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Suhrkamp Verlag · Im Original erschienen unter dem Titel Perfect Rigor. A Genius and the...

Date post: 23-Aug-2019
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Leseprobe Gessen, Masha Der Beweis des Jahrhunderts Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4527 978-3-518-46527-1 Suhrkamp Verlag
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Page 1: Suhrkamp Verlag · Im Original erschienen unter dem Titel Perfect Rigor. A Genius and the Mathematical Breakthrough of the Century bei Houghton Mifflin Harcourt.

Leseprobe

Gessen, Masha

Der Beweis des Jahrhunderts

Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4527

978-3-518-46527-1

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuch 4527

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Im Jahr 2000 wurde eine Liste mit sieben Rätseln der Mathematik veröffentlicht, mit einem Preisgeld von jeweils einer Million US-Dol-lar. Eines dieser berühmten »Millennium-Probleme« war der Beweis der Poincaré-Vermutung, an dem sich bereits die klügsten Köpfe die Zähne ausgebissen hatten. 2002 wurde der Beweis erbracht – von Grigori Jakowlewitsch »Grischa« Perelman, einem exzentrischen rus-sisch-jüdischen Mathematiker. Aber Perelman lehnte ab – nicht nur das Geld, sondern zunehmend auch die Welt. Heute lebt er ohne Festanstellung und völlig zurückgezogen bei seiner Mutter in St. Pe-tersburg. Warum war gerade er in der Lage, das Problem zu lösen – und was ist danach mit ihm geschehen? Masha Gessen begibt sich auf Perelmans Spuren, von seinen An-fängen als Wunderkind bis zu seinem Rückzug. Nach und nach ent-steht das Bild eines Mannes, dessen fast übermenschliche gedank-liche Strenge ihn zu mathematischen Höchstleistungen befähigt, aber auch immer stärker von der Welt entfremdet.

Masha Gessen wurde 1967 in der Sowjetunion geboren und hat sich in ihrer Jugend intensiv mit Mathematik beschäftigt. 1981 emigrierte sie mit ihrer Familie in die USA, kehrte aber 1994 nach Russland zu-rück und lebt heute hauptsächlich dort, aber auch in den USA. Sie schrieb u. a. für die New York Times, Slate, Vanity Fair und The New

Statesman, ist feste Mitarbeiterin der Zeitschrift Itogi sowie politische Kolumnistin der Zeitung Matador; außerdem arbeitet sie als Russ-landkorrespondentin für New Republic und hat mehrere Bücher ver-fasst.

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Masha GessenDer Beweis des Jahrhunderts

Die faszinierende Geschichtedes Mathematikers Grigori Perelman

Aus dem Englischen vonMichael Müller

Suhrkamp

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Im Original erschienen unter dem Titel Perfect Rigor.

A Genius and the Mathematical Breakthrough of the Century

bei Houghton Mifflin Harcourt.

Umschlagfotos: delfi.lv; StockphotoPro

Erste Auflage 2014

suhrkamp taschenbuch 4527

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© 2009 by Masha GessenSuhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, UlmUmschlag: Regina Göllner und Hermann Michels

Printed in GermanyISBN 978-3-518-46527-1

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Inhalt

Prolog: Eine Aufgabe für eine Million Dollar . . . . . . 7

1. Flucht in imaginäre Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2. Wie Mathematiker gemacht werden . . . . . . . . . . . 35

3. Eine schöne Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

4. Eine perfekte Punktzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

5. Regeln für den Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

6. Schutzengel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

7. Nach Amerika. Und zurück nach Russland . . . . 164

8. Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

9. Der Beweis taucht auf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

10. Der Wahnsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

11. Die Eine-Million-Dollar-Frage . . . . . . . . . . . . . . . 285

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

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PrologEine Aufgabe für eine Million Dollar

Zahlen können jeden Menschen verzaubern. Besondersanfällig aber sind Mathematiker; sie verstehen es, Zahlenmit Bedeutung aufzuladen. So war es auch, als im Jahr2000 einige der weltweit besten Mathematiker in Paris zueiner Konferenz zusammenkamen. Die Erwartungen wa-ren groß: Sie würden die Gelegenheit zu einer Bestands-aufnahme ihres Forschungsfelds nutzen. Sie würden überdas sprechen, woran kein Zweifel bestand und was sie soliebten – die Schönheit der Mathematik. Und sie würdensich die Zeit nehmen, sich gegenseitig zu loben und, nochwichtiger, zu träumen: von der Eleganz und Bedeutsam-keit zukünftiger Errungenschaften auf dem Gebiet derMathematik.Veranstaltet wurde diese Millennium-Konferenz vom

Clay Mathematics Institute, einer gemeinnützigen Organi-sation zur Verbreitung und Erforschung mathematischerIdeen, die der Bostoner Geschäftsmann Landon Clay undseine Frau Lavinia gegründet hatten. Das Institut bestandseit zwei Jahren, hatte sich in einem Gebäude in der Nähedes Harvard Square in Cambridge im US-Bundesstaat Mas-sachusetts ein schönes Büro eingerichtet und auch schoneinige Forschungspreise vergeben. Nun aber verfolgte dasInstitut einen wirklich ehrgeizigen Plan. Es ging um dieZukunft der Mathematik. »Die mathematischen Problemedes zwanzigsten Jahrhunderts« sollten dokumentiert wer-

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den, »die sich einer Lösung am erfolgreichsten widersetzthaben und die wir am liebsten gelöst sähen« – so formu-lierte Andrew Wiles, der britische Zahlentheoretiker undberühmte Bezwinger des Letzten Satzes von Fermat, dasZiel. »Wir wissen nicht, wie noch wann [diese Fragen]gelöst werden, vielleicht in fünf, vielleicht in hundert Jah-ren. Aber wir glauben, dass wir mit den Lösungen dieserProbleme neue Aussichten auf mathematische Entdeckun-gen und Landschaften eröffnen werden.«1

In vielen Volkstraditionen ist die Sieben eine magischeZahl. Und als wollte es ein mathematisches Märchen indie Welt setzen, benannte das Clay Mathematics Instituteexakt sieben Probleme und setzte für die Lösung jedeseinzelnen von ihnen die sagenhafte Preissumme von einerMillion Dollar aus. Im Lauf der Konferenz hielten dieungekrönten Könige der Mathematik Vorträge zu diesensieben großen Fragen. Sir Michael Francis Atiyah, einerder bedeutendsten Mathematiker des letzten Jahrhun-derts, sprach über die von Henri Poincare 1904 formu-lierte Vermutung.2 Mit diesem Klassiker der mathemati-schen Topologie hätten sich, so Atiyah, schon »viele be-rühmte Mathematiker […] herumgeschlagen, aber dasProblem ist noch immer ungelöst. Es hat viele falscheBeweise gegeben. Viele haben sich bemüht und Fehler ge-macht. Manchmal entdeckten sie die Fehler selbst, manch-mal waren es befreundete Mathematiker.« Die Zuhörerlachten, mit Sicherheit befanden sich einige unter ihnen,die bei ihren Lösungsversuchen der Poincare-Vermutungauf dem Holzweg waren.Die Lösung des Problems, so vermutete Atiyah, werde

aus der Physik kommen. Und fügte scherzhaft hinzu, dies

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sei die Art von Hinweis, »die ein Lehrer, der ein Problemnicht lösen kann, seinem Schüler gibt, der es zu lösen ver-sucht«. Und in der Tat arbeiteten einige unter den Zuhö-rern an Fragestellungen, von denen sie hofften, sie würdendie Mathematik einem Sieg über die Poincare-Vermutungnäherbringen. Doch so recht mochte keiner von ihnenglauben, dass eine Lösung in Sicht sei.Manche Mathematiker machen aus ihrer Arbeit an be-

rühmten Problemen ein Geheimnis – auch Wiles tat dies,als er über Fermats Letzten Satz arbeitete. Im Allgemei-nen aber halten sie sich gegenseitig über ihre Forschungenauf dem Laufenden. Fast jährlich haben Mathematikermutmaßliche Beweise für die Poincare-Vermutung ver-öffentlicht, aber keiner hatte bislang einer Überprüfungstandgehalten. Der letzte große Durchbruch war fastzwanzig Jahre alt. 1982 legte der Amerikaner Richard Ha-milton so etwas wie ein Konzept zur Lösung des Pro-blems vor. Doch auch Hamilton musste feststellen, dasssein eigener Lösungsentwurf – sein Programm, wie dieMathematiker sagen – zu schwer zu verfolgen war, undseitdem hatte sich niemand mehr mit einer aussichtsrei-chen Alternative zu Wort gemeldet. Möglicherweise wür-de die Poincare-Vermutung, wie die anderen sechs Millen-nium-Probleme des Clay Mathematics Institute auch, niegelöst werden.Sollte es dennoch gelingen, es wäre eine Heldentat. Alle

diese Probleme haben jahrzehntelange Forschungsarbeitin Anspruch genommen, und so mancher Mathematikerhat das Zeitliche gesegnet, ohne auf die Frage, mit der erso lange gerungen hat, eine Antwort gefunden zu haben.»Das Clay Mathematics Institute möchte eine deutliche

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Botschaft aussenden, nämlich dass die Mathematik vor al-lem deshalb so wertvoll ist, weil es diese enorm schwie-rigen Probleme gibt, diese Himalayagipfel, diese MountEvereste der Mathematik«, so der französische Mathema-tiker Alain Connes, ein anderer Gigant des zwanzigstenJahrhunderts. »Und sollten wir den Gipfel tatsächlicherklimmen, dann wird das äußerst schwierig gewesensein – vielleicht werden wir dafür sogar mit dem Lebenbezahlen. Wahr bleibt indes, dass, sollten wir den Gipfelerreichen, die Aussicht fantastisch sein wird.«In absehbarer Zukunft also war für keines der Millen-

nium-Probleme eine Lösung zu erwarten. Gleichwohl leg-te das Clay Mathematics Institute klare Regeln fest, nachdenen jeder der Preise vergeben wird. Die erste entsprichtden üblichen wissenschaftlichen Gepflogenheiten: DieLösung muss in einer anerkannten Fachzeitschrift präsen-tiert werden. Dann folgt eine zweijährige Wartefrist, dieMathematikern aus aller Welt die Gelegenheit gibt, dieLösung zu prüfen und zu einem Konsens über ihre Rich-tigkeit und die Urheberschaft zu gelangen. Nach Ablaufdieser Frist soll in einem dritten Schritt ein Ausschuss eineabschließende Empfehlung für die Verleihung des Preisesgeben. Erst dann, viertens, wird das Institut die ausgesetz-te Preissumme von einer Million Dollar freigeben. Es wer-de, soWiles’ Schätzung, mindestens fünf Jahre dauern, bisdie erste Lösung kommen werde – vorausgesetzt, irgend-eines dieser Probleme werde überhaupt gelöst –, so dassdas Verfahren keineswegs umständlich erschien.Und dann die Überraschung: Gerade einmal zwei Jahre

später, nämlich im November 2002, stellte ein russischerMathematiker seinen Beweis für Poincares Vermutung ins

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Internet. Er war nicht der Erste, der behauptete, die Poin-care bewiesen zu haben – er war noch nicht einmal dererste Russe, der in ebendiesem Jahr einen angeblichen Beweisfür die Vermutung ins Netz gestellt hatte –, doch wie sichherausstellte, war sein Beweis korrekt.Und nun lief nichts mehr nach Plan – weder nach dem

des Clay Mathematics Institute noch nach irgendeinem an-deren, den ein Mathematiker für vernünftig halten konnte.Grigori Perelman, der Russe, der sich im Internet gemel-det hatte, hatte seine Arbeit nicht in einer anerkanntenFachzeitschrift veröffentlicht. Er zeigte sich auch nicht be-reit, die Erklärungen für seinen Beweis, die von seinenKollegen kamen, zu prüfen oder auch nur durchzusehen.Er lehnte Angebote der besten Universitäten der Welt ab.Er nahm, als sie ihm 2006 verliehen werden sollte, dieFields-Medaille nicht an, die höchste Auszeichnung fürMathematiker (quasi der Nobelpreis für Mathematik, denAlfred Nobel nicht gestiftet hat). Und schließlich zog ersich nicht nur aus den mathematischen Fachdiskussionenzurück, sondern sprach auch sonst mit praktisch keinemMenschen mehr.Perelmans sonderbares Verhalten lieferte den Stoff, der

der Poincare-Vermutung eine Aufmerksamkeit verschaff-te, wie sie wahrscheinlich keiner anderen Geschichte ausder Welt der Mathematik je zuteilgeworden ist.3 Die uner-hört hohe Preissumme, die er wohl zu erwarten hatte, tatdas ihre, um das Interesse anzuheizen, dazu kam eineplötzlich aufkommende Plagiatskontroverse, als nämlichzwei chinesische Mathematiker behaupteten, eigentlichhätten sie mit ihrer Arbeit die Vermutung schon bewiesen.Je mehr Rumor aber um Perelman entstand, desto mehr

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zog er sich selbst von allem zurück; sogar diejenigen, dieihn gut kannten, sagten, er sei »verschwunden«. Dabeilebte und lebt er nach wie vor in St. Petersburg, in derWohnung, in der er bereits seit vielen Jahren wohnt. Gele-gentlich ging er ans Telefon – aber nur um zu sagen, manmöge ihn als tot betrachten.

Als ich begonnen habe, an diesem Buch zu arbeiten, such-te ich Antworten auf drei Fragen: Warum war Perelmanin der Lage, Poincares Vermutung zu beweisen, das heißt:Was unterschied seinen Geist von dem all der anderenMathematiker, die sich zuvor erfolglos an der Vermutungabgearbeitet hatten? Warum gab er, als er den Beweis ge-funden hatte, die Mathematik und auch sonst fast allesauf? Schließlich:Würde er sich weigern, den Preis des ClayMathematics Institute anzunehmen, obwohl er ihn verdienthat und das Geld sicher gut gebrauchen könnte? Undwenn ja, warum?Dieses Buch ist keine gewöhnliche Biografie. Ich habe

keine längeren Gespräche mit Perelman geführt, ja, umdie Wahrheit zu sagen: Ich habe überhaupt nicht mit ihmgesprochen. Als ich mit dem Projekt begann, redete erbereits nicht mehr mit Journalisten, und auch zu anderenLeuten hatte er so gut wie keinen Kontakt mehr. Dadurchwurde die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, nicht leich-ter – ich musste mir einen Menschen vorstellen, dem ichnie begegnet bin. Zugleich wurde sie aber auch interessan-ter: nämlich zu einer Erkundung, zu einer wirklichen Re-cherche. Zum Glück waren fast alle, die mit ihm und derPoincare-Geschichte zu tun hatten, bereit, mit mir zu spre-chen. Manchmal kam mir sogar der Gedanke, es sei leich-

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ter, über jemanden zu schreiben, der die Mitarbeit verwei-gert, denn ich musste mich nicht mit Perelmans eigenerDarstellung, mit seinem Selbstbild auseinandersetzen. Ichmusste nur herausfinden, was es war und was geschehenist.

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1.Flucht in imaginäre Welten

Wie jeder, der die Grundschule besucht hat, weiß, lässtsichMathematik mit nichts anderem in dieserWelt verglei-chen. Praktisch jeder kennt dieses Gefühl von Offenba-rung, das sich einstellt, wenn etwas sehr Abstraktes plötz-lich Sinn ergibt. Und auch wenn sich das Rechnen in derGrundschule zur wirklichen Mathematik wie die Recht-schreibung zur Kunst des Romanschreibens verhält, istder Wunsch, Muster, Formen oder Strukturen zu erken-nen und zu begreifen – sowie die kindliche Begeisterung,wenn es gelingt, ein rätselhaftes Muster, das sich partoutnicht fügen will, endlich doch den Gesetzen der Logik an-zupassen –, die treibende Kraft hinter aller Mathematik.Diese Begeisterung hat viel damit zu tun, dass die Lö-

sung eines mathematischen Problems etwas so Einzigarti-ges ist. Es gibt eine und nur eine richtige Antwort, weswe-gen die meistenMathematiker ihreDisziplin für eine harteund exakte, für die reine und grundlegende Wissenschafthalten. Dabei ist sie gar keine Wissenschaft im naturwis-senschaftlichen Sinn. Naturwissenschaftliche Wahrheitenwerden experimentell überprüft. Mathematische Wahrhei-ten dagegen allein durch Argumente, womit die Mathe-matik der Philosophie näher steht oder, besser noch, derRechtswissenschaft, einer Disziplin, die ebenfalls davonausgeht, dass es nur eine einzige Wahrheit gibt.Die anderen »harten« Wissenschaften finden im Labor

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oder im Feld statt, unterstützt von ganzen Armeen vonTechnikern; die Mathematik dagegen passiert ausschließ-lich im Kopf beziehungsweise im Geist. Ihr Lebenselixierist das Denken, das den Mathematiker bis in den Schlafbegleitet und ihn mit einer neuen Idee wieder aus demSchlaf reißt, sowie das Gespräch, in dem sich die Idee ver-ändert, in dem sie korrigiert oder bestätigt wird.»Der Mathematiker braucht kein Labor und keine Ge-

rätschaften«, schreibt der russische ZahlentheoretikerAlexander Chintschin, »ein Stück Papier, ein Stift undkreative Fähigkeiten – das sind die Grundlagen seinerArbeit. Wenn noch eine anständige Bibliothek und eineordentliche Prise wissenschaftliche Begeisterung (die fastjeder Mathematiker besitzt) dazukommen, ist die schöpfe-rische Tätigkeit vor jedem destruktiven Einfluss sicher.«1

Die anderen Wissenschaften, wie sie seit Anfang des zwan-zigsten Jahrhunderts praktiziert werden, sind im Wesent-lichen kollektive Tätigkeiten; die Mathematik dagegen istein einsames Geschäft – eines jedoch, bei dem jeder Ma-thematiker einen Gleichgesinnten vor Augen hat, der sichmit ähnlichen Fragen befasst. Die Räume, in denen diesespermanente Gespräch tatsächlich stattfindet – in denendie Argumente ausgetauscht werden –, sind Tagungen,Fachzeitschriften und seit einiger Zeit auch das Internet.

Dass Russland einige der bedeutendsten Mathematikerdes zwanzigsten Jahrhunderts hervorgebracht hat, ist imGrunde ein Wunder. Denn die Mathematik steht so ziem-lich für alles, was in der Sowjetunion verpönt war: dieargumentative Auseinandersetzung, das Studium von Mus-tern und Strukturen, und dies in einem Land, das seine

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Bürger kontrollierte, indem es sie zwang, in einer wechsel-haften und unberechenbaren Wirklichkeit zu leben. DieMathematik setzt auf Logik und Widerspruchsfreiheit ineiner Kultur, die auf Propaganda und Angst aufgebautwar. Es bedarf eines hochspezialisierten Wissens, um mit-reden zu können, was das mathematische Gespräch zueinem für Außenstehende unentzifferbaren Code macht.Am prekärsten allerdings war der Anspruch der Mathema-tik auf singuläre und erkennbare Wahrheiten; das Sowjet-regime dagegen hatte seine Legitimität mit seiner eigenensingulären Wahrheit begründet. Aber gerade deshalb übtedie Mathematik auf ebenjene Menschen in der Sowjet-union einen einzigartigen Reiz aus, die nach einem logi-schen, widerspruchsfreien Denken verlangten, das in ande-ren Wissensgebieten praktisch unerreichbar war, vom All-tag ganz zu schweigen. Und es machte die Mathematik unddie Mathematiker verdächtig. Was diese an der Mathematikals so bedeutsam, als schön empfinden, erklärt der russi-sche Algebraiker Michail Zfasman damit, dass »die Mathe-matik uns auf einzigartige Weise lehren kann, zwischendem Richtigen und dem Falschen, dem Bewiesenen unddem Unbewiesenen, dem Wahrscheinlichen und dem Un-wahrscheinlichen zu unterscheiden. Auch lehrt sie uns,das, was wahrscheinlich oder wahrscheinlich wahr ist, vondem zu unterscheiden, was scheinbar wahrscheinlich, inWirklichkeit aber offensichtlich gelogen ist. Dies ist eineEigenschaft der mathematischen Kultur, die der [russi-schen] Gesellschaft so sehr fehlt.«2

Kein Wunder also, dass die Bürgerrechtsbewegung inder Sowjetunion von einemMathematiker gegründet wur-de. Es war Alexander Jessenin-Wolpin, ein Spezialist auf

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dem Gebiet mathematischer Logik, der im Dezember 1965

die erste Demonstration in Moskau organisierte. Die Pa-rolen der Bewegung entsprachen dem sowjetischen Rechtund ihre Gründer hatten nur eine einzige Forderung: Sieriefen die sowjetischen Behörden auf, sich an ebendiesesgeltende Recht zu halten. Anders gesagt: Sie gingen fürLogik und Widerspruchsfreiheit auf die Straße. Das gingdem Regime deutlich zu weit und so wanderte Jessenin-Wolpin für insgesamt vierzehn Jahre ins Gefängnis undwurde schließlich gezwungen, das Land zu verlassen.3

Die sowjetische Wissenschaft und die sowjetischenWissenschaftler existierten, um dem Staat zu dienen. ImMai 1927, keine zehn Jahre nach der Oktoberrevolution,ließ das Zentralkomitee der KPdSU eine entsprechendeKlausel in die Statuten der sowjetischen Akademie der Wis-senschaften einfügen. Ein Mitglied der Akademie, hieß esdort, kann seinen Status verlieren, »wenn seine Tätigkeitoffenkundig darauf abzielt, der UdSSR Schaden zuzufü-gen«. Seitdem stand jedes Mitglied der Akademie grund-sätzlich unter dem Verdacht, der Sowjetunion schaden zuwollen. Öffentliche Verhöre von Historikern, Literatur-wissenschaftlern und Chemikern endeten damit, dass siein Ungnade fielen, ihre akademischen Ämter undWürdenverloren sowie häufig wegen Verrats im Gefängnis oderim Lager landeten. Ganze Forschungsbereiche – nament-lich die Genetik – wurden zerstört, weil sie offenkundiginWiderspruch zur sowjetischen Ideologie gerieten. Stalinpersönlich herrschte über die Wissenschaft. Er ließ sogareigene wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichen undsetzte damit in bestimmten Gebieten auf Jahre hinaus dieMaßstäbe für Forschungsarbeiten. Sein Artikel über Lin-

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guistik zum Beispiel löste zwar die Wolken der Verdäch-tigungen auf, die sich über der vergleichenden Sprachwis-senschaft zusammengezogen hatten, sorgte aber auch da-für, dass die Kategorie des Klassengegensatzes aus derSprachwissenschaft sowie aus dem ganzen Bereich der Se-mantik verbannt wurde.4 Stalin unterstützte Trofim De-nissowitsch Lyssenko bei seinem Kreuzzug gegen die Ge-netik und war wohl auch Koautor jener Rede Lyssenkos,die geradewegs zum Verbot der Genetik in der Sowjet-union führte.5

Die russische Mathematik entging jedoch ihrer Vernich-tung per Dekret. Dabei spielten drei voneinander unab-hängige Faktoren eine Rolle. Erstens war die russische Ma-thematik gerade zu der Zeit ungewöhnlich stark, in der sieansonsten am meisten zu leiden gehabt hätte. Zweitenszeigte sich, dass die Mathematik zu undurchsichtig war fürdie Art von Einmischung, die der sowjetische Führer be-sonders liebte. Und drittens erwies sie sich in einer kri-tischen Situation als äußerst nützlich für den Staat.In den 1920er, 1930er Jahren hatte Moskau eine Reihe

sehr fähiger Mathematiker vorzuweisen, die Bahnbrechen-des auf jenen Gebieten leisteten, die den Grundstein fürdie Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts legten: To-pologie, Wahrscheinlichkeitstheorie, Zahlentheorie, funk-tionelle Analysis, Differentialgleichungen und dergleichen.Mathematische Forschung ist billig, und dies half: Wäh-rend die Naturwissenschaften unter mangelhafter Aus-stattung oder unbeheizten Arbeitsräumen litten, bliebenMathematiker arbeitsfähig, denn sie brauchten nichts wei-ter als Stifte, Papier und Gespräche. »Der Mangel an aktu-eller Forschungsliteratur«, schreibt Chintschin über diese

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Periode, »ließ sich zum Teil durch die unablässige wis-senschaftliche Kommunikation ausgleichen, die in diesenJahren organisiert und aufrechterhalten werden konnte.«Eine ganze Generation junger Mathematiker, von denenviele ihre Ausbildung teilweise im Ausland erhalten hat-ten, wurde damals im Schnellverfahren auf Lehrstühleund in die Akademie der Wissenschaften berufen.Die älteren Mathematiker freilich – die vor der Revolu-

tion Karriere gemacht hatten – waren verdächtig. Einervon ihnen, Dmitri Fjodorowitsch Jegorow, der Star derrussischen Mathematik um die Jahrhundertwende, wurdeverhaftet und starb 1931 in der inneren Emigration.6 SeineVerbrechen: Er war, woraus er kein Geheimnis machte,religiös, und er widersetzte sich Bestrebungen, die Mathe-matik zu ideologisieren, indem er zum Beispiel (erfolglos)versuchte, die Grußbotschaft eines Mathematikerkongres-ses an einen Parteitag versickern zu lassen. Jegorows An-hänger wurden aus der Führung der Moskauer mathe-matischen Institutionen verdrängt, doch gemessen amdamals Üblichen handelte es sich dabei eher um eine War-nung als um eine Säuberung: Kein Forschungsgebiet wur-de verboten, und der Kreml schrieb auch keine allgemeineLinie vor. Dennoch waren Mathematiker damals gut be-raten, sich gegen derbere Schläge zu wappnen.Tatsächlich wurde in den 1930er Jahren dann auch ein

mathematischer Schauprozess vorbereitet. Jegorows Ju-niorpartner in der Leitung der mathematischen Institutio-nen in Moskau war sein wichtigster Schüler Nikolai Lusin.Auch er war ein charismatischer Lehrer mit zahlreichenStudenten, die ihren Kreis Lusitanija nannten, als sei er einZauberland oder eine geheime, von gemeinsamen Vor-

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