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Welche Art von Analysemuster kann bei der Erstellung von...

Date post: 13-Sep-2019
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Susanne Grosser/Martin Hoffmann Welche Art von Analysemuster kann bei der Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er Staaten zugrunde gelegt werden? 1. Aktualität und Relevanz der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit „zerfallen(d)en Staaten“ „Die Debatte um Failed States ist zwar nicht neu, sie wird aber mit einer neuen Dringlichkeit geführt.“ (Schneckener 2004: 510). Dieses Zitat Ulrich Schneckeners zeigt deutlich die Aktualität des Themenbereichs der „zerfallen(d)en Staaten“. Seit den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) am 11. September 2001 erscheinen der Weltgemeinschaft die so genannten failed states in einem ganz neuen Licht: Wurde die diesbezügliche Diskussion zuvor von humanitären und entwicklungspolitischen Gesichtspunkten beherrscht, so rücken nun sicherheitspolitische Erwägungen ins Zentrum, da zerfallen(d)e Staaten als mögliche Rückzugsräume des internationalen Terrorismus gelten (ebda.). Failed states werden also international zunehmend nicht mehr nur als ein lokales, sondern vielmehr als ein regionales und sogar globales Problem wahrgenommen (Schneckener 2004: 510). Entsprechend ist für die internationale Gemeinschaft die Dringlichkeit gewachsen, Lösungsansätze für die von den zerfallen(d)en Staaten ausgehende Gefährdungslage zu entwickeln, und somit nahm auch die Relevanz der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit failed states in den letzten Jahren zu – wie zahlreiche Forschungsprojekte und Veröffentlichungen zu diesem Thema belegen. 1 Im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit failed states wirft die Erstellung von Fallstudien zu einzelnen zerfallen(d)en Staaten, wie sie in der vorliegenden Ausgabe der Arbeitspapiere des Zentralinstituts für Regionalforschung präsentiert werden, jedoch Fragen nach einer sinnvollen und angemessenen Vorgehensweise in diesem komplexen Themenbereich auf: Wie lassen sich im jeweiligen Fall Form und Ausprägungsgrad des Staatszerfalls qualitativ und quantitativ erfassen; wie können die in vielerlei Wechselwirkung zueinander stehenden Gründe des Staatszerfalls verständlich beschrieben, wie die vielfältigen 1 Vgl. beispielsweise die guten Überblicke über die Forschungslage in: www.state-failure.de oder bei www.politik.uni-koeln.de/jaeger/forschung/state/html ; beide zuletzt abgefragt am 02.08.2007; siehe auch das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag.
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Susanne Grosser/Martin Hoffmann

Welche Art von Analysemuster kann bei der Erstellung von Fallstudien

zerfallen(d)er Staaten zugrunde gelegt werden?

1. Aktualität und Relevanz der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit

„zerfallen(d)en Staaten“

„Die Debatte um Failed States ist zwar nicht neu, sie wird aber mit einer neuen Dringlichkeit

geführt.“ (Schneckener 2004: 510). Dieses Zitat Ulrich Schneckeners zeigt deutlich die

Aktualität des Themenbereichs der „zerfallen(d)en Staaten“. Seit den Terroranschlägen in den

Vereinigten Staaten von Amerika (USA) am 11. September 2001 erscheinen der

Weltgemeinschaft die so genannten failed states in einem ganz neuen Licht: Wurde die

diesbezügliche Diskussion zuvor von humanitären und entwicklungspolitischen

Gesichtspunkten beherrscht, so rücken nun sicherheitspolitische Erwägungen ins Zentrum, da

zerfallen(d)e Staaten als mögliche Rückzugsräume des internationalen Terrorismus gelten

(ebda.). Failed states werden also international zunehmend nicht mehr nur als ein lokales,

sondern vielmehr als ein regionales und sogar globales Problem wahrgenommen

(Schneckener 2004: 510). Entsprechend ist für die internationale Gemeinschaft die

Dringlichkeit gewachsen, Lösungsansätze für die von den zerfallen(d)en Staaten ausgehende

Gefährdungslage zu entwickeln, und somit nahm auch die Relevanz der wissenschaftlichen

Auseinandersetzung mit failed states in den letzten Jahren zu – wie zahlreiche

Forschungsprojekte und Veröffentlichungen zu diesem Thema belegen.1

Im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit failed states wirft die Erstellung

von Fallstudien zu einzelnen zerfallen(d)en Staaten, wie sie in der vorliegenden Ausgabe der

Arbeitspapiere des Zentralinstituts für Regionalforschung präsentiert werden, jedoch Fragen

nach einer sinnvollen und angemessenen Vorgehensweise in diesem komplexen

Themenbereich auf: Wie lassen sich im jeweiligen Fall Form und Ausprägungsgrad des

Staatszerfalls qualitativ und quantitativ erfassen; wie können die in vielerlei Wechselwirkung

zueinander stehenden Gründe des Staatszerfalls verständlich beschrieben, wie die vielfältigen 1 Vgl. beispielsweise die guten Überblicke über die Forschungslage in: www.state-failure.de oder bei www.politik.uni-koeln.de/jaeger/forschung/state/html; beide zuletzt abgefragt am 02.08.2007; siehe auch das Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag.

Möglichkeiten internationaler Intervention übersichtlich dargestellt werden? Kurz: Welche

Art von Analysemuster kann bei der Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er Staaten

zugrunde gelegt werden?

2. Welche Art von Analysemuster kann bei der Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er

Staaten zugrunde gelegt werden?

Im Folgenden soll schrittweise ein solches Analysemuster zur Erstellung von Fallstudien

zerfallen(d)er Staaten erarbeitet werden. Die einzelnen Stufen dieses nachfolgend skizzierten

Analyseschemas sind:

2.1 Grundlegende Überlegungen zum Staatsbegriff

2.2 Typologie schwacher, zerfallender und zerfallener Staaten

2.3 Quantitative Messung des Zerfallsgrades von failed states

2.4 Interne und externe Gründe für Staatszerfall

2.5 Internationale Bedrohungen durch Staatszerfall und Interventionsmöglichkeiten.

2.1 Grundsätzliche Überlegungen zum Staatsbegriff

Basis jeder politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit failed states sind grundsätzliche

Überlegungen zum Staatsbegriff. Erst eine grundlegende Beantwortung der Frage „Was ist

überhaupt ein Staat?“ erlaubt in weiteren Schritten, gleichsam in Abgrenzung zum voll

funktionierenden Modell eines Staates, die Auseinandersetzung mit schwachen, zerfallenden

oder zerfallenen Formen desselben. Überlegungen zum Staatsbegriff müssen aber stets in dem

Bewusstsein angestellt werden, dass der Staat an sich „nur auf einer relativ hohen

Abstraktionsebene“ (Anter 2003: 35) vorhanden ist und somit eine „bunte Vielfalt“ (ebda.) an

Definitionen existiert. An dieser Stelle kann und soll daher in keiner Weise der Anspruch auf

eine vollständige Darstellung des vielschichtigen Staatsbegriffes erhoben werden, sondern

dieser als Basis für die weitere Entwicklung eines Analysemusters zerfallen(d)er Staaten nur

in seinen Grundzügen umrissen und beleuchtet werden.

Ausgangspunkt jeder Analyse der Staatlichkeit ist heute der moderne, neuzeitliche Staat, wie

er sich im 17. und 18. Jahrhundert allmählich herausgebildet hat (Schneckener 2004: 511).

Dieser wird in wissenschaftlichen Beiträgen häufig vor allem hinsichtlich seiner „Eigenschaft

als Ordnungsidee und Ordnungsinstrument“ (Anter 2003: 35) betrachtet und definiert. Max

Weber (1864-1920) grenzte den Staat von einem politischen Verband dadurch ab, dass dieser

„das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in

Anspruch nimmt“ (Weber 1922). Weber hob also das Gewaltmonopol des Staates besonders

hervor, wohingegen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), fast ein Jahrhundert vor

Weber, den Ordnungsbegriff weitergefasst hatte, indem er formulierte: „Durch die Gewalt,

meint die Vorstellung oft, hänge der Staat zusammen; aber das Haltende ist allein das

Grundgefühl der Ordnung, das alle haben.“ (Hegel 1820). Diese Gegenüberstellung Webers

und Hegels zeigt, dass selbst innerhalb der Betrachtung des Staates mit der Betonung der

Ordnungsidee immer wieder Kontroversen über die Akzentuierung des Begriffes bestanden

haben.

Eine weitere Definition des Staates lieferte Georg Jellinek (1851-1911), indem er festhielt:

„Der Staat ist die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter

Menschen“ (Jellinek 1922: 180 f.), wodurch die drei Elemente des Staates, nämlich das

Staatsgebiet, das Staatsvolk und die Staatsgewalt, beschrieben sind. Von der durch das

Vorhandensein dieser drei Elemente gekennzeichneten „De-facto-Staatlichkeit“ (Schneckener

2004: 511) grenzt Ulrich Schneckener ferner die „De-jure-Staatlichkeit“ (ebd.) ab, die erst

durch die internationale Anerkennung eines Staates gegeben ist.

Anhand dieser Erläuterungen zum Staatsbegriff tritt die diesem innewohnende Komplexität

und Vielfalt deutlich hervor, sodass letztlich nur „Minimalkriterien für Staatlichkeit“

(Schneckener 2004: 511) genannt sind. Diese sollen aber an dieser Stelle als Basis für die

Erstellung eines Analysemusters zerfallen(d)er Staaten ausreichen, zumal der Staatsbegriff im

Rahmen des weiteren Vorgehens in dieser Zeitschrift durch weitere Aspekte ergänzt werden

wird.

Als Zwischenstand sei darauf hingewiesen, dass der Staatsbegriff und die darin enthaltenen

zugehörigen Staatsfunktionen bis heute immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher

Debatten sind: So wird seit einigen Jahren über ein „Ende der Staatlichkeit“ (Anter 2003: 45)

diskutiert, da der Staat sich seit Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend aus ordnungs- und

sicherheitspolitischen Funktionen zurückgezogen habe (Anter 2003: 42-50).2

2 Beiträge zu diesem Themenbereiche finden sich auch bei Voigt (1993).

2.2 Typologie schwacher, zerfallender und zerfallener Staaten

Liefern die bisherigen Betrachtungen zum Staatsbegriff eher die Basis für ein Analysemuster

zerfallen(d)er Staaten, so kann die Einordnung des jeweils untersuchten Staates in eine

Typologie schwacher, zerfallender und zerfallener Staaten schon als ein erster konkreter

Analyseschritt verstanden werden. Doch liegt eine solche Typologie überhaupt schon vor, auf

die sich Bezug nehmen ließe? Tatsächlich haben sogar schon mehrere Autoren Vorschläge

zur Typisierung von failed states unterbreitet.3 Für das hier zu erstellende Analysemuster

zerfallen(d)er Staaten wird die Typologie nach Ulrich Schneckener ausgewählt und im

Folgenden genauer vorgestellt, da sich diese besonders durch Übersichtlichkeit und Klarheit

der Kriterien auszeichnet, wodurch auch eine relativ einfache Handhabbarkeit gegeben ist.

Zunächst muss aber zum besseren Verständnis das Konzept des Staates, welches Schneckener

seiner Typologie zugrunde legt, erläutert werden (Schneckener 2004: 511-513). Dabei erfährt

der bisher in diesem Aufsatz definierte Staatsbegriff bereits eine erste deutliche Erweiterung,

denn Schneckeners Auffassung geht weit über eine Definition mittels des Gewaltmonopols

bzw. der Ordnungsfunktion des Staates hinaus. Beruhend auf dem in den 1950er, 1960er und

1970er Jahren in der Welt der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und

Entwicklung (OECD) entwickelten Profil bezieht Schneckener weitere „Dimensionen von

Staatlichkeit“ (Schneckener 2004: 512) mit ein, so vor allem den demokratischen

Verfassungsstaat, den Rechtsstaat, den Verwaltungsstaat sowie den Sozial- und

Wohlfahrtsstaat. Schneckener weist selbst darauf hin, dass ein solches Vorgehen folglich

„eine normative Grundorientierung“ (ebda.) beinhaltet und durchaus als problematisch

beurteilt werden könnte. Entsprechend ausführlich rechtfertigt der Autor sein diesbezügliches

Vorgehen (Schneckener 2004: 512 f.), u.a. mit der Gegenfrage, ob sich rechtsstaatliche

Elemente nur deshalb relativieren lassen, „weil sie vermeintlich als ‚westliche Importware’

gelten“ (Schneckener 2004: 512).

Im Einzelnen beschreibt Ulrich Schneckener drei Kernfunktionen des Staates als Grundlage

seiner Typologie (Schneckener 2004: 513 f.):

3 Vergleiche zum Beispiel Erdmann (2003).

1. Die Sicherheitsfunktion: Diese umfasst als „elementare Funktion des Staates […] die

Gewährleistung von Sicherheit nach innen und außen, insbesondere von physischer Sicherheit

für die Bürger“ (ebda.).

2. Die Wohlfahrtsfunktion: Dabei stehen „staatliche Dienst- und Transferleistungen sowie

Mechanismen der Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen“ (ebda.) im Mittelpunkt.

3. Die Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion: Damit wird Bezug genommen auf „Formen der

politischen Partizipation und der Entscheidungsprozeduren […], die Stabilität politischer

Institutionen sowie die Qualität von Rechtsstaat, Justizwesen und öffentlicher Verwaltung“

(ebda.).

Auf der Basis dieses Konzepts des Staates erarbeitet Schneckener vier Typen fragiler

Staatlichkeit (Schneckener 2004: 514 f.):

1. Konsolidierte bzw. sich konsolidierende Staaten (consolidated bzw. consolidating states):

Bei ihnen sind alle drei genannten Kernfunktionen eines Staates im Wesentlichen über einen

längeren Zeitraum hinweg erfüllt. Beispiele sind die westlichen Industrieländer.

2. Schwache Staaten (weak states): Hier ist zwar die Sicherheitsfunktion des Staates noch in

hohem Maße oder wenigstens weitgehend intakt, Wohlfahrts- und/oder Legitimitäts- und

Rechtsstaatsfunktion aber weisen erhebliche Mängel auf, so zum Beispiel in Teilen Ghanas,

Venezuelas oder auch Albaniens.

3. Versagende oder verfallende Staaten (failing states): Bei diesen Staaten ist die

Sicherheitsfunktion im Unterschied zu den zuvor beschriebenen Typen stark eingeschränkt,

Wohlfahrts- und/oder Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion sind aber zumindest noch in

Teilen vorhanden. Beispiele hierfür sind Sri Lanka und Kolumbien.

4. Gescheiterte Staaten, gleichbedeutend mit Staatskollaps (failed bzw. collapsed states): Bei

diesem letzten Typ fragiler Staatlichkeit ist keine der drei genannten Staatsfunktionen mehr in

nennenswertem Ausmaß erfüllt. Dies gilt beispielsweise für Afghanistan, den Irak oder

Somalia.

Ulrich Schneckener baut seine Typologie fragiler Staatlichkeit also entlang der drei von ihm

definierten Kernfunktionen des Staates auf, wobei der Sicherheitsfunktion aber Priorität bei

der Zuordnung eines Staates zu einem bestimmten Typ zukommt (Schneckener 2004: 514).

Dies verdeutlicht auch eine von Schneckener erstellte Tabelle4, die eine schnelle Übersicht zu

der Typologie erlaubt:

4 Anmerkung: + Funktion wird erfüllt +/- Funktion wird leidlich erfüllt

-/+ Funktion wird nur ansatzweise erfüllt - Funktion existiert nicht oder nicht mehr

Abbildung 1: Analyseschema nach Schneckener

Sicherheit Wohlfahrt Legitimität/RechtsstaatKonsolidierte Staaten

+ + oder +/- + oder +/-

Schwache Staaten +/- N.N. N.N. Versagende Staaten -/+ N.N. N.N. Gescheiterte Staaten - -/+ oder - -/+ oder -

Quelle: Schneckener 2004: 515

Zu den Grenzen der Aussagekraft dieser Art von Typologie ist insbesondere, dies betont auch

Schneckener selbst, darauf hinzuweisen, dass darin kein „Stadienmodell“ (Schneckener 2004:

515) zu sehen ist, also ein Staat während seines Zerfallsprozesses keinesfalls alle

beschriebenen Typen schrittweise durchlaufen muss. Insgesamt aber liefert die Typologie

Ulrich

Schneckeners ein sinnvolles und gut handhabbares Instrument für eine erste Einordnung und

Beschreibung zerfallen(d)er Staaten. Dies ist damit ein erster Analyseschritt innerhalb des zu

erstellenden Analysemusters für Fallstudien zerfallen(d)er Staaten, wie es den folgenden

Studien in diesem Heft zugrunde liegt.

2.3 Quantitative Messung von failed states

Liefert Ulrich Schneckeners Typologie schon eine erste Einteilung und Beschreibung

zerfallen(d)er Staaten auf Grundlage einer eher qualitativen Vorgehensweise, so stellt sich in

einem nächsten Analyseschritt die Frage, ob es auch Möglichkeiten gibt, failed states

quantitativ zu messen und zu erfassen. Dies meint insbesondere, inwieweit eine Form von

Berechnungsmodell vorhanden ist, welches es erlaubt, anhand von Indikatoren den Status

oder aber den genauen Gefährdungsgrad eines bestimmten Landes bezüglich des völligen

Staatszerfalls zu bestimmen.

Ein solches Analyseinstrument hat der Fund for Peace entwickelt (Foreign Policy and The

Fund for Peace magazine 2006). Diese Organisation wurde 1957 von dem Investment-Banker

Randolph Campton gegründet, hat ihren Sitz in Washington D.C. und verfolgt das Ziel Kriege

zu verhindern, auch durch Verminderung möglicher Kriegsursachen. Seit 1996 konzentriert

sich der Fund for Peace besonders auf die Lösung von Konflikten, die von schwachen und

zerfallenden Staaten ausgehen.

Zur Beurteilung und quantitativen Messung von failed states wurde vom Fund for Peace die

vierstufige Methode des so genannten Conflict Assessment System Tool (CAST) entwickelt,

bestehend aus:

1. der Erfassung von insgesamt zwölf Indikatoren aus dem ökonomischen, sozialen und

politischen bzw. militärischen Bereich,

2. der Beurteilung von fünf staatlichen Kerneinrichtungen, die als essentiell für die

Aufrechterhaltung der Sicherheit gelten,

3. der Identifizierung möglicherweise überraschend eintretender Ereignisse und

4. der Erstellung einer conflict map auf der Basis der in den Schritten 1-3 gewonnenen

Erkenntnisse, welche abschließend die Risikoeinschätzung der analysierten Staaten bezüglich

des Staatszerfalls veranschaulicht (ebda.).

Der eigentliche sogenannte Failed States Index, der in Form eines Rankings alljährlich

veröffentlicht wird, basiert auf dem ersten Schritt des Conflict Assessment System Tool: Für

jeden analysierten Staat werden pro Indikator null bis zehn Punkte vergeben, wobei zehn

Punkte dem jeweils instabilsten und somit ungünstigsten Zustand entsprechen. Damit kann

jeder Staat nach Erfassung aller zwölf Indikatoren minimal null Punkte und maximal, d.h. hier

zugleich im schlechtesten Fall, 120 Punkte erreichen (ebda). Innerhalb des Indizes werden

dann farblich noch einmal je nach erreichter Punktzahl einzelne Risikogruppen

zusammengefasst: Die höchste Risikogruppe beispielsweise liegt zwischen 90 bis 120

Punkten, die niedrigste zwischen null und 29,9 Punkten. Zur Veranschaulichung dient im

Folgenden ein Auszug aus dem Failed States Index 2007, der hier der Übersichtlichkeit halber

auf die zehn meistgefährdeten Länder und ihre Gesamtpunktzahl beschränkt wird (The Fund

for Peace and Foreign magazine 2007):

Abbildung 2: Failed States Index (Auszug)

Rang Staat Gesamtpunktzahl 1 Sudan 113,7 2 Irak 111,4 3 Somalia 111,1 4 Zimbabwe 110,1 5 Tschad 108,8 6 Elfenbeinküste 107,3 7 Demokratische Republik Kongo 105,5 8 Afghanistan 102,3 9 Guinea 101,3 10 Zentralafrikanische Republik 101,0

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Daten des Failed States Index 2007 (ebda.)

Anhand dieses Auszugs aus dem Failed States Index 2007 ist zu erkennen, dass bei den zehn

meistgefährdeten Ländern afrikanische Staaten deutlich dominieren. Insgesamt bietet der

Failed States Index bei Betrachtung einzelner zerfallen(d)er Staaten die Möglichkeit, eine

erste Risikoabschätzung einzuholen und auch einen Vergleich zu anderen Ländern bei hoher

Fallzahl zu stellen. Wie schon bei der Anwendung der Typologie zerfallen(d)er Staaten nach

Ulrich Schneckener gilt aber auch hier, dass für einen sinnvollen Gebrauch des Failed States

Index immer zugleich dessen Grenzen berücksichtigt werden müssen, d.h. insbesondere die

sich aus der Art der Datengewinnung ergebenden Tatsache, dass ein solcher Index nurmehr

eine Endsumme der gesammelten Informationen wiedergibt, wodurch beispielsweise konträre

Forschermeinungen nicht ausgeführt werden.

Mit der quantitativen Messung von failed states anhand des Failed States Index ist dennoch

somit ein zweiter Analyseschritt innerhalb des zu erstellenden Analysemusters für Fallstudien

zerfallen(d)er Staaten getan.

2.4 Welche internen und externen Gründe bedingen Staatsverfall und -zerfall?

Von unterschiedlichen Autoren wurden ganz verschiedene Erklärungsfaktoren für die

Schwäche und den Verfall oder gänzlichen Zerfall von Staaten angeführt. Im Vergleich zeigt

sich, dass nicht alle Faktoren im selben Maße auf die einzelnen Fälle zutreffen müssen. Im

Einzelnen wird der Regionalforscher/die –forscherin gehalten sein, die jeweiligen Faktoren zu

isolieren und in ihrer Wirkungsweise zu gewichten. Dennoch lassen sich einige Variablen

herausfiltern, die auf die meisten der von uns im Folgenden untersuchten Fälle zutreffen.

2.4.1 Die späten Nachwirkungen von Kolonialismus und Dependenz

„[If] we are to understand the problem of contemporary state failure, we must necessarily start

by trying to understand the contribution of the colonial legacy.” (Mayall 2005: 37). Bei der

Betrachtung der externen Gründe für Staatsverfall bzw. -zerfall ist es unumgänglich, die

ehemaligen Kolonial- und Dependenzbeziehungen zu betrachten. Warum diese historischen

Prozesse für das globale Staatengefüge und speziell für weak states so wichtig sind, zeigt der

durch imperialistischen Eroberungsdrang verbreitete, in politikwissenschaftlicher Hinsicht

bedeutendste Export in die Kolonien: der Staat an sich. Die fundamentalen Prinzipien der

politischen Souveränität, der territorialen Integrität und des staatlichen Gewaltmonopols sind

als das Produkt moderner westlicher Gesellschaften den einverleibten Territorien

aufgezwungen worden – ohne Rücksicht auf bereits bestehende Gesetze, Ordnungen, soziale

Gefüge, Religionen und Weltanschauungen (ebda.). Folge des Zweiten Weltkrieges war ein

gänzlich erneuertes Staatengefüge. In diesem Umfeld der politischen Neuordnungen konnten

sich viele ehemalige Kolonien in Asien und Afrika die Unabhängigkeit erkämpfen. Die

überkommene „projection of power from a distant and alien metropole“ (Mayall 2005: 36)

wich einem neuen Ideal der Selbstbestimmtheit und Autarkie. Antikoloniale Nationalismen in

den „neuen“ freien Gesellschaften trieben diese Entwicklung voran, förderten aber auch

negative Begleiterscheinungen wie die Usurpation der Macht durch wenige machtgierige und

gewaltbereite Gruppen. Beispiele sind die Roten Khmer in Kambodscha oder als besonders

extremes Beispiel für die Forderung des unbedingten Rechts auf Selbstbestimmung der

Genozid der ultranationalistischen Hutu an der Bevölkerungsgruppe der Tutsi in Ruanda

1994. Nach dem Rückzug der Kolonialstaaten gab es im Wesentlichen – je nach individueller

Situation – zwei mögliche Szenarien: Entweder funktionierte der Staat und somit die

eingeführten Institutionen weiter oder der Staat kollabierte. Manche scheiterten bereits an

fundamentaler Güterbereitstellung von Gesetzen, Ordnung sowie minimalem Wohlstand

(Mayall 2005: 38).

Der polemische und in diesem Zusammenhang geläufig gewordene Begriff der Kleptokratie

bezeichnet eine Form der Staatsführung, die den realen Machtmissbrauch der nationalen

Regierungen zwecks der eigenen Bereicherung darstellt. Selbst argumentierend, dass sie als

nationale Regierungen viel eher die Interessen der Bevölkerung bedienen würden als die

ehemaligen Kolonialmächte, bereichern sich jene oftmals systematisch selbst an den

Rohstoffen und Bodenschätzen ihres Landes. Somit werden die ohnehin essentiellen

Probleme der ökonomischen und somit oft auch politischen Abhängigkeit noch verstärkt,

werden ehemals leistungsfähige Volkwirtschaften zu reinen Rohstofflieferanten degradiert

(Mayall 2005: 46). Diese Abhängigkeiten vieler ehemaliger Kolonien resultieren aus der weit

verbreiteten stark ländlichen Prägung in Kombination mit niedrigen Bildungsstandards und

keiner eigenen verarbeitenden Industrie.

Ein weiteres von außen kommendes Problem sind die willkürlichen Grenzziehungen der

Kolonialmächte quer durch ethnische, religiöse und stammesrechtlich zusammengehörige

Gebiete. Bis zum 20. Jahrhundert wurden Grenzen durch Kriege, Heiraten oder ökonomische

Gründe durch die Kolonialmächte in regelmäßigen Abständen verschoben; Territorium war

der legitime Preis des Kriegsgewinns. Inzwischen ist es allerdings zu spät, diese Fehler zu

beheben, da separatistische Bewegungen Motive und Vorteile daraus ziehen könnten (Mayall

2005: 44).

Die genannten externen Gründe sind für sich genommen unvollkommen und unzulänglich für

die Erklärung von Staatsverfall und -zerfall, aber zusammengenommen können sie

ansatzweise die Auswirkungen des Auftreffens der Imperialpolitik auf verschiedene

vorimperialistische Strukturen und Staatsformen erläutern.

Als exotischer Export auf autoritäre und clangeführte Länder wie Afghanistan5 oder Somalia,

in denen Clanloyalitäten und -rivalitäten gesellschaftlich stärkere Wirkungen entfalten als

Staatsgebilde, konnte die Übertragung des europäischen Staatenbildes nur zur Übervorteilung

europäischer Großmachtinteressen auf Kosten der Kolonialstaaten dienen (Mayall 2005: 49).

Die Dependenztheorie ist die klassische Deutung für Staatsverfall/ -zerfall, liefert aber für

sich betrachtet ohne hinzukommende interne Faktoren für staatliches Kollabieren eine

einseitige und oberflächliche Betrachtung.

2.4.2 Security Dilemma und Violent Predation

Wann und wie begünstigen Sicherheitsversagen und daraus resultierendes Gewaltaufkommen

den Zerfall eines Staates? Wenn ein Staat die von Schneckener beschriebene

Sicherheitsfunktion, die als „elementare Funktion des Staates […] die Gewährleistung von

Sicherheit nach innen und außen, insbesondere von physischer Sicherheit für die Bürger“

5 Siehe dazu den Beitrag von Adorf und Kruska in diesem Band.

(Schneckener 2004: 513) nicht mehr gewährleisten kann und es infolge dieses

Sicherheitsversagens zu bewaffneten Gruppenbildungen kommt, müssen die Bürger als

Individuen selbstständig auf die Gewalt reagieren. Sie können sich nicht mehr an staatliche

Stellen richten, da diese ihr Machtmonopol verloren haben, bzw. dieses nicht mehr aus

eigener Kraft behaupten können. Wenn also die öffentliche Ordnung und die staatliche

Autorität zusammenbrechen, versuchen die Bürger selbst für ihre Sicherheit zu sorgen und

bewaffnen sich zum Selbstschutz aus Angst vor dem Sicherheits- und Kontrollverlust des

Staates. Dadurch fühlen sich andere Akteure wiederum bedroht und rüsten auf, wodurch sich

die erste Gruppe bedroht fühlt und weiter aufrüstet. Diese aus Selbstschutz und Angst vor

Gewalt erzeugte Spiralentwicklung wird als Sicherheitsdilemma bezeichnet (Kasfir 2004: 55).

Der parallel hierzu stattfindende Prozess des gewaltsamen Raubes – violent predation –

resultiert nicht aus dem Motiv der Angst, sondern der Gier. Durch den Wegfall staatlicher

Kontrollen und Aufsicht wird diese durch Gier entfesselte Selbstbereicherung erst ermöglicht

und zieht unausweichlich zügellose Gewaltanwendung nach sich.

Als Folge dieser beiden miteinander verbundenen Prozesse fällt der Staat mehr und mehr in

sich zusammen, was wiederum diese beiden selbstzerstörerischen Prozesse begünstigt, welche

erneut den Staatszerfall beschleunigen (Kasfir 2004: 65f.). Dies führt zu einer Spirale der

Gewalt, in deren Verlauf eine stetige Umverteilung ehemals staatlicher Macht an andere

gewaltbereite und gewaltsame Akteure stattfindet. Analytisch ist im Nachhinein nur noch

schwer feststellbar, welcher der beiden Prozesse zuerst und welcher zu welchem Anteil für

den Staatszerfall verantwortlich ist.

2.4.3 Interne Gründe für Staatszerfall – bewaffnete Banden und die Verbreitung von

Schusswaffen

Eine der Hauptursachen für den rapiden Anstieg der Gewalt in einem zerfallen(d)en Staat ist

die weitflächige Verbreitung von small arms – eine Kategorie, die leichte und schwere

Sturmgewehre, Maschinenpistolen, raketengestützte Granatwerfer, leichte Mörser sowie

Landminen u.ä. einschließt. Diese Waffen gelangen auf die Märkte auch schwacher Staaten

durch den internationalen Waffenhandel, welcher globale Schwarzmärkte, Waffenschieber,

aber auch und vor allem die fünf größten Waffenhersteller- und Händlerstaaten6 umfasst.

6 Die fünf größten Waffenhersteller- und Händlerstaaten stellen zugleich die fünf ständigen Mitglieder (USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und die Volksrepublik China) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN).

Weltweit, insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges, werden diese Waffen in hohen

Stückzahlen verbreitet und sind vergleichsweise günstig zu erwerben. Aus diesem Grund

gehören sie zur weltweiten Standardausrüstung von Milizen, Guerillas, Todesschwadronen

und ähnlichen paramilitärischen Verbänden (Klare 2004: 116f., 124). Bei schweren

militärischen Waffen wie Panzern, Kampfhubschraubern oder Kampfjets ist qualifiziertes

Personal zur Bedienung und Wartung dieser komplexen Waffensysteme nötig, ganz

abgesehen von den immensen Kosten. Aus diesem Grund wird leicht und preiswert zu

beschaffenden und selbst von Kinderhand zu bedienenden Waffen der Vorzug gegeben.7

Bewaffnete und gewaltbereite Gruppen finanzieren sich oft aus Drogenschmuggel,

Menschenschmuggel, räuberischem Rohstoffhandel (Gold, Silber, Kupfer, Diamanten),

Kidnapping, räuberischer Erpressung, Prostitution, Raubüberfällen und dem illegalen,

international geächteten Handel von unter Artenschutz stehenden Tierarten. Sobald sich diese

Gruppen gegenseitig oder die regulären Regierungstruppen bekämpfen und internationale

Hilfsorganisation in ihrer Arbeit behindern oder ausrauben, ist es für die Regierung kaum

noch möglich Morde, Vertreibungen und Plünderungen an der Zivilbevölkerung zu

verhindern (Klare 2004: 120f.). Die Regierung ist gezwungen finanzielle Mittel von

Entwicklungshilfeprojekten und fundamentalen Versorgungsprogrammen abzuziehen um das

eigene Militär aufzurüsten. Weiter angeheizt wird dieser interne Konflikt durch ethnische und

politische Differenzen in der Gesellschaft, ökonomische Stagnation, Klientelwirtschaft und

ausufernde, weit verzweigte Korruption. Die Privatisierung der Sicherheit als Reaktion auf die

bewaffneten Truppen schafft weitere, bald unkontrollierbare und autark handelnde lokale

Gewaltmonopolisten, deren Interessen sich gegebenenfalls auch gegen den Staat richten

können. Aus diesen Gründen schafft das Erscheinen von paramilitärischen Verbänden in

schwachen, zerfallenden und geteilten Gesellschaften und Staaten einen sprunghaften Anstieg

der Gewalt im umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Verlust der eigenen Autorität des

Staates.

Michael T. Klare konstruiert ein Fünf-Punkte-Programm zur Reduzierung und effektiven

Kontrolle des internationalen Waffenhandels (Klare 2004: 127ff.). Einzeln betrachtet

erscheinen diese Punkte wenig wirksam, doch zusammen genommen könnten sie ein Erfolg

versprechendes Konzept bieten: Transparenz über das Waffenhandelsvolumen und somit die

Waffenhandelsströme ist wünschenswert, aber mit Blick auf den weit verbreiteten und

verzweigten illegalen und somit undokumentierten Handel kaum realisierbar. Der zweite 7 Weltweit werden zurzeit immer noch über 300.000 Kinder zum aktiven Dienst an der Waffe gezwungen (Terre des Hommes o.J.).

Vorschlag, das Angebot zu hemmen bzw. durch Auflagen und Sanktionen einzuschränken, ist

aufgrund der weiter oben beschriebenen fünf größten Waffenlieferanten und ständigen

Mitglieder des UN-Sicherheitsrates nahezu realitätsfern. Die Nachfrage zu hemmen bzw. zu

unterbinden erscheint schon wesentlich sinnvoller, allerdings hatte das Programm der

Economic Community of West African States (ECOWAS) mit eben diesem Ansatz eher

mäßigen Erfolg. Um den Schwarzmarkt einzudämmen und den illegalen Handel mit enorm

hohen Stückzahlen an Waffen zu unterbinden, wäre die aktive Hilfe der betroffenen Staaten

nötig – eine Hilfe, die ohne funktionierende Regierung im Sinne von Souveränitäts- und

Autoritätsausübung nicht oder nur mit fremder Hilfe zu bewerkstelligen ist. Die schwierigste

und wohl auch gefährlichste Aufgabe wäre dann, direkt in den Krisenregionen die Waffen

von den Kämpfern einzusammeln und zu vernichten; entsprechende Programme bei der UN

und bei der Weltbank werden bereits durchgeführt.8 Aber noch wichtiger ist es, diesen

ehemaligen Kämpfern, die häufig über keine zivile Berufsausbildung verfügen, eine

Ausbildung und eine regelmäßige, friedliche Arbeit zukommen zu lassen, Arbeitsmärkte und

schließlich neue Zivilgesellschaften zu schaffen.

Diese Ansätze könnten zerfallen(d)en Staaten Perspektiven bieten, um mit Hilfe externer

Akteure wie Nichtregierungsorganisationen oder Hilfsorganisationen gravierende interne

Probleme wie Gewalt und Kriminalität, paramilitärische gewaltbereite Gruppierungen und

hohes ziviles Waffenaufkommen in den Griff zu bekommen.

2.5 Internationale Bedrohungen und Interventionsmöglichkeiten

2.5.1 Fragile Staatlichkeit als globales Sicherheitsrisiko

Nach der Betrachtung dieser internen und externen Faktoren und Gründe für Staatsverfall

bzw. -zerfall soll nun das Augenmerk auf den Kontext der internationalen

Staatengemeinschaft gerichtet werden: Welche Risiken, Bedrohungen und Gefahren

erwachsen aus fragiler Staatlichkeit?

Zerfallen(d)e Staaten können Ordnung weder nach innen noch nach außen gewährleisten und

werden spätestens seit dem 11. September 2001 als ernst zu nehmendes Sicherheitsrisiko

8 Siehe dazu den Beitrag von Schmalz/Mujic in diesem Band.

eingestuft: „America is now threatened less by conquering states than we are by failing ones“,

so die U.S. National Security Strategy (Washington D.C., 17.9.2002: 1).

Internationale Gefährdungen können aus lokalen Problembereichen wie dem Irak oder

Afghanistan entstehen, wenn diese über lange Zeit ignoriert werden. Zur Ausarbeitung und

Beschreibung der möglicherweise entstehenden Bedrohungen wurde 2004 vom damaligen

UN-Generalsekretär Kofi Annan ein Expertengremium (High Level Panel) beauftragt,

welches sechs „Bedrohungscluster“ identifiziert (Schneckener 2005: 27):

1. wirtschaftliche, soziale und ökologische Bedrohungen,

2. zwischenstaatliche Konflikte,

3. innerstaatliche Konflikte,

4. Weitergabe nuklearer, biologischer und chemischer Waffen,

5. Terrorismus,

6. transnational organisierte Kriminalität.

Schwache oder zerfallende Staaten bieten diesen Bedrohungen Raum und Nährboden um zu

entstehen und stärker zu werden. Sie bieten ohne wirksame staatliche Kontrollen global

operierenden Terrornetzwerken wie Al-Quaida nutzbare, weitestgehend unkontrollierte

Infrastrukturen, Rückzugs- und Ruheräume wie in Pakistan, auf den Philippinen, in

Indonesien oder im Jemen (Schneckener 2005: 29). Um diesen Gefahren zu entgegnen, ist es

notwendig, Staaten vor dem Staatszerfall zu bewahren oder den schon begonnenen Prozess

des Zerfalls aufzuhalten und umzukehren. Für die meisten zerfallen(d)en Staaten ist es schier

unmöglich, sich aus eigener Kraft wieder aufzubauen, zu reformieren und ohne externes

Einwirken eine Verschiebung der aktuellen Macht- und Kräfteverhältnisse zu Gunsten der

eigenen Regierung zu bewirken. Doch was kann die internationale Gemeinschaft tun?

2.5.2 Antworten der internationalen Staatengemeinschaft auf Staatsverfall bzw. -zerfall

Der internationalen Gemeinschaft stehen verschiedene zivile und militärische Mittel und

Möglichkeiten zur Verfügung, um den internationalen Bedrohungen durch failed states

entgegenzutreten.9 Theoretisch überwiegen die zivilen Möglichkeiten (von Einsiedel 2005:

20ff.). Weltweit gibt es in den wohlhabenden Staaten beispielsweise eine relativ hohe

9 Siehe dazu auch die Beiträge von Heckmann/Rayzig/Richter und von Kiefer/Mostowtisch in diesem Band.

Bereitschaft zu humanitärer Hilfe, ohne dass das Prinzip der Staatssouveränität von ihnen in

Frage gestellt wird. Gleichzeitig besteht für schwache Staaten die Möglichkeit, innerhalb

eines internationalen Treuhandsystem (z.B. durch die UN oder einen anderen Staat) nicht

funktionierende Institutionen zu unterstützen oder zu ersetzen (Krasner 2005). Ein weiteres,

häufig eingesetztes Instrument dominierender Akteure ist die (erzwungene) Demokratisierung

eines Staates. Eine andere Möglichkeit ist das nation-building, wobei ein Gefühl der

nationalen Zusammengehörigkeit geschaffen werden soll. Wenn all diese Mittel nicht

funktionieren, können ökonomische Sanktionen gegen einen Staat verhängt werden. Diese

sind allerdings nur wirksam, solange es noch funktionierende Institutionen und Wirtschaft

gibt. Versagt auch diese Maßnahme, kann als letztes Mittel militärisch interveniert werden,

entweder durch Einzelstaatsmissionen oder durch Missionen der UN, die zwar international

legitimiert sind, aber gemessen an ihrem eigenen Anspruch im Schnitt eher mäßigen Erfolg

haben (von Einsiedel 2005: 29).10

2.5.3 Die regionalen Auswirkungen zerfallen(d)er Staatlichkeit

Nachdem der Fokus auf der globalen Dimension für state failure lag, werden nun

abschließend die direkten negativen regionalen Auswirkungen von failed states betrachtet.

Zwei Theorien beschreiben anschaulich die regionalen Auswirkungen zerfallender Staaten:

Laut Diffusionstheorie werden in einen bereits bestehenden Konflikt neue Akteure hinein

gezogen. In der Ansteckungstheorie hingegen werden Nachbarstaaten durch den spill-over-

Effekt des Konflikts „angesteckt“; ein neuer Konflikt bricht deshalb leicht in der

unmittelbaren Nähe eines bereits bestehenden aus (Lake/Rothshild 1998 zitiert nach Lambach

2007: 38). Beide Theorien schließen sich keinesfalls gegenseitig aus, vielmehr scheinen sie

verschiedene Phänomene der gleichen regionalen Gefahr zu beschreiben, die von failed states

ausgeht. Die regionale Bedrohung durch einen solchen Konflikt ist also quantitativ und

qualitativ wesentlich höher als die globale.

Daniel Lambach unterscheidet zwei verschiedene regionale Effekte: langfristige und

kurzfristige Faktoren (Lambach 2007: 39ff.). Langfristig und strukturell gesehen wird das

Militär politische Beziehungen zu wichtigen regionalen Akteuren aufnehmen, Nachbarstaaten

werden sich wahrscheinlich mit bestimmten Volksgruppen solidarisieren; die

Schattenwirtschaft und der Schwarzmarkt werden florieren. Kurzfristig kann es zu

10 Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Schmalz/Mujic in diesem Band.

militärischen Interventionen im umliegenden Grenzgebiet kommen, ebenso zu Gegenschlägen

der angrenzenden Staaten. Flüchtlingsströme, die, sobald sie sich niedergelassen haben, aber

wieder zu den strukturellen Faktoren zählen, und Waffenhandel, ethnologische, soziale und

gesundheitliche Krisen könnten kurzfristig auftreten.

Beeinflusst durch militärische, soziale und ökonomische Netzwerke, durch Flüchtlingsströme,

illegalen Handel und – wo bereits von außen interveniert wurde – durch international tätige

Akteure wie internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen oder andere

Staaten können diese regionalen Konflikte aber schnell einen transnationalen Kontext

bekommen. Lösungsansätze könnten hier der Versuch der (Wieder-) Einführung der

Rechtsstaatlichkeit und der ökonomischen Regulation sein.

3. Ein schematisches Analysemuster zur Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er Staaten – Vorteile und Grenzen

Am Ende dieses Aufsatzes soll kurz noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückgekommen

werden, welche Art von Analysemuster bei der Erstellung von Fallstudien zerfallen(d)er

Staaten zugrunde gelegt werden kann. Die vorausgehenden Kapitel haben Schritt für Schritt

ein einfaches Schema bzw. Raster entwickelt: Die grundlegende Klärung des Staatsbegriffs,

die Einordnung in eine Typologie zerfallen(d)er Staaten, die Möglichkeiten zur quantitativen

Messung von failed states, die Analyse externer und interner Ursachen für Staatszerfall und

schließlich der Blick auf die verschiedenen Interventionsmöglichkeiten. Diese Schritte bzw.

Überlegungen können jeweils als Anhaltspunkt bei der Erstellung von Fallstudien dienen,

indem sie Schritt für Schritt auf den jeweiligen Staat angewandt werden: Welcher Typ von

zerfallen(d)em Staat nach Schneckener liegt vor? Wie wird der betrachtete Staat im Failed

States Index bewertet? Welche externen oder internen Gründe für Staatszerfall lassen sich

erkennen? Und schließlich: Welche Interventionsmöglichkeiten wurden in dem jeweiligen

Staat bislang ergriffen, mit welchen Konsequenzen?

Ein so vereinfachtes Schema, wie es hier vorgeschlagen wird, bietet den Vorteil, beim

Herangehen an den zu analysierenden Staat als Handreichung bei der Strukturierung des

umfangreichen Informations- und Datenmaterials dienen zu können. Aber natürlich hat ein

solches Schema auch seine Grenzen: Es kann nicht alle jeweiligen Spezifika des betrachteten

Landes erfassen. Gerade diese müssen jedoch von den Autoren der Fallstudien gleichsam am

Ende ihres umfangreichen Materialstudiums erkannt, hervorgehoben und berücksichtigt

werden, um zu einer wirklich vollständigen und zutreffenden Analyse des jeweiligen Staates

zu gelangen.

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