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Mensch und Organisation; Man and organization;

Date post: 21-Jan-2017
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HAUPTBEITRÄGE Z Psychodrama Soziometr (2014) (Suppl) 13:199–223 DOI 10.1007/s11620-014-0243-z Online publiziert: 10.05.2014 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 Priv.-Doz. Dr. F. von Ameln () Am Diekschloot 11b, 26506 Norden, Deutschland E-Mail: [email protected] Mensch und Organisation Morenos Werk aus der Sicht der Organisations- und Führungsforschung Falko von Ameln Zusammenfassung: Moreno kann als einer der Begründer der Organisationsentwicklung gelten – dennoch enthalten seine Publikationen sehr wenige explizite Aussagen über Organisationen. Dieser Artikel versucht, aus Morenos Werk implizite Organisations- und Führungskonzepte abzu- leiten. Dabei wird insbesondere auf Morenos relationale Perspektive sowie auf die Rollentheorie Bezug genommen. Diese impliziten Annahmen über Organisationen werden vor dem Hintergrund der aktuellen Theoriebildung und Forschung zu Organisationen und Führung diskutiert, insbeson- dere im Hinblick auf das Verhältnis von Interaktion und Organisation. Schlüsselwörter: Arbeitsbeziehungen · Führung · Jacob Levy Moreno · Organisationstheorie · Psychodrama · Rollentheorie · Soziometrie · Systemtheorie Man and organization – The oeuvre of J. L. Moreno from the perspective of organization and leadership research Abstract: Moreno has published very little on organizations although he has been one of the pioneers of organizational development. This article tries to deduce an implicit organization and leadership concept from his works, drawing especially from his relational perspective and from his role theory. These implicit assumptions about organizations are discussed against the back- ground of contemporary theory and research on organizations and leadership, especially regarding the distinction between interaction and organization. Keywords: Jacob Levy Moreno · Leadership · Organization theory · Psychodrama · Role theory · Sociometry · Systems theory · Work relationships
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Hauptbeiträge

Z Psychodrama Soziometr (2014) (Suppl) 13:199–223DOI 10.1007/s11620-014-0243-z

Online publiziert: 10.05.2014© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

Priv.-Doz. Dr. F. von Ameln ()Am Diekschloot 11b, 26506 Norden, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Mensch und OrganisationMorenos Werk aus der Sicht der Organisations- und Führungsforschung

Falko von Ameln

Zusammenfassung: Moreno kann als einer der Begründer der Organisationsentwicklung gelten – dennoch enthalten seine Publikationen sehr wenige explizite Aussagen über Organisationen. Dieser Artikel versucht, aus Morenos Werk implizite Organisations- und Führungskonzepte abzu-leiten. Dabei wird insbesondere auf Morenos relationale Perspektive sowie auf die Rollentheorie Bezug genommen. Diese impliziten Annahmen über Organisationen werden vor dem Hintergrund der aktuellen Theoriebildung und Forschung zu Organisationen und Führung diskutiert, insbeson-dere im Hinblick auf das Verhältnis von Interaktion und Organisation.

Schlüsselwörter: Arbeitsbeziehungen · Führung · Jacob Levy Moreno · Organisationstheorie · Psychodrama · Rollentheorie · Soziometrie · Systemtheorie

Man and organization – The oeuvre of J. L. Moreno from the perspective of organization and leadership research

Abstract: Moreno has published very little on organizations although he has been one of the pioneers of organizational development. This article tries to deduce an implicit organization and leadership concept from his works, drawing especially from his relational perspective and from his role theory. These implicit assumptions about organizations are discussed against the back-ground of contemporary theory and research on organizations and leadership, especially regarding the distinction between interaction and organization.

Keywords: Jacob Levy Moreno · Leadership · Organization theory · Psychodrama · Role theory · Sociometry · Systems theory · Work relationships

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1 Was haben Moreno und Organisationstheorie miteinander zu tun?

Morenos Werk und Organisationstheorie? Diese Verbindung scheint auf den ersten Blick nicht auf der Hand zu liegen. Zwar hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass sich das Psychodrama sehr produktiv in Organisationskontexten einsetzen lässt (vgl. übersichts-weise auch den Beitrag von Buer in diesem Band sowie Ameln und Kramer 2007, in Druck). Dass Morenos Schaffen eng mit der Geschichte der Organisationsberatung ver-knüpft ist, ist außerhalb psychodramatischer Insiderkreise schon weniger bekannt. Zwar hat schon Petzold (1980) ausführlich dargelegt, dass der Impuls für die Entwicklung der Aktionsforschung – und damit einer der wichtigsten Grundlagen der Organisationsent-wicklung – nicht, wie heute allgemein angenommen, primär von Kurt Lewin, sondern von Moreno stammt. Ronald Lippitt und John R. P. French, zwei der ‚Gründungsväter‘ der Organisationsentwicklung, waren Schüler von Moreno, auch mit Kurt Lewin stand Moreno in engem Kontakt. Richter (1994, S. 58) kommt nach einem Vergleich von More-nos und Lewins Schriften zu der Überzeugung, dass Morenos Soziometrisches Institut als Vorbild des von Lewin gegründeten Research Center for Group Dynamics am MIT gedient hat. Darüber hinaus hat Moreno als einer der ersten die Abkehr von individua-listischen Denkmustern hin zu einem Denken in Beziehungen und sozialen Systemen eingeleitet. Auch ist davon auszugehen, dass Moreno durch die Arbeit an seinem Insti-tut in Beacon Hill sowie durch seine intensive Vortrags- und Publikationstätigkeit das geistige Klima in der Entstehungsphase der Organisationsentwicklung mitbeeinflusst hat. Schließlich wissen wir, dass sich Moreno mit einem nicht unbeträchtlichen Teil seiner Arbeit Organisationen und den in ihnen tätigen Menschen gewidmet hat – man denke an seine Tätigkeit in der Hudson-Schule, für die amerikanische Armee oder auch in Indust-rieunternehmen (Moreno und Borgatta 1989).

Dennoch hat Moreno so gut wie nichts Spezifisches über Organisationen geschrieben und keine explizite Organisationstheorie entwickelt. Nichtsdestoweniger lassen sich aus Morenos Schriften Umrisse einer impliziten Organisationstheorie rekonstruieren. Diese wird in den Abschn. 2 bis 5 skizziert, wobei ich mich auf zuvor in der ZPS erschienene Überlegungen (Ameln 2010) sowie auf die wertvollen Vorarbeiten von Buer (2004a, b sowie im vorliegenden Bd.) und Petzold (1982) beziehe. In den Abschn. 6 und 7 wer-den die gewonnenen Erkenntnisse vor dem Hintergrund aktueller Diskurse erweitert und bewertet. Im Anschluss wird untersucht, welche Implikationen Morenos Überlegungen für ein psychodramatisches Führungsverständnis (Abschn. 8) und haben und welche Relevanz sein Konzept von Kreativität und Spontaneität in der heutigen Organisations-welt hat (Abschn. 9).

2   Beziehungsqualität und ihr Einfluss auf Leistung und Arbeitszufriedenheit

Morenos Beschäftigung mit Organisationen beginnt zur Zeit der späten industriellen Revolution, in der die Unzufriedenheit mit unmenschlichen, von Entfremdung geprägten Produktionsbedingungen von Arbeiterbewegung und Intellektuellen zunehmend artiku-liert wird. Moreno interessiert sich – durchaus beeinflusst von, aber auch in kritischer Distanz zu marxistischen Ideen – vor allem für die „im ökonomischen Prozess hervor-

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gerufenen […] Verschiebungen in der sozialen Struktur“ (Moreno 1981c, S. 225 f.). Er kritisiert,

daß das menschliche Element, das wahrscheinlich am wichtigsten ist, aus den Aus-einandersetzungen mit industriellen Problemen ausgelassen […] wurde. Das Prob-lem ist eines der menschlichen Beziehungen – der Brennpunkt der Aufmerksamkeit muß auf die zwischenmenschlichen Beziehungen gelegt werden. (Moreno und Bor-gatta 1989, S. 225 f.)

Hier wird schon das Programm der von Moreno beeinflussten Human-Relations-Bewe-gung erkennbar, die – unter dem Eindruck der Hawthorne-Studien und der Forschungen des Londoner Tavistock Institute of Human Relations – die Bedeutung der Arbeitsbezie-hungen für Produktivität und Zufriedenheit in den Mittelpunkt rückte. Moreno geht einen Schritt weiter, indem er die Begegnung zum Leitgedanken jeglicher Beziehung macht. Er betrachtet Organisationen also zunächst als Beziehungsgeflechte, in denen erfüllte, sym-metrische Beziehungen zu Zufriedenheit, negative, asymmetrische Beziehungen dagegen zu Konflikten und Unzufriedenheit führen. Moreno tritt mit seinem soziatrischen und psychodramatischen Programm damit dem Entfremdungserleben in Organisationen ent-gegen, das zu Morenos Zeit in der Arbeitswelt beherrschend war, aber als Gefahr jeder Organisation immanent ist (Stimmer 1982, S. 139 f.).

Morenos intensive Arbeiten an der Hudson-Schule oder im Flüchtlingslager Mit-terndorf (vgl. den Beitrag von Scherr in diesem Bd.) lassen sich in diesem Sinne als Bestrebungen sehen, die formalen Gegebenheiten der Organisation an die latenten Bezie-hungsstrukturen anzupassen, die sich auf der Basis der gegenseitigen positiven oder negativen Wahlen der Beteiligten konstellieren. Wenngleich Moreno in diesen Organi-sationen nicht mit Organisationsmitgliedern (d. h. mit MitarbeiterInnen) arbeitete, lassen sich seine soziometrische Perspektive und seine soziatrische Zielvorstellungen zweifellos auch auf Binnenverhältnisse in Organisationen anwenden. Die Aufgabe bei einer sozio-metrisch begründeten Organisationsveränderung bestünde aus dieser Sicht darin, „die alte soziale Ordnung in eine neue soziale Ordnung umzuwandeln und falls nötig, die Gruppe so umzugestalten, dass die formelle Oberflächenstruktur soweit wie möglich der Tiefenstruktur entspricht“ (Moreno 1981b, S. 60). Dies soll nach Morenos Vorstellungen in einem Verständigungsprozess geschehen, der sich nicht an ideologischen Gestaltungs-vorgaben orientiert, sondern sich als „herrschaftsarmes egalitäres Verfahren“ (Buer 2010, S. 116) versteht, das Papke (in Buer 2010, S. 233) mit Habermas Theorie kommunika-tiven Handelns in Beziehung setzt und das stets die „Ermächtigung der Ohnmächtigen“ (Buer 2010, S. 238) zum Ziel hat.

Dass dieser sozialrevolutionäre Impetus aus heutiger (und wohl auch damaliger) Sicht einen eher utopischen Charakter hat, steht außer Zweifel. Darüber hinaus haben Teams immer zunächst eine Funktion für die Organisation zu erfüllen. Die Idee einer sozio-metrischen Neuordnung von Organisationen wäre somit weder praktikabel noch durch-setzbar und fiele nicht unbedingt mit den funktionalen Erfordernissen der Organisation zusammen. Dennoch wirkt das Ideal einer möglichst harmonischen, kohäsionsförder-lichen Teamzusammensetzung deutlich in die heutige Organisationswelt hinein – man denke beispielsweise an Personalauswahl und Teamentwicklung. Dieses Kriterium einer soziometrischen Passung gilt umso mehr, je mehr die vielbeschworenen Synergieeffekte

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zwischen den Organisationsmitgliedern angestrebt werden. So ist es in Spitzenorchestern wie den Berliner Philharmonikern gängige Praxis, dass das gesamte Orchester (oder eine Stimmgruppe) konsensuell über die Neubesetzung von Stellen entscheidet. Dabei spielen nicht allein fachliche Aspekte, sondern auch die Frage eine Rolle, ob der Bewerber oder die Bewerberin „zu uns passt“1. Kollegiale Beziehungen erfüllen eine Reihe wichtiger Funktionen, z. B. eine MentorInnenfunktion, eine Informationsfunktion und eine soziale Unterstützungsfunktion (Sias 2009, S. 59–71). Eine positive und symmetrische soziome-trische Beziehung wirkt sich für diese Funktionen förderlich aus, wie Sias´ Resümee der diesbezüglichen Forschung deutlich macht:

The effectiveness of those functions is associated with the quality of the relation-ships […]. Employees with high-quality and functional peer relationships are more likely to receive effective mentoring, are better informed, and have greater access to effective networks of support in the workplace. (Sias 2009, S. 71)

Die Qualität der Arbeitsbeziehungen erwies sich in Studien darüber hinaus als korreliert mit der Arbeitszufriedenheit und dem Verbleib in der Organisation (z. B. Winstead et al. 1995 oder Harris et al. 2007). Während diese Befunde für die von Morenos postulierte Teamzusammenstellung nach soziometrischen Kriterien sprechen, gibt es auf der ande-ren Seite auch Argumente dafür, dass hoch kohäsive Teams unter bestimmten Umstän-den dysfunktionale Dynamiken (z. B. Konformitätsdruck, groupthink) entwickeln und in ihrer Leistung hinter Teams mit geringerer Kohäsion zurückbleiben können2.

Die Untersuchung der soziometrischen Beziehungsqualität innerhalb von Teams und zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften sowie der Auswirkungen dieser Bezie-hungsqualität auf Arbeitszufriedenheit und Arbeitsleistung ist trotz einiger existierender (meist älterer) Studien ein noch unabgeschlossenes Projekt (vgl. jedoch die Forschung zur Beziehung zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden, Abschn. 8). Im Gesamt-bild bleibt der Eindruck, dass der Einfluss sozialer Beziehungen am Arbeitsplatz in der organisationspsychologischen Forschung wieder stärkere Aufmerksamkeit verdient:

Die genauere Betrachtung der Sozialkontakte am Arbeitsplatz ist durchaus sinnvoll, wenn man bedenkt, dass die meisten Männer und […] Frauen die meiste Zeit ihres Lebens am Arbeitsplatz verbringen. (Sickendiek 2009, S. 87)

Gerade angesichts der Umwälzungen in der Arbeitswelt, z. B. zunehmender kreativer Anforderungen an ‚High Performance Teams‘, einer Tendenz zur Virtualisierung von Teamzusammenhängen und einer wachsenden Zahl von remote-Arbeitsplätzen lenkt Moreno unseren Blick auf die sozialen Kontextbedingungen einer guten, erfüllten und produktiven Arbeit.

3 Organisationen als Interaktionssysteme

Wie im vorigen Abschnitt deutlich wurde, sind Beziehung, Begegnung und Handlung zentrale Kategorien in Morenos Werk. So ist die Annahme naheliegend, dass Moreno Organisationen zunächst als Interaktionssysteme gesehen hätte, in denen sich die sozio-metrischen Beziehungen der handelnden Personen zu Netzwerken verweben. Wenngleich

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die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie (z. B. March und Simon 1958, zusammenfassend Berger und Bernhard-Mehlich 2006) oder das Konzept der Mikropoli-tik (z. B. Crozier und Friedberg 1979, Neuberger 2006) vor dem Hintergrund der in den letzten Jahrzehnten immer stärker vollzogenen Abkehr von rationalistischen Bildern der Organisation durchaus an Attraktivität gewinnen, ist die akteurtheoretische Perspektive in den aktuellen organisationstheoretischen Diskursen doch weitestgehend in den Hinter-grund getreten. Dies liegt sicher auch daran, dass akteurtheoretische Ansätze zwar die Grenzen der Rationalität von Organisationen beleuchten, sich aber mit der Frage schwer-tun, wie angesichts von Partikularinteressen, irrationalen Entscheidungen und Macht-streben der Beschäftigten die Kontinuität und Integrationskraft von Organisationen zu erklären ist.

Moreno einer streng akteurtheoretischen Sicht zuzuordnen, würde seiner holistischen Denkweise jedoch ohnehin nicht gerecht. Vielmehr hebt er den konstitutiv sozialen Cha-rakter des Handelns hervor. Für ihn ist jedes Handeln untrennbar auf ein Gegenüber bezo-gen und findet daher stets in der Begegnung statt (Moreno 1973, S. 53). Damit liegt der Fokus klar nicht auf der Einzelperson, sondern auf den Beziehungen zwischen den Personen – die Organisation besteht also für Moreno nicht aus Individuen, sondern aus den Prozessen, die ‚zwischen‘ den Individuen ablaufen und diese verbinden3. Es sind also nicht die isolierte Einzelhandlung und die ihr zugrunde liegenden individuellen psychi-schen Dispositionen, die für Moreno die Organisation ausmachen, sondern die Bezogen-heit der Handlungen aufeinander und ihre interaktive Verschränkung4.

Die Fragestellung des Verhältnisses von Organisation auf der einen und Handeln bzw. Interaktion auf der anderen Seite ist organisationstheoretisch von besonderer Tragweite. Niklas Luhmann, der den wohl elaboriertesten und anspruchsvollsten organisationstheo-retischen Entwurf vorgelegt hat, argumentiert, dass Interaktion und Organisation unter-schiedlichen Systemebenen angehören und unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten folgen. Stabilität können soziale Systeme nach Luhmann nur dadurch gewinnen, indem sie das Problem der doppelten Kontingenz lösen: Während in Interaktionssystemen (wie z. B. auf einer Party) hohe Freiheitsgrade bestehen, um an Kommunikationsangebote anzu-schließen (z. B. mit Themenwechsel oder auch Abbruch der Kommunikation), müssen Organisationen die Anschlussmöglichkeiten sehr viel stärker spezifizieren, um ihre Stabi-lität zu sichern. Organisationen sichern dieses Fortbestehen über die durch Mitgliedschaft und Gehaltszahlung erzeugte Bindung ab (Luhmann 2000, S. 84). Die Mitgliedschaft ist daran gebunden, dass die Organisationsmitglieder bestimmte Erwartungen erfüllen (oder ihnen zumindest nicht grob zuwiderhandeln), die sich als Regeln ausprägen (Zech 2013, S. 27–31) und beispielsweise in Form von Entscheidungsprogrammen oder Kom-munikationswegen (dem ‚Dienstweg‘) formalisiert sind (Luhmann 2000, S. 225). Nun ist Luhmanns Organisationstheorie keinesfalls so zu verstehen, dass diese Prämissen tat-sächlich das Verhalten der Organisationsmitglieder determinieren. Im Gegenteil geht es ihm gerade darum, Menschen und Organisationen in ihrer jeweiligen Eigengesetzlich-keit zu konzipieren: Menschen und Organisationen sind füreinander Umwelt, wenngleich Menschen natürlich notwendig für die autopoietische Reproduktion von Organisationen sind. Daraus leitet sich auch die Autonomie des Menschen trotz der gesellschaftlichen Überformung seines Verhaltens ab: Kein Mensch, so Luhmann (1995), dürfe durch eine theoretische Setzung „derart in soziale Systeme eingefügt werden, daß seine Reproduk-

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tion (auf welcher […] Systemebene immer) eine soziale Operation wird und durch die Gesellschaft oder eines ihrer Subsysteme vollzogen wird” (Luhmann 1995, S. 166 f.). Diese Annahme verweist auf das Rollenkonzept, das vor allem in Luhmanns älteren Schriften (z. B. Luhmann 1976) eine zentrale Funktion hat. Noch 1984 hebt er in seinem Standardwerk ‚Soziale Systeme‘ (S. 431) hervor, dass die Bildung formaler Organisation nur dank der Trennung von Person und Rolle möglich sei.

Umso bemerkenswerter ist es, dass Luhmann in seinen neueren Schriften dem Rollen-konzept keinen größeren Stellenwert mehr einräumt. Zwar sei das Rollenkonzept mit der Trennung sozialer und psychischer Systeme kompatibel, unterstelle aber eine zu starke Integration von sozialen Strukturen und individueller Motivation (Luhmann 2000, S. 82). Luhmanns Einwand wendet sich gegen eine bestimmte Richtung der Rollentheorie, näm-lich die sogenannte strukturelle Rollentheorie mit ihrer inhärenten Annahme, dass soziale Strukturen wie z. B. Normen individuelles Handeln determinieren (für eine ausführliche Kritik dieser Annahme vgl. Stryker und Statham 1985, S. 340–341). Luhmanns Theo-rieanlage wendet dieses Reduktionismusproblem u. a. dadurch ab, dass er organische, psychische und soziale Sphäre drei getrennten Systemtypen zuordnet, die mit jeweils spezifischen Operationsmodi arbeiten (biochemische Vorgänge, Gedanken und Kommu-nikation). Systeme unterschiedlichen Typs können nach Luhmann in ihren Operationen nicht aneinander anschließen – stattdessen stehen sie zueinander in einem Verhältnis der Interpenetration5, d. h. sie konvergieren in gemeinsamen Ereignissen, versehen diese aber in ihren Operationen aber mit

jeweils unterschiedliche[r] Selektivität und unterschiedliche[r] Anschlußfähigkeit, unterschiedliche[n] Vergangenheiten und unterschiedliche[n] Zukünfte[n] […]. Die Elemente bedeuten daher, obwohl sie als Ereignisse identisch sind, in den beteilig-ten Systemen verschiedenes: Sie wählen aus jeweils anderen Möglichkeiten aus und führen zu jeweils anderen Konsequenzen. (Luhmann 1984, S. 293)

Diese Prämisse einer strikten Trennung zwischen den Systemtypen eröffnet einerseits interessante Optionen für die Erklärung der Eigendynamik und der Irreduzibilität psychi-schen und sozialen Geschehens. Auf der anderen Seite erkauft Luhmann mit der Vagheit des Interpenetrationskonzeptes, die sich aus dieser Prämisse ergibt, jedoch bedeutsame Defizite bei der Erklärung des Geschehens in Organisationen. Diese und weitere Kritik-punkte an den Prämissen der systemischen Organisationstheorie sind verschiedentlich geäußert worden. So läuft die Systemtheorie nach der Ansicht von Selvini-Palazzoli – selbst einer bedeutenden Systemikerin – durch die Abkopplung sozialer Emergenzphäno-mene von den Akteuren und ihrer Psyche Gefahr, einem ‚holistischen Reduktionismus‘ anheimzufallen (vgl. die ausführliche Kritik von Iding 2010, der sich auf Selvini-Palazzoli bezieht). Wie ich im Folgenden zeigen möchte, sehe ich in Morenos Überlegungen inte-ressante Ansatzpunkte für die Aufhellung dieses blinden Flecks und für die Konstruktion einer Organisationstheorie, die weder dem von Selvini-Palazzoli kritisierten ‚systemisch-holistischen Reduktionismus‘ Vorschub leistet noch durch eine rein akteurtheoretische Perspektive Organisation als Emergenzphänomen außer Acht lässt.

Auf den ersten Blick scheint es, als fokussiere Morenos Sozialtheorie allein auf die Ebene der Interaktion (im Sinne der Luhmannschen Theorie) und blende die Bedingun-gen, die den Fortbestand dieser Interaktionen sichern, d. h. die Ebene der Organisation

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im Sinne Luhmanns aus. Die Organisation scheint in dieser Perspektive identisch mit der Gesamtheit der zwischen ihren Mitgliedern bestehenden sozioemotionalen Beziehungen. So kommt auch Richter (1994) zu dem Schluss, für Moreno sei in seinen Bestrebungen nach einer Veränderung sozialer Systeme stets „ohne […] je sich auf das Aktionsfeld ‚Organisation‘ zu beziehen […] die Gruppe der Ansatzpunkt der Veränderung“ (S. 57). Diesen Fokus auf die Gruppe statt auf die Organisation macht Iding (2000, S. 34) für die verhaltene Rezeption Morenos seitens der Organisationsentwicklung verantwort-lich. Moreno zu unterstellen, er hätte Organisationen lediglich als Beziehungsnetzwerk verstanden, greift jedoch meiner Ansicht nach zu kurz und würde der Komplexität von Morenos Verständnis sozialer Systeme nicht gerecht. So hebt er beispielsweise nach sei-nem in Moreno und Borgatta (1989) dokumentierten „Experiment mit Soziodrama und Soziometrie in der Industrie“ hervor, dass die Schwierigkeiten des Protagonisten nur vor dem Hintergrund der Führungs- und Organisationskultur zu verstehen seien:

Wir identifizieren nicht nur das Problem der Arbeiter, sondern beginnen auch damit, einige Probleme des Industriekonzerns zu identifizieren […]. In gleicher Weise war es bedeutsam, daß wir im Verfahren nicht nur die Begrenzungen der Person am Arbeitsplatz herausfanden, sondern wir begannen auch damit, die Begrenzungen des Arbeitsplatzes und die Struktur, in die der Arbeitsplatz eingebettet ist [gemeint sind Kriterien für Personalselektion, die Art und Weise, wie mit Entlassungen umgegangen wird und welche ungeschriebenen Regeln es für die Kommunikation zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten gibt, d. Verf.], zu erforschen. (Moreno und Borgatta 1989, S. 262)

Hier wird deutlich, dass Moreno organisationales Verhalten nicht lediglich als freies Kräf-tespiel der Interaktion, sondern durchaus auch in seiner Abhängigkeit von den geschrie-benen und ungeschriebenen Regeln der Organisation (Ameln und Zech 2011) verstanden hat. Diese Frage der Wirkmächtigkeit der Organisation gegenüber dem Individuum hat Moreno zwar nicht vertieft – dennoch lassen sich aus den bisher referierten Überlegungen Folgerungen für das Verhältnis von Organisation, Person und Interaktion ableiten.

4 Organisationen als Rollensysteme

Obwohl Moreno keine eigenständige Organisationstheorie ausgearbeitet hat, darf man zweifellos davon ausgehen, dass er Organisationen (auch) rollenbezogen konzeptualisiert hätte. Für Moreno ist der Mensch ein Rollenwesen, der stets in Rollen agiert. Morenos Rollentheorie braucht an dieser Stelle nur kurz referiert werden, da sie vielfach ausführ-lich beschrieben und diskutiert wurde (z. B. Hochreiter 2004; Hutter 2000, S. 131–155; Leutz 1974, S. 36–54; Petzold und Mathias 1982).

Jede Rolle stellt für Moreno „eine Fusion privater und kollektiver Elemente“ (Moreno 1982d, S. 298) dar und weist damit einen individuellen und einen gesellschaftlich nor-mierten Anteil auf. Seiner Ansicht nach beinhaltet jede Kultur einen bestimmten Fundus an vorkonfigurierten soziodramatischen Rollen (wie Vater, LehrerIn, KollegIn, Führungs-kraft), die das Verhalten der Individuen prägen. Schält man – mit einem Bild von Moreno (1982d, S. 298) – die jeweils individuell erscheinenden Rollen einer Person Schicht für

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Schicht ab, stößt man so auf einen Kern von kollektiven Rollen, die die Angehörigen einer Kultur verbinden: „Die Millionen privater Welten überlappen sich in großen Berei-chen. Den größten überlappenden Anteil bilden die rein kollektiven Elemente […]. Von diesem Kern aus erscheinen die privaten Rollen wie ein Anstrich, der den kollektiven Rollen individuelle Färbung gibt“ (Moreno 1982d, S. 298).

Darüber, dass Menschen nie in Gänze, sondern stets nur in Form bestimmter Rollen (z. B. VertriebsmitarbeiterIn, MitarbeiterIn in Projekt XY, AbteilungsleiterIn) in das orga-nisationale Geschehen eingebunden sind, herrscht Konsens. Die formalen Erwartungen an diese Rollen sind in einem gewissen Maße in Stellenbeschreibungen, Organisationshand-büchern, Führungsgrundsätzen etc. festgeschrieben. Moreno hätte solche Erwartungen als ‚logoïde Rollen‘ bezeichnet (Petzold verwendet im selben Zusammenhang den Begriff ‚kategoriale Rollen‘, vgl. Petzold 1982, S. 89). Zwar wird aus Morenos Schriften deutlich, dass er dabei eher gesellschaftliche Rollenklischees als organisationale Rollen im Beson-deren vor Augen hatte, aber dennoch sind seine Überlegungen problemlos auf Organi-sationen anwendbar. Die angesprochenen formalen Erwartungsstrukturen besitzen dabei keine absolute normative Steuerungswirkung auf das Verhalten der Akteure, sondern bie-ten stets einen mehr oder minder großen Spielraum für die Rollenausgestaltung. Moreno weist auf diesen Umstand hin: „social roles […] are not rigidly outlined […]. A varying degree of spontaneity is permitted, indeed, expected from them” (Moreno 1972, S. 158).

Jede soziodramatische Rolle – und somit auch jede organisationale Rolle – muss individuell ausgestaltet werden, wobei mehr oder weniger große Spielräume für diese individuelle Ausgestaltung bestehen können. Petzold (1982, S. 89) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der aktionalen Rollendimension. Für hochgradig festge-legte Rollen verwendet Moreno den Begriff ‚Kulturkonserve‘ (Moreno 1996, S. 440). Wird eine Rolle weitestgehend ohne Rückgriff auf Rollenkonserven neu geschaffen, spricht Moreno (1982c, S. 260) von Rollenkreation (role-creating), Rollenspiel (role-playing) bezeichnet die Ausgestaltung einer Rolle mit einigen Freiheitsgraden, bei der Rollenübernahme (role-taking) wird eine vorgegebene Rollenkonserve ohne individuelle Gestaltungselemente reproduziert. Moreno hat ganz im Geiste des expressionistischen Zeitgeistes stets die Gefahr der Erstarrung in sozial normierten Rollen angemahnt und auf eine Verflüssigung starrer Rollenkorsette hingearbeitet (zu seinem Kreativitätskon-zept vgl. Abschn. 9). Gerade in der Frühphase seines Schaffens verfolgt Moreno damit eher das Programm einer „Anti-Rollentheorie“ (Petzold 1982, S. 62). Für ihn ist Ver-halten niemals durch die kategoriale Rollendimension determiniert, sondern weist immer Freiräume für eine kreative Abwandlung oder sogar Neuschöpfung von Rollen auf. So unterstellt Moreno ein menschliches Bedürfnis, die Spielräume für die individuelle Aus-gestaltung von Rollen zu erweitern und Rollenkonserven aufzubrechen (Aktionshunger):

Von jedem wird erwartet, daß er gemäß seiner offiziellen Rolle lebt – ein Lehrer soll sich als Lehrer, ein Schüler als Schüler verhalten usw. Aber jeder Einzelne sehnt sich nach viel mehr Rollen, als er im wirklichen Leben bekleidet, und jeder möchte selbst in einer gegebenen Rolle Abwechslungen erleben. (Moreno 1996, S. 328)

Soziales Handeln im Spannungsfeld von Rollenerwartungen und individueller Gestal-tung ist für Moreno also stets auf einem Kontinuum verortet zwischen der Reproduktion starrer Rollenkonserven und der kreativen Rollenneuschöpfung. Die beiden Extrempole

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des Kontinuums, der „pre-conserve man“ auf der einen und der „spontaneity player“ auf der anderen Seite, bleiben aber hypothetische und in der Praxis nicht realisierbare Idealtypen. Mithilfe von Morenos Rollenkonzept und der Unterscheidung von kategori-alen und aktionalen Rollendimensionen lassen sich somit soziale Normiertheit und indi-viduelle Ausgestaltung, Stabilität und Abweichung gleichermaßen theoretisch abbilden. Doch mit beruflichen Rollen verbinden sich nicht nur formale, sondern auch informale Erwartungen. Beispielsweise erfordert die überzeugende Ausfüllung einer exponierten Führungsrolle einen bestimmten Habitus im Sinne Bourdieus. In beiden Fällen handelt es sich um kategoriale Rollen im Sinne Petzolds.

Wie Rollen in einer gegeben Situation zwischen Übernahme von Rollenerwartungen und individueller Prägung ausgestaltet werden, ist von zahlreichen Faktoren abhängig. Gerade im Hinblick auf die Differenz von Formalität und Informalität ist diese Frage jedoch von besonderer Relevanz. Moreno widmet dieser Fragestellung keine eigenstän-dige Analyse, jedoch lassen sich aus seinem Werk einige Hinweise auf mögliche Antwor-ten entnehmen. Zunächst ist jegliches Rollenhandeln stets soziales Handeln und findet vor dem Hintergrund einer konkreten Interaktion statt (hier schließt sich der Kreis zu Morenos Verständnis von Organisationen als Interaktionssystemen, das in Abschn. 3 dar-gelegt wurde). Dabei geht Moreno von einem die Interaktion tragenden telischen Prozess der gegenseitigen Perspektivenverschränkung aus (vgl. dazu den sehr lesenswerten Bei-trag von Krotz 1992). Petzold (1982, S. 95) betont in diesem Zusammenhang, Moreno habe jeden sozialen Zusammenhang stets als „co-being, co-action and co-experience“ verstanden: „Co-experiencing and co-acting heißt, sich an die Stelle des anderen zu set-zen und damit seine Bedürfnisse zu erkennen und seine Reaktionen vorwegzunehmen, gleichzeitig aber auch seine Rolle zu übernehmen, ohne die eigene Rolle zu verlieren oder aufzugeben“ (Petzold 1982, S. 96).

Zusammenfassend können wir also festhalten, dass Moreno in Organisationen Hand-lungszusammenhänge gesehen hätte,

● die durch definierte soziodramatische Rollen mit konservierten Rollenerwartungen (kategorialer Rollenanteil) verbunden sind,

● und in denen die handelnden Personen diese Rollen der innerhalb der gegebenen Spielräume jeweils individuell umsetzen und ausgestalten (aktionaler Rollenanteil), wobei auch bei der Ausgestaltung dieses aktionalen Rollenanteils bei aller situativen Verschiedenheit auf „situation-patterns“ (Moreno 1972, S. 132), d. h. Skripte für die Ausgestaltung typischer Situationen zurückgegriffen wird.

● Dabei ist das Handeln der Beteiligten durch komplementäre Rollenkonfigurationen wie z. B. Führungskraft – MitarbeiterIn strukturiert (Petzold 1982, S. 95–99) und findet somit immer in der Begegnung statt („Co-enactment“).

Diese Zusammenhänge sind in Abb. 1 übersichtsweise veranschaulicht.Wie angedeutet, stellen die Dualitäten von Interaktion und Organisation, Struktur und

Handeln zentrale Problemfelder der Organisationstheorie dar. Ein Theorieentwurf, der der Komplexität von organisierten Sozialsystemen gerecht zu werden beansprucht, darf weder Organisationen auf die Summe der in ihr stattfindenden Handlungen reduzieren noch Handeln als organisational determiniert ansehen. Vielmehr muss er die Differenz zwischen der Sphäre der Interaktion und der Sphäre der Erwartungen mit ihren jeweiligen

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Eigengesetzlichkeiten berücksichtigen. Dies setzt unterschiedliche theoretische Konzepte und Begrifflichkeiten für die Beschreibung von Interaktion und Organisation voraus. Gleichzeitig muss die Beschreibung von Zusammenhängen zwischen diesen beiden Sphären möglich sein, um erklären zu können, wie sich das Geschehen in Organisationen im Zusammenspiel von Person, Interaktion und Organisation unter Berücksichtigung von deren jeweiliger Eigengesetzlichkeit entwickelt.

Morenos Rollenkonzept bietet gerade im Hinblick auf das zweite Kriterium eine interes-sante Erweiterung systemtheoretischer Erklärungsansätze, ohne das erste Kriterium (Nicht-Reduktionismus) zu verletzen. Theoriebautechnisch ist es an der Schnittstelle zwischen individueller und sozialer Sphäre angesiedelt – er selbst hat es als ‚Brücke‘ zwischen Psy-chologie und Soziologie verstanden (Moreno 1979). Seine Konzeption reicht jedoch noch weiter, indem sie auch den Stellenwert der leiblichen Ebene einbezieht: „Der Rollenbegriff ist quer durch die Humanwissenschaften, die Physiologie, die Psychologie, die Soziolo-gie, die Anthropologie anwendbar und verbindet diese auf einer neuen Ebene“ (Moreno 1979, S. 17). Es vermeidet die Einseitigkeiten sowohl der strukturellen Rollentheorie als auch symbolisch-interaktionistischer Ansätze, denn für Morenos Verständnis von Rolle als „Fusion privater und kollektiver Elemente“ (Moreno 1982d, S. 298) ergibt sich individu-elles Handeln immer aus dem Zusammenspiel von vorgeformter soziodramatischer Rolle und ihrer persönlichen Ausgestaltung. „Der Rollenbegriff“, so Luhmann (2002, S. 251), „ist in dem Problemkreis angesiedelt, wie man […] Individuum und Gesellschaft zugleich in die Theorie einbeziehen kann“ – genau dies leistet Morenos Rollentheorie, ohne dabei einem psychologischen oder soziologischen Reduktionismus zu verfallen.

5 Organisationen als szenisch strukturierte Erfahrungsräume

Wie gesehen, betrachtet Moreno den Menschen als Rollenwesen – die Implikationen die-ser Annahme sind aber noch weitreichender als dies im Vorangegangenen deutlich wurde. Moreno unterscheidet psychosomatische, psychodramatische und soziodramatische Rol-len. In seiner Entwicklungstheorie (Leutz 1974, S. 38–43, Mathias 1982, Schacht 2003, in diesem Bd.) macht er deutlich, dass sich die Rollen auf diesen drei Ebenen sukzessive im Laufe der biografischen Entwicklung herausbilden, wobei die psychodramatischen

Abb. 1: Rollengestaltung im Zusammenspiel von kategoria-len, aktionalen und situativen Rollenanteilen. (Quelle: eigener Entwurf)

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die psychosomatischen Rollen nicht ersetzen, sondern auf ihnen aufbauen, sie weiterent-wickeln und integrieren. Das gleiche gilt für das Verhältnis von psychodramatischen und soziodramatischen Rollen. Moreno vertritt damit ein frühes umfassendes (wenngleich nur in Ansätzen ausgearbeitetes) bio-psycho-soziales Menschenbild (vgl. Petzold in Vorbe-reitung), das vor dem Hintergrund neuerer neurowissenschaftlicher Forschungen, z. B. zu Embodiment (vgl. Tschacher und Storch 2012), heute aktueller denn je erscheint. More-nos Annahme „Rollen entstehen nicht aus dem Selbst, sondern das Selbst kann sich aus Rollen entwickeln“ (Moreno 1982a, S. 280), d. h. aus Erfahrung im beruflichen und pri-vaten biografischen Kontext.

In dieser Konzeption stellt jede gegebene Szene eine Aktualisierung aller drei Rol-lenebenen dar, d. h. in jeder Situation sind psychosomatische, psychodramatische und soziodramatische Rollen gleichzeitig präsent und miteinander verwoben. Dabei weist jede Rollenebene ihre eigene Geschichtlichkeit auf (vgl. Abb. 2). Rollen stellen nicht nur kulturell tradierte Muster dar, sondern sie werden – und diese Annahme ist für Moreno so zentral, dass er sie in seiner Definition des Rollenbegriffs aufnimmt, allerdings wie-derum ohne näher darauf einzugehen – „aufgrund vergangener persönlicher Erfahrungen […] gebildet“ (Moreno 1979, S. 16). Für ihn ist jede psychosomatische, psychodra-matische oder soziodramatische Rolle „eine letzte Kristallisation aller Situationen in einem bestimmten Handlungsbereich, die das Individuum durchlebt hat (zum Beispiel der Essende, der Vater, der Flugzeugpilot)“ (Moreno 1982a, S. 277, Hervorhebung im Original). Jede Szene ist daher auf der Ebene der psychosomatischen, der psychodra- matischen und der soziodramatischen Rollen verbunden mit vorangegangenen Szenen, die in die Gegenwart hineinwirken: Jede Rolle hat einen locus nascendi, an dem sie ent-steht (Moreno und Moreno 1944, S. 99, zitiert nach Petzold 1982, S. 101), und „wenn eine Rolle über eine Periode eine bestimmte Funktion innehatte, mag sie vom manifesten Lebensvollzug eines Individuums verschwinden, aber sie schreibt sich als dynamischer Faktor in seinem inneren Leben fort“ (Moreno 1982b, S. 295), ohne dass eine Rolle die Entwicklung des Individuums determinieren würde.

Bei der Entwicklung und Verkörperung von Rollen, darauf weist Petzold (1982, S. 165 f.) hin, ist der Leib für Moreno gewissermaßen der Ankerpunkt und Resonanzboden:

Der Leib als die Basis der menschlichen Existenz ist auch die Grundlage des ‚Selbst‘, jener individuellen, organismischen Präsenz, die in ihrer Einmaligkeit

Abb. 2: Die dramatologische Sicht auf Organisationen. (Quel-le: eigener Entwurf)

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dennoch der kollektiven Welt des Biologischen und des Sozialen zugehört […]. Die Sedimentationen von Handlungen, die Konserven des Rolleninventars, die gespei-cherten, ‚eingefleischten‘ Szenen und Stücke sind im Selbst zu einer Textur verwo-ben, die eingeflochten ist in die Strukturen der Lebenswelt, aus der sie hervorgingen […] (Hervorhebung im Original).

Auch in Organisationen steht jede Szene, jede Handlung, jede Kommunikation und jede Entscheidung damit in zwei Kontinuitäten: in der Kontinuität der individuell-psychischen Geschichte der beteiligten Personen und der sozialen Systemgeschichte der Organisa-tion (vgl. hierzu Organisationsentwicklung 2014). Jede Szene ist Teil eines persönlichen Lebensdramas (Ottomeyer 1987), ebenso wie sie Teil des Dramas der Organisation ist. (Diesen Umstand macht sich das Psychodrama zunutze, wenn Szenen, die für eine Pro-blemlage am Schnittpunkt von Person und Organisation prototypisch sind, sowohl im Hinblick auf die individuellen Motivationslagen und Problemkonstruktionen der Prota-gonistInnen als auch im Hinblick darauf befragt werden können, was sie über die Organi-sation, über strukturelle Defizite, kulturelle Muster etc. aussagen.)

6 Organisationen als Co-Konstruktion der Akteure

Wie bereits in Abschn. 4 deutlich wurde, sieht Moreno jegliches Handeln – und somit auch Handeln in Organisationen – als Prozess von „co-being, co-action and co-expe-rience“. Entsprechend beschreibt auch Buer (2010, S. 325) Organisationen in der psy-chodramatischen Traditionslinie als „interaktive Inszenierung“. Auf die Anschlussstellen dieser Konzeption zu den Überlegungen Goffmans oder zu mikropolitischen Ansätzen hat Buer (z. B. 2004b sowie den Beitrag in diesem Bd.) verschiedentlich hingewiesen. Die Reichweite einer solchen dramatologischen Sicht auf Organisationen geht aber weit über die von Buer vorrangig thematisierten Fragen von Impression Management oder mikropolitischen Spielen hinaus. Vielmehr verweist die Konzeption von Organisation als interaktiver Inszenierung auf die Frage, wie die Beteiligten organisationale Wirklichkeit in einem gemeinsamen sozialen Prozess konstruieren und wie diese Wirklichkeit wie-derum auf ihr Erleben und Handeln zurückwirkt. Dies ist die zentrale Fragestellung des symbolischen Interaktionismus, dessen Nähe zu Morenos Denken Buer ebenfalls in ver-schiedenen Publikationen herausgestellt hat. Diese Basisannahme, dass Menschen ihre kulturellen und sozialen Welten ebenso formen wie sie von diesen geformt werden, findet sich beispielsweise in Morenos „Sociometric View of Recent History“ (1976).

Des Weiteren ergeben sich hier Bezüge zur Strukturationstheorie von Giddens (1995): Die Erfahrungen, die eine Person beispielsweise als Führungskraft in ihrer Organisation macht, tragen dazu bei, die Führungsrolle zu formen und die Rolle wirkt ihrerseits for-mend auf das Handeln in einer gegebenen Situation zurück. Die einzelnen Szenen stehen sowohl für die einzelnen handelnden Akteure als auch für das System in einem Sinn-zusammenhang, der sich einerseits in der Rückschau als mehr oder weniger konsistentes Narrativ der eigenen Geschichte präsentiert, andererseits dem Anschlusshandeln im Vor-griff auf Zukünftiges Orientierung verleiht.

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Die Arbeiten zum Konstruktivismus, zum sozialen Interaktionismus und zum sozialen Konstruktionismus haben verdeutlicht, dass Menschen die Realität niemals in objektiver und von ihnen unabhängiger Form gegeben ist. Ein Beispiel dafür ist die Zurechnung als Handlung, die zustande komme, wenn BeobachterInnen – „mit Hilfe welcher Semantiken (‚Absicht‘, ‚Motiv‘, ‚Interesse‘) immer” (Luhmann 1984, S. 228) – Selektionen auf ein System (und nicht auf die Umwelt) attribuieren. Ähnlich wie im Fall von Watzlawicks bekanntem Kommunikationsaxiom könne so auch die Unterlassung einer Handlung als Handlung aufgefasst werden. So löst Luhmann den Handlungsbegriff von den Intentio-nen der Akteure, die für die BeobachterInnen nicht unmittelbar zugänglich sind, sondern erschlossen werden müssen. Solche interpretativen Prozesse sind konstitutiv für Führung (siehe Abschn. 8), für Entscheidungen, für die Zurechnung von Verantwortung, für die Attribution von Kompetenz usw.

Im Hinblick auf das oben vorgetragene Verständnis von Organisation als die Interak-tion strukturierte Rollenstruktur ist diese Erkenntnis auch deshalb von Bedeutung, weil die Zurechnung einer bestimmter Handlung/Kommunikation (oder ihres Ausbleibens) auf die Rolle eine Konstruktion ist. So können die Mitarbeitenden beispielsweise eine als nachteilig erlebte Entscheidung der Vorgesetzten auf Rollenzwänge, denen sie in ihrer Rolle unterliegt (kategoriale Rolle), oder als Ausdruck ihres persönlichen Führungsver-ständnisses auffassen (aktionale Rolle). Die Attribution auf die Rolle vs. auf die Person legt ein völlig anderes Anschlusshandeln nahe. Auf der anderen Seite können Mitarbei-tende Kommunikationen mit Hilfe von Kontextmarkierungen so rahmen, dass sie einen Bezug auf einzelne Rollen nahelegen oder auch als Extra-Rollen-Kommunikation erlebt werden. Auf die Frage, wie rollenbezogene Interaktion vor dem Hintergrund solcher situ-ativen Rahmungen (Goffman 1980) co-konstruiert wird, ist Moreno nicht eingegangen, schon allein weil zu seiner Zeit das theoretische Instrumentarium für die Behandlung sol-cher Fragestellungen noch nicht weit genug entwickelt war. Wie im nächsten Abschnitt zu sehen sein wird, kann hier aber ein wichtiger Beitrag liegen, um die Morenosche Rollen-theorie für eine weiterreichende Analyse des Verhältnisses von Formalität und Informal-ität in Organisationen nutzbar zu machen.

7 Das Rollenkonzept als theoretisches Scharnier zwischen Organisation und Interaktion, Formalität und Informalität

Auf der Basis der vorangegangenen Überlegungen lassen sich nun einige Erkenntnisse aus verschiedenen theoretischen Kontexten zusammenfügen. Organisationen unterschei-den sich von Interaktionen in den Möglichkeiten, Erwartungen zu formalisieren. Sol-che formalisierten Erwartungen dienen dazu, die Beiträge der Mitarbeitenden in einer arbeitsteiligen Organisation auf die jeweiligen Ziele auszurichten und der Organisation Stabilität zu verleihen. Auf dieser Ebene von Geschäftsordnungen, Stellenbeschreibun-gen, strategischen Vorgaben, Zielvereinbarungen usw. werden beständig Selbstbeschrei-bungen produziert, die die Rationalität des organisationalen Handelns gewährleisten sollen und die dabei selbst von dieser Rationalität ausgehen. Die Organisationsmitglieder sind über die Mitgliedsrolle an diese Erwartungen gebunden, allerdings nicht in dem Sinne, dass die formalen Erwartungen das Handeln der Beteiligten determinieren würden

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– entsprechend Luhmanns Postulat, dass Menschen nicht Bestandteil, sondern Umwelt von Organisationen sind. Vielmehr erzeugt die Mitgliedschaft eine „indifferenzbasierte Motivation“ (Luhmann 2000, S. 84), die den Mitgliedern abverlangt, den formalen Erwartungen gerecht zu werden oder diese zumindest nicht zu offenkundig zu verlet-zen. Insbesondere in „Funktionen und Folgen formaler Organisationen“ hat Luhmann (1976) herausgearbeitet, wie sich gewissermaßen im Schatten der formalen Erwartun-gen Verhaltensweisen herausbilden, die quer zu den offiziellen Erwartungen stehen oder ihnen sogar widersprechen. Auf der einen Seite können sich so dysfunktionale kulturelle Muster herausbilden, die die Erreichung der Ziele behindern. Auf der anderen Seite ist in der aktuellen Organisationstheorie immer wieder betont worden (z. B. von Ortmann 2004), dass die Freiheitsgrade für Abweichungen, die durch die Differenz zwischen for-maler Organisation und informellen Möglichkeiten der Rollengestaltung eröffnet werden, „wichtige, oft unerläßliche Systemfunktionen erfüllen“ (Luhmann 1976, S. 48). Es fehlt jedoch an einem Ansatz, der die Anschlüsse zwischen diesen neueren Entwürfen und der Systemtheorie konzeptuell besser abbilden kann. Der Anspruch, man müsse „zeigen, wie Gesellschaft das von ihren Rollenerwartungen ausgeschlossene Verhalten inkludiert und wie sie gerade dadurch, durch Inklusion des Exkludierten, an Stabilität gewinnen kann“ (Ortmann 2008, S. 155), ist auch für Organisationen hochrelevant.

Die bisherigen Überlegungen können dazu beitragen, diese wichtige und durch das Interpenetrationskonzept nur vage beleuchtete Schnittstelle zwischen Formalität und Informalität aufzuhellen. Wie in Abb. 1 gezeigt, gehen nach Morenos Überzeugung ist das Rollenverhalten der Organisationsmitglieder stets geleitet durch

● die durch die formalen Erwartungen geprägten kategorialen Dimensionen der Rolle, ● die individuelle Ausgestaltung des aktionalen Rollenanteils auf der Basis vorange-

gangener Erfahrungen, ● Schablonen für das Handeln in bestimmten Situationen (Morenos „situation-patterns“), ● die situative Ausgestaltung der Rolle in der Interaktion, der soziometrischen Matrix

und der Begegnung mit den SpielerInnen der jeweiligen Komplementärrollen, ● die Co-Konstruktion von Wirklichkeit in Abhängigkeit von der Wahrnehmung und

von Bewertungen (z. B. Attributionen) des Verhaltens der InteraktionspartnerInnen.

Dabei erleben sich die Organisationsmitglieder nie allein als allein unter organisationa-len Zwängen agierende formale Rollenträger, sondern auch als Menschen, die Gestal-tungsspielräume zur Verfügung haben. In welchem Maße eine Person die Handlung eines Gegenübers auf dessen aktionale Rollenanteile attribuiert, ist daher entscheidend für ihr Erleben und Anschlusshandeln, beispielsweise für die Kooperationsbereitschaft oder das Entstehen von Konflikten. Die Erfahrungen, die die Beteiligten in diesem Zusammen-spiel auf der Ebene der Interaktion machen, wirken auf die individuelle Rollengestaltung zurück und sedimentieren gleichzeitig auf der Ebene der Organisation zu kollektiven informellen und latenten Mustern, die das nachfolgende Handeln beeinflussen. Auch wenn Organisation und Interaktion unterschiedliche Systemtypen darstellen, sind Orga-nisationen doch von diesen Interaktionsdynamiken nicht unbeeinflusst, da sie organisa-tionale Entscheidungen und Kommunikationen beeinflussen. Ein in der Praxis häufig zu beobachtendes Beispiel hierfür sind Verwerfungen auf der Interaktionsebene zwischen Vorstandsmitgliedern, die dazu führen, dass wichtige Entscheidungen in Veränderungs-

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prozessen nicht oder nur halbherzig getroffen werden, was den Bestand der gesamten Organisation bedrohen kann. Ein weiteres Beispiel, an dem sich der Zusammenhang von Organisation und Interaktion, Formalität und Informalität, Mensch und System illustrie-ren lässt, ist die Entwicklung von ehemaligen Staatsbetrieben wie der Telekom oder der Deutschen Bahn: Hier haben strukturelle Gegebenheiten dazu geführt, dass sich auf der Ebene der Interaktion kulturelle Muster ausbilden, die sich in Form typischer Rollen-konserven niederschlagen, sich in der Interaktion ständig reproduzieren und als „unent-scheidbare Entscheidungsprämissen“ (Luhmann 2000, S. 241) Entscheidungen in der Organisation beeinflussen.

8 Relationale Führung und Führungsethik

Während sich Moreno, wie angesprochen, in seinen Schriften kaum explizit über Orga-nisationen ausgelassen hat, hat ihn das Thema Führung immer wieder beschäftigt. 1936 – also einige Jahre vor Lewins Beschäftigung mit diesem Thema – veröffentlicht er seine Forschungen zur Wirkung von autoritärem, demokratischem und laissez-faire-Führungs-stil (Moreno 1981a). Im Fokus von Morenos Interesse steht dabei die soziometrische Grundlegung von Führung, d. h. der potenzielle Einfluss, der einer Person durch ihre Position im Beziehungsgeflecht einer Gruppe zukommt. So unterscheidet er

● den populären Führer (der auf den relevanten Kriterien viele Wahlen von Gruppen-mitgliedern mit niedrigem soziometrischem Status erhält),

● den mächtigen Führer (der viele Wahlen von Personen mit hohem soziometrischem Status erhält und durch die entstehenden „Kettenreaktionen“ weitreichenderen Ein-fluss hat als der populäre Führer) und

● den isolierten Führer (der relativ wenige Wahlen erhält, wobei diese Wahlen von mächtigen Führern stammen, die selbst viele Wahlen von soziometrisch hoch gestell-ten Individuen auf sich ziehen, vgl. Moreno 1996, S. 447).

Moreno verweist auf die Bedeutung des Rollenbegriffs für das Verständnis von Führung (ohne diese Fragestellung näher zu beleuchten), letztlich aber wird Führung als soziome-trisches Phänomen konzeptualisiert:

Die definierten soziometrischen Führertypen dürfen nicht mit landläufig ‚Führer‘ genannten Persönlichkeiten charismatischer oder magischer Art verwechselt wer-den. In ihrer Entwicklung sind noch viele andere Faktoren wirksam, besonders das Phänomen der Rolle; wie komplex aber auch ein Führerschaftsprozeß in situ erscheinen mag, ohne die Kenntnis der soziometrischen Grundlage kann er nicht verstanden und bewertet werden. (Moreno 1996, S. 447)

Führungspersonen werden in diesem Verständnis also letztlich durch die Wahlen anderer Menschen zu FührerInnen ‚gemacht‘: „Leadership thus appears as a manner of interac- tion involving behavior by and toward the individual ‚lifted‘ to a leader role by other individuals“, schreibt Helen Jennings (1944, S. 432), die teils gemeinsam mit Moreno, teils eigenständig dessen Forschungen zu den soziometrischen Grundlagen von Führung weiterentwickelte – eine Auffassung, die durchaus Bezüge zur heutigen Betonung der

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Akzeptanz von Führung durch die Mitarbeitenden aufweist, dabei aber ein informelles, naturalistisches Führungsverständnis zugrunde legt, das aus heutiger Sicht die Begrün-dung von Führung in der formalen Rolle gänzlich auszublenden scheint. In der Folge erschienen einige Beiträge, die den Zusammenhang von Soziometrie und Führung beleuchten, den Einsatz soziometrischer Mittel für die Entwicklung von Führungskräf-ten propagieren oder Führungskräften soziometrisches Denken nahelegen. So wurde beispielsweise auf die Möglichkeit hingewiesen, Mitarbeitende, die in informellen inner-organisationalen Netzwerken Führungsrollen einnehmen, im Dienste der Organisation zu nutzen:

The use of sociometric devices can be used not only as an integral part of the whole placement process but can also assist management in discovering indigenous leader-ship existing within the informal organization of an enterprise. This recognition by management of indigenous group leadership in the informal organization structure might very well be a major step toward more positive employer-employee relation-ships. For example, an alert supervisor, recognizing the significance of indigenous leadership in work groups, might, by working with these functional leaders, effect increased production, higher morale, better attendance records, and sounder bonds between management and labor. (Mescon 1959, S. 24)

Später ging das soziometrische Forschungsprogramm in der sozialen Netzwerkanalyse auf (vgl. den Beitrag von Schunter und Liebau in diesem Band oder Wald 2010).

Ein großer Teil der heute vorliegenden Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Führungskraft und MitarbeiterIn entstammt den Arbeiten zur relationalen Führung (bei-spielhaft seien nur Dachler 1992, Uhl-Bien 2006 oder Uhl-Bien et al. 2012 genannt6), insbesondere der Leader-Member-Exchange (LMX) Theory, die sich u. a. auf die Rol-lentheorie bezieht. Nach Uhl-Bien und ihren Kolleginnen hat dieser Forschungsstrang gezeigt, dass enge Führungsbeziehungen, d. h. solche mit einem hohen LMX-Wert, eine erhöhte Kommunikation, ein hohes Ausmaß von Loyalität und Vertrauen sowie eine posi-tive Einstellung gegenüber der eigenen Arbeit mit sich bringen. Sias (2009, S. 33) fasst die vorliegenden Erkenntnisse zusammen:

Employees with high-quality, trusting, open relationships with their supervisors tend to be better informed, obtain more useful feedback, and are more likely to receive useful career guidance than those with lower quality relationships. Super-visors who develop quality relationships with subordinate employees are better informed and receive more useful feedback than supervisors with lower quality subordinate relationships.

Liden et al. (1993) konnten zeigen, dass Erwartungen bzgl. der Kompetenz des Gegen-übers, die Sympathie sowie die wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden Prädiktoren für einen hohen LMX-Wert sind. Huang et al. (2008) kommen in ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass Führungskräfte und Mitarbeitende über unterschiedliche Schemata verfügen, aus denen jeweils spezifische Erwartungen an die Beziehungsqualität resultieren: Während sich Führungskräfte vorrangig an auf die Arbeitsrolle bezogenen Qualitäten wie Kompetenz der Mitarbeitenden, Verlässlichkeit, Eigenständigkeit und Commitment gegenüber der Arbeit orientieren, sind für Mitar-

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beiterInnen vor allem die interpersonalen Qualitäten der Führungskraft (z. B. Freund-lichkeit, Verständnis) bedeutsam. Ihre Studie zeigt, dass eine größere Übereinstimmung zwischen Erwartung und dem Verhalten des Gegenübers die Entwicklung der Beziehung begünstigt. Die soziometrische Attraktion von KollegInnen und Führungskräften ergibt sich somit immer aus einer Kombination unterschiedlicher, je nach Person und Rolle variierender Kriterien.

Die AutorInnen kommen auf der Basis der Befunde zu dem Schluss, dass Führungs-beziehungen sich relativ schnell (d. h. in ein paar Tagen) entwickeln und dann über die Zeit hinweg sehr stabil bleiben. Zu den Faktoren, die für die Entwicklung der Führungs-beziehung eine Rolle spielen, gehören z. B. die wechselseitige Verknüpfung sowie die Kongruenz der Ziele von Führungskraft und Mitarbeitenden. Hollander (2007) fand mit der critical incidents-Methode, dass MitarbeiterInnen für ihre Bewertung, wodurch sich gute bzw. schlechte Führungskräfte auszeichnen, überwiegend relationale Qualitäten her-anziehen – die vier meistgenannten waren dabei Wahrnehmungsvermögen, Involvement, Vertrauenswürdigkeit und Anerkennung (zitiert nach Uhl-Bien et al. 2012, S. 301). Fer-ries et al. (2009) zeigten, dass Vertrauen, Respekt, Affekt und Unterstützung zwischen den Parteien (Rollenerweiterung) wichtige Elemente bei der Entwicklung von Austausch-beziehungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden darstellen: „This represents a new view of the relationship as an end in itself […]“ (Uhl-Bien et al. 2012, S. 303). Die AutorInnen fassen die Forschung zu Führungsbeziehungen im postpositivistischen Para-digma wie folgt zusammen:

Effective leadership is that in which leaders and followers have strong, partnership relationships. The role of leaders in these processes is to provide environments that are inclusive, trusting, and supportive to followers; the role of the followers is to be active partners in the leadership process. (Uhl-Bien et al. 2012, S. 304)

Trotz dieser interessanten Befunde, die Morenos auf die Beziehungsqualität zwischen Führungskräften und MitarbeiterInnen fokussierte Perspektive unterstützen, ist dieser Bereich der Führungsforschung sowohl in der Theorie als auch im Hinblick auf empi-rische Forschungsarbeiten noch relativ schwach entwickelt (vgl. die Kritik von Hosking 2007 und Fairhurst 2007), vor allem wohl deswegen, weil das postpositivistische Para-digma der Führungsforschung auf Individuen und nicht auf Beziehungen fokussiert (Uhl-Bien et al. 2012, S. 291).

Zwar steht aus der Sicht der heutigen Organisations- und Führungsforschung außer Zweifel, dass in Morenos Verständnis von Führung als soziometrisch ausgezeichneter und dem Begegnungsideal folgender Beziehung Fragen der formalen Rollengestaltung, der Funktionalität von Führung für die Organisation, von funktionaler Macht etc. stärker berücksichtigt werden müssen; nichtsdestoweniger sprechen die Befunde dafür, dass sein relationales Führungsideal als normative Leitlinie des Führungshandelns auch heute noch eine hohe Relevanz aufweist: „Relationships – rather than authority, superiority, or domi-nance – appear to be key to new forms of leadership“ (Uhl-Bien 2006, S. 672).

Weiterhin lässt sich aus Morenos Werk eine ethische Position ableiten, die mit diesem relationalen Blick auf Führung Hand in Hand geht. Moreno (1995, S. 60 f.) postuliert:

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Die Hypothese der räumlichen Nähe besagt, dass zwei Individuen einander umso mehr unmittelbare Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Liebe schulden, je näher sie sich räumlich stehen. Solange du deine Verantwortung gegenüber deinem Nächsten nicht erfüllt hast […] solltest du den Individuen weiter keinerlei Aufmerksamkeit schenken. Mit dem ‚Nächsten‘ ist derjenige gemeint, der dir am nächsten wohnt, den du als Ersten auf der Straße triffst, der neben dir arbeitet, der neben dir sitzt, der, der dir zuerst vorgestellt wird.

Moreno hätte sicherlich den Standpunkt vertreten, dass diese Forderung nicht nur auf Organisationen anwendbar ist, sondern für diese sogar in besonderem Maße gilt, da Menschen einen großen Teil ihrer Zeit am Arbeitsplatz (vgl. das Zitat von Sickendiek in Abschn. 2) und in großer räumlicher Nähe verbringen. Aufmerksamkeit, Akzeptanz, Liebe, Verantwortung – diese Begriffe aus Morenos Zitat stellen die Richtschnur für eine Führungsbeziehung dar, die sich als authentische, wahrhaftige Begegnung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter/innen versteht (wobei Begegnung das Austragen von Konflikten durchaus einbezieht) und die über einen funktional verstandenen mitarbeiter-orientierten Führungsstil weit hinausgeht. Eine am Ideal der Begegnung ausgerichtete Führungspraxis verlangt der Führungskraft einen kontinuierlichen Perspektivenwechsel mit den Mitarbeitenden ab – „die Augen des Anderen statt seiner eigenen zu benutzen und sich mit den Augen des Gegenübers zu betrachten“, wie Moreno (1914) es sinnge-mäß formuliert. Empathie und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel gehören zu den (auch funktional) wichtigsten sozialen Kompetenzen von Führungskräften (Goleman et al. 2012). Durch die Augen der MitarbeiterInnen sieht man dann nicht nur deren Motiva-tionslage, ihre Arbeitszufriedenheit und die Schwierigkeiten, die diese Arbeitszufrieden-heit beeinträchtigen, sondern auch eigene Fehler und Führungsschwächen. Das heißt: Wenn sich die Qualität der Führungsarbeit durch ihren Grad an Reflexivität definiert, ist nur eine Führungskraft, die sich selbst kontinuierlich durch die Augen der Mitarbeitenden betrachtet, eine gute Führungskraft.

Aus Morenos Werk aber auf der anderen Seite den Anspruch abzuleiten, dass die Füh-rungsbeziehung sich durchgängig als Tele-Beziehung realisieren sollte, wäre nicht nur unrealistisch, sondern würde auch alle Beteiligten überfordern, würde auf die (ohnehin häufig unter hohem Druck stehenden) Führungskräfte zusätzlichen Druck ausüben, ihnen die Abgrenzung in ihrer Rolle erschweren und einer Vergemeinschaftung des Individu-ums das Wort reden, die in einer Zeit, in der die Mitarbeitenden ohnehin oft immer stär-keren Vereinnahmungstendenzen seitens der Organisation ausgesetzt sind (zu erkennen auch an der steigenden Anzahl psychischer Erkrankungen in Arbeitskontexten, vgl. DAK 2013), hochproblematisch wäre.

9 Organisationen und Kreativität

Organisationen müssen heute angesichts einer sich rapide verändernden Umwelt wand-lungsfähiger denn je sein. Morenos in Abschn. 4 vorgestellte Überlegungen bekommen in diesem Zusammenhang eine neue Relevanz: Organisationen können sich immer weniger auf etablierte Problemlösungen und Routinen (Morenos Kulturkonserven) verlassen und

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sind immer stärker gefordert, neue und kontextadäquate Anpassungsstrategien zu ent-wickeln. Kreativität ist hier nicht nur als individuelle Kompetenz der Mitarbeitenden, sondern vor allem als organisationale Ressource bedeutsam, die in der Kultur verankert werden muss, denn „der Wettbewerb zwischen Organisationen wird zunehmend auf der Basis von Kreativität ausgetragen“ (Sonnenburg 2007, S. 187, Hervorhebung im Ori-ginal, vgl. auch Mumford 2012). Die Entfaltung von Kreativität setzt Vertrauen voraus (Julmi und Scherm 2013), wodurch sich wiederum ein Bezug zu Morenos Begegnungs-konzept als Leitvorstellung der Beziehungen zwischen Mitarbeitenden und Führungs-kräften ergibt.

Moreno sieht

einerseits die entlastende und Kontinuität verleihende Bedeutung von Institutionen. Ihren tieferen Sinn für die Menschen erhalten sie, die aus spontanen und kreativen Handlungen hervorgegangen sind, jedoch dadurch, daß sie wiederum in sozialen Handlungen aktualisiert werden und in Verbindung mit Spontaneität und Kreativi-tät zu neuem Leben erweckt und in einem fortlaufenden Prozess sozialen Wandels für die jeweiligen Bedürfnisse der Menschen aktiviert, umgeformt oder eben auch verworfen werden. (Stimmer 1982, S. 139)

Nach Moreno orientiert sich das Handeln in jeder gegebenen Situation (vgl. Abb. 3, Zif-fer 1) an etablierten Kulturkonserven (8). Für die Veränderung dieser etablierten sozialer Muster ist die Aktivierung von Spontaneität (2) erforderlich, die zu einer Erwärmung (3) im psychodramatischen Sinne führt und die handelnde Person in eine Stegreiflage bringt (4). Mithilfe von Kreativität (5) kommt es zu einer situationsadäquaten Neugestaltung (6). Wenn sich diese neue Lösung bewährt, kann sie schließlich ihrerseits zur Routine werden (7) und neue Kulturkonserven ausbilden (8). Dieses Kreativitätskonzept ist für heutige Konzepte organisationalen Wandels anschlussfähig – schon Schacht (1992) hat auf die Parallelen zwischen Morenos Zirkel der Kreativität und aktuellen selbstorganisa-tionstheoretischen Modellen hingewiesen: In den Begrifflichkeiten der Synergetik bilden Systeme stabile Gleichgewichtszustände, sogenannte Attraktorzustände aus (8), in die das System immer wieder zurückfällt. Veränderung findet nur statt, wenn Fluktuationen

Abb. 3: Der kreative Zirkel (Hutter 2000, S. 126)

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(3) entstehen, die das System an einen Bifurkationspunkt (4) führen, an dem sich ein neues Gleichgewicht ausbildet (7, vgl. auch den Beitrag von Kriz in diesem Bd.). In jüngster Zeit haben Schiersmann und Thiel (2011) auf der Basis dieses synergetischen Modells eine Konzeption für die Gestaltung organisationaler Veränderungsprozesse vor-gelegt. Morenos Überlegungen zu Stabilität und Wandel könnten den Diskurs um die Funktionalität bzw. Dysfunktionalität organisationaler Routinen, die Möglichkeiten zur Veränderung dieser Routinen und den Stellenwert von Kreativität in organisationalen Lernprozessen bereichern.

10 Ausblick

In diesem Artikel konnten die Bezüge zwischen Morenos Werk und Organisationstheorie nur angerissen werden. Dabei wurde deutlich, dass Morenos Schaffen für die Organisa-tions- und Führungstheorie, aber auch für Change Management und Beratungswissen-schaften von hohem Interesse ist. Morenos Sicht auf Organisationen ist nicht nur mit der heutigen Organisationstheorie kompatibel, sondern kann ihr auch weiterführende Impulse verleihen. So ist sie produktiv im Hinblick auf eine Konzeption, die die in Luh-manns Konzept der Interpenetration nur angerissene Frage der Schnittpunkte zwischen sozialem Geltungsbereich und individuellem Handeln näher beleuchtet, ohne dabei der systemtheoretischen Prämisse der Autopoiesis sozialer Systeme als eigenständigen Sys-temtypus zu widersprechen und ohne einem psychologistischen oder soziologistischen Reduktionismus zu unterliegen. Hier besteht sicherlich Potenzial für eine differenzier-tere Weiterarbeit vor dem Hintergrund der aktuellen Organisationsforschung. Dabei kann Morenos kaum rezipiertes Denken einerseits aktuelle organisationstheoretische Diskurse befruchten, andererseits muss ein psychodramatisches Verständnis von Organisationen und ihrer Veränderung organisationstheoretische Problemstellungen auch differenzierter und spezifischer berücksichtigen als dies gegenwärtig der Fall ist.

Anmerkungen

1 Anschaulich dokumentiert in dem Film „Trip to Asia“ über eine Konzertreise der Berliner Philharmoniker.

2 Dabei ist darauf hinzuweisen, dass bei einigen Studien die Beziehungsqualität nicht über eine summarische Wertaussage (im Sinne von Morenos Wahlen), sondern über als hilfreich erlebte Verhaltensweisen der KollegInnen operationalisiert wird. Hier stellt sich die Frage, inwieweit eine als gewinnbringend erlebte Austauschbeziehung ähnliche motivationale und emotionale Wirkungen hat wie eine telische Beziehung im Sinne Morenos.

3 In dieser relationalen Perspektive ergibt sich übrigens eine Parallele zu Luhmanns weiter unten näher diskutierten Sozialtheorie, wenn auch die Prozesse, über die sich soziale Systeme kons-tituieren, bei Luhmann in der Kommunikation und damit theoretisch gänzlich anders verortet werden als bei Moreno, der mit Konzepten wie Tele und dem Co-Unbewussten eine Intersub-jektivität voraussetzt, die mit den konstruktivistischen Prämissen der Systemtheorie inkompa-tibel sind.

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4 Die allfällige Dominanz der Systemtheorie in den aktuellen Diskursen verdeckt bisweilen den Blick darauf, dass es durchaus anspruchsvolle organisationstheoretische Konzeptionen gibt, die von einer akteurtheoretischen Grundlage aus argumentieren. So betrachtet Weick (1995) in seiner ‚social psychology of organizing‘ Organisationen als Systeme, die aus Handlungen bzw. aus verknüpften Interaktionen bestehen: „Wann immer Organisationen handeln […], dann sind es Individuen, die handeln. Und jede Behauptung über das Handeln von Organisationen kann zerlegt werden in eine Reihe von Interakten zwischen Individuen […]“ (S. 53). Damit geht Weick von derselben Grundannahme wie Moreno aus, entwickelt seine Theorie – die hier nicht ausführlich dargestellt werden kann – aber weiter mit dem Ziel, eine Erklärung zu liefern für „die Dauerhaftigkeit des durch die Beiträge austauschbarer Individuen hindurchgehenden Musters, welche Organisationen von andersartigen Kollektivitäten wie Mobs, Familien oder Patient-Therapeut-Dyaden unterscheidet, Kollektivitäten, in denen ein Wechsel des ‚Perso-nals‘ fundamentale Wandlungen im Prozeß und im Ergebnis hervorruft“ (S. 53).

5 Zu einer ausführlicheren Darstellung dieses Konzepts siehe Ameln 2004, S. 143–145, zu kriti-schen Überlegungen S. 159–160.

6 An deren Übersichtsartikel sich auch die nachfolgende Darstellung weitestgehend orientiert.

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Falko von Ameln, Priv.-Doz., Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychodra-ma-Leiter (DFP/DAGG), Jg. 1970. Organisationsberater. Arbeits-schwerpunkte: Organisationsberatung, Führungskräfteentwicklung, Ausbildung von BeraterInnen, Organisationsforschung. Lehrauf-träge u. a. an der Universität Dortmund und der European Business School Schloss Reichartshausen. Habilitation im Fach Beratungs-wissenschaft (Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fort-bildung, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt). Langjährige Lehrtätigkeit am Institut für Psychodrama und Training Heidel-berg. Homepage: www.vonameln.net.


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