Banaler Alltag in exotischer Begegnung - Versuch über postmoderne
Erzähllust im Romanwerk von Jean Echenoz
VON KLAUS SEMSCH
AUS: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 23 (1999), 171-195.
"L'Ecriture est pour l'écrivain [...] une navigation
première et sans grâce." (Derrida 1967, 22)
"L'exotisme n'est pas celui que le mot a déjà tant de fois
prostitué. L'exotisme est tout ce qui est Autre. Jouir de
lui est apprendre à déguster le Divers." (Segalen 1995,
II, 318)
"[...] comme sur la neige s'y lisent des traces de pas."
(Echenoz 1992, 16)
Jean Echenoz und die Ästhetik der (Roman)Welt(en)
"Décanter l'univers et le digérer en langage"
1
- dieses Bekenntnis zur Schreibpraxis als Sprachmagie
des ‘literarischen Ahnen’ Jacques Audiberti hat sich Jean Echenoz zweifelsohne zueigen gemacht -
weniger allerdings dessen persönliche Mitteilungsbereitschaft, so daß nur spärliche biographische
Daten vorliegen. Jean Echenoz, geboren 1947 im südfranzösischen Orange, Studium der Soziologie
in Aix-en-Provence (1966-1970), Studium der klinischen Psychologie an der Pariser Sorbonne
(1974-1976), Wohnort seit Anfang der 70er Jahre Paris, hat ab 1979 kontinuierlich und in zum Teil
recht knappen Abständen bislang sieben Romane und eine Erzählung beim renommierten Verlag
Minuit vorgelegt, der bekannt ist für sein Programm avantgardistischer Autoren. Spätestens nach der
Verleihung des Prix Médicis für Cherokee (1983) sowie des 'Europäischen Literaturpreises' für den
Roman Lac (1990) und bei anhaltend positiver Besprechung in weiten Kreisen der Fach- und
Tagespresse ist Echenoz - "romancier des années 80"
2
- fest etabliert im Kanon französischer
Gegenwartsautoren
3
und wird mehr und mehr in andere Landessprachen übersetzt. Echenoz' Romane
zeichnen sich vor allen anderen distinktiven Merkmalen durch einen konzis klassischen aber dennoch
sehr freien und unbeschwerten Umgang mit Sprache und Gattungstraditionen (Roman und Film) aus,
eine "inventivité verbale"
4
, die ihm von seiten der Kritik und in Analogie zu mancher seiner
1
Audiberti (1993), 66.
2
Mabin (1993), 20.
3
Einen guten Überblick bzw. eine vertiefte Einführung in die Werke von Echenoz bieten 1: allgemein: Baumann,
Lerch (1989), Beisenkötter (1995), Flügge (1992), Houppermans (1994), Lebrun, Prévost (1990): 95-110. 2: zu
gattungshistorischen und editorialen Aspekten: Asholt (1994) sowie v.a. die Monographie von Lebrun (1992), der eine
erste umfangreichere Analyse bietet. Wissenschaftliche Vertiefung mit dem thematischen Schwerpunkt der
intertextuellen Gattungshandhabung liefert die Dissertation von Criso (1993) sowie Schoots (1997) und Wagner
(1998). Ein Interview mit Echenoz in dt. Übersetzung findet sich bei Bitter (1989), ein weiteres jüngeren Datums und
unter dem Motto “Il se passe quelque chose avec le jazz” in: Europe 820-821 (août-sept. 1997), 194-202.
4
Habib (1993), 164.
2
Romanfiguren schnell das Etikett eines literarischen 'Leichtfußes' - genauer eines "malfaiteur léger"
5
-
eingetragen hat. Die zum Teil enthusiastische Rezeption seiner Romane erklärt sich darüber hinaus
wohl aus dem gattungsinternen Faktum einer Neubelebung von erzählerischer Linearität im Sinne der
histoire racontée sowie des Romancharakters: zwei Faktoren, deren mehr oder weniger starke
Infragestellung im spätmodernen Roman und insbesondere im nouveau roman das narrative Genre
trotz zahlreicher warnender Stimmen aus den Reihen der Literaturkritik
6
in eine unübersehbare
Sackgasse geführt hatten. All dies vereinfacht jedoch keinesfalls die Verortung von Echenoz im
Rahmen der bislang mangels historischen Abstandes ohnehin unsicheren Kategorisierung der
aktuellen französischen Romankultur seit den 80er Jahren. Der Bezeichnung als romanciers
minimalistes, als Schöpfer eines nouveau nouveau roman jedenfalls widerstehen die darunter
geführten Autoren wie François Bon, Annie Ernaux, Leslie Kaplan, Patrick Modiano, Jean Rouaud,
Jean-Philippe Toussaint
7
und in aller Deutlichkeit auch Jean Echenoz im sicheren Gefühl
schriftstellerischer Systemabneigung.
Wie dem auch sei: Als erzählerisches Feuerwerk, gezündet auf dem Boden eines wiederbelebten
plaisir du texte, lassen sich vor allem die Romane von Echenoz hervorragend lesen und genießen.
Erzählen, so gab Echenoz in einem der eher raren Interviews zu erkennen, sei für ihn die imaginär-
bildhafte Konstruktion einer Geschichte um einen zentralen Gedanken, eine idée fixe herum. In dem
Erstlingsroman Le Méridien de Greenwich (1979) war dies das Faszinosum der "Vorstellung [von]
der internationalen Datumsgrenze [...], die ein Paradox, ein geographischer und zeitlicher Skandal
ist."
8
Im Roman erscheint diese Idee als exotischer wie irrealer Ort in Form einer kleinen zerklüfteten
Insel, die auf dem geographischen Meridian liegt und auf der der Erfinder Byron Caine
zurückgezogen lebt, um an seiner jüngsten Erfindung zu arbeiten, einer komplizierten Maschine,
deren Gebrauchszweck im Unklaren bleibt. Nebenbei legt er gerne Puzzles oder gibt sich, wie im
ersten Kapitel und vor dem statischen Panorama des insular-kargen "environnement préhistorique"
9
,
dem aktiven Liebesspiel mit Rachel hin. Poetologische Assoziationen sind bereits im incipit erlaubt:
der bei Echenoz wieder sehr dominante, auktoriale Erzähler formuliert sie selbst als eingestreute
Reflexionen zum Leistungsvermögen cinegraphischer Ästhetik. Wird das anfängliche 'Bild' von
Byron Caine und Rachel auf der Insel zum 'bewegten Bild' handlungstragender Erzählung, so wird in
diesem als Gattungsmetamorphose beschriebenen Schritt vom Bild zum récit die referenzielle
Signifikanz fixierter Bilder generell in Frage gestellt:
5
So bei Martine Reid (1992).
6
Gewichtige Stimmen in der Diskussion um die 'Krise des Romans' sind etwa 1. aus historischer Sicht: Kayser (1954)
und Lukács (1914/1994), 2. in der wissenschaftlichen Diskussion: Asholt (1994), Engler (1992) und Mansuy (1971)
sowie 3. von schriftstellerischer Warte etwa: Sarraute (1956) und Kundera (1986).
7
Das Panorama französischer Romanciers der Gegenwart rückt wieder verstärkt ins Blickfeld von Öffentlichkeit und
Kritik. Einen Überblick verschaffen Asholt (1994), Baumann, Lerch (1989), Flügge (1992), Mabin (1993) und
Zeltner-Neukomm (1991). Eine interessante Sondernummer von La Quinzaine littéraire (1989) mit dem provokanten
Titel Où va la littérature française befragt einige Gegenwartsautoren zu ihrem Selbstverständnis. Eine vertiefte
Beschäftigung mit dem aktuellen Roman v.a. der Romania zeichnet sich ab im Kolloquiumsband von
Buschhaus/Stierle (1997).
8
Bitter (1989), 182.
9
Echenoz (1979), 7.
3
Que l'on entreprenne la description de cette image, initialement fixe, que l'on se risque à en expo-
ser ou supposer les détails, la sonorité et la vitesse de ces détails, leur odeur éventuelle, leur goût,
leur consistance et autres attributs, tout cela éveille un soupçon. Que l'on puisse s'attacher ainsi à
ce tableau laisse planer un doute sur sa réalité même en tant que tableau. Il peut n'être qu'une
métaphore, mais aussi l'objet d'une histoire quelconque, le centre, le support ou le prétexte, peut-
être, d'un récit.
10
Die im folgenden vermutete Erzählung wiederum verdichtet sich zum Roman - "Un roman, peut-
être, plutôt qu'un récit"
11
- dessen Handlung sich jedoch erneut kondensiert zum Bild zeitloser
Gegenwart als Reaktion auf den an der geographischen Zeitgrenze grotesk wirkenden Zeitbegriff.
Der Liebesakt auf der geographischen Zeitgrenze - "entre hier et demain"
12
- gerät zum archaischen
Gestus eines "indatable aujourd'hui"
13
. Auch wenn die Erzählung gegen Ende des ersten Kapitels das
spielerische Enigma einer scheinbaren Gattungssuche letztlich in banalisierender Absicht auflöst in
die Romanrealität einer filmischen Dokumentation
14
: Der 'Film' erscheint doch zwangsläufig als
erzählte Fixierung vor dem Auge des Lesers, der in diesem ersten Kapitel der 'Gattungssuche' wohl
zu Recht eine für Echenoz fundamentale Hermeneutik der Romanästhetik vermutet. Erzählen stellt
sich dar als assoziativ-imaginäre Begegnung eines Erzählers mit einem Wirklichkeitsausschnitt, dem
die Qualität eines Bildes eignet. In der jedes Detail zwangsläufig verwandelnden Anlage der
Erzählreise liegt zum einen die (zu infiniter Streuung neigende) Täuschungsbedingung narrativer
Handlung begründet, die so im poetischen wie rezeptiven Bewußtsein von vornherein als Artefakt
verankert ist. Andererseits verschwimmen die Grenzen zum nichtfiktionalen Artefakt, so daß die
Erzählung, darin dem (ir)realen "méridien tordu et nageur"
15
vergleichbar wird - Erzählen gleich dem
Liebesspiel von Byron und Rachel als sinnlicher Akt einer Begegnung mit dem 'Anderen'
16
,
seinerseits allerdings stilisiert in der Schwebe der Vereinigung, die selbst nur in simulierter Ekstase
Geste eines erhabenen Protestes ist gegen die unhaltbar schöne Ratio der geographischen Zeit-
Raum-Grenze. So Byron Caines mit scharfem Urteil des bon sens über den Meridian: "Je suppose
que ce serait compliqué de vivre dans un pays où la veille et le lendemain seraient distants de
quelques centimètres, on risquerait de se perdre à la fois dans l'espace et dans le calendrier, ce serait
10
Ebd., 7f.
11
Ebd., 9.
12
Ebd., 11.
13
Ebd.
14
Vgl. ebd., 13: ”Point de roman, donc; un film c’était.” korrigiert der Erzähler die romaneske Gattungserwartung.
Die Deskription bezieht sich auf eine Filmdokumentation, Beschattungsmaterial eines gewissen Georges Haas über
den ‚Insulaner‘ Byron Caine, das dem Profikiller Russel bei seinem Auftrag helfen soll, Caine zu ermorden.
15
Ebd., 10.
16
Zum Zwecke einer ‚positiveren‘ Analytik des postmodernen Romanwerks Echenoz‘ ist m.E. die hier angelegte
Perspektive ‚hermeneutischer Topik‘ gewinnbringender als die in den o.g. Studien verbreitete Ausdeutung
postmoderner Narrativik als Mimesisentsagung bzw. –dekonstruktion oder als hypostasiertes Spiel mit narrativer
Intertextualität – beide Perspektiven beschränken sich in ihrer Argumentation ex negativo auf einen Aussageertrag
defizitärer Sinnstruktur.
4
intenable."
17
Fiktionales Erzählen wie auch reale wissenschaftliche Sinnstiftung geraten hier, enttarnt
durch eine verwirrende Pluralität der Realitätsperspektivierung zu jeweils täuschenden
Objektivationen. Das Bild als statische Sinnfixierung, sei es als Gemälde, das als solches eine enorme
Anziehungskraft auf Echenoz ausübt, als narrativ-utopisches tableau, in real alltäglicher
Sinnkonstellation oder als wissenschaftliche Formel, ist stets nur für den Moment einer Begegnung
zwischen Vergangenem und Zukünftigem wirklich. Sobald es in zeitlose Präsenz enthoben wird,
gerät es zu einem täuschend schönen, weil 'allzumenschlichen' Abfallprodukt vor dem fundamentalen
Lebensgesetz infiniter Bewegtheit lebendigen Daseins oder wird, wie hier am Ende des ersten
Kapitels, in berichteter Filmrede einer erschreckenden Banalität kriminellen Alltags dienbar.
Macht man sich die Konsequenzen dieser impliziten Romanästhetik bewußt, erweist sich Jean
Echenoz als postmoderner Erzähler par excellence und damit gleichermaßen, dem (nicht
unbestrittenen) Gesetz zufolge, daß den guten Künstler der näher zu bestimmende, intime Kontakt
zu seiner Lebenswelt ausmacht, als europäischer romancier réaliste des ausgehenden 20.
Jahrhunderts. Unangefochten ist sein Werk freilich nicht. Die immer noch heftig geführte Debatte um
Moderne und Postmoderne polarisiert auch die Leser Echenoz'. Dabei resultieren interessanterweise
Lob wie Tadel bisher zumeist aus einer die Partei der modernes ergreifenden Befindlichkeit oder
anders gesagt: Berufen sich die Anhänger Echenoz' auf das moderne Autonomiepostulat für die
Kunst bei gleichzeitiger wie signifikanter Relativierung des ästhetischen Wertes dieses Erzählwerkes
durch dessen Einsortierung in die untere, nie ganz ernst genommene Gattungsschublade des roman
populaire
18
, wird die dem delektativen Anliegen hier latent inhärente reflexive Sinnebene durch die
postmoderne Verschränkung von Kunst und Wirklichkeit unterschlagen. Die Gegner postmodernen
Erzählens hingegen belegen mit ihrer Stimme das Gesetz dialektischer Kulturentwicklung. Der
Aufschrei gegen die vermeintliche Beliebigkeit mit dem Implikat des Werteverfalls des postmodernen
Geistes erscheint zumindest in seiner ausgeprägten Form als Schwanengesang moderner
Besitzständler, die in überlebender Überlebtheit an ihrer eigenen subjektivistischen Beliebigkeit
festhalten.
19
Nach einer intensiveren Beschäftigung mit dem Werk von Echenoz dominiert zur Zeit
eine dritte hermeneutische Alternative: die Reintegration Echenoz' in einen dual gefaßten Rahmen
sozialer Referenzialität, sprich die Aufwertung postmoderner Literatur, indem man ihr durch den
Zuspruch einer aus dieser Perspektive nur vage aufscheinenden Bedeutungsfunktion erneut sozial
tragbares Gewicht verleiht. Jean-Claude Lebrun, der in einer ersten Monographie zu Echenoz viel
wichtige Pionierarbeit geleistet hat, erkennt zwar eine gewisse Auflösung der Grenzen zwischen
Fiktion und Realität an, sieht sozusagen "[...] au coeur du plus délibérément fictionnel [...] le réel
17
Ebd., 10f.
18
So etwa bei Habib (1993).
19
Die Einschätzung postmoderner Kultur gerät in der Kritik seit den 70er Jahren unvermindert zu einer Gene-
rationskrise, die die sachliche Diskussion leider allzuoft behindert; vgl. von den hier Genannten etwa den Band von
Bürger (1987). Fast scheint es legitim, von einer Querelle des modernes et des postmodernes zu sprechen. Unter
diesem Stichwort wird die Postmoderne in jüngerer Zeit kritisch wiewohl aufgeschlossener thematisiert bei Mecke
(1990), 214f. oder Riou (1998), 18f. Vgl. dagegen zu Positionen der Ablehnung Echenoz' von der Warte
modernistischer Verhärtung etwa Habib (1993), 163ff.
5
dans toute son acuité"
20
, stellt diese aber in den Bedeutungsrahmen eines vermeintlich modernen
Aussagewillens, indem er hier die Erzählintention ironisch-kritischer Distanzierung der dargelegten
Welt ausmacht.
21
In ebendieser Argumentationslinie verortet Wolfgang Asholt, der die Diskussion
um den Gegenwartsroman in der deutschen Romanistik konstant befördert hat, die narrative Absicht
in den Romanen von Echenoz in die spätmoderne Stimmung einer 'Trauerarbeit der Moderne': eine
Sichtweise, die den aktuellen französischen Roman in die interne Dialektik einer demzufolge wohl
'unabschließbaren' Epoche (der Moderne) einordnet und insbesondere den Eindruck suggeriert, die
Postmoderne sei eine moderne 'Entgleisung'.
22
Wir wollen im folgenden versuchen, eine
'postmoderne' Lektüre Echenoz', deren Möglichkeit auch Asholt natürlich evident erscheint, als
textinterne hermeneutische Lektüreoption plausibel zu machen.
Erzählen als Dialektik eines jeweils anderen Sehens wird in den Romanen Echenoz' an zwei gegen-
überliegenden Polen sinnfällig. Eine erste - notwendige - narrative Absicht ist die cinegraphische des
bewegten Bildes im Angesicht lebensweltlicher Starre. Eine komplementäre zweite zielt auf eine
bildhafte Sublimierung bewegter Szenerie erneut gemäß der cineastischen Verfahren von Zoom und
Standbild. Romanzeit und –raum entstehen als dialektischer Spannungsbogen zwischen diesen Polen.
Eine stringente Handlung im Sinne einer abgeschlossenen, kausal entwickelten story ist aus dieser
Perspektive kaum von Interesse und auch nicht anzutreffen. Wohl aber läßt sich den beiden Polen
eine konsistente Erzählrhetorik zuordnen, die der beharrlichen Akzentuierung eines vermeintlich
”ungeregelten Experimentierens”
23
des postmodernen Erzähldiskurses von Seiten der Literaturkritik
zumindest dann widersteht, wenn sie als intern moderner ‚Betriebsunfall‘ um ihr
begegnungsstiftendes Potenzial gebracht werden soll.
Rhetorisch gelesen gesellen sich im Roman Echenoz‘ zum Pol der Bewegung erstarrter Bilder
zunächst Figuren sprachlicher Reduktion oder besser hermeneutischen Rückgangs zu einem
Nullpunkt inventiver Sinnbegegnung. Der Horizont der erzählten Welt scheint dabei in vager
Symbolizität - ob in der banlieue parisienne oder im paysage rural - als episch fixierter Hintergrund
durchgängig in opaker Farbgebung auf. Welterfahrung ist hier zunächst einmal gedacht als Rückkehr
respektive Ausgang aus einem Stimmungsraum irreal wirkender wiewohl real einwirkender
20
Lebrun (1992), 85.
21
Vgl. ebd., 83. Das in der Forschung verbreitete Herausstellen ironischer Erzählhaltung für den postmodernen
Roman belegt die modernistische Optik, die für den (spät)modernen Roman die Figur der Ironie als Grundmerkmal
einer sozialen wie ästhetischen Oppositionshaltung mit dem Telos rationaler Synthesenbildung ausmachen konnte.
Hermeneutisch gesehen eine epochenintern späte Diskursfigur eignet sich die Ironie freilich nicht zur Analytik eines
‚rhetorischen Nullpunktes‘ postmoderner Erzähltexte. Zudem und quasi als Beleg für diese Optik wird sie
allenthalben verwechselt mit diskursiven Frühformen einer Epoche, die, so sie komischen Naturells sind, zumeist dem
unbeschwerteren Geist der Tautologie, etwa im Pastiche, Ausdruck verleihen.
22
Vgl. etwa Asholt (1994 = 3 Beiträge). Interessanterweise befindet er sich gerade mit dem Befund der ‚Trauerarbeit‘
des aktuellen Romans vor dem Interesse moderner Abgrenzungen an der Umschlagstelle, die ebenso die
dekonstruktive Analytik einer topisch jeweils ‚neuen‘ diégèse, wie sie z.B. Derrida (1993) unter eben dem Begriff des
travail du deuil subsumiert, nahelegt.
23
So die Perspektive von Mecke (1990), 189, dessen These von der ‚Ästhetik des Entschwindens‘ im postmodernen
Roman allerdings aus der Leseerfahrung ‚älterer‘ Romane, wie Michel Butors L’Emploi du temps (1956) und Claude
Simons La route des Flandres (1960) hervorgeht.
6
Bedrängnisse. Die Welt als undurchsichtige 'Zuhandenheit'
24
ist latent und übergewichtig zugegen,
Natur und soziale Öffentlichkeit erscheinen als das, was sie zumeist in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit
immer schon waren und sind: als tumb-banales (und) grausames Kräftespiel. Vor diesem setting
lassen sich nun die bisherigen Romane von Echenoz darlegen.
Die 'äußere' Rahmengebung bedient sich dabei in ebenfalls typisch postmoderner Einstellung zur
Erzeugung bildhafter Starre Klischees der Gattungstradition, mit der sie pasticheartig - nicht
parodistisch - verfährt. So macht Cherokee (1983) Anleihen beim Kriminalroman, L'Equipée malaise
(1986) aber auch in besonderem Maße der Roman Les grandes blondes (1995) sowie Un an (1997)
enthalten Formen des Abenteuerromans. Lac (1989) wiederum ist als Spionageroman angelegt, und
Nous trois (1992) integriert mit dem Personal aus der Weltraumforschung Motive der science
fiction. Wichtig ist jedoch, daß diese Anleihen nicht als Fortschreibung der entsprechenden
Subgenera aufzufassen sind, sondern vorrangig der statischen Klischeebildung dienen, ansonsten
allerdings ihre respektiven Gattungsgesetze nach Belieben verletzen.
25
Klischeehaft und genährt von einer balzacschen Freude an Milieuschilderungen sind auch die
Charaktere und die Situationen, in die sie geraten. Der Leser trifft hier auf einen aktualisierten Typus
des 'Jedermann', der, weder Held noch Antiheld im klassischen Sinne, nun allerdings wieder im
Zentrum des Geschehens steht. Die Charaktere bei Echenoz führen eine graue Existenz und fügen
sich gut ein in ihre eher trostlose Umgebung. Sie erscheinen, insbesondere so sie nicht zu den
zahlreichen 'Statisten' gehören, in sympathisch wiewohl unpathetisch gezeichneter, melancholischer
Einsamkeit. Sie alle sind unauffällige 'Vagabunden' und belegen einen für den Soziologen Echenoz
symptomatischen Ausschnitt gesellschaftlicher Zugehörigkeit: Die Romanwelt von Echenoz ist die
Welt der 'kleinen Leute', der Gelegenheitsarbeiter, der Arbeitslosen, Ganoven und Obdachlosen.
Grundlegend als Aufnahmekriterium ist, daß sie in singlehaftem Einzelkämpfertum durch ihr Leben
ziehen. Sie alle befinden sich somit in einem vogelfreien, ungeschützten Raum, vor oder zumeist nach
eingehender Erfahrungen mit der modernen Konstanz zweisamer Behaglichkeit und leiden an einer
initialschockartigen Gestimmtheit von (im Einzelfall) traumatischer Orientierungslosigkeit. Sie sind
die geeigneten Menschen für eine Lebensweise, die Martin Heidegger als 'passiv-reaktive Flucht
einer um-wegigen Seins-besorgung' charakterisiert.
26
Andererseits aber, und das scheint als ebenso
wichtig für die Figurenwahl, sind sie in der Tendenz bewußt so und nicht anders lebende Menschen
mit einer gewissen Sensibilität für 'rettende' Gegenstimmungen. Sie stehen auf der gleichen page
blanche wie die Feder des Erzählers, der zwischen vergangenem Nichts und unbekannter Zukunft
eine Schreibspur sucht.
Nehmen wir als erstes Fallbeispiel den 'Abenteuerroman' L'Equipée malaise. Hier finden wir folgen-
de noch oder wieder alleinstehende Personen vor. Als erstes Nicole Fischer, die 30 Jahre zuvor zwei
24
Der Begriff der ‘Zuhandenheit’ meint die Präsenz der Lebenswelt aus subjektiver Sicht und wird entwickelt bei
Heidegger (1927).
25
Vgl. zu einer Vertiefung dieser verbreiteten Analyseoptik etwa Criso (1993) und von erzähltheoretischer Warte
Wagner (1998).
26
Vgl. Heidegger (1986), 136.
7
Bewerber um ihre Gunst ablehnt, kurzfristig einem unbekannten Jagdpiloten ihr Jawort gibt, der bald
darauf durch einen Flugzeugabsturz den Tod findet. Alle drei bleiben so allein zurück im Schmerz
einer "vie cassée", aus der sich Nicole Fischer in ein einsames Landhaus, Charles Pontiac als "homme
du souterrain"
27
in die unterirdischen Kanäle Pariser Obdachlosigkeit und Jean-François Pons in den
malaysischen Urwald zurückziehen. Letzterer wird dort Aufseher einer Farm und stiftet die
untergebenen Eingeborenen zur Dienstrevolte an, die beinahe nicht stattfinden kann, weil auf dem
waffenliefernden Schiff aus Europa eine vergleichbare Meuterei ausbricht, die durch Charles Pontiac,
der, von Nicole Fischer gesandt, um dem selbsternannten 'Duc Pons' im Urwald Hilfestellung zu
leisten, als blinder Passagier auf eben diesem Schiff versteckt mitreist, unterbunden wird. Als der
Aufruhr für Pons tatsächlich zur Gefahr wird, begleitet er Pontiac nach Frankreich. In Paris
wiederum lebt Paul, der Sohn des Jean-François Pons, in einer traurigen heimischen Unordnung, seit
er von seiner Freundin Elizabeth verlassen worden ist. Mit lakonischer impassibilité heißt es dazu:
"Il déjeunait et dînait souvent seul à présent, depuis six mois qu'Elizabeth n'était plus là, à n'importe
quelle heure et souvent des choses crues comme si la solitude induisait une résurgence barbare."
28
Wo einst Elizabeths Bilder an der Zimmerwand hingen, gilt es für Paul nun, der mit dem Weggang
der geliebten Frau eingetretenen visuellen Totenstarre weniger trauernd als vielmehr hinschauend zu
begegnen, verspricht die von Bilderrahmen befreite Wand doch eine Leere, deren quasi jungfräuliche
Aufhellung zu neuer aktiver Handlungseinschreibung auffordert: "[...] aux murs, des quadrilatères
clairs faisaient foi des tableaux qu'elle n'avait pas laissés."
29
So bestätigt sich hier erneut die
angedeutete Romanästhetik. Pikturale Metamorphose, Gesetz des Mythos: Der Verlust des geliebten
Menschen als gelebte Gegenwart einer Begegnung in memoriam eröffnet als symbolischer Tod den
Rahmen eines neuen Alltagsraumes. Lebensgeschichte entsagt der Dialektik im Rückgang zu einem
lieu de rencontre. Erst an diesem Ort repetierten Ansehens des imaginierten, weil verlorenen
‚Gesichts‘ des Anderen vermag sich eine innovative Zeitlinie ihren Weg zu bahnen.
30
Sozusagen als Beleg für die soeben zitierte, kriminelle ‘Barbarei’ einer solchen Existenz verdient sich
Paul gemeinsam mit seinem Freund Bob ein Zubrot mit mehr oder weniger kleinen Gaunereien. Als
Paul Justine, die Tochter von Nicole Fischer, im Kino kennenlernt, wird ihm durch die Begegnung
mit einer 'anderen' Frau klar: "Une fille réelle [...] voilà ce qu'il nous faut."
31
Justine Fischer und ihre
Freundin Laure sind mit noch jugendlicher Sorglosigkeit, im Zeichen einer typisch gleichgültigen
Unablässigkeit, auf Freundessuche. Am Ende des Romans stellt Pons mit lakonischer Knappheit wie
bescheidener Ermutigung fest, daß sein Leben ein weiteres Mal neu beginne: "Bien sûr que je veux
connaître des gens, dit Pons. Puisque je recommence ma vie. Bien obligé."
32
Ein Lichtschweif am
27
Die Zitate dieses Satzes in Echenoz (1986), 9, 27.
28
Ebd., 23.
29
Ebd., 28.
30
Vgl. zum Symbol des visage in der ‚Philosophie des Anderen‘ etwa das Kap. ‚Le visage et l’extériorité‘ in Lévinas
(1961/1990). Eine interessante und unsere Perspektive tendenziell stützende, wenngleich hermeneutikkritische Studie
zur Topik als prädiskursiver Ort einer Begegnung von pensée und parole hat jüngst vorgelegt Jean-Marc Ghitti
(1998).
31
Echenoz (1986), 29.
32
Ebd., 249.
8
postmodernen Himmel scheinbar allmächtiger Kontingenz scheint auf, für manchen Kritiker ein
Hoffnungsschimmer auf eine Rückkehr des Romans zur Sinnstiftung modernen Harmoniestrebens ?
Halten wir bislang fest, daß der Identitätsverlust der Romancharaktere in unwiderruflicher
Symptomatik entschieden ist, das heißt auch, daß sie immer nur interessant sind, solange sie sich auf
einem selbst-bewußten Wege befinden - auch wenn der, wie im Falle von Charles Pontiac, durch die
Kanalisation der Weltstadt führt. Die Personen leben, sofern sie dem jeweils Anderen im Sinne eines
unbekannten Gegenübers aussetzen. Zeichnet sich hier eine pragmatische 'Logik des Anderen' ab ?
Postmoderne Ethik – ‚Eine Reise zum Anderen‘
Erscheint die soeben umrissene Diskursqualität der Handlungsentwicklung in den Romanen von
Echenoz als nicht beliebiger Umweg, eignet ihr gewissermaßen ein soziales Bewußtsein, so kann
man bereits an dieser Stelle annehmen, daß auch der Para-logos sich gemäß seinem konkreten
Wortsinn nicht der Vernunft zu entziehen gedenkt. Hingegen darf man hinter einem fiktiven Handeln
mit der Intention ‚zweckmäßiger‘ Lebensgestaltung im Sinne Kants
33
durchaus ein latent moralisches
Movens vermuten. Eine solche Ethik, die ausgeht von einer topischen Begegnung und die damit
weniger Frucht rationaler Diskurslinearität ist, als sie eine solche prädestiniert, erscheint somit im
Gewande einer kaum für möglich gehaltenen ‚frohen Botschaft‘, die sich im weiteren Verlauf
narrativer Ausgestaltung zeigt als das Ergebnis einer Umwege nicht scheuenden Erkenntnisreise
durch die aktuelle Welt postmoderner ‚Gestimmtheiten‘ hin zu der je in die ‚Last des Daseins‘
geworfenen Existenz. In den Romangeschichten Echenoz‘ erfolgt das lernende ‚Sehen‘ der Welt
mithin nicht orientiert an dem aufklärerischen Wert einer am Experiment wachsenden expérience und
auch nicht aus der spätbürgerlichen Optik subjektzentrierten Denkens, das auf dem Humus
verängstigter Psyche und vor allem durch das gefärbte Glas eines jeweiligen ‚Ich‘ einer verstiegenen
Individualität als perzeptives Sich-Einverleiben von Umwelt das Wort redet. Die jüngere Philosophie
hat unermüdlich auf den aggressiv bis totalitären Charakter der modernen Hypostase des homme-
Dieu hingewiesen. Der nouveau roman ist bis an die Grenzen der Darstellungskraft subjektiven
Sinnbildens qua Narration gegangen.
34
Nicht so sehr in der Lektion des Lehrmeisters sieht man heute
vielerorts eine sinnvolle Pädagogik ‚visuellen‘ Lernens als vielmehr im beständig lernzielorientierten
Sich-Aussetzen dem immer schon präsenten wie unvereinnahmbaren ‚Anderen‘.
Ebendies erinnert Jacques Derrida, wenn er gegen den Strom ideologiemüden Ökonomieglaubens die
‚Geister‘ von Karl Marx – les spectres de Marx – aufruft. ”Vivre”, heißt es da zu Beginn, ”par
définition, cela ne s’apprend pas. Pas de soi-même, de la vie par la vie. Seulement de l’autre et par la
mort.”
35
Derridas scheint eine Ethik der Spurensuche; die im Buch befragte Losung des apprendre à
33
In diesem Begriffsverständnis in der Kritik der Urteilskraft bei Kant (1990).
34
Vgl. zur subtileren Beschreibung des nouveau roman nicht nur als Höhepunkt modern-kritischen Erzählens,
sondern auch als Umschlagsort des roman transcendental zur spielerischen Variante postmoderner Befindlichkeit
Mecke (1990), 222-229.
35
Derrida (1993), 14.
9
vivre Figuration einer je persönlichen Reise mit ‚offenem Visier‘ hin zu der – und erneut mit
Heidegger – besorgten Begegnung mit dem ‚spektral‘ Zuhandenen des Anderen. Der Weg des
‚Irrens‘
36
zu möglichen Sinnkonstruktionen resultiert daraus als para-logische Ethik wider den
moralisierenden Fingerzeig voraussehbarer Sinnentwicklung respektive –planung. An diesem Punkt
findet sich die Möglichkeit einer ersten Spur zu den Erzählweisen bei Jean Echenoz: Was wenn das
in seinen Romanen so konstant auffällige Hin- und Herirren der Charaktere – le zigzaguer – als
authentische Bewegungslinie sich nicht in der vermeintlichen Beliebigkeit postmodernen Spiels
erschöpfte, sondern als Indiz für eine allerdings gefährliche, weil stets gefährdete libertas subjektiver
Lebenssorge stünde ? Sollen wir also weiterhin – zumindest im Rahmen einer postmodern
ästhetizistischen Fiktion – auf eine ethische Logik verzichten
37
oder, anders gefragt: Rutscht jede
dialektische Anstrengung didaktischer Provenienz im seichten Geläuf eines postmodernen laisser
faire aus ?
Philosophischer Exkurs: Nikolaus von Kues oder die radikalisierte Idee vom
‚Anderen‘
Rufen wir zum Zwecke der Transparenz der ‚Logik des Anderen‘ an der Schnittstelle modernen
Denkens, das gerade in seinen konsequentesten frühen Ausformungen bereits seine Aporien zu
erahnen scheint, den betagten ‚Geist‘ des berühmtesten deutschen Denkers des ‚Anderen‘ auf.
Nikolaus von Kues
38
hat sich mit (noch) scholastischem Denken und (schon) neugierig-moderner
Intelligenz dereinst über die spätmittelalterliche Betulichkeit seines im Namen verankerten
Heimatortes an der schönen Mosel erhoben, um bei Anbruch der europäischen Renaissance das
kaum schon keimende moderne Identitätsdenken – freilich mit ‚irrender‘ Ahnungslosigkeit – der
rationalen Paradoxie auszusetzen. Erblickte er in Gott die ‚eine‘, infinite Wahrheit, waren die
Phänomene irdischen Daseins perspektiviert als ein ‚Anderes‘ und als solches zunächst und vor dem
theologischen Endpostulat der coincidentia oppositorum streng von Gott – dem Nicht-Anderen –
geschieden. Die Schärfe theologisch-metaphysischen Erkenntnisstrebens führt folgerichtig zum
Unwillen aller zur definitorischen Tautologie rationalen Sprechens: Ist das Andere (der Mensch)
nicht das Nicht-Andere (Gott), dann ist er nichts anderes als das Andere.
39
Es zeigt sich: Die hier
dialektisch gewonnene, absolute Identität entrichtet gemäß ihrer Ökonomie präziser Sicherheit den
Preis einer (wo nicht stupiden oder komisch repetitiven) Unsagbarkeit. Jede Deskription, jeder
Kommentar zu einer Sache und erst Recht die Fiktion befinden sich somit unwiderruflich in einer
36
Vgl. zum doppeldeutigen Begriff der Wahrheit als irrende=umwegige Freiheit menschlicher Lebenssorge Heidegger
(1986).
37
Dies ist die Position Hempfers (1992), 7ff.
38
Im Zentrum dieser Überlegungen steht die Schrift Vom Nichtanderen (1461/62), Kues (1987). Kues ist
interessanterweise zum einen Forschungsgegenstand für die Betrachtung neuzeitlicher Epochenschwellen (in
Abgrenzung von Giordano Bruno) geworden (vgl. Blumenberg [196671988], 558ff.), als er auch im so gedeuteten
Zusammenspiel einer labyrinthischen und einer mathematischen Ästhetik des Blickes bei Certeau (1984) für das
Anliegen des Verstehens nachmoderner Denkstrukturen erneut bedeutsam zu sein scheint.
39
Vg. Kues (1987), Kap. 1. Zur Problematik definitorischen Abstandes vgl. v.a. ebd. Kap. 5.
10
aporetischen Differenz zu ihrem ‚Gegenstand‘, der Mensch aber zu seinem ‚Sein‘. Halten wir an
dieser Stelle inne, bevor Nikolaus von Kues irrtümlich als postmoderner Geist avant la lettre in
Erscheinung tritt. Das Dilemma, sprich die logisch rigorose Einsicht, daß gerade auch das
‚vernünftige‘ Sprechen vom rechten Weg des Erkennens notwendig abweichen muß, war bereits
lange vor dem neuzeitlich aufgeklärten Experimentierwille oder dem aktuellen postmodernen
Sinnpluralismus selbstverständlich nicht unbekannt. Ästhetisch gesehen befinden wir uns hier jedoch
an der Schnittstelle der modernen Identitätsproblematik, das heißt: Das menschliche Bewußtsein
über sein ‚Irren‘ im gottesfernen Diesseits, das Wissen von seinem unbedeutenden Status eines
zunächst beliebigen ’Anderen‘ im Angesichte Gottes als der einzigen unteilbaren Identität,
beförderten dezisiv den gerade für die Moderne so wichtig gewordenen kompensatorischen
Anspruch faktischer Präzision, repräsentiert fortan in diversen ‚realistischen‘ Diskursidealen, in
Frankreich gerne subsumiert unter dem Stichwort der clarté. Das ‚schöne‘ Betrachten barocker
Pluralität
40
will rational gebannt sein in einer sublimen Bildergeste menschlicher Teilhabe an einer
zeit- wie sinn(es)entbundenen Epiphanie, die sich jedoch durchaus zweckmäßig als soziale
Sinnstiftung humaner rapports niederschlägt.
41
Das führt uns ein letztes Mal zurück zur
Identitätsthematik des Nikolaus von Kues. Nimmt man in poetologischer Ergänzung mit Wolfgang
Iser an, daß auch dem fiktiven Diskurs ein intentionales Schreibziel innewohnt
42
, dann läßt sich
ebenso für den Roman eo ipso ein ‚definitorischer‘ Erzählwille konstatieren, der im Werk von Jean
Echenoz mit geradezu kusanischer Radikalität – in freilich dezisiver wie listiger Differenz –
aufscheint: Ist das Andere nichts als das Andere, so könnte man für Echenoz analog formulieren, so
ist es aber j e w e i l s ein Anderes und so nicht als schlichtes Spiegelbild des defizitären
(‚gefallenen‘) Einen zu haben, in dem jede individuelle Kontur verwischt. Diese Einsicht umschifft
die egozentrische Logik moderner Optik, ohne in der Sackgasse horizontaler Beliebigkeit zu enden
und eröffnet ein Denken situationsbewußter dissémination. Das Andere als ‘jeweils Anderes’
reintegriert auf subtile (und quasi metaphysische) Weise eine situative Differenz, die den Romancier
in Abgrenzung vom modernen Erzähltelos personaler Identitätsstiftung letztlich auf eine
entscheidend andere Optik festlegt und so eine ‘neue’ Welt erzählerischer Detailfülle ermöglicht. Ist
der Romancharakter immer schon auf ein anderes Leben ausgerichtet, so ermangelt er nicht jeglicher
Identität, wohl aber verschwimmen die Konturen zur Objektwelt, so daß die bei Georg Lukács als
fundamentale Dichotomie der Erzähltypologie gesetzte, dualistische Konfrontation im Roman von
Individuum und Lebenswelt aus dem Dilemma einer ‘desillusionierenden’ Disjunktion entlassen
wird.
43
Für den ‘Helden’ als den jeweils Anderen erhält das Andere der Lebenswelt die schlecht
40
Vgl. zur Deutung der Postmoderne als baroquisation du monde Maffesoli (1990), Kap. 5, 151-185.
41
Zum hermeneutisch wichtigen Bezug von Schönem und Erhabenem, insbesondere im Rahmen der Lyotard-Debatte,
vgl. Mecke (1990), 187ff. Das Erhabene, an dem natürlich Moderne wie Postmoderne gleichermaßen Anteil haben,
wird für die Moderne hier allerdings aufgelöst in die “Nostalgie der schönen Formen” (ebd., 189). Die hermeneutisch
gesehen fundamentale diskursive Notwendigkeit des Zusammenspiels beider Komponenten könnte allerdings in dieser
Deutung gefährdet sein. Vgl. zur ideengeschichtlchen Aufarbeitung des Themas jetzt auch die umfangreiche
Monographie von Zelle (1995).
42
Zur grundlegenden ‚Intentionalität‘ des Fiktiven im Zusammenspiel mit dem Imaginären vgl. Iser (1991).
43
Vgl. zum berühmt gewordenen Paradigma der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ Lukács (1914/1994).
11
unterscheidbare Gestimmtheit einer bereits oben dargelegten, opaken Atmosphäre, ja geht der ‘Held’
quasi in diese Befindlichkeit ein in einer einpoligen Identitätsverbindung, in der er schon im eigenen
Interesse mittelfristig um individuelle Abgrenzung bemüht sein wird, sollen, wie am Ende von
L’Equipée malaise, neue Sinnbildungen real fixierbar werden. Aber was ist mit dem Autor selbst:
kann er sich im selbstgesetzten Rahmen einer Erzählästhetik als ‘Reise zum Anderen’ dieser
omnipräsenten Textualität entziehen wollen ? Ist Echenoz niemand Anderes als Echenoz ?
Echenoz est un autre ...
Mißtrauen wir für die Länge eines Kapitels der Identität des Romanciers Jean Echenoz tun wir dies
keineswegs in der Absicht provokativer Verunsicherung, denn: Gelingt uns die 'Ausgrabung' eines
vermuteten 'anderen' Echenoz, so ließe sich erhoffen, in diesem Akt der Freilegung eine positive
Phantombegegnung zu evozieren, die dann eventuell als kreatives ästhetisches Komplement die
bisher dominante Reduktionsästhetik eines 'minimalistischen' Weltempfindens zu befruchten vermag.
In der Tat gibt der Autor dem Suchenden in dieser Angelegenheit einen wichtigen, wenn auch
bislang von der Kritik nicht vertieften Hinweis. Gefragt nach den Ahnen seiner literarischen Bildung
nennt Echenoz neben den 'großen' Autoren des Kanons und außer seinen aufschlußreichen
Lieblingsautoren wie Joseph Conrad, Jacques Audiberti, Amos Tutuola, Marcel Schwob, Victor
Segalen, Jean-Patrick Manchette auch Raymond Roussel
44
, der bereits für die französische
Avantgarde eine anregende Rolle gespielt hatte und der in Bezug auf Echenoz den von Claude Habib
für dessen Werk konstatierten Zug eines "léger dandysme"
45
durchaus zu stützen vermag. Blättert
man daraufhin im Werk von Roussel, wird man fündig im ersten Kapitel des monumentalen Romans
Locus solus aus dem Jahre 1914. Interessanterweise fällt dieses Publikationsdatum zusammen mit
der Zeit "einer Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand"
46
, die Georg Lukács
in seiner im selben Jahr verfaßten Theorie des Romans zu der noch sehr idealistischen wie
traditionellen Inszenierung des Narrativen als "Rückzug vor der Kriegspsychose"
47
veranlaßt hat.
Einen anders motivierten Rückzug findet man im Locus solus, der den Geist der Décadence
verströmt. Der im Titel benannte einsame Ort ist hier der große Park des auf seinem Landsitz in
Montmorency zurückgezogen lebenden Naturforschers und Erfinders Martiel Canterel. Erzählen füllt
bei Roussel weniger als delektative Aufheiterung in exilierter Versammlung notdürftig die Fugen
eines schlimmen Weltspektakels, sei es das der florentinischen Pest im Jahre 1348 wie in Boccaccios
Decamerone oder das aktuelle des Ersten Weltkrieges in der ironischen Verzerrung bei Céline, es sei
denn in der paradoxen Analogie des Romans als phantastisches Raritätenkabinett, in dem die
grausam-bizarre Schönheit der Schöpfungskraft menschlicher Vernunft vor Augen geführt wird.
44
(6) Über seine literarischen Einflüße gibt Echenoz in seiner bezeichnenderweise sehr knappen Stellungnahme zur
o.g. Befragung in der Sondernummer von La Quinzaine littéraire (1989), 13 Auskunft.
45
Habib (1993), 165.
46
Lukács (1994), 6.
47
Ebd.
12
In Roussels modernistischem locus amoenus voller technisch-biologischer Kuriositäten trifft der
Leser gleich zu Beginn und nur kurzzeitig auf einen 'anderen' Echenoz - ohne Vornamen - der den
Schriftsteller implizit zum Schattenbild eines Pseudonyms erklärt. Dieser Echenoz, Naturforscher
von Beruf, tritt auf im Zusammenhang mit einer legendären Tonstatue mit dem Wert eines "tout
puissant fétiche" und wird eingeführt als "[...] le célèbre voyageur Echenoz, qui lors d'une expédition
africaine remontant à sa prime jeunesse était allé jusqu'à Tombouctou."
48
Dieser Echenoz war in
einer (selbstverständlich fiktiven) Reisebeschreibung des arabischen Theologen Ibn Batouta aus dem
14. Jahrhundert auf die Episode von der Tonstatue eines lächelnden afrikanischen Kindes
aufmerksam geworden. Er hatte diese Statue nach Frankreich mitgebracht und seinem Freund
Canterel, in dessen musealen hortus conclusus sie nun stand, vererbt. Den Besuchern, die im Verlauf
des Romans die Kuriositäten des Gartens besichtigen, fällt sie gleich zu Beginn auf:
A mi-côte nous vîmes au bord du chemin, debout dans une niche de pierre assez profonde, une
statue étrangement vieille, qui, paraissant formé de terre noirâtre, sèche et solidifiée, représentait,
non sans charme, un souriant enfant nu. Les bras se tendaient en avant dans un geste d'offrande,-
les deux mains s'ouvrant vers le plafond de la niche. Une petite plante morte, d'une extrême
vétusté, s'élevait au milieu de la dextre, où jadis elle avait pris racine."
49
Das zeichenhafte Rätsel der Statue ist für Echenoz wie auch später für die Besucher Canterels zu-
nächst nicht existent, bedarf es doch - erinnern wir nochmals Heidegger - zum Existieren der Einstel-
lung 'befindlichen Verstehens'. Die Legende um den Fédéral, so der Name der Statue, hilft hier
weiter. Rufen wir sie ob ihrer möglichen Lektion für das Romanwerk von Jean Echenoz kurz auf.
Einst war die Statue als Emblem des Dankes an den derzeitigen aufgeklärten König Forukko aus
dem Ton der Erde vieler angrenzender Völker von einem renommierten Künstler geformt worden
und erinnerte fortan auf dem zentralen Platz Timbuktus an eine Monarchie im Sinne eines "pacte
d'amitié et non de soumission"
50
mit der Geste der Gabe von Reichtum und Glück: "Modelé avec un
art charmant, l'enfant, nu, le dos de ses mains tourné à plat vers le sol, avançait les bras comme pour
faire une offrande invisible, évoquant, au moyen de son geste emblématique, le don de richesse et de
félicité promis par l'idée qu'il représentait."
51
Solange der Respekt zwischen Völkern und Monarch
intakt war, übte die Statue eine kommemorative Kraft aus. Als die nachfolgende Königin Duhl-
Séroul infolge einer Geisteskrankheit der Landestradition aufgeklärter Stammespolitik nicht mehr
Folge leisten kann, vielmehr sich in ihren sich häufenden Zuständen geistiger Verwirrung als
aggressive Diktatorin betätigt, hat auch die Statue ihre Macht zeichenhafter Völkerbegegnung
verloren und ist in eine schweigsam-bedeutungslose Starre gefallen. Erst als die der Königin
untergebenen Volksstämme in situativer Anbetung erneut die verlorene Kraft des fétiche phantôme
48
Roussel (1963/65), 13, 11.
49
Ebd., 10.
50
Ebd., 12.
51
Ebd., 13.
13
beschwören, schreibt sich die Legende fort. Ein heftiger Orkan befördert aus weiter Ferne den
Samen einer den Eingeborenen unbekannten - von Echenoz später als heilsame Wurzel einer
artemisia maritima erkannten - Heilpflanze in die rechte offene Hand des Fédéral. Man pflegt die
Pflanze, die im afrikanischen Wechselklima und im Mischboden diverser Völker, aus dem die Statue
geformt ist, gut gedeiht. Die Befruchtung des in Vergessenheit geratenen Emblems mit der in
wundersamer wie intendierter Fügung herbeigerufenen mysteriösen Pflanze erst - praktisch durch
Einnahme der getrockneten Pflanzenblätter - führt zur Heilung der Königin und so gleichermaßen
zur Wiederherstellung von sozialer Gerechtigkeit und Frieden. Der erneute Bruch der Völkergemein-
schaft in Timbuktu führt dann später zum wiederholten Bedeutungsverlust der Statue, die, importiert
von Echenoz als "simple curiosité"
52
im musealen Garten Canterels zur Romanzeit bei Roussel den
verlängerten Tiefschlaf eines legendären Zeichens hält und nach vollendeter Runde eines wohl als
hermeneutisch aufzufassenden Kreises in vorübergehender Einsamkeit dämmert.
Dies wohl die philologische Erinnerung und Lektion, die nur durch das stets neugierig-begegnende
Tun des savant ethnologue, quasi als spectre d'Echenoz
53
in den europäischen Geistesraum gestellt
wird. Das erstaunliche Resultat: Die in langen Jahrzehnten diskutierte Kategorie der Bedeutungsher-
stellung findet hier weiterhin und in memoriam Aufklärung - freilich in bekannt hartnäckiger, post-
moderner Befindlichkeit. Der Sinn ist immer schon anwesend in einer Welt, die, jenseits der moder-
nen scission von Realität und Fiktion auch jenseits bzw. diesseits, weil vor den erstarrten Dualismen
wie Subjekt-Objekt oder Körper-Geist als alles umschließende Textualität gedacht wird. Das Derri-
dasche Bewußtsein von einer 'Welt als Text' erfordert andere Strategien der Sinnbildung, schließt
diese aber keineswegs aus. Nur wer an der modernistischen Unterscheidung von Wort und Inhalt
mißverständlich festhält, gelangt für sein Verständnis der postmodernen Kunst in die Sackgasse des
einen Pols nicht mehr auflösbarer Autoreferenzialität. Für den 'Ethnologen' Echenoz, den der Autor
mit Vornamen Jean als Phantom aufruft, stellt sich öffentliche Sinnstiftung einzig dar als konsensu-
elle Begegnung, weniger als stets konfliktuelle Übertragung von Bedeutung. Er ermahnt mit dem
Vermächtnis der schlafenden Statue zu einer etwas 'anderen', weithin verdrängten, rationalen Herme-
neutik. Sinn, ob rationaler oder fiktionaler, ist hier das zeichenhafte Potenzial zu einer bewußten
rencontre. Bedeutung wird entweder abgeschattet als unbeachtete Präsenz oder aber aufgerufen in
einer positiven Verbindung als Zeichen gemeinschaftlichen Ansinnens. Irrational bzw. emotive
Befindlichkeit schafft aus der allgegenwärtigen Symbolschwebe des Welt=Textes in einer bestimmten
Situation eine emblematische Verschwörung, die in rationales Verstehen verlängert werden kann bis
zu einem Moment, in dem die eingängliche Eintracht zerbricht. Danach fällt jedes Sinnzeichen zurück
in die Isolation eines vagen Zeichens, das der (symbolischen) Reanimation bedarf. In dieser
Sinndialektik, die sich auch auffassen läßt als Metamorphose in der Begegnung von Leben und
52
Ebd., 15.
53
Jacques Derrida faßt und entwickelt in seinem Buch Spectres de Marx (1993) den Begriff des Lernens als
Begegnung mit dem ‘Anderen’.
14
Tod
54
, sind Ansätze zu einer ethischen Realitätsgestaltung wie auch zu einer philologischen Ästhetik
und Hermeneutik gleichermaßen umrissen.
Stellen wir im folgenden zum Zwecke belegender Illustration eine Begegnung des Romanciers
Echenoz mit seinem alter ego her und kehren zurück zum postmodernen Roman in der Hoffnung,
die Erinnerung an die afrikanische Statue vermag auch hier positive Impulse zu geben. Außerdem
gibt es über den Naturforscher Echenoz nicht mehr zu sagen: er ist am Ende dieser Episode des
ersten Kapitels von Locus solus tot: "Or Echenoz était mort depuis peu, léguant le Fédéral à son ami,
en souvenir de l'intérêt porté par celui-ci à l'ancien fétiche africain."
55
Im Labyrinth des Textes: Echenoz als romancier-ethnologue
Das ethnologische Interesse des Romanciers Echenoz ist natürlich von der Literaturkritik längst
vermerkt, wenn auch gedeutet als erzählerische Sammellust zum Zwecke ironischer Exposition zeit-
genössisch europäischen Alltags.
56
Vor dem Horizont der hier aufgezeigten intersubjektiven
Begegnung eines Echenoz et son double, die eher der 'Logik' einer befruchtenden Energie als
derjenigen spiegelbildlicher Wiederholung eigener Identität - als Bestätigung im Anderen - zu
gehorchen scheint
57
, muß der positive Ertrag des 'Sich-Begegnens' nun erzählerisch gestaltet sein und
zwar in dem oben entwickelten Schreibrahmen von statischem und bewegtem Bild. Dabei erschien
das vorgefundene Bild jeweils als suspekte Reduktion starrer Ohnmacht. Diese Perspektive tritt auf
als knapp-gereihter sommaire, in allen Romanen als stilistisch und grammatikalische Parataxe bzw.
Ellipse und kommt besonders markant zum Vorschein in der szenischen Form des Dialoges, der
durchweg in formelhafter Kürze wenig zu einer inhaltvollen Kommunikation beiträgt. Die Intention
einer zeitgemäßen Erzähllogik wird durch diese Tendenz zum Stil der Regieanweisung bzw. des
sukzessiv-prägnanten Kameraschwenks deutlich. In dieser Einstellung werden selbst die auftretenden
Romanpersonen in einer lapidar wirkenden Statik vorgeführt: "Il y a maintenant Justine Fischer dans
une chambre grise."
58
lautet das incipit des zweiten Kapitels in L'Equipée malaise.
Wo die dargestellten Wirklichkeitsfragmente ausschließlich in linearer Aufzählung vorkommen, fin-
den sie keine verbindende Sinninnovation. Hier gilt die Maxime: "Le temps s'étire, le vide menace."
59
Aber auch der tristesse will begegnet sein; nur so kann ihr - freilich unterwegs mit dem latenten
Skeptizismus behutsamen Sich-Vorantastens des 'initialgeschockten Helden' - die Überwindung in
eine (noch entfernte) Aussicht gestellt werden.
Paul, einem der Protagonisten aus L'Equipée malaise, ergeht es zum Beispiel so. Während der
Erzähler zur Freude des Lesers bereits mit einer unterhaltsamen Metaphorik der Milieu- und
Situationsschilderung aufwartet, begibt der verlassene Paul sich - immerhin schon - auf den Weg
54
Vgl. zum Aspekt der Sinnbegegnung als Metamorphose des Geistes in der parole Ghitti (1998), 37f.
55
Roussel (1963/65), 16.
56
Vgl. Lebrun (1992), 19ff.
57
Vgl. dazu Derrida (1967), 341ff.
58
Echenoz (1986), 17.
59
Ebd., 61.
15
vagabundierender errance: "Tristesse de Paul, tristesse de l'homme quitté: sa vie est une toundra
sans horizon, purgatoriale, qu'il traverse indéfiniment sans lever les yeux par crainte des flaques
d'eau."
60
In der grotesken Karikatur einiger Charaktere, deren (Roman)schicksal als Nebenfiguren sie
nie aus der säulenartigen Starre des Komparsen entläßt, gelingt in der Tradition eines Baudelaire, der
die groteske Gestalt als geständige Selbstdarstellung humaner Schwäche begrüßte
61
, eine erste wie
häufig rekurrierende Form narrativer Distanzierung absurden Weltempfindens. Und Echenoz erweist
sich als Meister des grotesken Kurzportraits. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte um Victoire
in dem Roman Un an, deren keineswegs siegessicher anmutender Lebensweg nach dem exordialen
Befund des - womöglich in (traumatischer ?) Trunkenheit selbst verschuldeten - plötzlichen Ablebens
ihres Lebenspartners sich erneut einzig im deskriptiven Erfolg metaphorischer Banalität nieder-
schlägt: "Son itinéraire ne présentait ainsi guère de cohérence, s'apparentant plutôt au trajet brisé
d'une mouche enclose dans une chambre."
62
Auf ihrem absteigenden Weg von einer Pariser
Durchschnittsexistenz zu den brutalen Lebensbedingungen urbaner sans domicile fixe, begegnet ihr
als Anhalterin eine Serie von Autofahrern, die zu schmunzelnder Karikatur Anlaß geben. So zum
Beispiel der ärmliche Pfarrer am Steuer seines R 5:
Il y eut un prêtre au volant d'une R 5 sans options, sans radio ni rien, réduite à sa fonction loco-
motrice: les sièges étaient raides et flottait une puissante odeur de chien bien qu'il n'y eût pas de
chien. L'homme était vêtu d'un costume anthracite cartonneux sur un col roulé gris souris, son re-
vers s'ornait d'une petite croix de métal. S'exprimant avec une bienveillance militaire, il conduisit
comme on touche de grandes orgues, chaussé de croquenots cognant fort les pédales; un rameau
s'effritait sous le rétroviseur.
63
Ein anderes Beispiel, diesmal nicht ohne erzählerische Boshaftigkeit: Das Ehepaar Jouvain, Besitzer
einer Farm im malayischen Urwald, in und vor ihrer Behausung in alltäglicher Besorgung:
Le couple Jouvin restait généralement cloîtré dans sa villa, hormis les rares apparitions mutiques
de Raymond sur le terrain, notant au creux d'un bloc des choses que l'on ne devinait pas, ou celles
bien plus divertissantes de Luce trop ivre et fardée, qui zigzaguait parmi les arbustes en gesticu-
lant des airs de Line Renaud, gloussait d'intimes invites à la grande joie du personnel jusqu'à la
prompte intervention de Raymond, courant en chaussettes depuis la villa puis ramenant ferme-
ment, hors d'haleine, la pauvre grosse créature chancelante dans sa robe à fleurs mal jointive, sur
ses talons décloués.
64
60
Ebd., 38.
61
Baudelaires berühmte Reflexionen zur Natur des Grotesken finden sich in seinem Essay De l’essence du rire [...], in
den Oeuvres complètes, hg. v. C. Pichois, 2 Bde., Paris 1975/76, II, 525ff.
62
Echenoz (1997), 63.
63
Ebd., 64.
64
Echenoz (1986), 70.
16
Die Überführung dinghafter Klischees, die auch in der diskursiven Bewegung starr bleiben zu der
oben genannten, zweiten Erzählstrategie, die wir als bildhafte Sublimierung bewegter Szenerie be-
schrieben haben, erarbeitet erzählästhetisch den positiven Übergang zu sinnstiftender Begegnung,
bereits in der Karikatur unterhaltsam. Ein deutliches Übergewicht in den Romanen von Echenoz an
deskriptiver gegenüber 'handelnder' Themenentfaltung sollte dabei grundlegend konzidiert werden.
Eine gewisse Marginalisierung dramatischer Sprechhandlung bedeutet insbesondere im Falle von
Echenoz nicht das weithin befürchtete 'Ende des Romans', sondern sollte eher mit der selbstrecht-
fertigenden Geste Claude Simons anläßlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur in
Stockholm als interessante - bereits postmoderne ? - Verlagerung des Erzählerinteresses verstanden
werden. Simons Discours de Stockholm rehabilitiert den zeitgenössischen Erzähler als homo faber,
der sich in Analogie zum Maler lieber der artefaktischen "fascination du musée"
65
, denn der suspekt
gewordenen imitatio naturae hingibt. Dies zugestanden findet sich in den Romanen Echenoz' eine
schier infinite Vielfalt an bildhaften Verdichtungen bewegter Darstellung, die über das
allgegenwärtige ut pictura poesis-Ansinnen hinaus eine ebenfalls bedeutende Analogie des Erzählens
zu rhythmischer Phrasierung und notengewaltiger Verästelung insbesondere der Jazzmusik nahe-
legen.
66
Die perspektivische Transformation realer Objektfragmente wird aber ästhetisch vor allem
erzielt dank des analogen Bildcharakters der Metapher, die ein für gewöhnlich eher unauffälliges
Objekt unserer Alltagswelt in gewohnter Umgebung 'markiert', im labyrinthischen Computerverfah-
ren 'ausschneidet' und kurz 'ablegt', um es in eine neue 'Textdatei' einzuschreiben, die so eine signifi-
kante Existenz erlangt. Das transferierte Detail wiederum befördert in der neuen 'Textdatei' die
'naturhafte' Tendenz metastatischer Ausweitung. Diese zweite Strategie soll hier neben der der Re-
duktion als Strategie der Ausgreifung gekennzeichnet werden. Rufen wir Beispiele solch deskriptiver
mises en abyme auf.
In dem bisher umfangreichsten Roman von Jean Echenoz mit dem Titel Les grandes blondes (1995)
gewinnt ein Krebs signifikante Verweiskraft. Die Geschichte ist nach einem schon vertrauten Muster
angelegt. Paul Salvador, Junggeselle, Anfang Vierzig, plant für einen Fernsehsender, bei dem er in
der Abteilung 'Unterhaltung' tätig ist, eine mehrteilige Dokumentation über das Klischee der 'großen
Blondine', einer, so Salvador im Tonfall ironischer Süffisanz "irréductible catégorie d'humanité"
67
.
Gloire Abgrall alias Gloria Stella, einst jugendliches Mannequin und Varieteekünstlerin, scheint dabei
das doppelte Sensationsverlangen nach dem glorreichen Erfolgsleben des umjubelten Stars wie auch
nach dem unvertuschten Exempel des psychischen Abgrundes einer erfolgsverwöhnt wie einsamen
Vorzeigeexistenz à la Marilyn Monroe einzulösen. Der ungelöste Todesfall ihres Agenten und
(selbstverständlich) Liebhabers Gilbert Flon, der fünf Jahre vor Beginn der Romanhandlung durch
einen mysteriösen wie assoziationssicheren Sturz in einen Aufzugschacht ums Leben gekommen ist,
hat das Interesse der Sensationsmedien an Gloria Stella noch angefacht. Gloria Stella ist aber
65
Simon (1986), 12. Vgl. zur fascination du musée aus philosophischer Sicht, dargelegt am Beispiel des Werkes von
Malraux auch Ghitti (1998), 31-43.
66
Vgl. zum Bezug von Jazz und Literatur das Interview mit Echenoz in der Zeitschrift Europe 820-821 (1997), a.a.O.
67
Echenoz (1995), 44.
17
eigentlich Gloire Abgrall, und diese führt seit eben dieser Zeitspanne von fünf Jahren ein einsam wie
karges Leben auf der Flucht, zuletzt in einem kleinen Haus an der bretonischen Küste, wo sie -
unweit einer realen wie symbolträchtigen Region namens Finistère - einen weiteren, seinerseits
symbolischen Mord an Jean-Claude Kastner, Mitarbeiter von Salvador, der sie ebendort aufgespürt
hat, begeht. Gloires Leidensweg ist nach ihrem brutalen Ausbruch aus einer fremdbestimmten
Existenz noch keineswegs abgeschloßen: Sie befindet sich noch auf dem Weg einer persönlichen
'Neu-semantisierung', der sich, so Derrida, auszeichnet durch die folgende unbewußte Tätigkeit:
"identifier les dépouilles et [...] localiser les morts."
68
Aber nicht nur die sensationslüsterne
Öffentlichkeit wird in aggressiver Symbolhaltung abgewehrt, sondern gleichsam jeder aufrichtige
Versuch human-(männlicher) Näherung. Alain, bretonischer Seemann, hinkender Mittfünfziger mit
liebenswert-tumbem Charme naiver Grobschlächtigkeit, Nachfahre von Victor Hugos Quasimodo
und Nachbar Gloires, der im übrigen auch bestens geeignet ist für ein grotesk-karikaturales Porträt
69
,
bringt der von ihm geliebten Gloire zum gemeinsamen Dîner einen Krebs mit, genauer "un crabe en
vie gros comme un sac à main"
70
. Anstatt nun aber die kulinarische Basis für die von Alain erhoffte
Liebschaft zu legen, degeneriert der Krebs schnell zum metaphorischen Standbild des
kommunikativen Dilemmas zwischen dem Seemann und dem ehemaligen Mannequin. Eine reale
Begegnung in konsensueller Absicht der beiden Singles bleibt trotz des von Alain vorgetragenen
Seemannsgarns aus, zumal Gloire - um unerkannt zu bleiben - für ihn eine 'Andere' ist und Christine
heißt. Als das ohnehin zum Scheitern verurteilte Treffen in der hilflosen wie unangebrachten Geste
körperlicher Annäherung von seiten Alains kulminiert, wehrt Gloire den gutmütigen Seemann in
einer verständlichen wie gewaltsamen Überreaktion ab, so daß er fluchtartig das Haus verläßt. Das
Bild einer am Leben zerbrochenen Frau zeigt sich anschließend in allegorischer Verdichtung an der
bizarr-grausamen Momentaufnahme des von ihr in derselben aggressiven Anwandlung zerschlagenen
Krebses:
Retour de la resserre, traversant en nage en courant la cuisine, à hauteur de ses hanches elle [d.i.
Gloire] entrevoit le crabe au fond de l'évier. Se retournant vivement sur lui, d'un coup de hache
Gloire le fend par deux. Et pendant qu'elle s'éloigne rapidement vers la porte, les deux moitiés de
l'animal continuent de s'agiter faiblement chacune de son côté, dans l'espoir fou de se rapprocher
pour se ressouder, environnées de lambeaux de chair transparente.
71
Hier zeigt sich: das selbstverständlich nicht wirklich unbewegte narrative Standbild schwerwiegender
Alltagsbanalität wird zur bei Echenoz beständig punktuell erneuerten Allegorie einer Identitätssuche
auf Abwegen - Irrwege, deren individuelle und letztlich kalkulierte Umwegigkeit sich beinahe positiv,
das heißt, ästhetisch formuliert, als schöne, sublimierte Häßlichkeit darstellt. Der Erzählgang
68
Derrida (1993), 30.
69
Vgl. Echenoz (1995), 56.
70
Ebd., 70.
71
Ebd., 72.
18
simuliert solchermaßen für den Leser situative Verstehensbilder, die er aus den irrenden
Lebenswegen seiner Protagonisten 'ausschneidet' und in einen anderen, interpretierten Kontext
einsetzt.
Daß das narrative Bild in gezoomter Vergrößerung und allegorischer Fixierung zunächst ein gewis-
ses menschliches Dilemma des 'Nicht-zur-Ruhe-Kommens' bezeichnet, wird am sinnfälligsten in dem
Roman Nous trois (1992). Dort zeigt sich, was in einem der m.E. bis dato interessantesten Beiträge
zur Formstruktur postmoderner Ästhetik von Andreas Kilb festgehalten wird: "Allegorisches Be-
wußtsein steht ein für die Erfahrung einer Epoche, in der die jederzeit machbare Apokalypse anstelle
der Transzendenz getreten ist."
72
Im ersten Teil von Nous trois unternimmt Louis Meyer,
Polytechniker, Endvierziger und (natürlich) geschieden eine kurze Urlaubsreise nach Marseille, eine
weitere Etappe auf dem Lebensweg des 'schüchternen Dandys', dessen Identität so brüchig ist wie
sein Name an Originalität entbehrt. Als er unterwegs die 'unbekannte Schöne', Mercedes alias Lucie
Blanche, wegen einer Autopanne mitnimmt, scheint eine (frühzeitige) Liebesromanze möglich. Umso
größer der Kontrast, als die beiden in Marseille einem ungeheuerlichen Erdbeben beiwohnen, das
zunächst eine altbekannte Voltairesche Erkenntnis erneut zu bestätigen scheint. Der tremblement de
Marseille erlaubt Echenoz eine narrative Meisterleistung, in deren Verlauf er vor allem seine
Vorliebe für die schon im avantgardistischen Roman beliebte Deskription in der Fachsprache natur-
wissenschaftlich-technischer 'Präzision' erneut unter Beweis stellen kann. In erster Linie aber gestal-
tet sich der Roman von hier ausgehend in einer Allegorese der Erschütterung: Die Romanwelt ist
geprägt von einer Linearität seismographischer Sensibilität, derzufolge nicht nur jede menschliche
Ordnung allzeit 'erschüttert' werden kann, sondern - und hier nun endlich ein Zeichen positiver
Wende - das Fixierbild der Welt als undurchschaubares Chaos mit der Konsequenz apokalyptischer
Gestimmtheit ihrer Charaktere zu einer Mischung aus wortkarger Indifferenz (vor allem Mercedes)
und behutsamer Begegnung (Mercedes und Meyer) führt. Neue Welten, die hier mit reichhaltiger
biblischer Konnotation freilich nicht ohne den Preis des Geburtsschmerzes denkbar sind und die zu-
dem ihr wackliges Fundament nie verlassen. Im Rahmen dieser Allegorie ergibt sich so für Meyer
und Mercedes die unserer Tage realistische Aussicht auf den 'Anderen' als
'Lebensabschnittsgefährten', eine mittelfristige liaison, die mit dem Ende des Romans bereits wieder
der Vergangenheit angehört.
Ungetrübter Erfolg personalen Handelns, so zeichnet sich aus diesem knappen Einblick in die
Romanschmiede Echenoz' mit ethischen Implikationen ab, ist nur situativ-pragmatisch und als ver-
zehrbarer Lohn in der Textualität eines großen Lebensspiels zu erreichen, in der (all)täglichen Mühe
umsichtiger Sorge. Die (Roman)welt erweist sich dabei als ein Labyrinth quasi infiniter Sinnmöglich-
keiten, in dem jedes singuläre Lebenssystem in beabsichtigtem Konsens mit Optionen des jeweils an-
deren Zuhandenen Momente subjektiven und geteilten Glücks herzustellen vermag. Der Rest ist das,
was Derrida mit dem entlehnten Begriff der Trauerarbeit - travail du deuil
73
- bezeichnet. Hierin
72
Kilb (1987), 111.
73
Vgl. zu diesem Begriff Derrida (1993), 30. Siehe auch oben, Fußnote 21.
19
zeigt sich weniger, wie Wolfgang Asholt vermutet, eine moderne Besinnung des postmodernen
Romans auf eine referenzielle Sinnzuweisung: Welt wie Romangeschehen erscheinen vielmehr als
zwei Exponate ein und desselben Textsystems, so daß die moderne Angst vor dem postmodernen
Sinnverlust immer schon gebannt ist im Horizont einer jede Beliebigkeit transparent machenden
Stilisierung punktueller allegorischer Sinneinschreibung.
Am besten gelingt dies jedoch, wie erneut Heidegger plausibel gemacht hat, in einer 'Gestimmtheit
des Ausruhens'. Der Roman, in seiner para-logischen Grundstimmung reisenden 'Selbstgenußes im
Fremdgenuß', das heißt in der fundamentalen ästhetischen Einstellung des "Verstehens seiner selbst
in der Erfahrung des Anderen"
74
hat den wichtigen systeminternen Vorteil reduzierter
Notwendigkeit. Für den narrativen Schreibakt heißt das: ein Mehr an textueller Freiheit restituiert
der Fiktion zwar nicht den von der Moderne zugeschriebenen Autonomiestatus, wohl aber eine
existenzielle Sonderstellung. Anders gesagt: Die Neugier auf sehendes Weltbegegnen stellt sich erst
im Zustand der Atempause ein. Besonders gelungen sind eine Vielzahl solcher metaphorischer
'Sinnehen' damit freilich auf der kaum übersetzbaren Ebene der puren Erzähllust. Hier wird unser
'grauer' Alltag zu einer Serie bildhafter Neuaneignung durch den Erzählvorgang mit versöhnlicher
oder auch mahnender Tonalität. In der bezeichnenderweise quantitativ stärksten Isotopie, der Welt
des Verkehrs, begegnen dem Leser allein in dem Roman Nous trois folgende Objekte: ein ausge-
branntes Auto als voiture-carcasse, ein anderes Auto in dichtem Verkehr als voiture-tortue
75
. Der
Verkehr tritt personifiziert mit grotesker Schärfe und am Rande des Verträglichen auf in der
Momentaufnahme einer Massenkarambolage als trafic tricolore - weiße Kittel der Unfallhelfer über
roten Blutspuren verletzter Autofahrer unter einem blauen "ciel outremer"
76
. Im Verkehrsnetz der
Stadt wird die Straße als rue-artère gesehen, der tägliche Verkehrsstau als erstarrte Soße, als sauce
figée
77
. Ferner und im Zusammenhang mit dem Erdbeben - le tremblement-grosse bête - gibt es die
versumpfte Stadt nach der Überflutung, la ville-marais, die monströse Welle, la vague-monstre, das
aufgewühlt-schäumende Meer als la mer-aspirine
78
. Aus dem Bereich der Alltagswelt trifft der Leser
weiter auf eine in der Erwartung des Erdbebens aufgewühlte bäuerliche Szenerie auf einer ferme
malade, auf zwei 'kämpferische' Baukräne, les grues-duellistes oder auf den obligatorischen, in
diesem Roman 'verschnupften' Fernseher, le téléviseur enrhumé
79
. Auch der wandernde Eiswürfel, le
glaçon-promeneur in einer dem Singledasein entsprechenden Küche, der cuisine sauvage
80
, ist ein
beliebtes Motiv.
Halten wir am Ende inne und fest: Die Romanwelt von Jean Echenoz ist gekennzeichnet durch die
Struktur einer umwegig-bildersuchenden Begegnung eines Selbst mit einer beinahe grenzenlosen
Pluralität des präsenten Anderen. 'Gestimmtes Verstehen' der Charaktere, aber auch des Autors,
74
Jauß (1991), 12f.
75
Echenoz (1992), 29 und 79.
76
Ebd., 18.
77
Ebd., 54 und 93.
78
Ebd., 65, 78, 73 und 52.
79
Ebd., 35, 62 und 96.
80
Ebd., 45 und 82.
20
Erzählers und Lesers, stellt sich dar als rezeptiver Akt narrativer Reise in einem fundamental
gedachten Symbolraum memorierender Begegnung. Vor dem von der Avantgarde geerbten Horizont
absurder Existenzbefindlichkeit gräbt sich hier mit mosaikhaft-labyrinthischer Rastlosigkeit die neue
Spur einer re-allegorisierten Welt als Text ein, die der 'alten', am Horizont verblassenden Naturwelt
der Moderne zwar ihre rational gestimmte Aggressivität beläßt und als pragmatische Handlungsbasis
für die romanesken Figuren setzt. Darüber legt sich aber nun die in der Narration erzeugte, visuelle
Kraft eines reisenden Welterschließens, die durch eine Rhetorik berührender Metonymie - dire les
possibilités du monde - das jeweils Andere partikularen Daseins miteinander kombiniert. Der
'Romanheld' gerät in diesem abenteuerlichen Universum nicht zur Frustgestalt moderner bis
avantgardistischer Desillusion. Sein Weg - und damit die ‘ethische Lektion’ à la Montaigne - ist
vielmehr ein Pfad stets mühsamen Neubeginns weltlichen Besorgens, weniger im Bewußtsein
sinnvollen und damit perfektiblen Tuns, denn in passiver und doch nicht gänzlich unaktiver
Besorgung existenzieller Alltäglichkeit: Der Mensch als homo faber mit der Assoziation des
Sisyphos in der Lesart von Albert Camus.
Zum Schluß zwei Erinnerungen aus der Gattungsdiskussion um den Roman: Milan Kundera hat in
seiner vielbeachteten Schriftensammlung L'art du roman (1986) den Roman als literarisches Komple-
ment zum Erkenntnisstreben der europäischen Moderne beschrieben:
Le roman accompagne l'homme constamment et fidèlement dès le début des Temps modernes. La
'passion de connaître' (celle que Husserl considère comme l'essence de la spiritualité européenne)
s'est alors emparée de lui pour qu'il scrute la vie concrète de l'homme et la protège contre 'l'oubli
de l'être'; pour qu'il tienne 'le monde de la vie' sous un éclairage perpétuel.
81
Kunderas Text kann aufgefaßt werden als Versuch einer Ehrenrettung des Romans in schweren
Zeiten. Kritikwürdig sind seine eurozentrische Perspektive - "le roman est l'oeuvre de l'Europe"
82
-
sowie eine latente Polarisierung, in der die Erzählfiktion als komplementäre Sinnwelt zum rationalen
Ego Descartes' instrumentalisiert wird. Erinnern wir als ergänzende Korrektur zu Kunderas Maxime:
"La connaissance est la seule morale du roman."
83
an die klassizistische Position von Pierre Daniel
Huets Traité de l'origine des romans aus dem Jahre 1670. Dort steht der Roman bereits in
Ergänzung der beiden Pole vor dem seinerzeit sozialen aber unschwer anthropologisch wendbaren
Anliegen eines "désir d'apprendre"
84
. Huet erinnert in seiner Schrift an Platons Symposion, in dem er
eine narrative Hermeneutik gefunden haben will in dem dort erzählten Mythos von der Zeugung des
Eros. Der Zeugung voraus geht die Hochzeit von Porus (=Reichtum/Wissen) mit Penia
(=Armut/Ignoranz). In der pragmatischen Arbeit besorgender Begegnung - "dans la veuë du fruict"
85
- zeugen sie anschließend den Eros. In diesem fundamentalen Akt menschlicher Arterhaltung sieht
81
Kundera (1986), 15f.
82
Ebd., 16.
83
Ebd.
84
Huet (1966), 83.
85
Ebd., 84. Vgl. auch Platon, Symposion, 202e-204c.
21
Huet nun eine Analogie zur Wirkungsästhetik des Romans: Belehren und Unterhalten als Eckpole
literarischen Unterweisens sind nicht trennbar, sondern erzeugen erst in gelungener Verbindung ihre
'Erkenntnisfrucht'. In den (Roman)welten von Jean Echenoz treten beide Funktionen des Erzählens –
die sich ebenfalls vor dem Dualismus von Schönem und Erhabenem lesen ließe - ein in das
Miteinander visueller Begegnung mit dem jeweils ‚Anderen‘. Jean-François Lyotard sieht in seiner
programmatischen Schrift La condition postmoderne (1979) gerade in der 'Lektion' umwegigen
Erzählens das Fundament für Verstehen in postmodernen Zeiträumen.
86
Der von Echenoz sehr ge-
schätzte Victor Segalen wiederum sah in diesem wohltuenden, weil bescheidenen Versuch der
Alltagsbewältigung den Inbegriff von Exotik.
87
Eins scheint jedenfalls sicher: Die Angst vor der
Postmoderne nimmt die bunte Romanwelt von Echenoz allemal: sie entläßt ihren Leser aber
andererseits nicht in eine 'reale', ganz andere Welt, sondern plädiert in ihrer Grenzenlosigkeit für
unverklärt-mutige Lebenskraft eines jeden Menschen.
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86
Die Schrift von Lyotard (1979) gilt mittlerweile - unter Vorbehalt - als Manifest postmodernen Denkens. Vgl. zur
narrativen Ästhetik postmoderner 'Zeiträume' die Studie von Mecke (1990).
87
Siehe oben, Motto 2 sowie Segalen (1995).
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