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Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Date post: 22-Oct-2015
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Das Fragment einer philosophisch-geistesgeschichtlichen Untersuchung der Kosmo-Anthropologie des Origenes in seinem "De principiis".
21
I. ORIGENES Der „Mensch- Mensch“ I.1.1 Allegorie als Apologie. Vor- und Umfeld des Origenes Der Tertullianische Gegensatz von Athen und Jerusalem 1 als Unvereinbarkeit von logos („Vernunft“) und pistis („Glaube“) findet seine Überwindung im ägyptischen Alexandria, in dessen spezifischer geistiger Tradition ORIGENES beheimatet ist. Diese griechische Stadt im Norden Ägyptens bietet das Forum für eine Denkart, deren herausragendes Merkmal die Bemühung um Synthese bzw. Aussöhnung zu sein scheint. Hierbei bereitet das hellenistische Judentum, das in Philo mit seiner prägenden Theorie des mehrfachen Schriftsinns seinen Höhepunkt erlebt, den Grund für den geistigen Kosmos, dessen Bürger ORIGENES sein wird, denn „Im Hellenismus findet das Konzept des ›Über Gott -Nachdenkens‹ in das Judentum eingang.“ 2 Dies verweist auf die tiefer zugrundeliegende Problematik, nämlich den Gegen- satz von der sich offenbarenden, und damit im Vorhinein gegebenen Persönlichkeit des einen Gottes in Juden- und Christentum gegenüber dem ,erdachten‘ bzw. durch Denken erarbeite- ten Gott der griechischen Philosophie, die SCHOLEM prägnant formuliert: Der lebendige Gott geht nie im reinen Begriffe auf. […] Die Reinheit des Gottesbegriffes zu bewahren, ohne die Lebendigkeit dieses Gottes anzutasten - das ist die unendliche Aufgabe der Theologie, die, immer wieder neu gestellt, nicht restlos lösbar ist. 3 Diesen Zwiespalt illustriert ORIGENESWerk, was sich allein in den nach ihm kommenden Generationen zeigt, die in seinem Werk entweder das philosophische oder das christliche Element hervorzuheben, entweder seine Ortho- oder Heterodoxie nachzuweisen, und - was die Anathemata von 543 und 553 tun - seine Gedanken auszuschließen versuchen. 4 Jede Un- tersuchung und Bewertung des origenischen Werkes muss bedenken, dass ORIGENES im An- 1 Was hat also Athen mit Jerusalem zu schaffen, was die Akademie mit der Kirche, was die Häretiker mit den Christen? Unsere Lehre stammt aus der Säulenhalle Salomos, der selbst gelehrt hatte, man müsse den Herrn in der Einfalt seines Herzens suchen. Mögen sie meinethalben, wenn es ihnen so gefällt, ein stoisches und platonisches und dialektisches Christentum aufbringen! Wir indes bedürfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet worden. Wenn wir glauben, so wünschen wir über das Glauben hinaus weiter nichts mehr. Denn das ist das erste, was wir glauben: es gebe nichts mehr, was wir über den Glauben hinaus noch zu glauben haben.“ TERTULLIAN: Die Prozesseinreden gegen die Häretiker , Kap. 7, (http://www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/bkv24_14_de_praescriptione_haereticorum.htm#C7 12.03.2012). 2 HOSE, Martin: „Philon und die hellenistische Philosophie“, in: STEGMAIER, Werner: Die philosophische Aktuali- tät der jüdischen Tradition , Frankfurt a. M. 2000, S. 123. 3 SCHOLEM, Gershom: Zur Kabbalah und ihrer Symbolik , Frankfurt a. M. 1973, S. 119. 4 Es sei nur exemplarisch auf den Gegensatz von VÖLKER, der die christliche Frömmigkeit des Origenes unter- streicht, zu J ONAS und KOCH verwiesen. J ONAS sieht ORIGENES in der Rolle der christlichen Gnosis als gedankli- ches Mittelglied von eigentlichem Gnostizismus und Neoplatonismus (siehe J ONAS, Hans: Gnosis und spätantiker Geist. Zweiter Teil , Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, S. 171-223); KOCH ( Pronoia und Paideusis , Ber- lin und Leipzig 1932) misst der hellenisch-platonischen Tradition eine größere Bedeutung für das origenische Denken bei.
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Page 1: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

I. ORIGENES

Der „Mensch-Mensch“

I.1.1 Allegorie als Apologie. Vor- und Umfeld des Origenes

Der Tertullianische Gegensatz von Athen und Jerusalem1 als Unvereinbarkeit von logos

(„Vernunft“) und pistis („Glaube“) findet seine Überwindung im ägyptischen Alexandria, in

dessen spezifischer geistiger Tradition ORIGENES beheimatet ist. Diese griechische Stadt im

Norden Ägyptens bietet das Forum für eine Denkart, deren herausragendes Merkmal die

Bemühung um Synthese bzw. Aussöhnung zu sein scheint. Hierbei bereitet das hellenistische

Judentum, das in Philo mit seiner prägenden Theorie des mehrfachen Schriftsinns seinen

Höhepunkt erlebt, den Grund für den geistigen Kosmos, dessen Bürger ORIGENES sein wird,

denn „Im Hellenismus findet das Konzept des ›Über Gott-Nachdenkens‹ in das Judentum

eingang.“2 Dies verweist auf die tiefer zugrundeliegende Problematik, nämlich den Gegen-

satz von der sich offenbarenden, und damit im Vorhinein gegebenen Persönlichkeit des einen

Gottes in Juden- und Christentum gegenüber dem ,erdachten‘ bzw. durch Denken erarbeite-

ten Gott der griechischen Philosophie, die SCHOLEM prägnant formuliert:

Der lebendige Gott geht nie im reinen Begriffe auf. […] Die Reinheit des Gottesbegriffes zu bewahren, ohne

die Lebendigkeit dieses Gottes anzutasten - das ist die unendliche Aufgabe der Theologie, die, immer wieder

neu gestellt, nicht restlos lösbar ist.3

Diesen Zwiespalt illustriert ORIGENES’ Werk, was sich allein in den nach ihm kommenden

Generationen zeigt, die in seinem Werk entweder das philosophische oder das christliche

Element hervorzuheben, entweder seine Ortho- oder Heterodoxie nachzuweisen, und - was

die Anathemata von 543 und 553 tun - seine Gedanken auszuschließen versuchen.4 Jede Un-

tersuchung und Bewertung des origenischen Werkes muss bedenken, dass ORIGENES im An-

1 „Was hat also Athen mit Jerusalem zu schaffen, was die Akademie mit der Kirche, was die Häretiker mit den

Christen? Unsere Lehre stammt aus der Säulenhalle Salomos, der selbst gelehrt hatte, man müsse den Herrn in der

Einfalt seines Herzens suchen. Mögen sie meinethalben, wenn es ihnen so gefällt, ein stoisches und platonisches

und dialektisches Christentum aufbringen! Wir indes bedürfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr, auch

nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet worden. Wenn wir glauben, so wünschen wir über

das Glauben hinaus weiter nichts mehr. Denn das ist das erste, was wir glauben: es gebe nichts mehr, was wir über

den Glauben hinaus noch zu glauben haben.“ TERTULLIAN: Die Prozesseinreden gegen die Häretiker, Kap. 7,

(http://www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/bkv24_14_de_praescriptione_haereticorum.htm#C712.03.2012). 2 HOSE, Martin: „Philon und die hellenistische Philosophie“, in: STEGMAIER, Werner: Die philosophische Aktuali-

tät der jüdischen Tradition, Frankfurt a. M. 2000, S. 123. 3 SCHOLEM, Gershom: Zur Kabbalah und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1973, S. 119.

4 Es sei nur exemplarisch auf den Gegensatz von VÖLKER, der die christliche Frömmigkeit des Origenes unter-

streicht, zu JONAS und KOCH verwiesen. JONAS sieht ORIGENES in der Rolle der christlichen Gnosis als gedankli-

ches Mittelglied von eigentlichem Gnostizismus und Neoplatonismus (siehe JONAS, Hans: Gnosis und spätantiker

Geist. Zweiter Teil, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, S. 171-223); KOCH (Pronoia und Paideusis, Ber-

lin und Leipzig 1932) misst der hellenisch-platonischen Tradition eine größere Bedeutung für das origenische

Denken bei.

Page 2: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

fang christlicher Geistesgeschichte steht, und seine Gedanken daher notwendiger Weise - wie

er selber einräumt - oftmals suchender Art sind.5 Insofern diese Suche mithin den Maßstab -

ob negativ oder positiv - für alles auf sie folgende gab, scheint BLUMENBERGS Behauptung,

die christliche Tradition oszilliere „zwischen den extremen Ausgangswerten Stoa und Gno-

sis“6, ebenso gut auf ORIGENES zuzutreffen.

I.1.2 Der mythos vom logos. Das Umfeld des ORIGENES

JONAS bemerkt die „Gleichzeitigkeit der großen Systeme“7, also die Systeme des ORIGENES,

PLOTIN und MANI, die alle drei in ihrer je distinkten Eigenart konstitutiv werden sollten für

die geistigen Strömungen der nachfolgenden Jahrhunderte.8 Dass die drei Systeme nicht nur

zur gleichen Zeit entstanden, sondern zwei davon – nämlich das des ORIGENES und das des

PLOTIN - ihren Ausgang in Alexandria nahmen, vereindrücklicht STROUMSAS These, nicht

der „Achsenzeit“ (1. Jahrtausend v. Chr.) JAPSPERS sei die Prägung des späteren europäi-

schen Menschen zu verdanken, sondern ebenjener römisch-hellenistischen Spätantike mit ih-

rer ,Kulturhaupstadt‘ Alexandria. Die Geschichte einer gemeinsamen Schülerschaft von

ORIGENES und PLOTIN bei AMMONIOS SAKKAS9 in Alexandria spottet hierbei der Tatsache,

dass die Systeme der beiden Denker zwar formal in ihrer Systemhaftigkeit übereinstimmen,

inhaltlich aber zwei entgegensetzte Extreme formulieren bezüglich des Verhältnisses von

Gott, Mensch, Welt und Freiheit. Die überzeitlich-notwendige Emanation des Einen als der

Triebmotor des plotinischen Kosmos lässt der freien Entscheidung in der Zeit weder Raum

noch Relevanz. Ebendiese Freiheit stellt nun wiederum das konstitutive Element des

origenischen Systems in De principiis dar.

5 „Nicht gerade selten versichert er, daß er mehr der Vollständigkeit halber Fragen aufwerfe oder gewisse Lösun-

gen und mögliche Folgerungen zu erwägen gebe, ohne eine feste Lehre oder Entscheidung bieten zu wollen. Dies

mag zuweilen das Verfahren eines Mannes sein, der eine esoterische Lehre besitzt, sie aber, um Anstoß zu ver-

meiden, verhüllt und als offene Problematik ausgibt. Aber daß diese Annahme durchgehend zutrifft […] wird man

bezweifeln müssen. Dafür entspricht die fragende und andeutende Darstellungsweise zu gut dem Problemdenken

und der sokratischen Haltung des Lehrers Origenes, die […] nicht selten mehr erwecken und weiterführen als si-

cheres Wissen weitergeben, ja auch nur selbst besitzen will.“ GÖRGEMANNS, Herwig (Hg.); KARPP, Heinrich

(Hg.): Origenes vier Bücher von den Prinzipien, Darmstadt 1976, S. 16f. 6 BLUMENBERG, Hans: Die Genesis der kopernikanischen Welt 1, Frankfurt a. M. 1996, S. 32.

7 JONAS, Hans: Gnosis und spätantiker Geist. Zweiter Teil, S. 171.

8 Hierzu SCHOCKENHOFF: „Beschreibt man die Beziehungen, in denen am Ausgang der Antike Gnosis, Platonis-

mus und Christentum zueinander stehen […], dann gehören die philosophische Haltung einsamer Wahrheitssu-

che, die Plotin darstellt, und das gnostische Grundgefühl der Verlorenheit in einer fremden Welt trotz der

plotinischen Kosmodizee in einem Punkt auf die gleiche Seite: beide gehen von einer unaufhebbaren Inkommen-

surabilität des eigenen „wahren Selbst“ zur Welt aus, die der Entfaltung einer Ethik im Weg steht.“ In: SCHO-

CKENHOFF, Eberhard: „Origenes und Plotin. Zwei unterschiedliche Denkwege am Ausgang der Antike“, Dar-

mstadt 2005, S. 52. 9 So z.B. KLETLER, Paul: Johannes Eriugena. Eine Untersuchung über die Entstehung der mittelalterlichen Geis-

tigkeit, Leipzig/Berlin 1931, S. 5.

Page 3: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

In seine Kritik des wiedergekehrten Mythos im Gnostizismus10

bezieht der Neoplatonismus

auch die christliche Vorstellung von der Geschichtlichkeit des Heilsgeschehens mit ein, wie

CAMUS schreibt:

„In der Tat gibt es für Plotin keine Geschichte. Für einen Christen aber genügt diese Kunst nicht. Der Wettlauf

folgt einer göttlichen Inszenierung, und Wiedergeburt bedeutet Eingliederung in den Gang dieser Tragödie.

Der Theatereffekt der Inkarnation hat für Plotin keinerlei Sinn.“11

Für das griechische Denken des PLOTIN ist die allem Werden und Vergehen entzogene Un-

veränderlichkeit Gottes ein unerschütterliches Datum. Das jüdisch-christliche ,Nachdenken

über Gott‘ muss hingegen die Schöpfung ihres Gottes als freien Willensakt denken.

Die Philosophie des ORIGENES gestaltet sich - gerade in ihrer apologetischen Funktion - als

die Aufgabe, „Ijobs Frage mit Platons Hilfe zu beantworten“12

, also den tieferen Sinn der

vermeintlichen Tragik des menschlichen Daseins in seiner Dramenhaftigkeit aufzuzeigen.

I.1.3 Die Methode: Fleisch und Geist

Insofern „der Katholizismus gegen Marcion erbaut“13

wurde - und MARCIONS Redaktion bib-

lischer Texte die Frage nach dem christlichen Kanon hatte akut werden lassen - überrascht es

kaum, dass sich ORIGENES’ Schaffen stets in Bezug auf die Texte der biblischen Offenbarung

und deren richtige Lesart äußert.14

Der Schlüssel hierzu findet sich in einer Lesart des Textes,

welche über den wörtlichen Sinn hinausführt:

Dreifach […] muß man sich die „Sinne“ der heiligen Schriften in die Seele schreiben: Der Einfältige soll von

dem „Fleische“ der Schrift erbaut werden – so nennen wir die auf der Hand liegende Auffassung -, der ein

Stück weit Fortgeschrittene von ihrer „Seele“, und der Vollkommene […] erbaut sich aus „dem geistlichen Ge-

setz“, „das den Schatten der zukünftigen Güter enthält.“15

10

So schreibt Plotin über die Gnostiker: „Wenn sie nur eine große Zahl geistiger Wesen namhaft machen, denken

sie den Eindruck zu erwecken daß sie den genauen Sachverhalt ausgeforscht hätten; dabei nähern sie gerade durch

die Vielzahl die geistige Wesenheit der sinnlichen, niederen – während man es in der oberen Welt gerade auf eine

möglichst geringe Anzahl absehen muß“, in HARDER, Paul (Hg.): Plotin, Frankfurt a. M. und Hamburg 1958, S.

169. 11

CAMUS, Albert: Christliche Metaphysik und Neoplatonismus, Reinbek 1978, S. 79. Vgl. auch VIETTA: „Diese

Vergeschichtlichung des Göttlichen in der Geburt von Gottes Sohn als Mensch ist aber selbst eine - gegenüber

dem Stand der ersten Aufklärung in der griechischen Philosophie-Wissenschaft - Remythisierung. Gott tritt selbst

in die Geschichte ein […].“ In VIETTA, Silvio: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, Paderborn 2007,

S. 168. 12

KARPP, Heinrich: „Probleme altchristlicher Anthropologie. Biblische und philosophische Psychologie bei den

Kirchenvätern des dritten Jahrhunderts“, in: ALTHAUS, P.; JEREMIAS, J. (Hg.): Beiträge zur Förderung christli-

cher Theologie, Bd. 44, Heft 3, Gütersloh 1950, S. 211. 13

HARNACK, Adolf: Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1924, S. V. 14

„Die Ursache der falschen Meinungen und Gottlosigkeiten oder der einfältigen Reden von Gott dürfte in all den

genannten Fällen keine andere sein als die, daß die Schrift nicht geistlich verstanden, sondern nach dem bloßen

Buchstaben aufgefaßt wird.“ In: GÖRGEMANNS, Herwig; KARPP, Heinrich: Origenes vier Bücher von den Prinzi-

pien, S. 701 (IV 2,2). 15

Ebd., S. 709 (IV 2,4).

Page 4: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Ob ORIGENES letztendlich zwei oder drei Bedeutungsebenen lehrt, bleibt unklar16

, was der -

dem Prototypischen seines Denkens geschuldeten - Unklarheit anderer seiner Gedanken, wie

z.B. der des Gottesbildes, entspricht.

Es ist jedoch klar, dass seine Methode mindestens zweier Ebenen bedarf, dass also mit dem

Exoterischen stets Esoterisches einherzugehen bzw. sich letzteres als Kern des ersteren zu er-

weisen hat. Die Bemühung, mittels allegorischer Deutung dem ,fleischlichen‘ Sinn jene

,geistliche‘ Bedeutung zu entnehmen, soll die überzeitliche, systemisch in sich geschlossene

Wahrheit aufzeigen, die mit dem Mythos der wörtlichen Geschichte innewohnt und dem

(entsprechend befähigten) Leser überzeitliche Notwendigkeit vermittelt.17

Die fruchtbarste

Bezeichnung jener geistlichen Lesart scheint die anagogische (αναγωγή, „Hinaufführung“)

zu sein, wie ORIGENES sie einmal nennt. Denn sie führt den Text und den Leser über den

wörtlichen Sinn hinauf und hinaus.

Wie FOUCAULT zufolge die systemische Übereinstimmung von Exegese und Anthropologie

konstitutives Element christlicher Selbstsorge ist, insofern sie „die Notwendigkeit einer Exe-

gese seiner selbst“18

fordere, so zeichnet sich das origenische Werk durch etwas aus, was

GÖRGEMANNS und KARPP als „die morphologische Ähnlichkeit des systematischen Denkens

mit der exegetischen Theorie“19

bezeichnen. So findet bei ORIGENES einerseits die Triade der

Exegese ihre Entsprechung in der Anthropologie von Fleisch, Seele und Geist: „Wie nämlich

der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht, ebenso auch die Schrift, die Gott nach seinem

Plan zur Rettung der Menschen gegeben hat.“20

Die Idee zweier Seiten einer Medaille - dass also fleischlicher und seelischer/geistlicher Sinn

in ihrer vermeintlichen Gegensätzlichkeit ein- und denselben Verhalt bezeichnen - gewinnt

insbesondere in Hinblick auf die Kosmogonie von De principiis Bedeutung, insofern nämlich

„unser Alexandriner […] neben der metaphysisch-kosmologischen Deutung […] auch eine

16

„Wenn Origenes bald einen dreifachen Sinn (wie IV 2, 4-6), bald nur einen zweifachen unterscheidet, so erinnert

dies an die früher gemachte Beobachtung, daß er im Systemdenken manche Lösungsmöglichkeiten recht undog-

matisch in der Schwebe läßt.“ In: Ebd., S. 22. 17

Vgl. hierzu auch LEVINAS: „Teilnahme dessen, der die Offenbarung empfängt, am Werk dessen, der sich im

Prophetischen offenbart… Die Lektüre eines prophetischen Textes ist in gewissem Maße selbst prophetisch.“ In

LEVINAS, Emmanuel: Jenseits des Buchstabens, Frankfurt a.M. 1996, S. 12. 18

FOUCAULT, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2009, S. 318. STROUMSA korrigiert FOUCAULT,

insofern dieser die Selbstaufgabe als Ziel christlichen Strebens sehe, denn: „Der Christ lehnt die Idee des Todes ab,

lehnt sich gegen den Tod auf, selbst wenn er ihn im Martyrium anstrebt.“ Siehe STROUMSA, Guy: Das Ende des

Opferkultes. Die religiösen Mutationen der Spätantike, Berlin 2011, S. 40. 19

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 22. 20

Ebd., S. 711 (IV 2,4). SCHOLEM merkt hierzu an, dass diese „Worte […] schon in etwas die Haltung des Sohar

antizipieren“, in SCHOLEM, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1973, S. 267.

Page 5: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

psychologische vorträgt, und diese Nebeneinanderstellung, dies Verlegen kosmischer Vor-

gänge ins Innere des Menschen“21

, soll nun anhand von De principiis aufgezeigt werden.

Hierbei soll es sich erweisen, dass die vermeintliche Differenz zwischen dem Inhalt dieses

,philosophischen‘ Werkes und den späteren Werken des ORIGENES,22

also insbesondere sei-

nen eher ,praktischen‘ Kommentaren und Homilien zu den Büchern der Bibel, sich in der

treibenden Idee von De principiis aufhebt.

I.2 Metamorphose statt Metempsychose

Herkunft und Zukunft des Menschen in De principiis

I.2.1 Gott

Das Gottesbild in De principiis bleibt letztendlich unklar.23

Dies überrascht nicht, insofern das

Konzil von Nicäa mit seiner verbindlichen Definition der Trinität erst 100 Jahre nach

ORIGENES zusammenkommt. Er selbst räumt diese Unklarheit ein, denn „Wir haben […]

nach unseren geringen Kräften Erwägungen angesehen über das Wesen Gottes, mehr auf-

grund seiner Werke als aufgrund der (unmittelbaren) Einsicht unseres Verstandes.“24

Am systematischen Anfang allen Seins steht in De principiis eine absolute Einheit, die keiner-

lei Unterschiede in sich hat, also Gott, der „in Wahrheit unbegreiflich und unermeßlich ist“25

und „in vieler Hinsicht weit erhabener ist als unsere Vorstellung.“26

Gegenüber den Vorstel-

lungen einer Körperlichkeit Gottes aufgrund anthropomorphischer Aussagen der Bibel wird

dessen Transzendenz gewahrt, denn „Seine Natur zu schauen reicht die Schärfe einer

menschlichen Vernunft nicht aus, mag sie auch noch so rein und klar sein“27

, womit die Idee

einer Erkenntnis Gottes durch Gnosis, also Erkenntnis allein, verneint wird.

21

VÖLKER, Walther: Das Vollkommenheitsideal des Origenes. Eine Untersuchung zur Geschichte der Frömmig-

keit und zu den Anfängen christlicher Mystik, Tübingen 1931, S. 95. 22

Man bedenke nur die - weiter unten zu zitierende - Infragestellung der Erlösungsungewissheit durch VÖLKER,

der ja generell ORIGENES mehr als frommen Christen denn als Philosophen zu verstehen sucht. 23

Laut KRAFT z.B. „bleibt die Abhandlung des Heiligen Geistes Exkurs; es gelingt nicht, ihn in das System ein-

zubauen, ja, es gelingt nicht einmal, das Schema strikt einzuhalten. Der Heilige Geist fügt sich so wenig in das pla-

tonische Schema, daß dadurch die Aussagen über den Logos - auf denen die über den Heiligen Geist gegründet

sind - widersprüchlich werden. […] Die Einfügung des Heiligen Geistes an dieser Stelle bleibt somit ein Exkurs,

um nicht zu sagen, sie sprengt das System.“ In: KRAFT, Heinrich: Kirchenväter. Die ersten Lehrer des Christen-

tums, Köln 2011, S. 210-212. 24

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 355-357 (II 6, 1). 25

Ebd., S. 107 (I 1,5). 26

Ebd. 27

Ebd., S. 109 (I 1,5).

Page 6: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

In einem überzeitlichen Akt, der „ebenso ewig und immerwährend wie die Zeugung des

Glanzes durch das Licht“28

ist, wird „das Bild des Vaters im Sohne nachgeformt, der ja aus

ihm geboren ist gleichsam wie sein Wille, der aus dem Geist hervorgeht.“29

Dieser Sohn nun,

also Christus als „Wort und die Weisheit Gottes“30

(insofern sich „die Weisheit zuerst in sich

selbst darstellt, was sie den übrigen offenbaren will“31

), ist die Bedingung, damit „Gott […]

erkannt und begriffen wird“32

, denn „durch den Glanz wird erkannt und wahrgenommen,

was das Licht selbst ist.“33

Der Sohn empfängt sein Gott-Sein durch sein Bei-Gott-Sein, also durch sein Verhältnis zu

Gottes Willen, dem er sich unterwirft, wie SCHOCKENHOFF formuliert:

Das Sein des Sohnes verdankt sich ganz dem Empfang des göttlichen Willens für den er restlos offen ist. In-

dem der Sohn den göttlichen Willen vollbringt, bewirkt er nicht nur dessen äußere Erfüllung; er wird vielmehr

gerade im Vollzug des vom Vater herkommenden Willens in seiner Existenzweise als Sohn erst begründet.

[…] Das Geprägtsein durch den ganzen Willen des Vaters und sein aktives Vollbringen sind nicht nachträgli-

che Zusätze zur Beschreibung seines eigentlichen Wesens, sondern die erschöpfende Aussage der personalen

Seinsweise des Sohnes.34

Wie Christus die Bedingung der Erkenntnis Gottes ist, so ist der Heilige Geist die Bedingung

zur Erkenntnis Christi, da

„es keine andere Möglichkeit gibt, eine höhere und göttlichere Lehre über den Sohn Gottes vorzutragen und

zur Kenntnis des Menschen zu bringen, als allein an Hand der Schrift, die vom heiligen Geist eingegeben

ist;“35

In der Weisheit Gottes nun, „die immer beim Vater war, lag immer [eig. Herv., A.S.] die

Schöpfung vorgebildet und gestaltet“36

.

I.2.2 Zweifache Schöpfung

Die Abneigung und Feindseligkeit gegenüber der irdischen Welt, die man ORIGENES nach-

sagt,37

findet ihre systematische Begründung in seiner Idee einer ,zweifachen Schöpfung‘.38

28

Ebd., S. 131 (I 2,4). 29

Ebd., S. 133-135 (I 2,6). 30

Ebd., S. 129 (I 2,4). 31

Ebd., S. 139 (I 2,8). 32

Ebd. 33

Ebd. 34

SCHOCKENHOFF, Eberhard: „Origenes und Plotin. Zwei unterschiedliche Denkwege am Ausgang der Antike“,

S. 55f. 35

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 159 (I 3,1). 36

Ebd., S. 191 (I 4,4). 37

AUGUSTINUS muss sich „doch mehr, als ich sagen kann, wundern, wie es möglich ist, daß ein in der kirchlichen

Wissenschaft so gelehrter und bewanderter Mann nicht beachtet hat, zunächst, wie sehr dies dem Sinne der für uns

maßgebenden Schrift zuwider ist. Denn wenn diese bei allen Werken Gottes die Worte hinzufügt: ‹‹Und Gott sah,

daß es gut war›› und nach Vollendung aller schließt: ‹‹Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe es

war sehr gut››, wollte sie zu erkennen geben, daß es keinen anderen Grund zur Erschaffung der Welt geben kann,

Page 7: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Er unterscheidet die eigentliche „Schöpfung“ von der „Grundlegung“. Die Schöpfung besteht

in der überzeitlichen39

, so freien - also willentlichen - wie notwendigen40

Hervorbringung

freier „Vernunftwesen“41

, die in ihrem Wesen mit dem des Sohnes Gottes identisch sind,

denn:

Da er [Gott, A.S.] also selbst der Grund war für das zu Schaffende und in ihm keine Verschiedenheit, keine

Veränderlichkeit und kein Unvermögen war, schuf er alle Wesen, die er schuf, gleich und ähnlich, da es für ihn

keinen Grund für Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit gab.42

Die Freiheit dieser gleichen Wesen ist sogleich implizit die Ursache für ihre Unterscheidung

voneinander. Keineswegs der Wille Gottes ist der Grund für diese Unterscheidung. Er selbst

setzt seiner Macht mit dieser Schöpfung Grenzen, insofern er dem Geschöpf die Freiheit ein-

räumt:43

[…] da die Vernunftgeschöpfe selbst […] mit der Fähigkeit der freien Entscheidung beschenkt sind, regte die

Willensfreiheit einen jeden entweder zum Fortschritt durch Nachahmung Gottes an oder zog ihn zum Abfall

durch Nachlässigkeit. Dies wurde […] zur Ursache der Verschiedenheit; sie hat ihren Ursprung also nicht im

Willen und der Entscheidung des Schöpfers, sondern im eigenen freien Entschluß.44

Hatte die Intention Gottes bei der Schöpfung der Vernunftwesen in deren freier Unterordnung

unter seinen Willen, also in der „Nachahmung Gottes“, bestanden, so zeigt der „Abfall durch

Nachlässigkeit“ genau jene Möglichkeit des freien Willensgebrauchs, die der freiwilligen Un-

als daß der gute Gott Gutes zu schaffen beabsichtigte.“ In: AUGUSTINUS, Aurelius: Vom Gottesstaat, München

1978, S. 37 (XI, 23). 38

Wenn SCHOLEM das origenische System „mit Entschiedenheit als christliche ,Kabbala‘ - natürlich nicht im Sin-

ne historischer Abhängigkeit, die hier schon aus zeitlichen Gründen ausscheidet, sondern im Sinne struktureller

Verwandtschaft“ (JONAS, Hans: Gnosis und spätantiker Geist. Zweiter Band, S. 176) bezeichnet, so wird diese

Annahme wohl durch die Idee der zweifachen Schöpfung am besten illustriert, wie ein Blick auf die Lurianische

Kabbala mit ihrem Drama der göttlichen Schöpfung im Schlusskapitel dieser Arbeit zeigen soll. 39

„Dies ist der gute Gott, der gütige Vater aller; gleichzeitig auch die wohltätige, weltschöpferische und vorsehen-

de Kraft. Daß diese Kräfte Gottes auch nur für einen Augenblick einmal untätig gewesen wären, das ist eine

gleichzeitig unsinnige und gottlose Annahme. Denn es ist unerlaubt, auch nur eine leichte Vermutung zu hegen,

daß diese Kräfte, durch die Gott zuförderst in angemessener Weise erkannt wird, jemals ohne eine ihnen entspre-

chende Tätigkeit und ohne Bewegung gewesen wären. […] Daraus folgt, daß es immer (Wesen) gab, denen sie

wohltun konnte, nämlich ihre Geschöpfe […].“ Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 189 (I 3,3). 40

„Als er im Anfang das Schuf […], was er schaffen wollte, nämlich die Vernunftwesen, hatte er keinen Grund

für das Schaffen als sich selbst, d.h. seine Güte.“ Ebd., S. 413 (II 9,6). Auch Gott also kann tun, was Er will, aber er

kann - in jedem Augenblick seiner Ewigkeit - „nur ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nichts Anderes, als

dieses Eine.“ Vgl. hierzu SCHOPENHAUER, Arthur: Preisschrift über die Freiheit des Willens, Hamburg 1978, S.

59. 41

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 413 (II 9, 5-6). 42

Ebd., (II 9,6). 43

Die im achten Anathema von 543 verurteilte Lehre des ORIGENES’ („Wenn einer sagt oder dafürhält, Gottes

Macht sei begrenzt, und er habe (nur) soviel geschaffen, wie er umfassen und denken konnte“, in: Ebd., S. 825)

findet ihre Entsprechung in den eigenen Worten des Origenes: „Niemand stoße sich an unserer Darlegung, wenn

wir sogar der Macht Gottes Maße setzen. Grenzenloses zu umfassen ist nämlich von Natur aus unmöglich. Wenn

aber nun einmal begrenz ist, was Gott selbst umschließt, dann muß es eine Grenze geben […] bis zu welchen be-

grenzten Größen seine Macht reicht.“ Ebd., S. 809 (IV 4,8). 44

Ebd., S. 413 (II 9, 5-6).

Page 8: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

terordnung systematisch vorangeht, nämlich die Negation, die Absage an ebendiese Unter-

ordnung.

Den „Abfall aus Nachlässigkeit“ aufzuheben, also die eigentliche Schöpfung wieder zu er-

schaffen, dem dient nun die ,zweite Schöpfung‘ als eine „Grundlegung“ der empirischen

Welt gemäß der Entfernung des Abfalls der Wesen von Gott, also „die Versetzung all dieser

Wesen von oben nach unten“45

. Die Entscheidung des Willens korrespondiert mit der tatsäch-

lichen Unterscheidung der Geister.

Die Aufgabe des Menschen im Dasein dieser Welt stellt sich derart als die Aufgabe des Da-

seins in dieser Welt dar, insofern es zu überwinden, aufzugeben hat. Es ist eine fortschreitende

Rückkehr zum ursprünglichen Verhältnis, welches in der so freien wie beständigen Unterord-

nung des Sohnes unter den Vater - als die Gestalt Christi - weiterhin exemplarischen, über-

zeitlichen Bestand hat. Die Grundlegung der materiellen Welt ist allein Mittel zum Zweck, ist

an sich weder gut noch schlecht.46

Sie dient der göttlichen Vorsehung und Erziehung weniger

als Theater denn als Arena, in welcher sich die abgefallenen Vernunftwesen zu wehren und

bewähren haben:

Nun gestaltet und lenkt Gott durch die unaussprechliche Kunst seiner Weisheit alles, was wie auch immer ent-

steht, zu irgendeinem Nutzen und zum gemeinsamen Fortschritt des gesamten; und so bringt er auch die Ge-

schöpfe, die von sich aus durch ihren geistigen Unterschied so weit voneinander entfernt waren, zu einer ge-

wissen Einheit des Wirkens und Strebens: zwar bleiben die geistigen Bewegungen verschieden, aber sie ma-

chen zusammen die Fülle und Vollkommenheit der einen Welt aus, und gerade die geistige Verschiedenheit

führt zu dem einen Ziel der Vollkommenheit. […] Und deshalb meinen wir, daß Gott […] zum Heil all seiner

Geschöpfe nach dem unaussprechlichen Plan seines Wortes und seiner Weisheit das Einzelne so angeordnet

hat, daß einerseits all die Vernunftwesen […] nicht gegen ihren freien Willen mit Gewalt zu etwas anderem

gezwungen werden als wozu ihre geistige Bewegung hindrängt […] und daß andererseits die verschiedenen

Bewegungen ihres Wollens sich zur Harmonie einer einzigen Welt in angemessener und nutzbringender Wei-

se zusammenfügen;47

Dieses Verhältnis menschlicher Freiheit zur göttlichen Gnade hat v. HARNACK trefflich als

„ein Ineinander von Gnade und Freiheit auf dem Boden der Freiheit“48

gesehen. Das Vorher-

sehen Gottes ist also nicht Ursache dessen, was geschieht. Die Vorherbestimmung kann erst

erfolgen, nachdem es geschehen und gegeben ist, um bestimmt zu werden. Etwas wird, weil

es geschieht, von Gott vorauserkannt und dementsprechend darauf reagiert. Dieser Gedanke

einer unbedingt gültigen, harmonischen Konvergenz kontingenter Einzelinteressen zum letzt-

45

Ebd., S. 631 (III 5,4). 46

ORIGENES führt in diesem Konzept materieller Schöpfung die beiden Pole zusammen, deren Widerspruch die

Dynamik innerchristlicher Auseinandersetzung begründet hatte, und auch weiterhin antrieb: Einerseits die

marcionitische Scheidung des christlichen, so gütigen wie jenseitigen Gottes von dem demiurgischen Gott, der in

seiner materiellen Schöpfung den Menschen zu versklaven und vor der Verheißung des jenseitigen Gottes zu ver-

bergen sucht. Andererseits die ,orthodoxe‘ kirchliche Doktrin, die in ihrer Übernahme des alttestamentarischen

Schöpfungsbericht die Gutheit der irdischen Schöpfung zu wahren versucht. 47

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 288-290 (II 1,2). 48

HARNACK, Adolf: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. I, Tübingen 1909, S. 692.

Page 9: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

endlichen, allgemeinen Endziel sollte bis in die philosophische und auch ökonomische Theo-

rie der Neuzeit erhalten bleiben, wie SMITHA Lehre der „unsichtbaren Hand“49

und HEGELS

„List der Vernunft“50

belegen, und könnte auf begrifflicher Ebene eine ungefähre Entspre-

chung in einem ,Vertrauen in die Hoffnung‘ finden.

Die Vertikalität der grundgelegten Welt ist aufgespannt zwischen den beiden Extremen

Christus und Teufel - der eine Gott am nächsten und der andere Gott am fernsten - wobei sich

der Mensch in der Mitte findet, von der aus er, der „aus Leib, Seele und Geist besteht“, sich

mittels seiner Freiheit nach oben oder unten, zum Guten oder zum Bösen orientieren kann,

sich im Rahmen der göttlichen Heilsökonomie aber doch implizit nach oben bewegen muss.

I.2.3 Willensfreiheit als Theodizee

CASSIRER fasst PICOS Menschenbild, das mehr als 1.000 Jahre nach ORIGENES formuliert

wurde, so zusammen:

Der Mensch hat in jeglicher Ordnung des Seins nur die Stelle, die er sich in ihr gibt. Seine individuelle Be-

stimmtheit hängt letzten Endes von seiner Bestimmung ab – und diese ist nicht sowohl eine Folge der Natur,

als sie eine Folge seiner freien Tat ist.51

In diesen Zeilen findet sich auf prägnante Weise exakt die Auffassung des ORIGENES ausge-

drückt, die den Wandel von der griechischen Metaphysik des Ontischen, Äußeren, hin zur

„Metaphysik des Inneren, die Dilthey auch Metaphysik des Willens nennt“52

, markiert.

Das 12. Anathema von 553 belegt Jenen mit dem Banne, der - wie vermeintlich ORIGENES -

sagt:

Die himmlischen Mächte und alle Menschen und der Teufel und die Geister der Bosheit würden sich mit dem

Gott-Logos ebenso untrennbar vereinen wie jener Nus, den sie Christus nennen, der in göttlicher Gestalt war

und sich, wie sie sagen, entäußerte; und es werde ein Ende des Königtums Christi geben.“53

49

„Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einhei-

mischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch diese so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs er-

warten läßt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen im Jahr so groß

wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie

hoch der eigene Beitrag ist. […] Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren

Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.“ SMITH, Adam:

Der Wohlstand der Nationen, München 1978, S. 370f. 50

„Das besondere Interesse der Leidenschaft ist also unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen; denn es

ist aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation, daß das Allgemeine resultiert. Es ist das Be-

sondere, das sich aneinander abkämpft und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist

es welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen und unbeschä-

digt im Hintergrund. Das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt […]

Die Idee bezahlt nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.“ HEGEL, G.W.F.: Vorlesungen

über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, Frankfurt a. M. 1986, S. 49. 51

CASSIRER, Ernst: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1969, S. 121. 52

KOBUSCH, Theo: Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, S. 139. 53

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 829.

Page 10: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Das Anathema bezieht sich auf die Vorstellung von der Vervollkommnung des menschlichen

Seins, dessen halber die Welt „grundgelegt“ ward: die „Wiederbringung aller“54

(unter den

Willen Gottes) als die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, wie er vor dem Ab-

fall der freien Vernunftwesen von Gott und der dadurch bedingten Entstehung der Viel- und

Verschiedenheit geherrscht hatte:

Wenn der vernünftige Geist gereinigt ist von aller Hefe der Sünde, wenn alle Trübung der Bosheit gänzlich be-

seitigt ist, dann wird alles, was er empfinden, erkennen und denken kann, Gott sein; er wird nichts anderes

mehr denn Gott empfinden, Gott denken, Gott sehen, Gott haben; Gott wird das Maß all seiner Bewegungen

sein; und so wird Gott für ihn alles sein. Dann gibt es keine Unterscheidung mehr von Gut und Böse, da es nir-

gendwo etwas Böses gibt […] dann wird wahrhaft Gott „alles in allem“ sein.55

Nicht allein die Verschiedenheit aller Wesen zwischen Christus und dem Teufel wird aufge-

hoben in der so ursprünglichen wie zukünftigen Einheit bei Gott, sondern auch Christus und

der Teufel als Pole der Werteskala von „Gut“ und „Böse“ selbst. JONAS zufolge nun macht

ebendies,

„daß Mannigfaltigkeit als solche und das Sosein der Wesen ein selbstverschuldeter Tatbestand und jederzeit ei-

ne Funktion ihres vorhergegangenen Willens […] ist, und das Komplement dazu: daß dieser Tatbestand wie-

der aufhebbar und seine Aufhebung das Endziel ist – […] das eigentliche metaphysische Prinzip des

origenistischen Systems aus.“56

Im Gegensatz zu den festen Wesensnaturen z.B. des valentinianischen Gnostizismus hebt hier

der Grundsatz der Einheit und Gleichheit aller Vernunftwesen, und deren funktionelle

Verwandelbarkeit die Einmaligkeit persönlicher und selbst gattungsmäßiger Identitäten auf.

Jede Wesensstufe, insofern sie eben Stufe und nicht spezifisches Wesen bzw. Substanz ist,

kann durch die freie Selbstbestimmung der Vernunftwesen in jede andere Wesensstufe ver-

wandelt werden. Die gegebene metaphysische Rangordnung bezeichnet allein den jeweiligen

Stand dieser Selbstbestimmung von Platz und Zustand der einzelnen Wesen. Christus und

Teufel bezeichnen also austausch- bzw. vertauschbare Rollen: sie sind nur Möglichkeiten ei-

ner einzigen geistigen Natur, und markieren die beiden Pole, zwischen und nach denen sich

der Mensch entwickeln kann:

Darum heißt es denn auch, „der letzte Feind“, welcher „der Tod“ genannt wird, werde vernichtet [...] Die „Ver-

nichtung des letzten Feindes“ ist aber so zu verstehen, daß nicht seine von Gott geschaffene Substanz vergeht,

sondern seine feindliche Willensrichtung, die nicht von Gott, sondern von ihm selbst stammt. Er wird also ver-

nichtet, nicht um (künftig) nicht zu sein, sondern um (künftig) nicht (mehr) „Feind“ und „Tod“ zu sein.57

Konkretes Prinzip der Bewegung in diesem metaphysischen Prozess ist die unbedingte Gül-

tigkeit der Willensfreiheit, wie SCHOCKENHOFF formuliert: „In seiner Theorie vom Ablauf der

54

Ebd., S. 315 (II 3,5). 55

Ebd., S. 649-651 (III 6,3). 56

JONAS, Hans: Gnosis und spätantiker Geist, S. 184. 57

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 657 (III 6,5).

Page 11: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Weltenzyklen wird die Freiheit geistiger Wesen darüber hinaus zur eigentlichen Triebkraft,

die den kosmischen Prozeß in Bewegung hält.“58

Im Gegensatz zur gnostischen Privation des

Wissens als Ursache des Abfalls von Gott und des Falls in die Welt, kommt hierbei für

ORIGENES die Perversion des Willens zum Tragen. Diese Perversion, also die Absage der

Vernunftwesen an Gott, der das an sich Gute ist, erweist sich in seiner Privation des Guten als

das Böse:

Vom Guten abzulassen bedeutet nun nichts anderes als ins Schlechte zu geraten. Denn es ist sicher, daß das

Schlechte im Fehlen des Guten besteht. So kommt es, daß man in dem gleichen Maße in Schlechtigkeit gerät,

wie man sich vom Guten entfernt.59

Somit ist „Das Böse, als die vom freien Geist gewollte Karenz des Guten, […] der Beginn der

Menschengeschichte.“60

Während das Gute substantiell zu Gott gehört, ist es dem Menschen

nur Akzidens. Er kann es verlieren, wie es im Abfall geschehen war, kann es aber auch stets

wieder aufs Neue erwerben:

In dem Menschen sind ja offensichtlich auch die Anzeichen des göttlichen Bildes zu erkennen, […] in des

Geistes Klugheit, Gerechtigkeit, Selbstbeherrschung, Tapferkeit […], in dem ganzen Reigen der Tugenden, die

in Gott wesenhaft , im Menschen aber durch sein Streben und durch Nachahmung Gottes vorhanden sein kön-

nen. […] Damit wird klar bewiesen, daß in Gott alle diese Tugenden immer da sind und niemals hinzutreten

oder entschwinden können, während sie von den Menschen nur allmählich und einzeln erworben werden.61

Dem Ziel des Menschen, also „Das höchste Gut, zu dem die Vernunftwesen insgesamt stre-

ben, und das auch das Ziel von allem heißt […] Gott ähnlich zu werden, soweit es möglich

ist“62

in der „Wiederbringung aller“, wird nun aufgrund der zugrundeliegenden Willensfrei-

heit eine recht ambivalente Gewissheit zuteil. VÖLKER formuliert dies mehr oder minder ex-

plizit, wobei er jedoch die (Heils-) Gewissheit in den Vordergrund zu stellen sucht:

Sieht man in der origenistischen Freiheitslehre nur die formale Seite und läßt man wie de Faye im System nur

die Logik gelten, so muß man zu der Annahme eines immer erneuten Abfalls kommen und darin vom religiö-

sen Standpunkt aus mit Recht etwas Unbefriedigendes sehen […] Aber diese Ansicht findet nur in de princ. ei-

ne Stütze […].63

Diese „formale Seite“ garantiert jedoch mithin gerade die Gerechtigkeit der origineischen

Auffassung von der Erlösung jedes Menschen bzw. der Menschheit als Gesamtheit der an-

fänglich geschaffenen Vernunftwesen. Insofern jedem Wesen stets aufs Neue die Möglichkeit

zum richtigen (und falschen) Gebrauch des Willens gegeben ist, ist seine Erlösung so unend-

lich wie unbedingt.

58

SCHOCKENHOFF, Eberhard: „Origenes und Plotin…“, S. 51. 59

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 405 (II 9,2-3). 60

RAHNER, Hugo: „Das Menschenbild des Origenes“, in: Eranos-Jahrbuch 47, Bd. XV, Zürich 1948, S. 205. 61

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 819 (IV 4,10) 62

Ebd., S. 643 ( III 6,1). 63

VÖLKER, Walther: Das Vollkommenheitsideal des Origenes…, S. 28.

Page 12: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Wie auch derjenige Leser der biblischen Botschaft teilhaftig werden muss, der in seinen Ka-

pazitäten nur ihren fleischlichen Sinn erfasst, so muss auch der eher fleischliche oder seelische

Mensch die Anwärterschaft auf den Geist besitzen.

I.2.4 Ethik und Erkenntnis

JONAS sieht bei ORIGENES eine direkte Umkehrung des Verhältnisses von Ethik und Erkennt-

nis, wie es in der gnōsis vorherrschte:

Bei dem allmählichen Aufstieg der Seele durch die „Himmel“ fallen auch die irdischen Schranken der Er-

kenntnis und von Stufe zu Stufe wächst die Einsicht: erst in die Gründe der diesseitigen Dinge, dann in die un-

sichtbaren Dinge der höheren Ordnung, die nun „erblickt“ werden, dann wieder in deren Gründe […] Schon

das erwähnte negative Gesetz, daß jede Ordnung ihre nach oben benachbarte nicht sehen kann […] enthält ja

mittelbar das positive, daß Übergang zu höherer Ordnung zugleich ein Aufstieg in Erkenntnis ist. Auf diese

Weise gilt also auch für Origenes die allgemein gnostische These. Aber eben nicht durch Gnosis erfolgt der

Aufstieg zur höheren Stufe […], sondern umgekehrt gewährt die Stufe, zu der Heiligkeit des Willens geführt

hat, Anteil an der ihr zugeordneten Erkenntnis [eig. Hervorh., A.S.].64

Aufgabe des Menschen ist also nicht primär die richtige Erkenntnis, sondern das richtige

Handeln, das Tun des Guten ist die Bedingung seiner Erkenntnis. Dies findet auf methodi-

scher Ebene seinen Ausdruck in den philosophischen Disziplinen der Ethik, Physik und

Theologie, insofern auch hier die Ethik das erste, also die Grundlage der nachfolgenden ist.65

Ebendiese Tendenz scheint auch in ORIGENES’ Wendung gegen die reine theoria des Plato-

nismus in ihrer vermeinten Diskrepanz zum praktischen Tun der griechischen Philosophen

auf. Denn jene Philosophen „geben […] diese hohen Wahrheiten, die ihnen ,Gott offenbart

hat‘ wieder preis und denken an niedrige und kleinliche Dinge, indem sie ,dem Asklepios ei-

nen Hahn opfern‘.“66

So steht der beständigen Aktualität der Göttlichkeit im Menschen „nach dem Bild“ die (zu ak-

tualisierende) Potentialität jener „nach dem Gleichnis“ gegenüber:

„Und Gott schuf den Menschen, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn […] Daß er hier sagt: „nach dem Bilde

Gottes schuf er ihn“ und von der „Ähnlichkeit“ schweigt, deutet auf nichts anderes hin, als daß (der Mensch)

zwar die Würde des „Bildes“ bei der ersten Schöpfung empfing, die Vollendung der „Ähnlichkeit“ ihm aber

für das Ende aufgespart ist […] Nachdem ihm zu Anfang die Fähigkeit zur Vervollkommnung kraft der Wür-

de des „Bildes“ gegeben war, sollte er schließlich am Ende selber durch eigenes Wirken die vollkommene

„Ähnlichkeit“ vollenden.67

Als Bild Gottes verfügt der Mensch über die Freiheit; in der Verähnlichung mit Gott hat er

seine Freiheit zu verwirklichen.68

Verfügt der Mensch zwar aufgrund seiner existentiellen

64

JONAS, Hans: Gnosis und spätantiker Geist. Zweiter Teil, S. 189. 65

Zu dieser Sicht der Bibel als Lehrbuch der Philosophie vgl. KOBUSCH, Theo: Christliche Philosophie, S. 58-63. 66

ORIGENES: Contra Celsum, VI, 4 (http://www.unifr.ch/bkv/kapitel143-3.htm, 18.02.2012). 67

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 643-645 (III 6,1). 68

Betrachtet man die origineische Willensfreiheit „über die bloß formale Fassung der Freiheit als Wahlfreiheit hin-

aus […]“ als „die freie Hingebung an das Gute“68

, wie VÖLKER dies bei REDEPENNING diagnostiziert sieht, so lässt

Page 13: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Freiheit über keine feste Natur - bzw. besteht seine Natur in ebendieser Freiheit - so muss der

Mensch sich in seinem freien Handeln eine Natur geben, wie es auch Christus ewig tut:

Vielleicht findet jemand eine Schwierigkeit darin, daß, wie wir oben gezeigt haben, in Christus eine vernünftige

Seele ist, und daß die Natur einer solchen Seele, wie wir bei unseren Erörterungen immer wieder aufgewiesen

haben, sowohl zum Guten wie zum Bösen fähig ist. […] Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Natur jener Seele

dieselbe war wie die aller Seelen; […] Da nun allen die Fähigkeit zukommt, zwischen Gut und Böse zu wäh-

len, hat diese Seele Christi die „Liebe zur Gerechtigkeit“ […] gewählt, derart daß sie entsprechend der Größe

der Liebe unwandelbar und untrennbar an ihm hing; […] Was ursprünglich von freier Entscheidung abhing, ist

durch die Wirkung langer Gewohnheit jetzt zur Natur geworden.69

Die Sünde ist nichts anderes als die Abkehr vom Guten, dessen Privation das Böse ist bzw.

gerade deshalb nicht ist. Die Bedeutung aktiver Tugendhaftigkeit für das Ziel des Mensch-

seins markiert hierbei wiederum eine Abgrenzung von der Idee der Gnosis als einzig gangba-

rer Erlösungsmöglichkeit im gnostischen Akosmismus, der eine entsprechende Ethik nicht

notwendig erscheinen lässt, ebenso wie von der reinen theoria des Neoplatonismus.70

Das

Handeln des Menschen hat den Menschen zu verwandeln. Ebenso, wie er über den Wortsinn

des biblischen Textes hinausgehen soll, soll er über sich bzw. seinen aktuellen Status hinaus-

gehen. Was also MARKSCHIES als „Transzendenzbezug des Menschen“71

bei ORIGENES be-

zeichnet, wäre wohl treffender „Transzendenzvollzug des Menschen“ zu nennen, insofern ja

der Mensch der Angelpunkt ist, um den herum sich die Läufe der Welt wieder in die Trans-

dies das Suscipe des Ignatius von Loyola (zu Origenes und Ignatius s. z.B. LIES, Lothar: „Ignatius von Loyola und

Origenes“, in: SIEVERNICH, Michael (Hg.): Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, Freiburg

1990, S. 183-203. Ders.: „Die Lehre der Unterscheidung der Geister bei Origenes und Ignatius von Loyola“, in:

BIENERT, W.A.; KÜHNEWEG, U. (Hg.): Origeniana Septima, Leuven 1999, S. 717-732) anklingen: „Nehmt, Herr,

und empfangt meine ganze Freiheit [eigene Hervorhebung, A.S.], mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen

ganzen Willen, all mein Haben und mein Besitzen. Ihr habt es mir gegeben; euch, Herr, gebe ich es zurück. Alles

ist euer, verfügt nach eurem ganzen Willen. Gebt mir eure Liebe und Gnade, denn diese genügt mit.“ (LOYOLA,

Ignatius: Geistliche Übungen. Nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 2008, S.

100f.). Die Tatsache, dass der Jesuitenorden des Ignatius oft als Inspiration für die SS Heinrich Himmlers genannt

wird, verweist aus seiner Extremität zumindest in die Richtung der scheinbar himmelweiten Differenz, die zwi-

schen den Auffassungen menschlicher Freiheit bei ORIGENES und Ignatius zu bestehen scheint. Die Idee des Vor-

bildcharakters der Jesuiten für die SS entbehrt jedweden Belegs. Laut HÖHNE habe Himmler „in der Gesellschaft

Jesu das gefunden, was ihm als Kernelement jeder Ordensmentalität erschien, die Doktrin des Gehorsams, der Kult

der Organisation. […] Die Organisation der SS sei von Himmler `nach den Grundsätzen des Jesuitenordens aufge-

baut́ worden.“ (HÖHNE, Heinz: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Hamburg 1966, S. 135).

Diese Idee bleibt jedoch wirklicher Belege schuldig, die eine bewusste Orientierung am Vorbild der Jesuiten be-

weisen würden. 69

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 367-369 (II 6,5). 70

Die geradezu dialektische Erscheinung von Askese und Libertinismus in gnostischen Denkrichtungen ist locus

communis. So z.B. bei JONAS, Hans: Gnosis. Die Botschaft…, S. 316-331, und SCHOLEM, Gershom: „Der Nihi-

lismus als religiöses Phänomen“, in Judaica 4, Frankfurt a. M. 1984, S. 129-188. Eine anomistische Haltung als

Konsequenz monistischen bzw. pantheistischen Denken belegen nicht zuletzt die „Brüder und Schwestern des

freien Geistes“ des lateinischen Spätmittelalters und die ismā īʿlītische Qarāmiṭa im 9./10. Jahrhundert, deren An-

hänger im Gewahrsein der vermeintlichen messianischen Zeit den schwarzen Stein der Kaʿba in Mekka entführ-

ten, um dem Ritual der Wallfahrt ein Ende zu bereiten. 71

MARKSCHIES, Christoph: Origenes und sein Erbe. Gesammelte Schriften, Berlin 2007, S. 99.

Page 14: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

zendenz Gottes richten.72

So erfolgt in der steten Bemühung um die Überwindung des

fleischlichen, irdischen Seins - im praktischen Lebensvollzug also - die Angleichung an Gott.

Die immanente Bedeutung der Askese für ORIGENES erhellt aus der ursprünglichen Bedeu-

tung des Wortes, insofern sie eine „Übung“ ist. Dies ist auch von Bedeutung, insofern

ORIGENES den Abfall der Vernunftwesen mittels der Künste zu erklären sucht:

Nach dem Sachverhalt also, den wir voraussetzten, bleibt diesem Geometer oder Arzt die Kenntnis seines Fa-

ches erhalten, solange er sich in seiner Kunst betätigt und verstandesgemäß ausbildet; wenn er aber die Übung

verabsäumt und im Fleiß nachlässt, so entfällt ihm infolge der Vernachlässigung erst weniges, dann immer

mehr, und so gerät im Laufe einer langen Zeit alles in Vergessenheit und verschwindet völlig aus dem Ge-

dächtnis. […] Übertragen wir dies nun auf die, die sich dem Wissen und der Weisheit […] von Gott verschrie-

ben haben – einer Wissenschaft und einer Tätigkeit, die unvergleichlich hoch über allen anderen Wissensfä-

chern steht […].73

Übung macht also den Meister, die Muße hingegen scheidet die Geister in ihrem Abfall. Die

platonische metempsychose (wiederholte Wiedergeburt durch Inkarnation) durch Raum und

Zeit - als Mittel sittlicher Erziehung und Vervollkommnung des Menschen - weicht einer

überzeitlichen Metamorphose des Menschen, als stete Wiedergeburt und Auferstehung des

Menschen in sich selbst. So erweist es sich als

[…] Tatsache, daß wir es hier mit einer Form der praktischen Selbst- und Gotteserkenntnis zu tun haben. Das

theoretische Leben ist in Wirklichkeit ja […] die höchste Form der Praxis, insofern es die wahre Selbstsorge

darstellt. Selbstsorge aber ist Gottesverehrung, Ethik und Epoptie fallen zusammen.74

I.2.5 Fleisch, Seele und Geist

PAULUS hatte zwischen dem ,natürlichen Menschen‘ als Psychiker, und dem ,geistigen Men-

schen‘ als Pneumatiker unterschieden.75

Die Parallelität zu den Pneumatikern und Psychikern

valentinianisch-gnostischer76

Prägung endet jedoch spätestens mit deren dritter Unterschei-

dung, den hylikern, also den rein stofflichen Menschen. Dass ein Mensch - dem

Valentinianismus zufolge - prädestinierter Weise allein der Materie verhaftet bleiben, die

Grenzen der festen Wesensnaturen nicht überwinden und somit der Erlösung nicht teilhaftig

72

Vgl. hierzu auch HEIDEGGER: „Damit gelangen wir erst zum echten ontologischen Sinn von Transzendenz, der

sich aus der vulgären Grundbedeutung des Wortes anschließt. Transcendere besagt überschreiten, das

transcendens, das Transzendente ist das Überschreitende als solches, und nicht das, wohin ich überschreite. […]

Das Transzendierende sind nicht die Objekte – Dinge können nie transzendieren oder transzendent sein, sondern

transzendierend, d.h. sich selbst durch- und überschreitend sind die ›Subjekte‹ im ontologisch recht verstandenen

Sinn des Daseins.“ HEIDEGGER, Martin: Grundprobleme der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1975, S. 425. 73

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 185-187 (I 4,1). 74

KOBUSCH, Theo: Christliche Philosophie…, S. 144. 75

1. Korinther, 2, 13-14: „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit,

und er kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich verstanden sein. Der geistliche Mensch aber ergründet alles

und wird doch selber von niemand ergründet.“ In: 76

Zu den Ähnlichkeiten zwischen ORIGENES und dem Valentinianismus siehe STRUTWOLF, Holger: Gnosis als

System. Zur Rezeption der valentinianischen Gnosis bei Origenes, (Forschungen zur Kirchen- und Dogmenge-

schichte 56), Göttingen 1993; Für eine Herausstellung der Unterschiede siehe JONAS, Hans: Gnosis und spätanti-

ker Geist…, S. 207-209.

Page 15: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

werden könne77

, läuft der Idee von der Gnade des christlichen Gottes entgegen. Für JONAS ist

diese gnostische Art der „Erlösung […] nicht Erfüllung, sondern Aufhebung aller innerweltli-

chen Existenz“78

. Bei Paulus verläuft die Grenze zwischen Psychiker und Pneumatiker -

ebenso wie die von „Gesetz“ und „Geist“ - nicht starr,79

sondern erscheint vielmehr als eine

Art hegelscher Aufhebung80

des Ersteren im Letzteren. Diese Haltung scheint auch bei

ORIGENES’ Lehrer CLEMENS wieder auf81 und findet Eingang in die dreiteilige origenische

Anthropologie von Fleisch, Seele (psyche) und Geist:

Mit dem Leib gehört er [der Mensch; A.S.] in die Region des Tierischen, mit dem Geist in den Bereich des Lo-

gos. Je nachdem sich die Psyche nun dem einen oder dem anderen Kraftfeld zuneigt, wird der Mensch zum

„Tier-Mensch“ […] oder zum „Logos-Mensch“ […].82

In derselben Weise wie der Schriftauslegung erweist sich auch im Falle der Anthropologie,

dass die drei Ebenen wesentlich zwei sind, die sich nämlich gleichsam in der dritten aufheben.

Geist und Fleisch konstituieren den Menschen als Seele. Der Mensch ist zweifacher Mensch,

als der „innere“ und der „äußere“ Mensch, wie ORIGENES - unter Rückgriff auf die seit Paulus

bestehende Tradition - ihn in seiner Homilie zum Buch Genesis nennt.83

Gemäß der Idee einer Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes vor dem Abfall der

Geistwesen obliegt es dem Menschen, aus der Position der Seele heraus sich dem Geistigen

77

Epiphanius von Salamis, selbst Gegner des ORIGENES, beschreibt dies in seinem Panarion wie folgt: „Drei

Gruppen von Menschen gebe es, Pneumatiker, Psychiker, Sarkiker. Die Gruppe der Pneumatiker seien sie selbst,

wie sie auch Gnostiker heißen, sie bedürften keiner Anstrengung als nur der Erkenntnis (Gnosis) und dessen, was

in den Mysterien dazu gesagt würde. […] Die zweite Gruppe von Menschen in der Welt, die sie psychisch nen-

nen, könne von sich aus nicht gerettet werden, wenn sie nicht durch Mühe und rechtes Tun sich selbst rette. Die

materielle Gruppe der Menschen in der Welt könne weder die Erkenntnis fassen noch sie aufnehmen, so sagen

sie, auch wenn von dieser Gruppe einer es wolle und sich dazu Mühe gebe, er ginge zugrunde mit Seele und

Leib.“ In: FÖRSTER, Werner (Hg.): Die Gnosis. Zeugnisse der Kirchenväter, 2006, S. 307. 78

JONAS, Hans: 79

Vgl. Römer 7, 6: „Nun aber sind wir vom Gesetz los und ihm abgestorben, daß uns gefangenhielt, also daß wir

dienen sollen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens.“ Hierzu auch SCHAEDER:

„Mit einer großartigen, aber doch gewaltsamen Einseitigkeit hat Paulus den Kontrast von Gesetz und Geist auf

den Gegensatz von Judentum und Christentum umgemünzt. Richtig daran ist, daß die Predigt Jesu in der Tat mit

der absoluten Akzentsetzung auf dem Individuell-Seelischen steht und fällt. […] Andererseits aber ist das eschato-

logische Moment, die Verkündigung des nahen, ja schon gegenwärtigen Gottesreiches als eines völlig neuen Zu-

standes der Seele, der Kern seiner Predigt; und damit war der Impuls zu jenem religiösen Individualismus gege-

ben, der ebensowohl Läuterung des Geistes und Erstarkung des tätigen Lebens wie fruchtlosen Enthusiasmus und

Zügellosigkeit des Gefühlsüberschwangs im Gefolge haben konnte.“ In SCHAEDER, H. Heinrich: Der Mensch in

Orient und Okzident, S. 256f. 80

Vgl. HEGEL, G.W.F.: Wissenschaft der Logik. I, S. 113-115. 81

„Für Clemens war Erkenntnis ein Stufengang, der mit dem Glauben begann. Auf diese Weise wurde die Tren-

nung zwischen Psychikern, d.h. glaubenden Menschen, und Gnostikern, d.h. erkennenden oder wissenden Men-

schen, in ihrer anthropologischen Unbedingtheit aufgehoben und in seelisch-geistige möglichkeiten umformuliert,

die theoretisch jedem einzelnen offen stande.“ In IWERSEN, Julia: Gnosis, S. 95. 82

Zitiert nach RAHNER, Hugo: „Das Menschenbild des Origenes“, in: Eranos-Jahrbuch 47, Bd. XV, S. 222. 83

„Is autem, qui ,ad imaginem Dei‘ factus est, interior homo noster est, invisibilis et incorporalis et incorruptus

atque immortalis.” In: LUBAC, H.; DOUTRELEAU, L. (Hg.): In Genesim homiliae, Paris 1985, S. 56 (1, 13, 12).

Page 16: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

zuzuwenden und vom Fleische abzuwenden. Diese Überwindung des Fleischlichen be-

schreibt ORIGENES exemplarisch in seiner Homilie zum Buch Leviticus:

Wer nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen auch dem Logos gemäß […] lebt, der allein ist ein

,Mensch‘. Ein solcher bringt Gott ein ,Kalb‘ als Opfer dar, wenn er den Stolz des Fleisches besiegt; ein ,Schaf‘,

wenn er die logoswidrigen und törichten Bewegungen ordnet; einen ,Bock‘, wenn er die schlüpfrige Gier

überwindet.84

Das Opfer als das Aufgeben des Tierischen, nicht eigentlich Menschlichen im Menschen,85

als die Metamorphose des Menschen, formuliert ORIGENES in der Idee des „Mensch-

Menschen“. Diese zuhöchst ,geistliche‘ Lehre entdeckt er dabei ausgerechnet in einem Ext-

rem seiner steten Bemühung um das Auftun eines tieferen Sinnes jedweder noch so scheinbar

banalen bzw. ,fleischlichen‘ Textstelle der Bibel. Der hebräische Ausdruck „ “ (wört-

lich: „Man[n] Man[n]“) für „Jedermann“, bzw. deren wörtliche griechische Übersetzung in

der Septuaginta als „Άνθρωπος ανθρωπος“ (wörtlich: „Mensch Mensch“), bedeutet ihm das

Bild des wahren Menschwerdens:

Wenn wir gut sind und gezähmt, verdoppeln wir den Namen ,Mensch‘, auf daß in uns nicht mehr nur einfach

Mensch sei, sondern ein ,Mensch-Mensch‘. Wenn der äußere Mensch […] in uns ein Mensch ist, während der

innere Mensch einer Schlange gleicht, dann ist in uns nicht Mensch-Mensch, sondern ,Nur-Mensch‘ […].

Wenn aber auch der innere Mensch dem Urbild seines Schöpfers treu bleibt, dann wird ein neuer Mensch ge-

boren und so wird er nach dem inneren und dem äußeren Menschen doppelt, eben ein ,Mensch-Mensch‘“.86

Die Kontingenz der Referenz des biblischen Textes harmoniert mit der immanenten Notwen-

digkeit des Gedankengangs.

Die asketische Selbstbeschränkung des Menschen in der freien Unterordnung gegenüber dem

göttlichen Willen korrespondiert mit der Selbstbeschränkung Gottes in seiner Verleihung der

Freiheit an die Vernunftwesen, durch welche er seine Unendlichkeit begrenzt hatte bzw. stets

begrenzt. So überwindet der Mensch die Unterscheidung des Geistes in der Entscheidung sei-

nes Willens, sich selbst zu bescheiden und die Unterscheidung durch die Selbstaufgabe -

idealiter verkörpert im Martyrium - aufzuheben.

84

Ebd., S. 223. Vgl. hierzu auch PORPHYRIUS in De abstinentia: „Daß wir, ››mit ihm [dem Gott] uns verbindend,

ihm uns ähnlich machend, unsere Andacht ihm als unser heiliges Opfer darbringen müssen, sie, die unser Lobpreis

zugleich wie unser Heil ist. Dass Gottschauen einer reinen Seele ist das vollkommene Opfer.‹‹“ Zitiert nach

STROUMSA, Guy G.: Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike, S. 91. 85

Vgl. hierzu AGAMBEN: „Die Metaphysik ist von Anfang an von dieser Strategie geprägt: Sie setzt genau jenes

metá ein, das die Überwindung der animalischen phýsis in Richtung auf die menschliche Geschichte vollendet und

begleitet. Diese Überwindung ist kein ein für alle Mal abgeschlossenes Geschehen, sondern ein Ereignis, das in je-

dem Individuum immer wieder zwischen Humanem und Animalischem, zwischen Natur und Geschichte, zwi-

schen Leben und Tod entscheidet.“ In AGAMBEN, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M.

2003, S. 87. 86

Ezechielhomilie XIV, 4. Zitiert nach RAHNER, Hugo: „Das Menschenbild des Origenes“, S. 205.

Page 17: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Diese Vorstellung des über sich hinausgekommenen Menschen gewinnt in der Grundidee des

Jesus Christus konkrete Gestalt als der „Gott-Mensch“87

.

I.2.6 ,Fleischlicher‘ und ,geistlicher‘ Sinn im „Gott-Mensch“

Gott also „gestaltet und lenkt […] durch die unaussprechliche Kunst seiner Weisheit alles,

was wie auch immer entsteht, zu irgendeinem Nutzen und zum gemeinsamen Fortschritt des

gesamten“, stets in Hinblick auf das Ziel der „Wiederbringung“, in das „Geprägtsein durch

den ganzen Willen des Vaters und sein aktives Vollbringen“. Diese Erziehung des Men-

schengeschlechts durch die Welt(en) findet nun aber im Christentum außergewöhnlichen

Ausdruck in der Grundidee „der Fleischwerdung unseres Herrn und Erlösers […], wie er

Mensch geworden ist und unter den Menschen geweilt hat.“88

Die origenische Lesart dieser

„Fleischwerdung“ zeigt ihre Eigenart gut in der Formulierung des siebten Anathema von 553:

Christus, der, wie es heißt, in göttlicher Gestalt war […] und vor aller Zeit mit dem Gott-Logos geeint war, ha-

be sich in den jüngsten Tagen entäußert […] zum Menschlichen, da er Mitleid hatte mit dem, wie sie sagen,

„vielzerteilten Fall“ der Wesen, die zur gleichen Einheit gehörten; und in der Absicht, sie zurückzuführen, sei er

zu allen gekommen, er habe sich in verschiedene Körper gekleidet und verschiedenen Namen angenommen, er

sei allen alles geworden […], unter Engeln ein Engel, unter Mächten eine Macht, und unter den Ordnungen

und Arten der Vernunftwesen habe er die zu einer jeden passende Gestalt angenommen; endlich habe er „ähn-

lich wie wir im Fleisch und Blut erhalten“ und sei auch für die Menschen Mensch geworden […].89

Die Gestalt des innerhalb der Geschichte Mensch gewordenen Gottes artikuliert in mythi-

scher, ,fleischlicher‘ Form exemplarisch das existentielle, ,geistliche‘ Schicksal des Menschen

bzw. der Menschheit. Christus präsentiert sich derart als Vorbild und Abbild der Menschheit

an sich.

Er vollzieht in der Zurückstellung des eigenen Selbst als Selbstüberwindung ,stellvertretend‘

den Abfall von Gott als Abstieg durch alle „Ordnungen und Arten“ hinab, und von dort wie-

der im Aufstieg zurück unter den Willen Gottes.

Geschichtlichkeit und Mythos von der Einmaligkeit der Menschwerdung Gottes, insofern sie

„sich streng auf ein konkretes geschichtliches Ereignis, genauer, auf das Geschick einer kon-

kreten geschichtlichen Person“90

beziehen, kontrastieren und korrespondieren mit der über-

zeitlichen, beständigen Möglichkeit und Notwendigkeit der Gottwerdung des Menschen als

Menschheit, wie THOMASIUS trefflich formuliert:

87

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 363 (II 6,3). 88

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 355-357 (II 6,1). 89

Ebd., S. 829. 90

ZAHRNT, Heinz: Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, München 1966, S. 260.

Page 18: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Erlöser ist also der ganze Christus, als der Gottmensch, und das Hauptmoment der Erlösung oder Wiederher-

stellung liegt eben darin, dass er das Getrennte zuvörderst in seiner eigenen Person wieder vereinigt, und durch

die ganze Art und Weise seiner irdischen Erscheinung es auch den andern möglich macht, diese Vereinigung

in ihnen selbst zu vollziehen.91

I.2.7 Das „Ende des Königtums Christi“

Die „Wiederbringung aller“ als das Ziel von Schöpfung bzw. Grundlegung und Aufgabe des

menschlichen Daseins impliziert nicht nur, „„der letzte Feind“, welcher „der Tod“ genannt

wird, werde vernichtet [...]“92

- also eine Erlösung des Teufels -, sondern auch das im oben zi-

tierten 12. Anathema benannte „Ende des Königtums Christi“. SCHOCKENHOFFS Definition

des origenischen Sohn Gottes als das „Geprägtsein durch den ganzen Willen des Vaters und

sein aktives Vollbringen […]“ mündet gedanklich in JONAS’ Darstellung der origenischen

Christologie:

Er [Christus, A.S.] ist also durchaus von der Klasse der übrigen Geister, einer ihresgleichen, und im aus-

gezeichneten Sinne wird er nur deswegen genannt, weil er diese ursprüngliche Seinsart sich erhielt, während

die anderen sie durch ihren Fall einbüßten. Bedenkt man nun, daß vermöge des unbedingten Prinzips der Wil-

lensfreiheit weder vorauszusehen war, welcher der gleich geschaffenen Geister treu bleiben würde, noch vo-

rauszusehen ist, welcher es beim kommenden und bei immer ferneren Neuanfängen sein wird, so sieht man,

daß Christus ebenso wie Satan eine grundsätzlich austauschbare Figur ist - der jeweils ungefallene Geist - und

sich auch an ihm bewährt, daß der Grundsatz der Gleichheit aller geistigen Natur (bei unbegrenzter

Modifizierbarkeit des Willens) keine einmaligen, individuellen Gestalten und so auch keine wirklichen Eigen-

namen, sondern nur Rollen- und Funktionsnamen im System zulässt. […] Schließlich versteht sich nach allen

Voraussetzungen, daß auch das Reich Christi ein Ende haben wird […], da eben das Ziel seiner Sendung ist,

daß schließlich sogar Satan selbst zur Mitherrschaft mit ihm eingesetzt wird, d.h. jenen Endzustand herbeizu-

führen, in dem wie zu Anfang alle einander gleich sind.93

So artikuliert sich die Aufgabe des Menschen, „Gott ähnlich zu werden, soweit es möglich

ist“, als tatsächliche Imitatio Christi.94

91

THOMASIUS, Gottfried: Origenes. Ein Beytrag zur Dogmengeschichte des dritten Jahrhunderts, Nürnberg 1837,

S. 217. 92

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 657 (III 6,5). 93

JONAS, Hans: Gnosis und spätantiker Geist…, S. 201-203. 94

„Daß Origenes zum ersten Male den Typus der östlichen Frömmigkeit in voller Reinheit verkörpert hat und daß

er in der ganzen Eigenart seiner inneren Haltung Richtunggebend für die Folgezeit geblieben ist“ (VOLKER,

Walther: Das Vollkommenheitsideal…, S. 234), zeigt der Hesychasmus (eine hervorragende Darstellung der Ge-

schichte des Hesychasmus bietet HILIS, Gregory K.: To Be Transformed by a Vision of Uncreated Light: A Sur-

vey on the Influence of the Existential Spirituality of Hesychasm on Eastern Orthodox History:

http://www.arts.ualberta.ca/axismundi/2001/to_be_transformed_part1.php, 19.03.2012) als maßgebliche Strö-

mung byzantinischer Mystik, deren Wurzeln sich in den Lehren der Wüstenväter vor allem beim Origenesschüler

Evagrius Ponticus finden. Ziel des Hesychasmus ist das Erreichen der apatheia als innerer Ruhe (hesychia) und

das Schauen des „Taborlichtes“ mittels entsprechender Übungen des Adepten. Hierbei ist vor allem die Wieder-

kehr des pneuma von Interesse, gerade insofern die direkte, ,fleischliche‘ Wortbedeutung (nämlich „Atem“) Be-

deutung erlangt, insofern die Übungen besonders die Atmung betreffen. Gregorios Palamas, als der Hauptvertreter

des Hesychasmus, formuliert: „Du siehst, mein Bruder, wie nicht nur bei pneumatischer, sondern auch bei (allge-

mein) menschlicher Betrachtungsweise die dringende Notwendigkeit klar wurde, den Geist in den Körper

hineinzulenken und festzuhalten, und zwar für diejenigen, die in Wahrheit zu sich selbst kommen und nach ihrem

inneren Menschen Mönche sein wollen.“ (HUNGER, Herbert (Hg.): Byzantinische Geisteswelt. Von Konstantin

dem Grossen bis zum Fall Konstantinopels, Baden-Baden 1958, S. 157). Die Idee einer menschlichen Schau des

Page 19: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

Der Mensch, der sich als solcher erst aus seiner Fähigkeit zur Negation bzw. Individuation

ergibt, muss „Mensch-Mensch“ werden, indem er in einer doppelten Negation „Nein-Nein“

bzw. „Ja“ sagt. Der Mensch als die Menschheit in der Nachfolge Christi verdrängt diesen

gleichsam von seinem Platze.95

I.2.8 Ewige Wiederbringung?

Der bedeutsamste Aspekt der origenischen Spekulation in De principiis ist also die unbeding-

te Gültigkeit der Willensfreiheit des vernünftigen Geistes. Folgenschwer ist sie insofern, als

damit selbst das eigentliche Endziel, die „Wiederbringung aller“, stets wiederum in einen

„Abfall“ münden können muss, wie sogar RUFINS Übersetzung sagt:

Denn es scheint möglich, daß die Vernunftwesen, denen niemals die Eigenschaft der Willensfreiheit genom-

men wird, erneut irgendwelchen Bewegungen (d.h. einem Fall) unterliegen. Dies hat Gott ihnen verliehen, da-

mit sie nicht, wenn sie unbeweglich auf immer ihren (seligen) Stand besäßen, vergäßen, daß sie durch Gottes

Gnade und nicht aus ihrer eigenen Kraft in dieser höchsten Seligkeit weilen.96

HIERONYMOS’ Übersetzung scheint noch treffender:

Wenn ferner das, was Christus unterworfen ist, am Ende auch Gott unterworfen wird, so werden alle die Kör-

per ablegen, und ich nehme an, daß zu diesem Zeitpunkt eine Auflösung der körperlichen Natur ins Nichtsein

erfolgen wird. Sie wird ein zweites Mal ins Dasein treten, wenn wieder Vernunftwesen (von der Einheit mit

Gott) herabsteigen. Denn Gott hat die Seelen dem Zustand von Kampf und Ringen überlassen, damit sie wis-

sen, daß sie einen vollen und endgültigen Sieg nicht aus eigener Kraft, sondern aus Gottes Gnade erreicht ha-

ben [eigene Hervorhebung, A.S.].97

Womöglich ist nun gerade dies, der stets mögliche (und tatsächliche) Abfall von Gott als Be-

dingung der Rückkehr, der ,geistliche‘ Sinn des gesamten Systems. Die Bemühung um ein

sicheres Verneinen dieses möglichen Wiederabfalls in alle Unendlichkeit zielt insofern auf

das Falsche ab. Wie VÖLKER zuversichtlich ist, „daß Origenes in sehr vielen Stellen seiner

Kommentare und Predigten […] von der Endseligkeit als einem definitiven Zustand spricht,

„ungeschaffenen Taborlichtes“ - Grund des ,Hesychastenstreits‘ zwischen Palamas und dem kalabrischen Scho-

lastiker Barlaam, ein „theologischer Streit […], wie ihn Byzanz seit den Tagen der Bilderstürmer nicht mehr gese-

hen hatte“ ( - findet ihre Entsprechung bei ORIGENES, wenn er sagt, dass „durch den Glanz wird erkannt und

wahrgenommen, was das Licht ist.“ Der origenische Primat des Ethischen findet sich auch im „Leben in Christo“

des Nikolaus Kabbasilas, dessen Hauptgedanke WUNDERLE so formuliert: „Der wahre Christ muß die durch die

Taufe erlangte Seinsgleichheit mit Christus (ontische Nachfolge Christi) bekunden durch sittliche Gleichheit mit

ihm (ethische Nachfolge Christi).“ (WUNDERLE, Georg: Das geistige Antlitz der Ostkirche, S. 146). Laut

WUNDERLE darf daher „Für den wahren Christen und sein ethisches Streben […] der alte griechische Spruch als

schönstes Motto gelten: „Γενoιo, oιoς εσσι“, „Werde, der du bist!““ (Ebd., S. 146). 95

Vgl. hierzu JUNG: „Das Drama des archetypischen Christuslebens beschreibt in symbolischen Bildern die Er-

eignisse im bewußten und im bewußtseinstranszendenten Leben des Menschen, der von seinem höheren Schick-

sal gewandelt wird.“ In: JUNG, Carl G.: „Christus als Archetyp“, in: KUSCHEL, Karl-Josef: Die Theologie des 20.

Jahrhunderts, München 1986, S. 236. 96

Origenes vier Bücher von den Prinzipien, S. 309 (II 3,3). 97

Ebd., S. 311 (II 3,3).

Page 20: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

und daß dies allein seinem christlichen Empfinden gerecht wird […]“98

, so haben auch laut

ROUKEMA „Nicht die Philosophie, sondern der Glaube, die Hoffnung und die Liebe […] bei

Origenes das letzte Wort.“99

Die Liebe aber als Argument gegen einen Wiederabfall zu nutzen missachtet die Tatsache,

dass ebendiese Liebe sich am deutlichsten im Streben der Rückkehr bzw. des Rückkehrens

ausdrückt.100

So kann man das implizit und explizit gegebene Schema der unendlichen Wiederbringung in

De principiis als die kosmologische Darstellung der Einigungsbewegung der menschlichen

Seele hin zu Gott sehen, wie ORIGENES in seinem für die weitere Entwicklung christlicher

(Braut-)Mystik101

maßgeblichen Kommentar zum Hohelied konzipiert.102

Ein Aphorismus von LULLUS, 1.000 Jahre nach ORIGENES verfasst und hier stellvertretend für

die Grundidee der Minne103

- also dem Streben nach dem bewusst unerreichbaren Geliebten -

, mag diesen Gedanken vereindrücklichen:

Das Herz des Freundes schwang sich empor

Zu den Höhen des Geliebten, damit sein Lieben

Nicht beengt sei vom Abgrund dieser Welt.

Und als das Herz den Geliebten erreichte,

schaute es ihn in Süße und Glück.

Doch der Geliebte sandte es wieder

Hinab in die Welt, damit es ihn schaue

In Sehnsuchtsleid und Bedrängnis.104

98

VÖLKER, Walther: Das Vollkommenheitsideal des Origenes…, S. 29. 99

ROUKEMA, R.: „»Die Liebe kommt nie zu Fall« (1 Kor. 13,8a) als Argument des Origenes gegen einen neuen

Abfall der Seelen von Gott“, in BIENERT, W. A.; KÜHNEWEG, U. (Hg.): Origeniana Septima, Leuven 1999, S. 23. 100

Vgl. hierzu SCHELLING: „Wollten wir auch einen persönlichen Gott als etwas aus sich von selbst verstehendes

annehmen: So würde er doch so wenig als irgendein persönliches Wesen, der Mensch z.B., aus bloßer Liebe be-

stehen können. Denn diese, die ihrer Natur nach unendlich ausbreitend ist, würde zerfließen und sich selbst verlie-

ren ohne eine zusammenhaltende Kraft, die ihr Bestand gibt. Aber so wenig die Liebe existieren könnte ohne eine

ihr widerstehende Kraft; so wenig diese ohne die Liebe.“ In: SCHELLING, F. W. J.: „Die Weltalter“, in: ders.: Aus-

gewählte Schriften, Bd. 4: 1807-1834, Frankfurt a. M. 1985, S. 231. 101

Dass auch LUTHER noch zu dieser Gattung tendiert, zeigt WEHR, Gerhard: Der Mystiker Martin Luther, Wies-

baden 2011, S. 91-98. 102

„Die Metaphysik des Hohenliedes hat in diesem Zusammenhang die Funktion der »Mystagogie«, die der See-

le den »Aufstieg zum Vollkommenen« zeigt und sie in die göttlichen Geheimnisse einweiht. Nun ist nach Gregors

einschlägiger Lehre das höchste Glück der Seele nicht in einem Zustand unbeweglicher Schau zu sehen, sondern

vielmehr in einem endlosen immer tieferen Eindringen in die göttliche Wesenheit, in einer unendlichen Annähe-

rung an sie zu sehen. […] Die Seele muß sich immer wieder »aufwecken« und darf niemals aufhören mit der An-

näherung. Nur mit solcher »göttlicher Wachsamkeit« kann sie die Erscheinung Gottes überhaupt wahrnehmen.

[…] Die Mystagogie ist die Hinführung zu dem Bewußtsein, daß das Denken nur in »Vermutungen« das Unsag-

bare berühren kann.“ KOBUSCH, Theo: „Die Begründung eines neuen Metaphysiktypus durch Origenes“, in: BIE-

NERT, W. A.; KÜHNEWEG, U. (Hg.): Origeniana Septima, Leuven, S. 66. 103

Zur Theorie einer Beeinflussung des Minnesangs durch die islamische Mystik, siehe ERCKMANN, Rudolf:

„Der Einfluß der arabisch-spanischen Kultur auf die Entwicklung des Minnesangs“, in: Deutsche

Vierteljahrszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 9. Jahrg., Heft 2, S. 240-284. 104

Zitiert nach WEHR, Gerhard: Europäische Mystik, Wiesbaden o. J., S. 155.

Page 21: Der "Mensch-Mensch" des ORIGENES

In seiner Freiheit erreicht der Mensch seine Vollkommenheit auf infinitem Wege.105

Die

Antwort auf die Frage Hiobs liegt gleichsam in eben der Zurückweisung der Frage durch

Gott. Die Spaltung bzw. Unterscheidung des Geistes als die Gottes und des Menschen, des

Fleisches und des Geistes, des Inneren und Äußeren Menschen, bleibt in ihrem Wesen der

Freiheit notwendiges Konstitutiv des Menschseins.

Diese Zurückweisung zu überwinden bleibt jedoch gerade der Impetus des Anthropos, wie

GOETHE es die Engel im zweiten Teil seines Faust verkünden lässt:

Gerettet ist das edle Glied

Der Geisterwelt vom Bösen:

„Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.“106

105

Vgl. hierzu HEIMANN: „Offenbar wirkt der Bann der stoischen Lehre von der ›Wiederkehr des Gleichen‹ so

stark nach, daß es schwer hält, wenn von einer zyklischen Evolution gesprochen wird, sich darunter etwas anderes

vorstellen zu können als eine Rückkehr zum gleichen Ausgangspunkt. […] Die Entwicklung endet bei ihm über

dem Ausgangspunkt, ein Stockwerk höher, d. h. sie verläuft nicht in einem Kreis, sondern in einer Spirale, die frei-

lich, wenn es der Schuldpegel erfordert, gegebenfalls auch nach unten führt. […] In der Arché fehlte den Seelen

die Erfahrung der Gottesferne, und die empirische Welt war noch nicht vom Logos durchdrungen. […] Es wäre

falsch, das eschatologische Reich Christi als ein statisches Gebilde aufzufassen, das zuerst nicht ist, um dann plötz-

lich zu sein; vielmehr stellt es den Zielpunkt einer ständigen Entwicklung dar.“ In: HEIMANN, Peter: Erwähltes

Schicksal. Präexistenz der Seele und christlicher Glaube im Denkmodell des Origenes, Tübingen 1988, S. 225. 106

GOETHE, J. W.: Faust - Der Tragödie zweiter Teil. Neu durchgesehene Ausgabe, Stuttgart 1986, S. 209

(11936/11937).


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