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Psychiatrischer Beitrag

Date post: 23-Dec-2016
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1 3 JOURNAL CLUB Die Zahl der Patienten, die gemäß § 63 StGB in forensisch- psychiatrischen Einrichtungen untergebracht sind, steigt seit Jahren kontinuierlich an. Obschon die jährlichen Ein- weisungen, die lange Zeit ebenfalls zunahmen, sich in den letzten Jahren leicht rückläufig gezeigt haben, ist die Anzahl untergebrachter Patienten weiter deutlich gewachsen, was für eine erhebliche Steigerung der durchschnittlichen Ver- weildauer im Maßregelvollzug spricht. Dieser Trend ist nicht nur in Deutschland, sondern europaweit zu beobach- ten. Daten, die Priebe et al. [1] bereits 2005 veröffentlich- ten, zeigen einen Zuwachs der forensischen Betten seit den 1990er-Jahren auch in England, Italien, Schweden, Spanien und in den Niederlanden. Die Hintergründe der steigenden Auslastung des psychia- trischen Maßregelvollzugs sind vielschichtig und komplex. Häufig wird ein erhöhtes Sicherheits- und Schutzbedürfnis der Bevölkerung, verbunden mit politischem Druck, für die konservativere Unterbringungs- und Entlassungspra- xis vonseiten der Gerichte und Gutachter verantwortlich gemacht [2]. Zudem sehen verschiedene Autoren [z. B. 3] einen Zusammenhang der steigenden Belegungszahlen im Maßregelvollzug mit dem gleichzeitig seit Jahren erfolgen- den Abbau allgemeinpsychiatrischer Versorgungsstruktu- ren. Allgemeinpsychiatrische Behandlungsplätze waren in den letzten Jahren stark von Kürzungen betroffen, und die durchschnittlichen Behandlungszeiten in allgemeinpsychi- atrischen Einrichtungen haben sich über die Jahre hinweg kontinuierlich verringert. Aus diesen Gründen kann mögli- cherweise eine Subgruppe von Patienten mit hohem Risiko für Straftaten nicht mehr adäquat behandelt werden und fällt aus der psychiatrischen Regelversorgung heraus. Neben den rechtlichen oder allgemein gesellschaftlichen Aspekten sind auch personenbezogene Merkmale wich- tige Faktoren, die die Einweisungs- und Entlasszahlen im Bereich des Maßregelvollzugs beeinflussen. Ross et al. [4] legten nun eine aktuelle Untersuchung zu biografischen und klinischen Variablen vor, die eine wichtige Rolle bezüg- lich Unterbringungsdauer und Entlasswahrscheinlichkeit spielen. Auf Basis einer Stichprobe von 1043 Patienten, die in 6 forensisch-psychiatrischen Einrichtungen gemäß § 63 des Strafgesetzbuches (StGB) untergebracht worden waren, untersuchten die Autoren den Zusammenhang zwischen verschiedenen psychosozialen Variablen und der Unterbrin- gungsdauer. Aus der Literatur waren folgende Prädiktoren bekannt: registrierte Vorstrafen, Art und Schweregrad des Indexdelikts sowie die psychiatrische Hauptdiagnose. Diese Prädiktoren sollten repliziert und zugleich weitere, bislang unbekannte Prädiktoren für die Entlasswahrscheinlichkeit identifiziert werden. Dazu bildeten die Autoren aus der Gesamtstichprobe anhand der Behandlungszeit 2 Subgruppen: Patienten der ersten Subgruppe waren zum Erhebungszeitpunkt seit mindestens 10 Jahren untergebracht (Langzeitpatienten, n = 160), Patienten der zweiten Subgruppe hingegen waren nach maximal 48-monatiger Unterbringungsdauer mit einer positiven Legalprognose nach § 67d Abs. 2 StGB entlassen worden (Kurzzeitpatienten, n = 96). Mithilfe eines compu- terbasierten forensischen Dokumentationssystems wurden persönliche, juristische und klinische Daten der Patienten durch behandelnde Ärzte oder Psychologen erhoben. Auf allen Ebenen des Dokumentationssystems wurden schließ- lich die beiden Subgruppen miteinander verglichen. Die- jenigen Variablen, in denen sich die beiden Subgruppen Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2013) 7:300–301 DOI 10.1007/s11757-013-0243-2 Psychiatrischer Beitrag Einflussfaktoren auf die Unterbringungszeit im psychiatrischen Maßregelvollzug (§ 63 StGB) Julia Sieß Dipl.-Psych. J. Sieß () Institut für Forensische Psychiatrie, LVR-Klinikum Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] Online publiziert: 8. Oktober 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
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Journal Club

Die Zahl der Patienten, die gemäß § 63 StGb in forensisch-psychiatrischen Einrichtungen untergebracht sind, steigt seit Jahren kontinuierlich an. obschon die jährlichen Ein-weisungen, die lange Zeit ebenfalls zunahmen, sich in den letzten Jahren leicht rückläufig gezeigt haben, ist die Anzahl untergebrachter Patienten weiter deutlich gewachsen, was für eine erhebliche Steigerung der durchschnittlichen Ver-weildauer im Maßregelvollzug spricht. Dieser Trend ist nicht nur in Deutschland, sondern europaweit zu beobach-ten. Daten, die Priebe et al. [1] bereits 2005 veröffentlich-ten, zeigen einen Zuwachs der forensischen betten seit den 1990er-Jahren auch in England, Italien, Schweden, Spanien und in den niederlanden.

Die Hintergründe der steigenden auslastung des psychia-trischen Maßregelvollzugs sind vielschichtig und komplex. Häufig wird ein erhöhtes Sicherheits- und Schutzbedürfnis der bevölkerung, verbunden mit politischem Druck, für die konservativere unterbringungs- und Entlassungspra-xis vonseiten der Gerichte und Gutachter verantwortlich gemacht [2]. Zudem sehen verschiedene autoren [z. b. 3] einen Zusammenhang der steigenden belegungszahlen im Maßregelvollzug mit dem gleichzeitig seit Jahren erfolgen-den abbau allgemeinpsychiatrischer Versorgungsstruktu-ren. allgemeinpsychiatrische behandlungsplätze waren in den letzten Jahren stark von Kürzungen betroffen, und die durchschnittlichen behandlungszeiten in allgemeinpsychi-atrischen Einrichtungen haben sich über die Jahre hinweg kontinuierlich verringert. aus diesen Gründen kann mögli-cherweise eine Subgruppe von Patienten mit hohem risiko

für Straftaten nicht mehr adäquat behandelt werden und fällt aus der psychiatrischen regelversorgung heraus.

neben den rechtlichen oder allgemein gesellschaftlichen aspekten sind auch personenbezogene Merkmale wich-tige Faktoren, die die Einweisungs- und Entlasszahlen im Bereich des Maßregelvollzugs beeinflussen. Ross et al. [4] legten nun eine aktuelle Untersuchung zu biografischen und klinischen Variablen vor, die eine wichtige rolle bezüg-lich unterbringungsdauer und Entlasswahrscheinlichkeit spielen. auf basis einer Stichprobe von 1043 Patienten, die in 6 forensisch-psychiatrischen Einrichtungen gemäß § 63 des Strafgesetzbuches (StGb) untergebracht worden waren, untersuchten die autoren den Zusammenhang zwischen verschiedenen psychosozialen Variablen und der unterbrin-gungsdauer. aus der literatur waren folgende Prädiktoren bekannt: registrierte Vorstrafen, art und Schweregrad des Indexdelikts sowie die psychiatrische Hauptdiagnose. Diese Prädiktoren sollten repliziert und zugleich weitere, bislang unbekannte Prädiktoren für die Entlasswahrscheinlichkeit identifiziert werden.

Dazu bildeten die autoren aus der Gesamtstichprobe anhand der behandlungszeit 2 Subgruppen: Patienten der ersten Subgruppe waren zum Erhebungszeitpunkt seit mindestens 10 Jahren untergebracht (Langzeitpatienten, n = 160), Patienten der zweiten Subgruppe hingegen waren nach maximal 48-monatiger unterbringungsdauer mit einer positiven legalprognose nach § 67d abs. 2 StGb entlassen worden (Kurzzeitpatienten, n = 96). Mithilfe eines compu-terbasierten forensischen Dokumentationssystems wurden persönliche, juristische und klinische Daten der Patienten durch behandelnde Ärzte oder Psychologen erhoben. auf allen Ebenen des Dokumentationssystems wurden schließ-lich die beiden Subgruppen miteinander verglichen. Die-jenigen Variablen, in denen sich die beiden Subgruppen

Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2013) 7:300–301DoI 10.1007/s11757-013-0243-2

Psychiatrischer BeitragEinflussfaktoren auf die Unterbringungszeit im psychiatrischen Maßregelvollzug (§ 63 StGB)

Julia Sieß

Dipl.-Psych. J. Sieß ()Institut für Forensische Psychiatrie,lVr-Klinikum Essen, Essen, DeutschlandE-Mail: [email protected]

online publiziert: 8. oktober 2013© Springer-Verlag berlin Heidelberg 2013

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signifikant voneinander unterschieden, wurden in eine logistische regressionsanalyse eingespeist.

Die Ergebnisse fielen folgendermaßen aus: Patienten, die nach maximal 48 Monaten entlassen wurden, lebten häufiger in engen Beziehungen als die Langzeitpatienten. Die Kurzzeitpatienten waren durch höhere schulische und berufliche Qualifikationen gekennzeichnet. Vor der Unter-bringung hatten diese Patienten insgesamt länger und auch häufiger vor der Erstdiagnose einer psychiatrischen Erkran-kung gearbeitet. Kurzzeitpatienten wiesen häufiger einen Migrationshintergrund auf als langzeitpatienten.

Die unterbringung im Maßregelvollzug war für die Kurzzeitpatienten häufiger die erstmalige Aufnahme in der forensischen Psychiatrie. langzeitpatienten hatten bei Erstaufnahme in die forensische Psychiatrie und in die all-gemeinpsychiatrie ein jüngeres alter. auch bei der ersten Delinquenz waren die langzeitpatienten jünger. Parallele und auch bisherige Haftstrafen fielen bei den Langzeitpa-tienten länger aus.

Der anteil der Patienten mit einer Erkrankung aus dem psychotischen Formenkreis als Hauptdiagnose war bei den Kurzzeitpatienten häufiger als bei den Langzeitpatienten. Daher war bei Kurzzeitpatienten auch häufiger von einer Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGb ausgegangen worden. bei den langzeitpatienten lagen dagegen öfter Persön-lichkeitsstörungen oder geistige behinderung vor. Zudem hatten sie eher schwere Straftaten, darunter Tötungs- und Sexualdelikte, begangen, während Kurzzeitpatienten häufi-ger Körperverletzungsdelikte verübt hatten.

Die Gruppen unterschieden sich nicht in den Variablen arbeitstätigkeit nach Diagnose der psychischen Störung und arbeitstätigkeit innerhalb von 6 Monaten vor dem anlassdelikt. auch in der Zahl der Verurteilungen bzw. der Zahl der aufenthalte in der allgemeinpsychiatrie sowie in der Zahl früherer Entzugs- oder Entgiftungsbehandlungen wurden keine unterschiede ermittelt.

Fünfzehn Variablen, in denen sich die Gruppen signifi-kant voneinander unterschieden, wurden in eine logistische regressionsanalyse aufgenommen. Die beste Modellgüte mit einer Varianzaufklärung von 75 % besaß das „back-ward-stepwise“-regressionsmodell. als Prädiktoren für die Gruppenzugehörigkeit erwiesen sich folgende Variablen: die Diagnosegruppe, darunter hauptsächlich Cluster-b-Per-sönlichkeitsstörungen und andere Persönlichkeitsstörun-gen, der Migrationshintergrund, das Hauptdelikt, darunter v. a. Tötungsdelikte sowie Sexualdelikte gegen Kinder, die Schuldfähigkeit, die Dauer der parallelen Haftstrafe, das lebensalter bei dokumentierter Erstdelinquenz, die lebens-situation zum Zeitpunkt des Indexdelikts, das Vorliegen einer abgeschlossenen berufsausbildung sowie die Dauer der arbeitstätigkeit vor unterbringung in der forensischen Klinik. Insgesamt konnten damit 87 % der Patienten den beiden Subgruppen korrekt zugewiesen werden.

Die Ergebnisse sind im Einklang mit bisherigen Stu-dien zu sehen [5]. Demnach findet sich im psychiatrischen Maßregelvollzug eine Gruppe mit akuten psychiatrischen Erkrankungen und einem relativ hohen niveau an primärer Sozialisation, die recht gute Chancen auf eine vergleichbar kurze unterbringungsdauer hat. Dem steht eine Gruppe mit schweren Entwicklungs- und Sozialisationsdefiziten gegen-über, deren aussichten auf eine Entlassung in einem über-schaubaren Zeitraum deutlich geringer sind.

Überraschend erscheint, dass der Migrationshintergrund einer Person in dieser Studie ebenfalls einen wichtigen Prä-diktor für eine kurze unterbringungsdauer darstellte. Da in die Studie nur Patienten einbezogen wurden, die mit einer positiven legalprognose entlassen worden waren, kann dieses Ergebnis nicht auf eine entsprechende abschie-bungspraxis zurückgeführt werden, zumal die Definition des Migrationshintergrunds unabhängig von der Staatsan-gehörigkeit erfolgte. Dabei war dieser Prädiktor wiederum mit der psychiatrischen Hauptdiagnose konfundiert, da bei Migranten häufiger Psychosen und seltener Persönlichkeits-störungen diagnostiziert wurden. aber auch innerhalb der untergruppe psychotisch erkrankter Maßregelpatienten hatten Migranten eine höhere Wahrscheinlichkeit, nach ver-gleichsweise kurzer unterbringungszeit entlassen zu wer-den. Möglicherweise erklärt sich dies durch unterschiedliche Einweisungspraktiken. Prognostische unsicherheiten, die sich etwa aus sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten oder anamnestischen lücken (z. b. mangelnde Informatio-nen über Vorbehandlungen) ergeben, könnten dazu geführt haben, dass hier auch Patienten mit einer eher geringen Gefährlichkeit untergebracht worden waren.

Literatur

1. Priebe S, badesconyi a, Fioritti a, Hansson l, Kilian r, Torres-Gonzales F, Turner T, Wiersma D (2005) reinstitutionalisation in mental health care: comparison of data on service provision from six European countries. bMJ 330(7483):123–126

2. Seifert D, Schiffer b, bode G (2005) Forensische nachsorge – un-verzichtbar, wenn es um die Entlassung eines psychisch kranken rechtsbrechers geht. nStZ 25:125–128

3. Schalast n (2012) Delinquenzrisiken psychisch Kranker und sta-tionäre behandlung. recht & Psychiatrie 30:79–185

4. Ross T, Hoffmann K, Querengässer J (2013) Rechtliche und psy-chosoziale Einflussfaktoren auf die Behandlungszeit von Patienten in forensisch-psychiatrischen Einrichtungen nach § 63 StGb. Fo-rens Psychiatr Psychother 20:62–81

5. Schalast n, Seifert D, leygraf n (2007) Patienten des Maßregel-vollzugs gemäß § 63 StGb mit geringen Entlassungsaussichten. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1:34–42


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