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Thomas Bahne Person und Kommunikation - schoeningh.de · 2.4.2.2 Étienne Gilson – Plädoyer für...

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Thomas Bahne Person und Kommunikation
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Thomas Bahne

Person und Kommunikation

Thomas Bahne

Person und Kommunikation

Anstöße zur Erneuerung einer christlichen

Tugendethik bei Edith Stein

Ferdinand Schöningh

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Erzbistum Köln

Umschlagabbildung:

Andreas Bogdain, Geöffnete Hände

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne

vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn

(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.schoeningh.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München

Printed in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-506-76659-5

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT .................................................................................................. 13

EINLEITUNG: DIE FRAGE NACH DEN GRUNDPRÄMISSEN EINER PHILOSOPHI- SCHEN ETHIK BEI EDITH STEIN ............................................................... 15

1. Die bleibende Aktualität der Philosophie Edith Steins ..................... 25

2. Zu Gegenstand und Struktur dieser Arbeit ........................................ 31

Erster Teil

EDITH STEIN IM KONTEXTUELLEN SPANNUNGSFELD EINER ETHIK ZWISCHEN PHÄNOMENOLOGIE UND

THOMISMUS

ERSTES KAPITEL: ZUR PHILOSOPHISCHEN BIOGRAPHIE EDITH STEINS........................... 37

1.1 Die Phänomenologin ......................................................................... 39

1.2 Die christliche Philosophin ............................................................... 45

1.3 Die Mystiktheoretikerin .................................................................... 51

ZWEITES KAPITEL: DER PHILOSOPHISCHE KONTEXT DER ETHIK EDITH STEINS ............. 55

2.1 Die Wertethik der Phänomenologie .................................................. 56

INHALTSVERZEICHNIS 6

2.1.1 Edmund Husserl – das methodische Fragen nach den letzten, objektiven Wesenheiten .......................................... 58

2.1.2 Adolf Reinach – Status der Person im Staat ......................... 64 2.1.3 Max Scheler – Grundlegung einer materialen Wertethik .... 67 2.1.4 Dietrich von Hildebrand – das Gute im Sinne des

Wertes: ein transcendentale in se ......................................... 77 2.1.5 Martin Heidegger und Hedwig Conrad-Martius – zwei

rivalisierende Ontologien .................................................... 82 2.1.6 Theodor Lipps – Theorie der intersubjektiven Erfahrung.... 86 2.1.7 Alexander Pfänder – die Seele des Menschen ..................... 88

2.2 Der sittliche Idealismus der neukantianischen Ethik ........................ 90

2.3 Philosophie und Ethik im Anschluss an Max Scheler ...................... 93 2.3.1 Nicolai Hartmann – Gründung der allgemeinen morali-

schen Werte im absoluten Sein ............................................ 93 2.3.2 Hans Reiner – das Problem der Willensfreiheit .................. 96 2.3.3 Peter Wust – der Mensch: eingespannt zwischen Bios

und Logos ............................................................................ 98 2.3.4 Helmuth Plessner – Philosophische Anthropologie ............ 100 2.3.5 Johannes Hessen – Wahrheits- und Erkenntnislehre

bei Augustinus ..................................................................... 101

2.4 Metaphysik und Ethik des Thomismus ............................................. 103 2.4.1 Erste Tuchfühlung durch die Thomasübersetzungen

Steins ................................................................................... 106 2.4.1.1 Erich Przywara – eine mit Stein korrespondierende

Sicht auf aristotelische und platonische Gedanken .............. 107 2.4.1.2 Martin Grabmann – ein Zugang zur thomasischen

Ethik .................................................................................... 110 2.4.1.3 Martin Honecker – Gegenstandstheoretische Grund-

legung der allgemeinen Wertlehre ....................................... 112 2.4.1.4 Rudolf Allers – ein Interpret der Seelenmetaphysik

Thomas von Aquins ............................................................. 114 2.4.1.5 Clemens Baeumker – eine scholastische Philosophie aus

griechischen Wurzeln und neuzeitlicher Konfrontation ...... 116 2.4.2 Der Einfluss durch das französische Milieu der

Société Thomiste ................................................................. 118 2.4.2.1 Jacques Maritain – Personalität und ontologische

Partizipation ......................................................................... 118 2.4.2.2 Étienne Gilson – Plädoyer für einen metaphysischen

Realismus ............................................................................ 121

INHALTSVERZEICHNIS 7

2.4.2.3 Marie-Dominique Roland-Gosselin – geweckte Anfragen an das thomasische Individuationsprinzip im Kontext der Personlehre ................................................. 127

2.4.2.4 Fritz-Joachim von Rintelen – die Idee des Wertrealismus .. 133 2.4.2.5 Alois Mager – ein geschätzter Augustinusinterpret ............. 135 Exkurs: Steins Kontakte nach Beuron und zu dortigen

Moraltheologen .................................................................... 136 2.4.2.6 Daniel Feuling – ein wichtiger Gesprächspartner

seit Juvisy ............................................................................ 140 2.4.2.7 Clemens G. Söhngen – ein Brückenbauer zwischen

Thomas und Husserl ............................................................ 144 2.4.3 Münsteraner Kontakte ......................................................... 145 2.4.3.1 Alois Dempf – das Axiom der Konnaturalität der

Vermögen und der Umwelten .............................................. 146 2.4.3.2 Josef Pieper – Missverständnisse als Schlüssel zur

Steinschen Ethik .................................................................. 153 2.4.3.3 Joseph Mausbach – Kronzeuge Steinscher Leibphäno-

menologie ............................................................................ 157 2.4.3.4 Siegfried Behn – der Steinsche Anspruch einer

thomistischen Metaphysik als Aufgabe ............................... 158 2.4.4 Sozialethische Bezüge ......................................................... 159 2.4.4.1 Sigismund Waitz – Naturrechtsethik versus Ethik der

Moderne ............................................................................... 159 2.4.4.2 Johannes Messner – eine induktiv-metaphysische

Grundlegung der Ethik ........................................................ 163 2.4.5 Philosophische Kontakte zu Moraltheologen in den

Niederlanden ........................................................................ 164 2.4.5.1 Johannes Baptist Hirschmann – der Gegenstand perso-

naler Liebe und das Gute bei Dionysius Areopagita............ 164 2.4.5.2 Henri Boelaars – Intentionalität der Erkenntnis bei

Edmund Husserl .................................................................. 167

Zweiter Teil

TUGENDETHISCHE GEGENSTÄNDLICHKEIT UND PERSONALE KOMMUNIKATION

ERSTES KAPITEL: DIE WIEDERENTDECKUNG DER WERT- UND TUGENDETHIK ............. 176

INHALTSVERZEICHNIS 8

1.1 Die neue Debatte um die Wertethik .................................................. 178

1.2 Die Debatten um die neue Tugendethik ............................................ 187 Exkurs: Tugendethik als ein Gegenentwurf zur Regelethik ............. 190 1.2.1 Differente Grundkonzeptionen der neuen Tugendethik ...... 196 1.2.1.1 Die gemeinsame aristotelische Perspektive ......................... 196 1.2.1.2 Tugendethik als Konzeption des guten Lebens ................... 199 1.2.1.3 Tugendethik als Konzeption des menschlichen

Charakters ............................................................................ 200 1.2.1.4 Tugendethik und Tugendepistemologie .............................. 205 Exkurs: Tugenden als Einstellungen zu intrinsischen Werten: Die

rekursive Theorie ................................................................. 211 1.2.2 Das gemeinsame Anliegen der neuen Tugendethik ............. 212 1.2.3 Der Rekurs auf eine christliche Tugendethik ...................... 216

ZWEITES KAPITEL: DER PERSONALISMUS EDITH STEINS .................................................... 231

2.1 Zur Entwicklungsgeschichte des Personbegriffs .............................. 232

2.2 Edith Stein im Kontext des personalistischen Denkens ihrer Zeit .... 248

2.3 Das Personverständnis Max Schelers und sein Einfluss auf Edith Stein ......................................................................................... 254 2.3.1 Das Wesen der Person im Menschen................................... 257 2.3.2 Liebe und Person – der Ordo amoris ................................... 262

2.4 Kontinuität und Wandel – das dynamische Element im Personbegriff Steins .......................................................................... 266 2.4.1 Steins Personbegriff in den phänomenologischen

Frühschriften ........................................................................ 266 2.4.1.1 Das personale Ich als Dynamisierung des reinen Ich .......... 268 2.4.1.2 Die personale Ich-Qualität als Seele .................................... 269 2.4.1.3 Der personale Ich-Kern der Seele ........................................ 271 2.4.1.4 Einfühlung und Intersubjektivität als

dynamisierendes Element .................................................... 273 2.4.2 Thomasische Einflüsse auf das Persondenken Steins .......... 274 2.4.3 Persondenken in Anknüpfung an die augustinische

Trinitätslehre ........................................................................ 278

INHALTSVERZEICHNIS 9

DRITTES KAPITEL: TUGENDETHISCHE GEGENSTÄNDLICHKEIT ALS SCHLÜSSEL- PROBLEM BEI EDITH STEIN ...................................................................... 285

3.1 Der Husserlsche Gedanke der kinästhetischen Freiheit als tugendethisches Können ................................................................... 287 3.1.1 Das Husserlsche Intentionalitätsverständnis ........................ 287 3.1.1.1 Materie und Qualität als Strukturelemente des intentio-

nalen Aktes .......................................................................... 290 3.1.1.2 Die noematischen Gegebenheits- und Funktionsformen ..... 291 3.1.1.3 Intentionalität als zielgerichtetes Streben nach Wahrheit .... 293 3.1.2 Die Theorie der Horizontintentionalität und der

passiven Synthesis ............................................................... 294 3.1.3 Das reine Ich als Träger des Bewusstseinsaktes in seinem

Verhältnis zum personalen Ich ............................................ 299 3.1.4 Die Konstitution von Ding und Raum durch sinnliche

Wahrnehmung ..................................................................... 307 3.1.4.1 Der Leib als Wahrnehmungsorgan von Bewegungs-

empfindungen ...................................................................... 307 3.1.4.2 Die Dingwahrnehmung in der Dynamik des Innen-

und Außenhorizonts ............................................................. 308 3.1.4.3 Die Analyse der visuellen Wahrnehmung räumlicher

Gegenstände ......................................................................... 309 Exkurs: Zur Aktualität leibphänomenologischer Bezüge in der

Gehirn-Geist-Körper-Debatte .............................................. 315 3.1.5 Intersubjektivität als konstituierendes Moment von

Gegenständlichkeit und Objektivität ................................... 317

3.2 Zum Problem der Vollendung ethischer Gegenständlichkeit bei Edith Stein ................................................................................... 324 3.2.1 Ethische Gegenständlichkeit als intersubjektive

Konstitution ......................................................................... 325 3.2.2 Ethische Gegenständlichkeit in der Spannung zwischen

endlichem und ewigem Sein ................................................ 328 3.2.2.1 Convenire cum omni ente – wesenhaftes Sein .................... 330 3.2.2.2 Ethische Gegenständlichkeit als personhaft gedachte

Gegenständlichkeit .............................................................. 336

VIERTES KAPITEL: TUGENDETHISCHE IMPLIKATIONEN AM BEISPIEL DER KREUZES-WISSENSCHAFT .......................................................................................... 343

4.1 Tugendethische Inspirationen durch Johannes vom Kreuz ............... 345

INHALTSVERZEICHNIS 10

4.1.1 Die Dunkle Nacht der Sinne ................................................ 348 4.1.2 Die Dunkle Nacht des Geistes ............................................. 350 4.1.2.1 Die geistigen Kräfte der Seele ............................................. 350 4.1.2.2 Die aktive Nacht des Geistes ............................................... 352 4.1.2.3 Die passive Nacht des Geistes ............................................. 355 4.1.3 Die Herrlichkeit der Auferstehung ...................................... 357

4.2 Die Lehre der Tugenden bei Johannes vom Kreuz ........................... 359 4.2.1 Der augustinische Gedanke einer Abbildung der

göttlichen Trinität im Geist des Menschen .......................... 362 4.2.2 Das dreifarbige Tugendkleid der Seele ................................ 366 4.2.2.1 Glaube ................................................................................. 368 4.2.2.2 Hoffnung.............................................................................. 368 4.2.2.3 Liebe .................................................................................... 369 4.2.3 Demut und Starkmut ............................................................ 372

4.3 Geist und Person in ihrer ethischen Relevanz bei Edith Stein .......... 374 4.3.1 Der geistige Urgrund der Seele ........................................... 380 4.3.2 Freier Selbststand und Kommunikationsfähigkeit

der Person ............................................................................ 381 4.3.3 Der tugendethische Ansatz Edith Steins im Spiegel

ihrer theologischen Anthropologie ...................................... 384 Exkurs: Die Rezeption der Lehre von der hypostatischen Union

bei Edith Stein ..................................................................... 390 4.3.4 Die wechselseitige personale Hingabe als tugend-

ethische Anwendung der Idiomenkommunikation .............. 404 4.3.5 Der tugendethische Gehalt einer dreistufigen

Konnaturalität ...................................................................... 414

ZUSAMMENFASSENDER AUSBLICK ....................................................... 421

Anhang 1: Transkribiertes Exzerpt Steins zu Augustinus – De Trinitate ... 425

Anhang 2: Transkribiertes Exzerpt Steins zu Wilhelm Schneider – Die Quaestiones disputatae de Veritate des hl. Thomas von Aquin in ihrer philosophiegeschichtlichen Beziehung zu Augustinus. 449

Anhang 3: Transkribiertes Exzerpt Steins zu Augustinus – De libero arbitrio ....................................................................................... 451

Anhang 4: Transkribiertes Exzerpt Steins zu Augustinus – De gratia et libero arbitrio ........................................................................ 466

INHALTSVERZEICHNIS 11

Anhang 5: Transkribiertes Exzerpt Steins: La Philosophie Chrétienne. Juvisy, 11 septembre 1933, Société Thomiste (Hg.), in: JEST 2, Le Saulchoir/Kain 1933 ............................................... 471

Anhang 6: Handschriftlicher Notizzettel Steins: Josef Pieper – Die ontische Grundlage des Sittlichen ............................................. 480

VERZEICHNIS DER VERWENDETEN ABKÜRZUNGEN ........................... 483

A Literarische Abkürzungen ................................................................. 483

B Allgemeine Abkürzungen ................................................................. 486

VERZEICHNIS DER ZITIERTEN LITERATUR ............................................ 489

A Die Werke Edith Steins ..................................................................... 489

B Sekundärliteratur ............................................................................... 494

C Unveröffentlichte Schriften ............................................................... 560

PERSONENREGISTER ................................................................................ 561

VORWORT

Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2013/14 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Uni-versität Bonn als Dissertation im Fachbereich Moraltheologie angenommen. Sie wurde für den Druck geringfügig erweitert und um neueste Literatur er-gänzt.

Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Professor Dr. Gerhard Höver, der das Thema der Arbeit vorgeschlagen und mich für eine Auseinan-dersetzung mit der Philosophie Edith Steins begeistert hat. Seine Kenntnisse und Ratschläge haben diese Arbeit in den vergangenen Jahren vorangebracht. Aufrichtig danken möchte ich auch Herrn Privatdozent Dr. Hans-Gerd Angel für die Übernahme des Zweitgutachtens, Herrn Dr. Ulrich Günzel für alle Ermutigung sowie seine unermüdliche Bereitschaft zum Korrekturlesen, Herrn Dr. Markus Hofmann für seine wertvollen Anmerkungen und meinem Onkel, Herrn Bernd Post, für die unverzichtbare Mithilfe bei der Erstellung des Per-sonenregisters zu dieser Arbeit. Frau Nina Herms hat dankenswerterweise das Layout dieser Schrift an die Verlagsvorgaben angepasst.

Inhaltlich hätte die Dissertation in der vorliegenden Form nicht erscheinen können ohne die Unterstützung der ehemaligen Archivarin im Edith-Stein-Archiv Köln, Sr. Maria Amata Neyer OCD, die mir mit größtem Vertrauen über einen längeren Zeitraum hinweg das Archiv für eine intensive For-schungsarbeit geöffnet und somit die Entdeckung handschriftlichen Quellen-materials Edith Steins, das diese Arbeit erschließt, ermöglicht hat. Dem Kölner Karmel bin ich für die mir erteilte Erlaubnis zur Publikation von bisher unveröffentlichten Exzerpten und Notizen Edith Steins verbunden. Meinen Eltern, Werner und Helga Bahne, kommt bei dieser Danksagung aufgrund ih-res Vertrauens und ihrer Unterstützung während der Promotionsjahre eine be-sondere Stelle zu. In Dankbarkeit bin ich schließlich auch dem Erzbistum Köln für die Freistellung zum Weiterstudium sowie für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses verbunden.

Düsseldorf, im Sommer 2014 Thomas Bahne

EINLEITUNG

DIE FRAGE NACH DEN GRUNDPRÄMISSEN EINER

PHILOSOPHISCHEN ETHIK BEI EDITH STEIN

Geprägt von metaethischen Fragestellungen hat sich die philosophische Dis-kussion im Anschluss an die antirealistischen Projektionstheorien John L. Mackies1 in den letzten drei Jahrzehnten intensiv mit der ontologischen, er-kenntnistheoretischen und semantischen Dimension von Werten befasst2 und im Zuge dieser Wertdebatte auch den Vertretern einer Phänomenologie und materialen Wertethik zu einer Relecture verholfen.3 Die Debatte ist noch aktu-ell und die Verständigung über Werte noch nicht an ihr Ende gelangt, gleich-wohl zeichnet sich ab: „Ohne die Welt und ihre Gegenstände scheinen Werter-fahrungen nicht möglich zu sein.“4

Im gleichen Zeitraum hat das ausgehende zwanzigste Jahrhundert unter dem Einfluss angelsächsischer Moralphilosophen eine Renaissance der Tu-gendethik erlebt.5 In die Schnittstellen dieser beiden moralphilosophischen

1 Vgl. J. L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, Harmondsworth 1977. – Da für Mackie Werte nicht zur Struktur der Wirklichkeit gehören, d. h. keine Wesenheiten sind, zu denen Handelnde in Relationen stehen können, baut er seine antirealistische und antiobjekti-vistische Normenbegründung in Affinität zur Moralphilosophie David Humes auf den emoti-onalen Bereich von Einzelindividuen auf. Vgl. zur Darstellung wie kritischen Auseinander-setzung von Irrtumstheorie und moralischem Antirealismus bei Mackie: W. Kellerwessel, Normenbegründung in der Analytischen Ethik, Würzburg 2003, 160-176.

2 Vgl. C. Demmerling, Schwerpunkt: Werte, Wertschätzung und Gefühle, in: DZPhil 61 (2013), 69 f.: „In vielfältigen Variationen wurde um und für den Realismus gestritten“ (ebd., 70). Unterschieden werden „drei grundsätzliche theoretische Optionen“: Für den „starken Re-alismus“ sind „Werte als ganz und gar von Subjekten unabhängige Eigenschaften anzusehen“ (ebd.), für den „schwachen Realismus“ sind sie „relationale Eigenschaften, die den Gegen-ständen zwar zukommen, aber durch uns erschlossen werden müssen“ (ebd.), während sie in Mackies antirealistischer Projektionstheorie „Projektionen von subjektiven Einstellungen“ (ebd., 69) sind. Vgl auch: Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 21999.

3 Vgl. I. Vendrell Ferran, Moralphänomenologie und gegenwärtige Wertphilosophie, in: DZPhil 61 (2013), 73-88.

4 Demmerling (2013), 70; vgl. auch: F. Rese/ D. Espinet/ M. Steinmann (Hg.), Gegenständ-lichkeit und Objektivität, Tübingen 2011; vgl. G. Fröhlich, Form und Wert, Würzburg 2011, 376-396 (Die Frage nach der Gegenständlichkeit und der Objektivität der Werte).

5 Vgl. D. Borchers, Die neue Tugendethik – Schritt zurück im Zorn? Eine Kontroverse in der Analytischen Philosophie, Paderborn 2001; V. Weber, Tugendethik und Kommunitarismus. Individualität, Universalisierung, Moralische Dilemmata, Würzburg 2002; W. Wolbert, Ge-

EINLEITUNG 16

Gegenwartsdebatten hinein sollen in dieser Arbeit mit einer Anfrage an die Phänomenologie Edith Steins neue Impulse für eine christliche Tugendethik gewonnen werden. Eine Auseinandersetzung mit der Ethik Edith Steins soll versucht werden. Das ist ungewöhnlich, da eine Fülle von Fachliteratur die Husserl-Schülerin bisher als Religionsphilosophin, Pädagogin und Mystikerin6 behandelt, deren philosophische Schwerpunkte in der Erkenntnistheorie und Ontologie, aber auch in der Anthropologie liegen. Zunehmend wird ihre origi-när philosophische Leistung erkannt, wird sie als „Gründungsfigur“ der Leib-phänomenologie herausgestellt.7 Jedoch: Edith Stein, eine Ethikerin? Wo es um die phänomenologische Ethik geht, fällt ihr Name nicht. Max Scheler, Dietrich von Hildebrand, Alexander Pfänder, Nicolai Hartmann und Hans Reiner halten dieses Feld besetzt.8 Zu Unrecht, wie diese Arbeit zeigen will. Im ersten Teil soll, im Anschluss an eine philosophische Biographie Steins, der breite ethikwissenschaftliche Kontext offen gelegt werden, in dem sich das philosophische Denken Steins bewegt, bevor diese Arbeit im zweiten Teil nach den Grundprämissen einer philosophischen und theologischen Ethik bei Edith Stein fragt. Die Inspiration für diese Frage soll sie durch die Konzeption einer Moraltheologie erhalten, in der Bernhard Häring neben der Freiheit des Menschen das Tun der Wahrheit als entscheidende Perspektive der Moraltheo-logie formuliert hat.9 Zu den Fundamenten seiner Morallehre gehört die ver-antwortungsfähige und schöpferische Person, deren schöpferische Mitverant-wortung „eine dialogische Gesamtschau des Daseins und Mitseins“ voraus-

wissen und Verantwortung, Fribourg 2008, 9-57 (Zur ethischen Normierungstheorie und zur Wiederkehr der Tugendethik).

6 G. Benker, (Art.) Karmeliten, Karmelitinnen, in: LThK3, Bd. 5, Freiburg u. a. 1996, 1253. 7 Vgl. R. Raschke, Edith Stein – ander(e)s sehen, in: H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R.

Sepp (Hg.), Europa und seine Anderen, Dresden 2010, 35; vgl. auch: B. Beckmann-Zöller, Viele Anknüpfungspunkte. Was heute von Edith Stein zu lernen ist, in: HerKorr 66 (2012), 522: „Ihr wichtigster Beitrag zur gegenwärtigen Philosophie ist sicher die Stellung, die in ih-rer Auffassung von Konstitution der Leib der Person für die Intersubjektivität einnimmt. Nach dem ‚Linguistic Turn‘ spricht man in der Philosophie vom ‚Body Turn‘, für den man bei Stein fündig wird hinsichtlich der systematischen Stellung von Leiblichkeit und Gemüts-sphäre für die Einfühlung und damit für die Konstitution der Person überhaupt, des Ichs und des (menschlichen beziehungsweise göttlichen) Anderen. Das Individuum findet sich einge-bunden in die Kausalität der Natur, zeigt sich ihr gegenüber durch ihren Geist wiederum rela-tiv frei – für die Welt des Objektiven wie auch für die Welt des Intersubjektiven, der Gemein-schaft und damit für Wissenschaft – und ist zugleich aufnahmefähig für religiöse Erlebnisse ‚jenseits des Mechanismus der individuellen Person.‘ In diesen großen sachlichen Span-nungsbögen liegt der Gewinn einer umfassenden phänomenologischen Anthropologie und Ethik im Anschluss an Edith Stein.“

8 Vgl. G. Fröhlich, Form und Wert, Würzburg 2011, 17 f. Anm. 20. Der Autor versucht die „zahllosen Versuche über eine Wertphilosophie und die Rezeptionen der Wertethiken im An-schluss an Husserl und Scheler“ (ebd.) zu listen, benennt ohne Berücksichtigung der „neueren Ansätze“ nicht weniger als 30 Ethiker, ohne jedoch Edith Stein zu erwähnen.

9 B. Häring, Frei in Christus. Moraltheologie für die Praxis des christlichen Lebens. Bd. II: Der Weg des Menschen zur Wahrheit und Liebe, Freiburg/ Basel/ Wien 21980.

EINLEITUNG 17

setzt und einen „dialogischen Charakter der Person“10 verlangt, was nach Hä-ring auch im Verständnis von Glaube, Hoffnung, Liebe und Anbetung zum Ausdruck kommen muss.11 In Anlehnung an die Wertethiker, die aus der Schule Edmund Husserls hervorgegangen sind, und zu denen Häring auch Stein zählt12, schenkt er hinsichtlich der Formung der verantwortlichen und schöpferischen Persönlichkeit den Gesinnungen, dem Wertfühlen und dem Wertkennen besondere Aufmerksamkeit13, und greift mit Individuum und Ge-meinschaft14 auf eine frühe Schrift Steins zurück.15 Bereits in seiner frühen Moraltheologie Das Gesetz Christi16 hatte Häring sich neben Max Scheler auch auf Edith Stein gestützt, um die „Individualität, Person und Gemein-schaft als sittliche Wertträger“ zu analysieren.17 Von großer Bedeutung er-scheint ferner, dass Häring die Erkenntnis des sittlich Guten, die sowohl durch das „Gesetzeswissen“ wie auch mittels der „Werterkenntnis“ gewonnen wird, aus einer Art Konnaturalität heraus betrachtet, die zwischen dem sittlich Guten und der menschlichen Natur besteht. Diese liegt jedenfalls der dritten und vierten Stufe der Werterkenntnis zugrunde: einerseits dem „Wertfühlen“ und andererseits dem „Wertkennen aus innerster Verwandtschaft mit dem Gu-ten“.18 Inwieweit dabei Steins Philosophie in Anlehnung an sowie in der Wei-

10 B. Häring, Frei in Christus, Bd. I: Das Fundament aus Schrift und Tradition, Freiburg/ Basel/ Wien 31979, 102.

11 Vgl. ebd.: „Mag man den Glauben auch als eine Qualität der Seele beschreiben, viel mehr muss er doch dialogisch gesehen werden: von der Selbstoffenbarung Gottes her, von seinem schöpferischen Wort und Anspruch und vom Eingehen des Menschen auf die befreiende Wahrheit, die uns von Gott her ergreift. Christliche Hoffnung blickt vor allem auf Gottes Treue, auf seine Verheißung, auf sein gnädiges Mit-uns-Sein und nur im Blick darauf auf die vertrauensvolle hingebende Antwort des Menschen. Die Tugend der göttlichen Liebe verste-hen wir als jene mächtige Gegenwart der Liebe Gottes in uns und für uns, die uns befähigt, diese Liebe dankbar zu empfangen, in ihr zu bleiben, Gott so zu lieben, dass wir in Christus Jesus Mitliebende mit Gott werden. Die Anbetung sehen wir im Handeln Gottes, der seinen Namen verherrlicht, indem er uns zu jener anbetenden Liebe befähigt, die uns auch frei macht für unseren Mitmenschen und unseren Weltauftrag.“

12 Vgl. ebd., 105. 13 Vgl. ebd.; vgl. auch 358: „Mit dem Hauptstrom der christlichen Überlieferung glaube ich fest

an einen Wertekosmos mit einer erkennbaren Werthierarchie und dass deshalb im Konfliktfall kein Prinzip, das das Opfer eines höheren oder dringlicheren Wertes verlangen würde, als ab-solut gelten kann. [...] Die von Max Scheler erarbeitete materiale Wertethik ist eine Anleitung zur Unterscheidung der Werthöhe und Wertdringlichkeit. Gemäß diesen beiden Gesichts-punkten sind Wertkonflikte objektiv richtig zu lösen.“

14 E. Stein, Individuum und Gemeinschaft, in: dies., Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften, in: JPPF, Bd. V, E. Husserl (Hg.), Halle 1922, 1-283.

15 Vgl. Häring (31979), 94 und 124. 16 B. Häring, Das Gesetz Christi. Moraltheologie, Freiburg i. Br. 21955. 17 Ebd., 115-126. Auch hier ist es Steins Schrift Individuum und Gemeinschaft, die von Häring

herangezogen wird. 18 Vgl. ebd., 168: „Man sieht und erlebt den Wert nicht nur in der konkreten Situation, sondern

man hat eine überaktuelle Beziehung und Berührung mit ihm als innerste Verwandtschaft.“ –

EINLEITUNG 18

terführung des Thomas von Aquin diesen Konnaturalitätsgedanken für die Ethik geprägt hat, bzw. ihn auch in der Zukunft prägen könnte, soll im dritten und vierten Kapitel des zweiten Teils dieser Arbeit ausgeführt werden.

Nur kurz angemerkt sei, dass bereits vor Häring auch Theodor Steinbüchel in seinem zweibändigen Werk Die philosophische Grundlegung der katholi-schen Sittenlehre19 auf grundlegende Einsichten Steins zur philosophischen Ethik rekurriert hat. Insbesondere hinsichtlich ihrer Personlehre und der Seinsordnung von Gemeinschaft und Person knüpfte er an ihre frühen Werke an20, auf die ihn offensichtlich sein philosophischer Lehrer Clemens Baeum-ker aufmerksam machen konnte.21

Auf dem Gebiet evangelischer Systematischer Theologie und Ethik erwog Dietrich Bonhoeffer (1906-1945)22 mit seiner Dissertation Sanctorum Com-

Zum Wertfühlen schreibt Häring, dass es erst vollkommen ist, „wenn man sich der Liebes-sprache des Wertes ganz hingibt, wenn die Haltung des Erkennenden nach Möglichkeit adä-quat ist mit dem Wesenszug des Guten. Das Wesen des Guten ist ja letztlich seine Liebes-sprache.“ – Den Konnaturalitätsgedanken stützt Häring auf Scheler: „Es gibt mehr Menschen, die Gott auf gemeinsame Weise in der Liebe erfassen, als es Menschen gibt, die auf gemein-same Art ihn begreifen“ (Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle 31927, 305), sowie auf Stein: „Conditio sine qua non des vollen Werterlebnisses ist also die anschauliche Gegebenheit. Aber sie reicht nicht aus, um es zu gewährleisten; sondern eine in-nere Zuständigkeit des Subjektes muss hinzukommen, um die Entgegennahme des Wertes zu ermöglichen“ (Individuum und Gemeinschaft, in: JPPF, Bd. V, Halle 1922, 145). – Vgl. auch 169: „[...] das Wertfühlen und Wertkennen im typischen Sinn ist dadurch gekennzeichnet, dass darin schon die innere Beteiligung des liebenden Willens mitschwingt.“

19 Th. Steinbüchel, Die philosophische Grundlegung der katholischen Sittenlehre. 1. und 2. Halbband, in: F. Tillmann (Hg.), Handbuch der katholischen Sittenlehre, Bd. 1, Düsseldorf 1938.

20 Vgl. ebd., 1. Teilband, 337-410: Kpt. 6, § 6 (Person und Persönlichkeit), insbes. 354 f., § 7 (Die Freiheit des persönlichen Wollens), insbes. 387 u. 391; 2. Teilband, 159-178: Kpt. 11, § 4 (Die Seinsordnung von Gemeinschaft und Person und ihr sittlicher Anspruch an die Persön-lichkeit), insbes. 160. – Da Endliches und ewiges Sein erst 1950 erschien, konnte Steinbüchel lediglich auf die Schriften Psychische Kausalität sowie Individuum und Gemeinschaft zu-rückgreifen (erschienen in: JPPF Bd. V, Halle 1922, 1-283). Vgl. auch: Th. Steinbüchel, Christliche Lebenshaltungen in der Krisis der Zeit und des Menschen, Frankfurt a. M. 1949, wo die posthum ohne „die zahlreichen Belegstellen“ (J. M. Nielsen, Vorwort, VIII) veröffent-lichten Vorlesungen auch an den Personalismus Steins anknüpfen (insbes. die Vorlesungen 4, 5 u. 13).

21 Zwar gilt der 1888 in Köln geborene Steinbüchel, der in Köln das Marzellengymnasium be-suchte und in Bonn katholische Theologie studierte, weithin als Schüler Max Schelers, seine philosophische Promotion erfolgte jedoch 1911 bei C. Baeumker (1853-1949) in Straßburg mit einer Arbeit über Thomas von Aquin. 1920 wurde er bei F. Tillmann im Fachbereich Mo-raltheologie an der Universität Bonn promoviert, wo er sich 1922 auch habilitierte und bis 1926 lehrte. Es folgten Lehraufträge von 1926 bis 1935 für Philosophie in Gießen sowie für Moraltheologie bis 1939 in München und von 1941 bis zu seinem Tode 1949 in Tübingen.

22 Zu den biographischen und theologischen Parallelen bei Stein und Bonhoeffer vgl. H. Klue-ting, Edith Stein und Dietrich Bonhoeffer. Zwei Wege in der Nachfolge Christi, Leutesdorf 2004.

EINLEITUNG 19

munio23 grundlegende Einsichten Steins zur philosophischen Ethik24, wobei er – in Abgrenzung zum Idealismus – den Begriff der christlichen Gemeinschaft konstitutiv aus dem „christlichen Personbegriff“ herleitet25, um später in sei-ner theologischen Ethik – einer „Ethik als Gestaltung“26 – eine „allgemeine Phänomenologie des Ethischen“27 grundzulegen. Seine Habilitationsschrift Akt und Sein28, die 1931 entstand, berührt Steins ontologisches Denken in Endli-ches und ewiges Sein. Das Prinzip der analogia entis, das er bei Thomas von Aquin und Przywara findet, und das ihn zu einer Auslegung des „Seins in Christus“, dem Sein in der Wahrheit inspirierte, hätte er schließlich auch bei Edith Stein finden können.29

Gleichsam als weitere Frucht einer philosophischen Ethik Steins wird man ferner den Lubliner Moralphilosophen Karol Wojtyła (1920-2005) betrachten

23 D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, Berlin/ Frankfurt a. O. 1930. – Die Dissertation Bonhoeffers erfolgte bereits 1927.

24 Dabei zieht Bonhoeffer vor allem Steins phänomenologische Frühschrift Individuum und Gemeinschaft heran (insbes. auf den Seiten 1-53), während er ihre Arbeit zur Einfühlung nicht zu kennen scheint. Vgl. dazu: D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio (Berlin 1930), 3 u. 34. – Wie grundlegend er dieser Steinschen Schrift in seiner Dissertationsarbeit folgt, zeigt sich, wenn er mit ihr gegen Scheler die sozialen Gemeinschaften typologisiert: „Mitfühlen, Mitwollen, Mitverantwortlichsein sind die Kräfte innersten Zusammenhaltes“ (ebd., 44). In der von J. von Soosten herausgegebenen Ausgabe von 1986 findet sich die Anm.: „Der Sche-lerʼsche Satz, jeder sei mitverantwortlich, ist nicht haltbar. Mitverantwortlichkeit ist fundiert auf Selbstverantwortlichkeit. Vgl. hierzu E. Stein, a.a.O. S. 250 ff.“ Vgl. Sanctorum Commu-nio, München 1986, 58 u. 233.

25 Vgl. G. L. Müller, Für andere da, Paderborn 1980, 87-97: „Indem der Mensch durch die be-gegnende andere Person seine Grenze erfährt, findet er sich eben dadurch in seiner eigenen Personalität bestätigt. Von der Mitte der eigenen Person her ermöglicht sich erst Gottes- und Menschengemeinschaft“ (ebd., 95). – Zum „christlichen Personbegriff“ siehe Sanctorum Communio (5-21 u. 23); vgl. G. L. Müller, a.a.O., 193-205 (Formaler Vorentwurf der Kir-chenstruktur: Person im Gemeinschaftsbezug).

26 D. Bonhoeffer, Ethik. Zusammengestellt und herausgegeben von Eberhard Bethge, München 91981, 93: „Nicht, was ein für allemal gut sei, kann und soll gesagt werden, sondern wie Christus unter uns heute und hier Gestalt gewinne“ (ebd., 91). – Bonhoeffer intendiert in sei-ner Ethik eine Gleichgestaltung der Welt mit der Gestalt Christi, wodurch sich sowohl das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, wie auch zu seinen Mitmenschen verändert: „Der Ur-sprung der christlichen Ethik ist nicht die Wirklichkeit des eigenen Ich, nicht die Wirklichkeit der Welt, aber auch nicht die Wirklichkeit der Normen und Werte, sondern die Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung in Jesus Christus“ (ebd., 202). „Die Frage nach dem Guten wird zur Frage nach dem Teilhaben an der in Christus offenbarten Gotteswirklichkeit“ (ebd., 203).

27 Ebd., 291. Bonhoeffer erarbeitete seine Ethik von September/ Oktober 1940 bis 1943, nach-dem er im August 1936 aus politischen Gründen seine Lehrbefugnis an der Universität verlo-ren hatte. Von 1929 bis 1931 war er Assistent (bei W. Lütgert), von 1931 bis 1933 Privatdo-zent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Berlin.

28 D. Bonhoeffer, Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, München 1956.

29 Hätte Bonhoeffer Steins Spätwerke kennen gelernt, so wäre das folgende Urteil in Akt und Sein vermutlich weniger scharf ausgefallen: „Die zutiefst auf Ontologie ausgehende Phäno-menologie der Husserlschen Schule steht noch irgendwie im Banne des Idealismus“ (39).

EINLEITUNG 20

dürfen. Wojtyła lernte ihre Werke bereits früh kennen und rezipierte sie in sei-nen eigenen Arbeiten. Auch wenn er sie nirgends direkt zitiert, wird seine geistige Nähe zu Stein evident.30 Sein Hauptwerk Person und Tat31, das we-sentlich in der Konzilsaula während der Sitzungen des Zweiten Vatikanischen Konzils entstand32 und 1969 erschien, ist sichtbar von Edith Stein inspiriert. Mit Person und Tat wird die Beziehung zwischen der objektiven Wahrheit der Dinge an sich und der subjektiven Erfahrung dieser Wahrheit durch den Men-schen als Person dargestellt. Edith Stein hat Wojtyła dafür mit ihrer Schrift Endliches und ewiges Sein Pate gestanden. Die Wahrheitsfrage, die sich wie ein roter Faden durch das Leben und die Werke Steins zieht, bestimmte auch das Denken Wojtyłas, als Universitätslehrer wie als Papst. Darauf hat der Phi-losoph und Ethikforscher an der Universität Venedig, Vittorio Possenti, auf-merksam gemacht.33 Überhaupt markiert die Begegnung mit der phänomeno-logischen Ethik eine entscheidende geistige Wende im Denken Karol Wojtyłas, der sich zunächst von der Neuscholastik (R. Garrigou-Lagrange) lei-ten ließ und später „beide Ansätze zusammenbrachte“.34 Dass Wojtyłas syn-

30 Vgl. C. Reimüller, Ein Bild, mit roten Gladiolen geschmückt, in: DT vom 13. Oktober 1998: „Man darf die Vermutung äußern, dass Johannes Paul II. mit Edith Stein eine Selige heiligge-sprochen hat, die ihm geistig sehr nahe stand. Denn genau wie sie hat er sich in seinem Studi-um vor allem mit der Kreuzestheologie [...] und mit der praktischen Philosophie von Max Scheler auseinandergesetzt. Als Beispiel dafür, dass Wissenschaft und Glaube einander er-gänzen können, wird sie sicher auch seine neue Enzyklika Glaube und Vernunft inspiriert ha-ben, mit deren Veröffentlichung möglicherweise noch in dieser Woche gerechnet wird.“

31 K. Wojtyła, Person und Tat, Freiburg/ Basel/ Wien 1981. 32 G. Weigel, Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. Eine Biographie, Paderborn/ München u.

a. 2002, 180. 33 Vgl. V. Possenti, Gespräche auf dem Flughafen Malpensa, in: W. Bartoszewski (Hg.), Die

Kraft des Augenblicks, Freiburg/ Basel/ Wien 2004, 63: In Fides et ratio werden E. Stein und andere „als mutige westliche Denker auf der Suche nach einem fruchtbaren Verhältnis von Philosophie und Wort Gottes genannt [...], als bedeutende Erforscher der Wahrheit und ihrer Verankerung in der Beziehung zum Glauben. Die Frage der Wahrheit ist zentral für das Pon-tifikat Johannes Paul II., und vielleicht ist Fides et ratio in einer ganz besonderen Weise seine Enzyklika.“

34 Weigel (2002), 134. Zur philosophischen Wende Wojtyłas vgl. ebd., 131-150. Wojtyła las in der Vorbereitung seiner Habilitationsschrift Bewertung der Möglichkeit, eine christliche Ethik auf der Grundlage des Systems von Max Scheler zu errichten zunächst die Werke Schelers und übersetzte seine Arbeit Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik ins Polnische. Seine Habilitationsarbeit, angeregt durch I. Różycki, verteidigte Wojtyła 1953 vor der theologischen Fakultät der Jagiellonischen Universität in Krakau (A. Usowicz, W. Wi-cher) und dem Lubliner Professor S. Świeżawski. Im Herbst 1954 begann Wojtyła seine Ethikvorlesungen an der katholischen Universität Lublin, wo er von 1956 bis 1978 Ordinarius für Ethik war. Fünfzig Jahre später kann Wojtyła bilanzieren: „In meinem Lesen und Studie-ren habe ich mich immer bemüht, die Fragen des Glaubens, des Geistes und des Herzens harmonisch miteinander zu vereinen. Es sind nämlich keine getrennten Gebiete. Jedes von ihnen durchdringt und belebt die anderen. In dieser gegenseitigen Durchdringung von Glaube, Geist und Herz kommt ein besonderer Einfluss dem Staunen zu – einem Staunen über das Wunder der Person, über die Ebenbildlichkeit des Menschen mit dem einen und dreifaltigen

EINLEITUNG 21

thetischen Ansatz dabei nicht nur der ethische Personalismus Max Schelers, den er in seiner Habilitationsschrift Bewertung der Möglichkeit, eine christli-che Ethik auf der Grundlage des Systems von Max Scheler zu errichten35 kri-tisch rezipierte und in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen behandelte, beeinflusst hat, sondern in gleicher Weise der Denkansatz Edith Steins, fand bisher nahezu keinen wissenschaftlichen Niederschlag.36 Neben einigen bio-

Gott, einem Staunen über die so tiefe Beziehung zwischen Liebe und Wahrheit, über das Ge-heimnis der gegenseitigen Hingabe und das Leben, das daraus entspringt“ (Johannes Paul II., Auf, lasst uns gehen! Erinnerungen und Gedanken, Augsburg 2004, 104). Vgl. auch Weigel (2002), 142: „Selbsthingabe war in Wojtyłas personalistischer Ethik das oberste Gebot. Die-ses ‚Gesetz des Gebens‘ war, wie er philosophisch nachwies, der conditio humana einge-pflanzt [...] eine allgemeine moralische Forderung, die sich aus der Triebkraft der menschli-chen Person ergibt, die erst in der Beziehung zu anderen wirklich eine Person wird.“ – Zu Garrigou-Lagrange siehe: Johannes Paul II., Geschenk und Geheimnis, Augsburg 2004, 27 f.: „Ich lernte die Theologie sozusagen vom ‚Zentrum‘ einer großen theologischen Tradition her. Damals begann ich eine Arbeit über den hl. Johannes vom Kreuz zu schreiben, die ich dann unter der Leitung von Prof. Ignacy Różycki [...] fortsetzte. Abgeschlossen habe ich die Studie dann am Angelicum unter Anleitung von P. Prof. Garrigou-Lagrange.“ – Zur philosophischen Entwicklung Wojtyłas vgl. Johannes Paul II., Geschenk und Geheimnis (2004) 97 f.: „Frucht dieser Studien war die Doktorarbeit über den hl. Johannes vom Kreuz und dann die Habilita-tionsschrift über Max Scheler: speziell über den Beitrag, den sein phänomenologisch gepräg-tes ethisches System zum Aufbau der Moraltheologie leisten kann. Dieser Forschungsarbeit habe ich wirklich viel zu verdanken. In meine vorausgegangene aristotelisch-thomistische Ausbildung fügte sich so die phänomenologische Methode ein, was mir ermöglichte, zahlrei-che schöpferische Untersuchungen auf diesem Gebiet vorzunehmen. Ich denke vor allem an das Buch Person und Akt. Auf diese Weise reihte ich mich in die moderne Denkströmung des philosophischen Personalismus ein.“

35 K. Wojtyła, Über die Möglichkeit, eine christliche Ethik in Anlehnung an Max Scheler zu schaffen, in: K. Wojtyła (Johannes Paul II.), Primat des Geistes. Philosophische Schriften, J. Stroynowski (Hg.), Stuttgart-Degerloch 1980, 37-197. – Der Sammelband enthält fünf weite-re Schriften aus dem Zeitraum 1955 bis 1959, die sich mit Scheler befassen.

36 Ein erster charakteristischer Vergleich des Personbegriffs bei Wojtyła und Stein liegt jedoch vor: G. Kalinowski, Edith Stein et Karol Wojtyła sur la personne, in: RPL 82 (1984), 545-561; L. Garcia, The Primacy of Persons: Edith Stein and Pope John Paul II., in: Logos 1/2 (1997), 90-99. – Ein gemeinsamer anthropologischer Ansatz Steins und Wojtyłas, der im Per-sonalitätsprinzip gründet, bringt ein nahezu identisches gesellschafts- und arbeitsmarktrele-vantes Konzept beider Philosophen hervor, das K. Westerhorstmann in ihrer Dissertationsar-beit anhand des Arbeitsbegriffs und der Frauenberufstätigkeit mit Blick auf die Enzyklika Laborem exercens untersucht hat. Vgl. K. Westerhorstmann, Selbstverwirklichung und Pro-Existenz, Paderborn/ München u. a. 2004, 352-358. – Ganz anders hingegen ist Schelers Ein-fluss ausführlich dokumentiert. Vgl. etwa: H. Schmidinger, Max Scheler (1874-1928) und sein Einfluss auf das katholische Denken, in: E. Coreth u. a. (Hg.), Christliche Philosophie, Bd. 3 (1990), 89-111: Wojtyła übernimmt „in seinen eigenen phänomenologischen Realismus doch grundlegende Positionen Schelers. Und gerade diese Positionen sind es, die bis in seine pastorale Tätigkeit als Bischof und bis in sein Lehramt als Papst hinein wirksam geblieben sind. [...] Gemeint ist die Überzeugung, dass es so etwas wie untrügliche und evidente Ein-sichten in sittliche Werte gibt, dass diesen menschlichen Einsichten eine überzeitliche, aprio-risch zugängliche Werthierarchie entspricht, dass die Spitze sowie der ermöglichende Grund dieser Hierarchie Gott in Person ist und dass schließlich Wahrheit durch eine intuitive Schau des Gegebenen erkennbar und beanspruchbar wird.“

EINLEITUNG 22

graphischen Parallelen, die sich zwischen Wojtyła und Stein aufzeigen las-sen37, insbesondere beider theologische Auseinandersetzung mit dem hl. Jo-hannes vom Kreuz, spielte bisher lediglich der Hinweis eine Rolle, dass Jo-hannes Paul II. bereits als Erzbischof von Krakau seinen Philosophenkollegen Roman Ingarden animierte, am 6. April 1968 einen Vortrag Über die philoso-phischen Forschungen Edith Steins38 zu halten. Er selbst bekannte jedoch im Gespräch mit dem Philosophen Balduin Schwarz: „Es vergeht kein Tag, dass ich sie nicht anrufe.“39 Gleichfalls sind seine Aussagen über Edith Stein doku-mentiert, die er als Pontifex ab dem Jahre 1978 gemacht hat.40 Schließlich knüpfte er in seinen Lebenserinnerungen an „die Lebensgeschichte der großen Denkerin der Husserl-Schule“41 an. Auf die Bedeutung ihrer „sehr wichtige[n] philosophische[n] Werke“42 hatte er bereits zuvor im Rahmen einer Ansprache an die Teilnehmer eines Kolloquiums zum Thema „Aufklärung heute“ am 10. August 1996 in Castel Gandolfo hingewiesen. Wenn Karol Wojtyła später selbst auf die Wurzeln seines ethischen Denkens verweist43, nachdem er Edith Stein bereits zuvor in seiner Enzyklika Fides et ratio44 exemplarisch für eine

37 Vgl. K. Haarlammert, Johannes vom Kreuz stand am Anfang, in: K. Haarlammert (Hg.), Edith Stein – Leben im Zeichen des Kreuzes, Speyer 1987, 45-52.

38 R. Ingarden, Über die philosophischen Forschungen Edith Steins, in: FZPhTh 26 (1979), 456-480.

39 Zitiert nach: T. Wieland, Edith Stein – bald eine Volksheilige?, in: KNA (150/5902/98) vom 16. Juni 1998.

40 Aussagen Johannes Pauls II. über Edith Stein, die er anlässlich seines zweiten Deutschland-besuchs machte, sind dokumentiert: Johannes Paul II., Popeʼs Remarks about Edith Stein, in: J. Sullivan (Hg.), CarmSt. Edith Stein Symposium, Washington DC 1987, 295-309. Siehe auch die Veröffentlichungen in: Der Apostolische Stuhl (AS) aus den Jahren 1982 bis 1998. So nennt er sie am 1. Juni 1997 anlässlich des Eucharistischen Kongresses in Breslau eine „große Glaubenszeugin“. Vgl. dazu: Johannes Paul II., Eucharistie verpflichtet zum Dienst am Menschen, in: AS 1997, 274.

41 Johannes Paul II., Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahr-tausenden, Augsburg 2005, 35.

42 Johannes Paul II., Erleuchtung – Gaben des Geistes – Aufklärung. Ansprache an die Teil-nehmer des Kolloquiums „Aufklärung heute“ in Castel Gandolfo am 10. August, in: AS 1996, 769.

43 Johannes Paul II. (K. Wojtyła), Auf, lasst uns gehen (2004), 98: „Mein persönlicher philoso-phischer Standort bewegt sich sozusagen zwischen zwei Polen: zwischen dem aristotelischen Thomismus und der Phänomenologie. In besonderer Weise interessierte mich das Gedanken-gut Edith Steins, einer außergewöhnlichen Persönlichkeit [...]. Ihre Philosophie interessierte mich, und ich las ihre Schriften, besonders Endliches und ewiges Sein.“ Vgl. ebd., 102: „Es gab also zwei Etappen in meinem intellektuellen Werdegang: Die erste bestand in dem Über-gang von der literarischen Denkweise zur Metaphysik; die zweite führte mich von der Meta-physik zur Phänomenologie. Das war meine wissenschaftliche ‚Werkbank‘.“

44 Johannes Paul II. (K. Wojtyła), Fides et ratio. Enzyklika an die Bischöfe der katholischen Kirche über das Verhältnis von Glaube und Vernunft (14. September 1998), Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Bonn 1998. – Über die grundlegenden Parallelen, die in Fides et ratio und den Schriften Steins vorhanden sind vgl. V. Ranff, Edith Stein begegnen, Augsburg 2004, 135-142.

EINLEITUNG 23

christliche Wahrheitssuche herausgestellt hatte, die sich der geoffenbarten Wahrheit unter Respektierung der menschlichen Suche nach der Wahrheit und der ihm eigenen Gesetzen der Philosophie verpflichtet weiß, darf dies zum ei-nen als Beleg für die zentrale Rolle, die Stein in der christlichen Philosophie Wojtyłas zukommt, verstanden werden. Darüber hinaus fällt aber auch ein Schlaglicht auf die genuinen ethischen Ansätze, die in Steins Philosophie ent-halten sind. Sie sollen in dieser Arbeit untersucht und entfaltet werden.

Von den zeitgenössischen Moraltheologen hat namentlich Andreas Laun mit seiner Dissertationsschrift Die naturrechtliche Begründung der Ethik in der neueren katholischen Moraltheologie – 1973 erschienen – auf Edith Steins Hauptwerk Endliches und ewiges Sein zurückgegriffen, um eine Ableitung der Ethik aus der Metaphysik des Seins zu begründen.45 Ein Gedanke, den Bern-hard Augustin dreißig Jahre später mit seiner Dissertationsschrift Ethische Elemente in der Anthropologie Edith Steins46 aufgegriffen und modifiziert hat, indem er aus der Personlehre Steins eine allgemeine Wertlehre (Axiologie) und Ethik abzuleiten versuchte. Das Sollen des Handelns ragt aus dem Sein der Person auf. So konzentriert Augustin seine Untersuchungen auf das perso-nale Sein des Menschen, auf seine ethische Erfahrung, die durch das Fühlen, Wollen und Handeln konstituiert wird.47

Dahingegen erscheint der anschließende Versuch Thibault van den Driessches in L’altérité, fondement de la personne humaine dans l’œuvre d’Edith Stein48, die Personlehre Steins, die er als konstantes Element in ihrer philosophischen Entwicklung auszumachen versucht, auf das Fundament der Alterität, auf das Verhältnis zum anderen zu begründen und in den Horizont Paul Ricoeurs (1913-2005) und Emmanuel Lévinas (1906-1995), die er jedoch kaum voneinander abzugrenzen vermag, zu stellen, bereits aufgrund dieser

45 A. Laun, Die naturrechtliche Begründung der Ethik in der neueren katholischen Moraltheolo-gie, Wien 1973, 44: „Das, was ein jedes Seiende unmittelbar erstrebt, ist sein eigenes Gut-sein: die Vollendung seines Was und die Hochstufe seines Seins [...]“ (Endliches und ewiges Sein, Freiburg i. Br. 1962, 294). Vgl. ebd., 240. – Launs Dissertation erfolgte 1973 bei Ste-phan H. Pfürtner, der von 1965 bis 1974 Ordinarius für Moraltheologie in Fribourg/Schweiz sowie von 1975 bis 1988 Prof. für Sozialethik an der Evangelischen Universität Marburg war.

46 B. Augustin, Ethische Elemente in der Anthropologie Edith Steins, Rom 2003. 47 Vgl. ebd.: „Ethische Elemente in der Anthropologie Steins zu studieren bedeutet, die Frage

des Seins und des Aufbaues der menschlichen Person, die Probleme der rechten Erkenntnis sowie die Vervollkommnung des Menschen durch sein freies Tun zu beleuchten“ (9). „Die Ethik Steins [...] beruht auf phänomenologischer Basis und behandelt als Kernfrage die Prob-leme des Wertens und die allgemeine Wertlehre (Axiologie) zum Aufbau der menschlichen Person“ (10). „Die für eine Beschreibung der Ethik Steins bedeutsamen Akte sind das Erken-nen, das Fühlen und das Wollen“ (267).

48 T. van den Driessche, L’altérité, fondement de la personne humaine dans l’œuvre d’Edith Stein, Leuven/ Paris/ Dudley 2008.

EINLEITUNG 24

problematischen Interpretationsfolie fragwürdig.49 Zwar nimmt seine Frage-stellung die ethischen Perspektiven der Philosophie Steins konstant in den Blick50, um sie jedoch letztlich in einem verfremdeten Kontext aufzulösen. So bleibt ihm der Zugang zu einer tugendethischen Gegenständlichkeit, wie Stein sie insbesondere in ihren späten Schriften grundgelegt hat, versperrt.

In einer jüngsten Dissertationsschrift Antropologia e morale nello sviluppo del pensiero di Edith Stein setzte sich zuletzt Mirjana Pinezić mit Steins Anth-ropologie und den darin angelegten ethischen Implikationen auseinander.51 Basierend auf der Beobachtung einer gewissen Analogie zwischen Person, Moral, Erkenntnis und Leben in den Schriften Steins, fokussiert Pinezić die Anthropologie Steins entsprechend ihrer biographischen wie philosophischen Entwicklung unter den Aspekten der Wahrheitssuche, des Freiheitsbegriffs und der Liebe. Das Fragen nach den kognitiven und ethischen Aspekten des Wahrheitsstrebens bei Edith Stein begleitete Pinezić anschließend auch im Rahmen ihres Lehrauftrages der Katholisch-Theologischen Fakultät Zagreb als Dozentin in Rijeka.52

49 Eine problematische Schlagseite erhält der Ansatz aufgrund seiner unkritisch vermittelten Verstehensfolie. Immerhin muss man doch Ricoeurs Ethik als eine kritisch-konstruktive Antwort auf Levinas verstehen. Die Ethik Steins interpretiert van den Driessche im Anschluss an Ricoeur als eine Dreipoligkeit von 1., 2. u. 3. Person-Perspektive. Vgl. dazu: T. van den Driessche (2008), 355-388. – Zu seinem Versuch, Steins Ethik auf der Matrix der phäno-menologischen Ethik Levinas zu projizieren, vgl. H.-B. Gerl-Falkovitz, „Von andersher zu beziehende Fülle“ (2010), wo die Autorin bei Stein und Levinas zwei kontradiktorische Ent-würfe nachzeichnet: „[…] sie als Denkerin des Seins, zwar im Rahmen ontologischer Diffe-renz, aber variiert als ontologisch-personale Relation zwischen endlichem und ewigem Sein; er in seinem unermüdlichen Versuch, über das Sein hinaus zu denken und es als Ursprung philosophischer Zielverfehlung (hamartia) […] offenzulegen“ (216). Nur sehr behutsam spricht Gerl-Falkovitz hier von einer „Annäherung der Aspekte“ (215): „Selbst wenn Stein und Levinas im Denken nicht unmittelbar aufeinander zu ‚übersetzen‘ sind – Ansatz und Transformation der Ontologie sind deutlich verschieden –, so hat doch Stein im Tod einge-holt, was Levinas als äußerstes Sich-Treffen-Lassen beschrieb: Substitution“ (226). – Er-schwerend kommt hinzu, dass der Autor sich nicht mit der deutschsprachigen Primär- und Sekundärliteratur zu Edith Stein auseinandergesetzt, sondern sich fast ausschließlich auf fran-zösische Übersetzungen und Zusammenfassungen gestützt hat.

50 Vgl. E. Peeters, (Rezension): Thibault van den Driessche (2008), in: ESJ 15 (2009), 206: „Zusammenfassend kann der Vf. deshalb im Schlussteil folgern, dass Steins gesamtem Den-ken das kathartische Bekenntnis zugrunde liegt: ‚Ich bin nicht ohne den/ das andere(n)‘ (586). Intersubjektivität und Axiologie (Lehre von den Werten), Einfühlung, Glaube und Vernunft erscheinen als ebenso viele Konkretisierungen dieser fundamentalen Öffnung auf den anderen bzw. das andere hin.“

51 M. Pinezić, Antropologia e morale nello sviluppo del pensiero di Edith Stein, Roma 2009. 52 Vgl. M. Pinezić, Seeking the Fullness of Truth in the Thought of Edith Stein. Summary (S.

40), in: dies., Traženje punine istine u misli Edith Stein, in: Obnovljeni život 67 (2012), 3, 329-340. Pinezić las 2011/2012 als Oberassistentin am Lehrstuhl für Moraltheologie ihr Dis-sertationsthema Anthropologie und Moral bei Edith Stein und bot die Seminare Würde der Frau bei Johannes Paul II. und Edith Stein sowie Die moralischen Aspekte des geistlichen Lebens an.

EINLEITUNG 25

Unsere Fragestellung sei daher noch einmal benannt: Lassen sich in den Schriften Edith Steins solcherart Knotenpunkte entdecken, die aus ihrer Philo-sophie sowohl originäre wie zugleich nachhaltige Anstöße für eine Tugend-ethik motivieren können? Bereits die einleitende Zusammenschau einiger in-spirierender Hinweise vermag die Fragestellung als berechtigt erscheinen las-sen. Zugleich öffnet sie das weite Feld, auf das sich der Autor auf der Suche nach einem belastbaren Fundament zur Beantwortung dieser Frage zu begeben gedenkt.

1. Die bleibende Aktualität der Philosophie Edith Steins

Warum lohnt sich, auch 70 Jahre nach dem Tod Edith Steins, eine Auseinan-dersetzung mit der einleitend aufgebauten Fragestellung? Worin besteht der ihrer Philosophie Aktualität verleihende Impetus ihres Lebens und Denkens? Ist Edith Stein gar auf dem Weg zur Kirchenlehrerin? Wie dereinst Papst Leo XIII. mit seiner Enzyklika Aeterni Patris53 vom 4. August 1879 den Wert der Philosophie des hl. Thomas von Aquin für den christlichen Glauben herausge-stellt hatte, so befasste sich sein Nachfolger auf dem Stuhle Petri, Johannes Paul II., am Ende des 20. Jahrhunderts ebenfalls mit den philosophischen Grundlagen des Christentums. Und in Fides et ratio betonte auch er die „blei-bende Neuheit des Denkens des hl. Thomas von Aquin“54 und stellte ihm na-mentlich die Philosophin Edith Stein zur Seite, die er unter einigen jüngeren Denkern anführt, in deren „mutiger Forschung“ sich die „fruchtbare Bezie-hung zwischen der Philosophie und dem Wort Gottes“ niederschlägt.55 Die

53 Leo XIII., Aeterni Patris. Enzyklika über die Erneuerung der Wissenschaft auf der Grundlage der philosophischen Prinzipien des heiligen Thomas von Aquin (4. August 1879).

54 Johannes Paul II., Fides et ratio, Nr. 43-44, 57-58, 74 und 78: „Die Absicht des Lehramtes war und ist es weiterhin zu zeigen, dass der hl. Thomas ein authentisches Vorbild für alle ist, die nach der Wahrheit suchen. Denn in seinem Denken haben der Anspruch der Vernunft und die Kraft des Glaubens zur höchsten Zusammenschau gefunden, zu der das Denken je gelangt ist. Er hat es verstanden, das radikal Neue, das die Offenbarung gebracht hat, zu verteidigen, ohne je den typischen Weg der Vernunft zu demütigen“ (Nr. 78).

55 Johannes Paul II., Fides et ratio, Nr. 74: „Den Beweis für die Fruchtbarkeit einer solchen Be-ziehung (zwischen Theologie und Philosophie, Anm. d. Verf.) liefert die persönliche Ge-schichte großer christlicher Theologen, die sich auch als große Philosophen auszeichneten und Schriften von so hohem spekulativem Wert hinterließen, dass sie mit Recht neben die Meister der antiken Philosophie gestellt werden können. Das gilt sowohl für die Kirchenväter, von denen wenigstens die Namen des hl. Gregor von Nazianz und des hl. Augustinus genannt seien, als auch für die mittelalterlichen Gelehrten mit dem großen Dreigestirn hl. Anselm, hl. Bonaventura und hl. Thomas von Aquin. Die fruchtbare Beziehung zwischen der Philosophie und dem Wort Gottes schlägt sich auch in der mutigen Forschung nieder, die von einigen jüngeren Denkern geleistet wurde. Unter ihnen möchte ich für den westlichen Bereich Per-sönlichkeiten nennen wie John Henry Newman, Antonio Rosmini, Jaques Maritain, Ètienne Gilson und Edith Stein. (...) Eines ist sicher: Die Beachtung des geistlichen Weges dieser

EINLEITUNG 26

Heiligsprechung Edith Steins war am 11. Oktober 1998 erfolgt, drei Tage vor der Veröffentlichung dieser Enzyklika. Nach der Promulgation von Fides et ratio vertraute Johannes Paul II. die Aufnahme dieses Schreibens öffentlich der Fürsprache Edith Steins, der „heiligen ‚Philosophin‘“ an. Er nannte sie zu-sammen mit der hl. Theresia von Lisieux, auf deren Status als Kirchenlehrerin er eigens hinwies.56 Zum Jahresschluss stellte er Stein alsdann in einer An-sprache vor den Mitarbeitern der Römischen Kurie als Zeugin der Wahrheit heraus:

In einer Welt, so gequält wie die, in der zu leben uns aufgegeben ist, erhebt sie sich vor uns, um uns aufzufordern, durch die enge Pforte der Unterscheidung und der Annahme des Kreuzes zu gehen und nie die Liebe von der Wahrheit zu trennen, um uns nicht der Gefahr der zerstörerischen Lüge auszusetzen.57

Diesen Gedanken führte er in seinen philosophischen Gesprächen Erinnerung und Identität fort: Erst durch die Wahrheit und durch die Liebe wird die ethi-sche Kategorie der Freiheit im System der Tugendethik verwirklicht. Hier kann sie sich gar in der Proexistenz, der Hingabe des Lebens an die anderen, manifestieren – ein Gedanke, den Johannes Paul II. insbesondere auf die christlichen Märtyrer des 20. Jahrhunderts deutete58, und den er auf Edith Stein extendierte.59 Die Bedeutung, die das Lehramt der Kirche der Philoso-

Lehrmeister muss dem Fortschritt in der Suche nach Wahrheit und in der Nutzbarmachung der erzielten Ergebnisse zum Wohl der Menschen dienen.“ Vgl. auch Nr. 58: „Zahlreiche Ge-lehrte brachten mutig die thomistische Überlieferung in die Diskussionen über die damaligen philosophischen und theologischen Probleme ein.“ – Bereits am 26. Februar 1995 hatte Jo-hannes Paul II. in seiner Ansprache zum Angelus betont: Edith Stein war „als Denkerin hoch-geschätzt und fähig, mit klugem Unterscheidungsvermögen die Beiträge der zeitgenössischen Philosophie zu nutzen, um die ‚Wahrheit der Dinge‘ zu suchen in dem ständigen Bestreben, die Erfordernisse der Vernunft mit denen des Glaubens zu vereinbaren.“ Vgl. Johannes Paul II., Märtyrerin für die Versöhnung – die sel. Edith Stein, in: AS 1995, 43.

56 Johannes Paul II., Glaube und Vernunft bei der Suche nach Wahrheit und Lebenssinn. Ange-lus am 18. Oktober 1998, in: AS 1998, Köln 2001, 149.

57 Johannes Paul II., Eine Bilanz des Dankes mit hoffnungsvollen Perspektiven. Ansprache beim Empfang für die Mitarbeiter der Römischen Kurie zur Entgegennahme der Weih-nachtswünsche am 22. Dezember 1998, in: AS 1998, Köln 2001, 886.

58 Vgl. Johannes Paul II., Erinnerung und Identität (2005), 58-60. Vgl. ebd., 86: Wir wissen, „wie sehr der Gedanke an die ewige Heimat die Bereitschaft, der irdischen Heimat zu dienen, begünstigt hat, indem er die Menschen veranlasste, für sie Opfer aller Art auf sich zu nehmen – Opfer von nicht selten heroischem Grad. Die Heiligen, die im Laufe der Geschichte, und besonders in den letzten Jahrhunderten, von der Kirche zur Ehre der Altäre erhoben wurden, verdeutlichen das in eindrucksvoller Weise.“

59 Vgl. Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, Hamburg 1994, 203: „Die Konzentrationslager [...] haben unter Katholiken und Orthodoxen, aber auch unter Protestan-ten wirkliche Heilige, ja wahre Märtyrer, hervorgebracht. Man braucht nur an Pater Maximi-lian Kolbe und Edith Stein und zuvor noch an all die Märtyrer des Spanischen Bürgerkriegs zu erinnern. [...] In ihrem Martyrium haben sie das Zeugnis der Erlösung durch Christus wei-tergegeben [...], und zugleich formen sie die Grundlage einer neuen Welt, eines neuen Europa und einer neuen Zivilisation.“

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phie Edith Steins beimisst, wurde schließlich auch durch ihre Proklamation zur Conpatronin Europas, ein Jahr nach ihrer Heiligsprechung, noch einmal verstärkt. Mit „ihrer ganzen Existenz als Denkerin, Mystikerin und Märtyre-rin“ und der ihr eigenen „sicheren Intuition im Dialog mit dem modernen phi-losophischen Denken“60 sieht die Kirche sie als Brücke zwischen den Kultu-ren und Religionen Europas, das nach wie vor vor der Herausforderung steht, „eine Kultur und eine Ethik der Einheit aufzubauen“.61 Der langjährige Präsi-dent der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemein-schaft, Josef Homeyer, hat wenig später diese Anregung in einem Vortrag vor der deutschen Edith-Stein-Gesellschaft aufgegriffen und den Brückendienst der hl. Edith Stein für Europa „mit vier ideellen Gestalten“62, den Kardinaltu-genden, verifiziert und in einen ethischen Entwurf gefasst. Durch ihr „bei-spielhaftes Vorleben der Kardinaltugenden Prudentia, Justitia, Fortitudo, Temperantia“63, das Homeyer jedoch ausschließlich anhand der Korrespon-denz Steins beleuchtete, entfaltete er Leitbilder, die Haltungen und ethische Verhaltensweisen aufzeigen, die den Menschen und der Europäischen Staa-tengemeinschaft in dieser Zeit Not tun; die helfen, „Europa tugendhaft zu verwirklichen.“64 Damit konnte er einen Denkprozess anstoßen, den namhafte Religionsphilosophen im Juni 2009 im Rahmen einer Tagung zur Thematik Europa und seine Anderen65 mit Blick auf den lebensweltlichen Kontext und die Denkgestalt Edith Steins, wie auch auf Emmanuel Levinas und Józef Tischner fruchtbar machten, da bei jenen allesamt „die Problematik des Ande-ren […] sowohl in einem Kontext neu gewonnener Auffassungen von der Per-sonalität des Menschen sozialtheoretisch untermauert wie auch im Absoluten verankert wird.“66 Dieselben Initiatoren setzten anschließend mit der Frage

60 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben als „Motu Proprio“ erlassen zur Ausrufung der hl. Birgitta von Schweden, der hl. Katharina von Siena und der hl. Teresia Benedicta a Cruce zu Mitpatroninnen Europas (1. Oktober 1999), in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 140, Bonn 1999, Nr. 3.

61 Ebd., Nr. 10: Es gelte daher, „die für Europa authentischen Werte zu betonen, deren Funda-ment das in das Herz eines jeden Menschen eingeschriebene allgemeine Sittengesetz ist. Ein Europa, das den Wert der Toleranz und der allgemeinen Achtung mit ethischem Indifferen-tismus und Skeptizismus in bezug auf die unverzichtbaren Werte verwechselte, würde sich den riskantesten Abenteuern öffnen und früher oder später die erschreckendsten Gespenster seiner Geschichte in neuer Gestalt wiederauftauchen sehen.“

62 J. Homeyer, Vortrag vor der Edith-Stein-Gesellschaft am 5. Mai 2001 in Hildesheim, Vor-tragsmanuskript, 4.

63 Ebd. 64 Ebd., 24. 65 H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp (Hg.), Europa und seine Anderen. Emmanuel

Levinas, Edith Stein, Józef Tischner, Dresden 2009. 66 H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp, Vorwort, in: dies. (Hg.), Europa und seine

Anderen [2010], XI. Zur Fundierung des von Homeyer aufgerissenen Gedankenfeldes ver-dienen insb. folgende Beiträge der Aufsatzsammlung Beachtung: M. Hähnel, Analyse des Problembegriffs der Konstitution anhand von Edith Steins Philosophie der Person, in: H.-B.

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nach einer kulturellen Grundstruktur Europas, nach einem europäischen Ethos, das die Potentiale birgt, „das Mögliche zu gestalten und in Menschenbildern zu verwirklichen“67, die initiative Idee Homeyers fort.68

Bereits anlässlich ihrer Seligsprechung am 1. Mai 1987 in Köln hatte Jo-hannes Paul II. Edith Stein eine Persönlichkeit genannt, die eine dramatische Synthese unseres Jahrhunderts in ihrem reichen Leben vereint; die Synthese einer Geschichte voller tiefer Wunden, die noch immer schmerzen [...]; und zugleich die Synthese der vollen Wahrheit über den Menschen, in einem Her-zen, das so lange unruhig und unerfüllt blieb, ‚bis es schließlich Ruhe fand in Gott‘.69

Auch bei ihrer Heiligsprechung wies der Papst auf ihre philosophische Wahrheitssuche hin.70 Schließlich stellte er 2005 den XX. Weltjugendtag in Köln unter ihr Patronat und hob sie zusammen mit dem hl. Albertus Magnus aus der Schar der Kölner Heiligen hervor, „da sie in der gleichen inneren Hal-tung wie die Heiligen Drei Könige die Wahrheit mit Leidenschaft gesucht ha-ben“, und somit Zeugnis gaben, „dass Glaube und Verstand miteinander ver-bunden sind und sich gegenseitig anziehen.“71 Sooft die Kirche auf das Denk-

Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp [2010], 73-83; W. Rieß, Der Andere im Selbst. Edith Steins innerer Weg zur Gemeinschaft, in: H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp [2010], 119-132; U. Ferrer, Individualität und Solidarität bei Edith Stein, in: H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp [2010], 133-143; M. Lebech, Edith Stein’s Value Theory and its Importance for her Conception of the State, in: H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp [2010], 145-153 sowie allen voran H.-B. Gerl-Falkovitz, „Von andersher zu bezie-hende Fülle“. Edith Stein und Emmanuel Levinas, in: H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp [2010], 215-227.

67 H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp, Vorwort, in: dies. (2012), X. 68 H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp (Hg.), Die Bildung Europas, Dresden 2012. –

Hier wird zur Fragestellung nach einem europäischen Ethos die Philosophie Steins in folgen-den Beiträgen befragt: M. Lebech, Bildung des Menschen – Bildung Europas, in: H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp [2012], 193-204; R. Raschke, Bildung der menschlichen Person, in: H.-B. Gerl-Falkovitz/ R. Kaufmann/ H. R. Sepp [2012], 205-217.

69 Johannes Paul II., Homilie bei der Seligsprechung von Edith Stein im Stadion Köln-Müngersdorf am 1. Mai 1987, in: AS 1987, 624.

70 Vgl. Johannes Paul II., Edith Stein – Teresia Benedicta vom Kreuz – herausragende Tochter Israels und treue Tochter der Kirche. Predigt bei der Heiligsprechung auf dem Petersplatz am 11. Oktober 1998, in: AS 1998, Köln 2001, 765-769: „Die heilige Schwester Teresia Bene-dicta vom Kreuz ist zu der Erkenntnis gelangt, dass die Liebe Christi und die Freiheit des Menschen ineinander greifen; denn auch Liebe und Wahrheit gehören innerlich zusammen. Die Suche nach Wahrheit und deren Vermittlung in Liebe waren für sie kein Gegensatz. Im Gegenteil: Sie hat verstanden, dass beide einander brauchen“ (ebd., 767); „Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz sagt uns allen: Akzeptiert nichts als Wahrheit, was ohne Liebe ist. Aber akzeptiert auch nichts als Liebe, was ohne Wahrheit ist! Eines ohne das andere wird zur Lüge, die zerstört“ (ebd., 768).

71 Johannes Paul II., Botschaft zum XX. Weltjugendtag 2005, in: Johannes Paul II., Seid das Salz der Erde! Botschaften des Papstes an die Jugend der Welt, Linz 22004, 50 f. – Eine Ein-schätzung, die Papst Benedikt XVI. anlässlich des XX. Weltjugendtages in Köln wiederholt in seinen öffentlichen Ansprachen bestätigte. Vgl. dazu: Benedikt XVI., Ansprache auf dem

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und Lebenszeugnis dieser Frau aufmerksam gemacht hat, tat sie es nicht, ohne ihrer philosophischen Anthropologie und Ethik, die sie „ohne weiteres an-schlussfähig an gegenwärtiges Philosophieren“ macht72, größtes Gewicht bei-zumessen. So appellierte Johannes Paul II. vor der Seligsprechungsfeier in ei-nem Grußwort im Deutschen Fernsehen an die Bevölkerung, dem Zeugnis Steins entsprechend, alle „Kräfte auf die Sorge um den Menschen, um sein ir-disches Wohl und sein ewiges Heil [zu] konzentrieren.“73 1996 stellte er auf

Flughafen Köln-Bonn – 18. August 2005, in: Weltjugendtag GmbH (Hg.), XX. Weltjugend-tag, Köln 2005, 110-113: „Ebenso wie die Heiligen Drei Könige sind alle Gläubigen, und be-sonders die jungen Menschen dazu berufen, ihren Lebensweg als Pilgerweg zu gehen als Of-fene und Suchende auf der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe. [...] Es ist dies ein Weg, dessen endgültiges Ziel nur durch die Begegnung mit Christus zu finden ist, eine Be-gegnung, die sich ohne den Glauben nicht verwirklichen kann.“ Der Pontifex benennt daher etliche Wegzeichen: „[...] vom philosophischen Gedankengut bis zur theologischen Reflexion vieler deutscher Denker, vom geistigen Erbe bis zur mystischen Erfahrung einer ganzen Schar von Heiligen“ (ebd., 112 f.) und zählt u. a. Edith Stein namentlich auf. An sie erinnert er auch in seiner Begrüßungsansprache an die Jugendlichen auf den Poller Rheinwiesen, wobei er sie als Mittlerin zum Gebet für alle Jugendlichen benennt, „die nicht getauft sind, die Christus noch nicht kennen oder in der Kirche nicht zu Hause sind“ (vgl. dazu: Weltjugendtag GmbH (Hg.), XX. Weltjugendtag, Köln 2005, 118). Ein drittes Mal erinnert er an diesem 18. August 2005 bei seiner Ansprache vor dem Kölner Dom an Edith Stein, die er u. a. mit Thomas von Aquin und Albertus Magnus zum „großen Erbe der Heiligen“ in Köln zählt (vgl. Weltjugend-tag GmbH (Hg.), XX. Weltjugendtag, Köln 2005, 124). Mit seiner Ansprache in der Vigilfei-er am 20. August 2005 auf dem Marienfeld stellt Benedikt XVI. die „große Schar der Heili-gen [...], in denen der Herr das Evangelium die Geschichte hindurch aufgeblättert hat und aufblättert“ als Dolmetscher vor, die uns helfen „die andere Art Gottes“ zu verstehen, „die unsere Lebensart bestimmen soll“, dass wir „Menschen der Wahrheit, des Rechts, der Güte, des Verzeihens, der Barmherzigkeit“ werden. Sie „zeigen uns den Weg, wie man glücklich wird, wie man das macht, ein Mensch zu sein.“ Mit Maximilian Kolbe, Edith Stein, Mutter Teresa und Pater Pio erinnert er schließlich an „Heilige unserer Zeit“, die uns lehren, „was ‚anbeten‘ heißt und was es heißt, nach den Maßstäben des Kindes von Bethlehem, den Maß-stäben Jesu Christi und Gottes selbst zu leben. [...] Nicht die Ideologien retten die Welt, son-dern allein die Hinwendung zum lebendigen Gott, der unser Schöpfer, der Garant unserer Freiheit, der Garant des wirklich Guten und Wahren ist“ (vgl. Weltjugendtag GmbH (Hg.), XX. Weltjugendtag, Köln 2005, 145-147). – Vgl. auch: Benedikt XVI., Angelus in Castel-gandolfo – 14. August 2005, in: L´Osservatore Romano 35, 26. August 2005 (Nr. 34), 5: „Außerdem haben wir an eine Märtyrerin unserer Zeit erinnert, an die hl. Teresa Benedicta vom Kreuz, Edith Stein, die Mitpatronin Europas, die im Konzentrationslager gestorben ist. [...] Ich möchte jeden Getauften und besonders die jungen Menschen, die am Weltjugendtag teilnehmen, dazu einladen, auf diese glänzenden Vorbilder des evangeliumsgemäßen Herois-mus zu schauen. Ich rufe auf alle ihren Schutz und besonders die Hilfe der hl. Teresia Bene-dicta vom Kreuz herab, die einige Jahre im Kölner Karmel gelebt hat.“

72 B. Beckmann-Zöller, Viele Anknüpfungspunkte, in: HerKorr 66 (2012), 522: „[…] in erster Linie ihre Philosophie der Person und der Intersubjektivität, Sozial- und Geschlechterphäno-menologie, Philosophie des Leibes“ (ebd.).

73 Johannes Paul II., Grußwort vor dem zweiten Deutschlandbesuch in „Wort zum Sonntag“ im Ersten Deutschen Fernsehen am 25. April 1987, in: AS 1987, 1425. Vgl. auch: Johannes Paul II., Die wahren Mittelpunkte sind die Gebetsorte. Ansprache bei der Generalaudienz am 6. Mai 1987, in: AS 1987, 97: Ihre Heiligsprechung betrifft „die Zeit, in der der Glaube und die christliche Moral in Deutschland und anderen europäischen Ländern einer radikalen Heraus-

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einem philosophischen Kolloquium die Frage: „Kann der Tod dieser Märtyre-rin als eine Konsequenz – wenigstens als eine indirekte Konsequenz – der Irr-tümer, die in der geschichtlichen und philosophischen Aufklärung ihre Wur-zeln hatten, betrachtet werden?“, um alsdann im Horizont der Werke Endli-ches und ewiges Sein und Kreuzeswissenschaft einer Anthropologie Nach-druck zu verleihen, die das Wirken des Hl. Geistes nicht ausschließt.74 Damit ist ein wichtiges Stichwort für das Projekt der Postmoderne, herkömmliche Erkenntnisbegriffe zu weiten, gegeben, worauf Beate Beckmann-Zöller aktuell Bezug nimmt: „Stein liefert entscheidende Beiträge zu einer Metaphysik in der Postmoderne, die durch kantische Kritik hindurch gegangen und offen für überrationale Wege der Erkenntnis ist.“75

So wird man schließlich auch die Enzyklika Veritatis Splendor76 auf dem Hintergrund der philosophischen Ethik Steins lesen und umgekehrt, das Den-ken dieser Philosophin für die Grundlagen der heutigen Moraltheologie befra-gen dürfen. Diese nämlich, so betont Johannes Paul II. in Fides et ratio, „muss sich einer richtigen philosophischen Sicht sowohl von der menschlichen Natur und Gesellschaft wie von den allgemeinen Prinzipien einer sittlichen Ent-scheidung bedienen.“77 Nur so lässt sich der „Glanz der Wahrheit, die im In-nersten des menschlichen Geistes erstrahlt“78, zu einer christlichen Ethik fü-gen, die mehr ist als eine starre Gesetzes- oder Pflichtethik, und die nicht auf subjektivistische und naturalistische Irrwege führt. Dazu hatte Veritatis

forderung gegenübergestellt waren: die Zeit des unmenschlichen Handelns des nationalsozia-listischen Systems, das die Geschichte unseres Jahrhunderts schwer belastet hat.“ Dem Bei-spiel der Seligen Edith Stein und des Seligen P. Rupert Mayer „sollen wir mit Christus in der Welt von heute Zeugnis geben für die Wahrheit, für Recht und Gerechtigkeit in der Gesell-schaft, für Solidarität und Brüderlichkeit in der Welt der Arbeit [...] und unsere gemeinsame Verantwortung für ein christliches Europa [...]. Die Kirche stellt uns die Seligen [...] zur Nachahmung vor Augen.“ Vgl. Johannes Paul II., Abschiedswort in Speyer am 4. Mai 1987, in: AS 1987, 698.

74 Vgl. Johannes Paul II., Erleuchtung – Gaben des Geistes – Aufklärung, in: AS 1996, 769: „Auch wenn dies der historischen Wahrheit über Edith Stein entsprechen würde, ist es nicht zu leugnen, dass sie in sich gleichzeitig eine tiefere Wahrheit trägt, nämlich die eines Lebens und eines Todes, die Frucht jener ‚Aufklärungs-Erleuchtung‘ ist, die dem Menschen mit den Gaben des Hl. Geistes geschenkt wird und die ihre Früchte besonders in den kritischen und sehr dramatischen Augenblicken im Leben eines gläubigen Menschen bringt.“

75 B. Beckmann-Zöller, Viele Anknüpfungspunkte, in: HerKorr 66 (2012), 523. Steins religi-onsphilosophische Untersuchungen bieten somit „genügend Material für ein Aufbrechen der Einseitigkeit von Subjektivismus und technokratischer Sprachzentriertheit, wodurch mensch-liche Phänomene wie Liebe und Wertempfinden nicht zu erfassen sind“ (ebd.).

76 Johannes Paul II., Veritatis Splendor. Enzyklika an alle Bischöfe der katholischen Kirche über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre (6. August 1993), in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 111, Bonn 1993.

77 Johannes Paul II., Fides et ratio, Nr. 68. Zur Aufgabe der philosophischen Ethik siehe auch Nr. 66.

78 Johannes Paul II., Veritatis Splendor, Nr. 2.


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