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Hans Joachim Hirsch zum Gedächtnis

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Nachruf Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann Hans Joachim Hirsch zum Gedächtnis Bernd Schünemann: Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Am 9. September 2011 verstarb im Alter von 82 Jahren Professor Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim Hirsch. Die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft verliert in ihm den über ein Menschenalter unermüdlich tätigen Förderer als Autor einer nicht abreißenden Kette grundlegender Beiträge, als Mitherausgeber seit 1975 und als Gesamtschriftleiter von 1987 bis 2004. Die deutsche Straf- rechtswissenschaft verliert mit ihm einen weiteren profilierten Vertreter jener Generation, die das Jurastudium in den Nachkriegsjahren aufgenommen hat und sodann (von dem Spagat ihrer Lehrer zwischen einer wissenschaftlichen Karriere vor und nach 1945 unbelastet) die Strafrechtsdogmatik des demokrati- schen Rechtsstaates zu einem Höhepunkt führen konnte. An dessen Bewah- rung gerade auch in seiner internationalen Resonanz hat der Verstorbene trotz einer schweren Erkrankung bis unmittelbar vor seinem Tode unermüdlich und mit ungebrochener, der strafrechtswissenschaftlichen Gemeinschaft tiefen Respekt abverlangenden Kraft gearbeitet nach seinem durch und durch preußisch geprägten Selbstverständnis nicht supererogatorisch, sondern die Pflichten eines Professorenlebens gegen sich selbst und gegen andere erfüllend, die in der Tugendlehre (anders als im Beamtenrecht) mit der Emeritierung nicht aufhören. Ein Nachruf auf einen bedeutenden Wissenschaftler beginnt traditioneller- weise mit einem Rückblick auf dessen Leben, namentlich die Stationen seines beruflichen Werdeganges, um daran anschließend sein Gesamtwerk zu würdi- gen. Bei Hans Joachim Hirsch ist in beiderlei Hinsicht eine besondere Situation gegeben, weil wir eine (fast 40-seitige Kurz-)Autobiographie aus seiner Feder besitzen 1 und weil in der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag seine bis dahin publizierten Werke von keinem Geringeren als Hans-Heinrich Jescheck ausführ- 1 In dem von Eric Hilgendorf herausgegebenen Band Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, 2010, S. 124162. DOI 10.1515/zstw-2012-0001 ZSTW 2012; 124(1): 111 Bereitgestellt von | Umea University Library Angemeldet | 10.248.254.158 Heruntergeladen am | 17.08.14 23:24
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Page 1: Hans Joachim Hirsch zum Gedächtnis

Nachruf

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann

Hans Joachim Hirsch zum Gedächtnis

Bernd Schünemann: Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht,Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Am 9. September 2011 verstarb im Alter von 82 Jahren Professor Dr. Dr. h.c. mult.Hans Joachim Hirsch. Die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaftverliert in ihm den über ein Menschenalter unermüdlich tätigen Förderer – alsAutor einer nicht abreißenden Kette grundlegender Beiträge, als Mitherausgeberseit 1975 und als Gesamtschriftleiter von 1987 bis 2004. Die deutsche Straf-rechtswissenschaft verliert mit ihm einen weiteren profilierten Vertreter jenerGeneration, die das Jurastudium in den Nachkriegsjahren aufgenommen hatund sodann (von dem Spagat ihrer Lehrer zwischen einer wissenschaftlichenKarriere vor und nach 1945 unbelastet) die Strafrechtsdogmatik des demokrati-schen Rechtsstaates zu einem Höhepunkt führen konnte. An dessen Bewah-rung – gerade auch in seiner internationalen Resonanz – hat der Verstorbenetrotz einer schweren Erkrankung bis unmittelbar vor seinem Tode unermüdlichund mit ungebrochener, der strafrechtswissenschaftlichen Gemeinschaft tiefenRespekt abverlangenden Kraft gearbeitet – nach seinem durch und durchpreußisch geprägten Selbstverständnis nicht supererogatorisch, sondern diePflichten eines Professorenlebens gegen sich selbst und gegen andere erfüllend,die in der Tugendlehre (anders als im Beamtenrecht) mit der Emeritierung nichtaufhören.

Ein Nachruf auf einen bedeutenden Wissenschaftler beginnt traditioneller-weise mit einem Rückblick auf dessen Leben, namentlich die Stationen seinesberuflichen Werdeganges, um daran anschließend sein Gesamtwerk zu würdi-gen. Bei Hans Joachim Hirsch ist in beiderlei Hinsicht eine besondere Situationgegeben, weil wir eine (fast 40-seitige „Kurz“-)Autobiographie aus seiner Federbesitzen1 und weil in der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag seine bis dahinpublizierten Werke von keinem Geringeren als Hans-Heinrich Jescheck ausführ-

1 In dem von Eric Hilgendorf herausgegebenen Band „Die deutschsprachigeStrafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen“, 2010, S. 124–162.

DOI 10.1515/zstw-2012-0001 ZSTW 2012; 124(1): 1–11

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lich gewürdigt worden sind2. Wenn ich mich deshalb nachfolgend auf einigepersönliche Bemerkungen zu Hans Joachim Hirschs Autobiographie und zuseinen nach seinem 70. Geburtstag erschienenen Werken beschränke, so scheintmir das auch deshalb aus der Not eine Tugend zu machen, weil auf den Ver-storbenen das zutrifft, was Theodor Fontane über seinen eigenen Vater gesagthat: „Denn wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich“3.

I.

Dabei trifft das berühmte Zitat auf Hans Joachim Hirsch in einer ganz anderenWeise zu als auf Fontanes Vater, denn in puncto Zielstrebigkeit des Lebenslaufeswaren beide, wie Hirschs Autobiographie ausweist, nahezu Antipoden. Hirschschrieb in seiner Autobiographie, „dass die wohl dramatischste und ereignis-reichste Phase meines Lebens bereits die zwischen meinen 14. und 17. Lebens-jahr (scil. von 1943 bis 1946) gewesen ist. Alles Außergewöhnliche hat sich indiesem Zeitraum ereignet. Die damaligen Eindrücke haben mich nicht weniggeprägt, meine künftige Lebenseinstellung und Selbstsicht sind ohne sie nichtzu erklären.“4 Der (übrigens alle schriftlichen und mündlichen ÄußerungenHirschs kennzeichnende, dem klassischen Stereotyp des Norddeutschen entspre-chende) nüchterne Tonfall, in dem Hirsch die Jahre davor, die „Distanz derFamilie gegenüber den Nationalsozialisten“ und das ihm und seiner Familiegänzlich unbekannt gebliebene, „die damalige menschliche Vorstellungskraftüberschreitende Hyperverbrechen der ‚Endlösung der Judenfrage‘“ streift5, könn-te in den Augen Nachgeborener den Verdacht einer geheimen Beschönigungs-tendenz wecken (ähnlich wie es der grandiosen epischen Darstellung einerJugend im Nationalsozialismus in Martin Walsers „Ein springender Brunnen“ergangen ist), aber nur wenn man (m.E. zu Unrecht) verlangt, in die biographi-sche Beschreibung eigenen Erlebens (etwa von Tieffliegerangriffen auf Flücht-linge)6 nachträgliche Lektüre (scil. der monströsen Bestialitäten des NS-Regimes)einfließen und auf sie einwirken zu lassen. Gerade das vom Alptraum des totalenVerbrechens noch freie Erleben des totalen Zusammenbruchs 1945 scheint mir

2 Thomas Weigend/Georg Küpper, Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag am11. April 1999, S. 3–26.3 Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, 1893, Sechzehntes Kapitel.4 Hirsch (Anm. 1), S. 131.5 Hirsch (Anm. 1), S. 126, 129.6 Hirsch (Anm. 1), S. 128.

2 Bernd Schünemann

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die unwandelbare Richtschnur von Ordnung und Geradlinigkeit und den Glau-ben an ihre Herstellbarkeit erzeugt oder zumindest entscheidend gefördert zuhaben, die Hirsch zur Strafrechtsdogmatik und innerhalb derselben zu einemallen Bizarrerien abholden Systemdenken (inhaltlich mehr und mehr „holdesBescheiden in der Mitten“) geführt haben. Hier hat sich das in der Autobiogra-phie abgewiesene familiäre Erbe von Wasserbauingenieuren mehrerer Genera-tionen wohl doch noch Bahn gebrochen – in Gestalt des Ausbaus und derBefestigung des Hauptstroms und der strikten Abweisung aller Strudel oderUnterströmungen. Seinen deutlichsten Ausdruck hat das im Werk der letzten15 Jahre gefunden, in dem der ihm früher oft nachgesagte Doktrinarismus einemum Vermittlung und Ausgleich bemühten Denken Platz gemacht hat, in zeitli-chem und stilistischem Gleichklang mit einer zunehmenden Konzilianz im kolle-gialen Umgang, die aber niemals so weit ging, das eigene wohlerwogene Urteilzu einer Verhandlungsmasse zu degradieren.

II.

Natürlich bedeutet Hirschs hier sog. Spätwerk7 keinen eigentlichen Bruch mitseinen von Jescheck in seiner Festschrift gewürdigten früheren Arbeiten, die imJahr 1952 mit der ihm von seinem Lehrer Welzel übertragenen, 1956 fertig gestell-ten und 1959 publizierten Kritik an der „Lehre von den negativen Tatbestands-merkmalen“ einsetzten und ihn nach Welzels Verstummen zum Haupt des „or-thodoxen“ Finalismus prädestinierten, auf dessen von Welzel gelegtem wissen-schaftstheoretischen Fundament, „die Gegenstände der rechtlichen Wertungensollten nicht normativistisch gebildet, sondern der Wirklichkeit entnommenwerden“, so dass „man innerhalb des normtheoretischen Systems ihre vorrecht-lichen Strukturen und die sich daraus ergebende Sachlogik beachtet“8, Hirsch(mit einer einzigen schwer erklärlichen Ausnahme9) unerschütterlich stehen

7 Das nahezu vollständig in dem von Hans Lilie herausgegebenen Sammelband „Hans JoachimHirsch, Strafrechtliche Probleme II, 2009“ greifbar ist.8 So die Charakteristik von Hirsch, in: Grundlagen, Entwicklungen und Missdeutungen des„Finalismus“, Festschrift für Androulakis, Athen 2003, S. 225, 227, unter Hinweis auf Welzel,Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1973, S. 345ff.9 Nämlich in der „Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden“, die er in dergleichnamigen Broschüre bereits 1993 bejaht hat (beibehalten in: StrafrechtlicheVerantwortlichkeit von Unternehmen, ZStW 107 [1995], S. 285 ff.; Moderne Strafgesetzgebungund die Grenzen des Kriminalstrafrechts, in: Strafechtliche Probleme, Bd. II, 2009, S. 32 f.;Aktuelle Probleme rechtsstaatlicher Strafgesetzgebung, in: Strafrechtliche Probleme, Bd. II,

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geblieben ist10. Aber er hat sich nicht damit begnügt, die finalistische TheorieWelzels gegen Angriffe von außen (nämlich von den „Normativisten“) und Um-bildungen von innen (insbesondere durch die extrem subjektivistisch orientierte„Bonner-Schule“ Armin Kaufmanns) zu verteidigen11, sondern sie darüber hinausin origineller Weise durch Verzicht auf ihre dogmatischen „Stolpersteine“ alskonzeptionelle Basis des eklektizistischen „mainstreams“12 tauglich gemacht,indem die objektiven Dimensionen des ontologischen Begriffs der finalen Hand-lung im Begriff des „Tatstrafrechts“ zusammengefasst werden, das zum archime-dischen Punkt in Hirschs Spätwerk avanciert13. Subjektivistische Deutungen desUnrechtsbegriffs, die subjektive Versuchstheorie, Gesinnungsmerkmale, be-stimmte Vorverlagerungen der Strafbarkeit, dubiose Tatbestände wie die Volks-verhetzung in Form der Ausschwitzlüge (§ 130 Abs. 3 StGB) und sogar prozessua-le Institute wie die Einstellung nach § 153a StPO oder die Absprachen werdendadurch an einem übergreifenden Topos gemessen und in ihrer Existenzberechti-gung infrage gestellt. Auch die tragenden Unterscheidungen des AllgemeinenTeils – Unrecht und Schuld, Mittäterschaft und Beihilfe, Handeln oder Unterlas-sen – wurzeln danach im tatstrafrechtlichen Paradigma, das Hirsch in seinenBeiträgen zur Unrechtslehre, zum Versuch und zum Wesen der Schuld weiterentfaltet.

2009, S. 47 f.; Hauptprobleme einer Reform hinsichtlich der allgemeinenStraftatvoraussetzungen, in: Strafrechtliche Probleme, Bd. II, 2009, S. 613, 619f.), obwohl dasontologische Fundament von Handlung und Schuld damit vollständig preisgegeben wird. Weildiese Irregularität, der schon Jescheck in seiner Würdigung skeptisch gegenüber stand(Festschrift für Hirsch, S. 17), im Spätwerk nur noch beiläufig angesprochen und nicht eigentlichgerechtfertigt wird, soll sie hier zwar nicht übergangen, aber auch nicht weiter debattiertwerden.10 Siehe Hirsch (Anm. 8), S. 225 ff.; ders., Zum 100. Geburtstag von Hans Welzel, in: ZStW 116(2004), S. 1 ff.11 Hirsch (Anm. 8), S. 230ff.; ders., Zum gegenwärtigen Stand der Strafrechtsdogmatik inDeutschland, in: Strafrechtliche Probleme, Bd. II, 2009, S. 104 ff.; zur Abwehr des„Normativismus“ siehe auch die Habilitationsschrift seines Kölner Schülers Küpper, Grenzender normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, und die Dissertation seines (sich später beiLilie habilitierenden) Hallenser Schülers Krüger, Die Entmaterialisierungstendenz beimRechtsgutsbegriff, 2000.12 Wie er uns in den Lehrbüchern von Jescheck/Weigend, Strafrecht Allg. Teil, 5. Aufl. 1996,und Wessels/Beulke, Strafrecht Allg. Teil, 41. Aufl. 2011, begegnet.13 Insbesondere Hirsch, Tatstrafrecht – ein hinreichend beachtetes Grundprinzip?, in: Prittwitzu.a. (Hrsg.), Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 253ff.; auch ders. (Anm. 8), S. 247 f.; ders.,Aktuelle Probleme (Anm. 9), S. 37 ff., S. 46; ders., Über die Entwicklung einer universalenStrafrechtswissenschaft, in: Strafrechtliche Probleme, Bd. II, 2009, S. 90 ff., S. 91.

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1. a) Hirschs Beiträge zur Unrechtslehre beruhen auf seiner objektivistischenDeutung der finalen Handlungslehre14, die von ihm als „weiterentwickelte per-sonale Unrechtslehre“ bezeichnet wird15. Handlung sei nicht nur Zwecktätigkeit,sondern Zwecktätigkeit. Nur wirkmächtiges zwecktätiges Verhalten, das alsoeine Herrschaft über natürliche Kausalverläufe verkörpert, sei eine Handlung imeigentlichen Sinne. Konkret heißt es, dass erst ex ante gefährliche Verhaltens-weisen von den Tatbeständen erfasst würden. Eine Tötungshandlung liege erstdann vor, wenn das Verhalten aus der ex ante-Perspektive für das Leben einesanderen gefährlich ist – als eine Konsequenz des Tatstrafrechts, das u.a. dieAblehnung einer bloß auf dem bösen Willen beruhenden Strafbarkeitsbegrün-dung impliziert.

b) Diese Verobjektivierung bedeutet eine wesentliche Annäherung an dievon „normativistisch“ orientierten Dogmatikern entwickelte Lehre von der objek-tiven Zurechnung16, die das Handlungsunrecht als Schaffung einer unerlaubtenGefahr versteht und damit ebenfalls den bösen Willen als solchen für irrelevanterklärt. Hirsch ließ sich aber nicht überzeugen, zusätzlich zu der „ex ante-Gefährlichkeit“ noch deren Unerlaubtheit zu verlangen, denn dieses normativis-tisch aufgeladene Merkmal führe zu einem Zirkelschluss: Die Tatbestände könn-ten als Verbotsnormen nicht ihrerseits nur dasjenige verbieten wollen, wasunerlaubt ist17.

c) Bezüglich der Legitimierbarkeit von Gefährdungsdelikten folgert Hirschaus seinem Grundkonzept, dass Delikte, die weder einen Gefährdungserfolg nocheine objektiv ex ante gefährliche Handlung (von ihm sog. Gefährlichkeit) voraus-setzen, grundsätzlich in den Bereich der Ordnungswidrigkeiten gehörten18. Dievon Frankfurter Strafrechtlern propagierte Rückkehr zu einem weithin auf Ver-letzungsdelikte beschränkten Kernstrafrecht wird dagegen als „Strafrechtsidylle“abgewiesen19. Überhaupt bleibt das Objekt der zu fordernden Gefährlichkeit bei

14 Hirsch (Anm. 8), S. 241 ff.15 Hirsch (Anm. 11), S. 115.16 Ausf. Hirsch, Zur Lehre von der objektiven Zurechnung, in: Eser u.a. (Hrsg.), Festschrift fürLenckner, 1998, S. 119 ff.; ferner ders. (Anm. 8), S. 241 ff.; ders. (Anm. 11), S. 113 f.; ders., ZumUnrecht des fahrlässigen Delikts, in: Dölling (Hrsg.), Festschrift für Lampe, 2003, S. 515 ff.,S. 518 f.17 Hirsch, Festschrift für Lenckner (Anm. 16), S. 136.18 Insb. Hirsch, Systematik und Grenzen der Gefahrdelikte, in: Sieber u.a. (Hrsg.), Festschriftfür Tiedemann, 2008, S. 145 ff.; auch Festschrift für Lüderssen (Anm. 13), S. 259ff.; ders.,Moderne Strafgesetzgebung (Anm. 9), S. 27 ff., S. 34 f.; ders., Aktuelle Probleme (Anm. 9),S. 39 f. Davor auch Gefahr und Gefährlichkeit, in: Haft u.a. (Hrsg.), Festschrift für ArthurKaufmann, 1993, S. 545ff.19 Hirsch, Moderne Strafgesetzgebung (Anm. 9), S. 30.

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Hirsch merkwürdig offen: Der systemtranszendenten Rechtsgutslehre steht erskeptisch gegenüber, weil sie eine klare Bestimmung dessen, was ein Rechtsgutausmacht, schuldig bleibe und deshalb dem Gesetzgeber auch keine Schrankenziehen könne. Immerhin erwartet er von der (freilich systemimmanenten) Rechts-gutslehre eine Entlarvung bloßer sog. Scheinrechtsgüter, d.h. angeblich kollekti-ver Gebilde wie etwa die Funktionstüchtigkeit des Kreditwesens, die in Wahrheitaus nichts anderem bestünden als aus einer Vielzahl individueller Rechtsgüter20.

d) Zu den wichtigsten Folgen der Rückbesinnung auf die objektiven Aspekteder finalen Handlung gehört eine Umorientierung der Versuchslehre, die einendeutlichen Schwerpunkt in Hirschs Spätwerk bildet21. Während Armin Kaufmannaus der Perspektive eines subjektivistisch orientierten Finalismus behauptethatte, dass „selbst der abergläubische Versuch […] also Unrecht“ ist22, entgegnetHirsch, dass das bloße Totbeten keine zwecktätige Tötungshandlung sei; nur exante gefährliche Versuche dürften bestraft werden. Die herrschende Eindrucks-theorie wird von ihm als eine bloße Weiterentwicklung der subjektiven Ver-suchstheorie verstanden, die ihrerseits ein „Wegbereiter der NS-Strafrechtsdok-trin“23 gewesen sei, und in die Tradition der „Ethisierung des Strafrechts“ ein-geordnet, woraus sich eo ipso ihre Unverträglichkeit mit dem Prinzip desTatstrafrechts ergebe.

e) Unter der Flagge einer Verobjektivierung des Handlungsbegriffs und desTatstrafrechts entwickelt Hirsch auch seine Überlegungen zur formalen Strukturdes Unrechtsbegriffs, mit anderen Worten, zu dem Verhältnis von Handlungs-und Erfolgsunwert24. Wie schon erwähnt, lehnt er die subjektivistische Deutung,die dem Finalismus von der Armin Kaufmann-Schule verliehen wurde, strikt

20 Insb. Hirsch, Die aktuelle Diskussion über den Rechtsgutsbegriff, in: StrafrechtlicheProbleme, Bd. II, 1999, S. 121 ff.; ders. (Anm. 11), S. 117 ff.; ders., Moderne Strafgesetzgebung(Anm. 9), S. 21 ff., S. 25 ff.; ders., Aktuelle Probleme (Anm. 9), S. 39.21 Hirsch, Untauglicher Versuch und Tatstrafrecht, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift fürRoxin, 2001, S. 711 ff.; ders., Zur Behandlung des ungefährlichen „Versuchs“ de lege lata undde lege ferenda, in: Triffterer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Vogler, 2004, S. 31 ff.; ders., Diesubjektive Versuchstheorie, ein Wegbereiter der NS-Strafrechtsdoktrin, in: JZ 2007, S. 494 ff.;auch Festschrift für Lüderssen (Anm. 13), S. 255 f.; ders., Festschrift für Lampe (Anm. 16), S. 521;ders., Aktuelle Probleme (Anm. 9), S. 46 f.; ders., Hauptprobleme (Anm. 9), S. 620; eherrechtsvergleichend Zur Versuchsregelung des peruanischen Strafgesetzbuchs, und ZurProblematik der Regelung des untauglichen Versuchs im polnischen und deutschenStrafgesetzbuch, beide in: Strafrechtliche Probleme, Bd. II, S. 755 ff., 770ff.22 Armin Kaufmann, Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht, in: Stratenwerth u.a.(Hrsg.), Festschrift für Welzel, 1974, S. 393 ff., S. 403.23 So die Überschrift des Beitrages in Hirsch, JZ 2007, 494ff.24 Insb. Hirsch, Handlungs-, Sachverhalts- und Erfolgsunwert, in: Graul/Wolf (Hrsg.),Gedächtnisschrift für Meurer, 2002, S. 3 ff.; auch Festschrift für Lampe (Anm. 16), S. 520ff.

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ab25: Der Handlungsunwert weise eine objektive Komponente auf und erschöpfesich nicht in einem Intentionsunwert; auch der Erfolg sei unrechtsrelevant, weilman von einer Tötungshandlung im vollen Sinne des Wortes erst dann sprechenkönne, wenn das Opfer tot ist26. „Eine vollendete Handlung besteht in der Ver-wirklichung des Intendierten“27. Das Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts, dessenIntegration in die finale Handlungslehre so viel Kopfzerbrechen bereitet hat, wirddurch die Idee eines „dualistischen Tatbestandsunrechts“ zu begreifen versucht:Neben dem Handlungsunrecht der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung gebe eseinen Erfolgsunwert, der zwar nicht Bestandteil der Handlung sei, dennoch als„mittelbares Unrecht“ dem Täter zugerechnet werde und deshalb auch zum Tat-bestand gehöre28.

2. Das zweitwichtigste Thema in Hirschs Spätwerk bildet der Begriff derSchuld.

a) Seine Hauptthese ist, dass Schuld weder „staatsnotwendige Fiktion“ nochbloße „Zuschreibung“ sei, sondern ein Bestandteil des sozialen Zusammen-lebens freier und verantwortlicher Menschen29. Ging es ihm früher darum, einauf der Idee der Willensfreiheit basierendes Schuldkonzept gegen funktionaleDeutungen in Schutz zu nehmen30, haben die neueren Stellungnahmen zweiweitere Gegner im Visier. Erstens kritisiert Hirsch die vor allem in der Aus-bildungsliteratur verbreitete Theorie, die die Schuld in Übernahme älterer Ansät-ze als rechtsfeindliche Gesinnung versteht31. Diese Theorie lasse sich in diedogmengeschichtlich zweifelhafte Tradition des ethisierenden Strafrechts ein-ordnen, das sich eher für die Gesinnung als für die Tat interessierte, was aus derPerspektive des Tatstrafrechts verworfen wird. Den zweiten Adressat der Kritikbilden die Herausforderungen der modernen Hirnforschung, die in Hirschs Au-gen das Selbstverständnis des Menschen verfehlen32. „Sollen die Normen ihreAdressaten erreichen, müssen sie Menschen so nehmen, wie diese sich selbst

25 Diese Lehre sei „durch normtheoretische Gedankenexperimente beim Gesinnungsstrafrechtangelangt“, Festschrift für Lüderssen (Anm. 13), S. 257.26 Hirsch, Gedächtnisschrift Meurer (Anm. 24), S. 7.27 Hirsch (Anm. 8), S. 241.28 Hirsch, Gedächtnisschrift Meurer (Anm. 24), S. 18; ders., Festschrift für Lampe (Anm. 16),S. 522ff.29 Hirsch, Das Schuldprinzip und seine Funktion im Strafrecht, ZStW 106 (1994), S. 746 ff.,S. 759ff.; ebenso heute ders., Über Irrungen und Wirrungen in der gegenwärtigen Schuldlehre,in: Dannecker u.a. (Hrsg.), Festschrift für Otto, 2007, S. 307 ff., S. 321 f.; ders., Zurgegenwärtigen deutschen Diskussion über Willensfreiheit und Strafrecht, ZIS 2010, 62, 65 ff.30 Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 752 ff.31 Hirsch, Festschrift für Otto (Anm. 29), S. 307 ff.32 Hirsch, ZIS 2010, 62 ff.

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verstehen“33. Sicher ließe sich dieser Satz auch in einer philosophisch intensiverelaborierten Form formulieren – etwa sprachphilosophisch im Gefolge Wilhelmvon Humboldts und der Whorfschen Hypothese oder als Primat der gesellschaftli-chen Konstruktion der Wirklichkeit im theoretischen Bezugsrahmen des sym-bolischen Interaktionismus. Aber die Klarheit von Hirschs Judiz zu einer Zeit, alser selbst bereits von schwerer Krankheit gezeichnet und als über Achtzigjährigerdurch die Pflege seiner gesundheitlich noch hinfälligeren Ehefrau (die er inseiner Autobiographie als „Glücksfall meines Lebens“ gewürdigt hat) aufs Äu-ßerste beansprucht war, nötigt Bewunderung ab.

b) Nicht weniger treffend erscheint Hirschs Judiz in Einzelfragen des Schuld-urteils, so wenn er für den Gewissenstäter (der in der multikulturellen Gesell-schaft nicht nur bei sog. Ehrenmorden eine zunehmend wichtige, in der Recht-sprechung des BGH umgekehrt und m.E. falsch gewürdigte Rolle spielt) einenStrafmilderungsgrund ableitet34 oder die Rechtsfigur der actio libera in causa,die in der aktuellen Dogmatik gleich dem Gespinst der Nornen zu Beginn vonWagners Götterdämmerung immer mehr verwirrt worden ist, in einer seinemNaturell kongenialen Weise in die strenge Zucht der Regeln über die mittelbareTäterschaft und damit auf die Unrechtsebene zurück verwiesen hat35.

3. Auf der Schnittstelle von Unrecht und Schuld liegt die Irrtumslehre, dieam Anfang von Hirschs strafrechtsdogmatischen Arbeiten gestanden hat unddie ihn auch in seinem Spätwerk nicht loslässt – nunmehr aber mit der (inder deutschen Dogmatik seltenen) Bereitschaft, die in der Jugend eingenomm-nen Positionen auf den Prüfstand zu stellen. Die Behandlung des Erlaubnistat-bestandsirrtums nach der strengen Schuldtheorie, die Welzel (m.E. gegenseine eigenen Prämissen) zum Verdun des Finalismus bestimmt und Hirsch inseiner Dissertation mit der maximal möglichen dogmatischen Finesse aus-gestaltet hatte, wird nunmehr wegen ihrer „außerordentlichen Strenge“ preis-gegeben36, jedoch unter unveränderter Lozierung des Irrtums nicht als Vorsatz-und damit Unrechts-, sondern als Schuldproblem. Dadurch bietet Hirschs„gemäßigter Finalismus“ eine von ihm sog. „vermittelnde Schuldtheorie“ als

33 Hirsch, ZIS 2010, 65; fast wortgleich bereits ders., ZStW 106 (1994), S. 763.34 Hirsch, Strafrecht und Überzeugungstäter, in: Strafrechtliche Probleme, Bd. II, S. 585ff.,S. 611.35 Hirsch, Zur actio libera in causa, in: Eser (Hrsg.), Festschrift für Nishihara, 1998, S. 87 ff.;ferner Aktuelle Probleme (Anm. 9), S. 44; Anm. zu BGHSt. 42, 235, in: NStZ 1997, 230ff.; Anm.zu BGH JR 1997, 351, in: JR 1997, 391 ff.36 Insbesondere Hirsch, Einordnung und Rechtswirkung des Erlaubnissachverhaltsirrtums, in:Hoyer u.a. (Hrsg.), Festschrift für Schroeder, 2006, S. 223ff.; ferner ders., Festschrift für Lampe(Anm. 16), S. 534f.; ders. (Anm. 8), S. 238ff.; ders., ZStW 116 (2004), S. 6 f.

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dogmatische Basis der im Eklektizismus der Standardliteratur verbreiteten adhoc-These von der beim Erlaubnistatbestandsirrtum fehlenden, spezifischen„Vorsatzschuld“ an, die außerhalb dieses Biotops noch nicht beobachtet wur-de und ihr Dasein bekanntlich einer Fußnote in einem Vortrag von Gallasverdankt37. De lege ferenda soll sie zur Anerkennung einer besonderen Rechts-figur der „Erlaubnisfahrlässigkeit“ ausgebaut werden38.

4. Auch außerhalb dieser zentralen Themen wird in Hirschs Spätwerk nochein überreicher dogmatischer Strauß gebunden, hier nur eine Blütenlese: Diebeim Gesetzgeber wie bei der die Ausdehnung ihres Ermessens und die verstärkteDrohkulisse beim Dealen (vulgo Verständigung) genießenden Strafjustiz immerbeliebtere Regelungstechnik der „besonders schweren Fälle“ wird einer scharfenKritik unterzogen, weil es in der Sache nicht um bloße Strafzumessungsregeln,sondern Qualifikationen des tatbestandlichen Unrechts gehe, für die die Anfor-derungen des nullum crimen-Satzes ohne Abstriche gelten müssten39. Im Beson-deren Teil werden noch einmal die zentralen Problemfelder der Delikte gegen diePerson durchgepflügt. Hirsch beschäftigt sich mehrfach mit der Reform derTötungsdelikte40, kritisiert den Versuch der Sterbehilfe-Entscheidung des BGH,die Problematik der Ausschaltung einer Magensonde unter Beschwörung desZauberworts vom „Behandlungsabbruch“ zu lösen41, und kann mit Genugtuungfeststellen, dass die Saat seiner früheren Beiträge nunmehr in Judikatur undLiteratur aufging, etwa hinsichtlich der „Rechtsgutslösung“ bei § 228 StGB42 oderdes in der Habilitationsschrift entfalteten normativen Ehrbegriffs43.

37 Gallas, Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen, in: ZStW 67 (1955), S. 1 ff.,S. 46 Anm. 89 und dazu Schünemann/Greco, Der Erlaubnistatbestandsirrtum und dasStrafrechtssystem, GA 2006, 777, 778 f.38 Festschrift für Schroeder (Anm. 36), S. 231 ff.39 Hirsch, Die verfehlte deutsche Gesetzesfigur der „besonders schweren Fälle“, in: Dölling/Erb (Hrsg.), Festschrift für Gössel, 2002, S. 287ff.; ferner Aktuelle Probleme (Anm. 9), S. 41 ff.;ders., Hauptprobleme (Anm. 9), S. 618f.40 Hirsch, Zum aktuellen Stand der Diskussion über die Reform der Tötungsdelikte, in: Fischer/Bussmann (Hrsg.), Festschrift für Rissing-van Saan, 2010, S. 219 ff.; ferner auch ders., DieGrenze zwischen Schwangerschaftsabbruch und allgemeinen Tötungsdelikten nach derStreichung des Privilegierungstatbestandes der Kindestötung (§ 217 a.F. StGB), in: J. Arnoldu.a. (Hrsg.), Festschrift für Eser, 2005, S. 309ff.41 Hirsch, Anm. zu BGHSt. 55, 191, in: JR 2011, 37 ff.42 Hirsch, Anm. zu BGHSt. 49, 166, in: JR 2004, 475 ff.43 Hirsch, Grundfragen von Ehre und Beleidigung, in: Zaczyk u.a. (Hrsg.), Festschrift fürE. A. Wolff, 1998, S. 126ff.

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III.

Eine Strafrechtswissenschaft, die ihre Aufgabe nicht positivistisch in der Nach-erzählung legislatorischer Dezisionen, sondern die Sachen selbst als ihren vor-nehmsten Gegenstand sieht, erschöpft sich nicht (um Hirschs Lehrer Welzel zuzitieren) im Vergänglichen, sondern sucht nach bleibender Erkenntnis. Und sieist deshalb, wie Hirsch immer wieder betont hat, a limine mehr als nur nationalund nicht einmal bloß international orientiert. Vielmehr erhebt sie den Anspruch,zu universellen Erkenntnissen zu gelangen, die nichts anderes sind als dieImplikationen der ontologischen Gegebenheit, dass der Mensch zwecktätig han-delt, dass er zusammen mit anderen zwecktätig handelnden Menschen in einerGemeinschaft lebt und dass diese zwecktätig handelnden und miteinander zu-sammen lebenden Menschen sich selbst und gegenseitig als frei erleben undansehen. „Es gibt keine nur deutsche, keine nur japanische, italienische oderandere rein nationale Strafrechtswissenschaft, sondern hinsichtlich des zentralenForschungsbereichs nur eine nach allgemeinen wissenschaftlichen Maßstäbenganz oder teilweise richtige oder aber falsche“44 und in diesem Sinn „universaleStrafrechtswissenschaft“45. Hierin liegt in meinen Augen Hans Joachim Hirschswichtigstes Vermächtnis, dessen Bedeutung außer Acht lässt, wer sich mit demSammeln von Gesetzestexten verschiedener Länder und deren Nacherzählungdurch eine vorwissenschaftliche Rechtsliteratur begnügt oder wer die in seriösenstrafrechtsdogmatischen Diskursen heute als selbstverständlich anerkannten Ra-tionalitätsniveaus, an deren Stelle anderswo schon ein Amalgam aus politischenGemeinplätzen und gymnasialen Besinnungsaufsätzen als wegweisend empfun-den wird, als eine obsolete nationale Strafrechtskulturbewahrung oder gar Grals-hüterschaft deutscher Strafrechtsdogmatik missdeutet. Das Ideal einer univer-salen Strafrechtswissenschaft ist auch an vielen Orten der Welt richtig verstandenund als erstrebenswert empfunden worden: So wie 2004 zum 100. Geburtstagvon Hans Welzel in Italien, Mexiko und Argentinien strafrechtswissenschaftlicheSymposien veranstaltet und Gedächtnisschriften herausgegeben worden sind46,

44 Hirsch, Gibt es eine nationale unabhängige Strafrechtswissenschaft?, in: Seebode (Hrsg.),Festschrift für Spendel, 1992, S. 43 ff., S. 58.45 Hirsch, Festschrift für Spendel (Anm. 44), S. 47 ff.; ders., Internationalisierung desStrafrechts und Strafrechtswissenschaft: Nationale und universale Strafrechtswissenschaft, in:ZStW 116 (2004), S. 835ff., S. 842ff.; ders., Universale Rechtswissenschaft (Anm. 13), S. 90 ff.;ferner ders., Festschrift für Androulakis (Anm. 8), S. 228; ders., Stand der Strafrechtsdogmatik(Anm. 11), S. 116.46 Moccia (Hrsg.), Significato e prospettive del finalismo nell’esperienza giuspenalistica,Neapel 2007; Moreno Hernández/Struensee/Cerezo Mir/Schöne (Hrsg.), Problemas capitalesdel moderno derecho penal. Libro homenaje a Hans Welzel con motivo de su 100 aniversario,

10 Bernd Schünemann

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hat die weltweite Vermittlung der Rationalitätsniveaus der Strafrechtsdogmatikdurch Hans Joachim Hirsch47 auch nach der Verleihung der Ehrendoktorwürdedurch die Universitäten Thessaloniki, Keio (Tokio), Posen, Sun Kyun Kwan (Se-oul) und Athen an ihn nicht nachgelassen und wird durch die Veröffentlichungseiner sämtlichen Werke in spanischer Sprache, von der bis 2011 fünf Bändeerschienen sind48, immer noch wachsen. Deshalb erscheint es mir nicht unange-messen, mit den Worten aus dem 107. Sonett Edward de Veres, 17. Earl of Oxford(alias Shakespeare), zu schließen: „And thou in this shalt find thy monument, Whentyrants’ crests and tombs of brass are spent.“

México D. F. 2005; Hirsch/Cerezo Mir/Donna (Hrsg.), Hans Welzel en el pensamiento penal de lamodernidad – Homenaje en el centenario del nacimiento de Hans Welzel, Buenos Aires, 2005.47 Zu seiner vorbildlichen Betreuung ausländischer Gastwissenschaftler und den ebensozahlreichen wie arbeitsintensiven Gastaufenthalten an ausländischen Universitäten siehe das„understatement“ in seiner Autobiographie (Anm. 1), S. 154ff.48 Hirsch, Derecho Penal. Obras completas, Buenos Aires 1999ff., herausgegeben von CerezoMir/Donna.

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