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Persönliche PDF-Datei für - Bodenseekreis€¦ · „Euthanasie“ seitens des Innenministeriums...

Date post: 18-Oct-2020
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Persönliche PDF-Datei für www.thieme.de Dieser elektronische Sonderdruck ist nur für die Nutzung zu nicht-kommerziellen, persönlichen Zwecken bestimmt (z. B. im Rahmen des fachlichen Austauschs mit einzelnen Kollegen und zur Ver- wendung auf der privaten Homepage des Autors). Diese PDF-Datei ist nicht für die Einstellung in Repositorien vorgesehen, dies gilt auch für soziale und wissenschaftliche Netzwerke und Plattformen. Mit den besten Grüßen vom Georg Thieme Verlag Verlag und Copyright: Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14 70469 Stuttgart ISSN Nachdruck nur mit Genehmigung des Verlags
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Page 1: Persönliche PDF-Datei für - Bodenseekreis€¦ · „Euthanasie“ seitens des Innenministeriums der Leiter des Württembergischen Gesundheitsdienstes, Ministerialrat Eugen Stähle,

Persönliche PDF-Datei für

www.thieme.de

Dieser elektronische Sonderdruck ist nur für die Nutzung zu nicht-kommerziellen, persönlichen Zwecken bestimmt (z. B. im Rahmen des fachlichen Austauschs mit einzelnen Kollegen und zur Ver-wendung auf der privaten Homepage des Autors).Diese PDF-Datei ist nicht für die Einstellung inRepositorien vorgesehen, dies gilt auch für sozialeund wissenschaftliche Netzwerke und Plattformen.

Mit den besten Grüßen vom Georg Thieme Verlag

Verlag und Copyright:

Georg Thieme Verlag KGRüdigerstraße 1470469 StuttgartISSN

Nachdruck nur mit Genehmigung des Verlags

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EinleitungIm September 1939 wurden, wie in der umfangreichen Litera-tur beschrieben [1, 2], mit Ermächtigungsschreiben von AdolfHitler der Chef der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, undKarl Brandt, Begleitarzt Hitlers, beauftragt, die „T4“-Zentralein der Berliner Tiergartenstraße 4 aufzubauen, um die Ermor-dung psychisch Kranker und Behinderter im Deutschen Reichumzusetzen. Daraufhin wurden von der Medizinzentralverwal-tung beim Reichsministerium des Inneren unter Leitung vonStaatssekretär Dr. Leonardo Conti bzw. dessen „UnterabteilungErb- und Rassenpflege“ mit ihrem für das Anstaltswesen desReichs verantwortlichen Medizinalrat Herbert Linden die öf-fentlichen und privaten Anstalten im September 1939 ange-schrieben und aufgefordert, mittels Meldebögen alle psychisch

Kranken und Behinderten im Reich, die sich in Anstalten befan-den, zu erfassen. Die jeweiligen Innenministerien der Länderwurden angewiesen, den Rücklauf der Fragebögen aus den Lan-des- und Privatanstalten zu überwachen und diese an die „T4“-Zentrale zu übermitteln, wo die „T4“-Gutachter anhand dieserAkten über Leben und Tod entschieden. Die erste Tötungsan-stalt im Deutschen Reich war Grafeneck, in der von Januar1940 bis Dezember 1940 nach aktuellem Stand 10654 psy-chisch Kranke und Behinderte ermordet wurden. Der größteTeil der Opfer stammte aus den Heil- und Pflegeanstalten Weis-senau, Zwiefalten und Schussenried, die auch als Zwischenan-stalten für die anderen Anstalten in Baden und Württembergfungierten. Das industrielle Morden in Grafeneck endete im De-zember 1940 aufgrund der Intervention von SS-Führer HeinrichHimmler. Ursache hierfür waren zum einen Proteste in der Be-

Der Umgang mit Angehörigen der Opfer der Aktion „T4“durch die NS-Behörden und die Anstalten in Württemberg

Dealing with Relatives of the Victims of the „Aktion T4“ by theNational Socialist Institutions as well as by WuerttembergAsylums

Autoren

Paul-Otto Schmidt-Michel, Thomas Müller

Institut

Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Ravensburg

Schlüsselwörter

Psychiatriegeschichte, Nationalsozialismus, „Euthanasie“-

Aktion „T4“, Angehörige, NS-Bürokratie

Keywords

history of psychiatry, National Socialism, „euthanasia“

campaign „T4“, relatives, National Socialist bureaucracy

Bibliografie

DOI https://doi.org/10.1055/s-0044-100193

Online-Publikation: 23.1.2018 | Psychiat Prax 2018; 45:

126–132

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

ISSN 0303-4259

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Paul-Otto Schmidt-Michel, Zentrum für

Psychiatrie Südwürttemberg, Weingartshofer Straße 2,

88214 Ravensburg – Weissenau

[email protected]

ZUSAMMENFASSUNG

Die Rolle der Angehörigen im Rahmen der „Euthanasie“-Ak-

tion „T4“ ist in den letzten Jahren kontrovers diskutiert wor-

den. Anhand von Dokumenten der NS-Bürokratie, Stellung-

nahmen der Anstaltspsychiater aus dem Jahr 1945 an die

französische Besatzungsmacht und Briefen von Angehöri-

gen an die Heilanstalt Weissenau/Württemberg werden

diese Quellen unter dem Aspekt der Reaktionen der Ange-

hörigen auf die Aktion „T4“ ausgewertet. Die Ergebnisse

bezeugen ein breites Spektrum der Reaktionen der Ange-

hörigen, die überwiegend durch Angst, Ohnmacht und Pro-

test gekennzeichnet sind.

ABSTRACT

The role of the relatives in the context of the „euthanasia“

“Aktion T4” (“T4” campaign) has been controversially dis-

cussed in recent years. Based on documents of the National

Socialist bureaucracy, statements of asylum psychiatrists in

the year 1945 to the French occupation force as well as let-

ters from relatives to Weissenau asylum in Wuerttemberg,

these sources are analysed here in the light of the reactions

of family members in respect to “Aktion T4”. The results

testify to a broad spectrum of responses of relatives, which

are mainly characterised by fear, helplessness and protest.

Psychiatriegeschichte

126 Schmidt-Michel P-O, Müller T. Der Umgang mit… Psychiat Prax 2018; 45: 126–132

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völkerung, die auch in den höchsten Stellen des Reiches gehörtwurden, zum anderen die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunktbereits die Hälfte aller Anstaltspatienten im südlichsten Raumdes Deutschen Reichs getötet worden waren. Eine geografischeVerlagerung sollte nun andere Regionen erfassen: In den dannneu eingerichteten Tötungsanstalten, u. a. in Hadamar undBernburg, gingen die Krankenmorde unvermindert bis August1941 weiter [3].

Die Rolle der Angehörigen bei der Aktion „T4“ ist in den letz-ten Jahren, insbesondere seitens des Bundesverbands der An-gehörigen psychisch Kranker, kontrovers diskutiert worden[4]. Zur Debatte stehen Vorhaltungen gegenüber den damali-gen Angehörigen, sie hätten sich nicht oder nicht ausreichendum ihre Familienmitglieder gekümmert. Das belegbare Verhal-ten der Angehörigen im Kontext der „Euthanasie“ bzw. des„T4“-Geschehens reicht von Einzelfällen des Bemühens von El-tern um Zustimmung zum „Gnadentod“ des eigenen behinder-ten Kindes, über Schweigen aus Angst vor angedrohten tat-sächlichen oder vermeintlichen Sanktionen als auch Schweigenim Sinne stiller Duldung bis hin zu Protesten und verzweifeltenVersuchen des Widerstands. Insbesondere Petra Lutz be-schreibt bereits 2006 diese Breite des Spektrums von Verhal-tensweisen und kommt zu dem Schluss, dass das Verhaltenvon Zustimmung, Billigung oder Ablehnung quantitativ auf-grund der Quellenlage nicht festzustellen sei. Des Weiteren seifür Erkenntnisse zu dieser Fragestellung eine Kontextualisie-rung in die Psychiatrie- bzw. Anstaltsgeschichte erforderlich[5]. Trotz dieses Desiderats postuliert Götz Aly verallgemei-nernd Jahre später in seinem Buch „Die Belasteten“ [6], dass„die“ Angehörigen der Ermordung ihrer Anverwandten still-schweigend zugestimmt hätten. Henry Friedländer dagegenstellt in seinen Analysen das Moment der Täuschung der Ange-hörigen in den Vordergrund [7] und auch Thomas Stöcklekommt zu dem Schluss, dass eine verallgemeinernde Wertungzu dem Verhalten der Angehörigen schwerfalle und eine quan-titative Aussage nahezu unmöglich sei [8].

Um zur Situation und Verhaltensweisen seitens der Angehöri-gen angesichts der Mordaktionen relevante empirische Aus-sagen machen zu können, gibt es nach aktueller Forschungs-lage, neben Aussagen von Zeitzeugen, 4 mögliche Quellen.Zum einen sind dies Erlasse der NS-Behörden zum Umgang mitAngehörigen an die Anstalten und deren Reaktionen darauf.Zum anderen sind es schriftliche Stellungnahmen der Anstalts-psychiater zu ihrem Verhalten während der Aktion „T4“ in Badenund Württemberg aus dem Jahr 1945, die die französische Be-satzungsmacht einforderte. Des Weiteren können Briefe der An-gehörigen an die Anstalten als Quelle dienen, sofern sie in denArchiven der damaligen Anstalten erhalten sind [9]. Schließlichbestünde die Möglichkeit, die im Bundesarchiv überliefertenKrankenakten der Opfer in Bezug auf Angaben zu den Angehöri-gen zu analysieren – in einer anderen Studie wurde dieser Zu-gang versucht [10], jedoch mit geringem Erkenntniswert, da inden erhaltenen „T4“-Akten Angaben zu Dritten (Personalakten)systematisch entfernt wurden [11], nur die formalen Krank-heitsverläufe sind erhalten. In der hier vorliegenden Studie wer-den die ersten 3 genannten Zugangswege anhand der Archiveder ehemaligen Heilanstalt Weissenau gewählt.

Die aktive Suche nach Zeitzeugen hat in der oberschwäbi-schen Region, die hier beschrieben wird, erst vor Kurzem be-gonnen. Bei erwachsenen Opfern ist diese Suche schwierig, dadiese Opfer aufgrund ihrer Erkrankung meist keine Kinder hat-ten (geistige Behinderung, Epilepsie, psychotische Erkrankun-gen), sodass in der Regel nur entfernte Verwandte potenziell Er-innerungen beisteuern könnten. Die historische Aufarbeitungder Opfer der Kinder-„Euthanasie“, ihre Personalisierung unddie Reaktionen ihrer Angehörigen sind in regionalen Studienweiter fortgeschritten, wie die Veröffentlichungen von Mar-quart (Stuttgart) und Babel (Bremen) zeigen [12, 13].

Dokumente der NS-Behörden zumUmgang mit Angehörigen der „T4“-OpferIn Württemberg wurde für die logistische Durchführung der„Euthanasie“ seitens des Innenministeriums der Leiter desWürttembergischen Gesundheitsdienstes, Ministerialrat EugenStähle, und sein Stellvertreter, Obermedizinalrat Otto Mauthe,mit der Organisation der Aktion „T4“ betraut. Die badischenAnstalten Reichenau, Illenau und Rastatt wurden ab 1939 nachund nach aufgelöst und viele der Betroffenen in Zwischenan-stalten nach Württemberg deportiert. Dasselbe Schicksal ereil-te die kirchlichen Behinderteneinrichtungen in beiden Ländern.Sie wurden zum größeren Teil aufgelöst, die Betreuten wurdenentweder direkt nach Grafeneck, später auch nach Hadamarverbracht und ermordet oder zunächst ebenfalls in Zwischen-anstalten deportiert [3].

Noch bevor die Vergasungsanlagen in der ersten Tötungsan-stalt des Deutschen Reichs in Grafeneck Mitte Januar 1940 ihre„Arbeit“ aufnahm – 5 weitere sollten folgen –, bereitete Stähledie kirchlichen und öffentlichen Anstalten auf die bevorstehen-den „Verlegungsaktionen“ mit einem Erlass vom 23.11.1939 analle Anstalten „im Auftrag des Reichsverteidigungsministers“vor. Bezüglich der Unterrichtung der Angehörigen über die abJanuar 1940 anstehenden Deportationen heißt es dort: „Die Be-nachrichtigung der Angehörigen über die Verlegung erfolgtdurch die Aufnahmeanstalt“ [14].

Die ärztlichen Direktoren wurden seitens des Innenministe-riums zugleich zu höchster Geheimhaltung gegenüber Angehö-rigen und Personal über die anstehenden „Verlegungen“ ver-pflichtet – nachdem im Vorfeld „nicht verlässliche Direktoren“bezüglich der geplanten „Euthanasie“-Maßnahmen bereits ih-res Amtes enthoben worden waren, so unter anderem Prof. Dr.Gruhle (Heidelberg/Zwiefalten/Weissenau/Winnenthal) und Dr.Römer aus der Anstalt Illenau (Baden), welche aufgelöst wurde.

Die angekündigte Information der Angehörigen über dieVerlegungen durch die „Aufnahmeanstalt“ erfolgte jedoch zu-nächst nicht. Ebenso wenig die in diesem Anschreiben behaup-tete Ankündigung des Ministeriums, dass „die Krankenaktenach Einsichtnahme durch die Aufnahmeanstalt wieder zurück-gegeben wird“ [14].

Ab Januar 1940, mit der Inbetriebnahme von Grafeneck, er-folgten dann systematische Anordnungen seitens des würt-tembergischen Innenministeriums an die einzelnen Anstalten,welche Patientinnen und Patienten durch die „GemeinnützigeKrankentransport-Gesellschaft“ (GeKraT) wann abgeholt wer-

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den – in der Regel jeweils ca. 75 Personen [18]. Von einer Vor-gabe bez. einer Information der Angehörigen ist in diesenSchreiben nicht mehr die Rede – dagegen wird darauf Wert ge-legt, dass „unruhige Kranke mit entsprechenden Mitteln füreinen mehrstündigen Transport vorzubehandeln“ seien [15].

Am 9.9.1940 erfolgt dann eine Anordnung des württember-gischen Innenministeriums an alle öffentlichen und privatenAnstalten: „[…] ordne ich auf Weisung des Reichsverteidi-gungskommissars für den Wehrkreis V an, daß Schwachsinnige,Epileptische und Geisteskranke nur mit meiner Genehmigungaus den verschiedenen Anstalten Württembergs […], entlassenoder in eine andere Anstalt verlegt werden dürfen.“ Und weiterheißt es in diesem Erlass: „Für die seit dem 1. August 1940 be-reits entlassenen oder verlegten Pfleglinge ist noch nachträg-lich in gleicher Weise meine Genehmigung einzuholen“ [16].Es kann vermutet werden, dass es im Vorfeld der Deportationenzu zahlreichen Entlassungen gekommen war – ob auf Veranlas-sung der Angehörigen oder der Anstalten selbst –, die derGrund für diesen drastischen Erlass war. Seitens der Anstalt ge-genüber dem Innenministerium eine Entlassung begründen zumüssen, wird eine hohe Hürde gewesen sein, sodass anzuneh-men ist, dass solche Anträge kaum gestellt wurden und Entlas-sungswünsche von Betroffenen und Angehörigen seitens derAnstalten zurückgewiesen wurden. Dies, obwohl ab Mitte1940 in der Bevölkerung von Baden und Württemberg nachund nach bekannt wurde, dass „in Grafeneck gestorben wird“,weil Angehörige der Opfer Sterbebriefe u. a. von dort in größe-rer Zahl erhalten hatten.

Am 23.9.1940 sendet das württembergische Ministeriumdes Inneren erneut eine Anordnung in Bezug auf den Umgangmit Angehörigen der Opfer. Dort heißt es: „Zur Benachrichti-gung der Angehörigen von Kranken, die mit Sammeltranspor-ten in die dortige Anstalt verlegt werden, sind die beiliegendenKarten zu verwenden“ [17]. Gemeint sind hier die Zwischenan-stalten Zwiefalten, Schussenried, Weinsberg und Weissenau, indie vor allem Patienten aus dem badischen Raum und aus kirch-lichen Behinderteneinrichtungen verlegt wurden. In den vorge-druckten Karten, die die „Aufnahmeanstalten“ an die Angehö-rigen verschicken sollten, heißt es lapidar:

„Der/Die Kranke…wurde heute unserer Anstalt zugeführt.Die Verlegung erfolgte aus kriegswichtigen Gründen gemäßAnordnung des Herrn Reichsverteidigungskommissars. FallsSie einen Besuch beabsichtigen, empfehlen wir rechtzeitig vor-her anzufragen. Heil Hitler“ [17].

Diese Vorgabe wurde jedoch vom Innenminister bereits kur-ze Zeit später zurückgenommen. Am 12.11.1940 erreicht die„staatliche Heilanstalt Weissenau“ folgendes Schreiben: „DieBenachrichtigung von Angehörigen sind [sic!] bei Zwischenver-legungen bis auf Weiteres zu unterlassen. Im Auftrag Dr. Stäh-le“ [18].

Die unterschiedlichen Erlasse des württembergischen In-nenministeriums bezüglich des Umgangs mit Angehörigen bei„Verlegungen“ deuten zum einen auf das intensive Bemühenum eine weitere Geheimhaltung der Aktion „T4“ hin, zum ande-ren könnte darin ein Versuch gesehen werden, bedrängendeAnfragen seitens der Angehörigen über den Verbleib ihrer Ver-wandten an das Ministerium abzuwehren – insbesondere durch

den letzten Erlass vom November 1940. Die Stellungnahmender ärztlichen Direktoren der württembergischen und badi-schen Anstalten an die französische Besatzung legen letztereHypothese nahe, da Einzelne von ihnen aussagten, dass sie an-gehalten worden wären, bei Nachfragen von Angehörigen überden Verbleib ihrer Verwandten an das Innenministerium zu ver-weisen.

Trotz des Stopps der Aktion „T4“ Mitte 1941 mit Beginn desVernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion, wurde allenthal-ben ein deutlicher Rückgang der Aufnahmen in den Anstaltenbemerkbar. Diese Entwicklung nahm auch das Reichsministeri-um des Inneren wahr und reagierte mit einer Umfrage an alleAnstalten im Deutschen Reich: Der Reichsbeauftragte für dieHeil- und Pflegeanstalten, Herbert Linden, forderte mit Schrei-ben vom 6.1.1942 von allen Landesregierungen eine Stellung-nahme zum Rückgang der Aufnahmezahlen. Grund für seinenErlass ist ein Zitat eines namentlich nicht genannten Leiterseiner Universitätsnervenklinik:

„An die Reichsstatthalter (Landesregierungen), die Preuß.Oberpräsidenten (Verwaltungen der Provinzialverbände).

Von dem Leiter einer Universitäts-Nervenklinik ist mir fol-gendes mitgeteilt worden: ‚In zunehmendem Maße macht sichin letzter Zeit bei den Angehörigen solcher Geisteskranker, diehier zum Zweck der diagnostischen Klärung […] aufgenommenwurden und zur Verlegung in Provinzial-, Heil- und Pflegean-stalten heranstehen, das Bestreben geltend, diese Krankenmöglichst lange in der [Universitäts-]Klinik zu belassen odersie, auch wenn sie mehr oder weniger gemeingefährlich sind[…], in der eigenen Familie unterzubringen. […] es muss dochauf die Gefahr hingewiesen werden, die in dieser Neigung zurUmgehung der Heil- und Pflegeanstalten liegt, zumal bei man-chen Kranken die Gemeingefährlichkeit nicht mit voller Sicher-heit festgestellt werden kann, aber eine ausgesprochene Ge-meinschädlichkeit oder Gemeinlästigkeit erwartet werdenmuß, noch dazu in der jetzigen Kriegszeit in die Häuslichkeitentlassen zu werden‘“ [19].

Im Anschluss werden die genannten Behörden zur Stellung-nahme aufgefordert und das Schreiben schließt mit der Fest-stellung des Reichsministeriums, dass „solche Erscheinungenfür die Allgemeinheit nicht erwünscht“ seien.

Mit Datum vom 16.1.1942 leitet das württembergische In-nenministerium dieses Schreiben mit der Aufforderung zurStellungnahme an „die staatlichen Heilanstalten Schussenried,Weinsberg, Weissenau, Winnental und Zwiefalten, die Universi-tätsnervenklinik Tübingen und das städt. Bürgerhospital“ [20]weiter. Bereits am 20.1.1942 antwortet die Heilanstalt Weisse-nau detailliert: Die durchschnittliche jährliche Aufnahmezahlhabe von 1933 bis 1938 in Zahlen: 257,5 betragen, 1941 dage-gen nur 158 (ca. 40 Prozent weniger). „Eine nähere Prüfung derAufnahmezahlen von 1940 ergab Aufschluss über den Zeit-punkt des Einsetzens des Rückgangs. Während von Januar bisJuni 1940 137 Kranke aufgenommen wurden, wurden von Julibis Dezember nur 86 aufgenommen (ohne Sammeltransporte).Es besteht also im zweiten Halbjahr 1940 gegenüber dem ers-ten Halbjahr ein Rückgang von 37,3 Prozent. […] Der Rückgangsetzt schlagartig Mitte 1940 ein“ [21].

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Psychiatriegeschichte

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Die oben beschriebene „Befürchtung“ des Reichsinnenmi-nisteriums bezüglich des deutlichen Rückgangs der Aufnahmenin die Anstalten lässt sich hier am Beispiel der Anstalt Weisse-nau belegen und es ist naheliegend, dass dies eine Reaktionder Bevölkerung auf die Aktion „T4“ war. Diese Sichtweise be-stätigt sich auch in den Stellungnahmen der Direktoren der An-stalten nach Ende des Zweiten Weltkriegs – wobei diese Stel-lungnahmen im Jahr 1945 gegenüber der französischen Besat-zung mit der Einschränkung wahrgenommen werden müssen,dass die Direktoren der Anstalten die Abläufe des „T4“-Gesche-hens möglicherweise in einem Duktus verfasst haben, der sieselbst entlasten sollte.

Aussagen süddeutscher Anstaltsdirek-toren im Poitrot-Bericht nach Mai 1945zum Verhalten der Angehörigen der„Euthanasie“-OpferDer sogenannte Poitrot-Bericht war die erste Dokumentation inder Nachkriegszeit über die „Euthanasie“-Morde in Südwest-deutschland überhaupt. Der französische Sanitätsoffizier undPsychiater Dr. Robert Poitrot wurde von der französischenArmee mit der Leitung und Reorganisation der Heilanstalten inden von ihr besetzten Teilen Württembergs und Badens be-traut. Neben eigenen Recherchen und Begehungen forderte ervon den leitenden Ärzten der Heil- und Pflegeanstalten persön-liche detaillierte Berichte über ihre Tätigkeit während der Ak-tion „T4“. Seinen Bericht überreichte Poitrot im Dezember1945 der Militärregierung [22]. Die Untersuchungsergebnissewurden 1946 unter dem Titel „Die Ermordeten waren schul-dig?“ übersetzt und veröffentlicht [23].

Im Folgenden werden die Stellungnahmen der Anstaltspsy-chiater für den Poitrot-Bericht daraufhin gesichtet, welche Aus-sagen diese zu dem Verhalten der Angehörigen der Opfer bein-halten. Tilman Steinert hat diese Quellen bereits 1985 unter an-deren Gesichtspunkten kritisch kommentiert [24].

Medizinalrat Dr. Morstatt berichtet von seiner Tätigkeit inder Heil- und Pflegeanstalt Schussenried während der Aktion„T4“ am 25.9.1945 über die Deportationen nach Grafeneck:

„Das ganze Verfahren war sehr geheim und m. W. Mitteilun-gen an Dritte untersagt; auch das Begleitpersonal [der grauenBusse bzw. der GeKraT, der Verf.] war zu strengster Geheimhal-tung verpflichtet; ein Versuch des Pflegevorstehers z. B., etwaszu erfahren, wurde von den Befragten sofort abgewiesen“([23], S. 39). „[…] uns wurde von den Hinterbliebenen Auskünf-te von Grafeneck vorgelegt, die, zusammengehalten von demwas sonst bekannt wurde, im Land erhebliches Aufsehen erreg-te und bald als unglaubwürdig angesehen wurde. Über die wirk-liche Todesart der Verstorbenen gab es nur Vermutungen. Beiuns nachfragende Angehörige waren an die ‚GemeinnützigeKrankentransport G.M.B.H.‘ in Berlin verwiesen worden. UnsereVersicherungen, daß wir über das Weitere nicht unterrichtetund an den Maßnahmen nicht beteiligt seien, wurden offenbarvon den Empfängern oft mit großem Missbehagen aufgenom-men“ ([23], S. 38). Weiter erwähnt Morstatt, dass „Angehörigeauch von nicht entlassungsfähigen Kranken sich häufig bemüh-

ten, diese aus der Anstalt herauszunehmen. Im Lauf der Zeit fielauch ein Rückgang in den Aufnahmezahlen auf, der z. T. hierseinen Grund hatte“ ([23], S. 38). Wo es sich um schwere Fällegehandelt habe, so Morstatt, seien Angehörige auch erleichtertgewesen. Auch sei bekannt geworden, „daß von Seiten man-cher Wehrmachtsangehörigen sehr nachdrücklich Einsprucherhoben wurde, die um kranke Geschwister usw. in Sorge seinmußten oder für ihr eigenes möglicherweise drohendes Schick-sal fürchteten“ ([23], S. 41).

Dr. Paul Kraus, Arzt in Zwiefalten bis September 1942, führtin seiner Stellungnahme an die französische Verwaltung aus:

„Ich selbst war Zeuge von erschütternden Szenen, die sichanläßlich von Besuchen in meinem Dienstzimmer abspielten,als ich den Leuten, die von irgendwoher reisten, eröffnen muß-te, daß ihre Angehörigen mit unbekanntem Ziel am soundso-vielten abgeholt worden waren. Meistens wußten die Leute so-fort was es geschlagen hatte“ ([23], S. 44).

Zu den kirchlichen Anstalten berichtet er: „In den frühenSommermonaten des Jahres 1940 begannen großzügige undzuerst planlos erscheinende Krankenverlegungen innerhalb al-ler Heil- und Pflegeanstalten und aller ähnlichen Einrichtungen.Alle konfessionell-caritativen Anstalten dieser Art wurden auf-gelöst. Alle dort untergebrachten Kranken in die wenigen staat-lichen Anstalten mehr oder weniger zwangsweise isoliert. DieLeitungen der caritativen Anstalten betrieben aus diesemGrund massenhafte Entlassungen von Kranken nach Hause, ver-wässerten und verfälschten zugunsten ihrer bisherigen Pfleg-linge die Diagnose. Schließlich half aber alles nichts. Die Mehr-zahl der Kranken landete eben doch in den großen staatlichenAnstalten […]“ ([23], S. 41).

Über Parteimitglieder der NSDAP sagte er aus: „Interessantist der immer wieder beobachtete Umstand, daß gewisse Leuteaus höheren Parteikreisen auf unbekannten Wegen es fertigbrachten, ihre geisteskranken Angehörigen zu retten und in Si-cherheit zu bringen“ ([23], S. 42).

Der Sprecher der Württembergischen Arbeitsgemeinschaftevangelischer Seelsorger, Pfarrer Leube aus Schussenried,schreibt in deren Auftrag im Oktober 1940 an den „HerrnReichsminister des Inneren, Reichsgesundheitsführer Dr. Con-ti“ nach Berlin mit dem Betreff: „Vernichtung des Lebens vonAnstaltspfleglingen.“ Leube erwähnt darin, dass die Tötungenvon Patienten ein „offene[s] Geheimnis“ sei und dass die Ar-beitsgemeinschaft von den Angehörigen bedrängt werde, et-was zu unternehmen. Am Schluss heißt es, dass die Familienjetzt dazu übergingen, „ihre erkrankten Angehörigen von derAnstalt fern zu halten oder aus ihr herauszubekommen, damitihnen die Maßnahme der Lebensvernichtung erspart bleibe“([23], S. 49). Eine Antwort habe Pfarrer Leube nicht erhalten,so Poitrot.

Prof. Dr. Gruhle, der von seinem Heidelberger Lehrstuhl sus-pendiert, kurze Zeit in Zwiefalten eingesetzt und später zurWehrmacht eingezogen wurde, berichtet 1945 zu den Angehö-rigen der Opfer an Poitrot: „Im allgemeinen waren nach mei-nem Eindruck die allermeisten Angehörigen empört, zumal diechristlich gesinnten. Nur ganz vereinzelt waren diejenigen, diesich über die Kostenersparung der weiteren Anstaltsverpfle-gung befriedigt äußerten. […] Die Angehörigen der Kranken

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hielten diese bis zum äußersten zu Hause zurück, um die An-staltsaufnahme zu vermeiden“ ([23], S. 53).

Der in Weissenau tätige Medizinalrat Dr. Bischoff schreibtam 13. Oktober 1945 zu den Verwandten der Opfer: „Es be-stand die Anweisung, die Angehörigen an das Innenministeri-um in Stuttgart zu verweisen. Dort wurden sie nach Berlin ver-wiesen oder mit der Gestapo bedroht. […] Es kamen fast keineAufnahmen mehr. Viele wollten ihre Angehörigen nach Hausenehmen, was oft nicht möglich war, weil das MinisteriumEntlassungen ohne seine Genehmigung verboten hatte“ ([23],S. 56).

Aus der badischen Anstalt Emmendingen berichtet Medizi-nalrat Thumm, der nach der Auflösung der Anstalt Illenau dort-hin versetzt worden war, über eine „Sonderaktion“ Anfang1940: „Aus der caritativen Pflege- und Erziehungsanstalt fürSchwachsinnige St. Josephanstalt in Herten bei Rheinfelden(Hegner Schwestern) waren 300 Kinder weggeholt, zur Tar-nung für einige Wochen nach Emmendingen verlegt und dannvon hier weitertransportiert worden; viele Mütter kamen hier-her, um nach ihren Kindern zu suchen.“ Weiter schreibt er,dass man in Emmendingen Angehörige heimlich benachrichtigthabe, dass sie die Patienten abholen mögen, manche Krankehabe man „einfach hinausgeschickt“ ([23], S. 60). Diese Ret-tungsversuche bestätigt der damalige Direktor von Emmendin-gen, Dr. Mathes – er legte sein Amt auf Aufforderung des Minis-teriums aus „Gewissensgründen“ nieder. Er berichtet, „uns Ärz-ten [wurde] von der Regierung unter Androhung schwersterStrafen (Hochverrat) strengstes Stillschweigen zur Pflicht ge-macht […]. Wir Ärzte benachrichtigten nun heimlich die Ange-hörigen und forderten sie auf, ihre Kranken aus der Anstalt ab-zuholen, entließen noch kaum entlassungsfähige Kranke teilsnach Hause, teils in andere Krankenhäuser, ließen Kranke vonihren Angehörigen für den Tag ihres vorgesehenen Transportsnach Hause holen […]“ ([23], S. 63).

Briefe von Angehörigen der Opfer an dieHeilanstalt Weissenau/WürttembergDa bei den Deportationen in die Zwischen- und Tötungsanstal-ten die Krankenakten den Transportleitern mitgegeben wur-den, wurden in einigen Anstalten Konvolute angelegt [25], indenen nach den Abtransporten behördliche Anfragen und Brie-fe von Angehörigen unsortiert gesammelt wurden, so auch inder Heilanstalt Weissenau [26]. Von den 691 Opfern aus dieserAnstalt sind ca. 200 solcher Korrespondenzen erhalten, die hierauszugsweise dokumentiert werden.

Die Mutter von Klara Gscheidle fragt am 7.8.1940 in einemBrief aus Stuttgart an die Anstalt Weissenau nach ihrer 37-jäh-rigen Tochter: „Werte Inspektion! Ich bin sehr überrascht, in-dem das Paket an meine Tochter wieder retour gekommen ist,mit dem Vermerk, Adressat abgereist, wohin unbekannt. Ichkann mir nicht erklären, wohin meine Tochter abgereist seinsoll, indem sie doch in der Obhut der Anstalt war. Sind Siedoch bitte so gut und schreiben Sie mir näheres! Es grüßt Sie[…]“ [27]. Am 8.8.1940 antwortet der Leiter Dr. Bischoff: „[…]es ist uns nicht bekannt, in welche Anstalt ihre Tochter gekom-men ist“, die Mutter werde dann von der „Aufnahmeanstalt“

verständigt. Klara Gscheidle war bereits am 1.8.1940 in Grafen-eck ermordet worden.

Am 17.1.1941 erreicht folgender Brief die Heilanstalt Weis-senau: „Durch meinen Schwager erfahre ich heute die traurigeNachricht, daß unsere Mutter Frau Rosa Krämer die Augen am12. Dez. 1940 für immer geschlossen hätte. […] Es sind 4 Söh-ne, die alle 4 an der Front stehen. Leider waren wir finanziellnicht in der Lage, unsere Mutter zu besuchen. Auch gaben esdie Wohnverhältnisse nicht zu, sie bei uns zu haben […]“ [27].Ein Antwortschreiben liegt nicht bei. Rosa Krämer wurde am5.12.1940 in Grafeneck getötet.

Am 1.7.1940 schreibt ein Bruder von Rudolf Angele (geb.1904) aus Stuttgart nach Weissenau: „Von der Landes-Pflege-anstalt Grafeneck erhielt ich am 21. Juni zu meiner größten Be-stürzung ein Schreiben, worin mir mitgeteilt wurde, daß meinBruder Rudolf unerwartet dort verschieden und bereits einge-äschert sei. Vor ca. 3 Wochen (am 9. Juni) besuchte noch meineSchwester ihn in Weissenau und fand ihn körperlich unverän-dert vor.“ Er bittet um Mitteilung, „ob in letzter Zeit Anzeichenvorhanden waren, die auf einen so plötzlichen Tod schliessenlassen“. Das Antwortschreiben aus Weissenau verweist auf die„Anordnung des Innenministeriums“, wonach man „Patientenwegen Kampfhandlungen aus Baden“ habe aufnehmen müs-sen.

Im Auftrag des Bruders von Max Kollmann (Jahrgang 1903)schreibt der Landrat aus Tübingen am 25.9.1940 nach Weisse-nau: „Der Bruder des Vorgenannten hat sich hierher gewandtmit der Bitte, dafür zu sorgen, daß sein Bruder zu ihm nachWeingarten entlassen werde, da er ihn nun zu sich nehmen kön-ne“ [27]. Bei einem Besuch des Bruders von Max Kollmann inWeissenau sei diesem mitgeteilt worden, dass dieser „wegver-legt“ worden sei. Der Landrat bittet um Mitteilung, wo MaxKollmann sich befinde. Ein Antwortschreiben liegt nicht vor.Max Kollmann war am 9.9.1940 in Grafeneck ermordet worden.

Gleichfalls richtet ein Kreisamtmann aus Schwäbisch Hall am25.5.1940 ein Entlassungsgesuch an die Heilanstalt Weissenau:man möge ihm mitteilen, an welchem Tag sein Schwager Fried-rich Stephan entlassen werde. Zur Begründung trägt er vor:„Mein Schwager, der nun seit 6 Jahren in ihrer Anstalt unterge-bracht ist, ist nach seiner Mitteilung längst nicht mehr anstalts-bedürftig. Er ist die ganze Woche hindurch, vielfach als Allein-arbeiter, beschäftigt und scheint bei der z. Z. herrschendenLeutenot eine willkommene und billige Arbeitskraft zu sein.Ich kann mich nicht damit einverstanden erklären, daß meinSchwager noch längere Zeit dort festgehalten wird […]“ [27].Die Anstalt antwortet am 28.5.1940, dass man zwar eine Ent-lassung versuchsweise „in Aussicht genommen habe“, ihn je-doch „gestern“ einem vom Innenministerium angeordnetenTransport mitgegeben habe. Stephan Friedrich wurde am27.5.1940 in Grafeneck ermordet.

Schließlich sei ein Brief des Vaters des 39-jährigen OttoBögel aus Dettingen wiedergegeben, der von der HeilanstaltWeissenau am 14.10.1940 Pflegegeld zurückfordert: „Betr.:Die Zurückzahlung der zu viel bezahlten Verpflegungsgeldervon 39 Tagen von 159,51 Reichsmark für meinen Sohn OttoBögel. – Lt. Ihrer Mitteilung vom 23.8.1940 ist mein Sohn am22.8. aus ihrer Anstalt weggekommen, um seinen letzten

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Psychiatriegeschichte

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Gang anzutreten. Trotz dieser langen Zeit her [sic!] ist mir obi-ger Betrag noch nicht zurückerstattet worden, sollte dies nichtnächster Tage [sic!] geschehen, wäre ich genötigt, an andererStelle vorstellig zu werden. Es ist ja eine ungeheure Zumutung,etwas davon zu glauben, was einem in dieser Sache vorgemachtwird, denn landauf und -ab wird mit Grauen und Entsetzen da-von gesprochen, was in Grafeneck vor sich geht. Der Dank desVaterlands für ehemalige Frontkämpfer kann jedenfalls nichtmehr krasser zum Ausdruck kommen als durch solchen Helden-tod. Und dann kann es ja kaum überboten werden, wenn mandie Kühnheit besitzt, noch zu schreiben, alle ärztlichen Bemü-hungen seien leider ohne Erfolg geblieben. Ein höherer Richterwird aber jedenfalls zu seiner Zeit sein Urteil fällen in dieser Sa-che. Der tief gebeugte Vater“ [27].

DiskussionDie Erlasse des württembergischen Innenministeriums zeigen,mit welch hoher Aufmerksamkeit und Energie die dortigen lei-tenden Mitarbeiter versuchten, die Angehörigen zu täuschenbzw. im Unklaren zu lassen.

Die wiedergegebenen Zitate aus den Berichten der Anstalts-psychiater 1945 zeigen ein heterogenes Bild der hilflosen Lageder Angehörigen. Ihr Verhalten bzw. die Erklärungsnot der Psy-chiater ihnen gegenüber spielte in allen Berichten an Poitroteine bedeutsame Rolle – überwiegend schildern sie ihre Hilflo-sigkeit gegenüber den Anordnungen des württembergischenInnenministeriums. Diese Berichte der Direktoren an Poitrotmüssen jedoch unter dem genannten Aspekt der nachträgli-chen Rechtfertigung ihres Handelns gesehen werden bzw. dasssie 1945 verfasst wurden und möglicherweise gerichtliche Kon-sequenzen drohten. Mit welcher inneren Beteiligung und ideo-logischen Haltung sie im Rahmen der Aktion „T4“ im süddeut-schen Raum agierten – von teilnahmsloser Duldung über aktiveUnterstützung bis hin zur heimlichen Sabotage – ist bislang nurin wenigen Biografien aufgearbeitet, so zum Beispiel von Mar-tha Fauser und Maximilian Sorg. Martha Fauser, ärztliche Leite-rin der Anstalt Zwiefalten von 1940 bis 1945, Parteimitglied derNSDAP, wurde 1945 festgesetzt und im Grafeneckprozess in Tü-bingen zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt [28]. Maximili-an Sorg, Oberarzt in der Anstalt Weissenau, wurde 1940 seitensdes württembergischen Innenministeriums nahegelegt, in denvorzeitigen Ruhestand zu treten – von ihm war bekannt, dass erkeine nationalsozialistische Gesinnung vertrat [29]. Von EugenJoos, dem Leiter der Heilanstalt Weinsberg, heißt es, er habe er-folglos ein Versetzungsgesuch gestellt. Die leitenden Anstalts-ärzte, die in dem Bericht von Poitrot [23] zitiert werden, wur-den keinen Entnazifizierungsverfahren unterzogen.

Die Tarnungsversuche der Aktion „T4“ seitens des Innenmi-nisteriums durch Nichtinformation der Angehörigen und dieVerlegung in Zwischenanstalten waren einige Monate lang wir-kungsvoll. Dann gelang dem Ministerium noch ein Schachzug,um befürchtetem Widerstand in den staatlichen Anstalten zubegegnen: man „erlaubte“ den Anstaltsleitern, einige wenige„besonders hilfreiche Arbeitskräfte“ unter den Todesbefohle-nen auf der Liste der Abzuholenden zurückzuhalten. Einesteilsunterstreicht dies die Bedeutung der Arbeitsfähigkeit der Pa-

tientinnen und Patienten im Sinne eines Selektionskriteriumsder „Euthanasie“. Zum Zweiten wurde den Anstaltsleitern sodas Gefühl vermittelt, dass sie auch eigene Interessen bzw. dieder Anstalt zu Geltung bringen konnten. Spätestens mit dieser„Auswahlmöglichkeit“ wurden die die Deportationen abzeich-nenden Anstaltsleiter letztlich zu Tätern gegenüber den nichtAusgewählten.

Es gab vielfältige Reaktionen der Angehörigen auf die plötz-lichen Deportationen – sei es, dass sie (meist vergeblich) ver-sucht haben, ihre Anverwandten aus der Anstalt zu holen, seies durch Nachfragen, was geschehen sei und auch Proteste ge-gen die Deportationen und Morde. Hierbei wurde der Begriff„Mord“ allerdings, zumindest in schriftlichen Zeugnissen, nichtoffen ausgesprochen, sei es aus blinder Unterwürfigkeit unterdie Staatsraison, sei es aus Ohnmacht und Angst vor der Staats-partei oder vor der eigenen Stigmatisierung als Familienmit-glied und damit „Erbträger“, sei es deshalb, weil man die Zieleder Aktion unterstütze. Letzteres konnte bei eigenen Auswer-tungen von bislang 110 Opferakten nur in einem Fall nachge-wiesen werden, bei dem ein Bruder eines Opfers, ein Abtei-lungsarzt einer Universitätsnervenklinik, über württembergi-sche Behörden sich bemühte, diesen der „Euthanasie“ zuzufüh-ren.

Die zunächst konspirative Durchführung der Aktion „T4“ warohne bedeutsamen institutionellen und öffentlichen Wider-stand möglich, weil eine selbstständig agierende, von Hitler au-torisierte Organisation neben den existierenden Verwaltungs-hierarchien aufgebaut wurde, sowie getrennt agierendes undpolitisch konformes Personal rekrutiert und eingesetzt werdenkonnte. Zur Kooperation benötigte die „T4“-Organisationlediglich die akzeptierende Zusammenarbeit der jeweiligenInnenministerien der Länder, die per Erlass die Anstalten undihr Personal anwiesen, die Deportationen mit den grauen Bus-sen geschehen zu lassen.

Zusammenfassend zeigt die vorliegende Erhebung, dass es„den Angehörigen“ oder „den Psychiater“ nicht gab. Es wärewünschenswert, in weiteren regionalen Studien die verschiede-nen Akteure im Rahmen der Aktion „T4“ zu untersuchen – erstdann können gesicherte und differenziertere Aussagen überdie Rolle der Angehörigen erfolgen.

Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

KONSEQUENZEN FÜR KLINIK UND PRAXIS

▪ Die vorliegende Studie zeigt, dass es generalisierendeAussagen über die Rolle der Angehörigen im Rahmender Aktion „T4“ in der untersuchten Region nicht gibt.

▪ Die konspirative nationale Vernichtungsstrategie derNS-Behörden ließ kaum einen Handlungsspielraum fürdie Angehörigen zu, ihre Familienmitglieder zu retten.

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Literatur

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[15] Vwa.ZfP, Nr. X 5220

[16] Vwa. ZfP, Nr. X 3935

[17] Vwa. ZfP, Nr. X 4213

[18] Vwa. ZfP Nr. X 5143

[19] Vwa. ZfP, Reichsminister des Inneren, Nr. IV g 8410/41, 5114

[20] Vwa. ZfP, Württembergischer Innenminister/Stähle, Nr. X 299 g

[21] Vwa. ZfP, Heilanstalt Weissenau, Nr. 28, Antwort auf den Erlaß vom16.1.1942

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[23] Poitrot R. Die Ermordeten waren schuldig? Amtliche Dokumente derDirection de la Santé Publique der französischen Militärregierung.Baden-Baden: Schröder; 1946

[24] Steinert T. Die Geschichte des Psychiatrischen LandeskrankenhausesWeissenau. Darstellung der Anstaltsgeschichte von 1888 bis 1945im ideengeschichtlichen und sozio-ökonomischen Kontext. [Disser-tation]. Ulm: Universität Ulm; 1985

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[26] Kretschmer M. Patient verreist. Weissenau: 1992

[27] Vwa. ZfP Weissenau, ohne Signatur

[28] Pollmann I, Müller T. Handlungsspielräume in der NS-Psychiatrie I.Die württembergische Psychiatrein Dr. Martha Fauser. In: Müller T,Reichelt B, Kanis-Seyfried U, Hrsg. Nach dem Tollhaus. Zur Geschichteder ersten Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefal-ten. Bd. 1. Psychiatrie, Kultur und Gesellschaft in historischer Per-spektive. Zwiefalten: Verlag Psychiatrie und Geschichte; 2012: 116–128

[29] Henzi M, Müller T. Handlungsspielräume in der NS-Psychiatrie II. Derwürttembergische Psychiater Maximilian A. Sorg. In: Müller T, Rei-chelt B, Kanis-Seyfried U, Hrsg. Nach dem Tollhaus. Zur Geschichteder ersten Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefal-ten. Bd. 1. Psychiatrie, Kultur und Gesellschaft in historischer Per-spektive. Zwiefalten: Verlag Psychiatrie und Geschichte; 2012: 129–149

132 Schmidt-Michel P-O, Müller T. Der Umgang mit… Psychiat Prax 2018; 45: 126–132

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