herangewatschelt, und unter

seiner Aufsicht klappten die Sklaven die Deckel der

Schatztruhen zurück.

»Steine!« entfuhr es dem Schatzmeister, als er den

Inhalt der Truhen erblickte. »Wertlose Steine!« Ermyas

sprang auf die Beine und beugte sich nach vorne, um in

die Truhen blicken zu können. Für einen Moment war

er fassungslos, aber dann rötete sich sein blasses

Gesicht vor Zorn.

»Du wolltest mich hintergehen, Yazilio!« schrie er

mit sich überschlagender Stimme. »Aber damit rettest

du deine Schätze nicht und verlierst noch zusätzlich

dein Leben. Wachen, ergreift ihn!«

Aber die Wachen rührten sich nicht vom Fleck.

Ermyas begriff in diesem Augenblick noch nicht die

ganze Tragweite dieser offensichtlichen

Befehlsverweigerung. Er machte eine Handbewegung,

die von den Bogenschützen auf dem Rundgang

gesehen werden mußte. Aber kein Pfeil schnellte von

der Sehne.

»Ich habe nicht gelogen, als ich behauptete, alles was

mein ist, gehöre auch meinem König«, sagte Yazilio

würdevoll. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Haß,

und er spie die folgenden Worte förmlich aus: »Nur

erkenne ich dich nicht mehr als meinen König an.

Ermyas.«

Page 138: Im Zeichen des Mondes

Ermyas wurde blaß. Er griff nach seinem Schwert,

um Yazilio eigenhändig zu töten. Doch bevor er es

noch aus der Scheide ziehen konnte, ertönte aus dem

Hintergrund des Thronsaales eine donnerartige

Stimme, die allen vertraut war.

»Yazilio verleugnet dich mit Recht, Ermyas. Denn

solange ich lebe, hast du keinen Anspruch auf den

Thron von Myranien.«

»Zogor!«

Zogor, den alle für tot gehalten hatten schritt

hoheitsvoll durch die Gasse, die sich zwischen den

zurückweichenden Bürgern bildete. Er kam so nahe an

ihnen vorbei, daß sie alle Einzelheiten an ihm erkennen

konnten – und keiner an ihnen zweifelte, daß das

Wesen, das vor ihren Augen den Thronsaal

durchquerte, ganz genau so aussah wie König Zogor.

Ermyas stieß einen Wutschrei aus und zückte sein

Schwert. Vergessen war die Demütigung des reichen

Yazilio, vergessen auch die Befehlsverweigerung der

Palastwachen und der Bogenschützen. In dem jungen

König wurden wieder die Erlebnisse jener beiden

Nächte wach, in denen er gegen Zogor gekämpft und

in denen er ihn auch getötet hatte.

»Wie viele Leben hast du noch, Zogor!« schrie

Ermyas, außer sich vor Haß und Wut. »Wie oft muß ich

dich noch töten, um Ruhe vor dir zu haben.«

Die Zogorgestalt hatte ebenfalls das Schwert

Page 139: Im Zeichen des Mondes

gezogen.

»Ich bin nicht gekommen, um mich vor dir töten zu

lassen, Ermyas, sondern um als rechtmäßiger König

den Thron zu besteigen. Und diesmal werde ich keine

Gnade kennen. Dein Blut soll fließen, Ermyas!«

Gorey mußte sich in Erinnerung rufen, was ihm

Gelogor berichtet hatte, um standhaft zu bleiben. Er

glaubte wirklich und wahrhaftig, König Zogor vor sich

zu haben. Er sah aus wie Zogor, sprach mit der Stimme

Zogors und bewegte sich wie Zogor.

Aber Gelogor hatte die Mumie gesehen und

geschworen, daß es sich um König Zogor handelte.

Gorey durfte sich nicht täuschen lassen, er mußte

seinen kühlen Verstand bewahren und jeden seiner

Schritte vorher reiflich überlegen.

Es war so gekommen, wie Dragon es Gelogor

vorausgesagt hatte. Die Zogorgestalt war im

Augenblick der Entscheidung aufgetreten, um die

größtmögliche Wirkung zu erzielen. Fast alle im

Thronsaal standen gegen Ermyas. Gorey hatte es

wohlweislich so eingerichtet, daß nur Männer seines

Vertrauens an diesem Tage für die Palastwache

eingeteilt wurden. Die anderen Palastsoldaten, die

seinem Wort gehorchten, hatten Ermyas

Bogenschützen schon vorher überwältigt und deren

Page 140: Im Zeichen des Mondes

Plätze eingenommen. Damit wollte Gorey alle

Voraussetzungen für einen unblutigen Sturz des

Königs schaffen.

Aber er hatte auch mit der Möglichkeit gerechnet,

daß Dragons Voraussage zutraf und der Dämon in der

Zogorgestalt auf den Plan trat, und hatte seine Männer

darauf vorbereitet.

Als er Zogor jetzt allerdings vor sich sah, kamen ihm

Zweifel, daß es sich um einen Dämon handelte. War es

nicht möglich, daß Zogor doch noch lebte, obwohl man

ihn tausendfach totgesagt hatte?

Gorey verscheuchte seine Gedanken, um sich durch

sie nicht von den Geschehnissen ablenken zu lassen.

Ermyas war die Stufen heruntergesprungen, griff in

eine der Truhen, die Yazilios Sklaven herangeschleppt

hatten, und holte einen schweren Stein heraus, den er

nach Zogor schleuderte. Zogor wich dem Geschoß aus,

und Gorey war es, als hätte er gesehen, daß Zogors

Umhang davonwirbelte, als besäße er ein eigenes

Leben. Wenn sich Gorey nicht geirrt hatte, dann

stimmte seine Beobachtung mit Dragons Aussage

überein, der Gelogor versichert hatte, daß der Dämon

in der Zogorgestalt auch seine Kleider aus seinem

Körper formte.

Die Zogorgestalt wich einem Schwertstreich

Ermyas‘ geschickt aus, täuschte dann einen Angriff von

links vor, wirbelte das Schwert jedoch über den Kopf

Page 141: Im Zeichen des Mondes

und ließ es von der rechten Seite auf Ermyas

niedersausen. Der junge König konnte den Schlag zwar

parieren, aber durch die Wucht des Aufschlags wurde

ihm das Schwert aus der Hand geschlagen. Er selbst

stolperte über eine der Truhen hinter sich und fiel zu

Boden.

Noch ehe er auf die Beine kommen konnte, war die

Zogorgestalt über ihm.

»Ich werde dir nicht die Ehre antun, dich durch die

Waffe sterben zu lassen«, rief Zogor und ließ das

Schwert fallen. »Ich werde dich erwürgen wie einen

räudigen Wolf!«

Ermyas schrie auf, als sich Zogors Hände um seinen

Hals legten und zudrückten. Der Schrei ging in ein

Gurgeln und Röcheln über, das immer leiser wurde

und schließlich erstarb. Ermyas war tot.

Die Zogorgestalt erhob sich und drehte sich zu den

Versammelten um. Gorey stellte fest, daß Zogor vom

Kampf überhaupt nicht gezeichnet war. Obwohl er

eine beachtliche Leibesfülle hatte, schien ihn die

Auseinandersetzung überhaupt keine Anstrengung

gekostet zu haben – er atmete nicht einmal schneller als

sonst.

Zogor wies seine Hände vor und sagte:

»Seht her, ich habe mich nicht mit dem Blut meines

Neffen beschmutzt. Ich habe reine Hände‘, auch wenn

ich damit getötet habe. Das ist ein Zeichen der Götter,

Page 142: Im Zeichen des Mondes

das richtig gedeutet werden soll. Die Götter wollen

damit sagen, daß ich mir reine Hände bewahrt habe,

als ich die inneren Feinde Myras auslöschte. Aber das

soll auch heißen, daß ich meine Hände nun im Blut der

Feinde baden muß, die aus dem Osten gegen unsere

Stadt ziehen.«

Die Bürger standen unschlüssig da. Sie wußten

offensichtlich nicht, wie sie sich zu verhalten hatten.

Nicht anders erging es den Palastwachen, die

geschlossen hinter Gorey standen, von diesem jedoch

keinen Befehl zum Handeln erhielten.

Gorey überlegte sich fieberhaft, wie er Zogor prüfen

konnte, um eindeutig herauszufinden, ob es sich um

den Dämon handelte.

Zogor nützte das Schweigen, um einen flammenden

Aufruf an seine Untertanen zu richten.

»Feiert ihr so die Rückkehr eures Königs? Sinkt

nieder und dankt den Göttern, daß sie mich am Leben

ließen, obwohl rings um mich Tausende meiner

Krieger starben. Dies soll ein Freudentag für Myra

werden, denn ich werde euch heute zum Sieg über die

Barbaren aus dem Osten führen.«

Gorey sah, wie sich einige der Wachen in Bewegung

setzten. Es waren fünf Männer, die ihre Schwerter

gezückt hatten und Fackeln in den Händen trugen. An

ihrer Spitze erkannte er Gelogor.

Er riß die anderen aus ihrer Erstarrung, als er rief:

Page 143: Im Zeichen des Mondes

»Du kannst nicht Zogor sein, denn ich habe den

Leichnam unseres Königs gesehen. Du bist ein Dämon

in Zogors Gestalt, der uns heimsucht, um Verderben

über unsere Stadt zu bringen.«

»Wer bist du, daß du es wagst, an mir zu zweifeln!«

rief die Zogorgestalt aufgebracht.

»Ich werde solange an dir zweifeln, bis du die

Feuerprobe bestanden hast!« erwiderte Gelogor.

Er sprang plötzlich und unerwartet, nach vorne und

stieß die Fackel nach der Zogorgestalt ...

Als Cnossos die Flammen auf sich zukommen kam,

die Hitze gegen sein Gesicht schlagen spürte, wich er

mit einem Entsetzensschrei zurück. Er fürchtete nichts

so sehr auf dieser Welt wie das Feuer, denn es war das

einzige Element, das ihm gefährlich werden konnte.

Die Furcht davor, daß das Feuer ihn versengen

konnte, ließ ihn für kurze Zeit die Herrschaft über

seinen Körper verlieren. In seinem Gesicht zuckte es

und es schien langsam zu zerfließen. Zu spät merkte er,

daß er sich eine Blöße gegeben hatte. Die Umstehenden

hatten die Veränderung bemerkt, die in seinem Gesicht

vor sich gegangen war, und jetzt kam auch Bewegung

in sie. Sie drangen mit ihren Waffen auf ihn ein,

bedachten ihn mit Schmährufen und verfluchten ihn.

Cnossos sah sein Spiel endgültig verloren. Er

erkannte, daß er alle Trümpfe verloren hatte und daß

er sich nur noch durch Flucht retten konnte.

Page 144: Im Zeichen des Mondes

Die Schwertstiche und die Pfeile, die sich in seinen

Körper bohrten, spürte er kaum. Aber da war immer

noch das Feuer der Fackeln, das ihn ernstlich bedrohte.

Er ließ sich Klauen wachsen und verteidigte sich so gut

es ging, während er darauf wartete, daß seine

Geierschwingen ihre endgültige Form erhielten und

stark genug waren, ihn davonzutragen.

Cnossos konnte zwei der Fackelträger töten. Aber

kaum hatte er sie ausgeschaltet, traten andere an ihre

Stelle, die ihn mit dem Feuer bedrängten. Er

erschauerte unter dem furchtbaren Schmerz, den die

Flammen seinem Körper verursachten, wenn sie über

ihn hinwegzüngelten.

Cnossos dachte nur daran, sich endlich in Sicherheit

zu bringen. Als seine Schwingen endlich soweit

gediehen waren, daß er sich auf ihnen erheben konnte,

brachte er sich aus dem Gefahrenbereich. Aber jetzt, da

er in Sicherheit war, als furchtbare Gestalt, halb Geier,

halb Zogor, über seinen Feinden schwebte, da wurde

der Wunsch nach Rache in ihm übermächtig.

»Ihr habt euch gegen die Götter versündigt«,

schmetterte er den Männern unter sich entgegen.

»Dieser Frevel bleibt nicht ungesühnt! Euch wird eine

Strafe treffen, die furchtbarer sein wird als ihr erahnen

könnt. Ich schicke euch die Schrecken der Meere, die

Myra überrennen, plündern und dem Erdoben

gleichmachen werden. Wenn sie wieder abziehen, wird

Page 145: Im Zeichen des Mondes

dies eine Stätte des Todes sein.«

Mit diesen Worten flog die furchterregende

Geiergestalt durch eines der hohen Fenster und

verschwand.

Dragon wartete an der Spitze seines tausend Mann

starken Heeres vor dem Osttor von Myra. Dort war

eine Abteilung von Bürgern und Adeligen erschienen,

von der sich ein einzelner Reiter löste und ohne

besondere Eile herangeritten kam.

»Jetzt wirst du König von Myranien«, sagte Yina

dumpf, die mit ihrem Pferd an Dragons Seite stand.

Dragon gab keine Antwort. Es stimmte, er hatte auf

allen Linien gesiegt. Aber das war nicht sein

persönliches Verdienst, sondern der Sieg einer durch

die Bande der Freundschaft zusammengehaltenen

Gemeinschaft.

Von Kim hatte Dragon schon am Morgen dieses

Tages erfahren, daß Parthos und Agrions Truppen die

Horden der Nacht besiegt hatten und daß die Verluste

in den eigenen Reihen weit unter den Erwartungen

geblieben waren. Allerdings hatte Kims Bruder Kano,

der mit Parthos Streitmacht nach Norden gezogen war,

noch keine Angaben über das Schicksal ihrer Freunde

machen können. Partho und Agrion hatten den Kampf

überlebt, aber was aus Nabib, Sardak, Bodo und den

anderen geworden war, darüber hatte Kano nichts

Page 146: Im Zeichen des Mondes

aussagen können.

»Wirst du, da du nun König von Myranien wirst,

Amee zur Frau nehmen. Dragon?« erkundigte sich

Yina.

Dragon lächelte ihr zu, gab jedoch keine Antwort. Er

blickte sich kurz zu dem Krieger um, der dicht hinter

ihm stand und einen Vogelkäfig in der Hand hielt.

Darin war eine weiße Brieftaube, die mit Dragons

Botschaft nach Urgor zu Amee fliegen würde. Er wollte

die Botschaft jedoch erst abschicken, bis sich alles

entschieden hatte.

Das würde in wenigen Minuten sein, bis der

einzelne Reiter aus Myra ihn erreicht hatte. Dragon

konnte schon Einzelheiten an ihm erkennen – es war

Gelogor, der Abgesandte des Kanzlers, der schon

einmal in sein Lager gekommen war, um sich von der

Echtheit der Königsmumie zu überzeugen.

Gelogor zügelte sein Pferd wenige Schritte vor

Dragon. Er schwang sich aus dem Sattel, ging vor

Dragon auf die Knie und senkte das Haupt.

»Verfügt über Myra und über Myranien und dessen

Bewohner. Herr«, sagte er feierlich. »Gorey erwartet

euch mit seinem Gefolge und den Daikanen, um euch

die Stadt und den Thron anzubieten.«

»Danke«, sagte Dragon nur und ließ Gelogor wieder

sein Pferd besteigen.

»Wie wirst du dich entscheiden. Dragon?« fragte

Page 147: Im Zeichen des Mondes

Yina.

Er tippte ihr mit dem Finger auf die Nase und

meinte lächelnd:

»Sei nicht so neugierig, kleine Maus und unterstehe

dich, in meinen Gedanken zu forschen.«

Sie beobachtete, wie er eine Nachricht aus der

Tasche holte, sie an das Bein der Brieftaube band und

die Tür des Vogelkäfigs öffnete. Die Brieftaube flatterte

heraus und flog in Richtung Osten davon.

Trotz des Verbots konnte Yina der Versuchung nicht

widerstehen. Sie drang vorsichtig in Dragons

Gedanken ein.

Komm bitte nach Myra, liebe Amee, und werde

meine Frau ... Jetzt erst bin ich würdig, um deine Hand

anzuhalten ... Es wird eine Ehe aus Liebe, aber auch

eine Ehe zwischen Urgor und Myranien ...

Zum erstenmal in ihrem Leben wurde Yina neidisch

auf das Glück anderer Menschen.

»Endlich«, sagte Kim, als sie sich in Bewegung

setzten und auf Myra losritten. »Endlich ist diese

Schlafmütze aufgewacht. Kano hat den ganzen lieben

langen Tag verschlafen.«

»Hast du Verbindung zu ihm?« fragte Yina

aufgeregt. »Was sagt er? Sind alle wohlauf? Nabib,

Sardak und ...«

»Und Bodo«, fügte Kim hinzu. »Keinem von ihnen

ist ein Härchen gekrümmt worden.«

Page 148: Im Zeichen des Mondes

»Und?« drängte Yina. »Hast du mir nichts von Kano

auszurichten?«

»Von ihm nichts«, antwortete Kim »Aber dafür von

Bodo. Er läßt dir sagen, daß er dich mag ...«

Yina war auf einmal viel gelöster, und sie konnte

sich selbst nicht verstehen, daß sie eben noch auf das

Glück der anderen neidisch gewesen war. Plötzlich war

ihr jedoch, als stürze sie in einen endlosen Abgrund.

Kims Worte drangen wie von Ferne durch einen

dichten Nebel zu ihr, als er fortfuhr:

»Aber Bodo wird nicht nach Myra kommen. Das

Leben unter so vielen Menschen behagt ihm nicht, er

braucht die endlose Weite und die Einsamkeit des

Wolfslandes ...«

Yina nahm an diesem Tag kaum noch wahr, was um

sie vorging. Es war alles so wie in einem Traum ... als

sie auf die Abgeordneten von Myra trafen ... in

Triumph in die Stadt einritten ... von den Bewohnern

als Befreier gefeiert wurden.

Aber Yina weinte nicht. Tapfer unterdrückte sie die

Tränen.

ENDE

Die Entscheidung vollzog sich im Zeichen des Mondes, und

dem Atlanter, dessen Verbündete die Horden der Nacht

bezwangen, fiel Myra, des toten Königs Zogor mächtige

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Kapitale, kampflos in die Hand.

Wie Dragon, der neue König von Myranien, die Früchte

seines Sieges nutzt, wird erst die Zukunft erweisen. Wir

blenden jetzt um zu den Himmelsbergen und ihren

mächtigen Bewohnern, die einen Racheakt des Cnossos

erleben.

Schauplatz des düsteren Geschehens ist DAS TAL DER

DRACHEN ...

DAS TAL DER DRACHEN so heißt auch der Titel des

nächsten Dragon-Bandes. Als Verfasser des Romans

zeichnet William Voltz.


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