+ All Categories
Home > Documents > [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und...

[Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und...

Date post: 19-Dec-2016
Category:
Upload: maria
View: 217 times
Download: 1 times
Share this document with a friend
114
3 Aletheia: Denken und Sein 3.1 Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung (Fr. 2) Mit dem Fragment 2 beginnt der eigentliche Vortrag der Göttin (e„ d' ¥g' ™gën ™ršw, Fr. 2.1), der Deduktion des Seienden (Fr. 8) geht aber noch eine Unter- suchung voran, die gelegentlich als methodologisch klassifiziert wird. Diskutiert wird hier die Frage des richtigen „Weges der Forschung“: e„ d' ¥g' ™gën ™ršw, kÒmisai d{ màqon ¢koÚsaj, a†per Ðdoˆ moànai diz»siÒj e„si noÁsai: ¹ m{n Ópwj œstin te kaˆ æj oÙk œsti e"nai, Peiqoàj ™sti kšleuqoj, 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹, ¹ d' æj oÙk œstin te kaˆ æj creèn ™sti e"nai, t¾n toi fr£zw panapeuqša œmmen ¢tarpÒn: oÜte g¦r ¨n gno…hj ge ™Òn, g¦r ¢nustÒn, oÜte fr£saij 1 . Die modernen Diskussionen über dieses Fragment konzentrieren sich vor allem auf das Problem der Interpretation der beiden die Ðdoˆ diz»sioj beschreibenden Verse (V. 3: „dass ist und nicht zu sein unmöglich ist“; V. 5: „dass nicht ist und nicht zu sein notwendig ist“), besonders auf die nahe liegende Frage, warum in den Formulierungen Ópwj œstin und æj oÙk œstin das Subjekt fehlt. Die am häufigsten angenommene Hypothese besagt, dass die Ausdrücke ein aus dem Text des Fragments bzw. dem weiteren (nicht erhaltenen, aber rekonstruierbaren) Kontext zu ergänzendes Subjekt implizieren. Nach der traditionellen, heutzutage jedoch immer seltener akzeptierten Interpretation ist das fehlende Subjekt „das Sein“ bzw. „das Seiende“ 2 (dabei wird der Ausdruck e"nai in einem oder in 1 Text nach Diels-Kranz (1961, S. 231) mit Auslassung der Klammern in V. 4 und 7. Das Fragment ist bei Proklos (In Tim. 1.345) überliefert; V. 3-8 werden auch von Simplikios (Phys. 116-117 Diels) zitiert. 2 So u. a. K. Reinhardt (1985, S. 35ff.), W. Kranz (1967, S. 140), H. Diels (1897, S. 33), K. Deichgräber (1958, S. 44), W.K.C. Guthrie (1965, S. 14-16), Ch. Göbel (2002, S. 88); vgl. DK (1961, S. 231: „der eine Weg, daß IST ist und daß Nichtsein nicht ist, (...) der andere aber, daß NICHT IST ist und daß Nichtsein erforderlich ist“; zur Kritik vgl. K. Heinrich 1966, S. 183f.). F.M. Cornford (1933, S. 30f., Anm. 2) schlägt sogar vor, durch eine Konjek- tur ™Òn als Subjekt in V. 3 einzuführen (¹ m{n Ópwj ™Õn œsti kaˆ æj etc.). J. Mansfeld (1964, S. 45, 55) glaubt, das implizite Subjekt in V. 5 sei ™Òn aus V. 2.7. A. Finkelberg (1988, S. 47) nimmt dagegen an, dass œstin und oÙk œstin elliptische Ausdrücke seien, deren Subjekt das aufgrund von V. 3b bzw. V. 5b ergänzbare e"nai sei. Die Ansicht, dass der Satz „das Sein bzw. Seiende ist“ den Ausgangspunkt oder gar die Hauptthese des Parmenides bilde, war in Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/8/13 5:39 PM
Transcript
Page 1: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

3 Aletheia: Denken und Sein

3.1 Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung (Fr. 2)

Mit dem Fragment 2 beginnt der eigentliche Vortrag der Göttin (e„ d' ¥g' ™gën ™ršw, Fr. 2.1), der Deduktion des Seienden (Fr. 8) geht aber noch eine Unter-suchung voran, die gelegentlich als methodologisch klassifi ziert wird. Diskutiert wird hier die Frage des richtigen „Weges der Forschung“:

e„ d' ¥g' ™gën ™ršw, kÒmisai d{ sÝ màqon ¢koÚsaj,a†per Ðdoˆ moànai diz»siÒj e„si noÁsai:¹ m{n Ópwj œstin te kaˆ æj oÙk œsti m¾ e"nai,Peiqoàj ™sti kšleuqoj, 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹,¹ d' æj oÙk œstin te kaˆ æj creèn ™sti m¾ e"nai,t¾n d» toi fr£zw panapeuqša œmmen ¢tarpÒn:oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn, oÙ g¦r ¢nustÒn,oÜte fr£saij1.

Die modernen Diskussionen über dieses Fragment konzentrieren sich vor allem auf das Problem der Interpretation der beiden die Ðdoˆ diz»sioj beschreibenden Verse (V. 3: „dass ist und nicht zu sein unmöglich ist“; V. 5: „dass nicht ist und nicht zu sein notwendig ist“), besonders auf die nahe liegende Frage, warum in den Formulierungen Ópwj œstin und æj oÙk œstin das Subjekt fehlt. Die am häufi gsten angenommene Hypothese besagt, dass die Ausdrücke ein aus dem Text des Fragments bzw. dem weiteren (nicht erhaltenen, aber rekonstruierbaren) Kontext zu ergänzendes Subjekt implizieren. Nach der traditionellen, heutzutage jedoch immer seltener akzeptierten Interpretation ist das fehlende Subjekt „das Sein“ bzw. „das Seiende“2 (dabei wird der Ausdruck m¾ e"nai in einem oder in

1 Text nach Diels-Kranz (1961, S. 231) mit Auslassung der Klammern in V. 4 und 7. Das Fragment ist bei Proklos (In Tim. 1.345) überliefert; V. 3-8 werden auch von Simplikios (Phys. 116-117 Diels) zitiert.

2 So u. a. K. Reinhardt (1985, S. 35ff.), W. Kranz (1967, S. 140), H. Diels (1897, S. 33), K. Deichgräber (1958, S. 44), W.K.C. Guthrie (1965, S. 14-16), Ch. Göbel (2002, S. 88); vgl. DK (1961, S. 231: „der eine Weg, daß IST ist und daß Nichtsein nicht ist, (...) der andere aber, daß NICHT IST ist und daß Nichtsein erforderlich ist“; zur Kritik vgl. K. Heinrich 1966, S. 183f.). F.M. Cornford (1933, S. 30f., Anm. 2) schlägt sogar vor, durch eine Konjek-tur ™Òn als Subjekt in V. 3 einzuführen (¹ m{n Ópwj ™Õn œsti kaˆ æj etc.). J. Mansfeld (1964, S. 45, 55) glaubt, das implizite Subjekt in V. 5 sei tÕ m¾ ™Òn aus V. 2.7. A. Finkelberg (1988, S. 47) nimmt dagegen an, dass œstin und oÙk œstin elliptische Ausdrücke seien, deren Subjekt das aufgrund von V. 3b bzw. V. 5b ergänzbare e"nai sei. Die Ansicht, dass der Satz „das Sein bzw. Seiende ist“ den Ausgangspunkt oder gar die Hauptthese des Parmenides bilde, war in

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 2: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

46 Aletheia: Denken und Sein

beiden Versen oft als „Nichtsein“ übersetzt3). Die Wege der Forschung wären dementsprechend identisch mit den Thesen „das, was ist, ist“ und „das, was ist, ist nicht“. Diese Auffassung wurde in der neueren Forschung vor allem mit Hilfe zweier Argumente gründlich und überzeugend widerlegt. Erstens wäre es, wenn Parmenides einfach von den Thesen tÕ ™Õn œstin (V. 3) und tÕ ™Õn oÙk œstin (V. 5) ausginge, unverständlich, warum er für die Annahme des ersten und die Ablehnung des zweiten Weges überhaupt eine Argumentation entwickelt: Der erste Satz stellt eine Tautologie, der zweite einen Widerspruch dar. Auch wenn gezweifelt werden kann, ob œstin von Parmenides im strengen Sinne begründet wird4, lässt sich kaum bestreiten, dass oÙk œstin erst auf Grund der These, dass das Nichtseiende weder erkannt noch aufgezeigt werden kann (Fr. 2.7-8), abgelehnt wird und dass diese Ablehnung zugleich eine Grundlage für die Affi rmation des œstin liefert. Es gibt hier also durchaus eine Argumentation für die Annahme des ersten Forschungsweges5 (zumindest in Form des begründeten Ausschlusses des zweiten); diese Argumentation scheint übrigens den ersten Teil der „Aletheia“ zu bilden, der mit den Worten endet: „es bleibt nur noch der eine màqoj Ðdo‹o: æj œstin“ (Fr. 8.1-2). Zweitens bestünde auch und gerade dann, wenn Parmenides bewusst eine Tautologie, also etwas Unbestreitbares und Unbezweifelbares, zum Ausgangspunkt seiner Ausführungen gewählt haben sollte, um diese dadurch abzu-sichern6, die Notwendigkeit, den Satz nicht ohne Subjekt zu formulieren, sondern ihn vollständig mit seiner ganzen tautologischen Überzeugungskraft auszudrük-ken7. Wie die Konjektur von Cornford (Ópwj ™Õn œsti) zeigt, lässt sich das ™Òn in V. 3 problemlos einführen; dass Parmenides es nicht getan hat, muss auf einer

der Forschungsgeschichte sehr verbreitet und wurde auch von den Forschern angenommen, die die Verse 3 und 5 nicht auf die oben genannte Weise ergänzen (vgl. z. B. O. Gigon 1968, S. 250).

3 Als „Nichtsein“ wird m¾ e"nai z. B. von H. Diels (1897, S. 33), DK (1961, S. 231) und O. Gigon (1968, S. 251) übersetzt; vgl. E. Heitsch (1991, S. 15: 2.3: „(...) und Sein ist notwendig“; 2.5: „(...) und Nicht-Sein ist notwendig“), A. Finkelberg (1988, S. 47: „that to be is and not to be is not“, „that to be is and that of necessity not to be is“). Zur Kritik an dieser (v. a. in V. 5 schwierigen) Konstruktion s. A.P.D. Mourelatos (1970, S. 47, Anm. 1), U. Hölscher (1969, S. 77f.).

4 Vgl. unten. Wie im Folgenden gezeigt werden wird, erhält œstin keine Begründung im strengen Sinne, denn es stellt kein Urteil dar, das argumentativ begründet werden könnte; in analoger Weise spielt sich die Ablehnung des oÙk œstin auf einer anderen Ebene ab als auf der einer Polemik gegen eine bestimmte These.

5 S. G.E.L. Owen (1960, S. 90), U. Hölscher (1969, S. 80), M.C. Stokes (1971, S. 121f.). W.K.C. Guthrie (1965, S. 16) behauptet, der Weg „ist“ werde nicht bewiesen („it is stated and said to be true“), während der zweite Weg nur „for the sake of completeness“ (niemand „begehe“ ihn) eingeführt und fast beiläufi g abgelehnt werde („briefl y dismisses it as inconceivable“). Allerdings sieht Guthrie selbst (S. 17) in Fr. 3 und Fr. 6 Elemente eines Beweises, dass das Nichtsein undenkbar ist – also eine Argumentation gegen den zweiten Weg. Vgl. auch M.C. Stokes (1971, S. 307, Anm. 51).

6 So z. B. W.K.C. Guthrie (1965, S. 16), D. O’Brien (1987, S. 229f.).7 U. Hölscher (1969, S. 78).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 3: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung 47

bewussten Absicht beruhen8. Überhaupt erscheint die traditionelle Auffassung, nach der die Thesen „das Seiende ist / das Nichtseiende ist nicht“ eine zentrale Rolle in der Argumentation des Parmenides gespielt haben9, zweifelhaft; in den erhaltenen Fragmenten des Epos gibt es jedenfalls keine Stelle, die sie sicher be-stätigen könnte10.

Es wurden zahlreiche weitere Versuche unternommen, das vermisste Subjekt von V. 3 und 5 zu fi nden. Als Ergänzungen, die jedoch eher beliebig scheinen, wurden u. a. solche Begriffe wie „Weg“11, „reality“12, „Truth“13 vorgeschlagen. Breitere Zustimmung fand G.E.L. Owens Annahme eines weniger bestimmten, „logischen“ Subjekts: „what can be talked or thought about“14. In ähnlicher Weise plädiert Ch. H. Kahn (1969, S. 710) für „the object of knowing, what is or can be known“ (aus dem Kontext, v. a. aus dem Prooimion, zu ergänzen) und für eine veritative (bzw. ontologisch-veritative) Bedeutung des œstin, die in der Formel „it is the case“ (S. 711) wiedergegeben sein soll. Der erste Weg wäre demnach eine

8 So z. B. J. Klowski (1977, S. 108) und J. Mansfeld (1964, S. 51). Nach diesen Forschern wird das Seiende als Subjekt erst in einem speziellen Beweisgang konstituiert.

9 So noch N.-L. Cordero (2004b, S. 69f.: „... this is his fundamental idea, his thesis, the statement that of itself justifi es Parmenides’ eminent place in the history of philosophy“).

10 Als Belege für die angeblichen Parmenideischen Thesen „das Seiende (bzw. das Sein) ist“ und „das Nichtseiende (bzw. das Nichtsein) ist nicht“ werden drei Stellen angeführt: 8.36-37, 6.1-2a und 8.46. Der Text von Fr. 8.36-37 ist jedoch, wie später (s. u., Kap. 3.3.2.2.1) gezeigt werden wird, problematisch; zu Fr. 6.1b-6.2a s.u., Kap. 3.3.1. Der Text in Fr. 8.46 (oÜte g¦r oÙk ™Õn œsti) ist Resultat einer Konjektur; der überlieferte Text lautet: oÜte Ôn. M. Untersteiner (1958, S. 150), K. Bormann (1971, S. 44): oÜ teon; H. Diels (1897, S. 38): oÜteon; H. Diels, VS 1912: oÜ teon (= oÜ ti). Dagegen DK 1961: oÙk ™Òn (mit dem Kommentar: „doch bleibt der Text unsicher“) (so auch u. a. L. Tarán 1965, S. 84, 146f.; U. Hölscher 1969, S. 24; D. Gallop 1984, S. 72; A.H. Coxon 1986, S. 75); vgl. jedoch H. Diels (1897, S. 90: „Aber man fragt, wie soll der Abschreiber des Archetypus bei dieser klaren Form auf Abwege geraten sein?“). Zur Form teon s. H. Diels (1897, S. 90); F. Bechtel (1924, S. 169); E. Schwyzer (1939, S. 616). E. Heitsch (1991, S. 32: †oÜte ™Òn†) kommentiert die Stelle folgendermaßen (S. 158): „Doch bleibt daneben oÜteon oder oÜ teon immerhin erwägenswert, das Diels als Parallelform zu oÜti (=oÙdšn) vermutet hat; allerdings ist der Nominativ tšoj tšon (= tij ti) nicht belegt, wohl aber der Genetiv teo teu, der Dativ teJ und die entsprechenden Pluralformen tewn tšoisi; und immerhin fi ndet sich im alten Epos auch oÜ teu (S 192, d 264, f 210)“. Das Erscheinen der seltenen (oder, wie F. Bechtel meint, von Parmenides selbst geschaffenen) Form tšon statt ti ist mit M. Untersteiner als Paronomasie oÜ teon œsti (V. 46) ~ oÜt' ™Õn œstin (V. 47 an derselben Stelle des Hexameters) zu deuten. Zur Bedeutung von oÜte ... oÜ teon œstin Ópwj („es gibt nichts, d. i. kein solches Ding, das ... könnte“; gegen Diels’ Deutung von oÜteon als Nichtsein) s. M. Untersteiner (1958, S. CLXIV: „in oÜte ... oÙ si devono vedere due negazioni che si rinforzano“).

11 M. Untersteiner (1958, S. 129 u. LXXXVI); J.H.M.M. Loenen (1959, S. 96, Anm. 196; alternativ zu ti); K. Deichgräber (1983, S. 13). Zur Kritik vgl. K. Bormann (1971, S. 91), L. Tarán (1965, S. 35).

12 W.J. Verdenius (1964, S. 32); E. Tugendhat (1970, S. 136f.: fÚsij).13 W.J. Verdenius (1962, S. 237).14 G.E.L. Owen (1960, S. 95), ähnlich M.C. Stokes (1971, S. 122), W.K.C. Guthrie (1965, S. 15;

er lässt aber auch „das Sein“ – als damit identisch – als Subjekt zu).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 4: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

48 Aletheia: Denken und Sein

Art methodologischer Voraussetzung, die These „that whatever we know, whatever can be known, is – and must be – determinately so, that it must be actually the case in reality or in the world“ (1969, S. 711), mit anderen Worten, das Postulat der Realität des Wissensgegenstandes (1988, S. 242)15.

Als eine Modifi kation der These von G.E.L. Owen kann die Auffassung von J. Barnes (1979, S. 163) angesehen werden: Das zu ergänzende Subjekt sei „etwas“ („something“)16, das ein beliebiges Forschungsobjekt bezeichne, und zugleich ein zu ergänzendes Objekt von diz»sioj (2.2): „Of the ways of inquiring [about any given object], the fi rst assumes that [the object, whatever it may be] exists“. Es wurde jedoch mit Recht angemerkt, dass die Voraussetzung, die in Fr. 2 dargestell-ten Alternativen thematisierten die Existenz eines beliebigen Objekts des Denkens und Sprechens und der zweite, das Nichtexistieren dieses Objekts besagende Weg werde zurückgewiesen, notwendigerweise zur Folge hätte, dass das Ziel der Par-menideischen Lehre der Existenzbeweis aller Objekte des Denkens und Sprechens, einschließlich der Kentauren oder Einhorne, gewesen sein müsste – und diese Konsequenz kann nicht akzeptiert werden17.

Plausibler erscheint die immer häufi ger vertretene Auffassung, nach der die Abwesenheit der Subjekte beabsichtigt, also nicht durch eine Ergänzung aufzuheben ist. Sie wird vor allem durch andere Stellen bestätigt, an denen der Ausdruck œstin bzw. oÙk œstin in derselben subjektlosen Form wiederkehrt: 8.2 (æj œstin), 8.9 (Ópwj oÙk œsti), 8.16 (œstin À oÙk œstin). Als schwierig erweist sich jedoch die Frage nach dem eigentlichen Ziel dieser Formulierung. Die These von H. Fränkel18, dass œstin bei Parmenides nach dem Muster der unpersönlichen Verben vom Typ „(it) rains“ verwendet werde, fand wenig Anerkennung19. Mehr Beachtung verdient

15 Kahn unterzog seine Auffassung später bekanntlich zahlreichen Modifi kationen (allgemein kann gesagt werden, dass er sich in den 80er Jahren der Interpretation von Mourelatos wesentlich annäherte), die u. a. auf die von seinen Thesen hervorgerufene Kritik zurückgingen; s. A.P.D. Mourelatos (1969 und 1970, S. 59f.), D. Gallop (1979, S. 66f.). Einen kurzen, kritischen Überblick verschiedener Versionen von Kahns Auffassung liefert P. Thanassas (1997, S. 56-58, Anm. 78).

16 Vgl. auch U. Hölscher (1969, S. 15). Ähnlich auch D. Gallop (1979, S. 68): das Subjekt sei „a thing“, gleichzusetzen mit „what is there to speak and think of “.

17 P. Thanassas (1997, S. 55). Wie der Autor (S. 55, Anm. 74) bemerkt, haben manche Interpreten Parmenides dieses Ziel trotzdem unterstellt, um dann dessen Falschheit zu konstatieren.

18 H. Fränkel (1946, S. 169) und (1962, S. 403 mit Anm. 13).19 Zur Kritik s. L. Tarán (1965, S. 36), U. Hölscher (1969, S. 78, Anm. 30), A.P.D. Mourelatos

(1970, S. 47 mit Anm. 2), N.-L. Cordero (2004b, S. 52f.). L. Tarán vertritt seinerseits die Ansicht, dass das œstin einfach „concept of existence“ ausdrückt und dass Parmenides genauso gut „one way asserts Being“ sagen könnte (S. 37). Mit dieser Auffassung nähert er sich der alten These an, nach der der erste Weg „sagt, dass das Seiende ist“ (vgl. „there is existence“, L. Tarán 1965, S. 38), und der zweite, „dass das Nichtseiende ist“ (vgl. „non-Being exists“, ibidem, S. 39). K. Bormann (1971) übersetzt V. 3 als „der eine, daß «es ist» und daß Nichtsein nicht möglich ist“, V. 5 als „der andere aber, daß «es nicht ist» und daß Nichtsein notwendig ist“ (S. 33), erklärt jedoch nicht, warum die beiden Glieder der „daß“-Sätze nicht die gleiche Stellung haben (was in den Anführungszeichen zum Ausdruck kommt). oÙk œstin wird von ihm so aufgefasst: „oÙk

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 5: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung 49

eine Gruppe von Interpretationen, die davon ausgehen, dass œstin und oÙk œstin weder methodologische oder metaphysische Thesen noch logische Prämissen wie „das Seiende ist“, also keine Urteile sind, die (nach der Ergänzung bzw. näheren Bestimmung des Subjekts) im Hinblick auf ihre Richtigkeit oder Falschheit be-wertet werden könnten20, sondern einer metasprachlichen Ebene angehören und zwei verschiedene Modi der Aussage bezeichnen: Die Zurückweisung des zweiten Weges bedeutet die Ablehnung einer bestimmten Aussageform21.

Diese Auffassung wurde u. a. von G.S. Kirk und J.E. Raven in der ersten Aus-gabe von „The Presocratic Philosophers“ (1957) vertreten: Die von Parmenides bestrittene Aussageform sei die negative Prädikation. Parmenides lasse in Fr. 2 nur die Sätze der Form „it is ….“ („it is so-and-so, e.g. white“) zu und lehne diejenigen der Form „it is not ...“ („it is not something else, e.g. black“) ab. Da die Begründung dafür in dem Argument bestehe, dass das Nichtseiende sich nicht denken lässt, habe Parmenides die prädikative Funktion des e"nai mit dessen exi-stentieller Bedeutung verwechselt (S. 269f.)22. Diese Interpretation wurde jedoch

œstin ist die Verneinung des œstin: Nicht es ist. Wie oÙc Ûei (= es regnet nicht) bedeutet, daß das Gegenteil des Regnens wirklich ist, besagt oÙk œstin: das Gegenteil von œstin ist wirklich, d.h. das Nichts ist“ (S. 94). œstin À oÙk œstin bedeuten für Bormann „Es ist oder das Nichts ist“ (S. 94); der erste Weg beinhaltet also die Aussage „Seiendes ist“ bzw. „Nichts ist nicht“, der zweite Weg gleicht einer „Annahme, das Nichts existiere“ (S. 95). Diese Interpretation überzeugt nicht. Vgl. auch die Auffassung von N.-L. Cordero (2004b, S. 51-54), nach dem das Subjekt zu „ist“ in Fr. 2.3 (aber auch zu „ist nicht“ in Fr. 2.5!), nämlich ™Òn, e"nai verstanden als „the fact of being, of existence“, „must be analytically extracted from the meaning of éstin“ (S. 53): „... just as ‚it rains‘ means ‚the fact of raining is happening now‘, ‚raining is present now‘, ‚it is‘ means ‚the fact of being is happening now‘, ‚the fact of being is present now‘“ (S. 53). Diese Deutung einschließlich der Erklärung, Parmenides gebe das Subjekt von „ist“ nicht an, „because he wants to stress the fact of being“ (S. 61f.), scheint jedoch anachronistisch.

20 Vgl. z. B. den Titel des Aufsatzes von Kahn aus dem Jahre 1969: „The Thesis of Parmenides“. Wie A.P.D. Mourelatos (1969, S. 741) bemerkt, verzichtet Kahn sehr schnell auf die Parmeni-deische Wegmetaphorik und spricht von „thesis“, „assertion“, „claim“ oder „premise“. Dass es sich beim Parmenideischen „ist“ um eine „These“ handle, betont sehr entschieden auch N.-L. Cordero (2004b). Vgl. auch die schon angeführte These von K. Bormann, dass der zweite Weg einer „Annahme, das Nichts existiere“ (S. 95) gleichkomme (der Verfasser stellt explizit die Frage, warum eine solche Annahme als „Weg“ bezeichnet wird). Auch von A. Finkelberg (1988) werden die beiden Wege einfach als Thesen („existentielle Prädikationen über ein existentielles Subjekt“) interpretiert: Der erste Weg besteht demnach aus zwei tautologischen Sätzen „Sein ist“ und „Nichtsein ist nicht“, der zweite aus zwei widersprüchlichen Sätzen „Sein ist nicht“ und „Nichtsein ist“; „the reader learns that he must combine ‚to be‘ with ‚to be‘ and ‚not to be‘ with ‚not to be‘“ S. 49).

21 Vgl. schon G. Calogero (1970, bes. S. 19f.).22 Eine Modifi kation dieser Auffassung schlägt U. Hölscher (1969, S. 78-80) vor. Die beiden

Wege stellen nach ihm „reine Möglichkeiten der Aussage“ dar (Beispiele solcher Aussagen sind z. B. „es ist Tag, das Meer ist grau, es ist nicht warm“). Das „ist“ des Parmenides ist weder auf die Kopula noch auf die Existenzaussage zu reduzieren, denn es heißt „ist seiend“ – auch das Prädikat („das Grau des Meeres, die Wärme der Luft“ etc.) wird als ein Seiendes aufgefasst: „Das ‚ist‘, welches man ein substantiales nennen kann, bezeichnet ein ursprüngliches Wahrsein“ (S. 79).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 6: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

50 Aletheia: Denken und Sein

zu Recht kritisiert: Es ist kaum zu übersehen, dass Parmenides selbst in Fr. 8 durchaus negative Prädikate verwendet. Außerdem schließen sich die beiden Wege in dieser Interpretation nicht aus, sondern können beide zugleich wahr sein (wie in dem oben angeführten Beispiel „ist weiß“ und „ist nicht schwarz“23), während Parmenides die Wege zweifellos als kontradiktorisch aufgefasst hat24.

Am konsequentesten verfolgt diesen Interpretationsansatz A.P.D. Mourelatos (1970). Die Ausdrücke für die beiden Wege gehören seiner Auffassung nach zur Metasprache: „Ist“ repräsentiert die Form des Urteils, es ist die Kopula, die ab-sichtlich ohne Subjekt und Prädikat verwendet wird („ ____ ist ____“) (S. 54f.). Sie drückt eine spezielle, „spekulative“ Prädikation aus, die in den Antworten auf die philosophische Frage „Was ist das?“ enthalten ist und die die „Natur“ bzw. das „Wesen“ des Dinges bezeichnet („ist essentiell, in Wahrheit, in seinem Wesen“ das und das) (S. 56-59). Durch die Zurückweisung des zweiten Weges werden also negative Prädikate nicht generell zurückgewiesen, sondern nur in den Antworten auf spekulative und kosmologische Fragen abgelehnt25, und zwar nicht als ganz bedeutungslos, sondern als uninformativ (S. 74-78). Eine Untersuchung, die zum Gegenstand Nichtsein hat („the so-and-so that really is not such-and-such“), kann nicht einmal begonnen werden, denn selbst das Ziel einer solchen „journey“ ist nicht erkennbar (S. 78: „Where do I go if I am told to go to ‚not-Ithaca‘?“).

Die interessante Konzeption von Mourelatos ist jedoch nicht frei von ernsthaften Problemen. Wie schon D. Gallop (1979, S. 64) bemerkte, stellt sie die beiden Wege, ebenso wie die Auffassung von G.S. Kirk und J.E. Raven, nicht als kontradiktorisch dar, sondern als einander potenziell ergänzend. Zudem gibt es keine ausreichende Grundlage, um œstin in Fr. 2 als Kopula zu interpretieren (dasselbe gilt für œstin in Fr. 8.2 und 8.16)26. P. Thanassas verweist auf eine weitere Schwierigkeit dieser Interpretation: Durch die Zurückweisung der „spekulativen“ Negation würde sich Parmenides als ein gegenüber Wissensinhalten desinteressierter Methodologe – und sogar als ein schlechter Methodologe – erweisen, denn die Sätze vom Typ „x ist nicht-F“ spielen eine bedeutende, wissensproduktive Rolle27.

Die dargelegten Schwierigkeiten scheinen die allgemeine These von P. Thanassas (1997, S. 56, 61-65) zu stützen: Das œstin von Fr. 2 überschreite die gewöhnlich zur Beschreibung von e"nai verwendeten syntaktischen und semantischen Kategorien.

23 D. Gallop (1979, S. 62), P. Thanassas (1997, S. 53).24 Für die Kontradiktion auch bei den modalen Formulierungen in V. 3b und 5b argumentiert

überzeugend P. Thanassas (1997, S. 72-74).25 Nach A.P.D. Mourelatos bedient sich Parmenides zwar negativer Prädikationen, diese sind

jedoch keine „negations made de re“, sondern nur „rejections de dicto of negations made de re“ (1970, S. 53). Zur Kritik an dieser These s. D. Gallop (1979, S. 76, Anm. 11) und P. Thanassas (1997, S. 30f. mit Anm. 9).

26 D. Gallop (1979, S. 63f. mit Anm. 12), J. Klowski (1977, S. 119f.). „… eine „nackte“, nicht von einer bestimmten (obzwar vielleicht unausgesprochenen) prädikativen Ergänzung gefolgte Kopula ist gar keine!“ (P. Thanassas 1997, S. 58). Ähnlich B. Miłu ska (1988, S. 8).

27 S. P. Thanassas (1997, S. 59f. u. Anm. 85). Vgl. auch die Kritik von D.J. Furley (1973, S. 12f.).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 7: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung 51

Die Frage ist jedoch, in welcher Weise dies erfolgt28. Bei der Suche nach der Antwort sei zunächst auf eine grundlegende, aber über den eingehenden Forschungsdiskus-sionen über die Semantik und Syntax von œstin in den Hintergrund geratenen und selten auf ihre Konsequenzen hin untersuchten Tatsache hingewiesen: Parmenides führt œstin und oÙk œstin als Gedanken ein29, sie werden als „die einzigen Wege der Forschung“, die noÁsai sind, dargestellt. Der Ausdruck e„si noÁsai wird auf zweierlei Weise übersetzt; beide Möglichkeiten sind grammatisch möglich30 und ergeben einen guten Sinn: Die Wege sind sowohl „möglich zu denken“ (sie können gedacht werden)31 als auch „für das Denken“ (sind Wege, auf denen das Denken voranschreiten kann; vgl. B 7.2)32; während jedoch die erstere Option gelegentlich

28 P. Thanassas versteht das œstin in Fr. 2 folgendermaßen: „Die Göttin spricht hier keinen ‚normalen‘ Satz aus, und ebensowenig hat sie die Form aller bejahenden Aussagen oder eine leere Variable im Blick. Sie lenkt vielmehr unsere Aufmerksamkeit auf die Bedingungen der Möglichkeit aller Sätze und jeglichen Redens, sie thematisiert die Voraussetzungen der Struk-tur der Verständlichkeit überhaupt. Besser gesagt, sie thematisiert die in ihren Augen einzige Voraussetzung dieser Struktur, welche darin liegt, daß alles Angesprochene, Gemeinte oder Verstandene ist“ (1997, S. 64).

29 S. auch E. Heitsch (1970, S. 15), J. Wiesner (1996, S. 181).30 Rein sprachlich lässt sich deswegen die Frage nach der besseren Übersetzung der Phrase nicht

entscheiden. Von den sprachlichen Parallelen, die von den Anhängern beider Interpretationen angeführt werden (s. z. B. A.H. Coxon 1986, S. 174 für die passive Übersetzung der Phrase; A.P.D. Mourelatos 1970, S. 56, Anm. 26, für die aktive), hat zweifellos das Fragment von Empedokles m»te ti tîn ¥llwn, ÐpÒshi pÒroj ™stˆ noÁsai, / gu…wn p…stin œruke, nÒei d' Âi dÁlon ›kaston (DK 31 B 3.17f.), in dem pÒroj kein Objekt von noÁsai darstellt (s. N.-L. Cordero 1984, S. 49f.; A.P.D. Mourelatos 1970, S. 56, Anm. 26), die größte Bedeutung. Trotz-dem erlauben die Empedokleischen Verse, auch wenn sie wahrscheinlich vom Parmenideischen Text inspiriert sind, keine endgültige Beantwortung dieser Frage.

31 Diese traditionelle Übersetzung bevorzugen u. a.: DK (1961, S. 231: „zu denken sind“), E. Heitsch (1991, S. 15: „zu erkennen sind“), U. Hölscher (1969, S. 15: „zu denken sind“), A.H. Coxon (1986, S. 52: „are alone conceivable“, S. 191: „are possible logically“), M. Untersteiner (1958, S. 129: „siano logicamente pensabili“), L. Tarán (1965, S. 32: „can be conceived“), J. Barnes (1979, S. 159: „are for thinking of “ im Sinne von „can be thought of “), K. Bormann (1971, S. 33: „zu denken möglich sind“).

32 Für A.P.D. Mourelatos (1970, S. 55) ist der Inf. noÁsai zwar von e„si abhängig, trägt aber einen fi nalen Sinn („what routes of quest alone there are for thinking [knowing]“); das logische Subjekt zum Infi nitiv sei „du“, „Mensch“, oder „die Sterblichen“, das Objekt z. B. ti, crÁma oder ™Òn; der Infi nitiv habe also eine aktive Bedeutung: „is for there to be thinking“. Mourelatos unterscheidet seine eigene Position von der Interpretation des Inf. noÁsai als eines von e"nai abhängigen Dativs. Diese Interpretation führt zu J. Jantzens Übersetzung des Verses als „welche Wege der Untersuchung allein für das Denken sind“ (1976, S. 116), bei der der Infi nitiv ebenfalls aktiv aufgefasst wird (doch sprechen auch Anhänger der traditionellen, passiven Übersetzung von noÁsai, z. B. KR 1957, S. 269 und J.A. Palmer 1999, S. 41, von einem Dativ des Infi nitivs). Gegen die Auffassung der Wege als Objekte des noÁsai spricht sich auch N.-L. Cordero (1984, S. 48f.) aus, der übersetzt „quel sont les seuls chemins de la recherche qu’il y a pour penser“ (S. 36) (ähnlich idem, 2004, S. 40-42: „ways ‚to think‘“). Insofern kommt dieser Auslegung die Position von Ch.H. Kahn (1969, S. 703 u. Anm. 4) nahe, nach der noÁsai jedoch „loosely epexegetical, or fi nal, with Ðdo…“ benutzt wird: „what ways of search there are for knowing“; diese Interpretation scheint allerdings nicht eindeutig. J. Barnes (1979, S. 329, Anm. 7) gibt

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 8: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

52 Aletheia: Denken und Sein

auf eine Präsentation der logisch möglichen33 oder vorstellbaren34 Wege reduziert wird, scheint die letztere Übersetzung den Kern der Parmenideischen Intention präziser auszudrücken: „Parmenides’ goddess (...) is not telling him simply what ways of inquiry are conceivable but what ways of inquiry he can actively engage in thinking“ (A.A. Long 1996, S. 139, Anm. 24)35. Die Worte e„si noÁsai ma-chen klar, dass die Untersuchung, die auf den beiden Wegen stattfi nden soll, zur Sphäre des Denkens gehört: Wie auch an anderen Stellen des Gedichts, wo die mit der Konjunktion æj bzw. Ópwj eingeführten Ausdrücke œstin und oÙk œstin von einem Ausdruck des Denkens bzw. Sprechens abhängig sind (oÙ g¦r fatÕn oÙd{ nohtÒn / œstin Ópwj oÙk œsti 8.8-9; mÒnoj d' œti màqoj Ðdo‹o / le…petai æj œstin 8.1-2)36, werden die beiden Wege auch in B 2.3 und 2.5 mit Ópwj œstin und æj oÙk œstin vorgestellt, weil sie von Anfang an als Wege für das Denken bezeichnet werden. Zwischen æj bzw. Ópwj und noÁsai besteht zwar keine direkte grammatische Abhängigkeit, aber ein unverkennbarer logischer Zusammenhang, was sowohl gegen eine Ergänzung der Verse ¹ m{n Ópwj ... (2.3), ¹ d' æj ... (2.5) durch Ausdrücke wie der lautet (der besagt etc.) [dass ...]“37 als auch gegen die

die Version von Kahn mit dem Satz „what ways of enquiring there are that lead to thought“ wieder (vgl. Kahn 1969, S. 704: „The problem which Parmenides raises (…) is the problem of the search for knowledge, the choice between alternative ways for thought or cognition to travel on in pursuit of Truth“). Von Kahn beeinfl usst ist J.A. Palmer (1999, S. 39, 41), der noÁsai direkt mit diz»sioj verbindet („which are the only paths in the search for knowing“); die Göttin weise dem Jüngling den Weg der Suche nach „nÒoj or true understanding“. Schließlich schlägt D. O’Brien (1987, S. 153f.) vor, das noÁsai als einen konsekutiven, von moànai (bzw. von dem als eine syntaktische Einheit verstandenen Ausdruck moànai + e„si) abhängigen Infi nitiv aufzufassen, wobei der aktive Infi nitiv einen passiven Sinn haben soll („quelles sont les voies de recherche, les seules <qu’on ait> à concevoir“ / „les seules à être conçues“ d. i. „les seules concevable“; vgl. die von O’Brien, S. 154 mit Anm. 9 angeführten Belege aus Homer).

33 Vgl. die schon erwähnten Übersetzungen von A.H. Coxon (1986, S. 191: „are possible logical-ly“), M. Untersteiner (1958, S. 129: „siano logicamente pensabili“) oder F.M. Cornford (1933, S. 99: „logically conceivable“).

34 S. z. B. W.J. Verdenius (1964, S. 34).35 Ähnlich J. Jantzen (1976, S. 117, Anm. 20).36 Vgl. dagegen B 8.15-18 (¹ d{ kr…sij perˆ toÚtwn ™n tîid' œstin: / œstin À oÙk œstin: kškritai

d' oân, ésper ¢n£gkh, / t¾n m{n ... t¾n d' ...), wo „ist“ und „ist nicht“ ohne Konjunktionen vorkommen, weil sie durch kein verbum cogitandi oder dicendi eingeführt werden.

37 So z. B. E. Heitsch 1991, S. 15: „Der eine, (der da lautet) ‚es ist, und Sein ist notwendig‘ …“. Vgl. auch D. O’Brien (1987, S. 16f.: „Le première voie <énonçant>: «est», et aussi: il n’est pas possible de ne pas être“; „the one <way, which tells us> that ‚is‘, and that it is not possible not to be“), L. Tarán (1965, S. 32: „the one [says]: „exists“ and „it is not possible not to exist“) u. a.; zur Kritik an solchen Konstruktionen s. auch N.-L. Cordero (2004b, S. 42), der konsta-tiert: „The way does not speak“. Sollen die Verse ergänzt werden, dann ist vielmehr das Verb „denken“ zu wiederholen. Auch Übersetzungen wie „der eine, daß «es ist» und daß Nichtsein nicht möglich ist“ (K. Bormann 1971, S. 33 u.a.) scheinen nicht ganz richtig, da die Ausdrücke Ópwj und æj in gewisser Weise die Anführungszeichen ersetzen (so auch A. Finkelberg 1988, S. 48): Wird das „es ist“ in Anführungszeichen gesetzt, erscheint das „daß“ als funktionslos.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 9: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung 53

dadurch ermöglichten Übersetzungen von noÁsai in V. 2 als „kennen, verstehen usw.“38 spricht.

Bei dem Versuch, den Status von œstin und oÙk œstin als Gedanken genauer zu deuten, muss berücksichtigt werden, dass sich Parmenides bei dieser Klassifi -kation noch nicht auf eine präzise, philosophisch ausgearbeitete Auffassung des Denkens berufen kann, weil es sich erst um den Anfang seiner Erörterungen handelt. Der grundlegende, in Fr. 2 vorausgesetzte Sinn des Begriffs „Gedanke“ bzw. „Denken“ muss für die Leser bzw. Hörer zumindest in groben Zügen sofort verständlich sein, auch wenn Parmenides später seine Auffassung des Denkens weiterentwickelt und modifi ziert. Von einer Dichotomie zwischen dem Geistigen und dem Materiellen oder von einer konsequent materialistischen Interpretation des Denkens kann hier natürlich keine Rede sein, und nichts deutet darauf hin, dass hier das Denken überhaupt als etwas Substantielles verstanden werden soll. Überzeugender scheint die einfache, zwar auch philosophisch interessante39, aber schon auf der präphilosophischen Stufe verständliche und die Frage nach seiner Substanz noch nicht implizierende Auffassung des Denkens als eines Analogons des Sprechens bzw. als eines anderen Aspekts desselben Phänomens wie Sprache. Dass diese Interpretation des Denkens von Parmenides tatsächlich vertreten wurde, bezeugen die zahlreichen Stellen des Gedichts, an denen Ausdrücke des Denkens mit Ausdrücken des Sprechens zusammengestellt werden: lšgein + noe‹n 6.1, f£sqai + noe‹n 8.8, fatÒn + nohtÒn 8.8, ¢nÒhton + ¢nènumon 8.17, lÒgoj + nÒhma 8.50. Die genauere Bedeutung dieser Zusammenstellungen ist noch zu untersuchen40; vorerst sei nur auf den allgemeinen Sinn der genannten Interpretation des Den-kens hingewiesen. Als ein Analogon des Wortes wird in ihr der Gedanke in aller Konkretheit aufgefasst; auch das Denken im Allgemeinen wird nicht abstrakt verstanden, sondern als identisch mit der Sprache, die ihrerseits als eine begrenzte Anzahl von Wörtern, genauer gesagt: von Namen41, begriffen wird. Die Kategorie des Namens wird dabei in dieser frühen Phase weder in nomina apellativa und nomina propria unterteilt noch nur auf die Substantive beschränkt42.

Die in der Parmenides-Forschung verbreitete Ansicht vom pejorativen Sinn von Ônoma und Ñnom£zein bei Parmenides43 kann natürlich nicht gegen diese In-terpretation der Parmenideischen Auffassung des Denkens sprechen, da es sich bei

38 Vgl. z. B. E. Heitsch (1991, S. 15): „… welche Wege des Untersuchens allein zu erkennen sind. / Der eine, (der da lautet) ‚es ist, und Sein ist notwendig‘ …“.

39 S. z. B. Platon, Theaet. 189 e 3 ff.40 Dazu s. unten, Kap. 3.2.4.41 S. A. Graeser (1977, S. 147; 1977b, S. 363; 1975, S. 21-23). 42 ” Onoma bezeichnet noch bei Plato verschiedene Wortarten, auch Verben (s. K. Oehler 1962,

S. 57 u. Anm. 2). Nach A. Graeser können für Parmenides auch längere Ausdrücke oder gar Sätze als Namen fungieren (doch zu Fr. 8.38-41, das als Grundlage für Graesers These dient, s. unten Kap. 3.3.2.2.3.3).

43 S. z. B. J.H.M.M. Loenen (1959, S. 39-41; S. 80, Anm. 174), A. Patin (1899, S. 633f.), E. Loew (1925), W.J. Verdenius (1964, S. 55), R. Falus (1960, S. 287f.), J. Mansfeld (1964, S. 43), L. Tarán (1959/60, S. 133). Gegen diese Auffassung von Ônoma sprechen sich u. a.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 10: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

54 Aletheia: Denken und Sein

letzterer nicht um die Terminologie, sondern um eine wesensmäßige Deutung des Phänomens des Denkens handelt. Die genannte Ansicht fußt im Übrigen auf einer sehr schwachen Grundlage, nämlich auf der Tatsache, dass die Worte Ônoma und Ñnom£zein hauptsächlich in den „Doxa“-Fragmenten belegt sind, wo sie sich auf eine typisch menschliche Aktivität beziehen (B 8.53-54 und B 9: die fehlerhafte Benennung der beiden Formen; B 19: die konventionelle Benennung der Elemente der phänomenalen Welt). Als wichtigster Beleg für die angeblich negative, dem lÒgoj und dem nÒhma entgegengesetzte Bedeutung von Ônoma gilt B 8.38, das allerdings weder textkritisch sicher noch leicht zu deuten ist44.

Die Auffassung des Benennens als einer geringerwertigen, unphilosophischen und nur auf die phänomenale Welt bezogenen Form der kognitiven Aktivität scheint eine zu weit gehende Vereinfachung zu sein; gegen diese Vorstellung spricht außerdem B 8.17, wo bei ¢nÒhton das Wort ¢nènumon erscheint45.

Werden die Gedanken œstin und oÙk œstin zu Beginn der Parmenideischen Untersuchung als Namen aufgefasst, erscheint die Frage nach dem fehlenden Subjekt in B 2.3 und 2.5 in einem neuen Licht: Für einen Namen ist nicht das Verhältnis zu einem anderen Satzteil, nicht also die syntaktische Relation „Sub-jekt – Prädikat“, sondern die Beziehung zu dem benannten Objekt grundlegend. Will also Parmenides von so verstandenen Gedanken sprechen, dann ist das Fehlen des Subjekts bei œstin und oÙk œstin durchaus verständlich und zweckmäßig. Das Benannte wird von Anfang an vorausgesetzt und ist auf der Grundlage seines Namens teilweise schon bekannt, wenn auch nur formal: Es ist eben das, was ist bzw. das, was nicht ist. Das Benannte aber in den Satz einzubeziehen, würde nur eine nichts sagende Tautologie ergeben („Das, was ist, ist“, „Das, was nicht ist, ist nicht“). Durch die Auslassung des Subjekts fokussiert Parmenides dagegen seine Aussage auf œstin und oÙk œstin selbst, die, von den sprachlichen Verhältnissen getrennt betrachtet, sich als isolierte Elemente der Sprache und des Denkens dar-stellen, die ihren Sinn erst in einer Relation zu der Wirklichkeit selbst erhalten. In dem Satz ist demnach nichts zu ergänzen, denn das Pendant zu „ist“, sc. das, was ist, ist schon in der Aussage anwesend – eben durch seinen Namen bzw. durch den es benennenden Gedanken. Durch die Betonung des Status von „ist“ als Namen nähert sich Parmenides paradoxerweise dem Ding selbst, nicht indem er die Sprache zu übergehen versucht, sondern indem er sie als das wichtigste zur Wirklichkeit führende Mittel – ÐdÒj – anerkennt. Wenn das Parmenideische „ist“ als „linguistic impertinence“ (P. Thanassas 2007, S. 35) zu bezeichnen ist, dann eben darum, weil es die konventionelle Durchsichtigkeit der Sprache als eines

A.P.D. Mourelatos (1970, S. 182f., Anm. 41) und L. Woodbury (1971, S. 146f., 153ff.) aus; s. auch D. Gallop (1984, S. 26-28).

44 S. unten, Kap. 3.3.2.2.3.3.45 Die Erklärungsversuche, dass Parmenides zweifellos „no longer felt the meaning of Ônoma in

this word [sc. ¢nènumon]“ (J.H.M.M. Loenen 1959, S. 40, Anm. 68), überzeugen nicht, vor allem angesichts der zahlreichen Zusammensetzungen mit -wnumoj, deren Bezug auf Ônoma sehr deutlich ist (s. z. B. P. Kretschmer – E. Locker 1944, S. 441).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 11: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung 55

Kommunikationsmittels ablehnt und ihre eigentliche Stellung gegenüber dem Menschen sowie gegenüber dem Sein auszudrücken versucht. Eine Anknüpfung an die Parmenideische Konzeption, nach der „ist“ als Name der Wirklichkeit fungiert, könnte in dem kontroversen Zitat aus dem „Theaetet“ (180d), oŒon ¢k…nhton telšqei tîi pantˆ Ônom' e"nai46, vorliegen, auch wenn es sich um eine Parodie der Verse des Parmenides handelt47.

Der semantisch-syntaktische Wert von œstin, der jeweils von seinem direkten Kontext und seiner Funktion im Satz festgelegt wird, lässt sich in B 2.3 und 2.5, wo œstin absichtlich von solchen Bezügen isoliert wurde, nicht näher bestimmen. Auch wenn die Argumentation in V. 4 und 6-8 manche Nuancen des Verbs nahe liegender erscheinen lässt als andere48, will Parmenides offensichtlich keine Un-terscheidung zwischen Kopula, Identitätszeichen, Verb der Existenz usw. treffen: In jedem konkreten Gebrauch von œstin sieht er wahrscheinlich nur eine der möglichen „Erscheinungsformen“ des Verbs, die seiner in B 2.3 und 2.5 thema-tisierten Hauptfunktion als Gedanke bzw. Name untergeordnet sind. Es besteht darum keine Grundlage für die Behauptung, dass in Fr. 2 oÙk œstin speziell in seiner Funktion als Kopula abgelehnt wird. Auch in Fr. 8 vermeidet Parmenides die negative Prädikation nicht: Er formuliert lediglich die „ist nicht F“-Sätze in die Form „ist nicht-F “ um, indem er Adjektive mit a privativum verwendet (z. B. ¢gšnhton, ¢nèleqron, ¢tremšj, ¢k…nhton, ¥narcon, ¥pauston) oder die Negation direkt vor das Prädikatsnomen verschiebt (oÙk ¢teleÚthton tÕ ™Õn qšmij e"nai, œsti g¦r oÙk ™pideušj, oÙd{ diairetÒn ™stin, oÜte ti me‹zon oÜte ti baiÒteron pelšnai ...). Dadurch erreicht er, dass die Prädikate des Seienden an keiner Stelle direkt mit dem Ausdruck oÙk œstin, der in B 8 nur als Bezeichnung für den falschen Weg der Forschung fungiert49, verbunden werden50. Dies zeigt, dass Parmenides nicht negative Prädikationen im Blick hatte, sondern den Ausdruck oÙk œstin selbst, den er am Ausgangspunkt seiner Untersuchung als einen potentiellen Namen betrachtet und anschließend als solchen zurückweist.

Die Funktion von œstin (bzw. ™st…n) als Kopula scheint für Parmenides nur eine der in dem Verb enthaltenen Möglichkeiten zu sein, wenn auch eine besonders wichtige: Das konsequent aufgefasste „ist“ „entwickelt“ sich nach Parmenides zu „ist F1

, F2, F

3…“; es nimmt die dem Seienden zugehörigen Prädikate zu sich. Auf

46 Zu diesem Zitat, das auch bei Simplikios Phys. 29 und 143, Eusebius, Praep. ev. 14.4, und Theodoret, Gr. aff. cur. 2.15 angeführt wird, s. vor allem F.M. Cornford (1935), A.P.D. Mou-relatos (1970, S. 185-188), B.M. Perry (1989) und M. Dixsaut (1987, S. 246-253). Auf den möglichen Zusammenhang zwischen dem Zitat und der Parmenideischen Namenskonzeption verweist auch L. Woodbury (1971, S. 148f., 153-155).

47 Vgl. Plut., De E ap. Delph. 392a, 293a-b.48 So kommt in V. 3-4, wo œstin in Verbindung mit der 'Alhqe…h auftritt, möglicherweise vor

allem die veritative Bedeutungsnuance zum Ausdruck.49 Vgl. Fr. 8. 9, 8.11, 8.16, 8.20. 50 Die Tatsache, dass die Lesart oÙd{n g¦r [À] œstin À œstai in Fr. 8.36 eine vereinzelte Ausnahme

von dieser Regel darzustellen scheint, bestätigt nur die auch sonst gut begründete Ansicht, dass sie nicht korrekt sein kann. Dazu s. unten, Kap. 3.3.2.2.1.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 12: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

56 Aletheia: Denken und Sein

diese Weise erhält œstin als der Name des Seienden den Charakter eines Weges, der zur Erkenntnis des von ihm Benannten führt.

Die Bedeutung von Fr. 2 erschöpft sich nicht in einer bloßen Präsentation der Wege der Forschung: Die Wege werden kommentiert, und zwar jeweils positiv oder negativ, worauf sie sofort anerkannt oder abgelehnt werden. Die Aussagen weisen eine deutlich erkennbare Struktur auf51. Zunächst werden die beiden Wege der Forschung vorgestellt:

1a) œstin te kaˆ ... oÙk œsti m¾ e"nai (2.3)1b) oÙk œstin te kaˆ ... creèn ™sti m¾ e"nai (2.5);

danach wird jeder von ihnen bewertet:

2a) Peiqoàj ™sti kšleuqoj (2.4a)2b) t¾n d» toi fr£zw panapeuqša œmmen ¢tarpÒn (2.6);

schließlich wird die Bewertung begründet (g£r):

3a) 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹ (2.4b) 3b) oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn, oÙ g¦r ¢nustÒn, / oÜte fr£saij (2.7-8)52.

Der Status der symmetrisch geordneten Aussagen53 bleibt jedoch unklar: Es ist umstritten, ob wir es hier mit einer echten Argumentation zu tun haben oder mit einer „dogmatischen“ Verkündigung gewisser Urteile, die lediglich durch emphatische Bekräftigungen unterstützt werden54. Dieses Problem entspringt ei-ner grundlegenden Schwierigkeit: Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Aussagen des Fragments sind nicht klar genug55.

51 E. Heitsch (1970, S. 15).52 Gegen diese Auffassung der Struktur von Fr. 2 argumentiert J. Klowski (1977, S. 106), der

eine Parallelität zwischen den traditionell als emphatische Versicherungen verstandenen und in Klammern gesetzten Sätzen 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹ (2.4b) und oÙ g¦r ¢nustÒn (2.7) an-nimmt.

53 Es muss betont werden, dass die formale Symmetrie der Aussagen keine genaue inhaltliche Entsprechung der Thesen nach sich ziehen muss; im Gegenteil ist schon in Fr. 2 sichtbar, dass die beiden Wege nicht ausschließlich kontrastiv gegenüberstellt werden (vgl. auch 8.17-18, wo die Parallelität nicht vollständig durchgeführt ist).

54 Die zweite Auffassung drückt sich im Einschließen der Aussage 3a in Klammern (so z. B. DK u. a.) aus. Sie wird als traditionell u.a. von J. Klowski (1977, S. 106) verteidigt; s. auch A. Finkelberg (1988, S. 53). Die erste Ansicht wird u. a. von J. Wiesner (1996, S. 163-180), W.J. Verdenius (1964, S. 31-44, bes. 41) und U. Hölscher (1969, S. 80ff., bes. 83) vertreten. P. Thanassas (1997, S. 76) glaubt dagegen, dass wir es hier mit einer Argumentation im „schwachen“ Sinn zu tun haben, die „auf einer im voraus vollzogenen festen Einsicht beruht und aus dieser, sich auf Evidenz berufend, gewisse Konsequenzen zu ziehen vermag“.

55 Umstritten bleibt sogar, welche der Aussagen dem eventuellen Beweis unmittelbar unterliegen: die als Urteile interpretierten „Inhalte“ der Wege (1a = B 2.3, 1b = B 2.5) (so z. B. W.J. Verdenius und U. Hölscher, nach denen die These „All reality is“ bzw. „es ist“ nachgewiesen werden), und erst dadurch indirekt die Wahl des ersten Wegs (2a, 2b) oder direkt die Bewertung der beiden

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 13: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung 57

Die wichtigste und am intensivsten diskutierte Frage ist die nach der Beziehung zwischen der Ablehnung des Weges oÙk œstin (2.6) und der Aussage in 2.7-8. Wird der Status von V. 2.7-8 als der Begründung dieser Ablehnung anerkannt, erweist sich die oben kritisierte Meinung, nach der der zweite Weg „das Seiende ist nicht“ „besagt“, als unrichtig: Wie E. Tugendhat (1970, S. 136) bemerkt hat, kann der Satz 2.7-8 keine Begründung für die Zurückweisung der These „das Seiende ist nicht“ darstellen, selbst wenn bei der inneren Widersprüchlichkeit der These eine solche Begründung noch erforderlich wäre56. Wie oben erwähnt, wurden auch Versuche unternommen, den zweiten Weg als die umgekehrte These, „das Nichtseiende ist“, zu deuten. In diesem Fall wäre das Argument, dass das Nichtseiende unerkennbar ist, als Begründung eher akzeptabel57; oÙk œstin lässt sich jedoch nicht in dieser Weise interpretieren.

Wird „ist nicht“ aufgrund der These von der Unerkennbarkeit des Nichtsei-enden zurückgewiesen, muss angenommen werden, dass das „ist nicht“ in einer wesentlichen Beziehung zu etwas steht, das als „Nichtseiendes“ bezeichnet wird. Wenn diese Annahme richtig ist, scheint es jedoch verfehlt, dieses „etwas“ für eine Variable, ein beliebiges Objekt der Untersuchung oder „das Sagbare und Denkbare“ zu halten58. Das, worauf sich die Formel „ist nicht“ bezieht, erscheint in Fr. 2 als im Voraus festgelegt, wenn auch, wie oben erwähnt, nur formal: Es ist tÕ m¾ ™Òn.

Die Ablehnung des Weges „ist nicht“, begründet mit der Unerkennbarkeit des Nichtseienden (2.7-8: oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn ... / oÜte fr£saij), wird

Wege (2a = B 2.4a, 2b = B 2.6) (so z. B. J. Wiesner). Die erste Auffassung überzeugt jedoch nicht, weil sie auf einem oben abgelehnten Verständnis der Wege beruht.

56 A. Finkelberg (1988, S. 53f.) (für den die beiden Wege, wie schon erwähnt, eben die „Thesen“ „Sein ist“ und „Sein ist nicht“ darstellen) akzeptiert diese Konsequenz und bestreitet, dass Fr. 2.6-8 ein Argument gegen den zweiten Weg enthält; die Verse 2.6-8 beinhalten seiner Ansicht nach „a new development: the notion of non-Being is introduced as a corollary of the hypothetical acceptance of the second ‚way‘ and is asserted to be such that it is not possible to gign skein and phradzein it“ (S. 54).

57 „The other way is impossible, for it asserts the existence of non-existence (æj oÙk œstin te kaˆ æj creèn ™sti m¾ e"nai), for non-Being cannot be conceived or expressed“ (L. Tarán 1965, S. 37). Für K. Bormann (1971, S. 94), nach dem oÙk œstin soviel wie „das Nichts ist“ bedeutet, ist „der zweite Weg (...) panapeuq»j, gänzlich unerforschbar, weil das Nichts weder erkannt noch sinnvoll ausgesprochen werden kann“.

58 Die Auffassung, nach der das Subjekt zu „ist nicht“ eine Art von Variable ist („whatever Par-menides is saying will apply equally well to ascertaining whether there is animal life on Mars, or a rational root to a certain equation, or an amount of tribute that will satisfy the Persians, or whether Socrates is fl ying, or any broad-leaved plants are deciduous“, M. Furth 1968, S. 117), ist unwahrscheinlich, weil Parmenides schon am Anfang als Thema des ersten Teils des Gedichts die Aletheia bezeichnet (vgl. Fr. 1.29) und sich von allen Sachen, die „zu sein scheinen“ (vgl. 1.31-32) zumindest vorläufi g trennt. „Tag, Meer, grau, warm, Licht, Nacht – wie es in Bezug auf die der Auslegung von Furth teilweise ähnliche Interpretation von U. Hölscher festgestellt wurde – das alles hat im Aletheiateil nichts zu suchen“ (H. Schwabl – J. Wiesner 1972, S. 21).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 14: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

58 Aletheia: Denken und Sein

durch die Bezeichnung des Weges als panapeuq»j (2.6) ausgedrückt. E. Heitsch (1970) fand die Beziehung zwischen den beiden Aussagen, der Ablehnung des zweiten Weges als panapeuq»j (2.6) und ihrer Begründung (2.7-8), „auf den ersten Blick unlogisch“ (S. 16): Der Weg wird als „unerforscht, unbekannt“ zurückgewie-sen, was in der Begründung 2.7-8 dem Nichtseienden selbst zugesprochen wird.

Das genaue Verhältnis zwischen den Thesen von der „Unerforschbarkeit“ des Weges „ist nicht“ und der Unerkennbarkeit des Nichtseienden lässt sich nur auf-grund einer zutreffenden Bestimmung der Beziehung zwischen dem Weg und dem Nichtseienden erfassen. Diese Beziehung wurde jedoch in Fr. 2 nicht näher bestimmt. Zu sagen, dass das Nichtseiende das auf dem Wege der Forschung „ist nicht“ zu untersuchende Objekt ist, ist zwar sicherlich richtig (so spricht schon Simplikios von ¹ ÐdÕj ¹ tÕ m¾ ×n zhtoàsa, Phys. 78), aber wenig präzise und aufgrund der Beibehaltung der Parmenideischen Metapher nicht sehr aussage-kräftig. Die Parmenides-Interpreten bedienen sich bei dieser Frage auch anderer Metaphern. Oft wird vom Nichtseienden als dem vermeintlichen Ziel des Weges „ist nicht“ (vgl. B 2.4b) gesprochen; P. Thanassas (1997) spricht dagegen von dem „vom Nichts regierte(n) Weg“ (S. 76) oder von dem „ihn [sc. den Weg] beherrschende(n) Nichts“ (S. 77, 79); nach ihm bildet das Nichtseiende „das Herz“ des zweiten Wegs (S. 79).

E. Heitsch (1991, S. 141-143), der auf die Metaphorik zu verzichten versucht, erklärt das Verhältnis der beiden Aussagen (2.6, 2.7-8) und die Bezeichnung panapeuq»j (2.6) mit der These, die Wege hätten „keinerlei Eigenwert“: „ist nicht“ und „Nichtseiendes“ seien für Parmenides synonyme, äquivalente Formulierungen, die daher dieselben Prädikate erhalten könnten59. Diese Lösung scheint jedoch nicht überzeugend, weil es in Fr. 2 keine Hinweise auf eine solche Synonymie gibt – die dort angewendete Metaphorik dient im Gegenteil dazu, beide Elemente separat zu charakterisieren.

Manche Forscher versuchen die Schwierigkeit dadurch zu lösen, dass sie das Adjektiv panapeuq»j aktiv übersetzen, so dass der Weg als „keine Kunde bringend“ abgelehnt wird60, was sicherlich mit der Unerkennbarkeit seines „Gegenstandes“ be-gründet werden könnte. Den aktiven Sinn hätte Parmenides jedoch viel deutlicher zum Ausdruck bringen können; gegen ihn spricht auch die spätere Bezeichnung des Weges als ¢nÒhtoj und ¢nènumoj (8.17).

Um dem Verständnis der Beziehung zwischen dem Weg und dem Nichtseienden und damit auch der Bezeichnung des Weges als panapeuq»j näher zu kommen, sei auf die schon oben vorgeschlagene Auffassung der Wege verwiesen: Das Ver-

59 Vgl. auch E. Heitsch (1970, S. 15f.).60 Z. B. „from which no tidings ever come“ (A.P.D. Mourelatos 1970, S. 76); „nichts erkundend“

(U. Hölscher 1969, S. 82); „von dem keinerlei Kunde kommt“ (J. Jantzen 1976, S. 116). Pas-sive Übersetzungen sind z. B. „gänzlich unerkundbar“ (DK 1962, S. 231); „völlig unerfahrbar“ (E. Heitsch 1991, S. 15); „dont rien ne se peut apprendre“ / „of which we can learn nothing“ (D. O’Brien 1987, S. 17). Beide Bedeutungen zugleich versucht P. Thanassas (1997, S. 76, Anm. 119) mit „kunde-los“ auszudrücken.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 15: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Die Parmenideische Einführung in die Wege der Forschung 59

hältnis zwischen „ist nicht“ und dem, was nicht ist, ist im Grunde genommen das zwischen Namen und Benanntem. Der als Name verstandene Gedanke hat seinen Gegenstand zur Voraussetzung und wird per defi nitionem als in einem Verhältnis zu ihm stehend aufgefasst. Als Name eröffnet er auch einen Weg zur Erkenntnis des Benannten. Wie sich dies Parmenides konkret vorgestellt hat, zeigt sich in Fr. 8 und der dort durchgeführten Untersuchung von „ist“: als eine methodische Analyse des Namens in Form einer Deduktion aus ihm. Aufgrund dieser Voraus-setzungen kritisiert Parmenides in B 2.6-8 „ist nicht“ als „unerforschbar“: Da sein Designat, das Nichtseiende, dem Forscher in keiner Weise zugänglich ist, kann „ist nicht“ keinen wahren Weg der Forschung ausmachen. Auch wenn sich aus „ist nicht“ Prädikate deduzieren ließen, würde dieser Vorgang keine wahre Forschung darstellen, weil der Gegenstand, dem sie zugeordnet werden sollen, sich weder erkennen noch aufzeigen61 lässt.

Die vorgeschlagene Auffassung der in B 2.6-8 ausgesprochenen Ablehnung des Weges „ist nicht“ fi ndet eine gewisse Bestätigung in der symmetrischen Struktur von Fr. 2, insofern sie sich per analogiam auch auf die Anerkennung des Weges „ist“ anwenden lässt. Die Begründung dieser Anerkennung lautet 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹ (2.4b). Oft wird der Satz auf eine emphatische Bekräftigung der ihm vorangehenden These (Peiqoàj ™sti kšleuqoj, 2.4a) oder eine Randbemerkung zu dieser reduziert. Bei Berücksichtigung der Symmetrie von Fr. 2 erscheint diese Ansicht jedoch zweifelhaft: 'Alhqe…hi g¦r Ñphde‹ nimmt in Bezug auf die Be-wertung des ersten Weges dieselbe Position ein wie der Satz oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn ... / oÜte fr£saij (2.7-8), der nach der communis opinio eine der Hauptthesen des Parmenides darstellt, in Bezug auf die Beurteilung des zweiten Weges. Zwischen den beiden Aussagen (2.4b und 2.7-8) lässt sich in der Tat eine weitgehende Parallelität feststellen. Ebenso wie in B 2.7-8 auf den Gegenstand der auf dem Wege „ist nicht“ geführten Untersuchung, d. i. auf das Designat des Namens „ist nicht“, verwiesen wird, wird in B 2.4b der Gegenstand der auf dem Wege „ist“ durchgeführten Forschung thematisiert. Es ist auch hier das von „ist“ Benannte, aber „ist“ erweist sich als wirklicher Name, denn es nennt „das, was ist“ – mit den poetischen Worten des Parmenides: Der Weg „ist“ folgt der

61 Zur Bedeutung von fr£zw, das bei Homer u. a. das Zeigen des Weges oder der Stelle, wo sich etwas Gesuchtes befi ndet, bezeichnet, s. auch A.P.D. Mourelatos (1970, S. 76 u. S. 20, Anm. 28), der schreibt: „the point made by means of fr£zw is that a traveler who seeks what-is-not cannot even mark, descry, or set his bearing on the goal; and no guide could ever show him the way“ (S. 76). Die am häufi gsten akzeptierte Übersetzung von fr£zein in Fr. 2 als „aussprechen“ scheint dem Wunsch zu entspringen, in Fr. 2.7-8 ein dem späteren „sagen und denken“ analoges Paar von Verben zu fi nden. In Fr. 2 selbst legt jedoch nichts diese Bedeutung nahe (auch nicht fr£zw in V. 6, wie P. Thanassas 1997, S. 77, Anm. 120 behauptet, da dort das Verb wiederum eine andere Bedeutung annimmt). Der Kontext der Wege spricht für die Bedeutung „aufzeigen“ (so u. a. Ch. Kahn 1969, S. 713 mit Anm. 18; A. Finkelberg 1988, S. 54).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 16: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

60 Aletheia: Denken und Sein

'Alhqe…h62. Diese Auslegung des Verses 2.4 wird in B 8.50-51 bestätigt: ™n tîi soi paÚw pistÕn lÒgon ºd{ nÒhma / ¢mfˆj ¢lhqe…hj63.

In Fr. 2 präsentiert also Parmenides zwei Wege der Forschung und ordnet ihnen ihre jeweiligen Gegenstände zu: das, was ist, und das, was nicht ist. Aufgrund dieser Zuteilung erhalten die Wege ihre Bewertung: Während der zweite Weg als panapeuq»j zurückgewiesen wird, erweist sich der erste als Peiqoàj kšleuqoj (2.4a)64; die in B 8 durchgeführte Untersuchung des „ist“ wird, im Gegensatz zur Erforschung des „ist nicht“, eine sichere Erkenntnis der Wahrheit bringen.

Wie sich aus dem bisher Gesagten ergibt, beinhaltet Fr. 2 eine zusammenhän-gende Gedankenführung, die jedoch weder als vollständige Argumentation noch als bloße Darlegung dogmatischer Urteile anzusehen ist. Die einzelnen Sätze des Fragments scheinen eher den Umriss einer vermutlich in anderen Teilen des Ge-dichts entwickelten Beweisführung darzustellen. Ein näherer Vergleich mit den Thesen der weiteren Fragmente wird zeigen, dass in Fr. 2 nur die wichtigsten Punkte der späteren Erörterung antizipiert werden. Das Fragment hat offensichtlich eine propädeutische Funktion, indem es den Leser (bzw. Hörer) in die Thematik der „Aletheia“ einführt und ihn auf ihre Thesen vorbereitet. Die Frage ist, in welcher Weise die im Fragment enthaltenen Behauptungen später entwickelt und begründet werden und in welchem Verhältnis sie zu den übrigen, erhaltenen oder rekonstruierbaren Argumenten des Parmenides stehen.

3.2 Denken und „ist nicht“ – der Elenchos

Der Versuch, eine Antwort auf die am Ende des vorigen Kapitels gestellte Frage zu erteilen, d. i. in den erhaltenen Fragmenten eine eingehendere Erörterung der in B 2 geäußerten Thesen und Argumente zu erkennen, soll für die beiden symme-trisch geordneten Teile von B 2 separat durchgeführt werden (Kap. 3.2. und 3.3). Zunächst sei die negative, gegen den Weg „ist nicht“ gerichtete Argumentation des Parmenides behandelt. Hierbei wird in erster Linie die verbreitete Meinung untersucht werden, nach der die in B 2.7-8 enthaltene These durch Fr. 3 ergänzt

62 'Alhqe…h und ¢lhq»j beziehen sich bei Parmenides nicht auf die Richtigkeit des Urteils, son-dern auf die Realität und Wirklichkeit (vgl. Fr. 1.29, 2.4, 8.17, 8.38, 8.51; in Fr. 1.30 u. 8.28 ist von p…stij ¢lhq»j die Rede), daher die Equivalenz zwischen ¢l»qeia und tÕ ™Òn; dazu s. J. Wiesner (1996, S. 170-174), A.H. Coxon (1986, S. 168), A.P.D. Mourelatos (1970, S. 63-67). Zu ¢lhq»j bei Homer s. T. Krischer (1965).

63 Ähnlich werden Fr. 2 und die Wege bei J. Wiesner (1996) interpretiert. Der Versuch des Autors, zu beweisen, dass ¢l»qeia „die dem Erkennen und Mitteilen zugängliche Wirklichkeit“ (S. 176) bedeute, erscheint jedoch als unnötig. Der Zusammenhang zwischen Realität und Wissen wird nicht schon in dem Wort ¢l»qeia, sondern erst durch die Verbindung von peiqè und ¢l»qeia ausgedrückt.

64 Zur Metaphorik von B 2.4a (Peiqè) s. A.P.D. Mourelatos (1970, S. 67).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 17: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 61

oder begründet wird. Anschließend sei versucht, die Parmenideische Beweisführung gegen den Weg „ist nicht“ zu rekonstruieren.

3.2.1 Fragment 3 und das Problem der Begründung von Fr. 2.7-8

„Auf diesem einen Satz beruht seine ganze Philosophie“ – diese Worte von Karl Reinhardt (1985, S. 77) stellen nur einen der vielen umstrittenen Kommentare zu dem von Clemens von Alexandria und Plotin überlieferten Fragment 3 dar, das nicht einmal einen Vers lang ist und dessen ursprünglicher Kontext unbekannt bleibt: tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai65. Trotz seiner breiten Rezeption bei neuzeitlichen Kommentatoren wurde es nie ausreichend und überzeugend interpretiert.

Der Text von Fr. 3 wird auf zweierlei Weise konstruiert. Nach der sog. tra-ditionellen Interpretation ist tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai zu verstehen als „denn dasselbe ist Denken und Sein“66. Etwas problematisch scheint hier die

65 Bei Clemens (Strom. 6.23) soll Fr. 3 die These von der Neigung der Griechen zum intellektu-ellen Diebstahl illustrieren: Als ähnliche Aussagen werden die Worte der Pythia bei Herodot (6.86): tÕ peirhqÁnai toà qeoà kaˆ tÕ poiÁsai ‡son genšsqai (so bei Clemens; bei Herodot dÚnasqai) sowie die Aussage von Aristophanes (Fr. 691 Kock): dÚnatai g¦r ‡son tù dr©n tÕ noe‹n zitiert; Clemens scheint also Fr. 3 als eine Gleichsetzung zweier Elemente, noe‹n und e"nai, zu verstehen. Plotin (5.1.8) verweist auf seine Vorgänger in seiner Lehre vom Geist und zitiert, gleich nach Platon, Parmenides, der das Seiende und den Geist auf dasselbe zurückführe (e„j taÙtÕ sunÁgon ×n kaˆ noàn) und das Seiende nicht zum Sinnlichen rechne (kaˆ tÕ ×n oÙk ™n to‹j a„sqhto‹j ™t…qeto). Obwohl das Seiende unbewegt sein sollte, habe ihm Parmenides das Denken zugeschrieben (prostiqeˆj tÕ noe‹n); der Vergleich mit der Kugel solle bedeuten, dass das Seiende alles umfasse und dass das Denken nicht außerhalb, sondern in seinem Inneren stattfi nde (tÕ noe‹n oÙk œxw, ¢ll' ™n ˜autù) (vgl. auch 5.9.5, wo Plotin das Zitat als mit seiner eigenen Lehre von der Identität des Geistes und seiner Gegenstände übereinstimmend lobt, ohne jedoch Parmenides namentlich zu erwähnen). Bei Proklos (Theol. Plat. 1.66.4) ist das angebliche Zitat in Wirklichkeit nur eine Paraphrase (… taÙtÒn ™sti tÕ noe‹n kaˆ tÕ e"nai, fhsˆn Ð Parmen…dhj); eine metrische Version des Textes führt er in In Parm. (1152) an, wo die Parmenideische Doktrin im Hinblick auf die Bewegung und Ruhe des Seienden untersucht wird: Einerseits habe der Eleate das Seiende für unbewegt gehalten (hier werden einige Verse aus Fr. 8 zitiert), andererseits jedoch habe er dem Seienden das Denken zugesprochen (<tÕ> noe‹n ™n tù Ônti qšmenoj) und damit eine Art der Bewegung, was mit dem Satz TaÙtÕn d' ™stˆn ™ke‹ nošein te kaˆ e"nai, gefolgt von Fr. 8.35-36 und Fr. 4.1, illustriert wird. Diese Version wird allgemein abgelehnt; wie H. Diels (1897, S. 67) bemerkte, gehört ™ke‹ zur neuplatonischen Terminologie; außerdem erinnert sie stark an Fr. 8.34 (taÙtÕn <d'> ™stˆn noe‹n te kaˆ oÛneken œsti nÒhma) und ist mit Fr. 8.35-36 gemeinsam überliefert (getrennt werden die Aussagen nur durch kaˆ p£lin, das auch schon Fr. 8.29 von 8.30 trennt). Es ist daher durchaus denkbar, dass die Version des Proklos nicht eine Überarbeitung von Fr. 3, sondern von Fr. 8.34 darstellt (so z. B. L. Tarán 1967, S. 194). Dies führte zu dem Verdacht, dass Fr. 3 lediglich eine geänderte Version von Fr. 8.34 sein könnte (dazu s. D. O’Brien 1987, S. 20; P. Thanassas 1997, S. 85, Anm. 142).

66 So konstruieren u. a.: P. Thanassas (1997, S. 83), K. Reinhardt (1985, S. 77), J.H.M.M. Loenen (1959, S. 33ff.), W.J. Verdenius (1964, S. 35), H.-G. Gadamer (1952, S. 64), H.-C. Günther (1997, S. 168), W. Jaeger (1953, S. 116f.), G. Vlastos (1953, S. 168), O. Gigon (1968, S. 252),

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 18: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

62 Aletheia: Denken und Sein

Stellung von te – kann die hinter ™st…n stehende Konjunktion auf noe‹n bezogen werden67? Diese Schwierigkeit, die auf metrische Gründe68 und auf die dichterische Freiheit69 zurückgeführt wurde, wird von U. Hölscher (1968, S. 96, Anm. 20) betont, der zugleich auf ein anderes Problem hinweist: die Verbindung von zwei mit tÕ aÙtÒ identifi zierten Subjekten durch te ka…, statt eines einfachen ka…70. Dieser Einwand wurde unterschiedlich bewertet71; das Problem ist insofern bedeutsam, als die Verbindung te ka… bei taÙtÒn auch an zwei anderen Stellen des Gedichts vorzuliegen scheint (Fr. 6.8-9; Fr. 8.34)72. Die von J. Wiesner (1996, S. 146) angeführten drei Parallelen aus dem Platonischen „Theaetet“ (163a 8-9; 186d 7-8; 186e 9-10), die die Identität zwischen a‡sqhsij und ™pist»mh thematisieren, scheinen zu bestätigen, dass die umstrittene Konstruktion zwar nicht gewöhnlich, aber durchaus möglich ist73.

Eine alternative Interpretation von Fr. 3 wurde in der Mitte des 19. Jhs. von E. Zeller vorgeschlagen: Das Verb ™st…n sei nicht als Kopula, sondern ähnlich wie in Fr. 2.2 (e„si noÁsai) in seiner traditionellen Auslegung aufzufassen. Ihm wird also

E. Heitsch (1991, S. 17), K. Riezler (1970, S. 64), Ch.H. Kahn (1969, S. 721), L. Coulou-baritsis (1986, S. 370), J. Mansfeld (1964, S. 67), N.-L. Cordero (1984, S. 37; 2004b, S. 86), H. Fränkel (1962, S. 408), J.H.M.M. Loenen (1959, S. 33), P.A. Meijer (1997, S. 51), M. Conche (1996, S. 87), D. Sedley (1999, S. 120 mit Anm. 9), M. Untersteiner (1958, S. 131), F. Montero (1958, S. 350), G. Scuto (2005, S. 30), G. Reale – L. Ruggiu (1991, S. 93); vgl. P. Friedländer (1954, S. 386f., Anm. 7: „Denken ist, und Sein ist, und dasselbe ist beides“). D.M. Giancola (2001) bezeichnet diese Konstruktion des Satzes als seine „prima facie, or natural meaning“ (S. 636 u. passim).

67 S. H. Fränkel (1962, S. 408, Anm. 18).68 P. Friedländer (1954, S. 386f., Anm. 7). 69 E. Heitsch (1970, S. 25). 70 Der Forscher argumentiert mit Verweis auf Kühner-Gerth (II 246, 249), dass te ka… bei einer

innigen und notwendigen Verbindung zweier Begriffe verwendet wird, die, wenn die Begriffe durch tÕ aÙtÒ gleichgesetzt werden, nicht schon in der Konjunktion ausgedrückt werden kann (U. Hölscher 1968, S. 96, Anm. 20).

71 H.-C. Günther (1997, S. 139, Anm. 19) hält den Einwand für künstlich. Ernsthaft diskutiert wird er von E. Heitsch (1970, S. 25, Anm. 1), der jedoch auf das Phänomen des „abundierenden te“ verweist und in seinem Kommentar (1991, S. 145) Parallelen aus Alexander von Aphrodisias anführt. H.-J. Newiger (1973, S. 33, Anm. 63) versucht die Bedenken von Hölscher mit Verweis auf MXG 979a 30-31 zu entkräften. A. Graeser (1977, S. 148) glaubt, dass E. Heitsch und H.-J. Newiger die Haltlosigkeit des Einwandes von Hölscher nachgewiesen haben; H. Schmitz (1988, S. 84f.) lehnt dagegen die von Heitsch zitierten Parallelen ab und behauptet, nur eine von ihnen sei relevant, und „ein einsamer lapsus calami des schreibseligen Spätperipatetikers sollte nicht 700 Jahre zurück der Grammatik des archaischen Dichters Parmenides imputiert werden“.

72 Die genannten Stellen (6.8-9; 8.34) werden manchmal als Bestätigung für die Richtigkeit der traditionellen Konstruktion des Satzes angesehen (z. B. E. Heitsch 1970, S. 25, Anm. 1; L. Tarán 1965, S. 44); beide sind jedoch sehr problematisch und können auch anders konstruiert werden, so dass sie kaum als Parallelen gelten können (abgelehnt werden sie auch bei U. Hölscher 1968, S. 96-97, Anm. 20).

73 S. auch Plat. Resp. 477e 4-5; vgl. Lys. 222b 6.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 19: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 63

ein potentieller Sinn74 zugeschrieben, was zu verschiedenen Versionen des Satzes „dasselbe kann gedacht werden und sein“ führt, der oft grammatisch unterschiedlich gedeutet wird75. Diese Interpretation hat viele Anhänger gefunden76, ist jedoch auch auf heftige Kritik oder zumindest starke Skepsis gestoßen77. Der so konstruierte Satz wird oft als ungeschickt formuliert und unklar empfunden78; bemängelt wurde auch, dass œsti noe‹n einen passiven und œstin e"nai einen aktiven Sinn hat79, dass tÕ aÙtÒ Subjekt zu e"nai und zugleich Objekt zu noe‹n sein müsste80 und dass hier eine persönliche potentielle Konstruktion aufgrund der Intransitivität von e"nai nicht in Frage kommt81. Viele Forscher halten jedoch die angeführten Einwände für unzutreffend oder zumindest nicht ausschlaggebend82.

74 Vgl. oÙk œsti in Fr. 2.3. Zeller schlägt vor, in Fr. 3 œstin statt ™st…n zu schreiben; ein Teil seiner Anhänger behält jedoch die traditionelle Akzentuierung des Verbs bei. U. Hölscher (1969, S. 51, 53) erklärt, dass die Abhängigkeit des Akzents von der Bedeutung erst für die byzan-tinische Zeit bezeugt ist, während in der Antike die Wortfolge für die Bedeutung von ™st…n ausschlaggebend war. Der Akzent ™st…n wird auch von den Forschern beibehalten, die zwar als Anhänger der Zellerschen Interpretation gelten (s. unten), in Wirklichkeit jedoch eine etwas andere grammatische Explikation des Satzes annehmen und dem Verb ™st…n keine potentielle Bedeutung zuschreiben.

75 S. L. Táran (1965, S. 43f.), K. Bormann (1971, S. 8-10), J. Wiesner (1996, S. 139-145).76 U. a. KR (1957, S. 269: „for the same thing can be thought and can be“); U. Hölscher (1969,

S. 17: „Denn dasselbe kann gedacht werden und sein“, S. 81: „Dasselbe kann erkannt werden und sein“); K. Bormann (1971, S. 10: „‚Denn dasselbe ist möglich zu denken und möglich, daß es ist‘, d. h. dasselbe kann gedacht werden und sein“); L. Táran (1965, S. 41: „for the same thing can be thought and can be“); W.K.C. Guthrie (1965, S. 14: „for it is the same that can be thought and can be“); D.J. Furley (1973, S. 11: „For the same thing is for knowing and for being“); A. Graeser (1977, S. 148: „Dasselbe kann gedacht werden und sein“); J. Barnes (1979, S. 157: „The same is both for thinking and for being“); A.H. Coxon (1986, S. 54: „for the same thing is for conceiving as is for being“); D. O’Brien (1987, S. 19: „C’est en effet une seule et même chose que l’on pense et qui est“; „For there is the same thing for being thought and for being“; zur französischen Übersetzung vgl. die Erklärung des Autors, S. 19); D. Gallop (1984, S. 57: „because the same thing is there for thinking and for being“); R.J. Ketchum (1990, S. 175: „For, what can be thought and what can be [something or other] are the same“); I. Crystal (2002, S. 210: „the same thing is both for thinking and for being“); J. Dalfen (1994, S. 199f.: „Denn dasselbe kann begriffen / erfaßt / erkannt werden und sein“); P. Curd (1998, S. 49: „the same thing is for thinking and for being“). Zu den früheren Anhängern von Zeller s. K. Bormann (1971, S. 188, Anm. 2 zu S. 9).

77 S. z. B. G. Calogero (1962, S. 328); J. Mansfeld (1964, S. 64: „äußerst fraglich“); zu einer neueren, sehr entschiedenen Kritik an dieser Interpretation des Satzes s. D.M. Giancola (2001, bes. S. 639-645).

78 S. z. B. H.-C. Günther (1997, S. 140).79 J. Mansfeld (1964, S. 63).80 G. Calogero (1962, S. 328). 81 Vgl. H. Schmitz (1988, S. 86). 82 Den Einwand von G. Calogero, tÕ aÙtÒ müsste gleichzeitig Objekt und Subjekt sein, fi ndet J.

Mansfeld (1964, S. 64) verfehlt: In dieser Interpretation werde ausdrücklich angenommen, dass tÕ aÙtÒ das grammatische Subjekt der Konstruktion ™sti noe‹n sei. Nach U. Hölscher (1968, S. 95f., Anm. 16) ist der genannte Einwand ein Irrtum. D. O’Brien (1987, S. 20) gibt dagegen zu, dass in der Zellerschen Interpretation tÕ aÙtÒ, das das Subjekt zu e"nai bildet, auch Objekt

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 20: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

64 Aletheia: Denken und Sein

Es wurde auch versucht, die Schwierigkeiten mit der Konstruktion des Satzes durch eine Ergänzung des Satzes bzw. seines unmittelbaren Kontexts zu überwin-den83; doch stellen diese Vorschläge nur unverifi zierbare Hypothesen dar. Viel-versprechender scheinen die Versuche, die bisher unbemerkten, im Satz selbst enthaltenen Konstruktionsmöglichkeiten zu eruieren und zu nutzen. Durch man-che der so entstandenen Vorschläge lassen sich auch die oben erwähnten, mit den beiden häufi gsten Interpretationen des Satzes verbundenen Schwierigkeiten vermeiden. So hat z. B. H. Schmitz (1988, S. 87-90) folgende Konstruktion des Satzes vorgeschlagen: „Das Selbe nämlich ist (es für jemand), (etwas) zu bemerken und (es) zu sein“ (also: „Was man bemerkt, ist man schon“). Das Fragment kann jedoch auch als Ausdruck einer dreifachen Identität (A = B und A = C) verstanden werden84; diese Konstruktion beseitigt die zwar als möglich erwiesene, aber seltene Verbindung von zwei Elementen der Identität durch te ka…, z. B. 1) „Dasselbe („Ding“) ist sowohl das Denken als auch das Sein“, wo tÕ aÙtÒ, wie bei Zeller, als Subjekt, ™st…n dagegen als Kopula fungiert. Die Annahme der Möglichkeit,

zu noe‹n wird, verweist aber gleichzeitig auf Parallelen bei Homer (Il. 9.230f.) und Aristoteles (Phys. 202a 2-3, Met. 1066a 25-26, Phys. 251b 19-20). Den Einwand von J. Mansfeld (œsti noe‹n habe einen passiven und œstin e"nai einen aktiven Sinn) weist D.J. Furley (1973, S. 11, Anm. 35) mit dem Argument zurück, dass bei einem Verbalsubstantiv (und so seien die beiden Infi nitive in Fr. 3 zu klassifi zieren) die Unterscheidung von Aktiv und Passiv keine Bedeutung habe; D.M. Giancola (2001, S. 643f.) hält dagegen das Argument von Mansfeld für stichhaltig und sogar ausschlaggebend für die gesamte Diskussion. Gegen den Einwand von H. Schmitz argumentiert J. Wiesner (1996, S. 142-145), tÕ aÙtÕ œstin e"nai lasse sich zwar nicht als eine persönliche potentielle Konstruktion auffassen (diese komme nur bei transitiven Verben vor), es gebe jedoch andere Möglichkeiten, den ganzen Satz zu interpretieren: 1) mit tÕ aÙtÒ als Subjekt und den Infi nitiven als Dativen; 2) mit potentiellem ™st…n und davon abhängigen Infi nitiven, für die tÕ aÙtÒ einmal als Subjekt und einmal als Objekt fungiere (wie in den Beispielen von D. O’Brien). Für die erstere Konstruktion, in der nebeneinander Infi nitive eines transitiven und eines intransitiven Verbs stehen, gibt es jedoch keine Parallele.

83 So liest z. B. H. Diels (1897, S. 33) den Vers als „Denn [das Seiende] denken und sein ist dassel-be“. W.A. Heidel (1913, S. 720) setzte eine Brachylogie voraus („I think we must supply noe‹n before e"nai from the preceding noe‹n. ‚For it is one and the same thing to think and to think that it is‘“); diese Lösung wurde auch von J. Jantzen (1976, S. 120) akzeptiert. H. G. Calogero (1970, S. 20f.) ergänzt den Satz mit den Worten Óssa noe‹j f£sqai und erklärt: „Denken ist in der Tat dasselbe wie sagen, daß das, was du denkst, ist“. Dieser Lösung schloss sich auch G. Giannantoni (1988, S. 209) an. Mit K. v. Fritz (1938, S. 99), der den Satz als „Erkennen und Sein (sc. des Gegenstandes der Erkenntnis) sind dasselbe“ auffasst, ist J. Mansfeld (1964, S. 68) einverstanden; er übersetzt „denn es ist dasselbe, zu denken, und deshalb, daß es Ist“, wo „es“ den Gegenstand des Denkens bezeichnet („etwas denken impliziert, daß es ist“). Die Interpretation von K. v. Fritz akzeptiert auch J. Klowski (1977, S. 120f.), der paraphrasiert: „das, was erkennbar ist, existiere“.

84 Vgl. das von U. Hölscher (1968, S. 97, Anm. 20) diskutierte Beispiel, Plat. Resp. 478a: DÒxa dš, famšn, dox£zein; Na…. ’ H taÙtÕn Óper ™pist»mh gignèskei; kaˆ œstai gnwstÒn te kaˆ doxastÕn tÕ aÙtÒ; Die Möglichkeit, Fr. 3 auf diese Weise zu interpretieren, wird von H. Schmitz (1988, S. 85) in Erwägung gezogen; auch J. Mansfeld (1964, S. 65) erwägt sie kurz in der Diskussion mit U. Hölscher, bezeichnet sie jedoch als „vollkommen sinnlos“ (Anm. 2).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 21: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 65

das Fragment betreffe ein bestimmtes X, erlaubt es auch, dieses X als Subjekt des Satzes und tÕ aÙtÒ als Prädikatsnomen aufzufassen, wobei letzteres nicht mit zwei im Nominativ stehenden Satzsubjekten, sondern mit zwei Dativen im Sinne von „dasselbe wie ...“ verbunden wäre, also: 2) „X ist sowohl dasselbe wie das Denken als auch wie das Sein“. Auch diese Konstruktion vermeidet die Verbindung der Identitätsglieder durch te ka…. Beide Konstruktionen hätten überdies von Clemens und Plotin zur Unterstützung ihrer Thesen angewendet werden können, ohne dass man (wie bei der Interpretation von Zeller) annehmen müsste, dass sie den Sinn des Satzes völlig entstellt haben. Das Fragment ist also noch mehrdeutiger, als üblicherweise angenommen wird85.

Das Ziel von E. Zeller bei der oben erwähnten Konstruktion von Fr. 3 war es, die Interpretation des Fragments im Sinne der Identität von Denken und Sein zu überwinden, die besonders früher als unvermeidlich einen neuzeitlichen oder zumindest neuplatonischen Idealismus implizierend empfunden wurde86. Stattdessen schlägt der Forscher vor, Fr. 3 als eine Fortsetzung des unvollständigen Verses 8 von Fr. 2 zu betrachten und es dadurch in einen anderen Kontext zu integrieren: die Problematik der Erkenntnis des Nichtseienden. Diese Idee hat nicht nur unter denjenigen Forschern, die Zellers Konstruktion akzeptiert haben87, zahlreiche Anhänger gefunden, sondern auch unter denen, die das Fragment im traditionellen Sinne (Identität) deuten88; auch manche Ergänzungsversuche folgen dem von Zeller gesetzten Ziel89.

Der Vorschlag einer direkten Verbindung der beiden Fragmente wirkt beste-chend, da sie metrisch übereinstimmen und V. 2.8 sich durch die Anfügung von

85 Angesichts dieser Mehrdeutigkeit stellt sich die methodologische Frage nach dem Sinn einer Interpretation von Fr. 3. Nach manchen Forschern sind solche Versuche aussichtslos und darum aufzugeben (so z. B. A.P.D. Mourelatos 1970, S. XVf.; vgl. die bei D. Gallop 1984, S. 57 angeführte, skeptische Aussage von Sparshott). Sicherlich kann auf das Fragment keine Auslegung der Parmenideischen Doktrin gestützt werden (so u. a. auch L. Tarán 1965, S. 42); man kann es lediglich verschiedenen ursprünglichen Kontexten zuzuordnen suchen. Die im Folgenden durchzuführende Untersuchung zielt nicht auf eine konkrete Deutung von Fr. 3 ab, sondern darauf, in das Problem der Parmenideischen Argumentation gegen das Denken des Nichtseienden einzuführen und sich mit einigen Vorschlägen zu seiner Lösung auseinander zu setzen.

86 Noch U. Hölscher (1969, S. 81) glaubte, diese Interpretation müsse idealistische Konsequenzen im hegelianischen Stil nach sich ziehen; erwähnt wird gelegentlich auch Kant (vgl. J. Stenzel 1925, S. 249f.). Ähnlich J. Dalfen (1994, S. 200, Anm. 14), der die angelsächsischen Anhän-ger Zellers lobt: „… sie schleppen nicht den deutschen Idealismus mit sich“. Die Zellersche Deutung von Fr. 3 erscheint in diesem Fall nicht als eine Überwindung, sondern als eine bloße Vermeidung der idealistischen Auslegung.

87 U. a. KR (1957, S. 269; anders jedoch 1983); A.H. Coxon (1986, S. 180); U. Hölscher (1969, S. 81); J. Barnes (1979, S. 165); W.K.C. Guthrie (1965, S. 14); J. Dalfen (1994, S. 201); P. Curd (1998, S. 28).

88 U. a. DK (1961, S. 231); W. Jaeger (1953, S. 116f.); J. Wiesner (1996, S. 169); W.J. Verdenius (1964, S. 33).

89 Vgl. die oben erwähnten Vorschläge von G. Calogero und K. v. Fritz.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 22: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

66 Aletheia: Denken und Sein

Fr. 3 gut ergänzen lässt; er stößt jedoch zugleich auf erhebliche Schwierigkeiten. Die erste ist die Überlieferung von Fr. 2: Beide Quellen (Procl., Tim. 1.345 und Simpl., Phys. 116) brechen das Zitat nach dem Wort fr£saij ab, was, wie schon öfter bemerkt90, gegen die Kontinuität der Fragmente 2 und 3 spricht91.

Die Schwierigkeit einer direkten Verbindung der Fragmente wird auch bei näherer Betrachtung der durch sie gebildeten Einheit sichtbar:

oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn, oÙ g¦r ¢nustÒn,oÜte fr£saij, tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai.

… denn das Nichtseiende könntest du weder erkennen, denn das ist nicht ausführbar, noch aufzeigen (bzw. aussprechen), denn dasselbe kann gedacht werden und sein (bzw. denn dasselbe ist Denken und Sein).

Was in dem erweiterten Satz auffällt, ist vor allem die Unklarheit in Bezug auf die Begründung der These oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn ... oÜte fr£saij. Diese Funktion könnte von den Worten oÙ g¦r ¢nustÒn oder von Fr. 3 erfüllt werden. Das gegenseitige Verhältnis dieser beiden Ausdrücke ist schwierig zu bestimmen: Soll Fr. 3 die gesamte These begründen (und indirekt auch eine Begründung zu oÙ g¦r ¢nustÒn liefern), oder erhält jedes der Glieder der These eine eigene Begründung, also die Unmöglichkeit der Erkenntnis des Nichtseienden in dem Satz oÙ g¦r ¢nustÒn und die Unmöglichkeit des Aufzeigens (bzw. Aussprechens) des Nichtseienden in Fr. 3?

Abgesehen von diesem Problem stellt sich auch die Frage, wie der Satz tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai die Unmöglichkeit der Erkenntnis und des Aufzeigens (bzw. Aussprechens) des Nichtseienden begründen könnte. Diese Fragestellung betrifft auch diejenigen Interpretationen, bei denen das Problem der formalen Zugehörigkeit von Fr. 3 zu Fr. 2 offen gelassen, aber dennoch eine direkte in-haltliche Zugehörigkeit von Fr. 3 zu der in Fr. 2.7-8 enthaltenen Argumentation angenommen wird92. Gefragt wird also nach dem faktischen Inhalt von Fr. 3, der die Aussage in Fr. 2.7-8 begründen (bzw. erläutern oder, nach anderen, „ergän-zen“) könnte.

Unter den Anhängern der Konstruktion von Zeller lässt sich eine interessante Meinungsverschiedenheit in Bezug auf diese fundamentale Frage feststellen. Nach den einen besagt das Fragment soviel wie „nur das, was man denken kann, kann sein“; nach den anderen „nur das, was sein kann, kann gedacht werden“. Dieser

90 J. Mansfeld (1964, S. 69ff.); J. Klowski (1977, S. 120); KRS (1983, S. 246, Anm. 2); H. Schmitz (1988, S. 134).

91 A.H. Coxons These, das Abbrechen des Verses bei Proklos und Simplikios spreche eben für seine Verbindung mit Fr. 3, weil die neuplatonische Interpretation von Fr. 3 seinen Zusammenhang mit Fr. 2 bewusst verschleiert habe, überzeugt nicht.

92 So z. B. D. Gallop (1984, S. 8); O. Gigon (1968, S. 252); E. Heitsch (1991, S. 144); J. Klowski (1977, S. 120f.); A. Finkelberg (1988, S. 55); I. Crystal (2002, S. 210); H.P. Engelhard (1996, S. 34-36).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 23: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 67

Uneindeutigkeit des Fragments war sich offensichtlich schon E. Zeller bewusst93, der in der zweiten Ausgabe seines Werks (1856, S. 398) den Satz als „nur das, was sich denken lässt, kann sein“ , in der dritten jedoch (1869, S. 470) als „nur das, was sein kann, lässt sich denken“ interpretiert. Die erste Interpretation, die die Seinsmöglichkeit auf die Möglichkeit des Gedachtwerdens zurückführt, wird heutzutage viel seltener vertreten94 und impliziert nach manchen Forschern Idealis-mus95, weil sie den Gedanken zum Kriterium des Seins erhebt: „Das Vorliegen eines nÒhma ist ein untrügliches Kriterium für das Vorhandensein eines Dinges“96. Wie im Folgenden noch gezeigt werden wird, ist diese Auffassung gänzlich unhaltbar. Die Schwierigkeiten treten schon bei dem Ausdruck „das, was sich denken lässt“ auf: Was lässt sich nach Parmenides eigentlich denken und was nicht? Soll das Kriterium dafür eben das Sein des Gegenstands sein (das, was nicht ist, ist dem Denken nicht zugänglich), ist der Satz bestenfalls eine Tautologie, schlimmstenfalls jedoch blanker Unsinn („nur das, was ist, kann sein“).

Wie kann jedoch die Wahl der zweiten Version („nur das, was sein kann, lässt sich denken“) grammatisch gerechtfertigt werden? Der griechische Text bietet keine Stütze für diese Entscheidung. Manche Forscher behaupten sogar, dass der Satz eine umkehrbare Beziehung „was gedacht werden kann, kann sein, und vice versa“ darstellt97. P. Thanassas (1997, S. 82) bemerkt zu Recht, dass dieser Um-stand auf eine entscheidende Schwäche der Zeller’schen Interpretation des Satzes verweist, denn die so verstandene Aussage erlaubt keine nähere Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Sein:

… anstatt der von ihr geleugneten Identität läßt sie Sein und Denken in einer Differenz ausein-anderfallen und muß nachträglich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden herstellen, das eine auf das andere zurückführen. Welches dann das Primäre und Ursprüngliche, welches das Begründete und Angewiesene ist, dies läßt sich aus der Zellerschen Konstruktion des Satzes kaum ersehen. Soll man aber wirklich glauben, daß Parmenides sich in diesem entscheidenden Punkte so zweideutig geäußert hat?98.

Der Satz „dasselbe kann gedacht werden und kann sein“ hat noch eine weitere Schwachstelle: die Formulierung œstin ... e"nai. Für eine Begründung der These, dass „das Nichtseiende weder erkannt noch ausgesprochen werden kann“ wäre, wie U. Hölscher bemerkt99, ein Satz wie „denn erkannt (bzw. gedacht) kann nur das

93 P. Thanassas (1997, S. 82).94 U. Hölscher (1968, S. 97), M. Kraus (1987, S. 77), praktisch auch J. Barnes (1979, S. 165:

„If a can think of O, then O can exist“).95 P. Thanassas (1997, S. 82 u. Anm. 133).96 M. Kraus (1987, S. 77).97 Z. B. J. Barnes (1979, S. 165), K. Bormann (1971, S. 71f.), R.J. Ketchum (1990, S. 175).98 J. Wiesner (1996, S. 145) erinnert an einen ähnlichen Gedanken bei G. Calogero (1962, S. 328):

„... l’affermazione perde, così, ogni particolare portata teorica. Dire, infatti, che ‚la stessa cosa può pensarsi e può esistere‘ non equivale a dire né che può pensarsi solo ciò che può esistere, né che può esistere solo ciò che può pensarsi; equivale a non dire niente“.

99 U. Hölscher (1968, S. 97).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 24: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

68 Aletheia: Denken und Sein

werden, was ist“ bei weitem geeigneter als „... das, was sein kann“. Was bedeutet überhaupt die Aussage, dass etwas „sein kann“? Die Anhänger der Zellerschen Konstruktion behalten zwar in ihren Übersetzungen des Satzes das Modalverb bei, aber in ihren Paraphrasen und Interpretationen des Fragments erscheint interessan-terweise in der Regel das bloße „ist“100. Schon W.J. Verdenius (1964, S. 34) stellt dagegen fest, dass der logische Übergang von „dasselbe kann gedacht werden und kann sein“ zu „nur das, was ist, kann gedacht werden“ keineswegs selbstverständ-lich ist. Es wurden unterschiedliche Versuche unternommen, den Ausdruck œstin (™st…n) ... e"nai dem einfachen „ist“ anzunähern. Nach K. Bormann (1971, S. 72 und 76-78) kann sich der Ausdruck „möglich, daß es ist“ (™st…n ... e"nai) nur auf „das, was ist“ beziehen; zwar könne die auf das Seiende angewandte Kategorie der Möglichkeit auf den ersten Blick verwundern, sie sei jedoch vollkommen ange-messen, weil sich Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit bei Parmenides gegenseitig bedingten, so dass die Aussage, das Seiende sei möglich, gleichbedeu-tend mit der Behauptung sei, es sei notwendig101. U. Hölscher (1968, S. 81f.) versichert seinerseits, dass die Formulierung „es kann sein“ keine Möglichkeit „ad libitum“ bezeichne; der Ausdruck ™st…n ... e"nai besage soviel wie „es ist so, daß es ist“ und bezeichne „eine Wesensbestimmung“102. Eine andere, verbreitete Methode, die genannte Schwierigkeit zu mildern, besteht in der Angleichung der Phrase ™st…n ... e"nai an das einfache œstin bei der Übersetzung des Satzes (z. B. eng. „is there for being, „is there to exist“103). Ob die Kategorie der Möglichkeit aus der Formulierung völlig eliminierbar ist, bleibt jedoch unsicher.

P. Thanassas (1997, S. 82) wendet sich grundsätzlich gegen die Zellersche Über-setzung, indem er geltend macht, dass der Begriff der Möglichkeit des Seins zum tiefsten Wesen der Parmenideischen Philosophie im Widerspruch steht, denn der Gedanke, dass etwas „sein kann“ impliziert notwendigerweise, dass es auch „nicht

100 Z. B. A.H. Coxon (1986, S. 180: „what can be conceived is identical with what is something essentially“); K. Bormann (1971, S. 71: „Nur das Seiende kann als real gekannt werden“, „Was als wirklich ausgemacht werden kann, ist“); L. Táran (1965, S. 44: „only Being can be thought“); I. Crystal (2002, S. 210: „that which ‚is‘ for thinking also ‚is‘“); J. Dalfen (1994, S. 202: „was ist, kann man auch begreifen“). Zur Kritik hieran vgl. auch D.M. Giancola (2001, S. 645).

101 Dieselbe Begründung, angeblich in Fr. 8.9-10 bestätigt, wird von K. Bormann auch bei der Interpretation von Fr. 6.1-2 angewendet (vgl. unten, Kap. 3.3.1.1).

102 Vgl. den Kommentar von P. Thanassas (1997, S. 82f., Anm. 134): „Der Ausdruck ‚es ist so, daß es ist‘ und seine Ableitung aus ‚es kann sein‘ bleibt uns unverständlich; wir sehen auch nicht, wie bei Parmenides die ohnehin in ‚kann sein‘ liegende Möglichkeit keine ‚ad libitum‘ wäre, und wenn nicht eine solche, was für eine“.

103 D. Gallop (1984, S. 8f. und 57). In Bezug auf die Formulierung „is there to exist“ fragt D. O’Brien (1987, S. 213, Anm. 18): „On voit mal pourtant le sens de cet infi nitif: où passe la différence entre exists et «is ‚there‘ to exist»? L’infi nitif (…) ne serait-il pas une simple redon-dance?“

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 25: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 69

sein könnte“ – ein Denkmodus, der für die entscheidungsunfähigen Sterblichen kennzeichnend ist104.

Die letztgenannten Probleme werden durch die traditionelle Konstruktion von Fr. 3 vermieden. Nach denjenigen ihrer Anhänger, die das Fragment in den unmit-telbaren Kontext von Fr. 2.7-8 einordnen, wird die Unmöglichkeit des Erkennens und Aussprechens des Nichtseienden mit dem Satz „Denn dasselbe ist Denken und Sein“ begründet. Um die Art und Weise dieser Begründung nachzuvollziehen, ist jedoch die Akzeptanz bestimmter Voraussetzungen erforderlich.

Nach K. v. Fritz (1938, S. 99), der das Verb noe‹n als „erkennen“ deutet, besagt das zu Fr. 2 gehörige Fragment 3: „Erkennen und Sein (sc. des Gegenstandes der Erkenntnis) sind dasselbe; deshalb nämlich, weil die Erkenntnis nur dann eine wah-re und das heißt: nur dann Erkenntnis ist, wenn in ihr das Sein des Gegenstandes unmittelbar gegeben ist“. Weshalb sollte jedoch die Ansicht, dass die Erkenntnis auf etwas Reales gerichtet werden muss („Erkennen … heißt ‚etwas Wirkliches erkennen‘“), von Parmenides als eine Identität des Erkenntnisaktes mit dem „Sein des Gegenstandes“ formuliert werden105?

In seiner Untersuchung der vorsokratischen Begriffe noe‹n, nÒoj etc. erklärt K. v. Fritz (1974), wie die genannte Identität seiner Ansicht nach aufzufassen ist: Sie bedeute lediglich soviel wie „unlösbare Verbindung“. Inspiriert hat ihn in diesem Punkt die Arbeit von K. Riezler (1970, S. 64), der die Frage der Bedeutung von noe‹n und tÕ aÙtÒ gleich zu Beginn seiner Interpretation von Fr. 3 aufwirft und sofort eine Antwort erteilt: „Das erste meint so wenig das Denken als das zweite die Identität“. Eben diese Auffassung liegt dem im Folgenden zu besprechenden Typ der Auslegung von Fr. 3 zugrunde, in dem diese zwei Punkte, die Bedeutung von noe‹n und der Sinn der durch tÕ aÙtÒ ausgedrückten Identität, eine zentrale Rolle spielen.

Zu den bekanntesten Vertretern dieser Richtung, die Fr. 3 in unmittelbarer gedanklicher Nähe zu Fr. 2.7-8 einordnen, gehören E. Heitsch (1970; 1991) und J. Wiesner (1996). Wie schon erwähnt106, sind beide Forscher überzeugt, dass noe‹n kein Denken, sondern eine rein passive, der sinnlichen Wahrnehmung ähnliche Erkenntnisart bezeichnet. Auf dieser Grundlage expliziert E. Heitsch (1991, S. 144) den Sinn von Fr. 3 folgendermaßen:

In B 2,7 beschreibt Parmenides das m¾ ™Òn als das, was nicht erkannt werden kann. Dem entspricht, daß er hier das e"nai mit dem noe‹n identifi ziert. Was ich vernehme, geistig wahr-

104 „Die Zellersche Deutung … läßt durch die Möglichkeit des Seins diejenige von Nichtsein völlig offen, sie erweist sich als das hölzerne Pferd, welches das Nichts in das Herz der Aletheia hineinzutragen pfl egt“ (P. Thanassas 1997, S. 83).

105 A. Finkelberg (1988, S. 55: „the content of thought and what-is [namely, existing] are the same“) erklärt den Sinn des Fragments und der in ihm angenommenen Identität folgendermaßen: „thought always ascertains something real (…) and in this limited sense it is identical with it“ (S. 55, Anm. 45). Es scheint jedoch zweifelhaft, ob eine solche Beziehung zwischen Denken und Sein als eine Identität, wenn auch „in beschränktem Sinne“, aufgefasst werden kann.

106 S. oben, Kap. 2.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 26: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

70 Aletheia: Denken und Sein

nehme, das ist gegenwärtig; und umgekehrt ist das Gegenwärtige dadurch gegenwärtig, daß ich es vergegenwärtige. Beide Begriffe, e"nai und noe‹n, implizieren sich gegenseitig; der eine ist ohne den anderen nicht zu denken.

So wie das Sehen ohne das gesehene Objekt nicht möglich sei, so gebe es auch keine Erkenntnis ohne den erkannten Gegenstand:

Parmenides drückt diesen an und für sich ganz einfachen Sachverhalt so aus, daß er sagt: noe‹n ‚erkennen‘ und e"nai ‚sein‘ sind dasselbe (B3; B 8,34); was nichts anderes meint, als daß noe‹n und e"nai in Korrelation stehen. Die beiden Wörter sind aufeinander bezogen und haben Sinn überhaupt nur in dieser ihrer Wechselbeziehung (1991, S. 104)107.

J. Wiesner (1996) expliziert die Unmöglichkeit, das Nichtseiende zu erkennen, in ähnlicher Weise: „Wer nichts hört, hört nicht: ebenso wird auch geistig nicht erfassen, wer nicht etwas erfaßt“. Fr. 3 („Erkennen und Sein ist dasselbe“) liefere eine Prämisse für Fr. 2.7-8, indem es die „Gleichwertigkeit einander korrespon-dierender Begriffe“ (S. 148)108, „die Korrelation oder gegenseitige Implikation von noe‹n und e"nai“ (S. 149) postuliere: Die Erkenntnis und das Sein seien „streng aufeinander bezogen, miteinander untrennbar verbunden“ (S. 150).

Die von den beiden Forschern vorgeschlagene Auslegung von Fr. 3 kann je-doch nicht befriedigen. Vor allem: Was ist unter der postulierten „unlösbaren Verbindung“109 von noe‹n und e"nai genau zu verstehen? Was in der Arbeit von K. Riezler (der den Sinn von tÕ aÙtÒ mit Verweis auf die Herakliteische (!) Sentenz ÐdÕj ¥nw k£tw m…a kaˆ æut», DK 22 B 60, deutet) eine tiefere Bedeutung hatte, scheint in der philologischen Abhandlung von E. Heitsch und in der analytischen Studie von J. Wiesner auf eine vage, quasi-logische Formel („Korrelation der

107 „… wahrnehmen einerseits und gegenwärtigsein andererseits meinen dasselbe; die beiden Begriffe sind zwar ihrem Gehalt nach identisch, aber sofern sie in strenger Korrelation stehen und diese Korrelation für sie wesentlich ist, sind sie doch auch wieder getrennt; der eine Aspekt ist durch den anderen nicht schlechthin zu ersetzen; die beiden Wörter meinen zwar dasselbe, aber sie meinen es anders“ (E. Heitsch 1970, S. 25, Anm. 1).

108 Diesen Sinn der Identität von Erkennen und Sein versucht J. Wiesner (1996, S. 146-148) aus der Zusammenstellung von Fr. 3 mit den Zitaten aus Herodot (tÕ peirhqÁnai toà qeoà kaˆ tÕ poiÁsai ‡son genšsqai) und Aristophanes (dÚnatai g¦r ‡son tù dr©n tÕ noe‹n) bei Clemens zu entnehmen, indem er das Fragment in den Satz dÚnatai g¦r ‡son tù noe‹n tÕ e"nai umfor-muliert. Dieser interessante Schritt ermöglicht es tatsächlich, die Identität von noe‹n und e"nai als „Gleichwertigkeit“ aufzufassen, nicht jedoch als eine zwischen „einander korrespondierenden Begriffen“ oder als ein unlösbares Aufeinander-Bezogensein, sondern vielmehr im Sinne einer Äquivalenz „wer denkt, ist“ (so wie tÕ peirhqÁnai und tÕ poiÁsai bzw. tÕ noe‹n und tÕ dr©n gleichzusetzen sind). Vgl. auch den neueren, verwandten Versuch von D.M. Giancola (2001, S. 636-638), die in dem Zeugnis des Clemens „a veritable Rossetta stone“ (S. 639) für die Interpretation von Fr. 3 sieht und ihre so erschlossene Auffassung des Satzes („for this is the same: to think and to be“) mit den Worten „That is to say, for Parmenides Being is intelligent“ (S. 636) erläutert.

109 Diese – auch in mehreren anderen Arbeiten vertretene – Auffassung des Verhältnisses von Denken und Sein als einer Art Korrelation basiert auf Fr. 8.35-36: oÙ ... ¥neu toà ™Òntoj ... eØr»seij tÕ noe‹n – d. i. auf einem Fragment, das immer noch höchst problematisch ist.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 27: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 71

Begriffe“, ihre „gegenseitige Implikation“ usw.) reduziert zu sein, deren präziser Sinn schwierig zu erschließen ist. Man kann es übrigens ernsthaft bezweifeln, ob Parmenides an einer reinen Explikation der Wörter und ihrer gegenseitigen Be-ziehungen Interesse hatte110. Es wurde auch mit Recht bemerkt111, dass eine These von der „gegenseitigen Implikation“ des Denkens und des Seins im Kontext von Fr. 2.7-8 überhaupt nicht erforderlich wäre.

Es ist zwar durchaus wahrscheinlich, dass die sinnliche, auf ein äußerliches Objekt gerichtete Wahrnehmung als Modell für die Parmenideische Auffassung des Denkens diente112. Es ist jedoch kaum überzeugend, dass die Vorstellung des notwendigerweise auf einen realen Gegenstand bezogenen Gedankens einen Aus-druck in der These „Denken (Erkennen) und Sein sind dasselbe“ fi ndet (ebenso wenig würde man behaupten, dass ein Satz wie „Sehen und Sein ist dasselbe“ allein „aufgrund der verwendeten Termini“ verständlich sei und die These „das, was nicht ist, kann nicht gesehen werden“ begründe).

Auffallend ist auch die Argumentation, die bei diesem Typ von Interpretationen in Bezug auf das Verb noe‹n geführt wird. Zunächst wird – meist auf der Grundlage der vermeintlichen Bedeutung von noe‹n bei Homer113 – behauptet, dass das Verb eine spezielle Art der Erkenntnis bezeichne, die in einer besonderen Beziehung zum Seienden stehe. Dann wird jedoch der These von dieser spezifi schen Beziehung zwischen dem noe‹n und dem Seienden die Funktion einer Begründung (bzw. Erklärung oder Prämisse) der in einer ganz anderen Terminologie formulierten Behauptung „du könntest das Nichtseiende weder erkennen (gno…hj) noch auf-zeigen (bzw. aussprechen) (fr£saij)“ zugewiesen. Es wird dabei in keiner Weise versucht, die vorausgesetzte Beziehung zwischen dem noe‹n und dem Seienden als einen realen Grund der Unmöglichkeit des Erkennens und Aussprechens des Nichtseienden zu erweisen. Stattdessen wird der inakzeptable114 Weg gewählt, den semantischen Unterschied zwischen gignèskein und noe‹n zu ignorieren. Bei anderen Forschern wird die Synonymie zwischen gignèskein und noe‹n nicht ex-plizit postuliert, scheint jedoch trotzdem in indirekter Weise vorausgesetzt zu sein (oder den Interpretationen gar zugrunde zu liegen), was in den inkonsequenten

110 „Denn was Parmenides dort und hier tut, ist nicht die Konstruktion besonders tiefsinniger und unverständlicher Seinsaussagen, seine Überlegungen sind vielmehr nichts anderes als Explikation dessen, was gewisse Wörter im Griechischen nun einmal bedeuten“ (E. Heitsch 1970, S. 24).

111 D. Gallop (1979, S. 78, Anm. 36) in Bezug auf die von T.M. Robinson (1975, S. 626) vorge-schlagene Interpretation der Identität als „‚necessary interconnectedness‘ of ascertainment and the real“. Die These Robinsons, Fr. 3 wiederhole nur in gnomischer und hyperbolischer („for effect’s sake“) Weise dasselbe, was in Fr. 2.7-8 gesagt wurde, überzeugt nicht.

112 „In the history of philosophy, it would be diffi cult to discover an effort to explain the nature of thought which does not make some fundamental analogy between the processes of thinking and sense-perception. This is as true in the case of ‚metaphysicians‘, ‚idealists‘, and ‚mystics‘ as it is of ‚materialists‘ or ‚empiricists‘“ (S.H. Rosen 1961, S. 127).

113 S. oben, Kap. 2.114 Vgl. oben, Kap. 2.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 28: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

72 Aletheia: Denken und Sein

Übersetzungen von noe‹n115 oder gignèskein116 deutlich zum Ausdruck kommt. J. Barnes (1979), der sich für eine semantische Unterscheidung der beiden Verben ausspricht, spricht dem Eleaten, um einen Zusammenhang zwischen Fr. 2.7-8 und Fr. 3 (sowie 6.1) herzustellen, eine zusätzliche, den Unterschied zwischen den beiden Begriffen aufhebende Prämisse zu: „If X can be recognized, X can be thought“117.

Die Gleichsetzung der Termini noe‹n und gignèskein, die eine direkte Verbin-dung von Fr. 3 und Fr. 2.7-8 ermöglichen soll, erweist sich außerdem als nicht zielführend und als logisch zweifelhaft, da bei ihrer Akzeptanz das Fragment 3 nichts enthält, was eine reale Begründung der These von Fr. 2.7-8 darstellen könnte: „Es ist ja nichts als die reine Umkehrung dazu“118.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Versuche, im Satz tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai eine Begründung, Prämisse oder „notwendige Ergänzung“ der These „du könntest das Nichtseiende weder erkennen noch aufzeigen (bzw. aussprechen)“ zu fi nden, zu einer beinahe paradoxen Situation führen: Der zu erklä-rende Satz scheint viel verständlicher und klarer als seine vermeintliche Erklärung, die erst nach mehrseitigen Exegesen nachvollziehbar wird. Besonders auffällig ist dieser Umstand bei der traditionellen Deutung von Fr. 3 als einer Identität, aber auch in Bezug auf den Satz in der Zellerschen Konstruktion wurde ein ähnlicher Einwand vorgebracht119.

Die letzte Beobachtung führt zu einem weiteren wichtigen Punkt: der Frage nach der Selbstverständlichkeit der Parmenideischen Thesen vom Nichtseienden. Die in Fr. 2.7-8 enthaltene These gilt nicht selten als selbstverständlich und kei-ner Argumentation bedürftig120. Die Richtigkeit dieser Auffassung bestreitet u. a. G.E.L. Owen (1960, S. 94):

115 So übersetzt z. B. U. Hölscher (1969) einmal „Denn dasselbe kann gedacht werden und sein“ (S. 17), ein anderes Mal dagegen (wo er von der Zugehörigkeit von Fr. 3 zu Fr. 2.7-8 spricht): „Denn dasselbe kann erkannt werden und kann sein“ (S. 81; vgl. den Versuch einer Erklärung auf S. 82); A.H. Coxon (1986), der noe‹n regelmäßig mit „conceive“ wiedergibt („for the same thing is for conceiving as is for being“ S. 54), schreibt an der Stelle, an der er den Zusammen-hang der beiden Fragmente bespricht: „since (as fr. 4 [= 3 DK] adds) only what is (something) can be conceived or known“ (S. 177) [Hervorhebung M.M.-R.].

116 G. Calogero (1970, S. 20) übersetzt Fr. 2.7-8 als „Denn das, was nicht ist, kannst du weder denken noch sagen: Denken ist … etc.“ [Hervorhebung M.M.-R.]. Vgl. z. B. auch L. Tarán (1965, S. 35), der Fr. 3 für eine „notwendige Ergänzung“ von Fr. 2.7-8 hält: „… these words [= fr. 2.7-8] assert the impossibility of uttering or thinking non-Being“ [Hervorhebung L.T.].

117 Obwohl J. Barnes (1979, S. 165f.) Fr. 3 an Fr. 2.8 anschließt, hält er dieses Fragment nicht für eine unmittelbare Begründung von Fr. 2.7-8, sondern von Fr. 6.1a (die These von Fr. 2.7-8 wird seiner Auffassung nach erst durch Fr. 6.1a samt der erwähnten zusätzlichen Prämisse bewiesen).

118 H.-G. Gadamer (1952, S. 61). Vgl. auch KRS (1983, S. 246f., Anm. 2), wo entschieden gegen die Verbindung von Fr. 2 und Fr. 3 argumentiert wird, obwohl die Fragmente in der Ausgabe von 1957 (S. 269) verbunden sind.

119 „…the conclusion seems more obviously true than the reason“ (R.J. Ketchum 1990, S. 176).120 So u. a. L. Tarán (1965, S. 39, 42), J. Klowski (1977, S. 120), H.-G. Gadamer (1952, S. 61), U.

Hölscher (1968, S. 97), M. Conche (1996, S. 87), A. Finkelberg (1988, S. 54). S. auch A.P.D.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 29: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 73

… what does not exist cannot be distinguished in thought or speech (B 2.7-8), and this plea idea is basic to the following arguments and recalled more than once in them (B 8.8-9, 17-18, probably 34-36). […] The goddess’s premiss in this opening game is that what does not exist cannot be thought or spoken of, or, what comes to the same, that what can be thought or spoken of exists. But this, after all, is far from self-evident. [Hervorhebung M. M.-R.]

Unter Verweis auf Owen argumentiert auch E. Tugendhat (1970, S. 138) gegen die Selbstverständlichkeit der These von Fr. 2.7-8: „Schließlich können wir und konnten auch Parmenides’ Zeitgenossen sehr wohl von solchem sprechen und an solches denken, was nicht existiert“ [Hervorhebung M. M.-R.].

Offensichtlich kommt es hier zu einem weiteren Missverständnis. Die einen Forscher versuchen nachzuweisen, dass noe‹n Erkenntnis bezeichnen muss, weil nur dann alle Parmenideischen Thesen in Bezug auf noe‹n und e"nai aus sich her-aus verständlich seien121; die anderen behaupten dagegen, dass die Aussage von der Unmöglichkeit der Erkenntnis (oÜte ... ¨n gno…hj) des Nichtseienden einer Argumentation bedarf122, weil man zweifelsohne an etwas, was nicht ist, denken kann. Eine unabhängige Behandlung der einzelnen Fragmente und der in ihnen jeweils enthaltenen Begriffe ergibt ein differenzierteres Bild: Die These oÜte g¦r ̈ n gno… hj tÒ ge m¾ ™Òn, oÙ g¦r ¢nustÒn, / oÜte fr£saij ist durch die Verwendung der Verben gignèskein und fr£zein nahezu selbstverständlich (was auch durch die emphatische Bemerkung in V. 7b betont wird)123, während Fr. 3 sowie eine

Mourelatos (1970, S. 74ff.). Zugleich hält L. Tarán (1965, S. 44) Fr. 3 für eine „notwendige Ergänzung“ der These in Fr. 2.7-8, J. Klowski (1977, S. 121) für ihre „spiegelbildliche Aussage“ und U. Hölscher (1968, S. 97) für ihre „noch elementarere Prämisse“ (s. auch 1969, S. 83).

121 Als paradigmatisch kann in dieser Hinsicht der Gedankengang von Ch.H. Kahn (1968, S. 125f.) gelten.

122 Vgl. auch J.H. Lesher (1994, S. 25f., Anm. 50). Der Autor bemerkt mit Recht, dass die tradi-tionelle Meinung, die Aussagen des Parmenides vom Denken und Kennen des Nichtseienden (Fr. 2.7-8; 3; 6.1-2; 8.8-9) seien Prämisse seiner Ausführungen, „require that Parmenides’ entire argument rest on an extremely controversial, indeed extremely counter-intuitive, ‚law of thought‘“, während Parmenides nach der „highly persuasive truth“ strebe. Alle diese Aussagen sind nach Lesher proleptische Darlegungen dessen, was später bewiesen wird; der Beweis sei das Fragment 8 selbst. In der vorliegenden Studie wird eine andere Lösung vorgeschlagen, weil erstens nicht alle der Aussagen denselben Sinn zu haben scheinen und zweitens die Deduktion von Fr. 8 einen Beweis dieser These schon voraussetzt und sich ausdrücklich auf ihn stützt (vgl. bes. Fr. 8.7-9, 8.15-18).

123 Der Grad der Evidenz von Fr. 2.7-8 hängt nach vielen Forschern auch von der genauen Bedeutung des Ausdrucks tÕ m¾ ™Òn ab. Manche Gegner der existentiellen Interpretation des Parmenideischen ™st…n argumentieren, dass Fr. 2.7-8 bei einem existentiellen Verständnis des Ausdrucks m¾ ™Òn eindeutig falsch wäre, weil es offensichtlich möglich ist, etwas, was nicht existiert, zu erkennen (z. B. in Bezug auf mythologische Gestalten zu erkennen, dass sie nicht existieren, bei Hesiod vorkommen usw.; so u. a. Ch. Kahn 1988, S. 243). Obwohl der von Kahn postulierte, veritative Sinn der Phrase tÕ m¾ ™Òn nicht ausgeschlossen werden kann, wäre jedoch das Argument in Fr. 2.7-8 bei dieser Bedeutung nicht evidenter als bei der existentiellen Auslegung (das Beispiel der mythologischen Gestalten könnte auch hier angeführt werden; vgl. dagegen die Ansicht von Ch. H. Kahn 1988, S. 244). Die These, dass sich das, was nicht wirklich bzw. wahr ist, nicht erkennen lässt, wäre ebenso erklärungsbedürftig wie die strikt

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 30: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

74 Aletheia: Denken und Sein

dem Fr. 2.7-8 ganz ähnliche, aber mit noe‹n und lšgein operierende These nicht als selbstverständlich bezeichnet werden können124. Daraus folgt, dass Parmenides seine in Fr. 2.7-8 enthaltene These weiterentwickelt hat, indem er sie auf das Denken und Sprechen zu beziehen versuchte, was sicherlich ohne eine detaillierte Argumentation nicht überzeugend durchgeführt werden konnte.

Bei der Suche nach den Spuren der Parmenideischen Beweisführung scheint ein Blick auf die Argumentation der späteren Denker sinnvoll, die ebenfalls die Möglichkeit des Aussprechens und Erkennens des Nichtseienden bestritten haben. Diese Vorgehensweise erscheint umso aussichtsreicher, als sie von Parmenides inspiriert waren und es daher durchaus denkbar ist, dass sie Elemente seiner Ar-gumentation in ihre Beweisführung aufgenommen haben.

3.2.2 Die Argumentation gegen das Nichtseiende in antiken Quellen

Zu den Denkern, die die Möglichkeit des Aussagens und Erkennens des Nicht-seienden bestritten, gehörten vor allem die Sophisten, die diese Argumentation als Beweis für die paradoxe Behauptung der Unmöglichkeit, das Falsche zu sagen, verwendeten. Ihre Argumente werden von Platon in mehreren Dialogen (v. a. „So-phistes“ 237a-e; „Theaetet“ 188c-189b; „Kratylos“ 429c-e; „Euthydemos“ 283e-284e) wiedergegeben. Nach den Platonischen Zeugnissen bestritten die Sophisten die Möglichkeit, das Falsche zu sagen (yeudÁ lšgein), indem sie es als Aussprechen dessen, was nicht ist (t¦ m¾ Ônta lšgein), interpretierten. Die Begründung dieser These besteht aus zwei Teilen. Im ersten („negativen“) wird nachgewiesen, dass es nicht möglich ist, m¾ Ôn zu sagen. Im zweiten („positiven“) wird der Beweis geführt, dass es logisch nur möglich ist, Ôn zu sagen. Im Folgenden soll zunächst der negative Teil analysiert werden (der positive wird weiter unten im Kapitel 3.3.1.2 zu behandeln sein).

existentielle These („das, was nicht existiert“); in beiden Fällen müsste man den Begriff des Wissens so defi nieren, dass er die Kenntnis von Begriffen wie „Pegasus“ nicht umfasst (dies tut auch Ch.H. Kahn, wenn er erklärt, bei der veritativen Auslegung von Fr. 2.7-8 komme das Fragment dem gesunden Menschenverstand nahe, weil das Wissen und die Wahrheit einen Bezug auf die Wirklichkeit und einen „objektiven Tatbestand“ verlangen). Hätte jedoch Par-menides die veritative Bedeutung intendiert, hätte er sicherlich einen gänzlich anderen Beweis formuliert (vgl. unten, Kap. 3.3.1). Selbstverständlich ist dagegen der Satz in Fr. 2.7-8 bei der existentiellen Variante „es gibt nicht“ („das, was es nicht gibt, lässt sich nicht erkennen“) sowie bei der sog. „unvollständigen Kopula“: Das, was nicht das oder das, was also nichts ist, lässt sich nicht erkennen (vgl. unten, Kap. 3.3.1.5).

124 Eine Illustration dieser Auffassung befi ndet sich bei Platon. Im „Sophistes“ (237b) wird Theaetet die Frage ka… moi lšge: tÕ mhdamîj ×n tolmîmšn pou fqšggesqai; gestellt, die er etwas ver-wundert beantwortet: Pîj g¦r oÜ; weil er offensichtlich nicht begreift, warum es unmöglich sein sollte, etwas Nichtseiendes auszusprechen bzw. zu benennen. Vgl. dagegen den bekannten Passus aus der „Politeia“ (476e – 477a), wo Glaukon, nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Nichtseienden gefragt, antwortet: pîj g¦r ¨n m¾ Ôn gš ti gnwsqe…h;

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 31: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 75

Im „Theaetet“ (189a) behauptet Sokrates – nach dem Beweis, dass jeder, der etwas sieht oder meint, etwas Seiendes (Ôn ti) sieht oder meint – dass im Gegen-zug der, der etwas Nichtseiendes (m¾ Ôn) meint (dox£zei), nichts meint (oÙdšn), wer aber nichts (mhdšn) meint, überhaupt nicht meint ('All¦ m¾n Ó ge mhd{n dox£zwn tÕ par£pan oÙd{ dox£zei). Damit wird die These, dass man nicht tÕ m¾ ×n dox£zein kann, für erwiesen gehalten. Es ist bemerkenswert, dass dieser Argumentation die Frage vorangeht (188e), ob es möglich ist, etwas zu sehen und zugleich nichts zu sehen (E‡ tij Ðr´ mšn ti, Ðr´ d{ oÙdšn), was sofort als unmöglich qualifi ziert wird (Kaˆ pîj;). Die sinnliche Erkenntnis wird hier zum Paradigma des Erkennens und des Meinens.

Im „Sophistes“ (237c-e) wird die Argumentation mit der Betonung des we-sentlichen Unterschieds zwischen tÕ m¾ Ôn (tÕ mhdamîj Ôn) und einem einfachen ti, dass immer das „Zeichen“ eines Seienden ist, eingeleitet. Anschließend wird festgestellt, dass der, der nicht etwas sagt, nichts sagt (TÕn d{ d¾ m¾ tˆ lšgonta ¢nagkaiÒtaton, æj œoike, pant£pasi mhd{n lšgein). Doch könne man nicht der Auffassung zustimmen, dass jemand spreche, wenn er mhdšn sage – er spreche vielmehr überhaupt nicht. Wer also m¾ Ôn aussprechen wolle, der spreche über-haupt nicht.

Platon nimmt diesen Gedanken auch in der „Politeia“ auf (478b), und zwar bei seinem Versuch, die Meinung als etwas Mittleres zwischen Wissen und Unwissen zu defi nieren. Sokrates fragt, ob man meinen (dox£zein) kann, indem man nichts meint (À oŒÒn te aâ dox£zein mšn, dox£zein d{ mhdšn;), was sofort für ¢dÚnaton erklärt wird.

Spuren dieser Argumentation fi nden sich auch im „Euthydemos“ (286c), wo Sokrates die Ausführungen des Ktesippos über die Unmöglichkeit, das Falsche zu sagen, mit den Worten À lšgont' ¢lhqÁ lšgein À m¾ lšgein zusammenfasst.

In seinem Aufsatz „Das Sein und das Nichts“ versucht E. Tugendhat (1970) zu zeigen, dass die oben skizzierte, u. a. im „Theaetet“ und „Sophistes“ dargestell-te Argumentation eine Auffassung von Sein und Nichtsein voraussetzt, die als Parmenideisch gelten kann, und dass folgerichtig auch die Argumentation selbst Parmenideisch sein kann: „Ich sehe keinen Grund, warum man bezweifeln sollte, daß genau diese Überlegung, die Platon Parmenides unterstellt hat, für Parmenides selbst maßgebend war“ (S. 140).

Manche Forscher teilen diese Meinung Tugendhats125. Die oben erwähnte Auffassung von E. Heitsch und J. Wiesner, dass diese Art von Gedankenführung im Gedicht implizit enthalten war (z. B. im Begriff noe‹n), überzeugt jedoch nicht: Wenn die Argumentation von Parmenides stammt, muss er sie in seinem Werk explizit dargelegt haben.

125 S. z. B. W.K.C. Guthrie (1965, S. 20 und 41); D. Gallop (1984, S. 9 mit Anm. 25); E. Heitsch (1991). Explizite Zustimmung fi ndet E. Tugendhat bei J. Wiesner (1996, bes. S. 50, 45f.). Die Zurückweisung dieser These aufgrund der Überzeugung, dass die Parmenideische Argumentation auf einer „trivial confusion“ (so R.C. Hoy 1994, S. 577) basiere, überzeugt nicht.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 32: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

76 Aletheia: Denken und Sein

Bemerkenswert ist, dass die Argumentation auf dem logischen Schluss von tÕ m¾ ×n lšgein auf mhd{n lšgein und von diesem wiederum auf oÙ lšgein basiert. Während der zweite, einer sprachlichen Operation nahekommende Schluss (von mhd{n lšgein auf oÙ lšgein) nicht an eine bestimmte philosophische Doktrin gebunden ist und sich insofern ohne Schwierigkeiten auch dem Parmenides zu-schreiben lässt126, stellt die Frage, ob der Eleate die philosophisch viel gewichtigere Identifi zierung von tÕ m¾ Ôn und mhdšn angenommen haben kann, das entschei-dende Problem dar. Wie jedoch E. Tugendhat bemerkt, kann Fr. 8 (V. 10)127 als hinreichende Stütze für die Zuschreibung dieser Identifi zierung an Parmenides dienen, so dass die Hypothese, nach der er auch den Schritt tÕ m¾ ×n lšgein = mhd{n lšgein durchgeführt hat, als durchaus plausibel erscheint.

3.2.3 Die Argumentation gegen den Weg „ist nicht“

In Fr. 8 wird zweimal (abgesehen von V. 34ff.) auf das Resultat der im ersten Teil der „Aletheia“ geführten Untersuchung zurückgegriffen. In Fr. 8.7-9 verbietet die Göttin dem Jüngling, das Seiende aus dem Nichtseienden herzuleiten:

...oÙd' ™k m¾ ™Òntoj ™£sswf£sqai s' oÙd{ noe‹n: oÙ g¦r fatÕn oÙd{ nohtÒnœstin Ópwj oÙk œsti.

Einige Verse später (8.15-18) wird an die Alternative aus Fr. 2 erinnert, die als eine Entscheidung zwischen œstin und oÙk œstin dargestellt wird.

Die erstere Stelle (8.7-9) hat zu einigen Kontroversen geführt. Entgegen man-chen Interpretationen ist die Formulierung „sagen, dass oÙk œsti“ weder mit „sagen, dass Seiendes nicht ist“128 noch mit „sagen, dass Nichtseiendes nicht ist“129 zu übersetzen. Das oÙk œstin wird offensichtlich nicht wegen seiner Falschheit oder Widersprüchlichkeit abgelehnt, sondern weil es sich nicht denken und sagen lässt. Diese Begründung scheint der Doktrin von der Unmöglichkeit der Erkenntnis des Nichtseienden (2.7-8) zu entspringen; das Verhältnis der beiden Aussagen ist jedoch nicht auf den ersten Blick klar. Die Worte oÙ g¦r fatÕn oÙd{ nohtÒn / œstin Ópwj

126 Zum idiomatischen Sinn des Ausdrucks oÙd{n lšgein im Griechischen („sinnlos reden“) s. LSJ s. v. lšgw III 6 und D. Gallop (1984, S. 9 u. Anm. 25).

127 mhdšn erscheint auch in Fr. 6.2, dazu s. unten, Kap. 3.3.1.5.128 So z. B. A. Finkelberg (1988, S. 49: „it is not possible to say and to think ‚what-is is not‘“);

W. Bröcker (1965, S. 61: „Denn es ist weder sagbar noch vorstellbar, / Daß es (das ™Òn) nicht ist“); W.J. Verdenius (1967, S. 113: „Es ist unaussprechlich und undenkbar, dass Wirklichkeit nicht sei“). Vgl. K. Bormann (1971, S. 94: „Nicht aussprechbar und nicht denkbar ist, daß «es nicht ist» (= daß das Nicht ist)“; zur Position K. Bormanns s. auch oben, Kap. 3.1).

129 Z. B. H. Schmitz (1988, S. 163: „In 8,9a muß aus 8,7b ‚m¾ ™Òn‘ als Subjekt ergänzt werden, so daß 8,8b-9a zu übersetzen ist: ‚Nicht sagbar und nicht bemerkbar ist nämlich, daß Nichtseiendes nicht ist‘“). Kritisiert wird diese Annahme auch von J. Wiesner (1996, S. 28f.).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 33: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 77

oÙk œsti werden oft expliziert oder paraphrasiert als „denn das, was nicht ist, kann nicht ausgesagt und gedacht werden“. J. Mansfeld (1964, S. 95) schreibt130:

Weil das Nichtseiende nicht gedacht oder gesagt werden kann, kann es auch nicht gedacht (bzw. gesagt) werden als Ursprung oder Anfang von Etwas. Das Denken eines Ursprungs aus dem Nichtseienden würde ja zugleich das Nichtseiende denken, als Ursprung131.

Warum jedoch begründet die Göttin ihr Verbot nicht ausdrücklich mit der These, das Nichtseiende lasse sich nicht denken? J. Barnes (1979, S. 186) betont den Unterschied zwischen der früheren Argumentation des Parmenides (Fr. 2, 3, 6) und der Aussage von Fr. 8.8-9 und expliziert die letztere folgendermaßen: „if I can think that O is something or other, then presumably I can think of O; hence if I cannot think of O I cannot think that O does not exist“. Diese Ausführung befriedigt jedoch nicht.

E. Heitsch (1991) schlägt vor, den unbequemen Unterschied völlig aufzuhe-ben: oÙ fatÕn oÙd{ nohtÒn (8.8) sei mit oÜte ¨n gno…hj oÜte fr£saij (2.7-8) zu identifi zieren, woraus folge, dass auch das Unerkennbare und Unaussprechbare in beiden Fällen dasselbe sei: Ópwj oÙk œstin bezeichne genau dasselbe wie tÕ m¾ ™Òn. Nach E. Heitsch handelt es sich hier um eine grammatische Erscheinung: Der substantivische Ausdruck tÕ m¾ ™Òn von 2.7-8 wird in Fr. 8.8-9 durch einen Satz, Ópwj oÙk œstin, ersetzt, ohne dass sich daraus die geringste Änderung des Inhalts ergeben würde. Diese Annahme wird auch von J. Wiesner (1996, S. 25-29) geteilt: 2.7-8 und 8.8-9 sind für ihn genau gleichbedeutend. Dementsprechend geben die beiden Forscher in ihren Übersetzungen des Satzes 8.8-9 den Ausdruck Ópwj oÙk œstin mit „Nichtseiendes“ wieder132. Keiner von ihnen erklärt jedoch, aus welchen Gründen Parmenides seine These in 8.8-9 so formuliert hat und wie er die beiden Ausdrücke für Synonyme halten konnte.

Überzeugender als die Hypothese von der rein sprachlichen Synonymie der Ausdrücke Ópwj oÙk œstin und tÕ m¾ ™Òn klingt die Auffassung von E. Tugendhat (1970), Parmenides habe in seiner Auffassung des Denkens die Struktur von lšgein an die von noe‹n, das seinerseits als „ein schlichtes Vorsichhaben“ verstanden werde, assimiliert: „Das Denken hat ‚das Seiende‘ vor sich wie das sinnliche Wahrnehmen seinen Inhalt. Da die komplexere Struktur des ‚etwas als etwas‘ zu einem schlichten ‚etwas‘ komprimiert wird, kann vom ,etwas‘ deswegen nicht mehr gesagt werden,

130 Ähnlich E. Heitsch (1991, S. 167: „Seiendes kann nicht aus Nichtseiendem entstehen. Denn die gegenteilige Annahme würde mit dem Nichtseienden als Etwas rechnen, von dem etwas erkannt und gesagt werden kann; was gegen die Defi nition des Nichtseienden verstoßen wür-de“); G.E.L. Owen (1966, S. 325 u. 329: „to say that nothing existed before that time makes no sense“). S. auch U. Hölscher (1969, S. 91: die Entstehung aus dem Nichtseienden wird „wegen der Undenkbarkeit des Nichtseienden“ abgelehnt), R.J. Ketchum (1990, S. 179f.), Ch.H. Kahn (1969, S. 716), D. O’Brien (1987, S. 150).

131 Vgl. Melissos, DK 30 B 1.132 E. Heitsch (1991, S. 27: „denn weder sagbar noch erkennbar / ist Nichtseiendes“); J. Wiesner

(1996, S. 44: „weder mitteilbar noch erkennbar ist Nichtseiendes“).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 34: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

78 Aletheia: Denken und Sein

daß es ‚nicht ist‘, weil das ‚ist‘ mit dem ‚etwas‘ quasi eins geworden ist (das ‚Sein‘ wird, wie Heidegger sagt, mit dem ‚Seienden‘ verwechselt‘)“133. Parmenides habe also, mit anderen Worten, die Sätze „er denkt, dass x nicht ist“ und „er denkt nichts“ gleichgesetzt134.

Der Ansicht Tugendhats, die Erklärung der These oÙ g¦r fatÕn oÙd{ no-htÒn / œstin Ópwj oÙk œsti 8.8-9 sei in Parmenides’ Auffassung von Denken und Sprechen zu suchen, ist zuzustimmen, der Parmenideischen Auffassung selbst soll jedoch noch genauer auf den Grund gegangen und eine Verbindung zwischen ihr und den relevanten Aussagen des Gedichts hergestellt werden.

Zunächst lässt sich kaum übersehen, dass im Satz ... oÙd' ™k m¾ ™Òntoj ™£ssw / f£sqai s' oÙd{ noe‹n: oÙ g¦r fatÕn oÙd{ nohtÒn / œstin Ópwj oÙk œsti eine der von Heitsch, Wiesner und Tugendhat postulierten logisch vorausgehen-de Identifi zierung durchgeführt wird. Es ist nicht das Denken von „ist nicht“, das mit dem Denken des Nichtseienden identifi ziert wird, sondern das Denken, dass (das Seiende) aus dem Nichtseienden entstanden sei, wird vorerst auf das Denken von „ist nicht“ zurückgeführt. Daraus ergibt sich, dass die Formulierung oÙk œstin vor dem m¾ ™Òn eine Art von Vorrang haben muss135. Dieser besteht offensichtlich darin, dass der Ausdruck oÙk œstin mit dem zweiten Forschungsweg aus Fr. 2 identisch ist, aus dem ersten aber ausdrücklich ausgeschlossen wird (oÙk œsti m¾ e"nai 2.3b). In Fr. 8.8-9 greift also Parmenides das Konzept der beiden unterschiedlichen Forschungswege wieder auf: Die Aussage, dass das Seiende aus Nichtseiendem entstanden sei, käme dem Abkommen vom richtigen Weg (œstin) gleich. Dieses Verfahren ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es für Parmenides eben der Ausdruck Ópwj (oÙk) œstin ist, der die Struktur des Denkens und des Sprechens adäquat wiedergibt. Die Einbeziehung des m¾ ™Òn in den Diskurs wird also in der dem Denken und Sprechen eigentümlichen Form ausgedrückt, die seine Natur als Denkinhalt deutlich zum Ausdruck bringt. Hieraus ist ersichtlich, dass Parmenides über die Struktur des Sprechens und Denkens refl ektierte und sie als das Denken bzw. Sagen von (durch „dass“-Sätze zu formulierenden) Inhalten anerkannte, auch wenn er in anderen Teilen seiner Untersuchung auch die Kon-struktion lšgein ti verwendet, die die Vorstellung eines Sprechens bzw. Denkens direkter Objekte zu implizieren scheint.

Die zweite Anknüpfung an die im ersten Teil der „Aletheia“ durchgeführte Kritik des Denkens fasst „ist“ und „ist nicht“ explizit als „Wege“ auf (8.15-18):

133 E. Tugendhat (1970, S. 142).134 S. auch A. Graeser (1977, S. 148).135 Einen ähnlichen Schluss zieht R. Falus (1960, S. 274f.), nach dem der Begriff tÕ m¾ ™Òn in der

Argumentation des Parmenides nur eine „Hilfsrolle“ spielt. Doch gelangt der Forscher zu der Überzeugung, Parmenides’ Argumentation enthalte einen Zirkelschluss, denn die Unerkenn-barkeit bzw. Undenkbarkeit des Nichtseienden und des Weges begründeten sich gegenseitig (Fr. 2.6-8, Fr. 8.7-9). Unten wird jedoch gezeigt werden, dass dies nicht der Fall ist.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 35: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 79

... ¹ d{ kr…sij perˆ toÚtwn ™n tîid' œstin: œstin À oÙk œstin: kškritai d' oân, ésper ¢n£gkh, t¾n m{n ™©n ¢nÒhton ¢nènumon (oÙ g¦r ¢lhq»j œstin ÐdÒj), t¾n d' éste pšlein kaˆ ™t»tumon e"nai.

Das „ist nicht“ wird auch an dieser Stelle als undenkbar und unsagbar zurückge-wiesen, oder präziser: als ungedacht und ungenannt (¢nÒhtoj, ¢nènumoj) aufge-geben (™©n)136. Der Unterschied gegenüber Fr. 8.8-9, das jedoch sicherlich dieselbe Grundbedeutung wie 8.17-18 hat137, besteht darin, dass der Ablehnung von „ist nicht“ in 8.17-18 eine Begründung folgt: oÙ g¦r ¢lhq»j / œstin ÐdÒj.

Diesen Satz kommentiert E. Heitsch (1970, S. 16f.) – der sich als einer von wenigen Forschern eingehend mit Fr. 8.15-18 auseinandergesetzt hat138 – folgen-dermaßen:

Wieso kann die Unerkennbarkeit des Weges (oder auch sein Unerkannt-sein) in seiner Un-wahrheit gründen? Oder auch: Inwiefern ist es sinnvoll zu behaupten, daß das was nicht wahr ist, sich weder denken noch sagen läßt? Jedenfalls ist der Satz so, wie er dazustehen scheint, offensichtlich nichts als eine – allenfalls systembedingte – Behauptung, die niemanden über-zeugen kann, da der begründende g£r-Satz keinerlei Argumentationskraft besitzt. Sollen wir Parmenides eine Argumentation, die in Wirklichkeit keine ist – oder genauer: die wohl in der Form, nicht aber der Sache nach eine Argumentation ist – zutrauen?

Der Autor fi ndet nur eine Möglichkeit, Parmenides gegen den Verdacht einer „Argumentation, die in Wirklichkeit keine ist“, zu verteidigen: die übliche Bedeu-tung des Adjektivs ¢lhq»j, „wahr“, zugunsten der „etymologischen“ Bedeutung „unverborgen“ zu verneinen. Die Undenkbarkeit (bzw. Unerkennbarkeit) und Unaussprechlichkeit von „ist nicht“ würde demnach aus der „Verborgenheit“ dieses Wegs hervorgehen. Weder dieser Vorschlag noch seine in sich widersprüchlichen Konsequenzen scheinen jedoch akzeptabel139.

Die Formulierung der These von 8.7-9, oÙd' ™k m¾ ™Òntoj ™£ssw / f£sqai s' oÙd{ noe‹n: oÙ g¦r fatÕn oÙd{ nohtÒn / œstin Ópwj oÙk œsti, zeigt, dass es sich bei der postulierten Unmöglichkeit des Denkens und Sagens um etwas anderes als die bloße Artikulation der Wörter oÙk œstin handelt, die offensichtlich mög-

136 Zur grammatischen Konstruktion des Satzes s. die Diskussion bei J. Wiesner (1996, S. 29-33).

137 Hier wird von E. Heitsch (1991, S. 121f.) und J. Wiesner (1996, S. 33) die Gleichsetzung mit Recht postuliert.

138 Vgl. auch K. Deichgräber (1983, S. 12f.).139 Aufgrund seiner Annahme einer Reihe von (zum Teil schon erwähnten) Identifi kationen (oÙk

¢lhq»j 8.17 = panapeuq»j 2.6, daher oÙ g¦r ¢lhq»j / œstin ÐdÒj 8.17-18 = t¾n d» toi fr£zw panapeuqša œmmen ¢tarpÒn 2.6; œstin = tÕ ™Òn, oÙk œstin = tÕ m¾ ™Òn; noe‹n = gignèskein; t¾n m{n ™©n ¢nÒhton ¢nènumon 8.17 = oÜte g¦r ¨n gno…hj tÒ ge m¾ ™Òn ... / oÜte fr£saij 2.7-8) ist E. Heitsch der Ansicht, die Argumentation in Fr. 2.6-8 und 8.15-18 verlaufe jeweils in umgekehrter Richtung: An der ersten Stelle werde die Verborgenheit mit der Unerkennbarkeit, an der zweiten die Unerkennbarkeit mit der Verborgenheit begründet. Der Widerspruch wird vom Autor in gänzlich unplausibler Weise wieder auf eine „Korrespondenz“ der beiden Begriffe („nicht-erkannt-sein“ und „verborgen-sein) zurückgeführt (s. E. Heitsch 1970, S. 18).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 36: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

80 Aletheia: Denken und Sein

lich ist. Das Denken und Sagen von „ist nicht“ scheint vielmehr ein bestimmtes Kriterium nicht zu erfüllen, das schon früher aufgestellt worden ist. Auf dieses Kriterium beruft sich Parmenides auch in Fr. 8.17: Formal besteht es darin, ein „wahrer Weg“ des Denkens zu sein. Die von Heitsch gestellte Frage, ob es sinn-voll ist zu behaupten, dass das, was nicht wahr ist, sich weder denken noch sagen lässt, kann aber nur dann positiv beantwortet werden, wenn sich „das, was nicht wahr ist“ auf einen Gedanken bezieht und wenn mit „weder denken noch sagen“ „weder wirklich denken noch wirklich sagen“ gemeint ist. Das Argument setzt offensichtlich eine Defi nition des wahren Denkens voraus und besagt nur, dass „ist nicht“ – weil es dieser Defi nition nicht entspricht – keinen wahren Gedanken darstellt und sich nicht wirklich denken und sagen lässt.

Der Bereich des „wahren“ Denkens und Sprechens wird hierdurch auf eine bestimmte Weise des Denkens und Sprechens beschränkt. Die Unterscheidung zwischen dem wahren bzw. gelungenen und dem unwahren bzw. nicht gelungenen Denken beruht nicht auf dem Charakter des noe‹n als einer „achievement notion“ und erfordert keine besondere Übersetzung dieses Verbs, sondern grenzt einen Teil der im herkömmlichen Sinne als gelungen verstandenen Denkakte aus.

Daher der scheinbare Widerspruch in der Behandlung der Wege der For-schung: „ist nicht“, zunächst als Weg des Denkens eingeführt (Fr. 2.2), wird erst später als ¢nÒhtoj entlarvt. Auch nach der Einführung der neuen Defi nition des Denkens bleibt „ist nicht“ im unpräzisen, alltäglichen und falschen, aber nicht ganz verworfenen Sinne denkbar (vgl. die Formulierung oÙd' ™k m¾ ™Òntoj ™£ssw f£sqai s' oÙd{ noe‹n). Um es abzulehnen, muss jeweils an die Ergebnisse der früher durchgeführten Untersuchung erinnert werden (Fr. 8.8-9 und 8.15-18).

Worin also besteht das Kriterium? Welches Denken kann als wahr bzw. wirk-lich bezeichnet werden und welches nicht? Diese Frage lässt sich am besten im Anschluss an die oben vorgeschlagene Deutung der beiden Wege beantworten: Die Wege stellen für Parmenides Gedanken und Worte dar und erhalten als sol-che den Status von Namen, denen etwas in der Wirklichkeit entsprechen muss. Angesichts der oben angeführten antiken Zeugnisse kann angenommen werden, dass Parmenides die Unmöglichkeit, das Nichtseiende im Diskurs zu erfassen, mit einer fast schon sophistisch anmutenden Argumentationsfolge begründet hat: „das Nichtseiende sagen“ gleicht dem „nichts sagen“, was wiederum mit „nicht sagen“ gleichgestellt werden kann. Daraus erhellt, dass das Nichtseiende keinen Namen haben kann, da sich kein Gedanke und kein Wort darauf beziehen kann. Das wiederum impliziert, dass das „ist nicht“, das sich als Name des Nichtseienden in der Sprache zu etablieren versucht, keinen echten Namen und somit keinen wah-ren Gedanken darstellt – mit anderen Worten: Es lässt sich nicht wirklich denken und sagen. Was von dem jeder Beziehung zu einem realen Objekt entbehrenden „ist nicht“ bleibt, ist nur Laut: Man kann es phonetisch aussprechen, aber nicht wirklich sagen140.

140 Zu dieser Unterscheidung s. auch unten, Kap. 3.2.4.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 37: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 81

In Fr. 2.5-8 wird die in dieser Argumentation durchgeführte Ausschließung von „ist nicht“ aus dem Diskurs vorweggenommen und in ihrer Bedeutung für die bevorstehende Untersuchung (vgl. Fr. 2.2) dargestellt. Die Bezeichnung „un-erforschter Pfad“ (2.6) antizipiert die spätere Qualifi zierung von „ist nicht“ als ¢nÒhton ¢nènumon (8.17) bzw. oÙ fatÕn oÙd{ nohtÒn (8.8) wiedergegeben wird. Die Begründung in B 2.7-8, die sich auf tÕ m¾ ™Òn bezieht, entspricht dem dritten und letzten Schritt der rekonstruierten Argumentation, bei dem sich das Nicht-seiende als nicht sagbar bzw. denkbar erweist.

3.2.4 Zur Konzeption des Denkens in der Argumentation gegen „ist nicht“ und in der Kritik an den Sterblichen

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass Parmenides keine einfache, auf sprach-licher Synonymie zwischen „ist (nicht)“ und „dem (Nicht-)Seienden“ beruhende Identität des Denkens „ist (nicht)“ mit dem Denken des (Nicht-)Seienden an-nahm; sonst hätte er die Konzeption der beiden Forschungswege überhaupt nicht gebraucht, sondern hätte sich mit dem Nachweis der Unmöglichkeit des Denkens des Nichtseienden begnügen können. Die Theorie des negativen Forschungswegs wird eben mit dem Ziel entwickelt, das oÙk œstin, also einen sprachlichen Aus-druck, dessen Benennung als von dem auf mhd{n lšgein reduzierbaren Denken des Nichtsseienden verschieden empfunden wird, aus dem Bereich des Denkens und Sprechens auszuschließen.

Andererseits wird die Struktur der Sprache an der Schlüsselstelle der rekonstru-ierten Argumentation gegen das Denken und Sagen des Nichtseienden tatsächlich als Benennen eines Objekts („etwas-Sagen“) erfasst, was auf die Besonderheit der Parmenideischen Auffassung vom Sprechen und Denken verweist. Die Sprache wird als eine Summe von Elementen verstanden, von denen jedes sich auf einen Gegen-stand bezieht (bzw. ihn „benennt“). In dieser Konzeption wird die eigentümliche Struktur der Sprache („dass ...“) zwar erkannt, das Sprechen und Denken wird jedoch trotzdem als ein „Aufzeigen“ oder „Verweisen“ interpretiert. Diese Beziehung zur Wirklichkeit wird sogar als konstitutiv für die Sprache und das Denken erachtet: Ohne ein objektives Pendant erweisen sie sich als wesenlos, leer, unwirklich.

Die der Parmenideischen Ablehnung des „ist nicht“ zugrunde liegende Kon-zeption des Denkens unterscheidet sich erheblich von seiner späteren Deutung, die lange in der dualistischen Philosophie Europas vorherrschte. Das Denken an sich, jeglichen Gegenstands bar, verfügt über keine eigene Substanz – ontisch ist es nichts, nur Worte. Der Gedanke bildet insofern keine Opposition zur objek-tiven Wirklichkeit. Im Gegenteil erhält er seine wahre Existenz erst durch sein Objekt – wie noch gezeigt werden wird, macht der Gegenstand das Substrat des Denkens aus, liefert also die Substanz, auf der es gründet. Da der Gedanke sich erst durch seinen Bezug auf etwas defi niert, muss er notwendigerweise nÒhm£ tinoj – d. i. Gedanke an eine Sache und einer Sache zugehörig – sein, oder er reduziert sich auf einen Laut.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 38: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

82 Aletheia: Denken und Sein

Eine verwandte Auffassung der Sprache kehrt in den nachparmenideischen Theorien des Namens wieder, vor allem in der dem Antisthenes zugeschriebenen Konzeption von fqÒggoj, die u. a. im Platonischen „Kratylos“ (429e ff.) dargestellt wird141. Laut dieser Theorie kann als Name nur das bezeichnet werden, was etwas Wirkliches, Seiendes benennt, woraus folgt, dass es kein Ônoma yeudšj geben kann. Falls der Bezug auf etwas Wirkliches fehlt, handelt es sich lediglich um einen fqÒggoj, ein Geräusch bzw., wie es Platon ausdrückt, eine sinnlose Bewegung, vergleichbar einem Schlagen auf einen ehernen Kessel (Crat. 430a). Hat Parmenides tatsächlich eine ähnliche Doktrin angenommen, ist es unwahrscheinlich, dass der Terminus Ônoma für ihn die Bedeutung „leerer Name“ implizierte142.

Einer der charakteristischen, für die gegen „ist nicht“ gerichtete Argumentation entscheidenden Aspekte der Parmenideischen Konzeption des Denkens besteht in der engen Verknüpfung des Denkens mit dem Sprechen143. Nach einer verbrei-teten Auffassung bezeichnet die Verbindung lšgein kaˆ noe‹n zwei verschiedene Erkenntnisarten: eine indirekt-sprachliche und eine direkt-intuitive, die deshalb verbunden werden, weil der noàj alleine die Realität in ihrer Ganzheit nicht erfas-sen könne (dementsprechend gilt als unerkennbar nur das, was weder direkt dem Nous zugänglich ist noch indirekt mittels der Sprache erfasst werden kann)144. Bei solchen Unterscheidungen wird das Sprechen oft als eine „Ergänzung“ zu dem die Hauptfunktion ausübenden noe‹n aufgefasst. So wird z. B. behauptet, dass die Ablehnung des Sprechens vom Nichtseienden als bedeutungslos lediglich „a rhetorical reinforcement for the essentially noetic and epistemic rejection of tÕ m¾ Ôn as unknowable“145 sei oder dass die Sprache, als ein neutrales Medium, nach Parmenides dem unfehlbaren noe‹n unterzuordnen sei146.

In den Fragmenten selbst fi ndet sich jedoch keine wirkliche Grundlage für die These von der einseitigen Dominanz des noe‹n über das lšgein; die Unmög-lichkeit des wahren Denkens und Sagens des Nichtseienden basiert zudem, wie oben schon gezeigt, nicht auf der Bedeutung des Verbs noe‹n. Vielmehr weisen

141 Zur Doktrin des Antisthenes s. K. v. Fritz (1927) und K. Oehler (1962, S. 31-51).142 Vgl. oben, Kap. 3.1.143 Diese Verbindung ist nicht als Ausdruck eines „ursprünglichen“ oder „natürlichen“ Verständnisses

des Phänomens des Denkens (z. B. als eines notwendigerweise verbalen Prozesses) aufzufassen, sondern als eine bewusste Setzung des Parmenides, der eine neue Defi nition des wahren Den-kens aufstellt. Daher muss der von P. Thanassas (1997, S. 249, Anm. 8) geäußerten Kritik an der These von U. Hölscher (1969, S. 75), der die Verbindung als eine „anthropologische“ Tatsache beurteilt, zugestimmt werden. U. Hölscher bemerkt jedoch mit Recht (im Gegensatz zu P. Thanassas), dass die Verben des Denkens und Sprechens im Gedicht fast als Synonyme fungieren (s. unten).

144 So u. a. M. Kraus (1987, S. 78f.).145 Ch.H. Kahn (1969/70, S. 339f.).146 P. Thanassas (1997, S. 249f.). Der Autor spricht auch von einer „Beugung der Sprache vor den

Geboten des Denkens“ (S. 250) – in Wirklichkeit müssen sich sowohl Sprache als auch Denken vor den Geboten einer dritten Instanz beugen (dazu s. unten und Kap. 5.1). Verbreitet ist auch die Auffassung, nach der das Sprechen erst durch eine Beziehung zum noe‹n einen Sinn erhält (so z. B. K. Bormann 1971, S. 72).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 39: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 83

die Fragmente auf ein gleichrangiges Verhältnis der beiden Elemente hin: Es gibt nicht nur falsches Sprechen, sondern auch eine ihm entsprechende Form des unauthentischen, unwirklichen Denkens (vgl. z. B. oÙd' ... ™£ssw f£sqai s' oÙd{ noe‹n Fr. 8.7-8), ebenso wie sowohl Sprechen als auch Denken wahr sein können. Für die Parmenideische Konzeption der Erkenntnis scheint lšgein im selben Grad konstitutiv zu sein wie noe‹n.

Aufgrund der erhaltenen Fragmente lässt sich aber auch die in den genannten Auffassungen vorausgesetzte strenge Unterscheidung zwischen lšgein und noe‹n kaum durchführen. In den Fragmenten werden lšgein und noe‹n nicht als ver-schiedene, durch jeweils eigene Merkmale (wie Mittelbarkeit bzw. Unmittelbarkeit) gekennzeichnete Formen der Erkenntnis dargestellt, und es werden ihnen keine getrennten Kompetenzbereiche zugewiesen. Vielmehr scheint es, dass es weder ein wahres noe‹n des Unbenennbaren noch ein echtes lšgein des Undenkbaren geben kann, und dass die Verbindung der Verben nicht zwei komplementäre, sondern einen und denselben kognitiven Akt bezeichnet. Dieser Akt, der sich im Zusam-mentreffen des Gedankens bzw. des Wortes (Namens) mit dem entsprechenden Gegenstand erfüllt147, kann sowohl dahin gehend verstanden werden, dass der Gedanke den Namen zum Gegenstand „transportiert“, als auch umgekehrt: Das Denken besteht eben im Denken (und, wie sich noch zeigen wird, im Erforschen) des Namens des Objekts.

Die dargestellte, auf der Idee der Korrespondenz zwischen Namen und Ge-genstand beruhende Auffassung des Denkens scheint aus einer Refl exion über das übliche Denken an die Gegenstände der phänomenalen Welt hergeleitet zu sein oder könnte zumindest zur Analyse dieses Denkens dienlich sein. Ein in dem „intentionalen“ Bezug des Wortes auf ein konkretes Element der Wirklichkeit bestehendes Kriterium der Richtigkeit der Sprache scheint in Fr. 19 in gewisser Weise vorausgesetzt zu sein: Demnach haben die Menschen den einzelnen Be-standteilen der Welt der „Doxa“ Namen gegeben, und zwar ™p…shmon ˜k£stwi. Aus der Sicht der „Aletheia“ ist jedoch das übliche, menschliche Denken an die Welt kein richtiges Denken.

Das übliche Denken der Menschen deckt sich selbstverständlich mit keinem der in Fr. 2 dargestellten Wege des Denkens – trotz mancher Auffassungen auch nicht mit dem zweiten, der an logischer Konsequenz dem ersten gleichkommt. Eben diese Eigenschaft, die in Bezug auf beide Wege betonte logische Stringenz (kaˆ æj oÙk œsti m¾ e"nai 2.3b; kaˆ æj creèn ™sti m¾ e"nai 2.5b), ist es, die im all-täglichen Bewusstsein in der Regel fehlt. Die Sterblichen, deren Charakterisierung

147 Die Auffassung, nach der der Gedanke und die Sprache ihren Gegenstand mit seinem Namen „treffen“, lässt keine Abstufung der Realisierung des Denkaktes zu: Es ist kein nur teilweise gelungenes Denken oder Sprechen möglich. Wird der Gegenstand nicht getroffen, ist gar kein Denken und Sprechen zustande gekommen. Diese Situation ergibt sich bei dem Versuch, das Nichtseiende, und das heißt mhdšn, zu „treffen“. Es muss jedoch noch einmal betont werden, dass, obwohl die Verben des Denkens und Sprechens bei dieser Theorie als „Erfolgsverben“ fungieren, dies nicht einfach in der Natur dieser Verben liegt.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 40: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

84 Aletheia: Denken und Sein

in Fr. 6 sich speziell auf die Inkonsequenz ihres Denkens und ihre Unfähigkeit zur logischen Wahl konzentriert148, „erfi nden“ einen eigenen Weg des Denkens, den Parmenides mit der Formel pšlein te kaˆ oÙk e"nai taÙtÒn ... koÙ taÙtÒn zusam-menfasst. Der Ausdruck ist wahrscheinlich, entgegen der traditionellen Deutung („Sein und Nichtsein sind dasselbe und nicht dasselbe“), als „ist und (ist) nicht, ist dasselbe und nicht dasselbe“ bzw. als „dasselbe ist und ist nicht – (dasselbe) und (wiederum) nicht dasselbe“ zu interpretieren149. Das übliche Meinen der

148 Zur Kritik an den Sterblichen in Fr. 6 vgl. auch unten, Kap. 5.1 u. 5.3.149 Gegen die traditionelle Konstruktion von V. 8-9 („denen Sein und Nichtsein für dasselbe gilt

und nicht für dasselbe“ H. Diels 1897, S. 35 u. a.) sprechen die Schwierigkeiten, diese Meinung irgendjemandem zuzusprechen, die auch dann auftreten, wenn angenommen wird, dass es sich um eine mit den Begriffen des Parmenides durchgeführte strukturelle Analyse fremder Anschau-ungen handelt (bekanntlich wurden hier Heraklit, die Pythagoreer, die ionischen Philosophen sowie „normale“ Menschen vorgeschlagen). Überdies wurde auf folgende Schwierigkeiten verwiesen:

1) in dem als „Sein und Nichtsein“ verstandenen Ausdruck tÕ pšlein te kaˆ oÙk e"nai wäre die Negation m¾, nicht oÙk, zu erwarten (z. B. J. Burnet 1908, S. 198, Anm. 3; H. Pfeiffer 1975, S. 166); die Versuche, diese Konstruktion mit Verweis auf Fr. 8.40 zu rechtfertigen (so z. B. W.K.C. Guthrie 1965, S. 21), sind verfehlt – zur Konstruktion von Fr. 8.40 s. oben, Kap. 3.3.2.2.3.3;

2) das plötzliche Auftreten der Termini tÕ pšlein und tÕ oÙk e"nai ist merkwürdig, denn sonst kommen im Gedicht nur die Formen ™Òn bzw. œstin als Bezeichnungen des Seienden vor (abgesehen von e"nai in dem unklaren Fr. 3; zu Fr. 6.1b s. unten, Kap. 3.3.1) – es scheint, dass Parmenides den später als Fachausdruck für das Sein fungierenden Infi nitiv (tÕ) e"nai noch nicht kennt (s. H. Pfeiffer 1975, S. 166f.; O. Gigon 1968, S. 251; U. Hölscher 1969, S. 78; 1956, S. 393);

3) die Verbindung der Glieder einer mit taÙtÒn ausgedrückten Identität durch te ka… ist zwar möglich, aber sehr selten (s. oben, Kap. 3.2.1, zur Syntax von Fr. 3);

4) Parmenides verwendet, ebenso wie Homer, sehr selten einen Infi nitiv mit Artikel – das einzige sichere Beispiel ist Fr. 8.36;

5) nicht ganz klar scheint bei der traditionellen Konstruktion des Satzes die Funktion von koÙ taÙtÒn zu sein: Diese Formulierung soll einen weiteren Grad des Irrtums, also seine Steigerung darstellen, während sie im Gegenteil das richtige Urteil enthält: Sein und Nichtsein sind nicht dasselbe.

Der Schlüssel zur Lösung dieser Probleme wurde schon gefunden und von manchen Forschern angewendet: Wie an einigen anderen Stellen des Gedichts muss auch hier angenommen werden, dass tÒ kein Artikel, sondern ein Demonstrativpronomen ist. A.H. Coxon (1986) interpretiert den Satz dementsprechend als: „by whom this has been accepted as both being and not being the same and not the same“ (S. 54). Mehr überzeugt jedoch die proleptische Auffassung von tÒ; so z.B. H. Pfeiffer (1975, S. 166: „... denen folgendes, nämlich dass (es) ist und dass (es) nicht ist, als dasselbe gilt und nicht als dasselbe“; ähnlich H. Schmitz 1988, S. 169: „denen das, zu sein und nicht zu sein, als das Selbe gilt und nicht als das Selbe“). Interpungiert man jetzt nach der Zäsur (d. i. nach oÙk; vgl. 8.11: oÛtwj À p£mpan pelšnai creèn ™stin À oÙc… und 8.40: e"na… te kaˆ oÙc…, wo das Glied „und/oder ist nicht“ zu „und/oder nicht“ verkürzt ist; so auch J. Barnes 1979, S. 168: „By whom it is thought both to be and not to be, both to be the same and not to be the same“), ergibt sich ein Satz wie „denen dies hergebracht ist: ist und (ist) nicht, ist dasselbe und nicht dasselbe“. Eine andere Möglichkeit wäre, taÙtÒn als Subjekt zu pšlein te kaˆ oÙk e"nai und koÙ taÙtÒn als Apposition aufzufassen.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 41: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 85

Sterblichen wird dadurch als ein aussichtsloser Versuch dargestellt, „ist“ und „ist nicht“ zu kombinieren; seine logische Inkonsequenz ergibt sich daraus, dass sich dieses Meinen auf die Dinge bezieht, von denen geglaubt wird, dass sie „entstehen und vergehen, sind und nicht (sind), den Ort verändern und die leuchtende Farbe wechseln“ (Fr. 8.40-41; zu dieser Aussage vgl. auch unten, Kap. 3.3.2.2.3.3). Es handelt sich hier also um ein Denken, in dem das „ist“ – im Sinne von „existiert“ sowie von „ist F“ – stets mit einem entsprechenden „ist nicht“ kombiniert werden muss, weil sich sowohl der existenzielle Status als auch der qualitative Gehalt der gedachten Gegenstände zwangsläufi g ändert. Es steht für Parmenides fest, dass in Bezug auf diese Dinge von keiner uneingeschränkten Identität im Sinne des Identischseins mit sich selbst gesprochen werden kann. Die Dinge, auf die sich die Sterblichen in ihrem Denken beziehen, fallen freilich in einem noch funda-mentaleren Sinne unter die Formel taÙtÕn koÙ taÙt�n. Wie aus Fr. 8.57-58, wo das Feuer als ˜wutîi p£ntose twÙtÒn, tîi d} ˜tšrwi m¾ twÙtÒn bezeichnet wird, erhellt, bedeutet für Parmenides jede Anerkennung einer – wenn auch mi-nimalen (dÚo) – Vielheit eine Einschränkung der Identität des einzelnen Dinges, weil sie seine Nicht-Identität mit dem Anderen impliziert (Feuer ist nicht dasselbe wie Nacht; X ist nicht dasselbe wie Y). Das übliche, auf die phänomenale Welt bezogene Meinen kann offenbar den Anforderungen, die die Logik dem Denken stellt, nicht gerecht werden, und diese Unfähigkeit interpretiert Parmenides als ein unmissverständliches Indiz dafür, dass es kein wahres Denken ist.

In Fr. 7.3-6 verweist Parmenides auf die Quelle des Irrtums, dem die Menschen verfallen:

mhdš s' œqoj polÚpeiron ÐdÕn kat¦ t»nde bi£sqw nwm©n ¥skopon Ômma kaˆ ºc»essan ¢kou»n kaˆ glîssan, kr‹nai d{ lÒgwi polÚdhrin œlegcon ™x ™mšqen _hqšnta (…)150

Trotz heftiger Kontroverse in Bezug auf die Frage, von welchem Weg bzw. welchen Wegen in Fr. 7 die Rede ist151, ist der allgemeine Sinn der bei Sextus Empiricus

150 Text zitiert nach DK (1961, S. 234f.) mit Ausnahme der Interpunktion in 7.3 (bei DK und den meisten anderen Editoren ein Komma nach bi£sqw). Nach bi£sqw ist ACI zu erwarten, also nicht „… es soll dich nicht auf diesen Weg zwingen, das Auge etc. anzuwenden (konse-kutiver Inf.)“, sondern „… es soll dich nicht zwingen, auf diesem Weg (zu ÐdÕn kat¦ t»nde vgl. z. B. Plato, Tim. 20c 8) das Auge etc. anzuwenden“; so auch J. Mansfeld (1999, S. 330; 1995, S. 9), J.H. Lesher (1994, S. 24), G. Scuto (2005, S. 39), H. Langerbeck (1935, S. 45). Die Konstruktion legt nahe, dass es sich in 7.3 um den richtigen Weg der Forschung handelt (dem Jüngling werden nähere Hinweise zum Voranschreiten auf diesem Wege gegeben); vgl. die folgende Anm.

151 Nach den antiken Zeugnissen bezieht sich Fr. 7.1-2, entgegen der in der Forschung herrschen-den Überzeugung (das ganze Fragment beziehe sich auf den „dritten“ Weg; vgl. die Zweifel bei Bormann, 1971, S. 104-106, der schließlich Platon, Aristoteles und Simplikios einen Irrtum bei der Interpretation von Fr. 7.1-2 zuspricht; vgl. K. Bormann 1979, S. 34) auf den Weg des Nichtseienden (Simpl. Phys. 78; Plato, Soph. 258d; vgl. auch Arist. Met. 1089a). Nach einer

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 42: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

86 Aletheia: Denken und Sein

(Adv. Math. 7.111) und Diogenes Laertius (9.22) überlieferten Verse klar. Die Göttin warnt ihren Adepten vor der durch Erfahrung entstandenen Gewohn-heit (œqoj polÚpeiron)152, die den Menschen zwingt, sich auf das „ziellose“ bzw. „dunkle“ (¥skopon)153 Auge, das dröhnende (ºc»essan) Gehör und die Zunge zu verlassen. Der kritisierten Haltung wird die Aufforderung entgegengesetzt, die von der Göttin genannte „streitbare Widerlegung“ (polÚdhrin œlegcon154) „mit dem Logos zu entscheiden“. Die in V. 5 erwähnte glîssa, deren Kritik uns an dieser Stelle besonders interessiert, bezieht sich offensichtlich auf die Zunge als Organ der Sprache, nicht des Geschmackssinns155. Nach einer schon im 19. Jh. bezeugten Interpretation handelt es sich hier um „die Worte als solche, die Namen“, die menschliche Rede, die im Benennen (Ñnom£zein) besteht156, weil sie

anderen Lösung bezieht sich das gesamte Fr. 7 auf den zweiten Weg (so u. a. L. Tarán 1965, S. 76; J.H. Lesher 1984, S. 1 und 2002, S. 33), nach einer weiteren gehört Fr. 7.1-2 zur Kritik am zweiten Weg, der Rest des Fragments zu der am dritten (so A.P.D. Mourelatos 1970, S. 77, Anm. 7; P. Thanassas 1997, S. 200; A.H. Coxon 1986, S. 190f.). J. Wiesner (1996, S. 111 und 123ff.) dagegen vertritt die Auffassung, dass in Fr. 7.1 der dritte, in Fr. 7.2 der zweite und in 7.3-6 wieder der dritte Weg kritisiert wird; vgl. M. Untersteiner (1958, S. CXXXIII, Anm. 66). Die Schwierigkeit, Fr. 7.1-2 als Teil der Kritik am dritten Weg zu deuten, führte P.A. Meijer (1997, S. 244) zur Annahme eines weiteren, „vierten Wegs“. Eine plausible und effektive Lösung dieser Probleme besteht in der Annahme, dass Fr. 7.1-2 und Fr. 7.3-6 zwei separate Fragmente darstellen. Zusammen sind sie nur bei Sextus überliefert, der jedoch Fr. 7.2-6 (ohne 7.1) unmittelbar an den Prolog (Fr. 1.1-30, V. 31-32 werden ausgelassen) anschließt (diese Fragmentfolge noch bei H. Diels 1897, S. 30) (wie selbst K. Bormann 1971, S. 105, zugibt: „Daß Sextus (...) frg. 7,2 mit 7,3 ff. verbindet, ist kein Indiz für die Zusammengehörigkeit“). Die Zusammenstellung des Prologs mit Fr. 7.2-6 ist von Sextus offenbar beabsichtigt, um seine Interpretation der Parmenideischen Lehre zu verdeutlichen: Die „Meinungen der Sterblichen“ erweisen sich als der Weg, von dem die Göttin den Jüngling zurückhält (7.2), und zugleich als der Weg der Sinne (7.3-6; vgl. den Kommentar des Sextus: m¾ de‹n ta‹j a„sq»sesi prosšcein ¢ll¦ tù lÒgJ); Fr. 7.2 dient wahrscheinlich als passende Verbindung zwischen dem Prolog und Fr. 7.3-6. Die Einheit von Fr. 7 wird von E. Heitsch (1970, S. 30-32) verteidigt; für eine Trennung spricht sich dagegen H. Fränkel (1946, S. 170, Anm. 9 und 1962, S. 403f., Anm. 14) aus; vgl. K. Reinhardt (1985, S. 45-47). Der Versuch eines Nachweises, dass Fr. 7.1-2, wie die antiken Quellen bezeugen, mit der Kritik am zweiten Weg in enger Verbindung steht, würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen; auf eine Interpretation von Fr. 7.1 muss daher verzichtet werden. Zu Fr. 7.2 und der Aufforderung e"rge nÒhma s. unten, Kap. 5.1.

152 Zum Sinn des Ausdrucks s. W.J. Verdenius (1964, S. 55) und K. Narecki (1999, S. 130f. mit Anm. 15).

153 Zum Versuch, das Wort ¥skopon als Adverb zu deuten, s. K. Bormann (1971, S. 104).154 Zu den möglichen Bedeutungen des Substantivs œlegcoj s. J.H. Lesher (1984, S. 1-9) und

J.H. Lesher (2002, S. 20-28), zur Bedeutung von polÚdhrij vgl. J.H. Lesher (1984, S. 21 und 2002, S. 33f.).

155 Diese Auffassung scheint sich in der heutigen Forschung durchgesetzt zu haben, s. z. B. J. Mansfeld (1964, S. 43), P. Thanassas (1997, S. 200, Anm. 81), H.-G. Gadamer (1991, S. 15, Anm. 12), E. Heitsch (1991, S. 161).

156 A. Patin (1899, S. 632). In mehreren Arbeiten wird die suggestive Gleichsetzung nwm©n glîssan = Ñnom£zein zitiert (W.J. Verdenius 1964, S. 55, der sich auf A. Patin beruft; nach Verdenius u. a. J. Mansfeld 1964, S. 43).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 43: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 87

sich auf die „repetition of familiar names“ beschränkt157. Abgesehen von der ver-wendeten Terminologie (oben wurde schon gegen die Annahme eines pejorativen Sinns von Ñnom£zein argumentiert) kann die Hypothese akzeptiert werden158: Die Erwähnung der diese Rede beherrschenden Gewohnheit weist auf das alltägliche, fast mechanische, inhaltslose Sprechen der Menschen hin.

Die dieses Sprechen dominierende Gewohnheit wird dem durch den Logos ge-leiteten Entscheiden (kr‹nai) über einen œlegcoj gegenüberstellt. Mehrere Indizien weisen darauf hin, dass mit dem œlegcoj der Beweis gegen einen falschen Weg gemeint ist159: 1) der œlegcoj wurde wahrscheinlich schon früher (_hqe…j), also im ersten, der Problematik der Wege gewidmeten Teil der „Aletheia“160, von der Göttin ausgesprochen, 2) direkt auf das Fragment folgt die Aussage mÒnoj d' œti màqoj Ðdo‹o le…petai æj œstin (Fr. 8.1-2), 3) hingewiesen wurde auch auf den Ausdruck kr‹nai161, der an die späteren Begriffe kr…sij und kškritai (Fr. 8.15 und 16; vgl. ¥krita in Fr. 6.7) erinnert: Diese beziehen sich auf die Entscheidung zwischen „ist“ und „ist nicht“. Da Parmenides wahrscheinlich keinen separaten Beweis gegen den dritten Weg geführt hat (die allgemeine, aber sehr heftige Kritik an den Sterblichen in Fr. 6.4-9, die sich nicht zwischen „ist“ und „ist nicht“ entscheiden können, in Verbindung mit der argumentativen Widerlegung von „ist nicht“, scheint für eine Diskreditierung des dritten Weges ausreichend), kann angenommen werden, dass der œlegcoj eben in der oben rekonstruierten Argumentation bestand162. In diesem Falle könnte es als bestätigt gelten, dass das nwm©n glîssan nicht nur nicht mit dem Ñnom£zein identisch, sondern diesem genau entgegengesetzt ist, weil es sich auf keinen wahren Gegenstand bezieht und insofern keinen benennen kann: Es ist das „Geräusch“ oder der „Laut“ der Theorie des Antisthenes.

157 W.J. Verdenius (1964, S. 55).158 Es kann sich weder um die Benennung der zwei Formen (Fr. 8.53ff.) noch um die Benennung

der Elemente der phänomenalen Welt (Fr. 19.3) handeln, da der Hörer bzw. Leser von diesen erst später erfährt; daher kann L. Tarán (1965, S. 77) zugestimmt werden: „glîssa with œqoj polÚpeiron means the customary language“.

159 So u. a. P. Thanassas (1997, S. 201), L. Tarán (1965, S. 81), W.J. Verdenius (1964, S. 64), J.H. Lesher (1984, S. 16f.).

160 S. z. B. J.H. Lesher (1984, S. 16f.), J. Mansfeld (1964, S. 43 u. Anm. 1), K. Reinhardt (1985, S. 35), L. Tarán (1965, S. 81), W.J. Verdenius (1964, S. 64). Eine andere Auffsassung vertrat H. Diels (1897, S. 62f.: Bezug des œlegcoj auf die „Doxa“), weil er Fr. 7 als zum Prolog gehörend ansah. Nach J.H. Lesher (2002, S. 32f.) besteht der œlegcoj in den gesamten Ausführungen der Göttin (Fr. 2 bis Fr. 8.49).

161 Z. B. J.H. Lesher (2002, S. 32f.), J. Mansfeld (1964, S. 43, Anm. 2); so schon A. Patin (1899, S. 500).

162 Es ist bemerkenswert, dass auch Platon die im Anschluss an das Parmenideische Zitat Fr. 7.1-2 dargelegte und als misslungen erwiesene Zurückweisung der Möglichkeit des Sprechens vom Nichtseienden als œlegcoj bezeichnet (Soph. 239b: TÕn m{n to…nun ™mš ge t… tij ¨n lšgoi; kaˆ g¦r p£lai kaˆ t¦ nàn ¹tthmšnon ¨n eÛroi perˆ tÕn toà m¾ Ôntoj œlegcon).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 44: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

88 Aletheia: Denken und Sein

Die implizierte Gegenüberstellung zwischen dem wahren Sprechen der Göttin und der „lärmenden“ glîssa163 ist in Fr. 7.3-6 Teil einer umfassenderen Opposi-tion. Auf der Seite der Gewohnheit werden neben der „Zunge“ auch „Auge“ und „Gehör“ bzw. „Ohr“ genannt; auf der anderen Seite, als klarer Gegensatz zu œqoj, aber auch zu glîssa, steht der lÒgoj. Da das Wort noe‹n gar nicht vorkommt, verläuft die für das Fragment fundamentale Opposition offensichtlich nicht zwi-schen noe‹n und a„sq£nesqai164. Als komplizierter erscheint die Frage, ob es sich in Fr. 7 um die in der griechischen Philosophiegeschichte erste Gegenüberstellung zwischen Sinnen und Vernunft (lÒgoj) handeln könnte165.

Die Zweifel betreffen sowohl den Begriff der Vernunft als auch den der Sinne. Die ersteren erweisen sich sicherlich als berechtigt, wenn der in V. 5 erwähnte Logos als ein festes intellektuelles Vermögen im Sinne des Platonischen (dem a„sqhtikÒn gegenüberstellten) logistikÒn aufgefasst wird166. Andererseits muss die Tatsache, dass der Vortrag der Göttin später als lÒgoj ºd{ nÒhma (8.50-51) bezeichnet wird, nicht zur Annahme führen, auch der lÒgoj in Fr. 7 sei als „Rede“167 oder gar als der göttliche Vortrag selbst168 zu interpretieren. Der Logos in Fr. 7 muss eine zur Beurteilung des von der Göttin dargelegten Logos (d. i. des œlegcoj) fähige Instanz sein. An den beiden Stellen (7.5 und 8.50-51) dominiert jeweils ein anderer Aspekt des lÒgoj: der rationale (logische) und der verbale.

Die den Begriff der Sinne betreffende Schwierigkeit besteht darin, dass es sich im Fragment nur um eine Aufzählung handelt, in der überdies neben Auge und Ohr auch die Zunge als Organ der Rede vorkommt. Diese Zusammenstellung von Organen und Funktionen kann unterschiedlich aufgefasst werden:

1) Die Anwesenheit der „Zunge“ könnte als ein Indiz dafür interpretiert werden, dass es nicht die Intention des Parmenides war, die sinnliche Wahrnehmung als solche zu kritisieren, oder sogar dafür, dass er die Wahrnehmung von den kogniti-ven Fähigkeiten wie Sprache nicht begriffl ich unterscheiden konnte, was durch die Tatsache bestätigt werden könnte, dass in den Fragmenten kein allgemeiner Begriff

163 Das Adjektiv ºc»essan kann nicht nur auf ¢kou»n, sondern auch ¢pÕ koinoà auf beide Sub-stantive bezogen werden (so u. a. A.H. Coxon 1986, S. 192 und J.H. Lesher 1994, S. 24).

164 Die in älteren Arbeiten (z. B. B. Snell 1955, S. 198; vgl. B. Wi niewski 1963, S. 199ff.) ver-breitete These von der Opposition zwischen Denken und Wahrnehmung in Fr. 7 erscheint in der neueren Literatur nur ausnahmsweise (so P. Thanassas 1997, S. 200f. u. Anm. 81). Wie in Kap. 2 erwähnt, wurde sie schon von H. Langerbeck (1935) kritisiert. S. auch W.J. Verdenius (1964, S. 10 und 65f.), K. Bormann (1971, S. 3) und H.-G. Gadamer (1991, S. 14f.).

165 So Diogenes Laertios und Sextus Empiricus, die Fr. 7.3-6 zitieren. Vgl. Arist., Gen. corr. 325a 13ff. und Met. 986b 19.

166 Dazu s. W.J. Verdenius (1964, S. 64; 1967, S. 99f.), J.H. Lesher (1994, S. 24, Anm. 46), Th. Schirren (1998, S. 191 u. Anm. 11), J. Dalfen (1994, S. 203, Anm. 22).

167 So z. B. J. Dalfen (1994, S. 203). Vgl. W.J. Verdenius (1967, S. 100), der lÒgwi als dat. modi, nicht als dat. instrumentalis, interpretieren will: „… die Beurteilung fi ndet auf erörternde Weise statt, ist also selbst eine Erörterung“.

168 So Th. Schirren (1998, S. 191).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 45: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist nicht“ – der Elenchos 89

wie a‡sqhsij begegnet169. So schreibt z. B. J. Mansfeld (1999, S. 331): „,(…) si la langue, ici, n’est pas un organe de sensation, l’œil et l’oreille ne sont pas des sens non plus (...)“. Folglich ziele die Erwähnung des Sehens, Hörens und Sprechens auf eine Beschreibung der kognitiven Haltung des Menschen und seiner Erfahrung, also einer im allgemeinen Sinne gesellschaftlichen (in dieser frühen Phase noch „ni psychologique ni biologique“) Tatsache, ab (ibidem, S. 332).

2) Andererseits wird behauptet, die Erwähnung der Sprache bilde ein zu-sätzliches Element, während das Sehen und Hören die sinnliche Wahrnehmung verträten: Parmenides klage hier „Sprache und Sinne“ (die gleichermaßen von der Gewohnheit gesteuert werden170) an171. Das Fehlen eines allgemeinen Begriffs wie a‡sqhsij impliziere nicht, dass Parmenides nicht über eine einheitliche Vorstellung der sinnlichen Wahrnehmung verfügt haben könne (P. Thanassas 1997, S. 200, Anm. 81). Auch wenn diese Vorstellung nicht alle fünf „kanonischen“ Sinne um-fasste, hätte Parmenides die Zeugnisse von Auge und Ohr aus ähnlichen Gründen zurückweisen können wie die späteren Philosophen.

3) Einen wieder anderen Sinn der Zusammenstellung legt ein Vergleich mit dem Abschnitt der hippokratischen Schrift Perˆ dia…thj (1.23)172 nahe, in dem den Menschen nicht fünf, sondern sieben Sinne zugeschrieben werden: Neben den Organen des Sehens, Hörens, Riechens, Tastens und Schmeckens erscheinen der Mund als Organ der Rede (stÒma dialšktou) und die Atemwege als Organ der Respiration (pneÚmatoj dišxodoi œsw kaˆ œxw) – obwohl als Kriterium der Zugehörigkeit zur Gruppe der Sinnesorgane die Erkenntnis dient (di¦ toÚtwn gnîsij ¢nqrèpoisin). Auch angesichts der Aristotelischen Bemühungen, die Zahl der Sinne auf fünf zu beschränken (De an. 424b 22ff.), scheint es durchaus mög-lich, dass die spätere Defi nition der Sinne für Parmenides nicht selbstverständlich war. Die von ihm aufgezählten Elemente könnten demnach einer gemeinsamen Kategorie zugehören, die die Stelle der späteren Kategorie der sinnlichen Perzep-tion einnahm173.

169 S. H.-G. Gadamer (1991, S. 15), H. Langerbeck (1935, S. 46).170 Gelegentlich werden Versuche unternommen, die Kritik an Sehvermögen und Gehör in Fr. 7

durch die Betonung der Rolle der „Gewohnheit“ abzumildern: Befreit vom verderblichen Einfl uss des œqoj und der richtigen Führung unterworfen, müssten sie nicht verworfen werden (A.H. Coxon 1986, S. 191f., K. Narecki 1999, S. 135-137; s. auch H. Langerbeck 1935, S. 45 mit L. Tarán 1965, S. 78). Abgesehen von der Beobachtung von K. Narecki (1999, S. 137), dass das Hören für die Aufnahme des göttlichen Vortrags notwendig ist, wäre es allerdings schwierig, eine „korrekte“ Anwendung dieser Sinne auf dem Weg des Seienden zu fi nden. Zwar richtet sich die Attacke des Parmenides in Fr. 7 nicht primär gegen die Sinne als solche, sondern gegen den Menschen und sein Denken (so auch K. v. Fritz 1974, S. 53; vgl. E. Hussey 1990, S. 36), es bleibt jedoch unbestreitbar, dass sie zur Erkenntnis des Seienden nicht fähig sind, so dass bei einer Defi nition des richtigen Forschungswegs ihre Ablehnung zu erwarten ist.

171 Als Vertreter dieser verbreiteten Interpretation kann J.H. Lesher (1994, S. 24f.) gelten. 172 Vgl. A. Patin (1899, S. 631).173 Vgl. F.M. Cornford (1933, S. 32f. mit Anm. 2).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 46: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

90 Aletheia: Denken und Sein

Auch wenn eine eindeutige Entscheidung zwischen den drei dargestellten Inter-pretationen nicht möglich ist, ist klar, dass es sich bei dieser Kontroverse weniger um den Sinn der Parmenideischen Aussage als um das Verhältnis zwischen ihr und unseren eigenen Kategorien handelt. Obwohl die zweite und dritte Auffassung überzeugender erscheinen könnten, verdient die erste deshalb Berücksichtigung, weil sie auf die Gefahr einer unrefl ektierten Verwendung des Begriffs der sinn-lichen Perzeption aufmerksam macht: Die Wahrnehmung wird bei Parmenides noch nicht wie in der späteren Philosophie in strenger Opposition zum Denken verstanden. Die Aktivität von Auge und Ohr wurde von ihm zwar vom Denken im engeren Sinne unterschieden, aber durchaus als ein spezieller Modus des brei-ter verstandenen Denkens aufgefasst174. Die zwischen „Auge, Ohr und Sprache“ einerseits und dem Logos andererseits verlaufende Grenze trennt vielmehr zwei konkurrierende Formen des Bewusstseins:

noe‹n im weiteren Sinne des Bewusstseins

das „alltägliche“ Bewusstsein das „erwünschte“ Bewusstsein (noe‹n im engeren Sinne)

führende Instanz ethos logosArt der kognitiven Aktivität

Anwendung von Auge, Ohr und der gewöhnlichen Sprache

exaktes Unterscheiden und Beurtei-len

sprachlicher As-pekt

die des wahren Gegenstandes und des wahren Namens entbehrende glossa

der den wahren Namen der Realität umfassende und erforschende Logos (Fr. 8.1-51)

„Aletheia“-Formel „ist und ist nicht“ „ist und kann nicht nicht sein“

Zu bestimmen bleibt das Verhältnis zwischen den einzelnen (d. i. nicht mit einem Oberbegriff erfassten) Sinnen und dem enger verstandenen Denken, dessen Defi ni-tion in der Aletheia intendiert wird (noe‹n kaˆ lšgein; vgl. Fr. 4.1175). Im Gegensatz zu den späteren und modernen Auffassungen fassten die frühen Vorsokratiker die Sinne nicht als dem Denken untergeordnete, passive Quellen der für seine Operationen unentbehrlichen Informationen auf176. Jeder der Sinne – wie auch der Noos – wurde wahrscheinlich als eine in seiner Aktivität autarke Quelle des Wissens und als ein Modus des Bewusstseins verstanden. Die einzelnen Sinne und der Noos stellen demnach unterschiedliche, voneinander unabhängige Erkennt-niswege dar. Dies kann in folgender Weise veranschaulicht werden:

174 Eine Bestätigung der letzten These liefert ein Fragment der „Doxa“ (B 16), in dem die übliche kognitive Aktivität der Menschen, die ihrer in Fr. 7 beschriebenen, gewöhnlichen („sinnlichen“) Haltung vermutlich sehr nahe kommt, auf das Denken bzw. Bewusstsein der ihren Körper bil-denden Formen reduziert wird. Zu dem Fragment und der Doktrin s. unten, Kap. 4.

175 Zu dem Fragment s. unten, Kap. 5.2.176 Eine gewisse Ähnlichkeit mit der späteren Auffassung scheint, nach ihrer Darstellung bei Theo-

phrast (De sens. 25-26), die Lehre des Alkmaion aufgewiesen zu haben. Vgl. W.K.C. Guthrie (1962, S. 347ff.).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 47: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 91

a) die „moderne“ Auffassung:Denkensinnliche Wahrnehmung

b) die frühgriechische Auffassung:Bewusstsein (Noos im weiteren Sinne)

umfasst:

Sehen Hören (...) (...) (...) Denken (Noos im engeren Sinne)

3.3 Denken und „ist“

In Fr. 2 wird dem negativen Weg „ist nicht“ der Weg „ist“ gegenübergestellt, der sich nach der Zurückweisung des „ist nicht“ im ersten Teil der „Aletheia“ als der einzig richtige erweist: mÒnoj d' œti màqoj Ðdo‹o / le…petai æj œstin (B 8.1-2). Die Grundlage, auf der das „ist“ akzeptiert wird, ist nicht sofort greifbar, so dass nicht selten behauptet wird, „ist“ werde ausschließlich durch die Elimination des „ist nicht“ legitimiert. Die Beurteilung des Weges „ist“ in B 2.4a sowie ihre Begründung in B 2.4b scheinen tatsächlich keine ausgearbeitete Argumentation vorwegzunehmen, sondern vielmehr auf der Auffassung des Denkens zu basieren, die in den weiteren Fragmenten entwickelt wird und der Zurückweisung von „ist nicht“ zugrunde liegt: „ist“ ist ein wahrer Weg bzw. Gedanke, weil er das, was ist, zum Gegenstand hat, sich darauf bezieht und es benennt, oder: weil er der Aletheia, der „wahren Realität“, folgt (B 2.4b). Obwohl diese Auffassung als Grund der Anerkennung von „ist“ vielleicht ausreichend wäre, gibt es jedoch in den Fragmenten Hinweise darauf, dass im ersten Teil der „Aletheia“ die Beziehung zwischen dem Denken und dem Seienden ausführlicher behandelt wurde. Davon zeugen erstens die Verse 6.1-2, die von lšgein, noe‹n und ™Òn handeln, zweitens die enigmatischen Verse 8.34ff., die offensichtlich eine frühere, umfassendere Erörte-rung desselben Themas voraussetzen. Diese zwei Fragmente sollen im Folgenden analysiert werden.

3.3.1 Das Seiende als Objekt des Denkens (Fr. 6.1-2)

3.3.1.1 Interpretationsprobleme von Fr. 6.1-2

Das von Simplikios177 überlieferte Fr. 6 beginnt mit einem höchst kontroversen Satz, der in der Ausgabe von Diels-Kranz (1961) lautet:

177 Simp. Phys. 86 (V. 1-2 bis œstin); Phys. 117 (von œsti V. 1 bis V. 9). Zum Kontext der Über-lieferung s. u.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 48: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

92 Aletheia: Denken und Sein

cr¾ tÕ lšgein te178 noe‹n t' ™Õn179 œmmenai: œsti g¦r e"nai,mhd{n d' oÙk œstin:180 t£ s' ™gë181 fr£zesqai ¥nwga.

Der Sinn der Verse ist unklar, die Bedeutung des ihnen folgenden Verses aufgrund seiner unvollständigen Überlieferung umstritten182. Die Zahl der bisher vorge-schlagenen Auslegungen des Anfangs von V. 1 (6.1a) lässt sich auf fünf reduzieren, wenn unter Hintanstellung der semantischen Unterschiede nur ihr syntaktischer Aspekt berücksichtigt wird183:

1) Es ist notwendig, (dies) zu sagen und zu denken (cr¾ tÕ lšgein te noe‹n t'), dass das Seiende ist (™Õn œmmenai).

2) Das Sagen und Denken (tÕ lšgein te noe‹n t') muss ein Seiendes sein (cr¾ ™Õn œmmenai).

178 te ist eine alte Konjektur (S. Karsten), die von fast allen heutigen Herausgebern akzeptiert wird. Zu diesem Problem s. u.

179 t' ™Õn ist eine allgemein anerkannte Konjektur (Codd.: teÕn und tÕ ×n).180 In Simpl. Phys. 117 ist der Anfang von V. 6.2 korrupt (dazu s. E. Heitsch 1991, S. 148; vgl. den

Emendationsvorschlag von L. Heindorf, angenommen von Th. Bergk: m¾ d' e„n' oÙk œstin). W. Bröcker (1965, S. 58) liest hier nicht mhdšn, sondern m¾ d' ™Òn (akzeptiert u. a. von J. Jantzen 1976, S. 123f.); vgl. die Kritik bei J. Wiesner (1996, S. 17).

181 Dieser Teil von V. 2 (t£ s' ™gë) beruht auf einer allgemein akzeptierten (mit Ausnahme von N.-L. Cordero 2004, S. 101f.: t¦ g') Konjektur von Th. Bergk.

182 V. 6.3 ist unvollständig überliefert: prèthj g£r s' ¢f' Ðdoà taÚthj diz»sioj <...>. Die tradi-tionelle Ergänzung mit dem Verb e‡rgw, angenommen u. a. von H. Diels (1897, S. 35: „Es ist dies nämlich der erste Weg der Forschung, vor dem ich Dich warne“) und DK (1961: „Denn das ist der erste Weg der Forschung, von dem ich dich fernhalte“), ist wegen der Frage nach dem Bezug von prèthj ¢f' Ðdoà taÚthj problematisch; dazu s. J. Wiesner (1996, S. 86), E. Heitsch (1970, S. 45), P. Thanassas (1997, S. 192, Anm. 74). Ein Teil der Forscher glaubt, dass der zweite Weg, auf den sich diese Worte beziehen, durch die Formulierung mhd{n d' oÙk œstin in V. 6.2a bezeichnet wird. Die Hypothese wurde mehrmals einer (berechtigten) Kritik unterzogen, s. L. Tarán (1965, S. 59), E. Heitsch (1970, S. 45), M.C. Stokes (1971, S. 113), A. Nehamas (1999, S. 126), A. Finkelberg (1988, S. 58, Anm. 56). Es wurden unterschiedli-che Lösungen des Problems vorgeschlagen. In manchen Ausgaben aus dem 19. Jh. wurde das taÚthj einfach weggelassen. Im 20. Jh. wurden zwei Lösungen bevorzugt: Man hat entweder die von Diels vorgeschlagene Ergänzung von V. 6.3 (e‡rgw) abgelehnt, oder man postulierte eine mindestens einen Vers lange Lücke im überlieferten Text des Fragments. Die erstere Lö-sung wurde von N.-L. Cordero (1979, 1984, 2004b) und A. Nehamas (1981; hier Nachdruck 1999) vorgeschlagen: V. 6.3 sei mit dem Verb ¥rcw zu ergänzen (A. Nehamas: ¥rxw; N.-L. Cordero: ¥rxei); angenommen u.a. von M. Wesoły (2001, S. 74); auch H. White (2005, S. 35-37) sympathisiert mit diesem Vorschlag, sieht jedoch auch Schwierigkeiten (problematisch ist hier die Theorie der „zwei Anfänge“ und die daraus resultierende Identifi zierung des Weges der Sterblichen in Fr. 6.4-9 mit dem Weg des „ist nicht“ aus Fr. 2 und mit dem Vortrag der „Doxa“). Die zweite, eine Lücke in Fr. 6 voraussetzende Lösung wird u. a. von L. Tarán (1965, S. 58-61), E. Heitsch (1970, S. 45f.) und M.C. Stokes (1971, S. 114f.) vorgezogen. Die kühnste Lösung des Problems hat bisher R.K. Sprague (1955) vorgeschlagen. Das Problem kann hier nicht weiter verfolgt werden, da es eine separate Behandlung verdient.

183 Unberücksichtigt bleibt hier u. a. die Übersetzung von W. Bröcker (1965, S. 57f.: „Es ist not-wendig, daß es (das Seiende) ein solches ist, das gedacht und vorgestellt werden kann“). Eine Zusammenstellung fi ndet sich auch bei J. Wiesner (1996, S. 8-23); s. auch J. Jantzen (1976, S. 120-123).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 49: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 93

3) Das, was gesagt und gedacht werden kann (tÕ lšgein te noe‹n t' ™Òn), muss sein (cr¾ œmmenai).

4) Das Sagen und Denken des Seienden (tÕ lšgein te noe‹n t' ™Òn) muss sein (cr¾ œmmenai) (bzw.: Es ist notwendig, das Seiende zu sagen und zu den-ken).

5) Es ist notwendig, (dies) zu sagen und zu denken (cr¾ (tÕ) lšgein te noe‹n t'), dass es (bzw. dies) Seiendes ist ((tÕ) ™Õn œmmenai).

Leider ist die Bedeutung der Begründung dieser These (œsti g¦r e"nai, mhd{n d' oÙk œstin) ebenfalls umstritten; sie wird hauptsächlich auf zweierlei Art verstan-den184:

1) „denn Sein (e"nai) ist (œsti), Nichts aber ist nicht“185; 2) „denn es kann sein (œsti e"nai), Nichts aber kann nicht [sein]“186.

Es wäre äußerst schwierig, eine Wahl zwischen den aufgezählten Interpretationen zu treffen, denn keine von ihnen ist frei von ernsthaften Schwierigkeiten. Die erste Version, „Es ist notwendig, (dies)187 zu sagen und zu denken, dass das Seiende ist188, denn Sein ist, Nichts aber ist nicht“ bzw. „denn es kann sein, Nichts aber kann nicht [sein]“, kann den Eindruck einer mit der oben dargestellten Frage des Sagens und Denkens des „ist“ und des „ist nicht“ (bzw. dessen, was ist, und dessen, was nicht ist) nicht direkt verbundenen Aussage erwecken. Sie hat ihren Ursprung in der alten, oben erwähnten Überzeugung, dass das Parmenideische „ist“ (Fr. 2.3) (bzw. „ist nicht“, Fr. 2.5) um das Subjekt (tÕ) ™Òn ergänzt werden müsse: Erst dann würden die Verse 6.1-2 eine direkte Bestätigung der Richtigkeit des ersten Weges („das Seiende ist“ – „es ist notwendig zu sagen, dass das Seiende ist“) darstellen. Auf die Schwäche dieser Auffassung wurde schon oben hingewiesen. Die Forscher, die diese Kritik akzeptieren, aber nichtsdestoweniger diesen Typ der Interpretation von Fr. 6.1-2 bevorzugen, behaupten, dass eben in diesem Fragment, bzw. in dem ihm vorausgehenden, nicht erhaltenen Text, das Seiende als Subjekt zu „ist“ konstituiert wird. Die Fragwürdigkeit dieser Auffassung zeigt sich jedoch schon bei der unvermeidlichen Frage, wie es zu dieser Konstitution gekommen

184 Selten kommen auch andere Vorschläge vor, so z. B. die Übersetzung „for it is what it is, but nothing that it is not“ von H. White (2005, S. 35; grammatisch leider nicht erläutert).

185 Selten: „denn es ist Sein, Nichts aber ist es [sc. Sein] nicht“ (vgl. M. Wesoły 1983/84, S. 19f.; 2001, S. 74).

186 Eine dritte Möglichkeit ergibt sich aus der Kombination der beiden genannten Übersetzungen: „denn es kann sein, Nichts aber ist nicht“ (so Cordero 1979, 1984, 2004b; Palmer 1999; H. Schmitz 1988).

187 Zur grammatischen Konstruktion, bes. zu tÒ, das entweder als ein den Infi nitiven vorausgehender Artikel oder als Demonstrativpronomen verstanden wird, s. J. Wiesner (1996, S. 10-12) und J. Klowski (1977, S. 131f.).

188 So u. a. DK (1961, S. 232); U. Hölscher (1969, S. 17; aber 1968: Typ 3); J. Klowski (1977, S. 131f.); F. Montero (1958, S. 350); L. Tarán (1959/60, S. 124; aber 1965: Typ 4); J. Mansfeld (1964, S. 81; aber 1995: Typ 5); F.M. Cornford (1933, S. 99; aber 1939: Typ 3); O. Gigon (1968, S. 257); A. Finkelberg (1988, S. 49 u. 58); H. White (2005, S. 35); M. Wesoły (1983/84, S. 19; 2001, S. 74).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 50: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

94 Aletheia: Denken und Sein

sein sollte. Keine der zu diesem Typ gehörenden, voneinander stark divergieren-den Interpretationen erweist sich in diesem Punkt als überzeugend189. Vielmehr scheint die in die Rekonstruktion dieses Vorgehens investierte Mühe vergeblich, und zwar aus dem uns schon bekannten Grunde, dass die tautologische These „das Seiende ist“ nicht das Ziel des Parmenides zu sein scheint. Der Philosoph argumentiert für einen Weg der Forschung („ist“ contra „ist nicht“), nicht für eine fertige These; wir haben gesehen, dass in Fr. 2 der jeweilige Gegenstand der Forschung ('Alhqe…h bzw. tÕ m¾ ™Òn) offenbar schon vorausgesetzt und der Weg bewusst von diesem Gegenstand getrennt ist. An anderen Stellen des Gedichtes kehrt die subjektlose Formulierung der Wege (8.2; 8.9; 8.16) wieder, und es ist das æj œstin (nicht tÕ ™Õn œstin), das den Ausgangspunkt für die Deduktion des Seienden ausmacht (8.1-2).

In den meisten dem ersten Interpretationstyp zugehörigen Auslegungen ist auch die Begründung der These (6.1b-6.2a) wenig plausibel. Sie reduziert sich auf die emphatische Versicherung: Es muss so („das Seiende ist“) gesagt werden, „denn es ist so“ („Sein ist“). In ihrer ersten Version („denn Sein ist, Nichts aber ist nicht“) erweist sich außerdem der Wechsel von ™Òn (6.1a) zu e"nai (6.1b), in der zweiten („denn es kann sein (œsti e"nai), Nichts aber kann nicht [sein]“) die These „[Sein] kann sein“190 als fraglich. Der Anfang von V. 6.2, „Nichts aber ist nicht“ (bzw. „Nichts aber kann nicht [sein]“), wird hier zu einem fast überfl üssigen Zusatz191. Ebenso schwierig zu erklären wäre, welchem Zweck der nächste terminologische Wechsel, den das mhdšn einführt, dienen soll; man würde an dieser Stelle vielmehr m¾ ™Òn oder m¾ e"nai (als Opposition zu e"nai) erwarten. Innerhalb von eineinhalb Versen soll Parmenides demnach für das Sein bzw. Nichtsein Termini verwenden, die drei verschiedenen Kategorien angehören (™Òn, e"nai, mhdšn), wobei die Wahl der Begriffe durchaus arbiträr scheint. Wie einer der Anhänger dieses Interpreta-tionstyps bemerkt: „The lack of symmetry in Parmenides’ wording of the passage is salient“192.

Bei dem zweiten, besonders im 19. Jh. populären Typ der Interpretation von Fr. 6.1a, „Das Sagen und Denken muss ein Seiendes sein“193, scheinen die Schwie-

189 S. J. Mansfeld (1964, S. 59ff.); J. Klowski (1977, S. 108ff.); U. Hölscher (1969, S. 83-85); M. Wesoły (1983/84, S. 19f.).

190 Zur Kritik an der auf das Seiende angewandten Kategorie der Möglichkeit s. oben, Kap. 3.2.1.

191 Aus diesem Grund trennt U. Hölscher (1969, S. 17, 83f.) die Verse 1 und 2 und interpretiert den Anfang von V. 2 als eine neue Aussage. Ähnlich A. Finkelberg (1988, S. 58), der argumen-tiert, dass die Tatsache, dass mhd{n d' oÙk œstin „is not directly pertinent to the demonstration embedded in B 6.1, shows that B 6.2a is to be constructed as a grammatically independent statement logically complementary to B 6.1a“.

192 A. Finkelberg (1988, S. 58).193 U. a. H. Diels (1897, S. 35); A. Patin (1899, S. 574); P. Albertelli (1939, S. 135); W.J. Verdenius

(1964, S. 37); J.H.M.M. Loenen (1959, S. 38, 77-80); Ch.H. Kahn (1969, S. 722, Anm. 26); Ch.H. Kahn (1988, S. 260); A. Graeser (1977, S. 149-151). Dieser Interpretationstyp wurde u. a. aus dem Grund kritisiert, dass die Seiendheit des Logos mit der Einzigkeit und Homoge-

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 51: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 95

rigkeiten, den Satz mit dem Kontext zu verbinden, noch größer. Ein interessanter Versuch von W.J. Verdenius, das Fragment mit den Thesen von Fr. 2 und 3 zu einer Kette von Syllogismen zu verfl echten, wurde nicht zu Unrecht als methodo-logisch und inhaltlich unplausibel empfunden194. Die in diesem Interpretationstyp postulierte Identifi kation des Erkennens mit dem Seienden versuchte Ch. H. Kahn (1969 und 1988) folgendermaßen zu deuten: „... either it is or it is not. Either knowledge and true speech are Being or they are nothing at all“, wobei die veritative Bedeutung von ™Òn die Auffassung zulässt, dass in Fr. 6.1 dem Erkennen und Sagen Wahrheit und Wirklichkeit zugesprochen werden (Ch.H. Kahn 1969, S. 722). Doch auch wenn diese Auffassung vom Status des Erkennens bzw. Denkens bei Parmenides dem Charakter seiner Philosophie zu entsprechen scheint, muss der Satz, um die von Kahn postulierte Bedeutung von Fr. 6.1 anzunehmen, in seinem Kontext erläutert werden: Es ist unerlässlich, seine Begründung (6.1b – 6.2a) sowie die Beziehung zwischen Fr. 6.1-2 und Fr. 2 zu explizieren. Leider fi ndet sich bei Ch. H. Kahn keine solche Explikation; er begnügt sich (sowohl in der Arbeit aus dem Jahr 1969 als auch in dem späteren Aufsatz 1988) mit der Interpretation des isolierten Satzes 6.1a und dem Hinweis auf eine mögliche Konvergenz mit Fr. 3. In Wirklichkeit erweist sich die Herstellung eines direkten logischen Zusammen-hanges zwischen dem Satz „Das Sagen und Denken muss ein Seiendes sein“ und der Begründung „denn Sein ist, Nichts aber ist nicht“195 als kaum möglich. Diese Schwierigkeit versuchten A. Graeser (1977) und früher schon J.H.M.M. Loenen (1959) zu überwinden, doch wirken ihre Ansätze nicht überzeugend196.

nität des Seienden unvereinbar sei (L. Tarán 1965, S. 56, vgl. S. 198-200; K. Bormann 1971, S. 73; N.-L. Cordero 1984, S. 111). Dieser Einwand erscheint nicht als berechtigt (s. unten, Kap. 3.3.2); dennoch ist es kaum denkbar, dass für Parmenides jedes faktische Sprechen und Denken ™Òn ist. Zu betonen ist, dass Ch. H Kahn und A. Graeser dem ™Òn eine veritative Bedeutung zuschreiben (so auch J. Jantzen 1976, S. 121-126, s. unten).

194 S. W.J. Verdenius (1964, S. 41). Die von Verdenius vorgeschlagene Ergänzung des Subjekts in Fr. 2 („reality“) ist arbiträr; der erste Syllogismus scheint tautologisch und überfl üssig; die Rolle von Fr. 6.2a bleibt unklar; das lšgein wird ignoriert. Allgemein gesehen ist es nicht überzeugend, dass eine komplizierte Argumentation aus drei Syllogismen, gestützt auf die durchaus nicht selbstverständliche Hypothese der Identität des Seienden und des Denkens (bzw. der Erkenntnis), dem Beweis der These „Reality is“ dienen soll. Zur Kritik s. auch J. Wiesner (1996, S. 183f.).

195 „There is being“ und „there is no nothing“ (Ch.H. Kahn 1988, S. 259).196 Die von A. Graeser (1977, S. 149-151) vorgeschlagene Konstruktion der Begründung („Denn

das kann sein [sc. dass Sagen und Denken wirklich bzw. wahr sind] [= Fr. 6.1a], dass [Denken und Sagen] aber nicht wahr/wirklich [ist], das ist nicht [möglich]“) ist zu elliptisch; schwierig scheint vor allem die Interpretation von mhdšn als „nicht wahr“ (also im Sinne von tÕ m¾ ™Òn mit veritativ verstandenem ™Òn). J.H.M.M. Loenen (1959) übersetzt Fr. 6.1-2 als: „speaking and noe‹n must be something that is; for it [sc. speaking and noe‹n] can be, but what is not, cannot (be)“ (S. 38). Außer der problematischen Auffassung von mhdšn als tÕ m¾ ™Òn bzw. m¾ dšn, wird das Problem der Begründung der Notwendigkeit mit der Möglichkeit in dieser Interpretation – trotz der Versuche des Autors (S. 80) – nicht gelöst (vgl. S. 83f.: „the fact that thought can be invariable is suffi cient proof that this must be done“).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 52: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

96 Aletheia: Denken und Sein

Die drei übrigen Interpretationen von Fr. 6.1a setzen den Satz in Beziehung zum Kontext von Fr. 2, bes. zu V. 7-8 (das Nichtseiende kann weder erkannt noch aufgezeigt bzw. ausgesagt werden): Der Satz 6.1a liefere eine positive Umkehrung von Fr. 2.7-8, indem er besage, dass der Gegenstand des Sagens und Denkens ein Seiendes sein müsse (bzw. dass der Gegenstand sein müsse). Die grammatische Konstruktion des Satzes und der Zusammenhang mit seiner Begründung werden aber jeweils unterschiedlich aufgefasst.

Die erste der drei Auslegungen, nach der der Satz als „Das, was gesagt und gedacht werden kann, muss sein; denn es kann sein, Nichts aber kann nicht [sein]“ zu verstehen ist, hat den größten Beifall der Interpreten gefunden197. Trotzdem stößt sie auf zwei erhebliche Schwierigkeiten. Die erste betrifft die Begründung des Satzes: Die Notwendigkeit wäre hier mit der Möglichkeit begründet198: „Es muss sein, denn es kann sein“199. Diesen Paralogismus versuchte man auf unterschiedli-che Weisen zu beseitigen oder abzumildern, doch keine der Lösungen (weder der Hinweis auf den genauen Sinn des potentiellen œstin200 noch die von Bormann postulierte Konzeption der Möglichkeit und Notwendigkeit bei Parmenides201, noch die Rekonstruktion der Parmenideischen Argumentation mithilfe eines zu-sätzlichen Denkschrittes „das, was gesagt und gedacht werden kann, kann nicht Nichts sein“202) stieß auf allgemeine Zustimmung. Als noch größer gilt die zweite

197 U. a. J. Burnet (1908, S. 198); F.M. Cornford (1939, S. 31); J. Barnes (1979, S. 158); KRS (1983, S. 247); KR (1957, S. 270); G.E.L. Owen (1960, S. 94f.); U. Hölscher (1956, S. 393f. und 1968, S. 98f.; aber 1969: Typ 1); K. Bormann (1971, S. 73-75); D.J. Furley (1973, S. 11); D. Gallop (1984, S. 9 und 61); R.J. Ketchum (1990, S. 177); P. Curd (1998, S. 53); W.K.C. Guthrie (1965, S. 20); mit dieser Interpretation sympathisiert auch M.C. Stokes (1971, S. 306, Anm. 44).

198 S. J. Wiesner (1996, S. 77); J. Jantzen (1976, S. 122); J. Klowski (1977, S. 133); W.J. Verdenius (1964, S. 36).

199 U. Hölscher (1956, S. 394) übersetzt: „denn nur es kann sein, das Nichts kann nicht sein“; doch „nur“ steht nicht im Original.

200 Zur These U. Hölschers (1969, S. 81f.) vgl. auch oben, Kap. 3.2.1.201 K. Bormann (1971, S. 75-78) erklärt (auch in Bezug auf Fr. 3, s. oben, Kap 3.2.1), dass für

Parmenides, bei dem das Fehlen der Notwendigkeit die Unmöglichkeit impliziere (Fr. 8.9-10: das Seiende kann nicht aus dem Nichts entstanden sein: „Welche Verpfl ichtung aber auch hätte es angetrieben, früher oder später, beim Nichts seinen Anfang nehmend, zu entstehen?“), die Möglichkeit die Notwendigkeit nach sich ziehe. Doch bezeugt Fr. 8.9-10 eben die umgekehrte These: Für das Eintreten eines Ereignisses genügt die reine Möglichkeit nicht, sondern es muss auch eine Notwendigkeit (cršoj) bestehen.

202 S. z. B. G.E.L. Owen (1960, S. 94): „‚What can be spoken and thought of must exist; for it can exist, whereas nothing cannot‘. Hence, of course, it is not nothing; and hence it exists“; D. Gallop (1984, S. 9); W.K.C. Guthrie (1965, S. 22). Vgl. auch R.J. Ketchum (1990, S. 177-179) und J. Barnes (1979, S. 165-167). Die Argumentation würde dann folgendermaßen lauten:

1. X kann sein (6.1b) + Das Nichts kann nicht [sein] (6.2a) → [2. X ist nicht Nichts → X ist notwendigerweise etwas → ] 3. X ist (notwendigerweise) (6.1a). Die These „das, was gedacht werden kann, kann sein“ (6.1b) soll auch in Fr. 3 ausgedrückt sein

(G.E.L. Owen 1960, S. 94f.; D.J. Furley 1973, S. 11); man fragt sich jedoch, welchem Zweck

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 53: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 97

Schwierigkeit dieser Interpretation, nämlich die grammatische Konstruktion des Satzes 6.1a: Das Partizip tÕ ... ™Òn im Ausdruck tÕ lšgein te noe‹n t' ™Òn soll eine potentielle Bedeutung besitzen („das, was zu ... möglich ist“); von ihm seien die Infi nitive lšgein te noe‹n t' abhängig („das, was zu sagen und zu denken möglich ist“), die mit ihm zusammen den Subjektsakkusativ eines von cr» abhängigen ACI bilden (tÕ ... ™Òn + œmmenai). Diese Konstruktion wird von vielen Forschern als unwahrscheinlich oder gar unmöglich abgelehnt203.

Der letzte Einwand bildet den Ausgangspunkt der vierten Auslegung des Satzes 6.1.a: Hier wird versucht, den Sinn der dritten Interpretation aufrecht zu halten, ihre komplizierte Konstruktion aber zu vermeiden: „Das Sagen und Denken des Seienden muss sein“204 (bzw.: „Es ist notwendig, das Seiende zu sagen und zu denken“205). Diese Konstruktion ist jedoch ebenfalls nicht eben einfach (™Òn als Objekt der Infi nitive, die ihrerseits als Subjektsakkusative eines ACI fungieren). Parmenides hätte also einen relativ einfachen Inhalt (Gegenstand des Sagens und Denkens muss das Seiende sein) in unangemessen komplizierter Weise ausdrük-ken müssen; der Nachdruck liegt nämlich in dem so konstruierten Satz auf cr¾ ... œmmenai, nicht auf ™Òn206. Diese Schwierigkeit führt dazu, dass œmmenai in den

diese Wiederholung dienen soll. Die auf dem unklaren Begriff der Möglichkeit des Seins bzw. Nichtseins basierende Rekonstruktion hat keine allgemeine Zustimmung gefunden. Auf eine Modifi kationsmöglichkeit der Argumentation hat D.J. Furley (1973) hingewiesen, indem er mhdšn in 6.2a als Prädikatsnomen auffasst und den Satz als „it [X] is not nothing“ übersetzt. Auf diesen interessanten Vorschlag wird später noch eingegangen werden.

203 W.J. Verdenius (1964, S. 36 u. Anm. 2); Ch.H. Kahn (1969, S. 722, Anm. 26: „certainly impossible“); Ch.H. Kahn (1988, S. 261: „extremely harsh and contorted“); J. Wiesner (1996, S. 80: „wenig plausibel“); vgl. den Kommentar von J. Barnes, der die Interpretation annimmt: „The grammar is horrid“ (1979, S. 611, Anm. 5). D. O’Brien (1987, S. 207f.) weist auf den wesentlichen Unterschied hin, der diese Formulierung von ihren angeblichen Parallelen (Demosthenes 50.22, Epikur, Epist. ad Her. 60 sowie einem fi ktiven, von Furley aufgrund von Aisch. Pers. 419 konstruierten Beispiel) trennt: In allen diesen Sätzen fehlt der Artikel, der in Fr. 6.1 dem ™Òn vorausgehen soll; doch wurde bisher kein Beispiel für den substantivischen Gebrauch des Partizips mit potentieller Bedeutung gefunden.

204 U. a. J. Wiesner (1996, S. 252: „Es ist notwendig, daß das Sagen und Erkennen von dem, was ist, erfolgt“, vgl. S. 18-23); J. Jantzen (1976, S. 123f.: „Notwendig ist das Sagen und Denken dessen, was der Fall ist“); H. Fränkel (1962, S. 404: „Es ist erforderlich daß ein Aussagen und Denken dessen was Ist, Ist“); E. Heitsch (1970, S. 46f. und 1991, S. 23: „Notwendigerweise gibt es Sagen und Erkennen von Seiendem“); M. Untersteiner (1958, S. 135: „di necessità segue che esiste il dire [logicamente] e l’intuire l’essere“).

205 U. a. L. Tarán (1965, S. 54: „It is necessary to say and to think Being“); L. Couloubaritsis (1986, S. 370: „Il faut dire et penser l’être“).

206 J. Wiesner (1996, S. 15) versucht dieses Problem folgendermaßen zu lösen: „Wenn Seiendes notwendiger Inhalt des Aussagens und Erfassens ist, so erhält auch der Vorgang des Aussagens und Erfassens, der sich auf ein solches Objekt als einzig mögliches richtet, den Charakter der Notwendigkeit. Anders ausgedrückt: Wenn man notwendig Seiendes aussagt und erfaßt, fi ndet notwendigerweise das Aussagen und Erfassen von Seiendem statt“. Diese Erklärung ist jedoch nicht überzeugend, da die zweite These weder mit der ersten äquivalent ist noch aus ihr logisch folgt.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 54: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

98 Aletheia: Denken und Sein

Übersetzungen ausgelassen wird, wodurch der Satz die Form „Es ist notwendig, das Seiende zu sagen und zu denken“ erhält; dies ist jedoch mit dem griechi-schen Original kaum zu vereinbaren207. Fraglich erscheint hier auch der logische Zusammenhang zwischen der These und ihrer Begründung, aufgefasst meist208 nach dem ersten Typ: „denn Sein ist, das Nichts aber ist nicht“. Wie soll diese tautologische Feststellung die These von der notwendigen Beziehung des Sagens und Denkens zum Seienden (sei es in ihrer ersten209, sei es in der zweiten Form210) begründen können?

Im letzten, fünften Typ der Auslegung von Fr. 6.1-2, „Es ist notwendig, (dies) zu sagen und zu denken, dass es (bzw. dies) Seiendes ist“211, wird das cr» nicht als

207 Zu dieser Kritik s. N.-L. Cordero (1979, S. 1) und J. Wiesner (1996, S. 14 und 21f.). 208 Zu den Ausnahmen gehört J. Jantzen (1976, S. 123f.: „Notwendig ist das Sagen und Denken

dessen, was der Fall ist; denn es ist möglich, [das Sagen und Denken dessen,] was nicht der Fall ist, ist aber unmöglich“; statt mhdšn liest Jantzen m» d' ™Òn); zur Kritik an dieser Interpretation s. J. Wiesner (1996, S. 16f.).

209 Nach J. Wiesner (1996, S. 82ff.) wird eine zusätzliche Prämisse für die Schlussfolgerung in

Fr. 6.1a von Fr. 3 geliefert: „Wenn es Sein gibt (B 6,1b) und wenn Erkennen und Sein dasselbe

ist (B 3), gibt es notwendigerweise Erkennen und Sagen von Seiendem (B 6,1a). Die Aussage

von B 6,1a würde also von B 6,1b und B 3 als Prämissen gestützt“. Es ist jedoch einzuwenden, dass aus der eventuellen Verbindung von Fr. 6.1b und Fr. 3 höchstens die These folgen könnte, dass das Denken (bzw. Erkennen) ist – nicht aber, dass das Denken (bzw. Erkennen) ein Denken (bzw. Erkennen) des Seienden ist. Die von J. Wiesner vorgeschlagene Interpretation ist zum Teil dem ersten Syllogismus von W.J. Verdenius ähnlich und hat mit ihm den Nachteil gemeinsam, dass wegen des tautologischen Charakters der ersten Prämisse („das Sein ist“) die Beweislast vor allem auf der zweiten Prämisse liegt, die jedoch in dem kontroversen Fr. 3 besteht. Wie schon oben gezeigt (s. Kap. 3.2.1), beschreibt Fr. 3 („Erkennen und Sein ist dasselbe“) nach J. Wiesner eine Korrelation oder gegenseitige Implikation der Begriffe noe‹n und e"nai: „noe‹n qua ‚geistig gewahr werden, geistig wahrnehmen‘ und (...) ‚erkennen‘ erfordert wie sinnliches Wahrnehmen ein Objekt. Nichtseiendes ist nicht wahrnehmbar. So richtet sich Erkennen auf Seiendes als einziges Objekt; umgekehrt muß Seiendes erkennbar sein“ (S. 161). Der Autor ist (ähnlich wie E. Heitsch) überzeugt, dass der Sinn von Fr. 3 schon aufgrund der in ihm verwendeten Begriffe (noe‹n, e"nai) evident ist. Wenn es jedoch selbstverständlich ist, dass noe‹n das Seiende als Objekt erfordert, warum sollte Parmenides dann die Aussage in Fr. 6.1, die eben dies behauptet, durch Fr. 3 und den tautologischen Satz „Sein ist“ begründen? Und wäre dann der Sinn von Fr. 3 und 6.1 nicht identisch?

210 In der Version von L. Tarán stoßen wir auf ein ernsthaftes Problem: Der Forscher hält die These „It is necessary to say and to think Being“ (6.1a) für eine Ergänzung der These von der Unmöglichkeit der Erkenntnis des Nichtseienden aus Fr. 2.7-8. Der Unmöglichkeit aus Fr. 2.7-8 müsste demnach die Notwendigkeit aus Fr. 6.1 entsprechen. Wenn aber cr» aus Fr. 6.1a ein Ausdruck der Notwendigkeit sein soll, kann der Satz „for there is Being, but nothing is not“ keine Begründung für Fr. 6.1a liefern: Die Tatsache, dass das Seiende ist und das Nichts nicht, könnte lediglich eine Basis für die Forderung bilden, das Seiende zu denken und zu sagen – eine solche Forderung wäre aber im Kontext des ersten Teils der „Aletheia“ irrelevant. L. Tarán selbst spricht undifferenziert (oder inkonsequent) von „the necessity, the duty, of saying and thinking Being“ (S. 58).

211 So A.H. Coxon (1986, S. 54: „It is necessary to assert and conceive that this is Being. For it is for being, but Nothing is not“; s. auch S. 182); J. Mansfeld (1995, S. 9: „Man soll es aussagen

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 55: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 99

Ausdruck der logischen Notwendigkeit, sondern einer Verpfl ichtung212 aufgefasst, das tÒ als Demonstrativpronomen (das entweder das Objekt der Infi nitive lšgein te noe‹n t' oder das Subjekt zu ™Õn œmmenai sein soll): Einem Objekt wird also das Sein zugesprochen und die Notwendigkeit konstatiert, seine Seiendheit im wahren Diskurs auszudrücken213.

Auch wenn diese Auslegung von zahlreichen Nachteilen der früheren Interpre-tationen frei ist, kann sie nicht ohne Weiteres angenommen werden. Die Haupt-frage betrifft die Identität des Objekts, das als Seiendes zu denken ist. Stimmt man der auf dieser Stufe der Argumentation einzigen möglichen Antwort von Coxon zu, dass es sich um den Gegenstand des Sagens und Denkens handelt, zeigt sich der größte Mangel dieser Auslegung des Satzes 6.1 sehr deutlich. Die Zusammenstellung „sagen und denken“ (lšgein te noe‹n t') verliert nämlich ihre an anderen Stellen des Gedichtes so prägnante Funktion und wird zu einer beinahe rhetorischen Formel214, denn vollständig ausformuliert müsste der Satz lauten: „es soll gesagt und gedacht werden, dass das, was gesagt und gedacht werden kann, Seiendes ist“. Aber auch die Rolle der Begründung wurde von A. H. Coxon nicht befriedigend erläutert215. Als Konsequenz wird dieser Typ der Interpretation des Satzes am seltensten akzeptiert.

Wie oben schon angedeutet, ist nicht nur der Sinn von 6.1a, sondern auch die Bedeutung der Begründung sowie ihre Beziehung zur These problematisch. Beim ersten, älteren216 Typ ihrer Interpretation („denn Sein (e"nai) ist (œsti), Nichts aber ist nicht“) erscheint e"nai ganz unerwartet in der Rolle des Subjekts zu „sein“, das sonst, wie oben gezeigt wurde217, regelmäßig fehlt: Es kommt weder in Fr. 2 (Ópwj

und erkennen, daß es Seiendes ist“; wobei die Ausgabe, in der sich die Übersetzung von Mansfeld befi ndet, leider keinen Kommentar des Übersetzers enthält).

212 Zur Funktion von cr» in der Epik s. Pfeiffer (1975, S. 164 mit Anm. 2).213 Nach A.H. Coxon (1986, S. 182) bezieht sich das tÒ (als Subjekt zu œmmenai) auf das tÒ ...

aÙtÒ aus Fr. 3 („for the same thing is for conceiving as is for being“). Die Funktion des Satzes 6.1a besteht also in der Feststellung, dass „what has essential being and can therefore be con-ceived should be designated as ‚Being‘“ (S. 182). Die Argumentation des Parmenides lässt sich demnach folgendermaßen darstellen: „Dasselbe (Ding) kann gedacht werden und kann sein; man soll sagen und denken, dass es Seiendes ist, denn es kann sein, Nichts aber kann (bzw. ist) nicht“ („For it is for being, but Nothing is not“).

214 Vgl. auch die Kritik bei U. Hölscher (1968, S. 98), die gegen den ersten, den beiden Verben eine ähnliche Funktion erteilenden Typ der Interpretation („Es ist notwendig zu sagen und zu denken, dass das Seiende ist“) gerichtet ist; Hölscher spricht von einer „leere[n] Aufschwellung des bei Parmenides sonst so dichten Ausdrucks“ und einer „hier kaum einzusehende[n] Kop-pelung von ‚sagen und denken‘“ und konstatiert: „Parmenides verbindet dagegen die beiden Verben mehrmals, wo er das ‚Denkbare‘ ausdrücken will“.

215 Die Begründung („For it is for being, but Nothing is not“) wiederholt bei Coxon nur das, was auch Fr. 3 besagt (das Ding, das gedacht werden kann, kann sein), statt eine Prämisse zu liefern, die die Herstellung eines Begründungszusammenhanges zwischen „kann sein“ und „ist“ bzw. „ist Seiendes“ ermöglichen würde.

216 S. N.-L. Cordero (1984, S. 121).217 Vgl. oben, Kap. 3.1.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 56: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

100 Aletheia: Denken und Sein

œstin, æj oÙk œstin) noch am Ende der Argumentation gegen den zweiten und dritten Weg (Fr. 8.2: æj œstin), noch in der Anknüpfung an die Wahl zwischen den Wegen in Fr. 8 (V. 9: oÙk œsti; V. 16: œstin À oÙk œstin) vor. Es ist nicht ersichtlich, warum der tautologische Satz „Sein ist“ gerade hier erscheinen soll218. Außerdem gibt es bei Parmenides keine sicheren Belege für die Verwendung von e"nai als Synonym zu ™Òn219, und man muss der von zahlreichen Forschern vertrete-nen Auffassung zustimmen, dass dies auch in Fr. 6.1b nicht zu erwarten ist, zumal dort in der zu begründenden These wieder das Partizip ™Òn vorkommt220. Man hat auch darauf hingewiesen, dass das so verstandene Fr. 6.1b-6.2a eine Opposition zwischen dem Seienden und dem Nichts enthält, die kaum durch e"nai einerseits und mhdšn andererseits gebildet werden kann221.

Ein analoges Problem betrifft auch den zweiten Teil der Begründung (Fr. 6.2a: mhd{n d' oÙk œstin): Warum sollte hier plötzlich das Subjekt zu oÙk œstin auftreten, das sonst regelmäßig fehlt (Fr. 2.5, 8.9, 8.16)? Ist ein Satz wie „Nichts ist nicht“, der auf ein Subjekt die Aussage „ist nicht“ anwendet und damit zur Hauptthese des Eleaten „oÙ fatÕn oÙd{ nohtÒn ™stin Ópwj oÙk œsti“ in direktem Widerspruch zu stehen scheint, überhaupt mit der Parmenideischen Doktrin vereinbar?222 Par-menides behauptet nirgendwo explizit, dass das Nichtseiende nicht ist223, und gibt als Begründung der Ablehnung des Weges æj oÙk œstin nicht die Nichtexistenz des Nichtseienden an, sondern die Tatsache, dass dieser Weg panapeuq»j sei (2.6): „ist nicht“ lässt sich überhaupt nicht aussprechen oder denken (8.8-9, 8.17). Wäre

218 J. Wiesner (1996, S. 112f.), der für „Sein gibt es“ optiert, sich jedoch der hier skizzierten Pro-bleme dieser Interpretation völlig bewusst ist, versucht die singuläre Anwesenheit des Subjekts in Fr. 6.1a dadurch verständlich zu machen, dass er unter den sich auf die Forschungswege beziehenden Aussagen eine spezielle Kategorie einführt, die „die beurteilenden positiven oder negativen Aussagen über den Inhalt der Wege“ enthalten soll („Sein gibt es“ soll eine Bestäti-gung des ersten Weges, „Nichts gibt es nicht“ eine Ablehnung des zweiten implizieren). Doch überzeugt dieser Schritt nicht, und zwar vor allem deshalb, weil zu der genannten Kategorie ausschließlich die problematischen Sätze œsti e"nai und mhd{n d' oÙk œstin gehören sollen (s. S. 113, 118 und 122). Außerdem können diese Aussagen nicht nur eine beurteilende Funktion haben, wenn sie eine Begründung für die These von Fr. 6.1 liefern und als solche ein wesentliches Element der Parmenideischen Lehre enthalten sollen (auch J. Wiesner sieht in œsti e"nai nicht nur ein Urteil, sondern auch einen Schritt in der Argumentation des Parmenides).

219 Zu Fr. 6.8 s. oben, Kap. 3.2.4; es bleibt nur das problematische Fr. 3.220 S. J. Jantzen (1976, S. 123), H. Pfeiffer (1975, S. 167f., Anm. 3: gegen das substantivierte

e"nai), D. Gallop (1984, S. 30f., Anm. 15 und S. 42, s. v. einai), O. Gigon (1968, S. 251f.).221 U. Hölscher (1968, S. 95, Anm. 15); J.H.M.M. Loenen (1959, S. 39, Anm. 65: „we should

then expect m¾ e"nai instead of mhdšn“).222 Auf dieses Problem weisen D. O’Brien (1987, S. 145) und G. Giannantoni (1988, S. 215f.)

hin. 223 Fr. 7.1 besagt nur, dass der Satz „die Nichtseienden sind“ nicht akzeptabel ist; hier wird also das

Nichtseiende nicht zum Subjekt von „ist nicht“ gemacht. Vgl. auch O. Gigon (1968, S. 252): „Parmenides sagt nicht etwa (dies ist wichtig), daß das Nichseiende nicht sei. Das steht jenseits des Wißbaren. Er weiß lediglich, daß über das Nichtsein gar nichts ausgesagt werden kann (...)“. Leider bezieht sich diese aufschlussreiche Bemerkung nur auf Fr. 3, denn in Fr. 6 liest Gigon: „Das Sein nämlich ist, das Nichts dagegen nicht“ (S. 257).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 57: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 101

das Nichtseiende (bzw. Nichts) ein mögliches Subjekt des Ausdrucks „ist nicht“224, dann wäre es nicht unerkennbar, und der Weg „ist nicht“ wäre ein richtiger und wahrer Weg der Forschung, da er zu einem wahren und philosophisch bedeutsa-men Satz führen würde. Aber eben dies wird von Parmenides ausdrücklich und mit großer Entschiedenheit bestritten225.

Diese Schwierigkeiten führten die Interpreten zu der alternativen Deutung der Begründung in Fr. 6.1b-6.2a („denn es kann sein (œsti e"nai), Nichts aber kann nicht [sein]“), bei der e"nai als abhängig vom potentiell verstandenen œsti aufge-fasst wird. Die Schwierigkeiten dieser Interpretation sind jedoch nicht geringer als die der ersten (vgl. oben zu dem Problem der Begründung der Notwendigkeit durch die Möglichkeit). Die Formulierung „kann sein“ steht zu den Prinzipien der Parmenideischen Lehre offenbar im Widerspruch226. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass Parmenides hier ein logischer Fehler zugeschrieben wird227.

Das Problem der Interpretation von Fr. 6.1-2 bleibt also offen. Bei den drei letzten Auslegungen wird vorausgesetzt, dass das Fragment einen Teil der Argu-mentation gegen die Möglichkeit des Sagens und Denkens des Nichtseienden ausmacht, indem es die Notwendigkeit beweist, das Seiende zu sagen und zu denken. Diese Voraussetzung scheint erwägenswert; schon das Vorkommen von lšgein, noe‹n, ™Òn und mhdšn legt den Zusammenhang mit dieser Problematik nahe. Es ist auch bemerkenswert, dass wir einen möglichen Verlauf dieser Argumentation (die Notwendigkeit, das Seiende zu denken) gut kennen: Die im vorigen Kapitel behandelte, in antiken Quellen überlieferte Beweisführung gegen die Möglichkeit, das Nichtseiende zu sagen bzw. zu denken, enthält auch einen positiven Teil, in dem nachgewiesen wird, dass es logisch notwendig ist, Ôn zu sagen. Diese Zeugnisse sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

224 So A.H. Coxon (1986, S. 182: „the only expression (‚Nothing‘) which can be made the subject of ‚is not and must needs not be‘“).

225 Man könnte einwenden, dass Parmenides trotzdem vom Nichtseienden spricht (z. B. in Fr. 2.5-8, 7.1, 8.7-9), bzw. die Parmenideischen Argumente gegen die Möglichkeit des Sprechens vom Nichtseienden generell für inkonsequent und widersprüchlich erachten.Trotzdem besteht offenbar ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Aussagen (Fr. 2.5-8, 7.1, 8.7-9) und dem Satz „das Nichtseiende bzw. Nichts ist nicht“: In den ersteren wird jeweils eine Aussage als falsch präsentiert (Fr. 2.5) oder verworfen (Fr. 2.7-8, 7.1, 8.7-9). Die Aussage „Nichts ist nicht“ wäre dagegen eine Begründung (und damit ein positives Element) der Parmenideischen Doktrin.

226 S. oben, Kap. 3.2.1. 227 „A, which can exist, is distinguished from B, which (poor thing) cannot: invalid, for to say

‚nothing cannot exist‘ is not to ascribe compulsory non-existence to anything but to say that it is necessarily (truistically) true that what doesn’t exist doesn’t exist, and this unexciting re-formulation disables the argument“ (G.E.L. Owen 1960, S. 94 u. Anm. 2). Trotzdem erklärt Owen diese Argumentation als Parmenideisch („This seems to be the sole way of construing them [sc. the lines] that saves them from platitude“). Vgl. auch J. Barnes (1979, S. 166f.), der Parmenides die Prämisse „if X does not exist, X cannot exist“ zuschreibt, von der er selbst sagt: „premiss (11) is false, and obviously false“.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 58: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

102 Aletheia: Denken und Sein

3.3.1.2 Die Argumentation in den antiken Zeugnissen

Der in antiken Quellen überlieferte Nachweis der Notwendigkeit, das Seiende zu sagen, besteht aus zwei Schritten. Im ersten Schritt wird postuliert, dass „sagen“ (bzw. erkennen, meinen etc.) immer „etwas sagen“ oder „ein Eines sagen“ – nicht jedoch „nichts sagen“ – bedeutet. So wird z. B. im „Theaetet“ das Meinen mit dem Seh-, Hör- und Tastsinn verglichen: Wer sieht, hört oder fühlt, der sieht, hört oder fühlt immer etwas (ti) bzw. ein Eines (›n ti); dementsprechend (189a 6f.) meint auch derjenige, der meint, ein Eines (`O d{ d¾ dox£zwn oÙc ›n gš ti dox£zei; 'An£gkh). Im „Kratylos“ (429d 4f.) wird argumentiert, dass es etwas geben muss, was der Sprechende spricht (lšgwn gš tij toàto Ö lšgei). Im „Euthydemos“ (283e 9-284a 4) wird Ktesippos vom Sophisten zu der Feststellung genötigt, dass der Sprechende immer von einem bestimmten Ding spricht (tÕ pr©gma perˆ oá ¨n Ð lÒgoj Ï), das eins (›n) und von anderen verschieden (cwrˆj tîn ¥llwn) ist. Im „Sophistes“ (237d 6f.) wird festgestellt, dass derjenige, der etwas sagt, immer „ein Eines“ sagt (¢n£gkh tÒn ti lšgonta ›n gš ti lšgein).

Im zweiten Schritt wird das „Eine“ mit „etwas Bestehendem“ bzw. „Existieren-dem“ (Ôn ti) gleichgesetzt. Daraus wird gefolgert, dass wir, indem wir sprechen, immer etwas aussprechen, das ist. Im „Theaetet“ (188e 7-11) wird z. B. behauptet, dass jemand, der ein Eines sieht, etwas Seiendes sieht (`O ¥ra ›n gš ti Ðrîn Ôn ti Ðr´), da das Eine kein Nichtseiendes sein kann (À sÝ o‡ei pot{ tÕ |n ™n to‹j m¾ oâsin e"nai; OÙk œgwge) und dementsprechend (189a 8f.), wer „ein Eines“ meint, etwas Seiendes meint (`O d' ›n ti dox£zwn oÙk Ôn ti; Sugcwrî). Im „Euthydemos“ (284a 4f.), in dem ja schon früher von |n tîn Ôntwn die Rede war, vergewissert sich der Sophist: OÙkoàn Ð ™ke‹no lšgwn tÕ Ôn (...) lšgei; Auch Kratylus legt dar (429d 4f.), dass das, was gesagt wird, das Seiende sein muss (Pîj g¦r ¥n (...) lšgwn gš tij toàto Ö lšgei, m¾ tÕ ×n lšgoi;).

Im „Sophistes“ (237d 1-4) weist der „Gast aus Elea“ nach, dass ti, das später mit ›n ti gleichgesetzt wird, immer etwas Seiendes bezeichnet (tÕ „tˆ“ toàto [_Áma] ™p' Ônti lšgomen ˜k£stote) und sich nicht „allein“, gleichsam „bloß“ und „von allem Seienden isoliert“ aussprechen lässt (mÒnon g¦r aÙtÕ lšgein, ésper gumnÕn kaˆ ¢phrhmwmšnon ¢pÕ tîn Ôntwn ¡p£ntwn, ¢dÚnaton).

Genau derselben Argumentation soll sich nach Proklos Antisthenes bedie-nen, um die Unmöglichkeit des falschen Sagens zu beweisen: Wer spricht, spricht etwas (Ð g¦r lšgwn ti lšgei), und das heißt, dass er das ausspricht, was ist (Ð dš ti lšgwn tÕ ×n lšgei), also die Wahrheit sagt (Ð d{ tÕ ×n lšgwn ¢lhqeÚei)228.

228 Procl. In Plat. Cratyl. 37 ( = Antisthenes Fr. 155 Giannantoni). Vgl. K. v. Fritz (1927, S. 456ff.). Allgemein zu der Antisthenischen Formel oÙk œstin ¢ntilšgein und ihren Parmenideischen Quellen s. auch L. E. Navia (2001, bes. S. 53-64).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 59: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 103

Ein bekannter Passus aus der „Politeia“ (476e 6-477a 5) zeigt, dass diese Ar-gumentation nicht dem Beweis der paradoxen These von der Unmöglichkeit des Falschen dienen muss. Sokrates stellt hier die Frage, ob der Erkennende etwas oder nichts erkennt (Ð gignèskwn gignèskei tˆ À oÙdšn;); dies wird von Glaukon mit „etwas“ beantwortet229. Es folgt die Frage, ob dieses „etwas“ ×n À oÙk Ôn ist; die Antwort lautet: Ôn, denn m¾ Ôn ti ließe sich nicht erkennen (was für Glaukon selbstverständlich ist230). Von dieser Feststellung ausgehend, entwickelt Platon eine für seine Philosophie fundamentale Idee: tÕ pantelîj Ôn sei pantelîj gnwstÒn, m¾ ×n d{ mhdamÍ sei p£ntV ¥gnwston. Dieser Passus gilt allgemein als „parmenideisch“231.

Im folgenden Teil seiner Argumentation versucht Plato nachzuweisen, dass zwi-schen dem vollkommenen Wissen (™pist»mh) und dem vollkommenen Unwissen (¥gnoia) die Meinung (dÒxa) liegt, die sich ebenfalls nicht auf ein Nichtseiendes bezieht, sondern notwendigerweise auf etwas (oÙc Ð dox£zwn ™pˆ tˆ fšrei t¾n dÒxan; und 'All' ›n gš ti dox£zei Ð dox£zwn; 478b 7-10). Das Neue in diesem Passus besteht darin, dass t… nicht mit Ôn gleichgesetzt wird: Ein Ôn kann nur Gegenstand des Wissens sein; der Gegenstand der Meinung wird dagegen als etwas bezeichnet, das im strengen Sinn weder Sein noch Nichtsein ist, aber an beidem teilhat (tÕ ¢mfotšrwn metšcon, toà e"na… te kaˆ m¾ e"nai, kaˆ oÙdšteron e„likrin{j Ñrqîj ¨n prosagoreuÒmenon, 478e 1-3). Allgemein lässt sich also feststellen, dass Platon in der „Politeia“ die von ihm den Sophisten zugeschriebene Argumentation grundsätzlich akzeptiert, sie jedoch wesentlich modifi ziert, indem er eine termino-logische Unterscheidung zwischen gignèskein und dox£zein einführt.

Es scheint außerdem bedeutsam, dass Plato im „Sophistes“ dieselbe Argumen-tation als eine Explikation der Parmenideischen These oÙ g¦r m»pote toàto damÁi e"nai m¾ ™Ònta (Fr. 7.1) anführt. In diesem Dialog wird die Argumentation bekanntlich zurückgewiesen, was den Ausgangpunkt für eine neue Defi nition des Nichtseienden bildet. Das gesamte Vorgehen wird als Überwindung des Parme-nideischen Gedankenguts dargestellt232. Zudem erklärt Plato selbst an anderer

229 Vgl. auch Parm. 132b 7-c 2 (ein Gedanke kann nicht nÒhma oÙdenÒj sein, sondern ist immer nÒhm£ tinoj, und zwar Ôntoj und nicht oÙk Ôntoj).

230 Vgl. oben, Kap. 3.2.1.231 P. Friedländer (1954, S. 25).232 Eine spezifi sche Kritik der hier dargestellten Argumentation lieferte Gorgias (MXG 980a 9-19;

Sext. Emp., Adv. Math. 7.77-82), und zwar im zweiten Teil seines Werkes, wo die Unerkenn-barkeit des Seienden bewiesen wurde. In MXG wird als Bedingung der Erkennbarkeit des Seienden die Richtigkeit der These „das, was gedacht wird (t¦ fronoÚmena), existiert, und das Nichtsein, da es nicht existiert, wird nicht gedacht (mhd{ frone‹sqai)“ postuliert. Anschließend wird gezeigt, dass diese These ad absurdum führt, u. a. weil es in diesem Fall nicht möglich wäre, das Falsche (yeàdoj) zu sagen, „auch wenn jemand sagen würde, dass die Wagen auf dem Meer ein Rennen fahren“. Nach Sextus stellte Gorgias die These auf, dass, „wenn das, was gedacht wird, kein Seiendes ist, das Seiende nicht gedacht wird“ (e„ ... t¦ fronoÚmena ... oÙk œstin Ônta, tÕ ×n oÙ frone‹tai), und versuchte erst danach, die Richtigkeit der Prämisse zu erweisen, also die Falschheit der These, dass „das, was gedacht ist, ein Seiendes ist“. Die

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 60: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

104 Aletheia: Denken und Sein

Stelle, dass man sich dieser Argumentation schon vor Protagoras bedient hat (Euthyd. 286c), was in der Forschung manchmal als Anspielung auf Parmenides interpretiert wird233.

Es ist bemerkenswert, dass gerade das Argument, das den Kern der gesamten Argumentation ausmacht (wer sagt, der sagt immer etwas, also ein Seiendes), dem Sinn, den die Anhänger von drei der fünf dargestellten Interpretationen in Fr. 6.1 fi nden wollen, sehr nahe kommt. Einerseits erlauben die ernsthaften Schwierigkeiten, auf die jeder Versuch der Explikation der grammatischen Struktur des Satzes und seines logischen Zusammenhanges mit seiner Begründung stößt, nicht, einfach zu behaupten, dass Fr. 6.1 den Kern der Argumentation tatsächlich enthält. Andererseits wird diese These jedoch durch ein sehr starkes Argument gestützt: Wir verfügen über eine antike Paraphrase des Satzes, die ohne irgendeinen Zusammenhang mit der skizzierten Argumentation entstanden ist und dem Satz trotzdem genau dieselbe Bedeutung zuspricht.

3.3.1.3 Die Paraphrase von Fr. 6.1a bei Simplikios und ihre Bedeutung für die Interpretation des Fragments

Das erwähnte Zeugnis stammt von Simplikios, der sich im ersten Buch seines Kommentars zur „Physik“ des Aristoteles mit dessen Interpretation der Einheit des Parmenideischen Seienden auseinandersetzt. Simplikios (Phys. 86 Diels) behaup-tet, dass alle drei von Aristoteles aufgestellten möglichen Sinne der Einheit (À tÕ sunec{j À tÕ ¢dia…reton À ïn Ð lÒgoj Ð aÙtÕj kaˆ eŒj Ð toà t… Ãn e"nai, ésper mšqu kaˆ o"noj, Arist. Phys. 185b 8-9) nach Parmenides „dem einen Seienden“ (tù ˜nˆ Ônti) zukommen. Für die erste Bedeutung (sunecšj) beweist er dies mit dem Hinweis auf Fr. 8.25, für die zweite (¢dia…reton) mit Fr. 8.22; für die dritte Bedeutung (die Einheit dessen, was dieselbe Defi nition hat) versucht er es mit zwei kombinierten Zitaten, Fr. 6.1-2 und Fr. 8.36-38, zu belegen:

¢ll¦ kaˆ tÕ p£ntwn ›na kaˆ tÕn aÙtÕn e"nai lÒgon tÕn toà Ôntoj Ð Parmen…dhj fhsˆn ™n toÚtoij

cr¾ tÕ lšgein te noe‹n t' ™Õn œmmenai: œsti g¦r e"nai,mhd{n d' oÙk œstin.e„ oân Óper ¥n tij À e‡pV À no»sV tÕ Ôn ™sti, p£ntwn eŒj œstai lÒgoj Ð toà Ôntoj,oÙd{n g¦r234 œstin À œstai [p£rex]¥llo p£rex toà ™Òntoj, ™peˆ tÒ ge mo‹r' ™pšdhsen oâlon ¢k…nhtÒn t' œmenai: tù p£nt' Ônom' œstai.

Beweisführung ist also ähnlich wie in MXG, aber erweitert: Zuerst wird gezeigt, dass eine solche These („das, was gedacht ist, ist ein Seiendes“) zu der Annahme führen würde, dass alles, was man sich vorstellt, existiert, und zwar so, wie man es sich denkt (e„ g¦r t¦ fronoÚmen£ ™stin Ônta, p£nta t¦ fronoÚmena œstin, kaˆ ÓpV ¥n tij aÙt¦ fron»sV), auch wenn man sich einen „fl iegenden Menschen oder auf dem Meer fahrende Wagen“ vorstellen würde.

233 S. J.A. Palmer (1999, S. 128 mit Anm. 17).234 Zu den Wörtern oÙd{n g£r vgl. unten, Kap. 3.3.2.2.1.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 61: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 105

Schon die Art, in der diese zwei Fragmente zitiert wurden, zeigt, dass das Mißtrauen der heutigen Forscher gegenüber den von Simplikios dargelegten Interpretationen der Parmenideischen Philosophie235 gut begründet ist: Fr. 8.36-38 wird aus seinem Kontext herausgerissen, mit dem ursprünglich weit von ihm entfernten Fr. 6.1-2 zusammengestellt und mitten im Satz abgebrochen – es wird ganz offensichtlich missbräuchlich verwendet. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung wird die These aufgestellt werden, dass Fr. 8.36-38 in noch größerem Ausmaß von Simplikios missbraucht wurde, als es üblicherweise angenommen wird. Zu unterstreichen ist jedoch, dass der zweifelhafte Wert der Interpretation, die Sim-plikios aufgrund der zwei Fragmente aufstellt, den Wert seiner Paraphrase von Fr. 6.1a keineswegs aufhebt.

Nach Simplikios bedeutet der erste Teil von Fr. 6.1: Óper ¥n tij À e‡pV À no»sV tÕ Ôn ™sti: „was man sagen oder denken könnte, ist das Seiende“. Dieser Sinn passt hervorragend zum zweiten Schritt der vor allem bei Platon überlieferten Argumentation: Wer etwas sagt, sagt notwendigerweise Ôn ti bzw. tÕ Ôn. Diese unmöglich zufällige Konvergenz ist jedoch nicht der einzige Grund, weswegen die Paraphrase nicht einfach verworfen werden kann.

Zum einen verfügen wir, solange weder der Sinn noch die Konstruktion des Parmenideischen Verses klar sind, über keine objektive Grundlage, um die Falsch-heit der Paraphrase zu erweisen: Wir sind nicht imstande, ihr eine allgemein akzeptierte Interpretation des Satzes entgegenzusetzen236. Es reicht nicht aus, auf die Falschheit der Hauptthese des Simplikios hinzuweisen237.

Zum anderen wäre es theoretisch weder unmöglich noch unwahrscheinlich, dass Simplikios dem Satz eine Bedeutung zugeschrieben hat, die er im Original nicht besaß. Wenn er jedoch den paraphrasierten Vers angeführt hat, müsste auch der neue, dem Fragment aufgezwungene Sinn für den potentiellen Leser zumindest auf der grammatischen Ebene greifbar sein. Dies ist jedoch nicht der Fall: Das Zitat stimmt mit der Paraphrase von Simplikios eindeutig nicht überein. Es ist bisher niemandem gelungen, zu erklären, wie Simplikios zu der von ihm gewollten Bedeutung des Satzes gelangt ist238.

235 Zur Interpretation der Parmenideischen Doktrin in Bezug auf die Einheit des Seienden bei Simplikios s. A. Stevens (1990, S. 31-43).

236 So wird das Zeugnis von Simplikios z. B. von L. Tarán (1965, S. 57) diskreditiert, der behauptet, es sei „irrelevant to the context“ – obwohl der Kontext des Satzes nicht erhalten ist. Auch dem Urteil, dass die von Simplikios angenommene Bedeutung des Satzes nicht „supported by the following g£r-clause“ sei, ist nicht zuzustimmen, da es unter den Forschern keine Übereinstim-mung in Bezug auf die Bedeutung dieser Begründung gibt und der Zusammenhang zwischen ihr und der These im Unklaren bleibt.

237 Voreilig ist deswegen die Schlussfolgerung von W.J. Verdenius (1964, S. 36): „Simplicius’ opinion carries no weight in this respect since his preceding remark, tÕ p£ntwn ›na kaˆ tÕn aÙtÕn e"nai lÒgon tÕn toà Ôntoj Ð Parmen…dhj fhsˆn ™n toÚtoij [...], is obviously wrong“.

238 Manche Forscher glauben, dass ihre Interpretation von Fr. 6.1a mit der Paraphrase des Sim-plikios übereinstimmt. So halten z. B. J. Burnet (vierte Ausg. 1930, S. 174, Anm. 1) und F.M. Cornford (1939, S. 31, Anm. 2) die Paraphrase des Simplikios für eine Bestätigung der von

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 62: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

106 Aletheia: Denken und Sein

Unter diesen Umständen – vor allem angesichts der bisherigen Schwierigkei-ten mit der Explikation des Satzes – scheint es sinnvoll, auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass nicht die Paraphrase des Simplikios verfehlt ist, sondern dass der Text des – nur an dieser einen Stelle (Phys. 86) überlieferten – Parmeni-deischen Zitats korrupt ist.

3.3.1.4 Fragment 6.1a im Lichte der Textkritik

Die obigen Erwägungen, deren Ziel es war, auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass der Satz cr¾ tÕ lšgein te noe‹n t' ™Õn œmmenai nicht den ursprünglichen Text des Gedichtes darstellt, könnten in gewissem Masse als überfl üssig erscheinen: Der in allen bisher dargestellten Interpretationen angenommene Wortlaut des Satzes ist ohnehin das Resultat einer Emendation239. Die von N.-L. Cordero 1979240 bekannt gemachte Tatsache, dass der in allen Kodizes überlieferte Text nicht die in den modernen Ausgaben durch einen Irrtum u. a. von H. Diels als original verzeichnete241 und infolgedessen allgemein anerkannte Version tÕ lšgein te noe‹n t' (Karsten, 1835), sondern tÕ lšgein tÕ noe‹n t' ist, wurde jedoch kaum zur Kenntnis genommen: Nach wie vor wird der emendierte Text immer wieder als original angeführt.

Der Grund dafür ist leicht nachzuvollziehen: Der Satz cr¾ tÕ lšgein tÕ noe‹n t' ™Õn œmmenai ist noch schwieriger zu verstehen und zu übersetzen als cr¾ tÕ lšgein te noe‹n t' ™Õn œmmenai. Die wenigen neuen Interpretationen des Frag-ments, die den faktisch überlieferten Text als Grundlage akzeptieren, zugleich aber eine der früher angenommenen Bedeutungen aufrecht zu halten versuchen, sind nicht überzeugend. Bezeichnend ist hier das Schwanken von N.-L. Cordero selbst. In seiner ersten Arbeit (1979) versuchte er den neuen Text mit der alten Interpretation Nr. 1 („Es ist notwendig zu sagen und zu denken, dass das Seiende

ihnen bevorzugten Interpretation Nr. 3. D. O’Brien (1987, S. 209) schreibt jedoch völlig zu Recht: „Mais Burnet s’est manifestement trompé. En écrivant tÕ Ôn ™sti, de toute évidence Simplicius a voulu gloser ™Õn œmmenai. Il est donc impossible que pour lui le participe commande les deux infi nitifs (lšgein, noe‹n)“. Auch M. Untersteiner (1958, S. 135: „di necessità segue che esiste il dire [logicamente] e l’intuire l’essere“ und S. CVIIIf., Anm. 28) glaubt in der Paraphrase ein Argument für seine Interpretation des Verses gefunden zu haben; er berücksichtigt jedoch auch den zweiten Teil der Aussage (p£ntwn eŒj œstai lÒgoj Ð toà Ôntoj), die mit Sicherheit nicht zur Paraphrase gehört (s. L. Tarán 1965, S. 57). P. Albertelli (1939, S. 135f. mit Anm. 2: „Bisogna che il dire e il pensare sia l’essere“; wo der Autor liest: „nel dire e nel pensare fi gura necessariamente l’essere“) beruft sich ebenfalls auf die Paraphrase des Simplikios, was u. a. von W.J. Verdenius (1964, S. 36), L. Tarán (1965, S. 57) und J. Wiesner (1996, S. 16) kritisch beurteilt wird.

239 Gemeint ist hier natürlich nicht die allgemein akzeptierte Konjektur t' ™Òn (Codd. teÒn, tÕ Ôn), sondern te.

240 N.-L. Cordero (1979, S. 1-32). S. auch idem (1987, S. 19f.).241 S. App. zu Simpl. Phys. 86 (Diels): „te noe‹n libri: tÕ noe‹n Karsten“ (in Wirklichkeit umgekehrt).

Vgl. schon H. Stein (1864-67, S. 783).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 63: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 107

ist“) zu vereinbaren, indem er eine sonst in der antiken Literatur nicht bezeugte Verwendung des artikulierten Infi nitivs (tÕ lšgein tÕ noe‹n t') als Subjekt eines quasi-unpersönlichen cr» annahm242. Einige Jahre später verwarf er jedoch diese Konstruktion zugunsten der Übersetzung „Es ist notwendig, das Seiende zu sagen und zu denken“243, die er auf die Konstruktion des alten Typs 4 („Das Sagen und Denken des Seienden muss sein“) stützt, um im Jahre 2004 wiederum zu seiner ersten, schwierigen Version zurückzukehren244. Diese Version nimmt auch J. Palmer (1999) an245. H. Schmitz (1988)246, D. O’Brien (1987)247 und P. Tha-nassas (1997 und 2007)248 interpretieren das doppelte tÒ als ein verdoppeltes Demonstrativpronomen, was zu dem Sinn führt: „man muss dies sagen und dies denken, dass das Seiende ist“249, während G. Scuto (2005) den Satz in einer der alten Interpretation Nr. 2 ähnlichen Weise liest („Es ist notwendig, dass Sagen und Denken Seiendes ist“). Doch keine dieser Lösungen überzeugt: Zu den alten Schwierigkeiten mit der Explikation des Sinnes des Satzes und seiner Beziehung zur Begründung (Fr. 6.1b-6.2a)250 kommen neue Probleme mit der Konstruktion

242 S. N.-L. Cordero (1979, S. 1f.: „il est nécessaire de dire et de penser qu’il y a de l’être, parce qu’être est possible, et le néant n’existe pas“).

243 N.-L. Cordero (1984, S. 112: „Il est nécessaire de dire et de penser ce qui est, parce qu’être est possible, et le néant n’existe pas“).

244 N.-L. Cordero (2004, S. 192: „It is necessary to say and to think that by being, is, since it is possible to be, and nothing[ness] does not exist“; s. auch ibidem, S. 91f.).

245 J.A. Palmer (1999, S. 47f.: „it is necessary to declare and to know that being is, for it is for being, while nothing ist not“). Der Autor ist sich der grammatischen Schwierigkeiten dieser Interpretation bewusst, glaubt jedoch, dass sie sich wegen des Fehlens des artikulierten Infi -nitivs bei Homer rechtfertigen lässt: „it may simply be that Parmenides’ fondness for the new form of expression led him to certain usages that became anomalous by the classical period“. Parmenides verwendet jedoch grundsätzlich nach wie vor den Infi nitiv ohne Artikel (einzige Ausnahme: Fr. 8.35).

246 H. Schmitz (1988, S. 172: „Erforderlich ist, das zu sagen und das zu bemerken: Seiendes ist. Es kommt nämlich in Betracht, zu sein; nichts aber ist nicht“).

247 D. O’Brien (1987, S. 24: „Il faut dire ceci et penser ceci: l’être est; car il est possible d’être, et il n’est pas possible que <soit> ce qui n’est rien“ und „It is necessary to say this and to think this, <namely> that there is being; for it is possible to be, while it is not possible for <what is> nothing <to be>“). Der Autor hält die These „Il faut dire ceci et <il faut> penser ceci: l’être est“ für eine positive Entsprechung von Fr. 2.7-8 und 8.6-9 (1987, S. 209-215); ähnlich N.-L. Cordero (1979, S. 2). Es scheint aber, dass doch ein Unterschied besteht zwischen der Forde-rung, zu denken „das Seiende ist“, und der, das Seiende zu denken.

248 P. Thanassas (1997, S. 109: „Nötig ist, dies zu sagen und zu denken: ™Òn ist; denn Sein ist, Nichtsein aber ist nicht“; 2007, S. 93: „This is necessary to say and to think: Being is; for Being is, whereas Nothing is not“).

249 Nach N.-L. Cordero (2004, S. 91) „it makes no sense to speak about two demonstratives; each tó is simply the article...“.

250 Es ist bemerkenswert, dass jeder der drei Anhänger der Konstruktion des Satzes mit dem dop-pelten tÒ in Funktion des Demonstrativpronomens eine andere Konstruktion der Begründung (Fr. 6.1b-6.2a) bevorzugt: P. Thanassas die erste, D. O’Brien die zweite und H. Schmitz eine aus beiden gemischte. Vgl. die jeweilige Explikation der Begründung; vgl. auch die Auffas-sung von N.-L. Cordero (1979). Zwischen der These „man muss sagen und denken, dass das

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 64: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

108 Aletheia: Denken und Sein

des Satzes selbst. R. Renehan (1992, S. 398) nennt die in den Kodizes überlieferte Version des Textes gibberish.

In dieser schwierigen Lage erscheint die Wahl der Forscher, die zu der alten Konjektur von Karsten (te) zurückkehren, zwar als verständlich, aber nicht als ak-zeptabel, denn Karstens Konjektur erfüllt die Aufgabe einer Emendation in keiner Weise251: Sie löst die Probleme mit dem Verständnis des Satzes nicht, sondern führt zu fünf verschiedenen Konstruktionen252, von denen die Mehrheit schon auf der grammatischen Ebene problematisch ist. Obwohl also eine Emendation des Textes zweifellos erforderlich ist, ist die Konjektur von Karsten unhaltbar. Ein plausibler Vorschlag muss zwei Bedingungen erfüllen: erstens den Text klar zu machen, zweitens eine Klärung der Frage zu ermöglichen, auf welcher Grundlage Simplikios den Satz als Óper ¥n tij À e‡pV À no»sV tÕ Ôn ™sti interpretieren konnte.

Ein Rückblick auf die Forschungsgeschichte zeigt, dass im 19. Jh., als der Text des Epos de facto festgesetzt wurde, zwei verschiedene Emendationsvorschläge miteinander konkurrierten: einerseits der von S. Karsten und C.A. Brandis, der sich letztlich durchsetzte (der Satz wurde damals meist nach Typ 2 interpretiert), andererseits der von L.F. Heindorf (1810), der tÕ lšgein tÕ noe‹n t' zu tÕ lšgeij tÕ noe‹j t'253 emendierte, was den Sinn ergab: „was du sagt und denkst, muss ein Seiendes sein“. Auf eine ähnliche Emendationsmöglichkeit wurde (wahrscheinlich

Seiende ist“ (auf die alle neuen Vorschläge außer dem von Cordero 1984 und dem von Scuto 2005 sich zurückführen lassen) und Fr. 6.1b-6.2a besteht kein logischer Zusammenhang. Das gibt auch J.A. Palmer (1999, S. 47f.) zu, der behauptet, dass Fr. 6.1b-6.2a keine Begründung der These von Fr. 6.1a liefert, sondern lediglich die Disjunktion zwischen den beiden Wegen aus Fr. 2 wiederholt; die Notwendigkeit, von der in Fr. 6.1a die Rede ist (cr»), folge nicht aus einer logischen Argumentation, sondern aus der Wahl des in Fr. 2.3 dargestellten Weges: „The beginning of B6 reaffi rms the need to make this decision“ (S. 48). Auch in der zweiten Interpretation von N.-L. Cordero (1984) besteht zwischen Fr. 6.1 und seiner Begründung kein logischer Zusammenhang, während der Versuch, die Notwendigkeit des Sagens und Sprechens des Seienden aus dem notwendigen Sein des Seienden herzuleiten (S. 112f.), nicht überzeugt. Auch G. Scutos (2005, S. 35 u. 149f.) Auffassung, der tautologische Satz „das Sein ist und das Nichts nicht“ diene als Begründung der dem Denken und Sagen Sein zuweisenden These, scheint nicht plausibel.

251 Den Autoren, die zu der Konjektur von Karsten zurückkehren, ist es nicht gelungen, diesen Schritt zu rechtfertigen. Ch.H. Kahn (1988, S. 261) z. B. erklärt, dass die Lesart tÒ „ist surely an error of dittography, and the correction te (…) must be right“. J. Wiesner (1996, S. 251) versucht, seine Annahme der Karsten’schen Konjektur auf eine sprachliche Korrespondenz von Fr. 6.1a und 2.7-8 zu stützen: „Für ein zweimaliges, sachlich mögliches te (…) spricht m. E. das oÜte ... gno…hj ... oÜte fr£saij in der korrespondierenden negativen Aussage von B 2, 7-8“. Andere Forscher begründen ihre Entscheidung meist gar nicht (z. B. A.H. Coxon 1986, S. 55), oft wird die überlieferte Lesart nicht einmal erwähnt (vgl. E. Heitsch 1991, S. 148f.).

252 Vgl. die Entscheidung von A.P.D. Mourelatos (1970, S. XV): „Undeniable syntactic ambiguity in the case of [...] B6.1-2 [...] make gratuitous any attempt to obtain from these lines positive information regarding Parmenides’ philosophical doctrine“.

253 L. F. Heindorf (1810, S. 347, Anm. 46). Vgl. auch F.W.A. Mullach (1860, S. 118).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 65: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 109

unabhängig von Heindorf ) erst wieder 1979 durch J. Barnes254 hingewiesen, der daraus jedoch keine Schlüsse für die Interpretation des Fragments zog.

Der Vorschlag Heindorfs, auf den ersten Blick etwas radikaler als die schein-bar harmlose Änderung von tÒ zu te, setzt voraus, dass es in der Überlieferung zu einer Änderung der dem für Parmenides typischen tÒ in der Funktion des Relativpronomens255 folgenden Verbformen zu den später üblich gewordenen ar-tikulierten Infi nitiven gekommen ist, die auch durch die Nähe zu cr» und dem Infi nitiv œmmenai nahe gelegt worden sein könnte. Der Vorschlag erfüllt zugleich die beiden an eine plausible Emendation gestellten Bedingungen. Erstens ist die Bedeutung des Satzes

cr¾ tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' ™Õn œmmenai

vollkommen klar: „das, was du sagst und denkst, muss ein Seiendes sein“. Zweitens stimmt der Satz hervorragend mit der Paraphrase des Simplikios überein: Óper ¥n tij À e‡pV À no»sV tÕ Ôn ™sti: „was man sagen oder denken könnte, ist das Seiende“256.

Diese Lösung erlaubt nicht nur eine sinnvolle Interpretation des Textes von Fr. 6.1a, sondern ermöglicht es – wie noch zu zeigen sein wird – auch, seine bisher ebenso problematische Begründung auf eine neue Weise zu lesen. Eine überzeugen-de Auslegung des logischen Zusammenhanges zwischen der These 6.1a und ihrer Begründung wird wiederum außerordentlich hilfreich für ein besseres Verständnis der Parmenideischen Argumentation im ersten Teil der „Aletheia“ sein.

3.3.1.5 Vorschlag einer neuen Interpretation des Fragments

Nach DK (1961) stellt sich der folgende Teil der oben besprochenen Aussage folgendermaßen dar:

... œsti g¦r e"nai,mhd{n d' oÙk œstin: t£ s' ™gë fr£zesqai ¥nwga.

254 J. Barnes (1979, S. 329, Anm. 5: „should we read legei te noei t’, taking to as relative pronoun? Then translate: It is necessary for what one says and thinks to be being“).

255 Das tÒ verursachte in diesem Satz immer die größten Schwierigkeiten; vgl. U. Hölscher (1956, S. 393f.); B. Cassin (1980, S. 53: „C’est l’article to, « le », qui est le point diffi cile“).

256 Es lohnt sich, den Versuch zu unternehmen, die Paraphrase des Simplikios in die Sprache des Parmenides zurückzuübersetzen: Wenn das Ôn zu ™Òn geändert, an Stelle des verallgemeinernden ¥n tij À e‡pV À no»sV die für das Gedicht charakteristische 2. Person Sg. (vgl. Fr. 2.7-8; 8.7-8; 8.36) eingeführt, also À lšgeij (das e„pe‹n kommt bei Parmenides nicht vor) À noe‹j geschrieben und tÒ für Óper eingesetzt wird (Óper ist in Fr. 16.3 bezeugt, das relative tÒ in Fr. 8.31 und 8.46), gelangt man zu einem Satz wie: tÕ lšgeij À tÕ noe‹j ™Òn ™sti. Wenn jetzt diese Version mit dem überlieferten Text des Parmenides (cr¾ tÕ lšgein tÕ noe‹n t' ™Õn œmmenai) verglichen wird, wird klar, was der den Vers paraphrasierende Simplikios vor Augen gehabt haben muss: cr¾ tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' ™Õn œmmenai.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 66: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

110 Aletheia: Denken und Sein

Wie die Partikel g£r zeigt, ist der Satz eine Begründung des vorher Gesagten: cr¾ tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' ™Õn œmmenai. Doch wie oben gezeigt, eignet sich weder die Tautologie „Das Seiende ist“, verbunden mit der problematischen Behauptung „Nichts ist nicht“, noch die These „Es kann sein, Nichts aber kann nicht“ wirklich für diese Funktion.

Oben wurde der interessante Vorschlag von D.J. Furley (1973) erwähnt, nach dem mhdšn nicht als Subjekt, sondern als Prädikatsnomen aufzufassen ist. Demnach ist der Sinn des Satzes „denn es kann sein, ist aber nicht nichts“. Diese Interpreta-tion beseitigt die zweifelhafte Formulierung „Nichts kann nicht [sein]“; allerdings wird die Symmetrie der beiden Glieder der Begründung gestört, und das Problem der „Möglichkeit des Seins“ bleibt ungelöst.

Der Vorschlag von Furley lässt sich jedoch sehr leicht weiterentwickeln, und zwar so, dass alle erwähnten Schwierigkeiten mit einem einzigen Schritt bewältigt werden. Es genügt, in dem Text ... œsti g¦r e"nai, / mhd{n d' oÙk œstin: t£ s' ™gë fr£zesqai ¥nwga das Komma vor e"nai zu verschieben, um einen grammatisch klaren und inhaltlich perfekt passenden Satz zu erhalten: œsti g£r, e"nai / mhd{n d' oÙk œstin: „denn es ist, nichts aber kann es nicht sein“.

Diese Auffassung verfügt über alle Vorteile, die die zweite Interpretation des Satzes gegenüber der ersten aufweist (vor allem bietet sie eine gute Alternative zu dem verdächtigen Satz „Nichts ist nicht“), ist jedoch der zweiten Auslegung bei weitem überlegen, da sie weder die Kategorie des möglichen bzw. unmöglichen Seins einführt noch eine Ergänzung im zweiten Teil des Satzes erfordert; überdies bedarf sie, wie wir sehen werden, keiner Rekonstruktion des mittleren Argumen-tationsgliedes (wie bei G.E.L. Owen u. a.)257 – sie enthält diese Argumentations-etappe explizit.

Der Text der beiden Verse lautet demnach folgendermaßen:

cr¾ tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' ™Õn œmmenai: œsti g£r, e"naimhd{n d'258 oÙk œstin: t£ s' ™gë fr£zesqai ¥nwga.

Es ist notwendig, dass das, was du sagst und was du denkst, Seiendes ist; denn es ist, Nichts aber kann es nicht sein259; das heiße ich dich zu erwägen260.

In dieser Form erinnert die Begründung der These cr¾ tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' ™Õn œmmenai sehr stark an die Argumentation, die Platon den Sophisten und Proklos dem Antisthenes zuschreibt und die Platon selbst in der „Politeia“ aufgreift. Die beiden Schritte dieser Argumentation wurden oben beschrieben: der erste, der in der

257 1. X kann sein (6.1b) + Das Nichts kann nicht [sein] (6.2a) → [2. X ist nicht Nichts → X ist notwendigerweise etwas → ] 3. X ist (notwendigerweise) (6.1a).

258 Bei einer engen Verbindung von zwei Wörtern kann dš hinter beide gestellt werden, um das vorangehende Wort zu betonen (Kühner–Gerth II, Bd. 2, S. 267, § 528).

259 Zur Strukturierung des Arguments vgl. z. B. Platon, Theaet. 160b: ™ke‹nÒ te tinˆ g…gnesqai (...): glukÝ g£r, mhdenˆ d{ glukÝ ¢dÚnaton genšsqai.

260 Die Übersetzung der letzten Phrase nach K. Bormann (1971, S. 37).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 67: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 111

Behauptung besteht, dass, wer spricht, „etwas“ – und nicht „nichts“ – ausspricht, und der zweite, in dem sich dieses „etwas“ als seiend (Ôn ti, tÕ Ôn) erweist. In Fr. 6.1-2 wird die These aufgestellt, dass das, was man sagt und denkt, ist und nicht nichts sein kann261, woraus geschlossen wird, dass es Seiendes (™Òn) ist262. Die beiden Beweisführungen weisen also eine weitgehende – und kaum als zufällig zu betrachtende – Ähnlichkeit auf:

1) wer sagt, sagt etwas (und nicht nichts) → er sagt Seiendes2) was man sagt, ist (und kann nicht nichts sein) → es ist Seiendes

Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass im ersten Fall die Schlussfol-gerung das Wort ti enthält, von dem zum „Seienden“ übergegangen wird, also: „etwas → Seiendes“, während bei Parmenides die Schlussfolgerung als „ist → ist Seiendes“ skizziert werden kann. Diese Beobachtung (lšgein ti → lšgein Ôn, aber e"nai → e"nai Ôn) legt nahe, dass in der zweiten Schlussfolgerung (e"nai → e"nai Ôn) das ti im Verb e"nai impliziert ist, was für die seit Jahren diskutierte Frage der Bedeutung des Parmenideischen œstin nicht ganz irrelevant zu sein scheint. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurde eine Lösung vorgeschlagen, die eine mittlere Position zwischen den zwei wichtigsten Interpretationen von ™sti im existentiellen und im prädikativen Sinne einnimmt: Sie schreibt dem Verb die Bedeutung „ist etwas“ zu und liest dementsprechend das negierte Verb als „ist (gar) nichts“263 (für diese Verwendung des Verbs wurde von R.J. Ketchum 1990, S. 168f., die Bezeichnung elliptical use of the copula oder incomplete copula vorgeschlagen). Die oben dargestellte Auslegung von Fr. 6.1-2 liefert eine Bestätigung dieser Hypothese: Die Opposition œstin – mhdšn ™stin sowie der Übergang von œstin zu ™Òn ™stin sind nur bei der Interpretation von œstin als „ist etwas“ möglich. Dieser Befund schließt jedoch andere semantische Nuancen des Verbs an anderen Stellen des Gedichtes selbstverständlich nicht aus, da die genannte Bedeutung von œstin in Fr. 6.1-2 direkt von seinem unmittelbaren Kontext generiert wird.

Ein zusätzliches Argument für die vorgeschlagene Form der Begründung er-gibt sich aus ihrer engen Korrespondenz mit der Darstellung des Weges „ist“ in Fr. 2.3:

1) œstin + oÙk œsti m¾ e"nai (Fr. 2.3)2) œstin + oÙk œstin e"nai mhdšn (Fr. 6.1-2)264.

261 Zu einer möglichen Begründung dieser Behauptung s. unten.262 Auf parallele Stellen (×n e"nai mit Ôn in der Funktion des Prädikatsnomen) bei Gorgias, Plato

und Aristoteles verweist A.H. Coxon (1986, S. 182).263 S. u. a. R.J. Ketchum (1990); A.H. Coxon (1986, S. 175); D. Gallop (1979, S. 78,

Anm. 35).264 Eine Ähnlichkeit zwischen Fr. 2.3 und Fr. 6.1b-2a wurde schon vor langer Zeit bemerkt (L.

Tarán 1965, S. 58f.; J. Klowski 1977, S. 130f.; E. Heitsch 1970, S. 47f.; N.-L. Cordero 1984, S. 127; N-L. Cordero 2004, S. 98). Zusammengestellt wurden vor allem die Ausdrücke oÙk œsti m¾ e"nai (2.3) und mhd{n d' oÙk œstin (6.2a). Jedoch entspricht der so verstandene Satz nicht der Position des ersten Weges (vgl. J. Wiesner 1996, S. 116f., der mit Recht argumentiert,

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 68: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

112 Aletheia: Denken und Sein

Diese sprachlich-formale Übereinstimmung besagt noch nichts über die faktische Funktion von Fr. 6.1-2 in dem Gedicht, zeigt jedoch, dass die vorgeschlagene Auslegung sehr gut zum Parmenideischen Diskurs passt265.

Wie sich aus der obigen Untersuchung ergibt, enthält der Satz in Fr. 6.1-2 eine Argumentation, die in antiken Quellen bezeugt ist und die nach den wich-tigsten und umfangreichsten Zeugnissen des „Theaetet“ und des „Sophistes“ mit der im vorigen Kapitel besprochenen Beweisführung gegen die Möglichkeit, das Nichtseiende zu denken, in enger Verbindung steht. Tatsächlich lässt sich auch bei Parmenides das Argument in 6.1-2 als ein Teil dieser Beweisführung auffassen. Der ganze Nachweis würde demnach lauten:

1. Das Sprechen und Denken von tÕ m¾ ™Òn ist nicht möglich.2. Fr. 6.1a: Was du sagst und denkst, muss (cr») ™Òn sein.3. Fr. 6.1b-2: Denn es ist (etwas), kann aber nicht mhdšn sein.4. Denn mhd{n lšgein ist mit m¾ lšgein gleichzusetzen.

Anhand von Fr. 6.1-2 lässt sich auch das Argument für den Weg „ist“, das in der ersten Hälfte der „Aletheia“ enthalten war, rekonstruieren. Der Weg „ist nicht“ ist abzulehnen, weil „ist nicht“ das Nichtseiende zu benennen versucht, das dem Denken und Sprechen nicht zugänglich ist. Denken und sagen lässt sich laut Fr. 6.1-2 nur das Seiende, und demnach erweist sich nur „ist“, der Name des Seienden, als der wahre Weg des Denkens. Dementsprechend wird „ist“ in Fr. 2 als der „Weg der Überzeugung“ (2.4a) bezeichnet: Im Gegensatz zu „ist nicht“ untersucht es einen wahren Gegenstand, da „ist“ ein wahrer Gedanke ist, der sich auf das, was ist, die Realität, bezieht.

In den erhaltenen Fragmenten des Gedichts befi ndet sich eine Aussage, die die ganze Argumentation zusammenfasst und bestätigt (8.15-18):

¹ d{ kr…sij perˆ toÚtwn ™n tîid' œstin:œstin À oÙk œstin: kškritai d' oân, ésper ¢n£gkh,t¾n m{n ™©n ¢nÒhton ¢nènumon (oÙ g¦r ¢lhq»jœstin ÐdÒj), t¾n d' éste pšlein kaˆ ™t»tumon e"nai.

Die Anerkennung des Weges „ist“ drückt sich an dieser Stelle in Form der Be-hauptung aus, dass er „ist und wahr ist“. Diese sorgfältige Formulierung dient offensichtlich dazu, den Sinn des „Wahrseins“ von „ist“ präzis zu bestimmen. Das Adjektiv ™t»tumoj bezieht sich im Besonderen darauf, was, einer Prüfung

dass diese Ausdrücke nicht synonym sind). Andere Forscher glauben, dass die Begründung in Fr. 6.1b-2a auch die Position des zweiten Weges repräsentiert oder dass sie eine den zweiten Weg ausschließende und dadurch den ersten Weg sanktionierende Doktrin enthält; dazu s. die ausführliche Diskussion bei J. Wiesner (1996, S. 84ff.).

265 Möglicherweise erlaubt sie auch eine Klärung der Frage, warum Simplikios (Phys. 117) in seiner Darstellung der Parmenideischen Forschungswege Fr. 6.1-2 ohne seinen Anfang, d. i. begin-nend mit den Worten œsti g£r ... anführte: Im Rahmen der Problematik der Wahl zwischen den beiden Wegen konnte die (aus dem Kontext herausgerissene) Aussage 6.1b-6.2a als exakte Bestätigung des wahren Weges dienen.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 69: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 113

unterzogen, sich als echt (genuine) erwiesen hat, d.h. darauf, was nicht nur schein-bar, sondern wirklich etwas ist266. Diese Bedeutung wird zusätzlich durch pšlein betont267: Der Gedanke bzw. der Weg œstin ist und ist wirklich268.

Während diese Aussage immer noch in dem Sinne uneindeutig ist, dass „ist“ entweder als ein wirklicher Weg oder als ein schlechthin wirklich („seiend“) bezeich-net wird, ist Fr. 6.1-2 mit der folgenden, zum Teil verwandten Doppeldeutigkeit behaftet: Der Ausdruck tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' kann sowohl den Gegenstand, von dem gedacht und gesprochen wird, als auch den Gedanken und die Aussage selbst bezeichnen. Diese doppelte Interpretationsmöglichkeit scheint in den meisten angeführten Zeugnissen, die die Parmenideische Argumentation wiederholen, vor-ausgesetzt zu sein. Auch wenn die These, dass man tÕ m¾ Ôn nicht erkennen kann (vgl. z. B. Resp. 476e-477a), sich offensichtlich auf einen äußeren Gegenstand der Erkenntnis bezieht, kann das Argument, dass tÕ m¾ Ôn (bzw. t¦ m¾ Ônta) nicht aussagbar ist, weil mhd{n lšgein mit m¾ lšgein gleichzusetzen ist, und dass man deswegen immer tÕ Ôn, die Wahrheit, sagen muss, auch auf das „innere“ Objekt des Denkens und des Sprechens, den Gedanken oder die Aussage selbst, bezogen werden. Um festzustellen, inwieweit diese Zweideutigkeit beabsichtigt ist und ob sie eine Rolle in der Parmenideischen Konzeption spielen kann, ist die Untersu-chung eines anderen Abschnitts, der vom Seienden, Denken und der Beziehung zwischen beiden handelt, nämlich 8.34-41, erforderlich.

3.3.2 Fragment 8.34-41. Die Identität von Denken und Sein

3.3.2.1 Probleme der Interpretation in der bisherigen Forschung

Die für die Problematik des Verhältnisses von Denken und Sein zentrale Aussage liegt im mittleren Teil des längsten, von Simplikios269 überlieferten Fragments 8 (V. 34ff.) und wird traditionell als Teil eines größeren Abschnitts betrachtet (V. 34-

266 S. T. Krischer (1965, S. 166f., 171-174), J.H. Lesher (1984, S. 18, Anm. 20).267 Die Auffassung von t¾n d' éste pšlein als „den [sc. Weg], nach dem ist“, nach der der Aus-

druck éste pšlein eine Entsprechung von Ópwj œstin (Fr. 2.3) sein soll (vgl. z. B. U. Hölscher 1969, S. 21: „der andre dagegen, wonach es ist, der richtige sei“; P. Thanassas 1997, S. 132: „der andere aber, wonach Ist, der wahre ist“), überzeugt nicht, denn die Ausdrücke Ópwj (æj) (oÙk) œstin (2.3, 2.5, 8.2, 8.9) werden jeweils von einem Verb des Denkens bzw. Sagens (bzw. vom màqoj in 8.1-2) eingeführt; außerdem sind pšlein und ™t»tumon e"nai in 8.18 eindeutig gleichwertig.

268 Die Realität des Weges „ist“ und die Irrealität des Weges „ist nicht“ betont M. Untersteiner (1958). Seine diesbezüglichen Thesen wie die vom mehrmaligen Übergehen des Weges in das ™Òn und umgekehrt (s. bes. S. XC) oder die von der Überlegenheit des Weges über das ™Òn („la ÐdÒj crea, non certo ontologicamente, ma sotto il rispetto gnoseologico, l’™Òn“ S. LXXXVIIff.) überzeugen jedoch nicht. Auch die Annahme von ÐdÒj als des zu ergänzenden Subjekts zu „ist“ in Fr. 2 (S. LXXXVIff.) ist schwer zu akzeptieren. Vgl. die Kritik von H. Schwabl (1957, S. 218-220).

269 Simplikios, Phys. 146. An anderen Stellen zitiert Simplikios ausgewählte Verse des Abschnitts: V. 34-36a in Phys. 87 und 143; V. 36b-38 in Phys. 86-87. Die Verse 35-36a werden auch bei Proklos, In Parm. 1152 angeführt.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 70: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

114 Aletheia: Denken und Sein

41). Der Abschnitt befi ndet sich zwischen den Thesen von der Begrenztheit des Seienden (pe…ratoj ™n desmo‹sin V. 31), seiner Vollendung und Vollkommenheit (oÙk ¢teleÚthton V. 32) sowie seiner Mangel- und Bedürfnislosigkeit (oÙk ™pideušj V. 33) einerseits und dem Vergleich des Seienden mit einer Kugel andererseits (V. 42ff.). Da der den Vergleich einleitende Vers 42, aÙt¦r ™peˆ pe‹raj pÚmaton, die These von V. 30-33 wieder aufnimmt, scheint der Passus 34-41 den Gedan-kengang der Deduktion zu unterbrechen. Der logische Zusammenhang zwischen dem Abschnitt 34-41 und den ihm vorausgehenden sowie den ihm folgenden Aussagen wurde bisher nicht geklärt.

Nach der Ausgabe von Diels-Kranz (1961) präsentiert sich der Text des Passus folgendermaßen:

taÙtÕn d' ™stˆ noe‹n te kaˆ oÛneken œsti270 nÒhma.oÙ g¦r ¥neu toà ™Òntoj, ™n ïi pefatismšnon ™st…n,eØr»seij tÕ noe‹n: oÙd{n g¦r <À> œstin À œstai¥llo p£rex toà ™Òntoj, ™peˆ tÒ ge Mo‹r' ™pšdhsenoâlon ¢k…nhtÒn t' œmenai: tîi p£nt' Ônom(a) œstai,Óssa brotoˆ katšqento pepoiqÒtej e"nai ¢lhqÁ,g…gnesqa… te kaˆ Ôllusqai, e"na… te kaˆ oÙc…,kaˆ tÒpon ¢ll£ssein di£ te crÒa fanÕn ¢me…bein.

Die von H. Diels (1897, S. 39) vorgeschlagene und als traditionell geltende Über-setzung der ersten dreieinhalb Verse lautet: „Denken und des Gedankens Ziel ist eins; denn nicht ohne das Seiende, in dem sich jenes ausgesprochen fi ndet, kannst Du das Denken antreffen. Es gibt ja nichts und wird nichts andres geben ausserhalb des Seienden“. Nach mehr als hundert Jahren, die seit der Veröffentlichung von H. Diels’ Arbeit vergangen sind, ist kein Punkt dieser Übersetzung unumstritten.

Der erste Satz (V. 34) wurde von H. Diels als These von der Identität (taÙtÒn) zwischen noe‹n und oÛnekšn ™sti nÒhma271, also dem Denken und dem Ziel des

270 H. Diels (1897, S. 38) und zahlreiche andere Herausgeber lesen hier oÛnekšn ™sti.271 Diese traditionelle Auslegung des Satzes vertreten u. a. auch: K. v. Fritz (1974, S. 47); G. Vlastos

(1953, S. 168); E.D. Phillips (1955, S. 553: „The same thing is thinking and that because of which thought is“); F. Montero (1958, S. 350: „lo mismo es el pensar y aquello (lo Ente) por lo que es el pensamiento“); K. Deichgräber (1958, S. 674, Anm. 1: „Dasselbe ist Denken und das, weshalb Denken ist“); M. Untersteiner (1958, S. 149: „Identico, poi, è l’intuire e ciò in causa del quale è il pensiero singolo“); R. Falus (1960, S. 278: „Dasselbe ist (das) Denken und dasjenige, infolgedessen (der) Gedanke ist“); J. Mansfeld (1964, S. 84: „Denken und das, worauf der Gedanke sich richtet, sind dasselbe“); Ch.H. Kahn (1969, S. 721: „Knowing and the goal [or aim or motive] of knowledge are the same“); N.-L. Cordero (1984, S. 39: „Penser et ce pourquoi la pensée est, sont la même chose“; 2004b, S. 193: „Thinking and that because of which there is thinking are the same“); L. Couloubaritsis (1986, S. 371: „le même est à la fois penser et ce à cause de quoi il y a pensée“); E. Heitsch (1991, S. 31: „Dasselbe aber ist Erkennen und das, woraufhin Erkenntnis ist“); A.A. Long (1996, S. 136: „Thinking and that which prompts thought are the same“); D. Sedley (1999, S. 120: „Thinking is identical to that with which thought is concerned “); I. Crystal (2002, S. 217: „Thinking and that for the sake of which thought is is the same“); P. Thanassas (1997, S. 281: „Und dasselbe ist Denken und [Sein als] Grund/Ziel/Inhalt des Gedankens“); G. Scuto (2005, S. 44: „Dasselbe ist Denken und

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 71: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 115

Denkens verstanden: „Denken und des Gedankens Ziel ist eins“272. Mit dem Ziel, d.h. dem Gegenstand des Denkens, sei das Seiende gemeint, das laut Fr. 3 mit dem Denken des Seienden identisch sei; V. 34 besage also: Denken (des Seienden) = Ge-genstand bzw. Ziel des Denkens = das Seiende. Die von H. Diels (und Simplikios) angenommene fi nale Auffassung des oÛneken wurde jedoch in den vierziger Jahren von K. v. Fritz (1974, S. 46f.) problematisiert: In der frühgriechischen Sprache (Belege wurden leider nicht angeführt) bezeichne die Konjunktion nicht („or not preponderately“), wie im Attischen, eine causa fi nalis, sondern eine causa effi ciens (oder einen logischen Grund); demnach identifi ziere V. 34 das Denken nicht mit seinem Ziel, sondern mit seiner Ursache oder seiner Bedingung. Die Mehrheit der Anhänger der traditionellen Interpretation von 8.34 hat die Konsequenzen dieser Kritik akzeptiert273.

Der Sinn der in V. 34 postulierten Identität ist jedoch nach vielen Kom-mentatoren auch bei kausaler Auffassung von oÛneken nicht ganz klar. Der Satz scheint zu besagen, dass „each episode of thinking is identical with the cause of that episode, i.e., thinking is always self-caused, a strange doctrine“274. Warum sollte Parmenides jedoch eine Idee der Identität des Denkens mit seinem Grund entwickelt haben? Und warum schrieb er nicht einfach „dasselbe ist Denken und das Seiende“, statt die Periphrase oÛnekšn ™sti nÒhma einzuführen und dadurch die einfache Identifi kation in eine ganze Kette von Identifi kationen umzuformen (d. i. 1. Denken = Ursache (bzw. Ziel) des Denkens, 2. Ursache des Denkens = das Seiende, ergo 3. Denken = das Seiende), von denen gerade die wichtigste, als Ziel des Passus und Gegenstand der in V. 35-36 folgenden Begründung angese-hene Identifi kation nicht direkt ausgesprochen wird?275 Ein anderes gewichtiges Argument gegen diese traditionelle Interpretation bezieht sich auf die Position von 8.34ff. in der Deduktion des Seienden: „nach der vorausgehenden Entwicklung der dem Seienden zukommenden Prädikate wirkt der plötzliche Einsatz mit einer Identitätsfeststellung für Erkennen und Sein höchst befremdlich“ (J. Wiesner 1996, S. 152).

das, weswegen der Gedanke ist“); G. Reale – L. Ruggiu (1991, S. 103: „Lo stesso è il pensare e ciò a causa del quale è il pensiero“).

272 Vgl. auch den Kommentar von Simplikios Phys. 87 zu Fr. 8. 34-36a, auf den sich H. Diels bei seiner Interpretation des Satzes beruft. Zu Simplikios’ Kommentar s. auch A. Stevens (1990, S. 44f.).

273 Die kausale Bedeutung haben auch Vertreter anderer Konstruktionen des Satzes angenommen, vor allem die Anhänger von U. Hölscher (dazu s. unten). Unter diesen meint A.P.D. Mourelatos (1970, S. 168, Anm. 13), das Parmenideische oÛneken enthalte beide Bedeutungen, sowohl die fi nale als auch die kausale.

274 Zitat eines anonymen Kommentators bei A.A. Long (1996, S. 136, Anm. 22). S. auch P. Aubenque (1987, S. 123).

275 Vgl. die Übersetzung von P. Thanassas (1997, S. 281): „Und dasselbe ist Denken und [Sein als] Grund/Ziel/Inhalt des Gedankens“ – die Ergänzung „[Sein als]“ soll offensichtlich die erwähnte Schwäche dieser Interpretation beseitigen.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 72: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

116 Aletheia: Denken und Sein

Entscheidend für die Entstehung der alternativen Interpretationen von V. 34 war die Kritik, der H. Fränkel (1930, S. 186f.)276 die relative Auffassung von oáneken unterzogen hat. Seine Beobachtung, dass von den drei bei LSJ s. v. aufgezählten Bedeutungen der Konjunktion, d. i. 1) „weswegen“ (= oá ›neka), 2) „weil“ (corre-lativum zu toÜneka) und 3) „dass“ (= Óti), bei Homer die zwei letzteren erheblich überwiegen277, führte zunächst zu zwei verschiedenen Versuchen, den Satz unter Annahme der dritten Bedeutung der Konjunktion (und unter Akzeptanz der Akzentuierung oÛneken œsti nÒhma) zu konstruieren: 1) „dasselbe ist Denken und der Gedanke, dass278 [es] ist“ und 2) „dasselbe ist Denken und [die Tatsache], dass279 der Gedanke ist“.

Die erste Auffassung280 scheint zu besagen, dass das „ist“ die notwendige Form des Denkens ist281: „(...) das Denken muss mit dem nÒhma œstin identisch sein; in jedem anderen nÒhma zerstört es sich selbst. (...) Deswegen ist jeder Satz, der mehr sagt als œstin, notwendig falsch und kann nicht sein“ (J. Jantzen 1976, S. 99).

Diese Auslegung überzeugte nicht alle282. Nach manchen Interpreten ist das œstin in V. 34b als Kopula zu verstehen: Das Denken müsse die Form „x ist y“

276 Etwas später (1932) und unabhängig von H. Fränkel hat G. Calogero (1970, S. 10-12 mit Anm. 12 und 13) diese Interpretation als absurd bezeichnet: oÛneken (bzw. oá ›neken) bedeute nicht tÕ oá ›neken.

277 Zum relativen oÛneken bei Homer vgl. Od. 3.60-61; vgl. LSJ, wo auch auf Il. 9.505 verwiesen wird; s. auch H. Fränkel (1930, S. 187). H. Fränkel (1930, S. 186) kritisierte auch die Diels’sche Übersetzung von oÛneken in Fr. 8.32 („Darum darf das Seiende nicht ohne Abschluss sein“): „es kann nur ¢n£gkh aus qšmij folgen, nicht umgekehrt“ (demnach sei hier oÛneken als „weil“ zu deuten). Die Mehrheit der Forscher hat auch diese Kritik akzeptiert (s. z. B. E. Heitsch 1991, S. 31; A.H. Coxon 1986, S. 71; DK 1961, S. 237; U. Hölscher 1969, S. 23; L. Tarán 1965, S. 86; K. Bormann 1971, S. 43; M. Conche 1996, S. 128); zu den Ausnahmen gehören K. v. Fritz (1974, S. 46: „because of which“ bzw. „therefore“) und G. Calogero (1970, S. 11: „weswegen“).

278 G. Vlastos (1959, S. 195, Anm. 1) zweifelt, ob ein „dass-Satz“ vom Substantiv nÒhma abhängen kann; ähnlich K. Bormann (1971, S. 79) und N.-L. Cordero (2004b, S. 85). Das Gegenargu-ment von L. Tarán (1965, S. 122), der auf Od. 15.40-42 verweist (so schon G. Calogero 1970, S. 11, Anm. 12) erweist sich (wegen des ™ršonta in 15.41) als unzutreffend.

279 Nach L. Tarán (1965, S. 122f.) müsste hier oÛneken von einem zu ergänzenden verbum sentiendi abhängig sein, was zu einem sinnlosen Satz führt.

280 So u. a. W. A. Heidel (1913, S. 722f.); G. Calogero (1970, S. 12); P. Albertelli (1939, S. 141 und 145f., Anm. 31); K. v. Fritz (1938, S. 99; vgl. jedoch 1974, S. 46f.); H. Fränkel (1960, S. 195 und 1962, S. 407); J. Barnes (1979, S. 179); F. M. Cornford (1939, S. 34); L. Tarán (1965, S. 120-123 und 1959/1960, S. 128f.); DK (1961, S. 238); L. Woodbury (1971, S. 151); M.C. Stokes (1971, S. 139); D. O’Brien (1987, S. 40 und 54); P. Aubenque (1987, S. 123); J. Jantzen (1976, S. 95); M. Conche (1996, S. 128); J. Mansfeld (1995, S. 13: „Und daß man es erkennt, ist dasselbe wie die Erkenntnis, daß es ist“). Vgl. W.K.C. Guthrie (1965, S. 39: „What can be thought and the thought that ‚it is‘ are the same“; zur Deutung der ersten Vershälfte s. unten); so auch KR (1957, S. 277: „What can be thought is only the thought that it is“).

281 Der Ausdruck oÛneken œstin wird u. a. von P. Aubenque (1987, S. 124) und L. Woodbury (1971, S. 151) als Äquivalent der Formel Ópwj œstin in Fr. 2.3 betrachtet.

282 Als „absurd“ bezeichnet sie J. Barnes (1979, S. 207).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 73: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 117

annehmen283, oder aber – da diese Forderung nicht einmal vom Diskurs der Göttin selbst erfüllt wird – es handele sich um „ist“ als eine implizite Form des Denkens284. Weder diese Interpretationen (was ist eine nur „implizite“ Form des Denkens?) noch die modifi zierte Auslegung, nach der das œstin von dem Objekt des Denkens ausgesagt wird (Denken = Denken, dass der Gegenstand des Denkens ist bzw. existiert)285, scheinen wirklich überzeugend zu sein286.

Die zweite der oben erwähnten, alternativen Interpretationen von V. 34 („das-selbe ist Denken und [die Tatsache], dass der Gedanke ist“) fand viel weniger Anhänger287. Zu ihren wichtigsten Vertretern gehört W.J. Verdenius, nach dem der Satz die Tatsache der Existenz unserer Gedanken ausdrückt: „... if I say: ‚nošw‘, it means that a nÒhma is with me, i.e. really exists“ (1964, S. 40), oder in den Worten H. Schwabls (1968, S. 412): „... wir denken doch (noe‹n), und daß wir denken, bedeutet, daß nÒhma ist“288. Auch wenn sich im Lichte der im vorigen Kapitel durchgeführten Untersuchung der oft gegen diese Interpretation vorgebrachte Einwand, dem Denken könne kein wahres Sein zugesprochen werden289, als un-zutreffend erweist, bleibt die Schwierigkeit, dass es Parmenides offensichtlich nicht darum ging, jedem beliebigen menschlichen Gedanken – nur weil wir uns seiner subjektiv bewusst sind – wahres Sein zuzuweisen. Mit anderen Worten: Die Art

283 Vgl. auch die unten dargestellten Interpretationen von G. Calogero und E. Hoffmann.284 J. Barnes (1979, S. 207) spricht von „the more modest claim that any thinkable item carries

an implicit rider of the form ‚O exists‘“.285 So schon W.A. Heidel (1913, S. 722: „Thinking and the thought that the object of thought

exists, are one and the same“), G. Calogero (1970, S. 12: „Eine Sache denken ist dasselbe wie denken, daß sie ist, d.h. wie die Behauptung ihres Seins, indem man denkt und sagt, daß sie ist“) und L. Tarán (1965, S. 123: „to think is equivalent to thinking that the object of thought exists“); vgl. K. v. Fritz (1938, S. 99: „Darum ist Erkennen und der Gedanke, daß (das Erkannte) ist (…), dasselbe“).

286 Auch wenn man zustimmen würde, dass die Behauptung das positive Pendant zu der These von 2.7-8 bildet und jedem Gegenstand des Denkens das Sein zuspricht (obwohl hier möglicherweise nur von einer (subjektiven) Überzeugung vom Sein des Gedachten die Rede ist), stellt sich die Frage, ob die Mitte der Deduktion des Seienden für eine These über das Denken einer Vielheit von Gegenständen die richtige Stelle ist (vgl. die Kritik von M. Conche (1996, S. 163: „(...) qui dit «une chose» dit quelque chose de contingent, et penser que cette maison existe, qui, bientôt, n’existera plus, ce n’est pas véritablement penser, mais opiner (...)“). Aus den oben genannten (s. Kap. 3.1) Gründen kann die Ergänzung eines Subjekts zu „ist“, auch wenn es so allgemein ist wie „Gegenstand des Denkens“, nicht überzeugen. Auch die Versuche, das „ist“ in V. 34b mit dem Parmenideischen Seienden gleichzusetzen (vgl. H. Fränkel 1960, S. 195: „Erkennen ist identisch mit Erkenntnis des Ist (= des Seins)“ und 1962, S. 407: „Wissen ist identisch mit Kenntnis der Tatsache des Seins“, also: „Alles Wissen ist (…) ein Wissen vom Sein“ (ibidem); vgl. auch O. Gigon 1968, S. 267: „Alles Denken ist Denken von Seiendem“ und M. Conche 1996, S. 163: „penser l’être (…) c’est là, proprement, penser“), sind nicht akzeptabel: œstin und ™Òn können nicht als unmittelbar synonym betrachtet werden.

287 W. J. Verdenius (1964, S. 39f.); J. H. M. M. Loenen (1959, S. 41); H. Schwabl (1968, S. 412); A. Graeser (1977, S. 151).

288 Vgl. auch J.H.M.M. Loenen (1959, S. 41-44).289 Z. B. L. Tarán (1965, S. 122).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 74: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

118 Aletheia: Denken und Sein

der Existenz, die die Gedanken charakterisiert, hat mit dem Parmenideischen ™Òn nichts zu tun: „Daß aber das Denken existiert, wenn gedacht wird, ist tautologisch und insofern bedeutungslos“ (J. Jantzen 1976, S. 95, Anm. 3)290.

Gegen die beiden Interpretationen, die die Übersetzung von oÛneken als „dass“ annehmen, sprechen zwei weitere Argumente. Erstens scheint die Formulierung des jeweils intendierten Inhalts von V. 34 („ist“ sei der einzige wahre Gedanke bzw. seine notwendige Form; der Gedanke existiere wahrhaftig) in Form einer Gleichsetzung in beiden Fällen unpassend. Zweitens erscheint es als höchst un-verständlich, dass eine Refl exion über das Wesen des Denkens im Zentrum der Deduktion der Eigenschaften des Seienden vorkommt.

Dem Versuch, diese letzte Schwierigkeit (die, wie oben erwähnt, auch die tra-ditionelle Konstruktion von V. 34 betrifft) zu überwinden, entsprang der vierte Typ der Interpretation von Fr. 8.34. Um keine Unterbrechung der Deduktion annehmen zu müssen, schlug U. Hölscher vor, das den Vers 34 einleitende Wort taÙtÒn, das einige Verse früher (Fr. 8.29) nicht dem Ausdruck einer Identität als einer zweiseitigen Relation dient, sondern das Seiende bezeichnet (taÙtÒn t' ™n taÙtîi te mšnon kaq' ̃ autÒ te ke‹tai V. 29), auch in V. 34 nicht als Prädikatsnomen, sondern als Subjekt des Satzes und Bezeichnung für das Seiende aufzufassen.

In der von U. Hölscher und seinen Anhängern angenommenen Interpretation zerfällt der Vers 34 in zwei Teile. Der erste, taÙtÕn d' ™stˆ noe‹n, wird in Analogie zu e„si noÁsai in Fr. 2.2 und noe‹n ™st…n (bzw. œstin) in Fr. 3 aufgefasst (wobei die beiden Fragmente nicht von allen Parmenides-Interpreten auf diese Weise konstru-iert werden291): ™stˆ noe‹n bedeute „ist (möglich) zu denken“ bzw. „kann gedacht werden“292. Der zweite Teil des Verses nennt ein neues Attribut des Seienden: Es ist auch das, weswegen (bzw. um dessentwillen) der Gedanke ist. Der ganze Satz lautet demnach: „Dasselbe kann gedacht werden und (ist) das, weswegen (bzw. um dessentwillen) der Gedanke ist“293.

290 Die Interpretation von A. Graeser (1977, S. 151f.: „Zu denken und dass das Gedachte ist, ist dasselbe“), nach dem der Akt des noe‹n „involviert, dass das, was man noe‹ (‚Ding‘ oder ‚Sachver-halt‘), ein Stück Wirklichkeit ist“, ist viel überzeugender, basiert jedoch auf einer kontroversen Deutung von nÒhma.

291 S. oben, Kap. 3.1 und 3.2.1.292 Nur einige der Anhänger dieser Interpretation von Fr. 8.34 ändern den Akzent und schreiben

œsti noe‹n (so z. B. KRS 1983, S. 252 und D. Gallop 1984, S. 70); dazu vgl. oben, Kap. 3.2.1, zur Diskussion über Fr. 3.

293 U. Hölscher (1956, S. 390-396; 1968, S. 99-103; 1969, S. 25: „Das Selbige aber ist zu erkennen, und zugleich der Grund, weshalb eine Erkenntnis seiend ist“); H. Boeder (1962, S. 168-172); A. P. D. Mourelatos (1970, S. 164-167: „And the same is to think of and wherefore is the thinking“); K. Bormann (1971, S. 78-84 und 42: „Dasselbe aber ist möglich zu denken und (ist) das, weswegen das Denken ist“); H. P. Engelhard (1996, S. 49-56; akzeptiert wird die Übersetzung von K. Bormann); A. H. Coxon (1986, S. 70 und S. 209: „The same thing is for conceiving as is the cause of the thought conceived“); KRS (1983, S. 252: „The same thing is there to be thought and is why there is thought“); P. Curd (1998, S. 89: „And the same thing is for thinking and wherefore there is thought“). Etwas anders D. Gallop (1984, S. 71: „The

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 75: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 119

Selbst die Anhänger dieser Übersetzung von V. 34 sind sich jedoch nicht dar-über einig, wie der nicht unmittelbar einleuchtende Satz genau zu interpretieren ist. Nicht ganz klar ist die Funktion von taÙtÒn: Ist es ein Attribut, das mit den neuen Eigenschaften von V. 34 in einem logischen Zusammenhang steht294, oder betont es nur, dass es „ein und dasselbe“ Seiende ist, dem die beiden neuen Attribute (34a, 34b) zugesprochen werden295?

Zweifelhaft scheint aber auch die zweite Hälfte des Verses. Abhängig von der Auffassung von „ist“ defi niert sie das Seiende entweder als den Grund bzw. das Ziel des Gedankens (oÛnekšn ™sti nÒhma) oder als den Grund der Wahrhaftigkeit bzw. Wirklichkeit des Gedankens (oÛneken œsti nÒhma). Den letzteren Fall erklärt H. Boeder (1962, S. 168f.) folgendermaßen: „Die Erkenntnis ist – das kann hier nur heißen: sie ist wahr. Nur darin, daß sie wahr ist, hat sie Bestand. Nur durch ihr Wahr-sein ist sie von Belang“296.

Diese Interpretation des Satzes ist schon auf grammatischer Ebene problema-tisch. Wie schon mehrfach bemerkt wurde297, würde im Satz „Dasselbe kann ge-dacht werden (™stˆ noe‹n) und ist (<™st…>) das, weswegen der Gedanke ist“ das Verb ™st…n in zwei Bedeutungen gebraucht: einmal im potentiellen Sinne und einmal als einfache Kopula. Diese Syntax – die von den Kritikern als im Griechischen nicht bezeugt und nicht möglich erachtet wird – würde die um den Ausdruck te ka… herum gebildete Symmetrie des Satzes zunichte machen. Auch inhaltlich erweisen sich die beiden Vershälften als disharmonisch: Während die erste das Seiende als „möglich zu denken“ bezeichnet, thematisiert die zweite, wie auch die folgende Begründung (V. 35-36), sein notwendiges Verhältnis zum Denken (es gibt kein Denken ohne das Seiende, so die häufi gste Interpretation von V. 35-36, s. unten)

same thing is for thinking and [is] that there is thought“). Eine ähnliche Version, aber mit der traditionellen Auffassung von taÙtÒn, fi ndet sich schon bei J. Burnet (1908, S. 200: „The thing that can be thought and that for the sake of which the thought exists is the same“).

294 So erklärt U. Hölscher (1968, S. 101; 1969, S. 98), die Bezeichnung taÙtÒn liefere eine Vor-aussetzung für ™stˆ noe‹n: Als taÙtÒn, mit sich immer identisch, sei das Seiende erkennbar; im Gegensatz dazu sei ein m¾ taÙtÒn („ein nie Seiendes“, „ein kinoÚmenon“) unerkennbar. Vgl. H.P. Engelhard (1996, S. 51): „Dasselbe kann, weil es dasselbe ist, gedacht werden, und Dasselbe kann, weil es dasselbe ist, Grund des Denkens sein“; zu letzterem Zusammenhang (zwischen dem „Dasselbe-sein“ und dem Status des Seins als Grund des Denkens) schreibt der Autor (S. 54): „Das Denken sucht das Sein zu erkennen, denn nur das Seiende als Dasselbe bietet die Gewähr sicherer Erkenntnis. Im Erkennen des Seins vollendet sich das Denken“).

295 Vgl. auch A.P.D. Mourelatos (1970, S. 169): „The very same thing which prompts thought (oÛneken) is there for us to know (™stˆ noe‹n)“; das bedeute, dass das Seiende „in der Antizipa-tion“ und im aktuellen Wissen dasselbe sei („Of reality it says that it is identically the same in expectation or anticipation as it is in actuality“), während es sich mit den Dingen der phäno-menalen Welt anders verhalte: „As Parmenides might have put it, ¥lla ™stˆ noe‹n kaˆ ¥lla oÛnekšn ™sti nÒhma, they are other in the knowing than they were in anticipation“.

296 S. auch U. Hölscher (1956, S. 392; 1968, S. 99-101; 1969, S. 98).297 J. Mansfeld (1964, S. 66); E. Heitsch (1970, S. 24; 1991, S. 145); J. Wiesner (1996, S. 148,

Anm. 639).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 76: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

120 Aletheia: Denken und Sein

und seinen Status als Grund des Gedankens bzw. der Wahrheit des Gedankens298. Ist es aber sinnvoll, von der Möglichkeit des Denkens des Seienden zu sprechen, wenn die Relation zwischen dem Denken und dem Seienden keine mögliche, sondern eine notwendige ist299?

Diese Schwierigkeit versucht J. Wiesner (1987) durch eine Modifi kation der dargestellten Interpretation von V. 34 zu überwinden. Seine Version des Satzes, „Als Identisches kann es erkannt werden und weil die Erkenntnis Bestand hat“300, bietet zwar einen philosophisch sehr interessanten Inhalt301, aus sprachlich-grammatischer Sicht ist sie jedoch inakzeptabel302.

Eine Explikation des Satzes in V. 34 möchte man in der folgenden, ihn be-gründenden Aussage fi nden: oÙ g¦r ¥neu toà ™Òntoj, ™n ïi pefatismšnon ™st…n, eØr»seij tÕ noe‹n (V. 35-36). Leider ist auch diese Phrase nicht unmittelbar ein-leuchtend – sie gilt vielmehr als „notorisch dunkel, fremdartig, paradox und sogar

298 Doch ist das Urteil von L. Tarán (1965, S. 121), U. Hölschers Interpretation sei „tautological and makes no sense in the context of Parmenides’ argument“, zu radikal (zur Diskussion mit Tarán vgl. U. Hölscher 1968, S. 99, Anm. 26) und berücksichtigt nicht, dass diese Interpreta-tion von Fr. 8.34ff. den Passus in den Gedankengang der Deduktion einzubeziehen versucht, was bei anderen Auslegungen des Satzes kaum der Fall ist; A.P.D. Mourelatos (1970, S. 165f.) und H.P. Engelhard (1996, S. 54, Anm. 67) versuchen sogar, wenn auch eher erfolglos, einen Zusammenhang des Passus mit dem Attribut oÙk ¢teleÚthton in Fr. 8.32 nachzuweisen.

299 A.P.D. Mourelatos versucht diesen Punkt von V. 34 philosophisch zu deuten: Der erste Satz sei eine permission, die andere Gegenstände des Denkens nicht ausschließe („If you should choose to seek ™Òn, you will fi nd it“), der zweite Satz schließe jede Alternative aus: „The fi rst clause says ‚you may‘; the second clause says ‚you must‘“. Offenbar sind die beiden Glieder des Satzes nicht, wie der Autor meint, komplementär, sondern vielmehr inkompatibel. K. Bormann (1971, S. 82) versucht auch an dieser Stelle von seiner schon mehrmals erwähnten Konzeption der „Implikation der Möglichkeit und Notwendigkeit“ Gebrauch zu machen; die Phrase taÙtÕn d' ™stˆ noe‹n besage: „Dasselbe kann als wirklich gekannt werden und wird als solches mit Notwendigkeit durch das richtige noe‹n gekannt“; die Notwendigkeit der Erkenntnis ergebe sich daraus, dass dem noe‹n, das das Seiende erkennen kann, „nichts entgegensteht“ (S. 82).

300 Die potentiell verstandene Phrase ™stˆ noe‹n bilde die Hauptaussage des Satzes, die durch das vorangehende taÙtÒn (aufgefasst nicht als Subjekt, sondern als Prädikatsnomen zu dem zu ergänzenden Subjekt „das Seiende“ mit Ellipse eines kausalen Ôn: taÙtÕn Ôn – „weil es dasselbe ist“) und die folgende Phrase oÛneken œsti nÒhma (wobei oÛneken als „weil“ verstanden wird) begründet wird.

301 In V. 34 würde Parmenides ein weiteres „Zeichen“ des Seienden nennen: seine Erkennbarkeit (™stˆ noe‹n), die mit den beiden erwähnten Argumenten nachgewiesen würde: 1) das Seiende ist identisch mit sich selbst, 2) das Denken ist („hat Bestand“).

302 J. Wiesner (1987, S. 176-179) verweist selbst auf drei ernsthafte Schwierigkeiten seiner Kon-struktion: 1) die Deutung von taÙtÒn (Ôn), 2) die Stellung von te ka… (statt: taÙtÒn te kaˆ oÛneken), 3) das taÙtÒn und der Kausalsatz als zwei parallele Glieder der Begründung. Auch wenn jede einzelne dieser Schwierigkeiten anhand von Parallelen als lösbar erwiesen werden würde (was der Autor erreicht zu haben glaubt), wäre die vorgeschlagene Interpretation des Satzes, in der alle drei schwierigen Erscheinungen zugleich vorkommen, sehr unwahrscheinlich. Wenig überzeugend und unklar ist auch die Verbindung von V. 34 mit den folgenden Sätzen, die eine Begründung für die These „die Erkenntnis hat Bestand“ (8.34b) liefern sollen, s. bes. S. 181-183 mit Anm. 59, S. 187-190.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 77: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 121

als sinnlos“ (A. Graeser 1977, S. 152). Während die Interpreten sich größtenteils darüber einig sind, dass die Aussage oÙ g¦r ¥neu toà ™Òntoj (...) eØr»seij tÕ noe‹n sich auf ein notwendiges Verhältnis (dessen genauer Charakter jedoch vom Sinn des unpräzisen Ausdrucks oÙk ¥neu abhängt)303 zwischen dem Seienden und dem Denken bezieht, bereitet der Satz ™n304 ïi pefatismšnon ™st…n, als dessen Subjekt meist nÒhma aus V. 34 oder tÕ noe‹n aus V. 36 ergänzt wird, erhebliche Schwierig-keiten: Er scheint zu besagen, dass das Denken im Seienden „ausgesprochen“ ist: „Denn nicht ohne das Seiende, in dem es ausgesprochen ist, wirst du das Denken fi nden“ (bzw. „denn ohne das Seiende, in dem es ausgesprochen ist, wirst du das Denken nicht fi nden“). Wie zahlreiche Forscher zugeben, scheint diese Feststellung auf den ersten Blick ein offenkundiger Irrtum zu sein: Es sei das Seiende, das im Denken ausgesprochen wird, und nicht umgekehrt das Denken im Seienden305. Versteht man unter dem ™Òn das absolute Parmenideische Seiende, dann ist es nach G. Calogero (1970, S. 6) „ganz sinnlos“ zu behaupten, das Denken sei in ihm „ausgesprochen“ oder „ausgedrückt“306.

Die verschiedenen Vorschlage zur Lösung dieses Problems lassen sich zu drei Haupttypen zusammenfassen: 1) dem „syntaktischen“, in dem die Syntax des Nebensatzes neu gedeutet wird, 2) dem „semantischen“ (bzw. „syntaktisch-se-

303 Der Homerische Ausdruck oÙk ¥neu wird unterschiedlich gedeutet. Nach A.H. Coxon (1986, S. 209) drückt er die kausale Rolle des Seienden aus (vgl. die Homerische Phrase oÜ toi ¥neu qeoà ¼de ge boul»). Die Phrase wird oft als „du wirst x nicht fi nden, ohne gleichzeitig y zu fi nden“ („wenn du x fi ndest, fi ndest du auch y“) expliziert; so z. B. L. Tarán (1965, S. 128: „for you will not fi nd thinking without (fi nding) Being“; P. Thanassas 1997, S. 87: nicht nur „ohne Sein wäre das Denken kein Denken“, sondern auch: „überall wo Denken zu fi nden ist, wird auch immer das ™Òn angetroffen“). Andere verstehen die Formulierung als „du wirst x nicht fi nden, das ohne y wäre (vgl. z. B. K. Bormann 1971, S. 83: „Ohne das Seiende gibt es das richtige noe‹n nicht. Denken, in dieser Bedeutung verstanden, ist immer Denken des Sei-enden“). Manche Forscher halten den Ausdruck oÙk ¥neu für metaphorisch (so übersetzt z. B. L. Woodbury 1971, S. 151: „thinking can never be found ‚with‘ anything else [sc. außer dem Seienden]“; „there cannot be anything else, ‚with‘ which thinking might be found“, ohne den Sinn des in Anführungszeichen gesetzten „with“ näher zu bestimmen). Dazu kommen noch andere mögliche Bedeutungen von ¥neu. So schlägt z. B. U. Hölscher (1968, S. 99; vgl. jedoch 1969, S. 25 und 98) vor, es als „außerhalb“ zu übersetzen („Du wirst das richtige Denken nicht auffi nden, wenn du abseits vom Seienden gehst“); nach LSJ s. v. ¥neu III ist diese Bedeutung hauptsächlich prosaisch, aber der Stil des Parmenides galt im Altertum als prosaisch (s. H. Diels 1897, S. 4-7).

304 N.-L. Cordero (1984, S. 113, Anm. 15 und S. 118; 2004, S. 10-13; 2004b, S. 84, 87ff.) bevorzugt die bei Proklos überlieferte Lesart ™f' ïi. Der Vorschlag fand nur wenige Anhänger (L. Couloubaritsis 1986, S. 238 u. Anm. 82; J.A. Palmer 1999, S. 48 u. Anm. 34), denn die als viel bessere Quelle geltenden Simplikios-Kodizes verzeichnen konsequent die Lesart ™n ïi. S. auch die Kritik bei P. Aubenque (1987, S. 122, Anm. 62) und M. Conche (1996, S. 164).

305 S. z. B. K. v. Fritz (1938, S. 97); J. Jantzen (1976, S. 97); K. Bormann (1971, S. 80); H.-G. Gadamer (1991, S. 22); N.-L. Cordero (2004b, S. 87).

306 J. Dalfen (1994, S. 207) erklärt mit derselben Entschiedenheit: „Der Nachweis, dass diese Wortgruppe [sc. tÕ noe‹n ™n tù ™Ònti fat…zetai] im Griechischen eine sinnvolle Aussage bildet, dürfte kaum zu erbringen sein“.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 78: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

122 Aletheia: Denken und Sein

mantischen“), der hauptsächlich auf der Exegese der Termini und Ausdrücke des Satzes beruht, und 3) dem „logischen“, nach dem der Terminus ™Òn in V. 35 eine spezielle Deutung verlangt.

1) Als Vertreter des ersten Interpretationstyps schlug H. Fränkel in der ersten Version seiner „Parmenidesstudien“ (1930, S. 190) vor, den Relativsatz nicht als von toà ™Òntoj abhängig, sondern als Objekt zu eØr»seij aufzufassen; demzufolge würde als Subjekt des Nebensatzes nicht tÕ noe‹n, sondern tÕ ™Òn307 fungieren, während tÕ noe‹n als Apposition zu verstehen wäre: „Denn nicht ohne das Seiende wirst du das worin es ausgesprochen Ist fi nden: das Erkennen“308. Eine andere, zeitweise auch von H. Fränkel angenommene Lösung stammt von U. Hölscher (1968, S. 99f. und 1969, S. 25): Das Subjekt des Nebensatzes sei pefatismšnon309, während œstin das Prädikat bilde („Pefatismšnon ™n tù ™Ònti œstin heißt: ‚Ein Gesagtes ist – hat Bestand oder beruht – im Seienden‘“); demnach besage der Satz in V. 35-36: „denn nicht ohne das Seiende, worin eine Aussage ihr Sein hat, wirst du das Erkennen fi nden“310. Keiner der beiden Vorschläge scheint jedoch überzeugend.

Mehr Anerkennung fand die Interpretation von P. Albertelli (1939, S. 141), der den Satz ™n ïi pefatismšnon ™st…n als ™n toÚtJ Ö pefatismšnon ™st…n, also „in dem, was gesagt ist“ („in ciò che è detto“) expliziert311. Dies führt zu einem Satz wie „in dem, was ausgesagt ist, wirst du das Denken ohne das Seiende nicht fi nden“312 (bzw. „in dem, was ausgesagt worden ist“, d. i. in der schon vorgetra-genen Rede der Göttin313), der die These implizieren würde, das Denken könne

307 Von der Auffassung, dass das Denken nicht Subjekt des Nebensatzes in V. 35 ist, gehen auch L. Woodbury (1971, S. 152f.), nach dem das Subjekt „the real world“ ist („the real world is expressed in that-which-is (…). Thinking must take the form „it-is“, because the real world is „expressed in“ that-which-is, and consequently in the thought, „it-is“; zur Kritik vgl. z. B. L. Tarán 1965, S. 126) und H.-G. Gadamer (1991, S. 22), nach dem als Subjekt das Seiende aufzufassen ist (früher hielt er diese Auffassung – sc. dass es das Seiende sein soll, das im Denken ausgedrückt ist, und nicht umgekehrt – für eine Wirkung „des subjektivistischen Vorurteils der Neuzeit“, idem, 1968, S. 384), aus.

308 Diese Interpretation gab er später aufgrund der Kritik von K. v. Fritz (1938, S. 97f.) auf (vgl. H. Fränkel 1960, S. 195: „innerhalb dessen es (= das Erkannte) ausgesagt ist“). K. v. Fritz argumen-tierte seinerseits (1938, S. 99), entsprechend der von Parmenides angenommenen Identität von tÕ noe‹n und tÕ ™Òn beziehe sich der Nebensatz sowohl auf das Denken als auch auf das Seiende. Auch er gab diese wenig überzeugende Interpretation später auf (vgl. K. v. Fritz 1974).

309 Vgl. H. Fränkel (1962, S. 407: „innerhalb dessen das Behauptete besteht“); J. Barnes (1979, S. 179: „on which what has been expressed depends“), R. Cherubin (2001, S. 280: „on which pefatismšnon (that which is expressed) depends“).

310 Vgl. die Paraphrase des Satzes: „Im Seienden besteht die Richtigkeit einer Aussage [=Nebensatz in V. 35]. Ohne das Seiende gibt es keine Erkenntnis“ (U. Hölscher 1969, S. 98).

311 Oft wird bei dieser Deutung des Satzes auf Fr. 8.54 (™n ïi peplanhmšnoi e„s…n) verwiesen, das jedoch nicht in allem analog ist.

312 So u. a. L. Tarán (1965, S. 127f. und 1959/1960, S. 129).313 So u. a. K. Deichgräber (1983, S. 5f.: „Im Sinne des bisher Ausgeführten wird man – Beweis

für die Identität von Sein und Denkobjekt – kein Denken fi nden, das außerhalb des Seins Platz hätte“), P. Thanassas (1997, S. 91f.: „in dem, was gesagt ist“), A.A. Long (1996, S. 136: „in what has been said [i.e. the preceding arguments]“), D. Sedley (1999, S. 120: „in what has

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 79: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 123

in der Rede gefunden werden (obwohl auch eine Rede ohne Denken möglich sei314), und in der das Denken „enthaltenden“ Rede offenbare sich auch das Sei-ende315. Ganz klar ist diese Idee jedoch nicht; außerdem scheint der Nebensatz in V. 35 das notwendige Verhältnis von Denken und Sein auf die Sphäre des Logos zu beschränken. Die beiden Einwände werden auch durch den verwandten Vorschlag, die Phrase ™n ïi pefatismšnon ™st…n als „während bzw. indem316 (oder auch: dadurch, dass)317 es (sc. das Seiende) ausgesprochen ist“ mit modalem oder temporalem ™n ïi zu verstehen318, nicht beseitigt. Nach J. Dalfen (1994) wird die in V. 34 enthaltene These von der Erkennbarkeit des Seienden in V. 35-36 durch die Information ergänzt, „daß man auch die Tätigkeit und das Ergebnis des Noein erfassen kann, daß es sie gibt, nämlich dadurch, daß Seiendes ausgesprochen ist. Seiendes und Begreifen sind untrennbar, und auch Aussprechen und Begreifen sind untrennbar“ (S. 209). Unklar ist jedoch, warum die Frage des Zusammenhanges zwischen Denken und Sagen mitten in der Deduktion der Prädikate des Seienden behandelt werden sollte.

2) Zu den bekanntesten Auslegungen des Satzes ™n ïi pefatismšnon ™st…n, die auf einer neuen Exegese seiner Termini, bes. fat…zein und ™n ïi, beruhen, gehört die Interpretation von A.P.D. Mourelatos (1970, S. 171f.), nach dem ™n ïi ... ™st…n in V. 35 den idiomatischen Sinn „to depend on, to rely upon, to be under the authority of “319 aufweist, während er für das Verb fat…zw, dessen Partizip pefatismšnon als participium coniunctum320 aufgefasst wird, die Bedeutung „I

been said – that is, in the goddess’ arguments so far“); ähnlich KRS (1983, S. 252: „in all that has been said“). M.C. Stokes (1971, S. 313f.) interpretiert ™n ïi als ™n toÚtwi ™n ïi im Sinne von „in the [conditions and circumstances]“, daher seine Paraphrase: „without Being, in the state in which I have described it, you will not fi nd thought“.

314 L. Tarán (1959/60, S. 129) erläutert: „lo ‚que no es‘, no se puede pensar ni expresar; luego, en tanto pensamos, pensamos ‚que es‘; puesto que si pensáramos ‚que no es‘, en esto que expresamos (que no es) no habría pensamiento“.

315 „Cioè, l’espressione, perchè non sia un nome vano, deve essere manifestazione di pensiero, ma il pensiero c’è come pensiero di ciò che è, cioè dell’essere, perchè null’altro è o sarà eccetto l’essere“ (P. Albertelli 1939, S. 147). L. Tarán (1965, S. 128) interpretiert „what has been expressed“ als „Gedanke“ (nÒhma), dann würde aber der ganze Satz besagen, dass im Denken kein Denken ohne das Seiende gefunden werden kann – der Nebensatz von V. 35 würde nur eine überfl üssige Wiederholung liefern.

316 H.-G. Gadamer (1991, S. 22f.).317 J. Dalfen (1994, S. 208).318 Vgl. auch A.H. Coxon (1986), nach dem der Nebensatz in V. 35 unpersönlich ist und als

„when one thing has been said of another“ (S. 70) zu übersetzen ist. Zu seiner Interpretation der Verse 35-36 („The same is for conceiving as is the cause of the thought conceived; for not without Being, when one thing has been said of another, will you fi nd conceiving“, S. 70) und ihrem Zusammenhang mit V. 34 s. ibidem S. 209f.

319 Diese Bedeutung von ™n ïi ... ™st…n wird auch von den schon oben zitierten Autoren J. Barnes (1979, S. 179) und R. Cherubin (2001, S. 280) angenommen.

320 Vgl. die Übersetzung von DK (1961, S. 238: „denn nicht ohne das Seiende, in dem es als Aus-gesprochenes ist, kannst du das Denken antreffen“); so auch J. Jantzen (1976, S. 99: „Du wirst nicht ohne das Seiende, in dem es als Ausgesagtes ist, das Denken fi nden“) sowie J. Mansfeld

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 80: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

124 Aletheia: Denken und Sein

give, I bestow, I commit, I entrust“ annimmt („a pefatismšnon nÒhma would be a thought not only ‚spoken‘ or ‚declared‘, but also ‚bestowed‘ or ‚committed‘“). Demnach bedeutet der ganze Satz: „for not without what-is, to which it stands committed, will you fi nd thinking“ (S. 179)321. Die Aussage soll eine Begründung für die These des Autors liefern, dass „™Òn is not just available, it is what always compels and attracts mind“.

Sowohl der Vorschlag von Mourelatos als auch andere Auffassungen, die für das Verb fat…zein322 oder für den Ausdruck ™n ïi323 eine andere als die übliche Bedeutung annehmen, scheinen jedoch zu arbiträr. Die postulierten Bedeutungen werden durch ihren unmittelbaren Kontext keineswegs nahe gelegt, und der durch die Annahme dieser Bedeutungen erhaltene Sinn des Satzes scheint immer noch nicht klar genug.

3) Für den letzten Typ der Interpretation von Fr. 35-36a kann die Auffassung von E. Heitsch (1991) als paradigmatisch gelten, der gesteht: „Für das Verständ-nis des problematischen Relativsatzes aber sehe ich keine andere Möglichkeit, als anzunehmen, Parmenides habe hier sagen wollen, daß das Erkennen im Sein, d.h. mittels des Wortes ‚Sein‘ ausgesprochen wird“ (S. 123). Als Vorläufer dieser Interpretationsrichtung, die auch von A. Graeser (1977, S. 152-154), D. O’Brien (1987, S. 54 u. 228)324 und P. Aubenque (1987, S. 121-125) vertreten wird, könnte G. Calogero gelten325 (auch wenn die genannten Autoren sich gegenüber

(1964, S. 84: „ohne das Seiende, in dem es als Gesagtes ist, wirst du das Denken nicht fi nden“ und 1995, S. 13: „Denn nicht ohne das Seiende, bezüglich dessen es als Ausgesagtes Bestand hat, wirst du das Erkennen fi nden“).

321 Diese Auslegung des Satzes akzeptiert P. Curd (1998, S. 32: „for not without being, to which it is committed, will you fi nd thinking“).

322 Nach K. v. Fritz (1974, S. 47) ist für das Verb fat…zein die Bedeutung „to unfold“ anzuneh-men; demnach bedeute der Satz: „there can be no noein without its object, the eon, in which it unfolds itself “. Nach K. Bormann (1971, S. 83f.) muss die Aussage, das Seiende sei im Denken „ausgesagt“, bedeuten, dass es in ihm „dargelegt, verkündet, mitgeteilt“ sei, damit der Satz überhaupt einen Sinn hat. Der Satz besage demnach: „Das Kennen des Seienden ist im Seienden mitgeteilt oder dargelegt: Was über das Seiende gewußt werden kann, ist im Seienden als dem Grund des noe‹n enthalten“.

323 Nach W.K.C. Guthrie (1965, S. 39), der sowohl für fat…zein als auch für ™n ïi verschiedene Bedeutungen zulässt, bedeutet der Satz in V. 35-36: „for without that which is, in which [i.e. in dependence on, or in respect of which] it is expressed [or revealed], thou shalt not fi nd thought“, d. i. „for thought depends on ‚what is‘ – a real object – for its fulfi llment, unfolding or expression“ (S. 40). ™n ïi wird auch von F.M. Cornford (1939, S. 34) als „in respect of which“ übersetzt; vgl. „as to which“ bei J. Burnet (1908, S. 200); kritisiert wurde diese Interpretation schon von W.J. Verdenius (1964, S. 39). Vgl. auch „bezüglich dessen“ von J. Mansfeld (1995, S. 13); als „im Hinblick auf “ paraphrasiert den Ausdruck J. Jantzen (1976, S. 98f.).

324 „(...) le penser est exprimé «dans l’être», en ce sens que l’on ne peut exprimer sa penseé que si l’on affi rme «est»“ (D. O’Brien 1987, S. 54; vgl. jedoch S. 228).

325 Fr. 35-36a diente G. Calogero (1970, S. 6ff.) als Grundlage seiner Hauptthese, nach der das Parmenideische Seiende zumindest ursprünglich das Sein der Kopula ist; das ™Òn, von dem in V. 35 die Rede ist, sei „das Sein des Urteils, nämlich der Affi rmation“ (S. 6), das lediglich eine äußerlich ontologisierte Form angenommen habe (S. 12). Dem Sein der Kopula habe

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 81: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 125

seiner Auslegung sehr kritisch äußern326); in mancher Hinsicht scheint ihr auch die Konzeption J.H.M.M. Loenens nahe zu stehen327. Die von den Vertretern dieses Interpretationstyps angenommene Lösung, die gegenüber den anderen Deutungen des Satzes den Vorteil bedeutend größerer Einfachheit aufweist, stößt jedoch auf zwei schwerwiegende Probleme.

Das erste bezieht sich auf den tieferen Sinn der Aussage in V. 35-36a: Warum soll es unmöglich sein, das Denken ohne das Wort „ist“, „in dem es ausgedrückt ist“, zu „fi nden“? Die Vertreter dieser Interpretation sind sich über diese Frage nicht einig. So antwortet z. B. E. Heitsch (1991, S. 124), die „Erkenntnis“ (noe‹n) sei in dem Wort „ist“ „ausgedrückt“, weil die „Erkenntnis besagt: Es ist oder es ist nicht, oder: es gibt oder es gibt nicht“. P. Aubenque (1987, S. 124) glaubt dagegen, dass das wahre Denken immer von „ist“ als Ausdruck seines Bezugs auf die Wahrheit begleitet werde („Aucune pensée n’est pas possible sans l’affi rmation concomitante, implicite ou explicite, que ce qu’elle pense est vrai, c’est-à-dire «est», œsti“328), während A. Graeser (1977, S. 154) behauptet, dass „sich noe‹n sinnvoll immer nur im Bereich dessen bewegt, was ist, und dass entsprechend das Denken (...) dessen, was ist (...), sprachlich immer nur vermittels eines ‚ist‘ artikuliert und ausgesprochen werden kann“. D. O’Brien (1987, S. 54) betont noch stärker den Aspekt der Möglichkeit des Ausdrucks des Denkens: „si l’on veut exprimer son «penser», on ne peut faire autrement que de dire et de penser «est»“, was jedoch zu einer Trennung zwischen Denken und Sprechen führt, die in der „Aletheia“ nicht nachweisbar ist329.

Parmenides die wahre Realität zugeschrieben: „(...) versteht sich, daß dieses Sein, das er in der verbalen Form des Urteils als universell entdeckt hatte, von ihm ohne weiteres als die absolute Realität des Wahren erkannt worden ist“ (S. 8). Als seinen Vorgänger betrachtete Calogero vor allem E. Hoffmann (1925, S. 8-15), der das Parmenideische Seiende ebenfalls aus dem „ist“ des Urteils (A „ist“ B) herleitete und glaubte, dass das Seiende, in dem das Denken ausgesagt sei, das Sein des Logos sei. Zu den Unterschieden zwischen Hoffmann und Calogero äußert sich G. Calogero selbst (1970, S. 6-8, Anm. 9). Zur Kritik an Calogero s. L. Tarán (1965, S. 124f.), J. Jantzen (1976, S. 96, Anm. 5), A. Graeser (1977, S. 153), P. Thanassas (1997, S. 28f.), K. v. Fritz (1938, S. 95-98).

326 S. z. B. A. Graeser (1977, S. 153f.), der die Interpretation von Calogero als zu einseitig und anachronistisch bezeichnet: Zu Parmenides’ Zeit habe keine Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen von „ist“ bestanden.

327 Nach J.H.M.M. Loenen (1959, S. 43) sind die Verse 35-36 nur dann sinnvoll, wenn unter tÕ ™Òn die Idee des Seienden verstanden wird: „In fact, the view that thought is expressed in the idea (in the sense that thought expresses itself in the idea) can readily be understood, whilst it decidedly cannot be said that it expresses itself in reality“. Nach dem Autor ist das Parmenideische Seiende „weiterhin“ eine „logisch-ontologische Einheit“; die beiden Aspekte werden von ihm „noch“ nicht unterschieden (S. 45), die Idee des Seienden von der mit ihr korrespondierenden Wirklichkeit nicht getrennt (S. 46). Der Satz in V. 35-36 besagt, dass „noe‹n expresses itself exclusively in the idea of being, and not in other ideas“.

328 Und: „Le œsti est le pefatismšnon, le «dit» dans lequel, et dans lequel seulement, la pensée trouve son expression légitime, c’est-à-dire le sceau de sa «vérit黓 (ibid.).

329 G. Calogero (1970, S. 7) glaubt, dass „dieses [sc. Denken] sich nicht aktualisieren kann, ohne Form anzunehmen in einer Affi rmation, deren wesentlicher Bestandteil das Verbum ‚sein‘ ist,

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 82: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

126 Aletheia: Denken und Sein

Das zweite ernsthafte Problem, auf das der „logische“ Typ der Interpretation des Nebensatzes in V. 35 stößt, betrifft den Zusammenhang zwischen den Versen 35-36a und den folgenden Versen 36bff.330: Wie kann die Behauptung, es gebe kein Denken ohne das Wort „ist“, ein logisches Glied in der Deduktion der Ei-genschaften des Seienden bilden? Soll der Satz in V. 35-36 keine vom Kontext isolierte, für sich stehende Aussage darstellen, muss Parmenides unterstellt werden, dass er das Wort „ist“ noch nicht vom Seienden im Sinne der Wirklichkeit habe unterscheiden können331. Sollte jedoch Parmenides diese Unterscheidung nicht durchgeführt haben, wie kann dann seine These vom „Seienden, in dem das Denken ausgesagt ist“ (V. 35) als auf das Wort „ist“ bezogen verstanden werden332? Und schließlich: Auch wenn eine Art der Identifi zierung von „ist“ und Sein bei Parmenides durchaus denkbar ist, kann sie mit einer Verwechslung „auf der vor-refl exiven Stufe“ (E. Heitsch 1991, S. 123) kaum gleichgesetzt werden.

Das schwerwiegende Problem des Zusammenhangs zwischen dem Abschnitt 34-36a, der schon für sich eine große interpretatorische Herausforderung darstellt, und dem folgenden Satz in V. 36bff. stellt sich nicht nur bei der zuletzt dargestell-ten Interpretationsrichtung, sondern bei allen Auslegungen des Fragments, die die traditionelle Lesart von V. 36b-38a, oÙd{n g¦r <À> œstin À œstai / ¥llo p£rex toà ™Òntoj, ™peˆ tÒ ge Mo‹r' ™pšdhsen / oâlon ¢k…nhtÒn t' œmenai, akzeptieren.

weil es die allgemeine und universelle Form jeder möglichen Qualifi kation oder jedes möglichen Prädikats ist (...)“ (Vgl. auch E. Hoffmann 1925, S. 8ff.).

330 Es ist außerdem bemerkenswert, dass die Vertreter der dargestellten Auffassung sich nicht über die Interpretation von V. 34 einig sind. Er wird u. a. wiedergegeben durch „Dasselbe ist Denken und der Gedanke, daß ist“ (G. Calogero 1970, S. 12; ähnlich P. Aubenque 1987, S. 123f. und D. O’Brien 1987, S. 40), „Dasselbe aber ist Erkennen und das, woraufhin Erkenntnis ist“ (E. Heitsch 1991, S. 31) oder „Zu denken und dass das Gedachte ist, ist dasselbe“ (A. Graeser 1977, S. 151).

331 E. Heitsch, nach dem die Verse 35-36 eine Begründung der These von der Identität von Denken und Sein liefern, erklärt, „auf der vorrefl exiven Stufe“ seien Sprache und Dinge noch nicht getrennt (1993, S. 123), wenn also die These „Erkennen und das, weswegen es Erkennen gibt, sind identisch“ (V. 34) von Parmenides mit dem Satz „Denn Erkennen ist immer Erkennen von Etwas“ begründet werde, dann werde dieses „etwas“ mit dem Wort „sein“ verwechselt. Vgl. auch A. Graeser (1977, S. 152f.), nach dem der Ausdruck ™Òntoj „ambigue“ ist: Er bezeichne sowohl das bezeichnete Ding (das Seiende) als auch den sprachlichen Ausdruck selbst (das Wort „sein“ oder „seiend“). P. Aubenque (1987, bes. S. 123f.) beschränkt die Bedeutung von ™Òntoj auf die Ebene der Sprache, zeigt jedoch nicht, wie eine solche „logische“ Refl exion mit dem Rest der Deduktion zu verbinden ist. D. O’Brien (1987, S. 54 und 228) versucht seinerseits, den Unterschied zwischen œstin und ™Òn, und damit zwischen dem logischen und dem onto-logischen Bereich, zu nivellieren: „Il me semble qu’affi rmer «est» équivaudrait, pour la déesse, à concevoir implicitement «être»“ (1987, S. 228). Die These, dass das Denken ein Denken des „ist“ sein muss (V. 34), werde demnach mit der Behauptung begründet, das Denken müsse das Seiende zum Gegenstand haben (V. 35-36).

332 G. Calogero nimmt an, dass Parmenides, der den logischen und den ontologischen Sinn von „ist“ nicht unterschieden habe, im Rahmen einer und derselben Aussage zwischen den beiden Bereichen hin und her gesprungen sei, so dass die logische Aussage in V. 35-36 mit einer on-tologischen These in V. 36-38 begründet werden könne.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 83: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 127

Die mehrdeutige These „du wirst das Denken nicht ohne das Seiende fi nden“, die eine Begründung für die in V. 34 dargestellte Relation zwischen Denken und Sein liefert, wird in den so gelesenen Versen ihrerseits begründet: „denn nichts anderes ist oder wird sein außer dem Seienden (bzw. außerhalb des Seienden)“ (V. 36b-37a), denn dieses ist ganz und unbeweglich (V. 37b-38a).

Während der erste Teil dieser Begründung (V. 36b-37a) logisch wenig befriedi-gend333 und mehrdeutig334 ist, scheint der zweite (V. 37b-38a) auf den ersten Blick beinahe sinnlos. J.H.M.M. Loenen (1959, S. 115) stellt offen fest, dass es „pure nonsense“ wäre, zu behaupten, es gebe nichts außer dem Seienden, weil dieses ganz und unbeweglich sei. In zahlreichen Arbeiten wird auf eine Erklärung des logischen Zusammenhanges zwischen den beiden Thesen einfach verzichtet335; K. Reinhardt (1985, S. 255, Anm. 1) schlägt dagegen vor, den mit ™peˆ tÒ ge ... beginnenden Satz (V. 37b-38a) nicht als Begründung der ihm vorangehenden (V. 36b-37a), sondern der ihm folgenden These (V. 38b-41: tîi p£nt' etc.) anzusehen336.

333 Nach der häufi gsten Interpretation schließt Parmenides aus der Tatsache, dass es „nichts außer dem Seienden gibt“, dass sich das Denken „in dem Seienden“ „befi nden“ müsse (vgl. z. B. R. Falus 1960, S. 279: „Es gibt nichts ausserhalb des ‚Seienden‘ (...); in diesem ‚Seienden‘ existiert also das Denken“), woraus folge, dass das Denken mit dem Seienden identisch sei (vgl. z. B. J. Mansfeld 1964, S. 84: „Dies wieder impliziert, daß auch das Denken als solches nicht neben oder außer dem Seienden gefunden werden kann. Es ist im Seiendem gesagt und deshalb mit dem Seienden identisch“). Unklar ist hier sowohl das „im-Seienden-Sein“ des Denkens als auch der Sinn der daraus geschlossenen Identität sowie die Frage, in welcher Weise das eine aus dem anderen folgt. L. Tarán (1959/60, S. 129) hält den Satz in 8.36b-37a nicht für eine Begründung, sondern für eine Schlussfolgerung aus V. 34-36a (g£r in V. 36 wird in seiner Übersetzung ausgelassen). Ähnlich schon G. Calogero (1970, S. 9 und 37): Der Satz stelle eine Konsequenz aus V. 35-36a dar und liefere eine Begründung für die folgenden Aussagen.

334 Bei einem anderen Verständnis von V. 35 stellt sich die Argumentation anders dar: Da es nichts außer dem Seienden gibt (V. 36b-37a), kann das Seiende keinen anderen Gegenstand haben (V. 35) und muss insofern Denken des Seienden sein (so N.-L.Cordero 2004, S. 7 und D. O’Brien 1987, S. 228: „... on ne saurait exprimer une pensée qui n’a pas pour l’objet l’être (...), car (...) il n’y a rien d’autre qui puisse se présenter comme objet de la pensée, si ce n’est l’être“). Vgl. auch O. Gigon (1968, S. 267). Eine wieder andere Interpretation schlägt J. Jantzen (1976, S. 100) vor.

335 S. z. B. K. Bormann (1971, S. 168-171); vgl. den Versuch einer Explikation bei J. Barnes (1979, S. 206) und L. Tarán (1965, S. 140f.). Bei letzterem Autor werden die oben erwähnten Schwierigkeiten ersichtlich; so schreibt er z. B., dass der ™pe…-Satz „is supposed to remind us not only of the characteristics oâlon and ¢k…nhton, but also of the rest …“ (S. 141), „... Being is the only thing there is, because it is ¢gšnhton, ¢nèleqron, etc.“ (ibidem). An anderer Stelle konstatiert er: „Parmenides left this characteristic [sc. die Einzigkeit des Seienden] as the last to be demonstrated because it is appropriate to introduce it once it has been proved that Being is ¢gšnhton, ¢nèleqron, oâlon, ¢k…nhton and telestÒn. In this case the characteristic of uniqueness follows by itself without a special demonstration“ [Hervorhebung M.M-R.] (S. 140f.).

336 Zu den philosophisch interessanten, aber für die Untersuchung der Parmenideischen Argumen-tation in Fr. 8.34-38 wenig hilfreichen Versuchen, einen direkten logischen Zusammenhang zwischen dem Verhältnis von Denken und Sein (8.34-36a) und den in V. 38 genannten At-tributen des Seienden nachzuweisen, s. P. Curd (1998, S. 90 u. 32) und A. P. D. Mourelatos (1970, S. 174f.).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 84: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

128 Aletheia: Denken und Sein

Unklar bleibt auch die logische Beziehung zwischen dem bisher dargestell-ten, ersten (V. 34-38a) Abschnitt des Passus 34-41 und seiner zweiten Hälfte (V. 38b-41): tîi p£nt' Ônom(a) œstai, / Óssa brotoˆ katšqento pepoiqÒtej e"nai ¢lhqÁ, / g…gnesqa… te kaˆ Ôllusqai, e"na… te kaˆ oÙc…, / kaˆ tÒpon ¢ll£ssein di£ te crÒa fanÕn ¢me…bein, sowie die genaue Bedeutung der letzteren. Nach der am weitesten verbreiteten Interpretation bezeichnet p£nta in V. 38 die Worte und Ausdrücke, die in den letzten beiden Versen aufgezählt werden: „Werden sowohl als Vergehen, Sein sowohl als Nichtsein, Verändern des Ortes und Wechseln der leuchtenden Farbe“ (DK 1961, S. 238). Das den Satz einleitende tîi wird von den Anhängern dieser Auffassung auf zwei verschiedene Weisen interpretiert. Nach der ersten hat es die Bedeutung „darum“: „Darum wird alles bloßer Name sein, was die Sterblichen in ihrer Sprache festgesetzt haben, überzeugt, es sei wahr: Werden sowohl wie Vergehen, Sein sowohl als Nichtsein etc.“ (DK 1961, S. 238); Ônoma wird hier als „leerer Schall“337, „bloßer Name“338, „nur Name“339, „empty names“340, „Benennungen“, denen „nichts in der Wirklichkeit entspricht“341, „mere verbiage“342 paraphrasiert bzw. übersetzt. Der Satz wird somit als Schlussfolgerung aus dem vorher Gesagten verstanden. Es ist jedoch nicht klar erkennbar, woraus diese gezogen werden sollte: aus dem Verhältnis zwischen Denken und Sein (V. 34-36a)343, aus der Einzigkeit des Seienden (V. 36b-37a)344 oder aus dessen Attributen „ganz und unbeweglich“ (V. 37b-38a)345. Im Lichte der in der vorliegenden Arbeit durchgeführten Untersuchung zum Status des Namens in der Parmenideischen Philosophie kann zudem auch die These, Ônoma sei der Defi nition nach einem „leeren Schall“ (bzw. dem nwm©n glîssan von Fr. 7) gleichzusetzen und dem noe‹n entgegenzusetzen, nicht akzeptiert werden346.

337 H. Diels (1897, S. 39).338 DK (1961, S. 238); E. Heitsch (1991, S. 173; vgl. S. 175).339 G. Scuto (2005, S. 44).340 L. Tarán (1965, S. 131f.); F.M. Cornford (1939, S. 34).341 K. Bormann (1971, S. 246, Anm. 11).342 J. Barnes (1979, S. 207); M.C. Stokes (1971, S. 140). 343 So z. B. J. Barnes (1979, S. 207): „(...) from line 34 we can infer the contents of 39-41; for if every

thought implies ‚O exists‘, then those mortals’ utterances which imply the contradictory – ‚O does not exist‘ – cannot be deemed to carry coherent thoughts at all; they are ‚a name‘, mere verbiage, unbacked by any intelligible content“ [Hervorhebung M.M-R.].

344 So L. Tarán (1965, S. 141): „(...) all the things that mortals believe are true are mere names, in consequence of the uniqueness of Being“ [Hervorhebung M.M-R.].

345 Vgl. K. Bormann (1971, S. 169): „Da das Seiende ganz, unbeweglich und einzig ist, sind die im Doxa-Teil dargelegten Meinungen der Menschen Namen, die nicht vom richtigen noe‹n verliehen wurden“ [Hervorhebung M.M-R.].

346 Vgl. oben, Kap. 3.2.4. Auffallend ist außerdem, dass die in V. 40-41 aufgezählten Ausdrücke, die angeblich „leere“, von den Menschen festgesetzte „Namen“ sind, de facto den göttlichen Vortrag, pistÕj lÒgoj ºd{ nÒhma konstituieren (das Seiende ist nicht entstanden, wird nicht vergehen, ändert sich nicht etc.).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 85: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 129

Auf weitere Schwierigkeiten dieser Interpretation verwies L. Woodbury (1971) schon in den 50er Jahren, indem er nach dem genauen Sinn der Qualifi zierung der in den V. 39-41 genannten institutions of speech als „Namen“ fragte und be-tonte, dass der Text keinerlei Grundlage für die Interpretation des Wortes Ônoma als „leerer Name“ bzw. „Name ohne Bedeutung“ bietet. Wie aber ist Ônoma dann zu verstehen? „If ‚Name‘ means no more than ‚word‘, then the lines make a true, but empty and tautologous, statement. If, on the other hand, it means what it says, we are left to conjecture of what the institutions of speech can be a name“ (S. 146).

Des Weiteren wies Woodbury auf die größte Schwierigkeit hin: Unter den genannten „leeren Namen“, vermeintlich Namen ohne Bedeutung und reales De-signat, erscheint explizit e"nai (V. 40), das in der Philosophie des Parmenides das wahre Denken und Sagen überhaupt ermöglicht (vgl. v. a. Fr. 2 und 8.15-18).

Dieses schwerwiegende, trotz zahlreicher Versuche347 bisher nicht gelöste Pro-blem brachte L. Woodbury zu einer neuen Auslegung der Verse, die auf einer textkritischen Entscheidung beruht: Den ursprünglichen Text präsentiere nicht die Version tîi p£nt' Ônom(a) œstai, sondern die alternative, besser bezeugte348 Lesart tîi p£nt' ÑnÒmastai. Zu übersetzen wäre der Passus demnach als „with reference to it (tîi)349 are all the names given that mortal men have instituted, in the belief that they were true, becoming and perishing, being and not-being etc.“ (L. Woodbury 1971, S. 149f.).

Diese inzwischen populär gewordene Auffassung350 stößt jedoch auf genauso große Schwierigkeiten wie die erste: Warum sollten die genannten institutions of speech („Werden und Vergehen, Sein und Nichtsein“ etc.) Namen des unge-

347 Dazu s. W.K.C. Guthrie (1965, S. 40); D. J. Furley (1973, S. 7, Anm. 23); G. Calogero (1970, S. 7, Anm. 9); vgl. auch W. J. Verdenius (1964, S. 53); G.E.L. Owen (1960, S. 85, Anm. 1); M.C. Stokes (1971, S. 140 mit Anm. 109); P. Aubenque (1987, S. 119, Anm. 53). Am häu-fi gsten wird die Auffassung vertreten, dass das „Sein“ nur wegen der Zusammenstellung mit dem „Nichtsein“ ein leerer Name sei. Dagegen spricht jedoch, dass in den übrigen parallelen Ausdrücken (z. B. „Werden und Vergehen“) jedes Glied für sich als leerer Name gelten müsste, und außerdem „(…) ‚Being‘, even if mortals take it as complementary with ‚not-Being‘, can hardly be counted among wrong or ‚mere‘ names“ (A. Finkelberg 1988, S. 55, Anm. 44). Vgl. auch die Versuche einer Erklärung bei K. Bormann (1971, S. 169) und L. Tarán (1965, S. 137) sowie die Kritik von B. Jones (1973, S. 289f.).

348 Diese Lesart wird bei Simpl. Phys. 146 von allen drei Kodizes (D, E, F: çnÒmastai) und in Phys. 87 von einem Kodex (E: ÑnÒmastai) überliefert. Nach manchen Forschern spricht das Zitat aus dem Platonischen „Theaetet“ (180e 1) für die traditionelle Lesart (so u. a. A.H. Coxon 1986, S. 211, E. Heitsch 1991, S. 157), sein Wert für die Herstellung des authentischen Texts des Parmenides ist jedoch fragwürdig (s. J. Jantzen 1976, S. 100). S. auch die Argumente für die Version von Woodbury bei A.P.D. Mourelatos (1970, S. 181f.). Zur Form ÑnÒmastai (so auch in Fr. 9.1) s. A.H. Coxon (1986, S. 232f.).

349 Zu den grammatischen Problemen dieser Übersetzung s. unten, Kap. 3.3.2.2.3.3.350 Vertreten u. a. von P. Curd (1998, S. 89f.), A.P.D. Mourelatos (1970, S. 180-193), U. Hölscher

(1969, S. 25 und 99f.), D.J. Furley (1973, S. 7), J. Jantzen (1976, S. 100-103), P. Thanassas (1997, S. 244f.), D. Sedley (1999, S. 120f.); vgl. D. Gallop (1984, S. 10 und 70f.).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 86: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

130 Aletheia: Denken und Sein

wordenen, unveränderlichen Seienden sein? Und wie ist diese Feststellung, die doch impliziert, dass sie ein durchaus reales Designat haben, mit der Aussage zu vereinbaren, dass sie nicht wahr sind (V. 39)?351

Nach L. Woodbury (1971, S. 150) sind die Namen zwar „false and decepti-ve“, aber sie enthalten „the light of truth“, das jedoch „inevitably snuffed out by contradictions“ ist. Nach D. Gallop (1984, S. 10) „all mortal names have been applied in a dim or groping apprehension of the one reality“. J. Jantzen (1976, S. 102f.) erklärt: „Die Namen, welche die Menschen geben, sind falsch, aber sie wurzeln nicht in Fiktionen; denn sie intendieren das Seiende“, und „sie (sc. die menschlichen Doxai) intendieren das ™Òn, denn indem sie sprechen, haben sie es schon verloren“. Diese und ähnliche Versuche352, die genannte Schwierigkeit zu lösen, sind höchst unplausibel353.

Angesichts der gravierenden Schwierigkeiten bei der Interpretation des Passus 8.34-41 bleibt auch seine Funktion innerhalb von Fr. 8 unverständlich: „Der Gedankenfortschritt nach der vorhergehenden Deduktion des Seienden scheint unklar, der Zusammenhang unterbrochen, zumal da Parmenides hinterher mit der Beschreibung des Seienden fortfährt (8.42)“, stellt U. Hölscher fest (1969, S. 97). Die Auffassung, nach der das Ziel des Abschnittes im Beweis der Einzigkeit des

351 A.P.D. Mourelatos (1970, S. 188-191) führt als Parallele für Fr. 8.38ff. die Fragmente B 8 und B 9 von Empedokles (in Wirklichkeit gebe es kein Entstehen und Vergehen, sondern nur Mischung und Austausch der Elemente; dies nennen die Menschen „Entstehung“) an (vgl. auch Xenophanes B 32: Was die Menschen als „Iris“ bezeichnen, sei in Wirklichkeit ein Ne-bel). Diese Parallele ist jedoch nicht ganz überzeugend, da Empedokles die Referenz zwischen den von den Menschen verwendeten Bezeichnungen und dem Bezeichneten in Frage stellt: Die menschlichen Bezeichnungen („Entstehen“, „Vergehen“) haben also in Wirklichkeit kein Designat. Parmenides soll dagegen – nach der dargestellten Interpretation von V. 38-41 – zwar die Wahrheit der menschlichen Bezeichnungen verneinen, aber zugleich behaupten, sie hätten ein reales Designat, das lediglich ein anderes sei, als es die Menschen annähmen („ihm ist alles zugesprochen...“ – die Aussage in V. 38 präsentiert sich als objektive Tatsachenfeststellung). Damit die Fragmente des Empedokles als Parallele für Parmenides Fr. 8.38-41 gelten könnten, müssten sie also eine wirkliche Referenz zwischen dem Namen „physis“ und dem Phänomen der Mischung der Elemente postulieren („der Name fÚsij bezieht sich in Wirklichkeit auf die Mischung“). Eine solche Interpretation der Intention des Empedokles wäre jedoch falsch, denn er akzeptiert diese Beziehung nur als eine Konvention und behauptet offen, dass sie in Wirklichkeit nicht besteht (B 9.5). Auf Empedokles Fr. B 8 beruft sich auch U. Hölscher (1969, S. 99, Anm. 92), der jedoch fälschlich annimmt, dass to‹j in V. 4 sich auf die Elemente und nicht auf m…xij und di£llaxij bezieht.

352 Ähnlich vage äußert sich P. Curd: „(...) mortal thought, inadequate though it might be, aims at or tries to reach what-is“ (P. Curd 1998, S. 89, Anm. 64); („(...) they [sc. mortals] are attempting to name or describe what-is, even when they do not realize it. (...) they do not understand that their attempts fail when they try to name what-is in affi rming things that have characters that come to be and pass away, change place and color. These names fail to connect with anything, because they attribute to what-is characteristics that entail that what-is is not“ (S. 90).

353 J. Barnes (1979, S. 333, Anm. 11) spricht von einem „remarkably feeble sense“ dieser Inter-pretationen.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 87: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 131

Seienden zu sehen ist354, wurde mit Recht kritisiert355. Noch weniger überzeugt jedoch die Meinung, dass der achtzeilige, mitten in der Deduktion gelegene Passus einen dem Thema des Denkens gewidmeten Exkurs darstellt356 oder gar „keinen neuen Punkt in die Deduktion bringt“, sondern diese – allerdings in sehr unge-nauer Weise – zusammenfasst357. Deshalb werden immer wieder methodologisch inakzeptable Versuche unternommen, den ganzen Abschnitt an eine andere Stelle von Fr. 8 zu verschieben358.

Der im Folgenden durchgeführte Versuch, den Passus 8.34-41 neu zu interpre-tieren, folgt einem diesen Ansätzen entgegengesetzten methodologischen Prinzip: Nicht die Position des isoliert untersuchten Abschnitts soll an seinen vermeintli-chen Sinn angepasst werden, sondern der Abschnitt muss von Anfang an stärker als gewöhnlich mit seinem ursprünglich überlieferten Kontext verbunden werden (dieser Grundsatz wird auch von U. Hölscher, A.P.D. Mourelatos, J. Wiesner und anderen Forschern, die das Seiende für das Subjekt des Satzes in V. 34 halten, anerkannt). Den Ausgangspunkt unserer Interpretation bildet die Beobachtung, dass die zentrale Aussage des Abschnittes 8.34-41, „es ist ja nichts und wird nichts anderes sein außerhalb des Seienden“, auf einem konjizierten Text beruht, der aller Wahrscheinlichkeit nach die Hauptquelle der dargestellten Probleme bei der Auslegung von Fr. 8.34-41 ist. Die Wiederherstellung des ursprünglichen Texts würde den Sinn der Stelle und dadurch die Struktur des ganzen Abschnitts 34-41 erhellen, was ein besseres Verständnis von Fr. 8.34-36a ermöglichen könnte.

354 So u. a. L. Tarán (1965, S. 140), K. Bormann (1971, S. 170), J. Wiesner (1970, S. 3f., 24f.), M. Kraus (2005, S. 255).

355 J. Barnes (1979, S. 206: „If they are intended as Parmenides’ main statement of monism, they are placed in a strangely inconspicuous position“). S. auch P. Curd (1998, S. 91f.).

356 So u. a. J. Jantzen (1976, S. 94: „eine Theorie des Denkens und des Sprechens, die deren ontologische Funktion enthüllt“); P. Curd (1998, S. 89: „connection between thinking and what-is“); A.P.D. Mourelatos (1970, S. 165: „Parmenides’ central statement of the relation of mind to reality, B8.34-41“); vgl. auch H. Fränkel (1960, S. 195: „(...) daß auch das Denken (...) nichts anderes ist als bewußtes Sein“).

357 KR (1957, S. 277: „a summary recapitulation of the main steps in the argument“; S. 278: „It is only in the last clause, di£ te crÒa fanÕn ¢me…bein, ‚a change of bright colour‘, that we fi nd a new point“); J. Barnes (1979, S. 20: „Lines 34-41 do not introduce any new matter into the Way of Truth“); ähnlich J.H.M.M. Loenen (1959, S. 113f.), D. Gallop (1984, S. 13), G.E.L. Owen (1960, S. 97), M.C. Stokes (1971, S. 139), W.K.C. Guthrie (1965, S. 40). Da eine Zu-sammenfassung der Deduktion nicht vor ihrem Ende stattfi nden sollte, führt diese Auffassung dazu, dass der gesamte Schlussteil der Deduktion geringer eingeschätzt wird; s. z. B. J.H.M.M. Loenen (1959, S. 113f.), D. Gallop (1984, S. 13).

358 T. Ebert (1989) schlug eine Verschiebung zwischen V. 52 und 53 vor (so schon G. Calogero, Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa 1936, S. 177, non vidi). Mit diesem Vorschlag sympathisiert auch J. Barnes (1979, S. 180), der auf die Stelle zwischen V. 49 und 50 verweist; in den 90er Jahren wurde seine Hypothese von P. Thanassas (1997, S. 85 mit Anm. 144 und S. 104, Anm. 2) akzeptiert; vgl. P.A. Meijer (1997, S. 81: V. 42-49 nach V. 33, danach Fr. 4; V. 34-41 hinter Fr. 4). Zur Kritik an Eberts Vorschlag s. J. Wiesner (1996, S. 156ff.).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 88: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

132 Aletheia: Denken und Sein

3.3.2.2 Fr. 8.36a-41: Sein und Zeit bei Parmenides

3.3.2.2.1 Fr. 8.36b-37a im Lichte der Textkritik

Die Stelle Fr. 8.36b-37a, die den Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung bilden wird, lautet nach den meisten Ausgaben, auch bei Diels-Kranz: oÙd{n g¦r <À> œstin À œstai / ¥llo p£rex toà ™Òntoj. Diese Version des Textes – ohne das erste À, das das Resultat einer Konjektur im 19. Jh. darstellt – wird von Simplikios in seinem Kommentar zu Aristoteles’ Physik (Simpl. Phys. 86) überliefert, der aber an einer anderen Stelle desselben Kommentars (Phys. 146) die Verse in folgender Form anführt: oÙd' e„ crÒnoj ™stˆn À œstai / ¥llo p£rex toà ™Òntoj. H. Diels (1897, S. 85f.), für den die Wahl zwischen „den beiden seltsam abstehenden Vari-anten“ noch nicht entschieden war, nannte zwei Argumente gegen die Lesart mit crÒnoj: 1) die Schwierigkeiten bei der Einordnung des Satzes in den Kontext; 2) den Umstand, dass im Kontext der Frage der Zeit nur Präsens und Futur (™stˆn À œstai), nicht aber die Vergangenheit aufgezählt werden. Trotzdem scheinen die Argumente, die gegen die inzwischen allgemein akzeptierte Lesart oÙd{n g£r etc. sprechen, viel gewichtiger: 1) die Lesart oÙd' e„ crÒnoj ™st…n stellt die lectio diffi cilior dar; 2) im Gegensatz zur ersten Version gibt sie einen metrisch korrekten Text; 3) sie stammt aus einer glaubwürdigeren Quelle, nämlich aus einer Stelle, in der das vollständige Fragment 8 überliefert wird (Phys. 145-146), während die erste Version in einer Untersuchung des Begriffs des Einen angegeben wird, wo Simplikios, um die Richtigkeit seiner neuplatonischen Auslegung des Parmenideischen Gedankens aufzuweisen, sich nur kurzer, aus dem Zusammenhang gerissener Zitate bedient, den Text teilweise paraphrasiert und in seine eigenen Sätze einschließt359. In dieser Situation scheint die Hypothese von A.H. Coxon (1986, S. 210), dass die oÙdšn-Version nicht den ursprünglichen Text des Parmenides, sondern den des Simplikios selbst darstellt360, sehr plausibel, vor allem im Hinblick auf die Schwierigkeit, die Genese der Diskrepanz zwischen den beiden Versionen des Textes zu erklären. Dementsprechend lässt sich in den 90er Jahren ein schnell wachsendes Interesse für die Lesart mit crÒnoj beobachten361.

359 So schreibt er z. B. direkt nach der Stelle, an der er Fr. 8.25 zitiert: kaˆ ¢dia…retÒn ™stin, ™peˆ p©n ™stin Ðmo‹on (Fr. 8.22) (Phys. 86); der Parmenideische Text lautet jedoch eigentlich: oÙd{ diairetÒn ™stin... etc. (vgl. Phys. 143 u. 145).

360 Ähnlich verhält es sich mit Fr. 8.4 und dem Text von Plutarch (Adv. Colot. 1114c: œsti g¦r (oÙlomelšj ... etc.)), der u. a. von DK (1961, S. 235) als Parmenideisch akzeptiert wurde; dazu S. D. O’Brien (1987, S. 34).

361 M. Conche (1996, S. 126 und S. 165-167), P. Thanassas (1997, S. 125f. mit Anm. 43), D. Sedley (1999, S. 120f.). Vgl. zuvor schon A.H. Coxon (1934, S. 138f., Anm. 7 und 1986, S. 210f.), J.H.M.M. Loenen (1959, S. 114f.) und P.B. Manchester (1979, S. 85).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 89: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 133

3.3.2.2.2 Der Streit um die Zeit in der Parmenides-Forschung

Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass sich im Zentrum des Passus, der nach allgemeiner Auffassung das Fundament der Parmenideischen Konzeption des noe‹n bildet, eine Phrase befi ndet, die die Zeit thematisiert und die Aussagen über das Denken (8.34-36a) und über die Namen (8.38-41) voneinander zu trennen scheint, wobei der Zusammenhang zwischen den drei Abschnitten unklar bleibt. Zur Erforschung der Parmenideischen Thesen vom Denken erweist es sich also als notwendig, den Sinn der kontroversen Phrase genau zu untersuchen, also den Bereich unseres direkten Interesses vorläufi g zu verlassen und uns dem Problem der Zeit bei Parmenides zuzuwenden.

„Parmenides did not face the problem of time“ – dieses kategorische Urteil von L. Tarán (1965, S. 188) führt uns unmittelbar auf den modernen Streit um den Status der Zeit in der Charakteristik des Parmenideischen Seienden. Berücksichtigt man, dass bis zur Mitte des 20. Jhs. die unumstrittene Auffassung vorherrschte, das unentstandene, unvergängliche, unteilbare, einzigartige und unveränderliche Seien-de sei für Parmenides nicht der Zeit unterworfen und in diesem Sinne „ewig“362, machen Taráns Worte zudem die ungewöhnlich starke Polarisierung der Positionen in diesem Streit deutlich.

Laut der traditionellen Auffassung folgt das Attribut der Zeitlosigkeit einerseits aus den übrigen Attributen des Seienden, andererseits ist es in Fr. 8.5-6: oÙdš pot' Ãn oÙd' œstai, ™peˆ nàn œstin Ðmoà p©n, / ›n, sunecšj363 (DK 1961) enthalten, das als Ausschließen von Vergangenheit und Zukunft, d. h. der Zeit, aus dem Bereich des Seienden interpretiert wird: Das Seiende existiere im ewigen „Jetzt“ und unterliege keiner zeitlichen Abfolge364. Nach dieser Interpretation, in der die Platonische Ablehnung von Ãn und œstai in Bezug auf das ewige Wesen des

362 Bis 1960 (zur Bedeutung des Datums s. u.) u. a. H. Diels (1897, S. 86), der jedoch sowohl von „Aufhebung der Zeit“ als auch von „zeitliche[r] Endlosigkeit“ (S. 75) sprach; A. Patin (1899, S. 534-556); E. Hoffmann (1925, S. 9 mit Anm. 2); G. Calogero (1970, S. 67-72 mit Anm. 5); KR (1957, S. 272-275); J.H.M.M. Loenen (1959, S. 62f.); W.R. Chalmers (1960, S. 16); W. Kneale (1960/61, S. 87-92) (auf weitere ältere Forscher verweist L. Tarán 1965, S. 175, Anm. 1).

363 „… und es war nie und wird nie sein, weil es im Jetzt zusammen vorhanden ist als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes“ (DK 1961, S. 235).

364 So beispielsweise schon A. Patin (1899, S. 536: „die absolute Gegenwart, das zeitlose Sein“), G. Calogero (1970, S. 67: „Überlegenheit über die Zeit, Gegenwart ohne Vergangenheit und ohne Zukunft“), J.H.M.M. Loenen (1959, S. 62f., mit Anm. 128, er spricht sogar von sempiternitas im Gegensatz zu aeternitas), W. Kneale (1960/61, S. 87-92: „the timeless present employed by mathematicians“). Nach manchen Forschern wird die Idee (auch) in Fr. 8.19-20 ausgedrückt; so auch schon A. Patin (1899), für den sich dort der „Nachweis der absoluten Zeitlosigkeit“ fi ndet, der „dem ewigen Sein alle Zeitteile entzieht und nur die Gegenwart lässt“ (S. 555).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 90: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

134 Aletheia: Denken und Sein

„Timaios“365 als direkt von Parmenides inspiriert erscheint, wird die traditionelle Formel der Ewigkeit („war immer, ist und wird immer sein“), die nicht nur bei Homer366 und Heraklit367, sondern interessanterweise auch bei Melissos368 begegnet, an dieser Stelle ausdrücklich negiert.

Diese Interpretation wurde von Hermann Fränkel in der zweiten Version seiner „Parmenidesstudien“ (1960) in Frage gestellt: Das Wort potš in 8.5 zeige, dass das Seiende nicht von Vergangenheit und Zukunft überhaupt frei sei, sondern nur von einer Begrenzung seiner Dauer innerhalb der Zeit369, was bedeute, dass Parmenides weder Zeit noch die traditionelle Ewigkeitsformel leugne.

Diese Auffassung sehen H. Fränkel und seine Anhänger durch ihre Beob-achtungen an der von Parmenides bei der Deduktion des Seienden verwendeten Sprache bestätigt, die ihrer Auffassung nach durchaus zeitliche Kategorien enthält: Das Seiende ist „jetzt“ (nàn, Fr. 8.5)370, ihm wird endloses Dauern und Behar-ren (¥narcon ¥pauston 8.27371; taÙtÒn t' ™n taÙtîi te mšnon kaq' ˜autÒ te

365 „... das ‚es war‘ und das ‚es wird sein‘ sind Begriffe, die aus der Zeit entstanden sind, die wir, ohne uns dessen bewußt zu sein, unrichtigerweise auf das ewige Sein übertragen. Wir sagen nämlich von ihm, daß es ‚war‘ und ‚ist‘ und ‚sein wird‘, während ihm doch, wenn wir uns richtig ausdrücken, nur das ‚es ist‘ zukommt; das ‚es war‘ aber und das ‚es wird sein‘ dürfte man wohl nur von dem Werden in der Zeit sagen; denn beide bezeichnen Bewegungen. Doch dem, das sich unbeweglich immer gleich verhält, kommt es nicht zu, durch die Zeit älter oder jünger zu werden, noch daß es das je einmal oder jetzt geworden ist oder daß es das später einmal sein wird...“ (Tim. 37 e 4 – 38 b 5) (Übers. R. Rufener).

366 K£lcaj Qestor…dhj o„wnopÒlwn Ôc' ¥ristoj, Öj Édh t£ t' ™Ònta t£ t' ™ssÒmena prÒ t' ™Ònta (Il. 1.69f.). Vgl. Hes. Th. 38.

367 kÒsmon tÒnde, tÕn aÙtÕn ¡p£ntwn, oÜte tij qeîn oÜte ¢nqrèpwn ™po…hsen, ¢ll' Ãn ¢eˆ kaˆ œstin kaˆ œstai pàr ¢e…zwon, ¡ptÒmenon mštra kaˆ ¢posbennÚmenon mštra (Heraklit, DK 22 B 30). Nach manchen Forschern (z. B. A. Patin 1899, S. 536; W.R. Chalmers 1960, S. 16, Anm. 1) wird diese Herakliteische Formel von Parmenides direkt kritisiert.

368 Óte to…nun oÙk ™gšneto, œsti te kaˆ ¢eˆ Ãn kaˆ ¢eˆ œstai kaˆ ¢rc¾n oÙk œcei oÙd{ teleut»n, ¢ll' ¥peirÒn ™stin (Melissos, DK 30 B 2).

369 H. Fränkel (1960, S. 191, Anm. 1). Nach Fränkel bedeutet Fr. 8.5-6: „… und es gibt nicht ein Sein das nur während irgend einer vergangenen Zeit bestand oder erst in irgendeiner zu-künftigen bestehen wird, weil jetzt alles Sein insgesamt besteht als ein einziges Kontinuum“. Überdies wurde darauf hingewiesen, dass Fr. 8.5-6, das vermeintlich vom zeitlosen Sein handelt, ein Teil der ausschließlich gegen Entstehen und Vergehen gerichteten Beweisführung sei (L. Tarán 1965, S. 178; M. Theunissen 1991, S. 100), folglich: „… what is there asserted is not the doctrine of atemporality, but only that Being was not once (not being now), which constitutes a denial of Ôleqroj, nor will it be (not being now) which constitutes a denial of gšnesij“ (L. Tarán 1965, S. 177-179; ähnlich M. Theunissen 1991, S. 97f.); so schon P. Albertelli (1939, S. 143f., Anm. 11). D. O’Brien (1987b, S. 144-147) glaubt, dass aus diesem Fragment die Omnitemporalität des Seienden folgt („... puisqu’il existe « maintenant », n’a pas été « à un moment <unique> » du passé; donc il a été toujours. Il ne sera plus « à un moment <unique> » de l’avenir; donc il sera toujours“, S. 158). Zur Kritik dieser Auffassungen s. Ch.H. Kahn (1968, S. 128) und A.P.D. Mourelatos (1970, S. 106).

370 L. Tarán (1965, S. 178f.; 1979, S. 48); M. Theunissen (1991, S. 98f.); D. O’Brien (1987b, S. 160f.); M.C. Stokes (1971, S. 129f.). So schon H. Cherniss (1957, S. 22, Anm. 46).

371 L. Tarán (1965, S. 180).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 91: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 135

ke‹tai / coÜtwj œmpedon aâqi mšnei 8.29-30372) sowie indirekt auch eine Zukunft (oÙd{n g¦r <À> œstin À œstai / ¥llo p£rex toà ™Òntoj, 8.36-37)373 zugesprochen. Von einer atemporalen, adurativen Ewigkeit könne also nicht die Rede sein – das Seiende fülle die Zeit vollständig aus, transzendiere sie aber nicht. Dabei geben die Anhänger dieser Auslegung zu, dass der Parmenideische Begriff des unverän-derlichen Seienden Zeitlosigkeit tatsächlich impliziert – sie glauben jedoch, dass der Eleate noch nicht imstande war, diese Implikation wahrzunehmen: Keine Aussage seines Gedichtes belege das Bewusstsein eines logischen Zusammenhanges zwischen Zeit und Veränderung374.

An der langjährigen Diskussion, die mit dem Stichwort „atemporal eterni-ty or perpetual duration?“ zusammengefasst wird375, beteiligten sich zahlreiche Forscher376. Das Ausbleiben eines eindeutigen Resultats scheint einen objektiven Grund zu haben: Die Interpretation der gewöhnlich diskutierten Abschnitte (v. a. Fr. 8.5-6 und 8.19-20) ist nicht nur kontrovers – sie scheint für die eventuelle Lösung überhaupt nicht ausschlaggebend, denn keiner von ihnen thematisiert die Zeit direkt. Es ist jedoch umso erstaunlicher, dass man in der Diskussion eine andere Passage außer Acht gelassen hat, die als einzige eine eindeutige Lösung des Problems enthalten könnte: Es handelt sich um die Verse 8.36b-37a, für die, wie oben erwähnt, eine alternative, die Zeit (crÒnoj) ausdrücklich nennende Lesart überliefert ist377. Obwohl diese Lesart in der neueren Literatur immer öfter akzeptiert wird378, hat erst P. Thanassas (1997, S. 117-128) sich im Kontext der Diskussion über die Frage der Zeit auf sie berufen. Ausgehend hiervon soll im Folgenden eine neue Interpretation des ganzen Passus 8.36b-41 vorgeschlagen werden, die nicht nur eine eindeutige Antwort auf die Frage des Status der Zeit in der Deduktion des Seienden liefert, sondern auch auf einige bisher nicht erkannte Elemente der Parmenideischen Doktrin hinweist.

372 L. Tarán (1965, S. 180, Anm. 12), M. Theunissen (1991, S. 105-108).373 L. Tarán (1965, S. 181).374 M. Theunissen (1991, S. 92), L. Tarán (1979, S. 47). Vgl. auch P. Albertelli (1939, S. 144):

„L’extratemporalità presuppone il concetto del tempo come misura del movimento, il concetto della idealità del tempo, cioè qualcosa che poteva affacciarsi soltanto con Platone“; sehr ähnlich sprach sich L. Tarán (1965, S. 180) aus.

375 Vgl. den Titel des Aufsatzes von L. Tarán aus dem J. 1979: Perpetual Duration and Atemporal Eternity in Parmenides and Plato.

376 Gegen die Auffassung von der zeitlosen Ewigkeit (seit 1960) u. a.: L. Tarán (1965 und 1979), M. Schofi eld (1970), M.C. Stokes (1971), D. Gallop (1984), M. Matthen (1986), D. O’Brien (1980 und 1987b), M. Theunissen (2002, vgl. 1991); die traditionelle Meinung verteidigten u. a. W.K.C. Guthrie (1965, S. 29f.), G.E.L. Owen (1966), Ch. H. Kahn (1968), O. Gigon (1968, S. 261), R. Sorabji (1983), L. Groarke (1985 und 1987), R.C. Hoy (1994), M. Kraus (2005). Vgl. auch A.P.D. Mourelatos (1970, S. 103-111), der versuchte, eine Mittelposition auszuarbeiten.

377 Gelegentlich geschah dies ganz bewusst (s. z. B. G.E.L. Owen 1966, S. 319, Anm. 4: „If the variant (...) could be made plausible it would entail a clarity on Parmenides’ part about the issue (...) which I have thought better not to assume“).

378 S. oben, Kap. 3.3.2.2.1.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 92: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

136 Aletheia: Denken und Sein

3.3.2.2.3 Vorschlag einer neuen Deutung von Fr. 8.36b-41

3.3.2.2.3.1 Fr. 8.36b-37a – Text und Syntax

Die von H. Diels genannten Schwierigkeiten der crÒnoj-Version des Textes (3.3.2.2.1), von denen die erste (Einordnung des Satzes in den Kontext) grund-legend ist, wurden bisher nicht gelöst. So versucht z. B. P. Thanassas (1997, S. 117-132), den Satz mit dem vorangehenden Argument zu verbinden: „denn nicht ohne das ™Òn wirst du das Denken fi nden, auch wenn Zeit etwas anderes ist oder sein wird außer dem ™Òn“379; während J.H.M.M. Loenen (1959, S. 115) den Satz als „‚not even if time elapses‘ (between different mental acts by which the idea of being is conceived in an empirical succession) ‚(yet) in truth there will be no other (idea of being) besides (the one idea of ) being‘“ verstand, was niemanden überzeugte380. Diese Schwierigkeiten brachten A.H. Coxon zu der Überzeugung, dass auch der in Phys. 146 überlieferte Text emendiert werden müsse: Er schlug vor – an Stelle von oÙd' e„ – oÙdš zu lesen („And time is not nor will be another thing alongside Being, since this was bound by fate to be entire and changeless“, 1986, S. 70-72). Doch auch in dieser Lesart ist die These nicht genügend mit ihrem Kontext verbunden381; M. Conche382 und D. Sedley383, die Coxons Kon-jektur akzeptieren, können dieses Problem ebenfalls nicht in zufrieden stellender Weise lösen. Ungeklärt scheint die Funktion der Phrase À œstai (eine rhetorisch wirkende Versicherung, die bei anderen Prädikaten nicht vorkommt) sowie des Prädikats ¢k…nhton (dessen Beziehung zur Zeit ganz äußerlich und zufällig zu sein scheint384); der Übergang von der Nichtexistenz (A.H. Coxon, D. Sedley) bzw. geringeren Existenz (M. Conche) der Zeit zu der „rein nominalen“ (A.H.

379 Der Verfasser gibt zu, dass bei seiner Interpretation der erste Einwand von Diels „nicht völlig beseitigt“ werden kann, will ihn jedoch durch die Verschiebung des ganzen Abschnittes nach Fr. 8.49 entkräften: „dann wird die Bezugnahme auf Zeit (...) verständlicher“ (S. 126, Anm. 43). Wie oben angedeutet, können wir dem Verfasser hierin nicht folgen. Überdies bleibt in der Interpretation von Thanassas die Funktion der Phrase À œstai („oder wird sein“) unklar.

380 Interessant scheint jedoch die Idee, den Satz in zwei Teile aufzuteilen (oÙd' e„ crÒnoj œstin, Ã œstai etc.), dazu vgl. unten.

381 Schon W.J. Verdenius (1964, S. 40, Anm. 1) stellte fest: „Coxon’s reading (…) gives no satis-factory connection either with the preceding or with the following words“.

382 M. Conche (1996, S. 128: „Et le Temps n’est ni ne sera une autre chose en plus de l’être“).383 D. Sedley (1999, S. 120: „Nor is there or will there be, time over and above what-is“). 384 Für M. Conche garantiert die Unveränderlichkeit (¢k…nhton) des Seienden lediglich die Stabilität

des ersten Prädikats (oâlon verstanden als saturé) und damit die des aktuellen Status der Zeit („le temps n’est ni ne sera quelque chose faisant nombre avec lui, s’y adjoignant“, S. 166). Eine ähnliche Rolle spielt das Attribut bei A.H. Coxon (1986): „time is not something extraneous to Being, because Being is complete, and it will not be so, because Being is unvarying“ (S. 210). Eine wesenhafte Beziehung zwischen der Unveränderlichkeit und der Negation der Zeit setzt nur D. Sedley (1999, S. 120f.) voraus.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 93: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 137

Coxon) bzw. geringeren (M. Conche) Existenz bzw. Nichtexistenz (D. Sedley) der phänomenalen Welt (8.38b-41) ist nicht klar und logisch fraglich385.

In zwei Punkten scheinen A.H. Coxon und seine Anhänger Recht zu ha-ben: Erstens ist es plausibel, anzunehmen, dass das Parmenideische Argument in Fr. 8.36b-37a eine Art Negation der Zeit enthält (oÙd' ... crÒnoj ™st…n); zweitens ist, wie daraus folgt, eine Emendation des Textes oÙd' e„ crÒnoj etc. erforderlich. An Stelle der Konjektur von Coxon (oÙdš crÒnoj ...) möchten wir jedoch eine andere Emendation vorschlagen: oÙd' oŒ crÒnoj ™st…n. Sie scheint insofern plau-sibler, als eine solche Aussage ein weiteres Prädikat des Seienden enthalten würde: „und für dies, sc. das Seiende, existiert die Zeit nicht“. Auch das mit der Deutung der Phrase À œstai verbundene Problem (sowohl das inhaltliche, von dem oben (3.3.2.2.1) gesprochen wurde, als auch das grammatische, denn man erwartet an dieser Stelle nicht ½, sondern oÙdš) lässt sich leicht beseitigen. Es genügt, auf die Voraussetzung zu verzichten, dass die Phrase œstin À œstai eine Einheit bildet – die Konjunktion ½ kann dann im Sinne von „sonst, andernfalls“386 aufgefasst werden. Diese Bedeutung von ½ begegnet im Kontext der logischen Argumentation z. B. bei Aristoteles (auch bei ihm tritt oft das Futurum in dem mit ½ beginnenden Satz auf )387; die Konstruktion dient dazu, eine These durch den Verweis auf die falschen oder gar absurden Konsequenzen der gegenteiligen Voraussetzung zu beweisen. Dementsprechend möchten wir den Parmenideischen Satz als oÙd' oŒ crÒnoj ™st…n, À œstai / ¥llo p£rex toà ™Òntoj lesen: „… und für dies existiert die Zeit nicht, oder es wird etwas anderes außer dem Seienden geben“ – was absurd wäre, denn neben dem, was ist, kann ja der Defi nition nach nichts anderes sein.

385 In der Interpretation von M. Conche soll die ‚geringere‘ Realität der phänomenalen Welt aus dem Status der Zeit folgen („Le temps n’a qu’une moindre réalité; c’est pourqoi (tù) le devenir aussi n’a qu’une moindre réalité: tout ce qui constitute le monde du devenir n’est que « nom »“ S. 171). A.H. Coxon (1986, S. 211) schildert den Verlauf der ganzen Argumentation in Fr. 8.34-41 folgendermaßen: „Having argued in ll. 34-38 that its object is prior to conceiving and that time has no being, P. [= Parmenides] draws the conclusion that all the things which human beings believe to be real and suppose to come into existence, change and perish will be found to have a purely nominal reality“. Noch anders fasst die Parmenideische Argumentation D. Sedley (1999, S. 120f.) auf: Aus der Negation einer separaten Existenz des Denkens (8.34-36) und der Realität der Zeit folge sowohl die Einzigkeit des Seienden als auch die These, dass alle von Menschen festgesetzten Ausdrücke (V. 40-41) sich auf das Seiende beziehen („since there is nothing else to talk about“).

386 Zu dieser Bedeutung s. LSJ s. v. ½ A 3 und Kühner-Gerth II, 2, § 538, 4.387 So beweist Aristoteles im zehnten Buch der „Metaphysik“ (1059a 1-6) z. B., dass „zerstörbar“

und „unzerstörbar“ keine Akzidentien sind, sondern den Dingen notwendigerweise zukommen: oÙd{n g£r ™sti fqartÕn kat¦ sumbebhkÒj: tÕ m{n g¦r sumbebhkÕj ™ndšcetai m¾ Øp£rcein, tÕ d{ fqartÕn tîn ™x ¢n£gkhj ØparcÒntwn ™stˆn oŒj Øp£rcei: À œstai tÕ aÙtÕ kaˆ |n fqartÕn kaˆ ¥fqarton, e„ ™ndšcetai m¾ Øp£rcein aÙtù tÕ fqartÒn („Denn für kein Ding ist die Ver-gänglichkeit ein Akzidens, weil es bei dem Akzidens möglich ist, daß es auch nicht vorhanden sei, das Vergängliche aber zu demjenigen gehört, das, wo es sich befi ndet, mit Notwendigkeit statthat. Denn sonst müßte ein und dasselbe Ding vergänglich und unvergänglich sein, wenn es möglich wäre, daß ihm das Vergängliche auch nicht zukomme“; Übers. H. Bonitz).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 94: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

138 Aletheia: Denken und Sein

3.3.2.2.3.2 Die Argumentation in Fr. 8.36b-38a

Die absurde Konsequenz der Existenz von etwas anderem neben dem Seienden im Falle, dass das Seiende der Zeit unterworfen wäre, wird von Parmenides auf die Tatsache zurückgeführt, dass das Seiende oâlon und ¢k…nhton ist. Beide Prädikate wurden schon früher von ihm bewiesen. Das erste, oâlon, im sog. „Programm“ der Deduktion (Fr. 8.4: oâlon mounogenšj t')388 angekündigt, wird in Fr. 8.22-25 zusammen mit mounogenšj („einzigartig“) nachgewiesen. Als sein Synonym erscheint dort der Ausdruck oÙd{ diairetÒn: „Ganz“ ist das, was unteilbar ist, was keine Teile aufweist389. Begründet wird das Prädikat mit dem Argument: ™peˆ p©n ™stin (oder: œstin) Ðmo‹on (8.22). Die „Ähnlichkeit“ des Seienden beruht offenbar auf dem unmittelbar zuvor durchgeführten Beweis, dass das Seiende „weder war noch wird sein“, sondern nur und als Ganzes „ist“ (Fr. 8.5-6; vgl. 8.19-20)390: Das, was wirklich ist, besteht nicht aus dem, was war, dem, was ist und dem, was erst sein wird. Wäre aber das Seiende der Zeit unterworfen, argumentiert weiter Parmenides, müsste es notwendigerweise in solche Teile zerfallen; wenn das je-doch ausgeschlossen ist, weil das Seiende oâlon – unteilbar – ist, müsste das, was war und was sein wird, neben dem Seienden als etwas von ihm Unterschiedenes existieren (œstai ¥llo p£rex toà ™Òntoj).

Das zweite Argument, das auf dem ebenfalls schon bewiesenen (Fr. 8.26-28) Prädikat ¢k…nhton („unbeweglich, unveränderlich“) basiert, scheint genauso ein-leuchtend: Was unveränderlich ist, kann nicht in der Zeit sein. Es setzt also die fundamentale Idee des Zusammenhanges zwischen Zeit und Veränderung voraus (dieselbe, die nach manchen Forschern Parmenides noch nicht kennen konnte). Was in der Zeit ist, verändert sich unaufhörlich, und zwar schon deswegen, weil es älter wird391; es unterliegt einer Serie von Umwandlungen (von S

1 zum

Zeitpunkt t1 zu S

2 zum Zeitpunkt t

2, S

3 zum Zeitpunkt t

3 etc.). Wird eine solche

Umwandlung des Seienden (S1 → S

2 → S

3) für unmöglich erklärt (¢k…nhton), folgt

daraus, dass mit jedem neuen Zeitpunkt (t2, t

3 etc.) etwas ganz Neues und vom

Seienden Unabhängiges zur Existenz gelangen müsste. Das wiederum bedeutet,

388 An dieser Stelle erweist es sich als notwendig, zusammen mit vielen anderen Forschern von dem bei DK akzeptierten Text (™sti g¦r oÙlomelšj) abzuweichen; dazu vgl. A. H. Coxon (1986, S. 61 und Komm. S. 195); K. Bormann (1971, S. 38 und Komm. S. 140f.); L. Tarán (1965, S. 82 und Komm. S. 88-93).

389 Wie oft betont wird (L. Tarán 1965, S. 190f., Anm. 40; J. Wiesner 1970, S. 23, Anm. 60; P. Thanassas 1997, S. 134, Anm. 58), divergiert der Parmenideische Sinn des Wortes von seiner für Plato und Aristoteles charakteristischen Bedeutung – bei diesen wird als „ganz“ dasjenige bezeichnet, dem kein Teil fehlt (oá ̈ n mšroj mhd{n ¢pÍ, Plato, Parm. 137c 7; oá mhd{n ¥pestin, Arist., Phys. 207a 9-10).

390 Zur Argumentation in diesem Abschnitt vgl. G.E.L. Owen (1960, S. 92f.) und Ch.H. Kahn (1968, S. 128).

391 Wie der Platonische Parmenides erklärt: was in der Zeit ist, wird notwendigerweise älter im Verhältnis zu sich selbst und zugleich jünger im Verhältnis zu sich selbst (Parm. 141a-b). Vgl. Tim. 38a 3-4.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 95: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 139

dass das Seiende, wenn es in der Zeit wäre, das Attribut der Einzigkeit nicht behalten könnte (œstai ¥llo p£rex toà ™Òntoj). Ein Echo der Argumentation fi ndet sich bei Melissos, nach dem das Seiende keinem Wandel unterliegen kann, da es sonst „nicht mehr eins wäre“ (oÙk ¨n œti |n e‡h, B 7): „Das vorher Seiende (tÕ prÒsqen ™Òn) müsste zugrunde gehen und das nicht Seiende (tÕ d{ oÙk ™Òn) entstehen“.

Auf diese Weise ergeben sich die Ganzheit (Unteilbarkeit) und Unveränderlich-keit (oâlon ¢k…nhtÒn te) des Seienden als Gründe der Unmöglichkeit der durch die Zeit bedingten Aufteilung und Veränderung eines und desselben Seienden, während zugleich die Defi nition des Seienden als „dessen, was ist“ nicht zulässt, dass das infolge der Wirkung der Zeit auf das unteilbare und unveränderliche Seiende Entstandene als etwas vom Seienden Unterschiedenes selbständig existiert. Damit ist erwiesen, dass das Seiende nicht der Zeit unterworfen sein kann: oÙd' oƒ crÒnoj ™st…n.

3.3.2.2.3.3 Die Bedeutung von Fr. 8.38b-41

Eine der Konsequenzen der vorgeschlagenen Deutung von V. 36b-38a ist eine neue Möglichkeit der Interpretation des letzten Teils des Abschnitts (38b-41). Oben wurde auf die inhaltlichen Probleme der beiden Auslegungen von V. 38b hingewiesen, bei denen die von Menschen festgelegten Ausdrücke („Werden und Vergehen, etc.“) als leere Namen (tîi p£nt' Ônom(a) œstai) bzw. Namen des Seienden selbst (tîi p£nt' ÑnÒmastai) interpretiert werden. Ausgelassen wurde jedoch vorläufi g die Frage der grammatischen Auffassungen der zweiten, von L. Woodbury vorgeschlagenen Interpretation des Verses („with respect to this (tîi) have all names been given (ÑnÒmastai)“392); diese Frage soll im Folgenden un-tersucht werden.

Bei der grammatischen Explikation ihrer Deutung des Satzes verweisen die Anhänger Woodburys auf die Konstruktion Ñnom£zein ™p… tini, bei der ein Verb des Nennens (Ñnom£zein, kale‹n) mit der Präposition ™p… auftritt, die den zu benennenden Gegenstand einführt. Der Satz „A (= Subjekt; Nom.) nennt B (= Objekt; Akk.) C (= Name; Akk.)“ erhält in dieser Konstruktion die Gestalt „A (Nom.) nennt C (Akk.) ™p… B (Dat.)“, bzw., im Passiv, „C (Nom.) wird genannt ™p… B (Dat.) (von A)“393. Es ist jedoch fraglich, ob der Satz tîi p£nt' ÑnÒmastai

392 Vgl. „… with respect to this thing have all names been spoken ...“ (A.P.D. Mourelatos 1970, S. 180-193); „Dem ist alles zugesprochen ...“ (U. Hölscher 1969, S. 25); „… it is this that has been called all those things ...“ (D.J. Furley 1973, S. 7); „Dem ist alles das als Name zu-gesprochen ...“ (J. Jantzen 1976, S. 100-103); „Von diesem [= ™Òn] wird all das gesagt ...“ (P. Thanassas 1997, S. 244f.); „Therefore it [i.e. what-is] has been named all the things ...“ (D. Sedley 1999, S. 120f.).

393 Vgl. z. B. Parm. Fr. 9.2.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 96: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

140 Aletheia: Denken und Sein

unter dieses Schema fällt: Ihm fehlt die Präposition ™p…394. Die Interpreten geben zu, dass bisher keine Parallele zu der von ihnen angenommenen Syntax gefunden wurde395.

Ein Substantiv im Dativ kann zwar neben einem Verb des Nennens durchaus auch ohne ™p… auftreten; ein solcher Dativ hat jedoch eine ganz andere Funktion als die, die ihm Woodbury zuschreiben möchte. So schreibt beispielsweise Aristo-teles, dass es im Griechischen keinen speziellen Namen zur Bezeichnung des die Relation des Vaters und der Kinder betreffenden Zweiges von o„konomik» gibt: kaˆ g¦r aÛth oÙk çnÒmastai „d…J ÑnÒmati (Polit. 1253b 10f.); in ähnlicher Weise schreibt Simplikios, dass Parmenides das Sinnliche nicht als Sein bezeich-nen wollte: tù toà Ôntoj ÑnÒmati tÕ a„sqhtÕn kale‹n (De cael. 558.16f.). Der in solchen Konstruktionen vorkommende Dativ ist instrumental aufzufassen: B wird benannt mithilfe von C (ÑnÒmati). Wird das tîi in V. 38 des Parmenides analog verstanden, ergibt sich ein Satz: „mit ihm (mit dessen Hilfe) wird alles benannt ...“ (tîi p£nt' ÑnÒmastai). (Dieselbe Konstruktion, in der als Dativ ein Pronomen – und nicht, wie in den angeführten Beispielen, der allgemeine Begriff ÑnÒmati – vorkommt, scheint in einem missverstandenen Satz des Empedokles vorzuliegen396.) Zu entscheiden bleibt, ob ein so gedeuteter Satz einen Sinn hat: also in erster Linie, was in diesem Falle unter p£nta und unter tîi zu verstehen wäre, was also „benannt wird“ und mit wessen Hilfe es „benannt wird“.

Wie oben erwähnt, werden nach den beiden oben dargestellten Auslegungen der Verse 38-41 als p£nta die Ausdrücke bezeichnet, die in den letzten beiden Versen als Apposition aufgezählt werden: „Werden und Vergehen, Sein und Nichtsein etc.“. Diese Interpretation, die auf die Notwendigkeit zurückgeführt werden kann, im Text Beispiele der „leeren Namen“ bzw. der Namen des Seienden selbst zu fi nden, erweist sich bei einer objektiven Überlegung als höchst unwahrscheinlich: Im Satz Óssa brotoˆ katšqento pepoiqÒtej e"nai ¢lhqÁ, / g…gnesqa… te kaˆ Ôllusqai, e"na… te kaˆ oÙc… etc. gibt es keinen Hinweis, dass die Infi nitive g…gnesqa… te kaˆ Ôllusqai etc. anders aufzufassen wären als der ihnen vorangehende Infi nitiv e"nai ¢lhqÁ. Folglich gehören auch sie zu der von pepoiqÒtej abhängigen ACI-Konstruktion: „alle [Dinge], die die Menschen angenommen haben, überzeugt, dass sie wirklich sind, dass sie entstehen und vergehen, sind und nicht (sind), den Ort verändern und die leuchtende Farbe wechseln“397. Damit ist die Frage nach

394 Dieses Fehlen versucht Woodbury mit Verweis auf den einfachen Dativ des Ausdrucks Ônoma t…qesqai (kale‹n etc.) tini (z. B. Parm. Fr. 19.3) zu begründen. Vgl. jedoch die Kritik von E. Heitsch (1991, S. 157).

395 So L. Woodbury (1971, S. 149 mit Anm. 14a u. 15), D. Furley (1973, S. 7, Anm. 22).396 DK 31 B 105.2. S. M. Marcinkowska-Rosół (demn.).397 Vgl. J. Owens (1975, S. 18ff.), D. Gallop (1984, S. 10 und 71). Vgl. A.H. Coxon (1986,

S. 211) und D. O’Brien (1987, S. 42 und S. 217, Anm. 2), die die Infi nitive für abhängig von katšqento halten („Therefore all those things will be a name, which mortals, confi dent that they are true, suppose to be coming and perishing, to be and not to be… etc. “, A.H. Coxon S. 72-74); doch ist diese syntaktische Konstruktion für das Verb katat…qhmi nicht belegt (s.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 97: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 141

dem Bezug von p£nta beantwortet: Es unterliegt keinem Zweifel, dass wir es hier mit einer Beschreibung der Dinge der phänomenalen Welt398 zu tun haben399, die diese Dinge dem Seienden gegenüberstellt.

Womit die Elemente der phänomenalen Welt benannt werden, lässt sich nun zweifelsfrei erkennen, wenn man den Satz in seinem sich aus der obigen Interpre-tation des Abschnittes ergebenden, neuen Kontext betrachtet:

(...) oÙd' oŒ crÒnoj ™st…n, À œstai ¥llo p£rex toà ™Òntoj, ™peˆ tÒ ge Mo‹r' ™pšdhsenoâlon ¢k…nhtÒn t' œmenai: tîi p£nt' ÑnÒmastai,Óssa brotoˆ katšqento pepoiqÒtej e"nai ¢lhqÁ,g…gnesqa… te kaˆ Ôllusqai, e"na… te kaˆ oÙc…,kaˆ tÒpon ¢ll£ssein di£ te crÒa fanÕn ¢me…bein.

(...) Und für dies gibt es keine Zeit, oder es wird etwas anderes außer dem Seienden geben, da eben dies Moira gebunden hat,ganz und unbeweglich zu sein. Damit werden alle [Dinge] bezeichnet,die die Sterblichen angenommen haben, überzeugt, dass sie wahr sind,dass sie entstehen und vergehen, sind und nicht sind,den Ort wechseln und die leuchtende Farbe ändern.

Für das Pronomen tîi in V. 38 bietet der so verstandene Text einen neuen und sehr interessanten Bezug: Nicht mit dem Seienden, sondern mit der Zeit werden alle Dinge der phänomenalen Welt „benannt“, „bezeichnet“ und „bestimmt“.

Nachdem Parmenides jede Beziehung zwischen Sein und Zeit abgelehnt hat (oÙd' oŒ crÒnoj ™st…n), defi niert er den Bereich der Geltung der Zeit als die Sphäre der Dinge, die nach der Meinung der Sterblichen entstehen und vergehen, sind und nicht sind, den Ort und die Farbe wechseln. Diese Charakteristik bildet ein auffal-

LSJ s. v.); vgl. auch die Bedeutung und Syntax des Verbs an anderen Stellen des Gedichtes (Fr. 8.53, Fr. 19.3).

398 Zur Qualifi zierung dieser Dinge als Óssa brotoˆ katšqento pepoiqÒtej e"nai ¢lhqÁ vgl. Melissos (DK 30 B 8): ... gÁ kaˆ Ûdwr kaˆ ¢¾r kaˆ s…dhroj kaˆ crusÒj ... kaˆ t¦ ¥lla, Ósa fasˆn oƒ ¥nqrwpoi e"nai ¢lhqÁ ...

399 Aus diesem Grunde wird diese grammatisch fast selbstverständliche Auffassung so selten ange-nommen; bei den beiden traditionellen Auslegungen von V. 38 stellt sich nämlich die schwierige Frage, was es bedeuten soll, von den Elementen der Welt zu behaupten, dass sie (leere) Namen bzw. Namen des Seienden sind. Nach J. Owens (1975) handelt es sich um eine Metapher: „To say that perceptible things are names is, of course, to use a metaphor. (...) What, then, is the ground of the metaphor? It has to be an analogy. The analogy, quite obviously, is that as names are to perceptible things, so perceptible things are to being“ (S. 19f.) und „(...) every perceptible object will be metaphorically a name for being“ (S. 22). A.H. Coxon (1986) erklärt den Sinn folgendermaßen: „all the things that human beings accept as real (...) are nothing but the subjects of the misleading propositions in which these beliefs are formulated“ (S. 209; ähnlich S. 212); das heißt, dass die Dinge eine „purely nominal reality“ haben (S. 211). D. O’Brien (1987, S. 217) schreibt von den „objets du monde sensible, dont ils sont persuadés qu’ils son vrais, mais qui, pour la déesse, ne seraient qu’un « nom »“, ohne den Sinn der in Anführungszeichen gesetzten Bezeichnung («nom») genauer zu erklären. Bei der unten vorgeschlagenen Deutung von V. 38 existiert dieses schwierige Problem nicht mehr.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 98: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

142 Aletheia: Denken und Sein

lendes Gegenstück zu der ihr vorangehenden Feststellung, dass das Seiende oâlon ¢k…nhtÒn te (8.38) ist, wodurch der ganze Abschnitt ein klares Prinzip gewinnt: den starken Kontrast zwischen dem Seienden und der phänomenalen Welt.

Im Gegensatz zu dem unbeweglichen und unveränderlichen (¢k…nhtÒn) Seien-den handelt es sich hier erstens um Dinge, die sowohl der Bewegung (8.41a) als auch einer qualitativen Veränderung (8.41b) unterliegen: Sie werden mit der Zeit anders. Zweitens sind es Dinge, die mit der Zeit entstehen und vergehen, sein und nicht sein sollen (8.40). Damit werden sie dem Seienden als einem „Ganzen“ (oâlon = oÙd{ diairetÒn) entgegengesetzt: Von ihnen wird sowohl gesagt, dass sie „sind“, als auch, dass sie „waren“ und „sein werden“ (wie Fr. 19.1-2 ausdrücklich besagt), also „nicht sind“; sie zerfallen damit in zeitlich defi nierte Teile. Diesen Dingen lassen sich sowohl eine Vergangenheit als auch eine Gegenwart und eine Zukunft zuschreiben. Damit wird impliziert, dass sie heute so sind, morgen anders sein werden bzw. nicht mehr sein werden usw. Sowohl die in solchen Ausdrücken enthaltenen Begriffe der Vergangenheit und Zukunft als auch Begriffe wie „heute“ und „morgen“ beziehen sich auf die Zeit: In dem bekannten Passus des „Timaios“ (37e) bezeichnet Platon die ersteren als e‡dh crÒnou, die letzteren (Tage, Nächte, Monate usw.) als mšrh crÒnou. Mit ihrer Hilfe – also streng genommen mithilfe der auf die Zeit bezogenen Ausdrücke (cronik¦ prosr»mata nennt sie Olympiodor, In Plat. Phaed. 13.2.12) und weniger strenggenommen (aber von dem antiken Usus, die das Anführungszeichen ersetzenden Wörter „Ausdruck“, „Begriff “ usw. wegzulassen400, nicht abweichend) mithilfe der Zeit – werden die Dinge der aus Feuer und Nacht zusammengesetzten Welt benannt und bestimmt, in der ’ Hmar und NÚx401 über den Rhythmus allen Geschehens entscheiden.

Dem logischen Charakter des „Aletheia“-Teils entsprechend, verlegt jedoch die Feststellung tîi p£nt' ÑnÒmastai die Frage der Beziehung zwischen Zeit und Welt auf die Ebene der Sprache. Es ist bemerkenswert, dass eine solche Auffassung auch für den oben erwähnten, „parmenideischen“ Passus des Timaios (37e-38a) charakteristisch ist: Fälschlich beziehen wir (fšrontej ... oÙk Ñrqîj) auf das ewige Wesen Vergangenheit und Zukunft, sagen (lšgomen) von ihm, dass es war und sein wird, während ihm nach der „wahren Rede“ (kat¦ tÕn ¢lhqÁ lÒgon) nur das „ist“ zusteht; so kann nur von dem gesprochen werden (pršpei lšgesqai), was in der Zeit entsteht, denn sowohl tÕ Ãn als auch tÕ œstai sind Bewegungen (kin»seij). Dieser Abschnitt des „Timaios“ scheint also nicht nur von Fr. 8.5ff., sondern auch – vor allem wegen der Beschränkung der die Zeit implizierenden Sprechweise auf die der Bewegung und Veränderung unterliegenden Dinge – von Fr. 8.36b-41 inspiriert.

Bei Aristoteles wird die Idee des Bestimmens mit der Zeit durch die Idee des Messens mit der Zeit ersetzt: Die Existenz der sich im Bereich des Himmels

400 Vgl. z. B. die Aristotelische Formel tÕ ×n pollacîj lšgetai.401 Vgl. Fr. 1.11.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 99: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 143

befi ndenden Dinge402 wird mit der Zeit gemessen (ïn tÕ e"nai metre‹ sc. crÒnoj) (Phys. 221b). Der Ausdruck, den Aristoteles in diesem Zusammenhang benutzt, kann als Paraphrase des Fr. 8.40 des Parmenides und dadurch als Argument für dessen oben vorgeschlagene Interpretation gelten: Ósa m{n oân fqart¦ kaˆ genht¦ kaˆ Ólwj Ðt{ m{n Ônta Ðt{ d{ m», ¢n£gkh ™n crÒnJ e"nai403.

3.3.2.2.4 Konsequenzen für die Parmenideische Konzeption von Zeit und Ewigkeit

Die vorgeschlagene Interpretation von Fr. 8.36b-41 erlaubt zunächst eine Klärung der kontroversen Frage nach der Funktion des Abschnitts in Fr. 8. Der Passus ist weder ein Exkurs noch eine Zusammenfassung, sondern macht einen wesentlichen Teil der Deduktion aus. Deduziert wird in ihm ein weiteres Prädikat des Seienden: seine Atemporalität404. Damit erweist sich Parmenides als Vorläufer der Denker, bei denen ein Teil oder Aspekt der Wirklichkeit (bes. die echte bzw. „höhere“ Wirklichkeit) vom Einfl uss der Zeit ausgeschlossen und der übrigen Wirklichkeit (bes. der phänomenalen Welt) gegenüberstellt wird. In erster Linie sind hier Plato und Aristoteles zu nennen. Da es sich dabei eindeutig um die Idee der zeitlosen Ewigkeit handelt, stützt unsere Auslegung die traditionelle Ansicht, nach der Parmenides in Bezug auf das Seiende die Existenz der Zeit leugnete.

Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass damit der am Anfang unserer Erörterung skizzierte Streit zwischen „atemporal eternity“ und „perpetual duration“ nicht zwangsläufi g als entschieden gelten muss. Erstens ist die Idee der atemporalen Ewigkeit nicht schon in Fr. 8.5-6 enthalten, sondern lediglich ihre Prämisse. Zweitens lassen sich die Beobachtungen von H. Fränkel und seinen Anhängern, dass Parmenides bei der Deduktion des Seienden eine die Dauer implizierende Sprache verwendet, nicht entkräften. Zu beachten ist außerdem die Feststellung, dass die Nachfolger des Parmenides den Zusammenhang zwischen Dauer und Veränderung nicht diskutierten und dass selbst Plato und Aristoteles die Idee der Ewigkeit nicht ganz frei von Dauer konzipierten405. Die scheinbare Diskrepanz zwischen diesen Beobachtungen und den Resultaten der obigen Inter-pretation ist ein deutlicher Hinweis, dass auch die in den bisherigen Diskussionen dominierende Frage, die die Form einer Alternative zwischen „atemporal eternity“ und „perpetual duration“ annahm406, revidiert werden muss. Wenn nämlich Dauer die Alternative zur Zeitlosigkeit darstellt, muss sie mit der Zeit identisch sein; und tatsächlich versuchten die Gegner der Idee der Ewigkeit bei Parmenides die Zeit-lichkeit des Seienden unter Berufung auf seine Dauer nachzuweisen. Ob jedoch für Parmenides das „Dauern“ und „Verbleiben“ mit „in der Zeit sein“ synonym

402 Vgl. Arist., De caelo 279a.403 Phys. 221b 28-30. 404 Als ein Exkurs könnten eventuell die Verse 38b-41 gelten, doch dabei ist zu beachten, dass sie kon-

trastiv der Verdeutlichung des Prädikats des Seienden dienen. S. auch unten, Kap. 3.3.2.4.405 J. Whittaker (1971, S. 16f.).406 So noch W. Mesch (2003, S. 292: „... permanente Dauer oder ... zeitlose Ewigkeit“).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 100: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

144 Aletheia: Denken und Sein

war und ob die Dauer in seiner Zeitauffassung von zentraler Bedeutung war, wurde bisher nur selten gefragt 407.

Hypostasiert in der vorsokratischen Philosophie (z. B. bei den Pythagoreern408), personifi ziert in der archaischen Lyrik409 und in den frühen Kosmogonien als eine ursprüngliche Gottheit dargestellt410, war crÒnoj in der frühgriechischen Auffassung nicht nur etwas anderes als die reine Dauer, sondern auch mehr als die Abfolge von Tagen, Monaten und Jahren. Die Zeit erscheint dort eher als eine aktive Kraft, die die Wahrheit ans Licht bringt411, das Vorherbestimmte realisiert412 und Gericht hält413, vor allem aber zerstört: Als Ð pandam£twr crÒnoj414 ist die Zeit die Ursache allgemeiner und unvermeidlicher Destruktion. Nach Anaximander ist der unausweichliche Tod eine Strafe, die von allem, das zur Existenz gelangt, kat¦ t¾n toà crÒnou t£xin gezahlt werden muss (DK 12 B 1). Es sei an dieser Stelle auch an die bekannte Auffassung von Aristoteles erinnert:

… Darum ist alles Zeitliche von Zeit umschlossen (...). Und die Zeit übt Macht über es aus, wie wir etwa zu sagen pfl egen, an den Dingen nage der Zahn der Zeit, die Zeit verbrauche alles, sie lasse vergessen, während wir nicht sagen, sie lasse uns etwas begreifen oder etwas jung und schön werden. Denn an sich ist die Zeit ein Grund eher des Verfalls. Verständlicherweise, ist sie doch Anzahl von Veränderungen, die Veränderung aber beseitigt das Bestehende415.

Daraus schließt Aristoteles, dass das, was immer existiert, nicht in der Zeit ist, denn es ist dem verderblichen Einfl uss der Zeit nicht unterworfen. Bei einem solchen

407 L. Tarán (1965) scheint die zentrale Position dieser Frage für die Untersuchung der Parmenide-ischen Zeitauffassung erkannt zu haben, doch war er nicht bereit, die von seinem Standpunkt (Zeit = Dauern; zeitlos = nicht dauernd) divergierende Ansicht ernsthaft zu diskutieren (vgl. z. B. S. 183: „This is not to say ... that the notion of atemporality does not exclude infi nite duration, for this it certainly does“; Hervorhebung M.M-R.), auch wenn ihn dies zu wenig überzeugenden Thesen führt (wie z. B. „Aristotle himself failed to see the necessary connection between immutability and eternity“, mit der Begründung, dass „he believes in changeless entities which are everlasting“, 1979, S. 47 u. 46). Für eine Unterscheidung zwischen Zeit und Dauer in der Diskussion über Parmenides sprach sich eindeutig und überzeugend J. Whittaker (1971, S. 25, Anm. 5) aus, nach dessen Meinung Zeit für die Griechen vor allem measured time, und nicht Dauer, bedeutete; vgl. auch G.E.L. Owen (1966, S. 329f.), der auf den nur die Zeit, nicht jedoch die Dauer aufhebenden Ewigkeitsbegriff bei Plato und Aristoteles verweist. Die Auffassung Whittakers wurde von M. Theunissen (1991, S. 123, Anm. 75) als eine Projektion des Aristotelischen Zeitbegriffes auf die früheren Griechen abgelehnt. Wenig überzeugend wirkt die Kritik an Whittakers These bei R. Sorabji (1983, bes. S. 106f.).

408 Zur pythagoreischen Zeitauffassung als sfa‹ra toà Ólou (bzw. toà perišcontoj) s. Arist. Phys. 218b; Simpl. Phys. 700; DK 58 B 33 = Dox. Gr. S. 318; DK 58 B 30 = Dox. Gr. S. 316-317; vgl. auch W.K.C. Guthrie (1962, S. 336-340).

409 S. M. Theunissen (2002) und (2004, S. 1190f.).410 S. KRS (1983, S. 21-71).411 Z. B. Solon Fr. 10 West; Pind. Ol. 10.53-55.412 Pind., Nem. 4.43.413 Solon, Fr. 36.3 West.414 Simon. Fr. 26 Page. 415 Arist. Phys. 221a 30 – 221b 3. Übers. nach H. Wagner. Vgl. auch Phys. 222b 16 – 25.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 101: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 145

Zeitverständnis ist das Dauern und Verbleiben (mšnein) geradezu das Gegenteil der Zeit, ein Widerstand gegen ihre destruktive Kraft: Das Dauernde dauert trotz des Vergehens und Wirkens der Zeit. Vollkommene Dauerhaftigkeit ist somit nur bei dem denkbar, was außerhalb der Zeit liegt und dadurch gegen ihren Einfl uss absolut immun ist. Stimmt die Parmenideische Zeitauffassung mit dem Zeitverständnis der erwähnten Zeugnisse auch nur zu einem kleinen Teil überein, lässt sich der Streit um die Zeitlichkeit und Dauer des Seienden ganz unkompliziert lösen: Das Parmenideische Seiende ruht für sich „als dasselbe in demselben verharrend“ (taÙtÒn t' ™n taÙtîi te mšnon 8.29) und „bleibt dort standhaft“ (œmpedon aâqi mšnei 8.30) eben deswegen, weil es außer der Zeit ist.

3.3.2.2.5 Konsequenzen für die Interpretation von Fr. 8.34-36a

Aus der oben dargestellten Interpretation ergibt sich die Notwendigkeit, das Frag-ment 8.34-41 aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Es zeigt sich, dass der Abschnitt – entgegen der allgemeinen Überzeugung – keine einheitliche Ab-handlung zum Thema „Sein und Denken“ beinhaltet, sondern schon in V. 36b ein vermutlich von der Frage des Denkens unabhängiges Problem der Relation zwischen Sein und Zeit enthält. Daraus ergibt sich, dass die Frage des Denkens innerhalb von nur zweieinhalb Versen dargelegt und nicht durch den ontologischen Monismus („es gibt nichts außer dem Seienden“) begründet wird; die einzige Begründung der in V. 34 aufgestellten These von der Relation zwischen Denken und Sein fi ndet sich in V. 35-36a.

Eine weitere Konsequenz der neuen Auffassung von V. 38b-41 betrifft die Funktion des gesamten Abschnitts 34-41, der nach allgemeiner Auffassung eine Unterbrechung der Deduktion bzw. eine Rekapitulation des schon Deduzierten darstellt. Liefert jedoch die zweite Hälfte des Abschnitts die Deduktion einer weiteren Eigenschaft des Seienden416 (sc. seiner Unabhängigkeit von der Zeit), müssen auch die Verse 34-36a in erster Linie vom Seienden, nicht vom Denken handeln.

3.3.2.3 Fr. 8.34-36a: Sein und Denken

Der folgende Versuch einer Auslegung der schwierigsten, noch 2004 von J. Barett (S. 277) als „enigmatisch“ bezeichneten Aussage des Parmenides über Denken und Sein in Fr. 8.34ff. wird sich auf die Ergebnisse der oben durchgeführten Untersuchung von Fr. 8.36b-41 stützen. Aus dieser neu gewonnenen Perspektive, bei der klar wird, dass der relevante Text nur eineinhalb Verse umfasst (34-36a) und dass er ein (weiteres) Attribut des Seienden thematisiert, sei das Fragment erneut betrachtet:

416 Als eine Art des Exkurses könnten lediglich die die Welt der Phänomene erwähnenden Verse 38b-41 gelten.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 102: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

146 Aletheia: Denken und Sein

taÙtÕn d' ™stˆ noe‹n te kaˆ oÛnekšn ™sti nÒhmaoÙ g¦r ¥neu toà ™Òntoj, ™n ïi pefatismšnon ™st…n,eØr»seij tÕ noe‹n: (...)

Die oben (3.3.2.1) genauer dargelegten, möglichen Auffassungen der syntaktischen Konstruktion von V. 34 stellen sich folgendermaßen dar:

1) Dasselbe ist Denken und das, weswegen (woraufhin) der Gedanke ist,2) Dasselbe ist Denken und der Gedanke, dass (es) ist,3) Dasselbe ist Denken und [die Tatsache,] dass der Gedanke ist,4) Dasselbe (= das Seiende) kann gedacht werden und (ist) das, weswegen der

Gedanke ist,5) Als dasselbe kann es (sc. das Seiende) gedacht werden und [außerdem kann

es deswegen gedacht werden,] weil der Gedanke ist.Es lässt sich leicht feststellen, dass die drei ersten, am meisten verbreiteten Auf-fassungen des Satzes sich mit der zweiten Voraussetzung unserer Untersuchung (das Thematisierte muss das Seiende selbst sein) nur schwer vereinbaren lassen. Diese Vereinbarkeit ist bei den letzten beiden Interpretationen gegeben: In bei-den ist das Seiende das Subjekt der Aussage. Leider stoßen ihre Konstruktionen auf erhebliche sprachliche Schwierigkeiten, auf die in der obigen Untersuchung (Kap. 3.3.2.1) verwiesen wurde; überdies machen beide die Symmetrie des Satzes zunichte und liefern eine inhaltlich unbefriedigende Erläuterung der Phrase ™stˆ (bzw. œsti) noe‹n.

Rein sprachlich lässt sich jedoch die Frage der Interpretation des Satzes nicht entscheiden, deswegen scheint es vielversprechender, zunächst seine Begründung zu behandeln. Auf die mannigfachen Probleme der Auslegung des Satzes oÙ g¦r ¥neu toà ™Òntoj, ™n ïi pefatismšnon ™st…n, / eØr»seij tÕ noe‹n ist schon oben verwiesen worden. Aus der dort gegebenen Übersicht ergibt sich, dass die größte Schwierigkeit der Nebensatz in V. 35 bereitet: „das Seiende, in dem (...) ausgesagt ist“, wo als Subjekt fast einstimmig das „Denken“ ergänzt wird. Gerade dieses Verfahren muss jedoch im Lichte der für unsere Untersuchung angenommenen Voraussetzung als zweifelhaft erscheinen: Ist das in dem Abschnitt Behandel-te – und vermutlich auch Subjekt von V. 34 – das Seiende, dann muss vielmehr angenommen werden, dass es auch das Seiende ist, worauf sich der subjektlose Satz – wie andere subjektlose Sätze in Fr. 8.3-49 – bezieht. Dadurch entfällt eine der größten Schwierigkeiten der Interpretation von Fr. 8.35-36: die Frage, warum das Denken im Seienden ausgesprochen sein soll.

Der Satz in V. 35-36 ist demnach aufzufassen als: oÙ g¦r ¥neu toà ™Òntoj, ™n ïi [tÕ ™Õn] pefatismšnon ™st…n, / eØr»seij tÕ noe‹n. In den meisten Untersuchungen wird als Ausgangspunkt seiner Interpretation die Phrase „ohne das Seiende ... wirst du das Denken nicht fi nden“ gewählt und erst danach nach dem Sinn des von toà ™Òntoj getrennt betrachteten Nebensatzes gefragt. Es scheint jedoch eher so zu sein, dass die Phrase „tÕ ™Òn, in dem [tÕ ™Òn] ausgesprochen ist“ als Einheit aufzufassen ist. Sie stellt offensichtlich eine Art Periphrase dar, die dasjenige, in dem

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 103: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 147

oder womit das Seiende ausgesagt oder benannt ist, beschreibt und dies zugleich als tÕ ™Òn bezeichnet.

Der Rest des Satzes, „ohne ... fi ndest du kein Denken“, klassifi ziert dieses in recht umständlicher Weise beschriebene „Etwas“ als Denken, und zwar als das wahre Denken, das Denken par excellence, denn nichts außer ihm verdient diese Bezeichnung. Dadurch wird auch klar, was die Periphrase „tÕ ™Òn, in dem [tÕ ™Òn] ausgesprochen bzw. benannt ist“ bezeichnet: Es muss der Name sein, der das Seiende benennt, oder der Gedanke, der es ausspricht. Es kann sich demnach ausschließlich um „ist“, den einzigen wahren Weg des Denkens, handeln. Von diesem wahren Gedanken, dem Namen des Seienden, schreibt also Parmenides, er sei ™Òn.

Dieser radikale, verblüffende Schritt, der an dieser Stelle keine weitere Begrün-dung erhält, wurde von Parmenides offensichtlich schon in dem der Deduktion des Seienden vorausgehenden Teil der „Aletheia“ vorbereitet oder (teilweise) auch ausgeführt. In Betracht kommt hierfür vor allem eine der erhaltenen Aussagen des ersten Teils der „Aletheia“: cr¾ tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' ™Õn œmmenai (Fr. 6.1), „es ist notwendig, dass das, was du sagst und denkst, Seiendes ist“, die mit dem Argument begründet wird, dass es ist (bzw. dass es etwas ist) und nicht nichts sein kann. In der oben (Kap. 3.3.1) durchgeführten Untersuchung hat sich diese Aussage als doppelsinnig erwiesen: Wegen der Uneindeutigkeit der Phrase tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' kann die „Seiendheit“ sowohl dem Gegenstand, auf den sich die Aussage bzw. der Gedanke bezieht, als auch der Aussage und dem Gedanken selbst zugesprochen werden. Es ist demnach durchaus vorstellbar, dass Parmenides schon auf dieser Stufe seiner Untersuchung, in Fr. 6, ganz offen festgestellt hat, das wahre Denken sei Seiendes.

Von dem wahren Gedanken œstin schreibt Parmenides in Fr. 8.15-18, in dem das Ergebnis der Untersuchung des ersten Teils der „Aletheia“ als eine schon vollzogene kr…sij zwischen „ist“ und „ist nicht“ dargestellt wird, dass er „ist und wirklich ist“ (pšlein kaˆ ™t»tumon e"nai). Die dem Weg zugeschriebene Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit bedeutet hierbei vermutlich mehr als nur Richtigkeit – der Ausdruck „ist und ist wahr“ drückt anscheinend den ontologischen Status von œstin aus, der dem Status des „nicht wirklichen“ (oÙ ... ¢lhq»j) Gedankens oÙk œstin gegenübergestellt ist.

In der kurzen Begründung der These von V. 34 knüpft Parmenides also an die früher entwickelte Lehre an und fasst sie mit der Formulierung „kein Denken ohne das Seiende, in dem das Seiende genannt ist“ zusammen. Das Denken, von dem hier die Rede ist, stellt selbstverständlich kein subjektives, sondern ein vom Menschen unabhängiges Denken dar. Dieser Tatsache entspricht die von Parme-nides verwendete Perfektform (pefatismšnon ™st…n): Unabhängig davon, ob es aktuell von jemandem benannt oder ausgesprochen wird, ist das Seiende in dem wahren, seienden Gedanken benannt.

Der Ausdruck „das Seiende, in dem das Seiende genannt ist“ (V. 35), in dem sowohl der Gedanke (bzw. der Name) als auch das Gedachte (bzw. Genannte)

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 104: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

148 Aletheia: Denken und Sein

als „Seiendes“ bezeichnet wird, könnte verwirrend wirken. Er stimmt zwar mit der Doppeldeutigkeit von Fr. 6.1 (sowohl der Gedanke als auch das Gedachte sei ™Òn) vorzüglich überein, lässt jedoch den Leser, der nach dem eigentlichen und endgültigen Sinn des Parmenideischen Seienden fragt, unbefriedigt. Eine klare Antwort auf diese Frage ist jedoch in der von dem Satz in V. 35-36 begründeten These (V. 34) enthalten:

taÙtÕn d' ™stˆ noe‹n te kaˆ oÛnekšn ™sti nÒhma

Im Lichte des oben Gesagten scheinen sowohl das Subjekt dieses Satzes (1) als auch der Sinn der Ausdrücke ™stˆ noe‹n (2) und oÛnekšn ™sti nÒhma (3) sowie die Konstruktion des ganzen Satzes (4) klar. Auch die oben gestellte Frage, ob das Parmenideische Seiende mit dem Gedanken oder mit dem Gedachten zu identi-fi zieren ist, lässt sich plausibel beantworten (5). Schließlich soll versucht werden, den Argumentationsgang des gesamten Abschnitts (V. 34-36a) zu erläutern (6).

Das Subjekt des Satzes (1) ist tÕ ™Òn, was den Zusammenhang mit dem Ge-dankengang der Deduktion sowie mit dem folgenden Satz in V. 35-36 sicherstellt. Die Phrase ™stˆ noe‹n (2) muss jedoch nicht potentiell verstanden werden: Wie sich aus der Begründung der These in V. 35-36 ergibt, behauptet Parmenides, dass das wahre Denken mit dem Seienden identisch ist. Daher ist der erste Teil von V. 34 als „es ist mit dem Denken identisch (taÙtÒn)“ zu übersetzen.

(3) Die symmetrische Konstruktion des Satzes deutet darauf hin, dass in seiner zweiten Hälfte, oÛnekšn ™sti nÒhma, ein zweites Attribut des Seienden eingeführt wird. Die traditionelle Art, den Ausdruck zu interpretieren, scheint auch die natür-lichste: „und das, weswegen bzw. um dessentwillen der Gedanke ist“. Unabhängig davon, welche der beiden relevanten Bedeutungen von oÛneken, die kausale oder die fi nale, bevorzugt wird, ist klar, dass der Ausdruck das Seiende als den Gegenstand des Denkens bzw. als das, was der wahre Gedanke denkt oder benennt, was in ihm pefatismšnon ™st…n, bezeichnen soll. Demnach ist der ganze Satz (4) als „Es (sc. das Seiende) ist identisch sowohl mit dem Denken als auch mit dem Gegenstand des Denkens“ zu verstehen.

Diese Konstruktion weist gegenüber der traditionellen Interpretation des Satzes bedeutende Vorteile auf:

a) sie zwingt nicht dazu, den Ausdruck oÛnekšn ™sti nÒhma hypothetisch auf das Seiende zu beziehen, um dieses erst danach mit dem Denken zu iden-tifi zieren;

b) sie legt nicht nahe, dass es Parmenides an dieser Stelle in erster Linie um die Identität des Denkens mit seinem Gegenstand ging;

c) sie vermeidet die zwar mögliche, aber seltene Verbindung der Identitätsglie-der durch te ka….

Stattdessen wird der Satz so gelesen, dass er a) explizit besagt, dass das Seiende oÛnekšn ™sti nÒhma ist, b) die Identität zwischen dem Denken und seinem Gegen-stand unmittelbar auf das Seiende bezieht und c) den Ausdruck te ka… in seiner

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 105: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 149

üblichen Funktion verwendet: Dem Seienden werden zwei nacheinander genannte Prädikate zugewiesen417. Indem der Satz als Subjekt das Seiende annimmt, bezieht er außerdem den ganzen Abschnitt in die Deduktion des Seienden ein.

(5) Der auf die vorgeschlagene Weise verstandene Vers 34 ermöglicht eine plau-sible Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Wesen des Parmenideischen Seienden (Gedanke oder sein Gegenstand?): Das Seiende ist zugleich beides, es ist sowohl das Denken als auch das Objekt des Denkens.

Hier ist zu betonen, dass diese in V. 34 postulierte Identität (deren Sinn im Folgenden noch genauer zu untersuchen sein wird) einen neuen, von Parmenides selbst entwickelten, engeren Begriff des Denkens voraussetzt. Darum kann die Aussage, die das Seiende mit dem Denken und seinem Gegenstand (bzw. Grund) identifi ziert, nicht als eine Gleichsetzung des Seienden mit jedem menschlichen Gedanken und jedem beliebigen Gegenstand des Denkens gedeutet werden. Sie bezieht sich ausschließlich auf eine bestimmte Art des Denkens, die jedoch als das einzige wahre Denken erwiesen wird, woraus folgt, dass das Seiende mit dem Denken schlechthin identisch ist. Dieser Aspekt scheint in der Argumentation von Fr. 8.34-36a besonders stark hervorgehoben zu sein: Da es kein Denken außer dem das Seiende benennenden und mit dem Seienden identischen Denken gibt (8.35-36), ist das Seiende mit dem Denken und dem Gegenstand des Denkens schlechthin identisch.

In analoger Weise wird auch im Satz cr¾ tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' ™Õn œmmenai das Sein nicht jedem beliebigen Gedanken des Menschen zugesprochen, auch wenn sich diese Aussage rein sprachlich so verstehen ließe (vgl. die Paraphrase von Simplikios: Óper ¥n tij À e‡pV À no»sV tÕ Ôn ™sti, sowie die Kritik an der Parmenideischen These bei Gorgias418). Als ™Òn kann nur der wahre Gedanke bezeichnet werden, d. i. derjenige, dessen Objekt real ist („das, was ist“).

417 In dieser Weise scheint auch Simplikios den Vers verstanden zu haben: tÕ d{ |n ×n taÙtÕn e"na… fhsi noe‹n te kaˆ nohtÕn kaˆ noàn (Phys. 143.20) und e„ d{ toàtÒ ™stin oá ›neka tÕ noe‹n, dÁlon Óti tÕ nohtÒn ™sti (Phys. 144.22f.); vgl. A. Stevens (1990, S. 114, 125, 128: „C’est la même chose que penser et ce pour quoi la pensée est“).

418 Zur Kritik an der Parmenideischen Argumentation bei Gorgias (MXG 980a 9-19; Sext. Emp., Adv. Math. 7.77-82) s. oben, Kap. 3.3.1.2. Für Parmenides selbst hätte diese Kritik wahr-scheinlich nicht viel Bedeutung; er würde sie für verfehlt halten, da er keineswegs behauptet, dass alles, was man sich vorstellt, real existieren muss. Die Behauptung in Fr. 6.1-2 bezieht sich weder auf die faktischen Möglichkeiten des menschlichen Denkens als eines psychologischen Phänomens noch auf die Gegenstände der alltäglichen Erfahrung; alle Auslegungen des Satzes im Sinne von „nur das, was gedacht werden kann, existiert“ bzw. „alles, was gedacht werden kann, existiert“ sind falsch. Das, was man sich denkt und vorstellt, wessen man sich subjektiv bewusst und sicher ist, ist für Parmenides in diesem Zusammenhang vollkommen irrelevant. Der Philosoph stellt logisch beweisbare Thesen auf, für die die Tatsache, dass wir Bewegung oder Vielheit wahrnehmen oder an fi ktive Gegenstände denken, keinerlei Bedeutung hat. Seine Theorie operiert mit einer neuen Defi nition des Denkens, die den Bereich des Denkens par excellence abgrenzt.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 106: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

150 Aletheia: Denken und Sein

(6) Entsprechend ist auch die in Fr. 8.34-36a durchgeführte Argumentation aufzufassen. Die doppelte Identität von V. 34 wird mit dem Satz in V. 35-36a begründet:

a) da es kein Denken außer tÕ ™Òn gibt (oÙ g¦r ¥neu toà ™Òntoj ... eØr»seij tÕ noe‹n), ist das Seiende mit dem Denken identisch (taÙtÕn d' ™stˆ noe‹n 34a),

b) da es kein Denken außer demjenigen gibt, das das Seiende benennt (oÙ g¦r ¥neu toà ™Òntoj, ™n ïi pefatismšnon ™st…n, eØr»seij tÕ noe‹n), ist das Seiende der eigentliche und einzige Gegenstand des Denkens (te kaˆ oÛnekšn ™sti nÒhma 34b).

Für das Verständnis der Parmenideischen Konzeption der Identität von Den-ken und Sein reicht jedoch eine formale Analyse der in V. 34-36a enthaltenen Argumentation sicherlich nicht aus. Das kurze Argument in V. 35-36a ist bei der Suche nach der genauen Bedeutung dieser Identität insofern hilfreich, als es relativ genau bestimmt, mit welchem Denken das Seiende identisch ist: Gemeint ist der Name des Seienden, der Gedanke „ist“. Dass dieser Gedanke mit seinem Objekt identisch ist, scheint jedoch durchaus nachvollziehbar, denn es handelt sich bei ihm um keinen äußerlichen, sinnlichen Gegenstand, sondern um einen, der dem Gedanken gewissermaßen immanent ist, der also selbst noe‹n ist. Die Unterschei-dung zwischen dem Gedanken und dem Gedachten lässt sich bei œstin nur formal durchführen: „Ist“ macht zugleich den Gedanken und dessen Objekt aus. Diese Identität zwischen dem Gedanken und dem Gedachten bei abstraktem Denken wird bekanntlich durch Aristoteles thematisiert: ™pˆ m{n g¦r tîn ¥neu Ûlhj tÕ aÙtÒ ™sti tÕ nooàn kaˆ tÕ nooÚmenon: ¹ g¦r ™pist»mh ¹ qewrhtik¾ kaˆ tÕ oÛtwj ™pisthtÕn tÕ aÙtÒ ™stin (...) (De an. 430a 3-5; vgl. Met. 1075a 3-5). Wie schon oben erwähnt, scheint sie auch in der Parmenideischen Formulierung tÕ lšgeij tÕ noe‹j t' (die sowohl den Gegenstand des Denkens als auch den Gedanken selbst bezeichnen kann) zum Ausdruck zu kommen.

Die These, dass diese abstrakte, hoch entwickelte Lehre einem frühen Vorso-kratiker wie Parmenides zuzutrauen ist, kann erst durch Erforschung ihrer Genese plausibel gemacht werden. Eine genetisch orientierte Untersuchung führt zu der gut begründeten Hypothese, dass die genannte Doktrin eine Konsequenz der Parmenideischen Auffassung des Denkens ist, dem der Philosoph zum ersten Mal eine zentrale Rolle in der Erkenntnis zugewiesen hat. Seine Konzeption des Denkens – die erste, die uns in der Geschichte der europäischen Philosophie be-gegnet – versucht es, das Denken in Analogie zu anderen erkenntnisbezogenen, aber leichter zugänglichen Phänomenen zu erfassen. Die erste Analogie besteht, wie oben schon erwähnt, zwischen Denken und Sprechen. Die andere, für die Parmenideische Deutung des Denkens noch grundlegendere, verbindet das Denken mit der sinnlichen Erkenntnis. Die Schlüsselfrage wäre demnach, wie Parmenides die Aktivität der Sinne verstanden hat. Eine frühgriechische, wahrscheinlich auch für den Eleaten maßgebende Auffassung der sinnlichen Erkenntnis (die er allerdings noch nicht mit einem eigenen, dem Denken gegenüberstellten Begriff erfasst) lässt sich aufgrund späterer Zeugnisse rekonstruieren (auch wenn es sich bei Parmenides

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 107: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 151

eher um eine indirekte Voraussetzung als um eine explizite Theorie handelt) und in folgenden Punkten zusammenfassen:

1) Die Wahrnehmung fi ndet nur dann statt, wenn es ein Objekt gibt, das wahrgenommen wird (vgl. Plato, Theaet. 188e-189a);

2) jeder der Sinne richtet sich auf seinen eigenen Gegenstand (z. B. Laut, Geruch usw.), der von keinem anderen Sinn wahrgenommen werden kann (vgl. Theoph. De sens. 7.1-5 zu Empedokles; vgl. auch Emp. 31 B 2.7);

3) der Gegenstand jedes Sinnes ist mit diesem Sinn in gewisser Weise verwandt, hat eine ihm entsprechende Natur (vgl. Theoph. De sens. 7.6-10, 9.2-4 sowie 15 zu Empedokles).

Diese Auslegung der Sinne erweist sich ebenfalls als relevant für die Auffassung des Denkens, denn das enger verstandene Denken wird als ein den einzelnen Sinnen paralleler Weg der Erkenntnis – nicht als eine den Sinnen übergeordnete, die von ihnen gelieferten Daten verarbeitende Aktivität – betrachtet419. Dementsprechend gelten die aufgezählten Punkte bei Parmenides auch für das Denken:

1) Das wahre Denken muss auf einen Gegenstand, ein Seiendes bezogen werden, sonst fi ndet es gar nicht statt, denn für sich hat das Denken – wie oben festgestellt – keine Substanz;

2) das Denken hat seinen eigenen Gegenstand, der auf anderen Erkenntnis-wegen, v. a. mit den Sinnen, nicht erkannt werden kann (vgl. Emp. 31 B 17.21);

3) der Gegenstand des Denkens ist dem Denken verwandt, hat eine ihm ähn-liche Natur: Als etwas Gedachtes ist er selbst Gedanke und unterscheidet sich von dem ihn denkenden Denken, das ohne ihn substanzlos wäre, nur formal; in Wirklichkeit ist er mit ihm identisch.

Auf diese Weise wurde Parmenides zu einer überraschend neuen Ansicht geführt: zur Idee eines noetischen Gegenstandes420. Ein solches Objekt kann per defi nitionem nicht von den Sinnen, die nur ihre eigenen Objekte wahrnehmen, erkannt wer-den; nicht einmal seine Existenz kann mit Hilfe der Sinne verifi ziert werden. Der wahre Gegenstand des Denkens stellt sich nur dem wahren Denken dar, während das alltägliche Denken der sinnlich wahrnehmbaren Objekte als unechtes Denken entlarvt und daher zurückgewiesen wird.

Die Tatsache, dass das wahre Objekt des Denkens mit dem Denken selbst iden-tisch bzw. ihm immanent ist, impliziert jedoch nach Parmenides nicht, dass dieses Objekt „nur“ Gedanke, eine subjektive Vorstellung und ein Artefakt des Ichs ist. Die frühgriechische Auffassung des Denkens unterscheidet sich von den späteren,

419 Vgl. oben, Kap. 3.2.4.420 Davon, dass Parmenides eine ganz neue Konzeption der Wirklichkeit zu beschreiben versucht,

zeugt zum Teil auch die Art, wie er sie charakterisiert: entweder durch eine Negation des Bekannten (ist nicht-x, nicht-y) oder durch Analogie zum Bekannten (™nal…gkion 8.43). Dem Seienden werden zudem keine sinnlichen Eigenschaften (wie z. B. a„qšrion, ½pion, ™lafrÒn, pukinÒn, ™mbriqšj) zugeschrieben, was kaum Zufall sein kann: Dies sind Eigenschaften der Formen.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 108: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

152 Aletheia: Denken und Sein

subjektivistischen Theorien u. a. dadurch, dass sie das Denken nicht als eine typisch (bzw. ausschließlich) menschliche, subjektive Tätigkeit, sondern vielmehr als eine über den menschlichen Geist hinausgehende, der gesamten Welt zukommende Eigenschaft betrachtet – auch in der „Doxa“ wird es der ganzen phänomenalen Welt zugeschrieben. Wie bei den Sinnen und ihren Gegenständen kreiert das menschliche Denken sein Objekt nicht, sondern trifft es, wenn es den richtigen Weg verfolgt, in einer objektiven Sphäre, als etwas schon Bestehendes, an421.

Es ist auffallend, dass Parmenides über keinen philosophischen Begriff verfügt, mit dem er den noetischen Charakter seines Seienden präzise bestimmen könnte. Er versucht daher, ihn zu umschreiben, und verweist auf die Identität des Seienden als Gegenstand des Denkens mit dem Denken selbst422. Damit stellt er seinen Lesern eine Aufgabe: Nach der Intention des Parmenides soll die begriffl iche Dualität offensichtlich in dem einzigen Seienden aufgehoben werden. Damit ist auch klar, dass das Seiende mit keinem der den Menschen bekannten Phänomene identisch ist – es kann weder gezeigt noch mit einem üblichen Begriff erfasst werden. Den Lesern kann Parmenides lediglich seinen Namen, œstin, präsentieren und sie auf-fordern, sich dem Benannten durch eine deduktive Untersuchung dieses Namens selbstständig zu nähern.

Der Parmenideische Versuch, den noetischen Status des Seienden durch eine Gleichsetzung des Denkens und seines Gegenstands auszudrücken, bringt einige Gefahren mit sich. Der erste mögliche Fehlschluss bestünde darin, dem Seienden ein aktives, prozessuales Denken zuzuschreiben oder es gar als ein denkendes Lebewesen aufzufassen. Sicherlich wäre eine solche Vorstellung der Intention des Parmenides fremd. Als Denken wird das Seiende als „das Seiende, in dem das Sei-ende ausgesprochen bzw. benannt ist“ (und nicht: „das Seiende, das an das Seiende denkt“) bezeichnet; sowohl die grammatische Form (Perf. Pass.) als auch die Ver-wendung des Verbs des Sagens können als Indiz dafür dienen, dass es Parmenides nicht um einen fortschreitenden, von einem Subjekt ausgehenden Prozess, sondern um einen objektiven, unveränderlichen, abstrakten Zustand ging: Das Seiende ist für ihn mit seinem Namen und dem Denken dieses Namens identisch423.

421 Die scheinbare Aporie, dass das Seiende untrennbar mit dem noe‹n verbunden ist, aber der menschliche nÒoj irrt, unterliegt dem Fehler, das menschliche Denken nicht vom absoluten zu unterscheiden, und setzt fälschlich voraus, das Denken sei ein ausschließlich dem erkennenden Subjekt zugehörendes Phänomen.

422 Es lässt sich nicht ausschließen, dass hierher auch das kontroverse Fragment 3 (tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai) gehört; auf die einschlägigen, von der traditionellen verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten („denn [es] ist identisch mit dem Denken und dem Sein“, bzw. „dasselbe („Ding“) ist identisch mit dem Denken und mit dem Sein“), wurde oben, Kap. 3.2.1, verwiesen.

423 Auch wenn die Vorstellung einer lebenden, bewussten Wirklichkeit in der Epoche des Parme-nides sehr verbreitet war und auch für die Parmenideische „Doxa“ bezeugt ist, lässt sich leicht feststellen, dass dem Seienden keine Lebensfunktionen oder psychische Eigenschaften zugewiesen werden (die unklare Bezeichnung 'Alhqe…hj Ãtor in Fr. 1.29 kann nicht als Grundlage dieser These dienen). Dieses Fehlen könnte als Ausdruck der Negation dieser verbreiteten Vorstellung

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 109: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 153

Demzufolge wäre es auch ein ernsthaftes Missverständnis, aus der Identität des Seienden mit dem Denken einerseits und dem Gegenstand des Denkens andererseits die Vorstellung eines seiner selbst bewussten Seienden herzuleiten. Zwischen der These, das Seiende sei mit dem Denken des Seienden identisch, und der, das Seiende denke an sich selbst und sei sich seiner selbst bewusst, besteht ein entscheidender Unterschied, weil bei der zweiten das Seiende als ein bewusstes Lebewesen aufgefasst werden müsste.

Der unpräzise Charakter der Parmenideischen Formel macht jedoch auch eine eindeutige Identifi zierung der Parmenideischen Intention als eines geradlinigen Strebens zum Begriff des Ideellen unmöglich. Eine traditionelle, antike Interpretati-on des Gedichts besagt, Parmenides habe die aus dem „ist“ deduzierten Begriffe der gegenständlichen Wirklichkeit bzw. einem Modell der Wirklichkeit zugeschrieben. Diese Auslegung, die den modernen Leser enttäuschen könnte, muss nicht grundlos sein424. In der Parmenideischen Philosophie wird die „Idee“ parallel zur Welt der Phänomene erfasst und wird dadurch zu etwas dieser – gleichzeitig negierten – Welt Analogem, auch wenn sie als etwas von ihr fundamental Verschiedenes konstituiert wird. Die Entdeckung des Parmenides war nicht eine – angeblich von ihm als Idee anerkannte – Seiendheit der Phänomene, sondern deren Scheinbarkeit, die er dem absoluten „Seienden“ gegenüberstellte, wodurch das Seiende möglicherweise vergegenständlicht wurde425. Das Parmenideische ™Òn liegt auf der Grenze zwischen Ideellem und Realem, zwischen Wahrheit und Wirklichkeit und entzieht sich dadurch eindeutigen, modernen Kategorien.

3.3.2.4 Die Funktion der Lehre vom Denken und von der Ewigkeit in der De-duktion des Seienden

Die Frage nach der Funktion des Abschnitts 34-41 in der Deduktion des Frag-ments 8, die, wie oben gezeigt, erhebliche Schwierigkeiten bereitet426, ist bei einer Bewertung seiner Interpretationen ein entscheidender Punkt.

Vor Beginn der Deduktion wird von Parmenides ihr Aufbau skizziert (8.2-4):

… taÚthi d' ™pˆ s»mat' œasipoll¦ m£l', æj ¢gšnhton ™Õn kaˆ ¢nèleqrÒn ™stin,oâlon mounogenšj te kaˆ ¢trem{j ºd' ¢tšleston

aufgefasst werden. Tatsächlich lässt sich die Deduktion der „Aletheia“ in dieser Weise lesen: Das Seiende ist nicht aus etwas anderem gewachsen, wird nicht vergehen, hat keine Teile, bewegt sich nicht, und – das Entscheidende – es ist identisch mit dem Denken und dem Gegenstand des Denkens. Parmenides verschiebt offensichtlich die Charakteristik des Seienden auf die Ebene der Abstraktion.

424 Vgl. H.-G. Gadamer (1968, S. 368-383) zum frühen Aristoteles und seiner Tendenz, ontolo-gische und kosmologische Fragen und Begriffe nicht strikt voneinander zu unterscheiden.

425 Entgegen der Interpretation von P. Thanassas (1997): „Sein gibt es – oder ‚Es‘ – nicht, es wird vielmehr an den (…) dokoànta gedacht und als Idee gesetzt“ (S. 228, Anm. 45).

426 S. oben, Kap. 3.3.2.1.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 110: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

154 Aletheia: Denken und Sein

Ein Vergleich dieses Programms mit dem Inhalt von Fr. 8 führt zu folgender Auffassung der Struktur der Deduktion:

1) ungeworden und unvergänglich (¢gšnhton ... kaˆ ¢nèleqron) – V. 5-21;2) ganz und einzigartig427 (oâlon mounogenšj te) – V. 22-25;3) unerschüttert (¢tremšj) – V. 26-31;4) vollendet (oÙd'428 ¢tšleston) – V. 32-33;5) …….. – V. 34-41;6) Fortsetzung des Beweises für die Vollendung und Vollkommenheit – V. 42-

49429.Den Versen 34-41 entspricht in der Skizze der Deduktion in V. 2-4 kein separates Prädikat430. Der ihnen direkt vorausgehende Text (V. 32-33):

oÛneken oÙk ¢teleÚthton tÕ ™Õn qšmij e"nai:œsti g¦r oÙk ™pideušj: [m¾] ™Õn d' ¨n pantÕj ™de‹to431

nennt die beiden wichtigsten Züge des griechischen Ideals der Vollkommenheit: die Vollendung (das Seiende dürfe nicht ¢teleÚthton sein) und die daraus resultie-rende Bedürfnislosigkeit (das Seiende sei nicht ™pideušj)432. Sie sind unentbehrliche Voraussetzungen des Begriffs, der nach den Griechen das Wesen der Vollkom-

427 Zur Bedeutung von mounogenšj (das H. Diels 1897, S. 37, vgl. S. 74, als „eingeboren“ übersetzte) s. J. Barnes (1979c, S. 8f.).

428 Diese Emendation bleibt ungewiss. Das Ende von V. 8.5 ist seit der Antike korrupt; die Lesart ºd' ¢gšnhton ist nicht akzeptabel, s. A.H. Coxon 1986, S. 195f. Aufgrund der nicht unbe-rechtigten Zweifel, ob der Ausdruck ¢tšleston (Simpl. Phys. 30, 78, 145) als „endlos, ewig“ (H. Diels 1897, S. 37 und 75: „ohne Ende“; DK 1961, S. 235, App.: „ohne Ziel in der Zeit“; LSJ s.v. ¢tšlestoj IV: „endless, eternal“; vgl. Simpl. Phys. 29-30) verstanden werden kann (denn vgl. oÙk ¢teleÚthton 8.32 und tetelesmšnon 8.42), wurden verschiedene Konjekturen vorgeschlagen: oÙd' ¢tšleston (Brandis), ºd{ telestÒn (L. Tarán), ºd{ tšleion (G.E.L. Owen), ºd{ telÁen (A.P.D. Mourelatos), ºd{ ¢t£lanton (M. Schofi eld 1970, S. 115, Anm. 16 nach M.F. Burnyeat). Vgl. auch den Vorschlag einer Interpunktionsänderung von P.B. Manchester (1979, S. 83f.: ¢tremšj: ºd' ¢tšleston / oÙdš pot' Ãn oÙd' œstai).

429 Ähnlich, aber mit einer Verschiebung des Abschnitts 34-41, wird die Struktur von Fr. 8 u. a. von P. Thanassas (1997, S. 104f.) erklärt.

430 Die Behauptung, den Versen 34-41 entspräche im Programm der Deduktion das Prädikat mounogenšj (in der Bedeutung „das einzige“) (so z. B. J. Wiesner 1970, S. 3f., 24f.), ist ein weiteres Resultat der Annahme des falschen Textes oÙd{n g£r etc. in Fr. 8.36-37, bei dem die Reihenfolge der im Programm aufgezählten Attribute nicht gewahrt wird (oâlon – ¢tremšj – mounogenšj).

431 Zum Text in V. 33b und seiner Bedeutung s. J. Wiesner (1970, S. 13, Anm. 38), L. Tarán (1965, S. 114f.). Die überlieferte Lesart (m¾ ™Òn) wird u. a. von A.H. Coxon (1986, S. 208) verteidigt.

432 Vgl. die Defi nition der Vollkommenheit bei Aristoteles: „Vollkommen (tšleion) nennt man einmal das, außerhalb dessen sich auch nicht ein einziger Teil fi nden läßt“ (Tšleion lšgetai |n m{n oá m¾ œstin œxw ti labe‹n mhd{ |n mÒrion, Met. 1021b 12-13; Übers. H. Bonitz), also das, von dem kein Teil sich außerhalb seiner, „außen“, befi ndet (mhd' e"na… ti œxw Met. 1022a 1); deswegen „... unterscheiden sich das Ganze und das All und das Vollkommene in der Gestal-tung nicht voneinander“ (t¦ p£nta kaˆ tÕ p©n kaˆ tÕ tšleion oÙ kat¦ t¾n „dšan diafšrousin ¢ll»lwn, Arist., De cael. 268a 20-21; Übers. P. Gohlke).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 111: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 155

menheit433 und der Glückseligkeit434 ausdrückt: der Autarkie, denn Vollendung und Bedürfnislosigkeit sind notwendige Vorbedingungen für Selbstgenügsamkeit und Unbeeinfl ussbarkeit durch äußere Faktoren und somit für vollkommene Un-abhängigkeit.

Dieses Thema wird auch nach dem Abschnitt 34-41 wieder aufgenommen: aÙt¦r ™peˆ pe‹raj pÚmaton, tetelesmšnon ™st… ... (V. 42). Die plausibelste, aber anscheinend nie gezogene Folgerung aus diesem relativ klaren Tatbestand ist die Annahme, dass das Fragment 8.34-41 einen Teil der Argumentation für die Voll-kommenheit des Seienden bildet. Können jedoch die Beweise für die Identität des Seienden mit dem Denken und dem Gegenstand des Denkens sowie für seine Unabhängigkeit von der Zeit Elemente der auf den so verstandenen Begriff der Vollkommenheit abzielenden Beweisführung sein?

Im Falle des zweiten Attributs des Seienden, der Unabhängigkeit von der Zeit (V. 36b-41), ist sein Zusammenhang mit dem skizzierten Ideal der Vollkommen-heit evident. Für die Griechen war die Zeit, wie schon oben (Kap. 3.3.2.2.4) erwähnt, eine aktive Kraft, die auf die ihr unterliegenden Dinge einen vorwiegend destruktiven Einfl uss ausübt: Sie bringt Alter, Sterben, Vergessen mit sich. Soll das Parmenideische Seiende unverändert, vollendet und mangelfrei sein, kann es auf keinen Fall der Zeit unterliegen. Der Zusammenhang zwischen der so verstandenen Ewigkeit und der Vollkommenheit lässt sich anhand einer Aristotelischen Beschrei-bung dessen, was sich außerhalb des Himmels befi ndet, gut veranschaulichen:

Also [sc. da außerhalb weder ein Ort noch das Leere noch die Zeit existiert] besteht das Dor-tige weder an einem Ort noch ist da eine Zeit, die es altern macht (oÜte crÒnoj aÙt¦ poie‹ ghr£skein), noch gibt es irgendeine Veränderung an demjenigen, was jenseits des äußersten Umschwungs eingeordnet ist; sondern es ist unveränderlich (¢nallo…wta) und unverletzlich (¢paqÁ) und verbringt den ganzen Aion in dem besten (t¾n ¢r…sthn) Leben und dem selbst-genügsamsten (t¾n aÙtarkest£thn)435.

Bleibt man bei der Untersuchung des zuerst genannten Attributs des Seienden, seiner Identität mit dem Denken und dem Gegenstand des Denkens (8.34-36a), im Bereich der platonisch-aristotelischen Assoziationen, legt die Frage nach sei-nem Zusammenhang mit der Vollkommenheit des Seienden den Gedanken an die autarke Welt des Timaios oder den Aristotelischen unbewegten Beweger nahe. Das auf ein denkendes Lebewesen angewandte Ideal der Autarkie resultiert in beiden Fällen in der Vorstellung einer refl exiven Hinwendung dieses Wesens zu

433 ¹ d' aÙt£rkeia kaˆ tšloj kaˆ bšltiston (Arist., Pol. 1253a 1).434 oÙdenÕj g¦r ™nde¾j ¹ eÙdaimon…a ¢ll' aÙt£rkhj („... denn das Glück ist frei von Mangel: es

genügt sich selbst“; Arist., EN 1176b 5-6. Übers. F. Dirlmeier). S. auch EN 1097b 14-16: „Unter dem Begriff ‚für sich allein genügend‘ verstehen wir das, was rein für sich genommen das Leben begehrenswert macht und nirgends einen Mangel offen läßt (mhdenÕj ™nde©). Wir glauben, daß das Glück dieser Begriffsbestimmung entspricht (...)“; Übers. F. Dirlmeier. Am deutlichsten soll diese Idee Epikur ausgedrückt haben: plousiètaton aÙt£rkeia p£ntwn (Fr. 476 Usener).

435 Arist., De cael. 279a 18-22. Übers. O. Gigon.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 112: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

156 Aletheia: Denken und Sein

sich selbst: Während die sich selbst genügende436 Welt des Timaios eine Art Liebe zu sich selbst hegt437, denkt der erste Beweger, dessen Denken nicht von etwas anderem abhängig sein soll438, an das Vollkommenste und Wertvollste, d. i. an sich selbst, so dass sein Denken ein Denken des Denkens ist (aØtÕn ¥ra noe‹, e‡per ™stˆ tÕ kr£tiston, kaˆ œstin ¹ nÒhsij no»sewj nÒhsij)439: Das Denken und sein Gegenstand sind dasselbe (¹ nÒhsij tù nooumšnJ m…a)440.

Es kann jedoch bezweifelt werden, ob die Parmenideische These in Fr. 8.34 als die erste Formulierung der Aristotelischen Doktrin betrachtet werden kann. Was im Text des Parmenides auffällt, ist die Tatsache, dass dem Seienden keine Züge eines Lebewesens zugeschrieben werden; im Gegenteil können die deduzierten Eigenschaften des Seienden als eine Negation einer „animisierenden“ Vorstellung der Realität aufgefasst werden441. Der Satz œsti g¦r oÙk ™pideušj, der einen weiteren „animistischen“ Zug negiert, könnte als ein Teil dieses Vorhabens aufgefasst werden: Das von einer festen Grenze umgebene Seiende ist kein von äußerlichen Faktoren abhängiges Wesen442. Es ist – scheint Parmenides zu argumentieren – überhaupt kein wegen seiner psychischen oder gar organischen Bedürfnisse auf Äußeres und Fremdes angewiesenes Lebewesen, sondern es ist Denken. An Stelle der psychischen Funktionen tritt das abstrakt aufgefasste Denken hervor, die animistisch begriffene Aktivität wird durch eine logische Identität ersetzt.

Der zweite Teil von V. 34b, te kaˆ oÛnekšn ™sti nÒhma, wendet sich gegen ein eventuelles Missverständnis, das aus der Identifi zierung des Seienden mit dem Denken entstehen könnte: Das Denken ist für die Griechen immer Denken an etwas443, es ist etwas gegenüber der objektiven Realität Sekundäres und von ihr

436 „... denn es hielt der, welcher sie zusammenfügte, sie für vollkommener und besser, wenn sie sich selbst genügte (aÜtarkej Ôn), als wenn sie eines anderen bedürfte (À prosde{j ¥llwn)“, Tim. 33c 8 – d 3. Übers. F. Susemihl.

437 „... durch seine Vortreffl ichkeit mit sich selber des Umgangs zu pfl egen vermag und keines anderen dazu bedarf (oÙdenÕj ˜tšrou prosdeÒmenon), sondern hinlänglich bekannt und befreundet ist allein mit sich selber ...“, Tim. 34b 6-8. Übers. F. Susemihl.

438 Met. 1074b 18-21.439 Met. 1074b 33-35.440 Met. 1075a 4-5.441 S. oben, Kap. 3.3.2.3.442 Da Parmenides offensichtlich die Vorstellung der Realität als eines nicht nur lebendigen, sondern

auch des Äußeren bedürftigen Wesens negiert, könnte hier eine Polemik gegenüber frühgrie-chischen Weltauffassungen vorliegen. Relevant könnte hier auch die Negation der Zeit sein, vgl. die pythagoreische Vorstellung, nach der die Welt aus dem sie umgebenden Unbegrenzten crÒnon te kaˆ pno¾n kaˆ tÕ kenÒn einatmet (Stob. Ecl. 1, 18, 1c aus der Aristotelischen Schrift Perˆ tÁj PuqagÒrou filosof…aj; DK 58 B 30; vgl. Arist., Phys. 213b 22-24). Zu ähnlichen Motiven in der milesischen Kosmogonie und Kosmologie s. W.K.C. Guthrie (1962, S. 279) und E. Zeller (1919-20, S. 435), zur pythagoreischen Kosmogonie s. Met. 1091a 15-18; J.E. Raven (1966, S. 43-65); W.K.C. Guthrie (1962, S. 276ff.); E. Zeller (1919-20, S. 543ff.); A. Hermann (2004, S. 99-101). Vgl. die Negation solcher Vorstellungen bei Plat., Tim. 33c – 34a und Emp. DK 31 B 29 (sowie DL 9.19 = Xenophanes, DK 21 A 1).

443 Vgl. z. B. Platon, Parm. 132b-c.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 113: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Denken und „ist“ 157

Abhängiges. Parmenides erklärt darum, dass die Autarkie und Vollkommenheit des Seienden durch die Identifi zierung mit dem notwendigerweise auf etwas gerichteten Denken nicht gefährdet ist: Das Seiende ist nicht von äußeren Gegenständen des Denkens abhängig, weil es selbst das ist, „um dessentwillen“ das Denken erfolgt. Das Seiende selbst ist die Bedingung des Denkens, das sich deshalb auf keinen anderen Gegenstand richten kann.

Eine interessante Analogie im Gebrauch des Ausdrucks oÛneken, die zeigt, dass der Satz „etw. ist um X’s willen“ zur Negation einer Abhängigkeit des X und dadurch zur Bestimmung seines autarken Status gebraucht werden kann, fi ndet sich bei Aristoteles, der schreibt: oÙ g¦r ™pitaktikîj ¥rcwn Ð qeÒj, ¢ll' oá ›neka ¹ frÒnhsij ™pit£ttei (...), ™peˆ ke‹nÒj ge oÙqenÕj de‹tai (EE 1249b 13-16)444: Der Gott ist nicht das Befehlende, sondern das, um dessentwillen die Befehle erteilt werden, denn ihm selbst mangelt es an nichts. Analog könnten wir sagen: Das Seiende (obwohl es mit dem Denken identisch ist) ist nicht das an alles Denkende, sondern das, um dessentwillen das Denken erfolgt, denn es selbst ist völlig bedürfnislos. Da aber das Denken mit dem Seienden identisch ist, existiert das Denken, und damit auch das Seiende, um seiner selbst willen: Es ist vollkommen autark.

444 „Der Gott nämlich herrscht nicht in einer befehlenden Weise, sondern ist jener Endzweck, um dessentwillen die sittliche Einsicht ihre Befehle gibt (...), da der Gott ja keiner Güter bedarf. “ Übers. F. Dirlmeier.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM

Page 114: [Studia Praesocratica] Die Konzeption des "noein" bei Parmenides von Elea || 3. Aletheia: Denken und Sein

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 134.99.128.41

Download Date | 11/8/13 5:39 PM


Recommended