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über das Programm der kommenden Philosophie

Demnach bleibt nach diesen Erwägungen ein gereinigter Begriff von Sprache zurück, wenn der auch noch unvollkommen sein mag. Die Sprache eines Wesens ist das Medium, in dem sich sein geistiges Wesen mitteilt. Der ununterbrochene Strom dieser Mit­teilung fließt durch die ganze Natur vom niedersten Existieren­den bis zum Menschen und vom Menschen zu Gott. Der Mensch teilt sich Gott durch den Namen mit, den er der Natur und seinesgleichen (im Eigennamen) gibt, und der Natur gibt er den Namen nach der Mitteilung, die er von ihr empfängt, denn auch die ganze Natur ist von einer namenlosen stummen Sprache durchzogen, dem Residuum des schaffenden Gotteswortes, wel­ches im Menschen als erkennender Name und über dem Menschen als richtendes Urteil schwebend sich erhalten hat. Die Sprache der Natur ist einer geheimen Losung zu vergleichen, die jeder Posten dem nächsten in seiner eigenen Sprache weitergibt, der Inhalt der Losung aber ist die Sprache des· Postens selbst. Alle höhere Sprache ist übersetzung der niederen, bis in der letzten Klarheit sich das Wort Gottes entfaltet, das die Einheit dieser Sprachbewegung ist.

ÜBER DAS PROGRAMM DER KOMMENDEN PHILOSOPHIE

Es ist die zentrale Aufgabe der kommenden Philosophie die tiefsten Ahnungen die sie aus der Zeit und dem Vorgefühle einer großen Zukunft schöpft durch die Beziehung auf das Kan­tische System zu Erkenntnis werden zu lassen. Die historische Kontinuität die durch den Anschluß an das Kantische System gewährleistet wird ist zugleich die einzige von entscheidender systematischer Tragweite. Denn Kant ist von denjenigen Phi­losophen denen es nicht unmittelbar um den Umfang und die Tiefe, sondern vor Allem, und zu aller erst, um die Rechtferti­gung der Erkenntnis ging der jüngste und nächst Platon auch wohl der Einzige. Diesen beiden Philosophen ist die Zuversicht gemeinsam, daß die Erkenntnis von der wir die reinste Rechen­schaft haben zugleich die tiefste sein werde. Sie haben die For­derung der Tiefe aus der Philosophie nicht verbannt, sondern sie sind ihr in einziger Weise gerecht geworden indem sie sie mit

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der nach Rechtfertigung identifizierten. Je unabsehbarer und kühner die Entfaltung der kommenden Philosophie sich ankün­digt, desto tiefer muß sie nach Gewißheit ringen deren Krite­rium die systematische Einheit oder die Wahrheit ist. Die bedeutendste Hemmung welche dem Anschluß einer wahr­haft zeit- und ewigkeitsbewußten Philosophie an Kant sich bietet ist jedoch in Folgendem zu finden: diejenige Wirklichkeit deren Erkenntnis und mit der er die Erkenntnis auf Gewißheit und Wahrheit gründen wollte, ist eine Wirklichkeit niedern, vielleicht niedersten Ranges. Das Problem der Kantischen wie jeder großen Erkenntnistheorie hat zwei Seiten und nur der einen Seite hat er eine gültige Erklärung zu geben vermocht. Es war erstens die Frage nach der Gewißheit der Erkenntnis die bleibend ist; und es war zweitens die Frage nach der Dignität einer Erfahrung die vergänglich war. Denn das universale philosophische Interesse ist stets zugleich auf die zeitlose Gültig­keit der Erkenntnis und auf die Gewißheit einer zeitlichen Er­fahrung, die als deren nächster wenn nicht einziger Gegenstand betrachtet wird gerichtet. Nur ist den Philosophen diese Erfah­rung in ihrer gesamten Struktur nicht als eine singulär zeitliche bewußt gewesen und sie war es auch Kant nicht. Hat Kant auch, vor Allem in den Prolegomena, die Prinzipien der Erfahrung aus den Wissenschaften und besonders der mathematischen Phy­sik abnehmen wollen, so war ihm doch zunächst und auch in der Kritik der reinen Vernunft die Erfahrung selbst und schlecht­hin nicht mit der Gegenstandswelt jener Wissenschaft identisch; und selbst wenn sie es ihm geworden wäre so wie sie es den neukantischen Denkern geworden ist, so bliebe doch der so iden­tifizierte und bestimmte immer noch der alte Erfahrungsbegriff, dessen bezeichnendstes Merkmal seine Beziehung nicht nur auf das reine sondern zugleich auch auf das empirische Bewußtsein ist. Um eben das aber handelt es sich: um die Vorstellung von der nackten primitiven und selbstverständlichen Erfahrung die Kant als Menschen der irgendwie den Horizont seines Zeitalters geteilt hat die einzig gegebene ja die einzig mögliche schien. Diese Erfahrung jedoch war, wie es schon angedeutet ist, eine singuläre zeitlich beschränkte und über diese Form hinaus die sie in gewisser Weise mit jeder Erfahrung teilt, war diese Erfah­rung, die man auch im prägnanten Sinne Weltanschauung nen-

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nen könnte, die der Aufklärung. Sie unterschied sich in den hier wesentlichsten Zügen aber nicht allzu sehr von der der übri­gen Jahrhunderte der Neuzeit. Diese war eine der niedrigst stehenden Erfahrungen oder Anschauungen von der Welt. Daß Kant sein ungeheures Werk gerade unter der Konstellation der Aufklärung in Angriff nehmen konnte besagt, daß dieses an einer gleichsam auf den Nullpunkt, auf das Minimum von Bedeutung reduzierten Erfahrung vorgenommen wurde. Ja man darf sagen, daß eben die Größe seines Versuches, der ihm eigene Radikalismus eine solche Erfahrung zur Voraussetzung hatte deren Eigenwert sich der Null näherte und die eine (wir dürfen sagen: traurige) Bedeutung nur durch ihre Gewißheit hätte er­langen können. Kein vor-Kantischer Philosoph hat sich in diesem Sinne vor die erkenntnis-theoretische Aufgabe gestellt gesehen, keiner allerdings auch in dem Maße freie Hand in ihr gehabt, da eine Erfahrung deren Quintessenz deren Bestes gewisse New­ton'sche Physik war derb und tyrannisch angefaßt werden durfte ohne zu leiden. Autoritäten, nicht in dem Sinne daß man sich ihnen kritiklos hätte unterordnen müssen sondern als geistige Mächte die der Erfahrung einen großen Inhalt zu ge­ben vermocht hätten, gab es für die Aufklärung nicht. Was das Niedere und Tiefstehende der Erfahrung jener Zeit ausmacht, worin ihr erstaunlich geringes spezifisch metaphysisches Gewicht liegt wird sich nur andeuten lassen in der Wahrnehmung wie dieser niedere Erfahrungsbegriff auch das Kantische Denken beschränkend beeinflußt hat. Es handelt sich dabei selbstver­ständlich um denselben Tatbestand den man als die religiöse und historische Blindheit der Aufklärung oft hervorgehoben hat ohne zu erkennen in welchem Sinne diese Merkmale der Auf­klärung der gesamten Neuzeit zukommen. Es ist von der höchsten Wichtigkeit für die kommende Philoso­phie, zu erkennen und zu sondern welche Elemente des Kanti­schen Denkens aufgenommen und gepflegt welche umgebildet und welche verworfen werden müssen. Jede Forderung eines Anschließens an Kant beruht auf der überzeugung, daß dieses System, welches eine Erfahrung vor sich fand deren metaphysi­scher Seite ein Mendelssohn und Garve gerecht geworden sind, aus der bis zum Genialen gesteigerten Nachforschung nach Ge­wißheit und Rechtfertigung der Erkenntnis diejenige Tiefe ge-

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schöpft und entwickelt hat, die es einer noch kommenden neuen und höhern Art der Erfahrung wird adäquat erscheinen lassen. Damit ist die Hauptforderung an die gegenwärtige Philosophie aufgestellt und zugleich ihre Erfüllbarkeit behauptet: unter der Typik des Kantischen Denkens die erkenntnistheoretische Fundierung eines höhern Erfahrungsbegriffes vorzunehmen. Und das eben soll zum Thema der zu erwartenden Philosophie ge­macht werden, daß eine gewisse Typik im Kantischen System aufzuzeigen und klar abzuheben ist die einer höhern Erfahrung gerecht zu werden vermag. Die Möglichkeit der Metaphysik hat Kant nirgends bestritten, nur die Kriterien will er aufgestellt haben an denen eine solche Möglichkeit im einzelnen Fall erwie­sen werden könnte. Die Erfahrung des Kantischen Zeitalters bedurfte keiner Metaphysik; zu Kants Zeit war es historisch das einzig Mögliche ihre Ansprüche zu vernichten, denn der An­spruch seiner Mitgenossen auf sie war Schwäche oder Heuche­lei. Es handelt sich darum Prolegomena einer künftigen Meta­physik auf Grund der Kantischen Typik zu gewinnen und dabei diese künftige Metaphysik, diese höhere Erfahrung ins Auge zu fassen. Allein nicht nur von der Seite der Erfahrung und Metaphysik muß der künftigen Philosophie die Revision Kants angelegen sein. Und methodisch, d. h. als eigentliche Philosophie überhaupt nicht von dieser Seite sondern von Seiten des Erkenntnisbegriffes her. Die entscheidenden Irrtümer der Kantischen Erkenntnis­lehre sind wie nicht zu bezweifeln ist auch auf die Hohlheit der ihm gegenwärtigen Erfahrung zurückzuführen, und so wird auch die Doppelaufgabe der Schaffung eines neuen Erkenntnisbegrif­fes und einer neuen Vorstellung von der Welt auf dem Boden der Philosophie zu einer einzigen werden. Die Schwäche des Kantischen Erkenntnisbegriffes ist oft gefühlt worden indem der mangelnde Radikalismus und die mangelnde Konsequenz seiner Lehre gefühlt worden ist. Kants Erkenntnistheorie er,. schließt das Gebiet der Metaphysik nicht weil sie selbst primitive Elemente einer unfruchtbaren Metaphysik in sich trägt welche jede andere ausschließt. In der Erkenntnistheorie ist jedes metaphysische Element ein Krankheitskeim der sich in der Ab­schließung der Erkenntnis von dem Gebiet der Erfahrung in seiner ganzen Freiheit und Tiefe äußert. Die Entwicklung der

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Philosophie ist dadurch zu erwarten daß jede Annihilierung dieser metaphysischen Elemente in der Erkenntnistheorie zu­gleich diese auf eine tiefere metaphysisch erfüllte Erfahrung verweist. Es besteht, und hier ruht der historische Keim der kommenden Philosophie, die tiefste Beziehung zwischen jener Erfahrung deren tiefere Erforschung nie und nimmer auf die metaphysischen Wahrheiten führen konnte und jener Theorie der Erkenntnis welche den logischen Ort der metaphysischen Forschung noch nicht ausreichend zu bestimmen vermochte; immerhin scheint der Sinn in dem Kant etwa den Terminus "Metaphysik der Natur« braucht durchaus in der Richtung der Erforschung der Erfahrung auf Grund erkenntnistheoretisch gesicherter Prinzipien zu liegen. Die Unzulänglichkeiten in Hin­sicht auf Erfahrung und Metaphysik äußern sich innerhalb der Erkenntnistheorie selbst als Elemente spekulativer (d. i. rudi­mentär gewordener) Metaphysik. Die wichtigsten dieser Ele­mente sind: erstens die bei Kant trotz aller Ansätze dazu nicht endgültig überwundene Auffassung der Erkenntnis als Bezie­hung zwischen irgendwelchen Subjekten und Objekten oder ir­gendwelchem Subjekt und Objekt; zweitens: die ebenfalls nur ganz ansatzweise überwundene Beziehung der Erkenntnis und der Erfahrung auf menschlich empirisches Bewußtsein. Diese bei­den Probleme hängen eng miteinander zusammen und selbst soweit Kant und die Neukantianer die Objektnatur des Dinges an sich als der Ursache der Empfindungen überwunden haben bleibt immer noch die Subjekt-Natur des erkennenden Bewußt­seins zu eliminieren. Diese Subjekt-Natur des erkennenden Be­wußtseins rührt aber daher daß es in Analogie zum empirischen das dann freilich Objekte sich gegenüber hat gebildet ist. Das Ganze ist ein durchaus metaphysisches Rudiment in der Erkennt­nistheorie; ein Stück eben jener flachen »Erfahrung« dieser Jahrhunderte welches sich in die Erkenntnistheorie einschlich. Es ist nämlich gar nicht zu bezweifeln daß in dem Kantischen Erkenntnisbegriff die wenn auch sublimierte Vorstellung eines individuellen leibgeistigen Ich welches mitte1st der Sinne die Empfindungen empfängt und auf deren Grundlage sich seine Vorstellungen bildet die größte Rolle spielt. Diese Vorstellung ist jedoch Mythologie und was ihren Wahrheitsgehalt angeht jeder andern Erkenntnismythologie gleichwertig. Wir wissen

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von Naturvölkern der sogenannten präanimistischen Stufe wel­che sich mit heiligen Tieren und Pflanzen identifizieren, sich wie sie benennen; wir wissen von Wahnsinnigen die ebenfalls sich zum Teil mit den Objekten ihrer Wahrnehmung identifizie­ren, die ihnen also nicht mehr Objecta, gegenüberstehend sind; wir wissen von Kranken die die Empfindungen ihres Leibes nicht auf sich selbst sondern auf andere Wesen beziehen und von Hellsehern welche wenigstens behaupten die Wahrnehmungen anderer als ihre eigenen empfangen zu können. Die gemein­menschliche Vorstellung von sinnlicher (und geistiger) Erkenntnis sowohl unserer als der Kantischen als auch der vor-Kantischen Epoche ist nun durchaus eine Mythologie wie die genannten. Die Kantische »Erfahrung« ist in dieser Hinsicht, was die naive Vorstellung vom Empfangen der Wahrnehmungen angeht, Metaphysik oder Mythologie und zwar nur eine moderne und religiös besonders unfruchtbare. Erfahrung, so wie sie mit Bezug auf den individuellen leibgeistigen Menschen und dessen Be­wußtsein und nicht vielmehr als systematische Spezifikation der Erkenntnis gefaßt wird ist wiederum in allen ihren Arten bloßer Gegenstand dieser wirklichen Erkenntnis und zwar ihres psychologischen Zweiges. Diese gliedert das empirische Bewußt­sein systematisch in die Arten des Wahnsinns. Der erkennende Mensch, das erkennende empirische Bewußtsein ist eine Art des wahnsinnigen Bewußtseins. Damit soll nichts anderes gesagt sein als daß innerhalb des empirischen Bewußtseins es zwischen seinen verschiedenen Arten nur graduelle Unterschiede gibt. Die­se Unterschiede sind zugleich solche des Wertes dessen Kriterium jedoch nicht in der Richtigkeit von Erkenntnissen bestehen kann um die es sich in der empirischen, psychologischen Sphäre nie­mals handelt; das wahre Kriterium des Wertunterschiedes der Bewußtseinsarten festzustellen wird eine der höchsten Aufgaben der kommenden Philosophie sein. Den Arten des empirischen Bewußtseins entsprechen ebensoviele der Erfahrung, welche mit Hinsicht auf ihre Beziehung aufs empirische Bewußtsein was die Wahrheit angeht lediglich den Wert der Phantasie oder Hal­luzination haben. Denn eine objektive Beziehung zwischen empirischem Bewußtsein und dem objektiven Begriff von Er­fahrung ist unmöglich. Alle echte Erfahrung beruht auf dem reinen erkenntnis-theoretischen (transzendentalen) Bewußtsein

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wenn dieser Terminus unter der Bedingung daß er alles Sub­jekthaften entkleidet sei noch verwendbar ist. Das reine tran­szendentale Bewußtsein ist artverschieden von jedem empiri­schen Bewußtsein und es ist daher die Frage ob die Anwen­dung des Terminus Bewußtsein hier statthaft ist. Wie sich der psychologische Bewußtseinsbegriff zum Begriff der Sphäre der reinen Erkenntnis verhält bleibt ein Hauptproblem der Philo­sophie, das vielleicht nur aus der Zeit der Scholastik her zu resti­tuieren ist. Hier ist der logische Ort vieler Probleme die die Phänomenologie neuerdings wieder aufgeworfen hat. Die Philo­sophie beruht darauf daß in der Struktur der Erkenntnis die der Erfahrung liegt und aus ihr zu entfalten ist. Diese Erfah­rung umfaßt denn auch die Religion, nämlich als die wahre, wobei weder Gott noch Mensch Objekt oder Subjekt der Erfah­rung ist, wohl aber diese Erfahrung auf der reinen Erkenntnis beruht als deren Inbegriff allein die Philosophie Gott denken kann und muß. Es ist die Aufgabe der kommenden Erkennt­nistheorie für die Erkenntnis die Sphäre totaler Neutralität in

. Bezug auf die Begriffe Objekt und Subjekt zu finden; mit an­dern Worten die autonome ureigne Sphäre der Erkenntnis auszumitteln in der dieser Begriff auf keine Weise mehr die Be­ziehung zwischen zwei metaphysischen Entitäten bezeichnet. Es ist als Programmsatz der künftigen Philosophie aufzustel­len daß mit dieser Reinigung der Erkenntnistheorie die als radikales Problem Kant zu stellen ermöglicht und notwendig gemacht hat nicht mir ein neuer Begriff der Erkenntnis sondern zugleich auch der Erfahrung aufgestellt wäre, gemäß der Be­ziehung die Kant zwischen beiden gefunden hat. Freilich dürfte dabei wie gesagt die Erfahrung ebensowenig wie die Erkenntnis auf das empirische Bewußtsein bezogen werden; aber auch hier würde es dabei bleiben, ja erst hier seinen eigentlichen Sinn ge­winnen daß die Bedingungen der Erkenntnis die der Erfahrung sind. Dieser neue Begriff der Erfahrung welcher gegründet wäre auf neue Bedingungen der Erkenntnis würde selbst der logische Ort und die logische Möglichkeit der Metaphysik sein. Denn aus welch anderm Grunde hatte Kant immer wieder die Metaphysik zum Problem und die Erfahrung zur einzigen Grundlage der Erkenntnis gemacht als weil von seinem Erfahrungsbegriff aus die Möglichkeit einer Metaphysik die von der Bedeutung der

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früheren gewesen wäre (wohlverstanden nicht einer Metaphy­sik überhaupt) ausgeschlossen erscheinen müßte. Es liegt aber offenbar das Auszeichnende im Begriff der Metaphysik nicht, und jedenfalls nicht für Kant der sonst keine Prolegomena zu ihr geschrieben hätte, in der Illegitimität ihrer Erkenntnisse, son­dern in ihrer universalen, die gesamte Erfahrung mit dem Got­tesbegriff durch Ideen unmittelbar verknüpfenden Macht. So läßt sich also die Aufgabe der kommenden Philosophie fassen als die Auffindung oder Schaffung desjenigen Erkenntnisbegrif­fes der, indem er zugleich auch den Erfahrungsbegriff ausschließ­lich auf das transzendentale Bewußtsein bezieht, nicht allein mechanische sondern auch religiöse Erfahrung logisch ermög­licht. Damit soll durchaus nicht gesagt sein daß die Erkenntnis Gott, wohl aber durchaus daß sie die Erfahrung und Lehre von ihm allererst ermöglicht. Von der hier geforderten und als sachgemäß betrachteten Ent­wicklung der Philosophie läßt sich als Neukantianismus ein

. Anzeichen bereits betrachten. Ein Hauptproblem des Neukantia­nismus ist gewesen den Unterschied von Anschauung und Ver­stand, ein metaphysisches Rudiment wie die ganze Lehre von den Vermögen an der Stelle die sie bei Kant einnimmt, zu be­seitigen. Damit - also mit der Umbildung des Erkenntnisbe­griffes - hat sich denn sogleich eine des Erfahrungsbegriffes eingestellt. Es ist nämlich nicht zu bezweifeln daß die Reduktion aller Erfahrung auf die wissenschaftliche, wie sehr sie in man­cher Hinsicht die Ausbildung des historischen Kant ist, in dieser Ausschließlichkeit bei Kant nicht gemeint ist. Es bestand sicher­lich bei Kant eine Tendenz gegen die Zerfällung und Auf teilung der Erfahrung in die einzelnen Wissenschaftsgebiete und wenn ihr auch die spätere Erkenntnistheorie den Rekurs auf die Er­fahrung im gewöhnlichen Sinne, wie er bei Kant vorliegt, wird abschneiden müssen, so ist doch andrerseits im Interesse der Kontinuität der Erfahrung ihre Darstellung als das System der Wissenschaften wie sie der Neukantianismus gibt noch mangel­haft und es muß in der Metaphysik die Möglichkeit gefunden werden ein reines systematisches Erfahrungskontinuum zu bil­den; ja ihre eigentliche Bedeutung scheint hierin zu suchen zu sein. Es hat sich aber bei der neukantischen Rektifikation eines und zwar nicht des grundlegenden metaphysizierenden Gedan-

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kens bei Kant sogleich eine Änderung des Erfahrungsbegriffes ergeben und zwar bezeichnenderweise zunächst in der extremen Ausbildung der mechanischen Seite des relativ leeren aufkläre­rischen Erfahrungsbegriffes. Allerdings ist nicht zu übersehen daß in einer eigentümlichen Korrelation zum mechanischen Er­fahrungsbegriff der Freiheitsbegriff steht und demgemäß im Neukantianismus fortentwickelt worden ist. Aber auch hier ist zu betonen daß der gesamte Zusammenhang der Ethik in dem Begriff den die Aufklärung Kant und die Kantianer von Sitt­lichkeit haben ebensowenig aufgeht wie der Zusammenhang der Metaphysik in dem was jene Erfahrung nennen. Mit einem neuen Erkenntnisbegriff wird daher nicht nur der der Erfah­rung sondern auch der der Freiheit eine entscheidende Umbil­dung erfahren. Man könnte nun hier überhaupt die Meinung vertreten, daß mit der Auffindung eines Erfahrungsbegriffes der einen logischen Ort der Metaphysik abgeben würde überhaupt der Unterschied zwischen den Gebieten der Natur und der Freiheit aufgehoben wäre. Indessen ist hier wo es sich nicht um Erweisen sondern nur um ein Programm der Forschung handelt soviel zu sagen': so notwendig und unvermeidlich auf dem Grunde einer neuen transzendentalen Logik die Umbildung des Gebietes der Dia­lektik, des überganges zwischen Erfahrungs- und Freiheits­lehre ist, so wenig darf diese Umbildung in eine Vermengung von Freiheit und Erfahrung einmünden, mag auch der Begriff der Erfahrung im metaphysischen von dem der Freiheit in einem vielleicht noch unbekannten Sinne verändert sein. Denn so un­absehbar auch die Veränderungen sein mögen die sich der For­schung hier erschließen werden: die Trichotomie des Kantischen Systems gehört zu den großen Hauptstücken jener Typik die zu erhalten ist und sie vor allem muß erhalten werden. Es mag in Frage gestellt werden dürfen, ob der zweite Teil des Systems (von der Schwierigkeit des dritten zu schweigen) sich noch auf die Ethik beziehen muß oder ob die Kategorie der Kausalität durch Freiheit etwa eine andere Bedeutung habe; die Trichoto­mie deren metaphysisch tiefste Beziehungen noch unentdeckt sind hat im Kantischen System schon an der Dreiheit der Rela­tionskategorien ihre entscheidende Begründung. In der absoluten Trichotomie des Systems das sich eben in dieser Dreiteilung auf

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das ganze Gebiet der Kultur bezieht liegt eine der weltgeschicht­lichen überlegenheiten des Kantischen Systems über das seiner Vorgänger. Die formalistische Dialektik der nach-Kantischen Systeme jedoch ist nicht auf der Bestimmung der Thesis als kate­gorischer, der Antithesis als hypothetischer und der Synthesis als disjunktiver Relation gegründet. Jedoch wird außer dem Begriff der Synthesis auch der einer gewissen Nicht-Synthesis zweier Begriffe in einem andern systematisch höchst wichtig werden, da außer der Synthesis noch eine andere Relation zwischen The­sis und Antithesis möglich ist. Dies wird jedoch kaum zu einer Vierheit der Relationskategorien führen können. Aber wenn die große Trichotomie für die Gliederung der Philo­sophie erhalten bleiben muß auch solange diese Glieder selbst noch fehlbestimmt sind, so gilt dies nicht ohne weiteres von allen einzelnen Schematen des Systems. Wie etwa die Marburger Schule bereits mit der Aufhebung des Unterschiedes zwischen transzendentaler Logik und Asthetik begonnen hat (wenn es auch fraglich ist ob ein Analogon dieser Scheidung nicht auf höherer Stufe wiederkehren muß), so ist die Tafel der Kategorien wie es jetzt allgemein gefordert wird völlig zu revidieren. Ge­rade hierbei wird sich dann die Umformung des Erkenntnisbe­griffes in der Gewinnung eines neuen Begriffs von Erfahrung ankündigen, da die aristotelischen Kategorien einerseits will­kürlich aufgestellt, andrerseits aber durch Kant ganz einseitig im Hinblick auf eine mechanische Erfahrung ausgebeutet worden sind. Es wird vor allem zu erwägen sein ob die Kategorientafel in der Vereinzelung und Unvermitteltheit in der sie dasteht bleiben muß und ob sie nicht überhaupt in einer Lehre von den Ordnungen sei es eine Stelle unter andern Gliedern einnehmen, sei es selbst zu einer solchen ausgebaut, auf logisch frühere Urbegriffe gegründet oder mit ihnen verbunden werden könne. In eine solche allgemeine Lehre von den Ordnungen würde dann auch dasjenige gehören was Kant in der transzendentalen Asthe­tik erörtert, ferner die sämtlichen Grundbegriffe nicht nur der Mechanik sondern auch die der Geometrie, Sprachwissenschaft, Psychologie, beschreibender Naturwissenschaft und vieler anderer, sofern sie unmittelbare Beziehung auf die Kategorien oder sonstigen höchsten philosophischen Ordnungsbegriffe hätten. Her­vorragende Beispiele sind hier die Grundbegriffe der Gramma-

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tik. Ferner hat man sich zu vergegenwärtigen, daß mit der radi­kalen Ausschaltung aller derjenigen Bestandteile, welche in der Erkenntnistheorie die versteckte Antwort -auf die versteckte Frage nach dem Werden der Erkenntnis geben das große Pro­blem des Falschen bzw. des Irrtums frei wird dessen logische Struktur und Ordnung nun gen au so wie die des Wahren er­mittelt werden muß. Der Irrtum darf nicht länger aus dem Ir­ren erklärt werden, wie die Wahrheit nicht länger aus dem rechten Verstand. Auch für diese Erforschung der logischen Natur des Falschen und des Irrtums sind voraussichtlich in der Lehre von den Ordnungen die Kategorien aufzusuchen: überall in der modernen Philosophie regt sich die Erkenntnis, daß die kategoriale und verwandte Ordnung von zentraler Wichtigkeit für die Erkenntnis mannigfach abgestufter und auch nicht mechanischer Erfahrung sei. Kunst, Rechtslehre und Geschichte, alle diese und andere Gebiete haben sich mit ganz andrer Inten­sität als Kant es getan hilt an der Kategorienlehre zu orientieren. Doch erhebt sich zugleich mit Beziehung auf die transzendentale Logik eines der größten Probleme des Systems überhaupt, näm­lich die Frage nach seinem dritten Teil, mit andren Worten nach denjenigen wissenschaftlichen Erfahrungsarten (den biolo­gischen), die Kant auf dem Boden der transzendentalen Logik nicht behandelt hat und warum er es nicht tat. Ferner die Frage nach dem Zusammenhang der Kunst mit diesem dritten, der Ethik mit dem zweiten Teil des Systems. - Die Fixierung des bei Kant unbekannten Begriffes der Identität hat voraussichtlich in der transzendentalen Logik eine große Rolle zu spielen, in so- -fern er in der Kategorientafel nicht steht, dennoch vermutlich den obersten Begriff der transzendentallogischen ausmacht und viel­leicht wahrhaft geeignet ist die Sphäre der Erkenntnis jenseits der Subjekt-Objekt-Terminologie autonom zu begründen. Die tran­szendentale Dialektik weist schon in der Kantischen Fassung die Ideen auf auf denen die Einheit der Erfahrung beruht. Für den vertieften Begriff der Erfahrung ist aber, wie schon gesagt, Kon­tinuität nächst der Einheit unerläßlich und in -den Ideen muß der Grund der Einheit und der Kontinuität jener nicht vulgären und nicht nur wissenschaftlichen sondern metaphysischen Erfah­rung aufgewiesen werden. Die Konvergenz der Ideen auf den obersten Begriff der Erkenntnis ist nachzuweisen.

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Wie die Kantische Lehre selbst um ihre Prinzipien zu finden sich einer Wissenschaft mit Beziehung auf die sie sie definieren konnte gegenüber sehen mußte, ähnlich wird es auch der modernen Philosophie ergehen. Die große Umbildung und Korrektur die an dem einseitig mathematisch-mechanisch orientierten Erkennt­nisbegriff vorzunehmen ist, kann nur durch eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache wie sie schon zu Kants Lebzeiten Hamann versucht hat gewonnen werden. über dem Bewußt­sein daß die philosophische Erkenntnis eine absolut gewisse und apriorische sei, über dem Bewußtsein dieser der Mathematik ebenbürtigen Seiten der Philosophie ist für Kant die Tatsache daß alle philosophische Erkenntnis ihren einzigen Ausdruck in der Sprache und nicht in Formeln und Zahlen habe völlig zu­rückgetreten. Diese Tatsache aber dürfte sich letzten Endes als die entscheidende behaupten und um ihretwillen ist die systema­tische Suprematie der Philosophie wie über alle Wissenschaft so auch über die Mathematik letzten Endes zu behaupten. Ein in der Reflexion auf das sprachliche Wesen der Erkenntnis gewon­nener Begriff von ihr wird einen korrespondierenden Erfah­rungsbegriff schaffen der auch Gebiete deren wahrhafte syste­matische Einordnung Kant nicht gelungen ist umfassen wird. Als deren Oberstes ist das Gebiet der Religion zu nennen. Und damit läßt sich die Forderung an die kommende Philosophie end­lich in die Worte fassen: Auf Grund des Kantischen Systems einen Erkenntnisbegriff zu schaffen dem der Begriff einer Er­fahrung korrespondiert von der die Erkenntnis Lehre ist. Eine solche Philosophie wäre entweder in ihrem allgemeinen Teile selbst als Theologie zu bezeichnen oder wäre dieser sofern sie etwa historisch philosophische Elemente einschließt übergeord­net.

Erfahrung ist die einheitliche und kontinuierliche Mannigfaltig­keit der Erkenntnis.

Nachtrag

Im Interesse der Klärung der Beziehung der Philosophie zur Religion ist der Gehalt des vorigen sofern es das systematische Schema der Philosophie angeht zu wiederholen. Es handelt sich

Ober das Programm der kommenden Philosophie

zunächst um das Verhältnis der drei Begriffe Erkenntnistheo­rie, Metaphysik, Religion. Die ganze Philosophie zerfällt in Erkenntnistheorie und Metaphysik, oder mit Kant zu reden in einen kritischen und einen dogmatischen Teil, diese Einteilung ist jedoch, nicht als Angabe des Gehalts, aber als Einteilungsprin­zip nicht von prinzipieller Wichtigkeit. Mit ihr soll nur gesagt werden daß auf aller kritischen Sicherung der Erkenntnisbegrif­fe und des Erkenntnisbegriffs nun eine Lehre von dem aufgebaut werden kann wovon zunächst allererst erkenntnis-kritisch der Begriff einer Erkenntnis festgesetzt ist. Wo das Kritische aufhört und das Dogmatische anfängt ist vielleicht nicht genau auf­zuzeigen weil der Begriff des Dogmatischen lediglich den übergang von Kritik zu Lehre von allgemeinern zu besondern Grundbegriffen kennzeichnen soll. Die ganze Philosophie ist also Erkenntnistheorie, nur eben Theorie, kritische und dogmatische aller Erkenntnis. Beide Teile, der kritische wie der dogmatische fallen ganz ins Gebiet des Philosophischen. Und da das der Fall ist, da nicht etwa der dogmatische Teil mit dem ein­zelwissenschaftlichen zusammenfällt, so erhebt sich naturgemäß die Frage nach der Grenze zwischen Philosophie und Einzel­wissenschaft. Die Bedeutung des terminus des Metaphysischen wie er im vorigen eingeführt ist besteht nun eben darin diese Grenze als nicht vorhanden zu erklären und die Umprägung der »Erfahrung« zu »Metaphysik« bedeutet daß im metaphysischen oder dogmatischen Teil der Philosophie, in den der oberste er­kenntnis-theoretische, d. i. der kritische Teil übergeht, virtuell die sogenannte Erfahrung eingeschlossen ist. (Die Ex~mplifika­ti on dieses Verhältnisses für das Gebiet der Physik ~. meinen Aufsatz über Erklärung und Beschreibung.) Wenn damit ganz allgemein das Verhältnis zwischen Erkenntnistheorie, Metaphy­sik und Einzelwissenschaft umrissen ist so bleiben noch zwei Fragen übrig. Erstens diejenige nach der Beziehung des kritischen zum dogmatischen Moment in Ethik und Ästhetik, die wir hier auf sich beruhen lassen indem wir doch eine Lösung im systema­tisch analogen Sinne wie etwa im Bezirk der Naturlehre postu­lieren müssen, zweitens diejenige nach dem Verhältnis von Philosophie und Religion. Zunächst ist es nun klar daß es sich im Grunde nicht um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Philosophie und Religion, sondern nach dem zwischen Philoso-

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phie und Lehre von der Religion handeln muß; mit andren Worten um die Frage nach dem Verhältnis der Erkenntnis über­haupt· zur Erkenntnis von der Religion. Auch die Frage nach dem Dasein der Religion Kunst u.s.w. kann philosophisch eine Rolle spielen aber nur im Wege der Fage nach der philosophi­schen Erkenntnis von solchem Dasein. Die Philosophie fragt durchaus immer nach der Erkenntnis wobei die Frage nach der Erkenntnis von ihrem Dasein nur eine wenn auch unvergleich­lich hervorragende Modifikation der Frage nach der Erkenntnis überhaupt ist. Ja, es muß gesagt werden: daß die Philosophie überhaupt in ihren Fragestellungen niemals auf die Daseinsein­heit sondern immer nur auf neue Einheiten von Gesetzlichkeiten stoßen kann deren Integral »Dasein« ist. - Der erkenntnistheo­retische Stamm- oder Urbegriff hat eine doppelte Funktion. Ein­mal ist er es der durch seine Spezifikation, nach der allgemein logischen Begründung von Erkenntnis überhaupt zu den Begrif­fen von gesonderten Erkenntnisarten und damit zu besonderen Erfahrungsarten durchdringt. Dies ist seine eigentlich erkennt­nistheoretische Bedeutung und zugleich die eine, schwächere Sei­te seiner metaphysischen Bedeutung. Jedoch kommt der Stamm­und Urbegriff der Erkenntnis in diesem Zusammenhang nicht zu einer konkreten Totalität der Erfahrung, ebensowenig zu irgend einem Begriff von Dasein. Es gibt aber eine Einheit der Erfahrung die keineswegs als Summe von Erfahrungen verstan­den werden kann, auf die sich der Erkenntnisbegriff als Lehre in seiner kontinuierlichen Entfaltung unmittelbar bezieht. Der Gegenstand und Inhalt dieser Lehre, diese konkrete Totalität der Erfahrung ist die Religion, die aber der Philosophie zu­nächst nur als Lehre gegeben ist. Die Quelle des Daseins liegt nun aber in der Totalität der Erfahrung und erst in der Lehre stößt die Philosophie auf ein Absolutes, als Dasein, und damit auf jene Kontinuität im Wesen der Erfahrung in deren Ver­nachlässigung der Mangel des Neukantianismus zu vermuten ist. In rein metaphysischer Hinsicht geht der Stammbegriff der Erfahrung in deren Totalität in einem ganz anderen Sinne über als in seine einzelnen Spezifikationen, die Wissenschaflen: näm­lich unmittelbar, wobei der Sinn dieser Unmittelbarkeit gegen­über jener Mittelbarkeit noch zu bestimmen bleibt. Eine Er­kenntnis ist metaphysisch heißt im strengen Sinne: sie bezieht

Schicksal und Charakter 17 1

sich durch den Stammbegriff der Erkenntnis auf die konkrete Totalität der Erfahrung, d. h. aber auf Dasein. Der philosophi­sche Daseinsbegriff muß sich dem religiösen Lehrbegriff, dieser aber dem erkenntnistheoretischen Stammbegriff ausweisen. Dies alles ist nur skizzenhafte Andeutung~ Die Grundtendenz dieser Bestimmung vom Verhältnis zwischen Religion und Philosophie ist aber: gleichmäßig zu erfüllen die Forderungen erstens der vir­tuellen Einheit von Religion und Philosophie, zweitens der Ein­ordnung der Erkenntnis von der Religion in die Philosophie, drittens der Integrität der Dreiteilung des Systems.

SCHICKSAL UND CHARAKTER

Schicksal und Charakter werden gemeinhin als kausal verbun­den angesehen und der Charakter wird als eine Ursache des Schicksals bezeichnet. Der Gedanke, welcher dabei zugrunde liegt, ist folgender: wäre einerseits der Charakter eines Men­schen, d. h. also auch seine Art und Weise zu reagieren, in allen Einzelheiten bekannt und wäre andrerseits das Weltgeschehen bekannt in den Bezirken, in denen es an jenen Charakter heran­träte, so ließe sich genau sagen, was jenem Charakter sowohl widerfahren als von ihm vollzogen werden würde. Das heißt, sein Schicksal wäre bekannt. Einen unmittelbaren gedanklichen Zugang zum Schicksalsbegriff ermöglichen die zeitgenössischen Vorstellungen nicht, daher moderne Menschen sich auch auf den Gedanken, den Charakter etwa aus den leiblichen Zügen eines Menschen zu lesen, einlassen, weil sie das Wissen um Charakter überhaupt irgendwie in sich vorfinden, während die Vorstellung, analog etwa das Schicksal eines Menschen aus den Linien seiner Hand zu lesen, ihnen unannehmbar erscheint. Dies scheint so unmöglich wie es unmöglich scheint,· »die Zukunft vorauszusa­gen«; unter diese Kategorie wird nämlich die Voraussage des Schicksals ohne weiteres subsumiert, und der Charakter erscheint demgegenüber als etwas in Gegenwart und Vergangenheit Vor­liegendes, was also erkennbar sei. Nun aber ist es gerade die Behauptung solcher, die sich anheischig machen, den Menschen aus welchen Zeichen auch immer ihr Schicksal vorherzusagen,