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Strahlen und Gesundheit (Nutzen und Risiken) || Strahlenwirkungen in der Zelle - etwas näher...

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12 Strahlenwirkungen in der Zelle etwas näher betrachtet 12.1 Übersicht Alle gesundheitlichen Wirkungen einer Strahleneinwirkung nehmen ihren Aus- gang von Veränderungen in der Zelle. Die zelluläre Strahlenbiologie hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem eigenständigen und umfangreichen Wissen- schaftsgebiet entwickelt, dem ganze Lehrbücher und fast unzählige Übersichts- artikel gewidmet sind. Hier können daher nur wenige Aspekte angerissen werden, mehr finden Leser oder Leserin in der am Ende des Buches angegebenen weiter- führenden Literatur. Von wenigen Ausnahmen abgesehen basieren die Erkennt- nisse ausschließlich auf dem Studium der Wirkungen ionisierender und ultra- violetter Strahlung. Das hat zur Folge, dass Versuche, die Effekte anderer Strahlenarten (z. B. der Mobilfunkfelder) zu erforschen, sich der Denkweise und der Methoden der Strahlenbiologie im engeren Sinne bedienen, wobei nicht immer mit der nötigen Sorgfalt vorgegangen und das Gesamtgebiet in hinreichen- der Weise in die Überlegungen einbezogen wird. Recht schematisch kann man den Werdegang der biologischen Strahlenwirkung wie in Abb. 12.1 skizzieren. Am Anfang der Wirkungskette steht die Energiedeposition, entweder in Form von Ionisationen (bei ionisierender Strahlung) oder Anregung in geeigneten Chromophoren (bei UV- und sichtbarer Strahlung). Oft schließen sich physiko- chemische Reaktionen an, die äußerst schnell ablaufen und in weniger als einer Millisekunde abgeschlossen sind. Bei ionisierender Strahlung spielen hier vor allem freie Radikale eine Rolle (sie können aber auch bei UV auftreten), im UV und Sichtbaren sind in erster Linie Energieübertragungen bei photosensibilisier- ten Vorgängen zu nennen. Der wichtigste molekulare Angriffspunkt ist natürlich die DNA, von primären Läsionen an ihr nehmen alle weiteren Prozesse ihren Ausgang. Um sie zu erfassen, bedarf es spezieller, manchmal aufwändiger Techniken. Schäden am Genom können aber auch im mikroskopischen Bild sichtbar werden und zwar in der Form von Chromosomenaberrationen. Die Zelle reagiert auf vielfältige Weise auf strahleninduzierte Schäden. Eine ganze Reihe von Genen wird hoch- oder auch hinabreguliert, der Ablauf des Zellzyklus verzögert und Reparaturprozesse werden 179 Strahlen und Gesundheit: Nutzen und Risiken, 1. Auflage. Jürgen Kiefer © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Published 2012 by Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA.
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12Strahlenwirkungen in der Zelle – etwas näher betrachtet

12.1Übersicht

Alle gesundheitlichen Wirkungen einer Strahleneinwirkung nehmen ihren Aus-gang von Veränderungen in der Zelle. Die zelluläre Strahlenbiologie hat sich inden letzten Jahrzehnten zu einem eigenständigen und umfangreichen Wissen-schaftsgebiet entwickelt, dem ganze Lehrbücher und fast unzählige Übersichts-artikel gewidmet sind. Hier können daher nur wenige Aspekte angerissen werden,mehr finden Leser oder Leserin in der am Ende des Buches angegebenen weiter-führenden Literatur. Von wenigen Ausnahmen abgesehen basieren die Erkennt-nisse ausschließlich auf dem Studium der Wirkungen ionisierender und ultra-violetter Strahlung. Das hat zur Folge, dass Versuche, die Effekte andererStrahlenarten (z. B. der Mobilfunkfelder) zu erforschen, sich der Denkweise undder Methoden der Strahlenbiologie im engeren Sinne bedienen, wobei nichtimmer mit der nötigen Sorgfalt vorgegangen und das Gesamtgebiet in hinreichen-der Weise in die Überlegungen einbezogen wird.Recht schematisch kann man den Werdegang der biologischen Strahlenwirkung

wie in Abb. 12.1 skizzieren.Am Anfang der Wirkungskette steht die Energiedeposition, entweder in Form

von Ionisationen (bei ionisierender Strahlung) oder Anregung in geeignetenChromophoren (bei UV- und sichtbarer Strahlung). Oft schließen sich physiko-chemische Reaktionen an, die äußerst schnell ablaufen und in weniger als einerMillisekunde abgeschlossen sind. Bei ionisierender Strahlung spielen hier vorallem freie Radikale eine Rolle (sie können aber auch bei UV auftreten), im UVund Sichtbaren sind in erster Linie Energieübertragungen bei photosensibilisier-ten Vorgängen zu nennen.Der wichtigste molekulare Angriffspunkt ist natürlich die DNA, von primären

Läsionen an ihr nehmen alle weiteren Prozesse ihren Ausgang. Um sie zuerfassen, bedarf es spezieller, manchmal aufwändiger Techniken. Schäden amGenom können aber auch im mikroskopischen Bild sichtbar werden und zwar inder Form von Chromosomenaberrationen. Die Zelle reagiert auf vielfältige Weiseauf strahleninduzierte Schäden. Eine ganze Reihe von Genen wird hoch- oder auchhinabreguliert, der Ablauf des Zellzyklus verzögert und Reparaturprozesse werden

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Strahlen und Gesundheit: Nutzen und Risiken, 1. Auflage. Jürgen Kiefer© 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Published 2012 by Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA.

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angestoßen. Bei nicht zu hohen Dosen bleibt die physiologische Integrität zu-nächst weitgehend erhalten, die Zellen können sich auch noch teilen, aber in derRegel bleiben Schäden zurück. Die Erbinformation ist verändert auf Grund vonbleibenden Mutationen, es kann der Keim für einen Tumor gelegt werden, wasman als „neoplastische Transformation“ bezeichnet. In Abhängigkeit von derDosis kommt es früher oder später zu einem Stopp der Zellteilung, die unbe-grenzte Teilungsfähigkeit geht verloren, was experimentell als „Verlust der Kolo-niebildungsfähigkeit“ registriert wird.All dies zieht Konsequenzen für den Gesamtorganismus nach sich, sie können

früher oder später manifest werden. Der Verlust der Teilungsfähigkeit beein-trächtigt vor allem die Funktionsfähigkeit derjenigen Organe, die wegen eineshohen Zellverlusts auf eine kontinuierliche Nachlieferung angewiesen sind, soge-nannte „Erneuerungsgewebe“. Dazu gehören alle äußeren und inneren Oberflä-chen (Haut, Magen-Darm-Trakt), aber auch das blutbildende System. Darausresultierende Schäden treten meist relativ schnell auf. Bei anderen dauert es sehrviel länger. Das genetische Risiko beruht auf Mutationen in der Keimbahn, undneoplastisch transformierte Zellen können sich später zu einem Tumor ent-wickeln, was Jahre, selbst Jahrzehnte, dauern kann.Die Erhaltung strahlengeschädigter, aber noch teilungsfähiger Zellen bietet für

den Körper zwar den Vorteil, akute Organschäden zu begrenzen, birgt auf deranderen Seite aber die Gefahr, dass sehr viel später genetische Effekte auftretenoder dass es zu einer Krebserkrankung kommt. Eine Möglichkeit, diese Kon-sequenzen zu vermeiden, besteht darin, geschädigte Zellen schnell aus demKörper zu entfernen. Dies geschieht nach einem subtil orchestrierten Selbstmord-programm, das man als „Apoptose“ bezeichnet. Dabei werden die Zellen nicht

Abb. 12.1 Schematischer Ablauf strahlenbiologischer Effekte.

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etwa einfach abgestoßen, also gewissermaßen „entsorgt“, sondern die wesentli-chen Bestandteile, auch die DNA, werden zerlegt, und damit einer weiterenVerwendung zugeführt. Es handelt sich also um biologisches Recycling, das auchden weiteren Vorteil bietet, dass der Körper nicht mit dem Abtransport abge-storbener Zellen belastet wird. Allerdings kommt es auch hier auf die richtigeBalance an. Ein Verlust vieler Zellen würde die Funktionsfähigkeit kritischerOrgane unmittelbar bedrohen, aus diesem Grunde spielt die Apoptose vor allembei niedrigen Dosen eine Rolle, bei höheren Werten überwiegt das Bestreben, auchmit möglicherweise geschädigten Zellen akute Schäden zu begrenzen, allerdingsmit dem Risiko möglicher Spätschäden.Die gerade skizzierte Schadenspalette gilt so nur für ionisierende Strahlen, da

nur sie tiefer liegende Organe erreichen können, bei UV sind nur Haut und Augenbetroffen.

12.2Initiale DNA-Veränderungen

Durch die Einwirkung ionisierender Strahlen können an der DNA die verschie-densten Schäden hervorgerufen werden (Abb. 12.2), die hier nicht alle erörtertwerden, weil ihre Signifikanz auch nicht immer klar ist. Die meisten könnendarüber hinaus repariert werden.

Abb. 12.2 DNA-Veränderungen nach Einwirken ionisierender Strahlen. Von besonderer Bedeu-tung sind DNA-Doppelstrangbrüche (Bildmitte). Quelle: [118].

12.2 Initiale DNA-Veränderungen 181

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Eine Sonderstellung nehmen „Doppelstrangbrüche“ (DSB) ein. Wie der Namesagt, wird dabei der DNA-Doppeltstrang vollständig durchschnitten. Intuitiv würdeman annehmen, dass ein solcher Schaden irreversibel ist. Das war über viele Jahreauch die weitgehend akzeptierte Lehrmeinung, es wurde dabei jedoch übersehen,dass die DNA keineswegs nackt im Zellkern liegt, sondern in ein Proteingerüsteingebunden ist, das vor allem aus den basischen Histonen besteht und fürStabilität sorgt, auch wenn die Nukleinsäure schwere strukturelle Fehler aufweist.Mit einem Doppelstrangbruch fällt also nicht alles auseinander, dennoch handeltes sich um eine schwerwiegende Veränderung. Sie kann aber repariert werden,dies muss sogar geschehen, damit die Zelle sich wieder teilen kann. Einzelheitenkommen weiter unten.Je nach Strahlenart und Dosis können Strangbrüche auch lokal in hoher Kon-

zentration auftreten, oft auch zusammen mit anderen Läsionen. In Abb. 12.2 sindsolche Strukturen als bulky lesions bezeichnet. Es ist nachzuvollziehen, dass einesolche Konfiguration nur schwer aufzulösen ist und Reparaturbemühungen er-heblich erschwert. Man geht daher davon aus, dass diese komplexen Schäden, diebesonders durch Einwirken dicht ionisierender Strahlung auftreten, überpropor-tional für die später auftretenden biologischen Effekte verantwortlich zu machensind.Moderne Techniken erlauben es, DNA-Doppelstrangbrüche äußerst empfindlich

nachzuweisen und quantitativ zu bestimmen. Ihre Zahl steigt linear mit der Dosisan, diese Beziehung gilt über viele Zehnerpotenzen, von einigen mGy bis mindes-tens 10 Gy. Man kann ihre Verteilung im Zellkern sogar sichtbar machen, wieAbb. 12.3 zeigt.Nach der Einwirkung ultravioletter Strahlen sieht das Schadensspektrum anders

aus. Einzelstrangbrüche sind selten, Doppelstrangbrüche als direkte Strahlenfolgewerden überhaupt nicht gefunden, können aber im Laufe von Reparaturprozessen

Abb. 12.3 Immunchemische Färbung von DNA-Doppelstrangbrüchen im Kern einer mit Rönt-genstrahlen exponierten Säugerzelle. Jeder

Punkt entspricht einem Doppelstrangbruch.(Foto: Dr. Andrea Kinner) (S. auch FarbtafelS. XX.)

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oder durch Fehler bei der Replikation indirekt entstehen. Vorherrschend sindBasenveränderungen, die wichtigsten sind Pyrimidindimere, bei denen auf einemStrang nebeneinanderliegende Thyminbasen kovalent verbunden werden. Da-durch wird die Struktur des Doppelstranges verformt, auch die fehlerfreie Repli-kation ist dadurch gehemmt. Es gibt noch andere Photoprodukte, deren Bedeu-tung jedoch deutlich geringer ist.Pyrimidindimere stellen ein unverwechselbares Kennzeichen einer UV-Einwir-

kung dar, weil sie weder durch andere Strahlen noch durch Chemikalien induziertwerden. Da sie sich außerdem durch ziemliche chemische Stabilität auszeichnenund sich heute mit Hilfe immunochemischer Methoden recht empfindlich nach-weisen lassen, haben sie sich als sehr hilfreiche Indikatoren bei der Analyseerwiesen, z. B. zur Aufklärung von Reparaturprozessen.

12.3Strahleninduzierte Veränderungen der Chromosomen

Die initialen Läsionen in der DNA lassen sich nur mit Hilfe relativ komplizierterTechniken erfassen – sehen kann man sie nicht. In der Mitose wird das genetischeMaterial sichtbar in der Form der Chromosomen (vgl. Kapitel 2). Es liegt dahernahe zu vermuten, dass Strahlenschäden sich auch in ihnen manifestieren sollten.Das ist in der Tat der Fall. Veränderungen an den Chromosomen werden generellals Aberrationen bezeichnet, von denen es zwei Typen gibt, numerische undstrukturelle. Unter den ersten versteht man eine Änderung der Chromosomen-zahl, bei Menschen also eine Abweichung von 46 im diploiden Satz. Sie könnenschwerwiegende Krankheiten nach sich ziehen, z. B. das „Down Syndrom“, das aufeiner Trisomie 21, also einem zusätzlichen Chromosom 21 beruht. NumerischeAberrationen treten nach Strahlenexposition verhältnismäßig selten auf. Ganz

Abb. 12.4 Pyrimidindimere im DNA-Doppelstrang (NASA/David Herring). (S. auch Farbtafel S. XX.)

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anders verhält es sich mit strukturellen Aberrationen, sie sind typische Kenn-zeichen für eine Strahleneinwirkung, vor allem bei ionisierender Strahlung, etwasweniger ausgeprägt bei UV. Der Ausgangspunkt ist immer ein Chromosomen-bruch, der aber nicht mit einem Bruch der DNA-Helix identifiziert werden darf. Esist zwar richtig, dass Chromosomenbrüche in der Regel auf einen DNA-Doppel-strangbruch (DSB) zurückgehen, d. h., es gibt keinen Chromosomenbruch ohneeinen DSB, aber dies stell nur eine notwendige, keineswegs jedoch eine hinrei-chende Bedingung dar. Ein Großteil der DSB wird repariert (nicht notwendiger-weise korrekt), bevor sie sich auf der Ebene der Chromosomen manifestierenkönnen.Die Formen chromosomaler Veränderungen sind vielgestaltig, sie können hier

nicht auch nur annähernd vollständig referiert werden [119]. Wir beschränken unsdaher auf einige typische Beispiele, die in Abb. 12.5 schematisch skizziert sind.Der einfachste Fall ist ein nicht verheilter Chromosomenbruch (rechts im Bild).

Dabei entsteht durch eine „Deletion“ ein verkürztes Chromosom und ein „azen-trisches Fragment“, d. h. ein Stück ohne Zentromer. Es wird in der Regel von derZelle repliziert, da aber das Zentromer fehlt, klappt die Verteilung auf die Tochter-zellen nicht richtig, so dass unter Umständen wichtige Information verloren geht,was sich im Absterben oder in veränderten genetischen Eigenschaften nieder-schlagen kann.Es gibt noch einen anderen interessanten Effekt: Das isolierte Teilstück kann

sich mit einer eigenen Membran umhüllen, wodurch ein weiterer, kleinerer Kernentsteht, ein „Mikrokern“ (engl. micronucleus). Diese Gebilde sind auch in der

Abb. 12.5 Zur Entstehung struktureller Chromosomenaberrationen.

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Interphase nach geeigneter Anfärbung im mikroskopischen Bild leicht zu erken-nen, weshalb sich diese Methode großer Beliebtheit erfreut. Bei der Interpretationmuss man allerdings vorsichtig sein. Zwar ist es richtig, dass azentrische Frag-mente, welche im Gefolge von DNA-Doppelstrangbrüchen aus Chromosomenbrü-chen hervorgehen, oft zu Mikrokernen führen, sie können aber auch andersentstehen, z. B. durch eine nicht balancierte Verteilung der Chromosomen beider Zellteilung. In diesem Fall enthalten die Mikrokerne auch Zentromere. Mankann das natürlich feststellen (etwas aufwändiger), aber genau hinsehen ist schonnotwendig. Die möglichen Fehlinterpretationen, von denen es noch eine Reihemehr gibt, haben einen geschätzten Kollegen, seines Zeichens Spezialist aufdiesem Gebiet, bei einem Vortrag zu dem provokanten Titel veranlasst „Why foolsshould not study micronuclei“ („Warum Einfältige nicht Mikrokerne untersuchensollten“). Diese Hinweise sind nötig, weil auch die neuere Literatur, besonders inBezug auf Mikrowellenfelder, voll von unkritischen Schlussfolgerungen ist, diemanchmal auch in normalen Presseorganen zitiert werden.Die beschriebene Deletion von Chromosomenstücken stellt den einfachsten Fall

einer Aberration dar, interessant wird es, wenn zwei verschiedene Chromosomenbeteiligt sind (linke Seite in Abb. 12.5). Hier gibt es eine Vielfalt möglicherFormen, die hier besprochenen stellen die wichtigsten Beispiele dar. Die Aus-gangssituation ist das Vorliegen von jeweils einem Bruch in zwei verschiedenenChromosomen. Diese meisten dieser Brüche sind dadurch gekennzeichnet, dasssie sich mit anderen relativ leicht verbinden. Man sagt etwas salopp, sie seien„klebrig“ (engl. sticky). Passiert dies an der ursprünglichen Bruchstelle, so wird dieursprüngliche Struktur wiederhergestellt, was zwar bemerkenswert, für die weitereDiskussion aber uninteressant ist. Wichtiger sind andere Alternativen: Die Rest-stücke der beiden Chromosomen verbinden sich, so dass ein Chromosom mitzwei Zentromeren entsteht, also ein „dizentrisches Chromosom“, häufig als „dic“abgekürzt. Eine solche Struktur lässt sich bei einiger Erfahrung im mikroskopi-schen Bild identifizieren, allerdings nur in der Teilungsphase, der Mitose. Dizen-trische Chromosomen sind recht typisch als Folge der Einwirkung ionisierenderStrahlen, können aber auch durch bestimmte Chemikalien („Radiomimetika“) undmit geringerer Wahrscheinlichkeit auch durch UV entstehen. Sie lassen sich alsFolge von DNA-Doppelstrangbrüchen interpretieren und sind dafür ein relativspezifisches Indiz.Wenn dizentrische Chromosomen in die Zellteilung kommen, heften die Spin-

delproteine an zwei Zentromere im selben Chromosom an. Falls sie in dieselbeRichtung ziehen, ist alles in Ordnung. In 50% aller Fälle geschieht dies aber nicht,es bildet sich zwischen den beiden Tochterzellen eine Chromosomenbrücke(„Anaphasenbrücke“), der es im weiteren Verlauf so geht wie dem sprichwört-lichen Knochen zwischen zwei Hunden: sie zerreißt. Damit ist das Schicksal derZellen besiegelt, in der Hälfte aller Teilungen sterben Zellen mit dizentrischenChromosomen ab. Das bedeutet, dass sie in teilungsaktiven Geweben recht schnellverschwinden. Das noch übrig gebliebene Fragment aus den zusammengesetztenEndstücken verhält sich genauso wie das durch einfache Deletion entstandene.

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Der zweite Fall bietet noch interessantere Perspektiven: die abgetrennten Ends-tücke werden ausgetauscht, man bezeichnet das als „Translokation“. Man istgeneigt, diesen Vorgang als unbedeutend anzusehen, denn es geht keine Informa-tion verloren, sie befindet sich nur an anderer Stelle. Dies ist jedoch zu kurzgedacht, wie ein Rückgriff auf die eigene Erfahrung zeigt: Wird auf einem Scheckdas Komma verschoben, so handelt es sich auch um keinen Informationsverlust,sondern nur um eine „Translokation“, die Wirkungen können allerdings drama-tisch sein. In der Zelle ist es ähnlich, durch die Verschiebung können neueProteine entstehen, welche ihre Eigenschaften erheblich verändern. Wir wissenheute, dass viele Tumorzellen charakteristische Translokationen aufweisen. Dasbekannteste Beispiel stellt das „Philadelphia Chromosom“ dar, das typisch ist füreinige menschliche Leukämien, vor allem die chronisch-myeloische Leukämie(CML), und durch eine Translokation zwischen den Chromosomen 9 und 22entsteht. Es war das erste Beispiel von Translokationen in Tumorzellen, demnoch viele weitere folgen sollten. Es demonstriert eindrücklich, wie durch Strahlen-einwirkung Tumore entstehen können.Translokationen sind aber auch noch in anderer Hinsicht interessant. Da für das

Überleben wichtige Informationen in der Regel nicht verloren gehen, bleiben siein der Population erhalten (anders als dizentrische) und können auch lange Zeitnach der Exposition noch nachgewiesen werden, jedenfalls im Prinzip, in derRealität haben auch sie eine verkürzte Lebenszeit. Damit kommen wir zu einerpraktischen Anwendung der Chromosomenaberrationen, nämlich als Indikatorenfür die Biodosimetrie. Sehr häufig, vor allem bei Unglücksfällen, ist nach einerStrahlenexposition die Dosis nicht bekannt, der die betroffenen Personen aus-gesetzt waren und die nachträgliche Rekonstruktion gestaltet sich schwierig. Eineretrospektive Messung im Körper der Opfer wäre somit sehr hilfreich. Dasklassische Instrument war die Bestimmung dizentrischer Chromosomen. In tei-lungsaktiven Geweben verschwinden sie jedoch recht schnell, auf der anderenSeite konnten sie aber nur während der Zellteilung sichtbar gemacht und damitnachgewiesen werden. Man befand sich also in dem Dilemma, in ruhendenZellpopulationen teilungsspezifische Veränderungen zu erfassen. Einen Auswegbilden Lymphozyten im peripheren Blut. Sie teilen sich unter normalen Umstän-den relativ wenig, können aber außerhalb des Körpers unter entsprechendenKulturbedingungen zur Teilung stimuliert werden und zwar durch Einwirkungdes pflanzlichen Stoffes Phythämagglutinin (er findet sich z. B. zu geringenKonzentrationen in Bohnen). Mit seiner Hilfe lassen sich dann Mitosen induzie-ren und Chromosomenaberrationen beobachten. Das „klassische“ Verfahrenstützt sich auf dizentrische Chromosomen, auf die man auch heute meist nochzurückgreift. Erfahrung und entsprechende Technik vorausgesetzt, kann man soDosen ab ca. 0,1 Sv erfassen. Die relativ kurze Überlebensdauer dieser „instabilen“Aberrationen bildet ein Hindernis für zuverlässige retrospektive Abschätzungen,was für die relativ „stabilen“ Translokationen nicht gilt. Ihre Bestimmung war bisvor einigen Jahren sehr schwierig, ist nun aber durch die FISH-Technik (s. Kapitel2) entscheidend erleichtert worden. Da sich alle Chromosomen selektiv anfärbenlassen, kann man „falsche“ Stücke sehr leicht erkennen. Allerdings ist die Emp-

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findlichkeit deutlich geringer als bei den Dizentrischen, weil man in der Regel nurwenige der 46 Chromosomen so gezielt untersuchen kann.

12.4Zelluläre Endpunkte: Teilungsfähigkeit, Mutationen, Transformationen

Strahleneinwirkung unterbindet die unbegrenzte Zellteilung, ein Effekt, der so-wohl für die Tumortherapie (positiv) als auch für die akute Organschädigung(negativ) bedeutsam ist. Eine genauere Aussage über die quantitativen Zusammen-hänge lässt sich kaum durch Tierversuche erreichen, es bedarf dazu besondererIn-vitro (wörtlich: „im Glas“, außerhalb des Körpers, Gegenteil: In-vivo) -Techniken.Im Prinzip handelt es sich um ein einfaches Verfahren, das auf Robert Koch, dengroßen Bakteriologen und Erforscher der Tuberkolose (1843–1910, Nobelpreis1905), zurückgeht und auch heute noch in der Mikrobiologie angewandt wird. Erbrachte Flüssigkeiten, von denen er annahm, dass sie verseucht seien, auf ver-festigte, für Bakterien geeignete Nährböden und bebrütete sie für einige Zeit beider „richtigen“ Temperatur. Aus einzelnen Zellen wuchsen auf Grund vielerTeilungen sichtbare Häufchen, „Kolonien“, heran, aus deren Zahl man auf dieursprüngliche Bakterienkonzentration zurückschließen konnte, vorausgesetzt, dieZellen hatten ihre Teilungsfähigkeit nicht verloren. Auf diese Weise kann maneinfach die bakterienabtötende Wirkung von Pharmaka, z. B. Antibiotika, testen.In den 1950er Jahren ist es gelungen, analoge Versuche auch mit aus Tierenisolierten Zellen durchzuführen, später wurde es auch mit menschlichen Zellenmöglich. Eine der ersten Zelllinien dieser Art trägt den Namen „HeLa“, was für dieInitialen der Spenderin steht. Sie war eine schwarze Amerikanerin, HenrietaLacks, die 1951 an Krebs starb. Aus ihrem Gebärmutterhalskrebs wurden dieZellen isoliert, die in vielen Labors in aller Welt vermehrt und verwendet wurden,sie sind auch heute noch ein wertvolles Hilfsmittel. Man schätzt, dass die Gesamt-menge an die fünfzig Tonnen ausmacht. Die amerikanische Autorin RebeccaSkloot hat die Geschichte in einem faszinierenden Buch dargestellt [120]. Heutegibt es eine große Zahl von menschlichen Zellen für die In-vitro-Kultur.Nach einer Bestrahlung sinkt die Zahl der koloniebildenden Zellen. Bezieht man

ihre Zahl auf diejenige, die ohne Bestrahlung gefunden wird, so erhält man diesogenannte „Überlebensfraktion“, was eigentlich eine irreführende Bezeichnungist, denn die nicht mehr teilungsfähigen Zellen sind im biochemischen Sinnedurchaus nicht tot, viele ihrer Funktionen bleiben durchaus noch erhalten. Ausdiesem Grund führen auch gängige „Vitalitätstests“, die auf Farbreaktionen beru-hen, in die Irre. Die Zellen verlieren ihre Teilungsfähigkeit nicht sofort, diemeisten teilen sich noch mehrere Male nach der Bestrahlung – nur für eineKolonie reicht es nicht mehr.Abbildung 12.6 zeigt typische Überlebenskurven nach Exposition mit Röntgen-

strahlen oder Alphateilchen. Es lohnt sich, einen näheren Blick auf die Figur zuwerfen. Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass es sich um eine halb-logarithmische Darstellung handelt, d. h., die Dosis ist in einem linearen, die

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Überlebensfraktion jedoch in einem logarithmischen Raster auf getragen (jedeMaßeinheit entspricht einer Zehnerpotenz). Die beiden Kurven unterscheidensich deutlich: Bei Röntgenstrahlen fällt die Überlebensfraktion zunächst langsam,bis sie bei höheren Dosen in einen steileren, in dieser Darstellung geradenAbschnitt übergeht. Aus dem Betrachter offensichtlichen Gründen spricht manhier von einer „Schulterkurve“. Bei Alphateilchen findet man die Schulter nicht.In der halb-logarithmischen Repräsentation entspricht eine Gerade einer Expo-

nentialfunktion.Die Alpha-Kurve kann man daher durch die folgende Formel beschreiben Über-

lebensfraktion = e−kD, wobei D die Dosis ist und k ein zelllinientypischer Parameter.Offenbar bestimmt nicht die Dosis allein die Wirkung, es kommt auch auf die

Strahlenart an. Etwas vereinfachend, aber im Allgemeinen zutreffend, kann manfesthalten, dass dicht ionisierende Strahlen bei gleicher Dosis eine größere Wir-kung zeigen als locker ionisierende. In der Wissenschaft wird dieses Verhalten als„relative biologische Wirksamkeit“ abgekürzt „RBW“, bezeichnet (engl. relativebiological effectiveness, RBE). Im Strahlenschutz wird dem durch die Einführungvon „Strahlenwichtungsfaktoren“ Rechnung getragen (s. Kapitel 15).Die „Schulterkurve“ hat eine interessante Implikation: Niedrige Dosen sind

offenbar pro Dosisintervall weniger wirksam als hohe, was zu der Frage führt, obes einen Bereich gibt, in dem überhaupt keine Effekte mehr zu finden sind, mitanderen Worten, tritt die Wirkung erst nach Überschreiten einer Schwelle auf.Diese Diskussion zieht sich schon seit Jahrzehnten hin und hat bisher zu keinereindeutig belegbaren Lösung, aber zu vielen Forschungsvorhaben geführt. DieseProblematik soll hier nicht weiter vertieft werden, weil eine Entscheidung aufGrund experimenteller oder epidemiologischer Erkenntnisse derzeit nicht möglichist.

Abb. 12.6 Überlebenskurven von Säugerzellen nach Röntgen- und Alphateilchenexposition (ausdem Labor des Verfassers).

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Mit Hilfe des beschriebenen Kultivierungsverfahrens kann man auch die Häufig-keit von Mutationen bestimmen. Sie können sich z. B. darin äußern, dass Zellengegenüber bestimmten Giften resistent werden, was man auch von Bakterienweiß. Setzt man dem Nährmedium solche Stoffe zu, so können nur resistenteMutanten wachsen und Kolonien bilden. Da die Mutationsraten – auch nachStrahlenexposition – gering sind, muss man von sehr viel höheren Zellkonzen-trationen ausgehen als bei den Überlebenstests. Abbildung 12.7 zeigt das Ergebniseines solchen Versuchs. Die durchgezogene Kurve gibt das Resultat der Auszäh-lung der gewachsenen Kolonien wieder. Das Ergebnis erstaunt. Zwar steigt dieZahl der Mutantenkolonien wie erwartet zunächst an, fällt dann aber wieder ab.Sind hohe Dosen also nicht mutagen? Um den Verlauf zu verstehen, muss daranerinnert werden, dass der Test nur überlebende Zellen erfasst, das gilt auch fürMutanten. Bei höheren Dosen überwiegt die Teilungsinaktivierung, d. h. auchmutierte Zellen haben keine Chance, zu Kolonien heranzuwachsen. Die Rateinduzierter Mutanten wird also unterschätzt. Da man aus Parallelexperimentenohne Zellgift die dosisabhängige Abnahme der Koloniebildungsfähigkeit kennt,kann man eine (rechnerische) Korrektur durchführen. Das Ergebnis ist auch in derAbbildung zu sehen. Danach steigt die Mutationsrate nach Röntgenbestrahlungmit der Dosis in Form einer Parabel („linear-quadratisch“) an, bei Alphateilchengibt es übrigens eine lineare Abhängigkeit.Es lohnt sich durchaus, die Kurven in Abb. 12.7 auch unter quantitativen

Gesichtspunkten etwas näher zu analysieren: die durchgezogene Kurve zeigt,dass maximal 10 überlebende Mutanten von 1 Million bestrahlten Zellen gefundenwerden, die Wahrscheinlichkeit beträgt also 1 in 100.000! Röntgenstrahlen sindalso nicht besonders mutagen, ultraviolette sind deutlich wirkungsvoller, aucheinige Chemikalien. Mutationen entstehen, allerdings in geringer Zahl, auch

Abb. 12.7 Mutationsauslösung (Resistenz gegenüber 6-Thioguanin) in Säugerzellen durch Rönt-genstrahlen (aus dem Labor des Verfassers).

12.4 Zelluläre Endpunkte: Teilungsfähigkeit, Mutationen, Transformationen 189

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spontan, d. h. ohne Strahleneinwirkung. Dieser Hintergrund ist in der Darstellungabgezogen, der Anfang wurde also auf „Null“ normiert.Mutationen in Körperzellen können u. a. auch zur Krebsinduktion beitragen,

deshalb haben die beschriebenen Untersuchungen auch für diese Frage eineBedeutung, genauere Aufschlüsse würden aber Tests bieten, welche die neoplas-tische Transformation direkt erfassen. Solche Methoden, die nicht ganz einfachsind und hier nicht dargestellt werden sollen, gibt es. Ein „klassisches“ Ergebnis istin Abb. 12.8 gezeigt. Es stammt aus dem Labor eines der wissenschaftlich einfluss-und phantasiereichsten Strahlenbiologen der zweiten Hälfte des letzten Jahrhun-derts [121], des Amerikaners Mortimer Elkind (1922–2000), der ursprünglichMaschinenbauingenieur war, später aber sehr wichtige bahnbrechende Beiträgezum Verständnis der Strahlenbiologie von Säugerzellen veröffentlichte.Abbildung 12.7 zeigt gewissermaßen die „Rohdaten“, d. h., der Hintergrund

spontaner Transformationen wurde nicht subtrahiert. Er beträgt ca. 10−4, eine von10.000 Zellen ist auch ohne Bestrahlung schon transformiert und könnte somitAusgang für einen Tumor sein. Dieses „Restrisiko“ erscheint sehr klein, wennman es aber auf den menschlichen Körper überträgt, sieht die Sache anders aus.Der besteht aus ungefähr 1013, in Worten „zehn Billionen“, Zellen. Nicht allekönnen entarten, nehmen wir an nur jede Tausendste, aber dann bleiben immernoch 1013 × 10−3 × 10−4 = 106, also eine Million, potentielle Krebszellen übrig, diezu jedem Zeitpunkt „spontan“ vorhanden wären. Nehmen wir weiterhin großzügigan, dass in dem artifiziellen System der Gewebekultur eine Überschätzung umeinen Faktor Tausend vorliegt, so verbleiben immer noch Tausend möglicherweisetransformierte Zellen. Diese – zugegebenerweise recht krude – Abschätzungillustriert, dass eigentlich Krebs keine so seltene Krankheit sein sollte. Dass sie

Abb. 12.8 Neoplastische Transformation von Säugerzellen nach Röntgenbestrahlung (modifiziertnach Han und Elkind, 1979).

190 12 Strahlenwirkungen in der Zelle – etwas näher betrachtet

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dennoch nicht so häufig ist, liegt daran, dass nicht alle transformierten Zellen sichtatsächlich zu einem Tumor entwickeln. Die Schutzmechanismen unseres Kör-pers, vor allem die Immunabwehr, spielen hier eine bedeutsame Rolle und es wirdklar, wie wichtig sie für die Erhaltung der Gesundheit sind und dass jede Beein-trächtigung schwerwiegende Folgen nach sich ziehen muss.Im Übrigen verläuft die Kurve ganz analog wie bei der Mutationsauslösung

(Abb. 12.7): Einem anfänglichen Anstieg folgt nach Passieren eines Maximums bei4 Gy und einer Transformationsrate von 1/1000 ein deutlicher Abfall, der auf dieInhibierung der Teilungsfähigkeit zurückzuführen ist und der die Zahl der trans-formierten Kolonien sogar weit unter die Spontanrate drückt. Man könnte aus demKurvenverlauf schließen, dass hohe Strahlendosen nicht karzinogen seien, wassogar stimmt, denn der Abfall liegt in einem Bereich, in dem die mittlere letaleDosis für den akuten Strahlentod deutlich überschritten ist, eine mögliche Mani-festierung des Tumors gar nicht mehr erlebt werden kann.Die Beispiele dieses Abschnitts sollten illustrieren, dass mit Hilfe von In-vitro-

Experimenten wichtige Erkenntnisse zum Verständnis dessen gewonnen werdenkönnen, was im Körper nach Strahlenexposition passiert. Sie sind auch besonderswichtig, für die fundierte Planung einer Strahlentherapie.

12.5Modif ikationen der Strahlenwirkung

12.5.1Vorbemerkung

Bisher sind nur die Folgen einer einzigen akuten Strahlenexposition betrachtetworden, ohne Rücksicht auf denkbare Variationen des Bestrahlungsmusters oderauf Einflüsse des Milieus. Es ist also Einiges nachzuholen. Von den vielen Fak-toren, welche hier eine Rolle spielen könnten, werden nur zwei herausgegriffen,nämlich der Einfluss der zeitlichen Dosisverteilung und die Frage von Strahlen-schutz oder –sensibilisierung durch chemische Einflüsse. Beide Forschungsrich-tungen wurden vor allem durch die Strahlentherapie katalysiert. Eine besondereRolle spielen aber auch Reparaturprozesse, die ohne Zweifel eines der faszinie-rendsten Kapitel der Strahlenbiologie darstellen; auf sie wird in einem eigenenAbschnitt näher eingegangen.

12.5.2Zeitliches Bestrahlungsmuster

Seit den 1920er Jahren hat es sich in der Strahlentherapie von Tumoren einge-bürgert (also seit fast hundert Jahren), die Herddosen in Fraktionen aufzuteilen,deren Größe und Abfolge nach Behandlungsstelle und Tumorart variieren. Einestrahlenbiologische Begründung für diese Vorgehensweise fehlte über lange Zeit,auch weil geeignete Techniken nicht zur Verfügung standen. Das änderte sich in

12.5 Modifikationen der Strahlenwirkung 191

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den 1950er Jahren, als die In-vitro-Kultur von Säugerzellen etabliert wurde.Abbildung 12.9 gibt schematisch die Ergebnisse eines Experiments wieder, das inder Strahlenbiologie Geschichte geschrieben hat [122]. Es stammt aus dem Laborvon Mortimer Elkind, der schon zuvor erwähnt wurde. Im Hintergrund stand,neben den praktischen Anwendungen zum Verständnis strahlentherapeutischerAnwendungsmodi, die Frage, ob Zellen, die eine erste Dosis überlebt hatten, dieerlittenen, offenbar subletalen, Schäden „behalten“ oder sich bei einer erneutenExposition wie unbestrahlte Zellen verhalten.Das Ergebnis zeigt klar, dass die zweite Alternative zutrifft, vorausgesetzt, dass

die Pause genügend lang ist (mehr als ca. sechs Stunden) und dass während dieserZeit optimale Kulturbedingungen herrschen. Das wurde damals als Sensationempfunden, weil es darauf hinwies, dass sich bestrahlte Zellen von subletalerSchädigung „erholen“ können. Es konnte daher vermutet werden, dass Reparatur-prozesse für Strahlenschäden existieren, für die es damals noch keinerlei Belegegab. Sie wurden erst einige Jahre später entdeckt (s. Abschnitt 12.5.4).Eigentlich war die Anlage des Experiments einfach: Die Zellen wurden mit einer

Dosis von ca. 5 Gy bestrahlt und nach einigen Stunden erneut mit einer Reihe vonDosen exponiert, um eine komplette Überlebenskurve der vorgeschädigten Zellenaufzunehmen. Wenn sich die ursprüngliche Kurve nach einmaliger Bestrahlungbruchlos fortsetzen würde, so müsste man schließen, dass die gesetzten Schädenunverändert blieben, die Fraktionierung also keinen Einfluss hätte. Dem ist abernicht so, vielmehr reproduziert die zweite Überlebenskurve exakt die von unge-schädigten Zellen, allerdings versetzt. Abgesehen von der beschriebenen grund-sätzlichen Bedeutung demonstriert das Experiment auch, dass eine Dosisfraktio-nierung zu einer geringeren Schädigung führt als eine einmalige Exposition mitderselben Gesamtdosis. Man kann dieses Resultat noch ausweiten, indem man

Abb. 12.9 Überlebensverhalten bei fraktionierterBestrahlung: Auf eine erste Dosis D1 wird eineSerie weiterer Dosen gegeben, das Überlebender die erste Dosis überlebenden Zellen (mitt-lere gepunktete Kurve) entspricht der unbe-

strahlter Zellen (durchgezogene Kurve). Einanaloges Verhalten findet man, wenn einezweite Dosis D2 gegeben wird (äußere strich-punktierte Kurve).

192 12 Strahlenwirkungen in der Zelle – etwas näher betrachtet

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eine Dosis in viele kleine Anteile aufspaltet, also eine kontinuierliche Expositionmit geringer Dosisleistung durchführt. Auf der Basis des obigen Ergebnisses kannman schließen, dass auch dann die Gesamtschädigung deutlich niedriger ausfällt.Spätere Experimente haben die Richtigkeit dieser Vermutung erwiesen. Man kannalso feststellen:

Die Wirkung einer Strahlenexposition sinkt, wenn die Gesamtdosis fraktioniertoder mit geringer Dosisleistung appliziert wird.

Allerdings, hier ist ein „Aber“ einzufügen: Der beschriebene Effekt tritt nur auf,wenn man es mit einer „Schulterkurve“ zu tun hat, wie man bei der Betrachtungvon Abb. 12.9 erkennt. Bei einer exponentiellen Abhängigkeit (einer Geraden inder gewählten halblogarithmischen Darstellung) wäre es gleichgültig, ob einmaloder in Fraktionen bestrahlt wird. Bei dicht ionisierenden Strahlen (Alphateilchen,Neutronen) liegen exponentielle Überlebenskurven vor, es ist also weder einFraktionierungs- noch ein Dosisleistungseffekt zu erwarten.

12.5.3Strahlenschutzsubstanzen und Sensibilisatoren

Es ist eine verführerische Idee, Substanzen zu entwickeln, welche die Wirkungeneiner Strahlenexposition aufheben oder wenigstens reduzieren. In den 50er und60er Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich viele Institute mit dieserAufgabe, häufig gut gefördert. Es ist kein Geheimnis, dass die Verteidigungs-ministerien ein besonderes Interesse entwickelten. In der Hochzeit des KaltenKrieges waren die Drohungen einer möglichen Auseinandersetzung mit atomarenWaffen immer präsent. Würde eine Armee über solche „Strahlenschutzmedika-mente“ verfügen, wäre sie unzweifelhaft im Vorteil, da sie kontaminiertes Gebietfrüher besetzen könnte. Abgesehen von diesen martialischen Überlegungen inte-ressierten sich aber auch Strahlentherapeuten für dieses Problem, da sie hofften,auf diese Weise mitgetroffene gesunde Zellen schützen zu können. Die Überle-gungen sind nicht prima facie absurd. Bei locker ionisierenden Strahlen ist einGroßteil der Wirkung dem „indirekten“ Effekt, nämlich der Schädigung durchaggressive Wasserradikale zuzuschreiben. Könnte man sie abfangen, bevor sieessentielle Biomoleküle erreichen, wäre damit zumindest ein Teilschutz zu reali-sieren. Aus der Chemie sind solche Radikalfänger bekannt. Bei OH-Radikalen,welche bei der Strahlenwirkung die Hauptrolle spielen, zeichnen sich vor allemAlkohole durch diese Eigenschaft aus. In der Zellkultur lässt sich auch ihreFähigkeit, die Strahlenwirkung zu reduzieren, nachweisen. Bevor man allerdingszu falschen Schlüssen verleitet wird, muss darauf hingewiesen werden, dass dieRadikale in unmittelbarer Umgebung der DNA entstehen und nur einen kurzenWeg zu ihrem Ziel zurückzulegen haben. Um sie darauf abzufangen, bedarf essehr hoher Konzentrationen, welche in vivo letalen Substanzdosen nahe kommen.

12.5 Modifikationen der Strahlenwirkung 193

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Dies gilt für alle Strahlenschutzsubstanzen, aus der prinzipiellen Möglichkeit folgtalso keineswegs die praktische Anwendbarkeit. So ist es in letzter Zeit recht ruhiggeworden mit der Suche nach strahlenbiologischen Wunderpillen. Leider istmancherorts jedoch etwas hängen geblieben von den damaligen Überlegungen,nämlich die angeblich helfende Wirkung von Alkohol. Aus der Kenntnis derZusammenhänge wird sofort klar, dass Radikalfänger nur wirksam sein können,wenn sie zum Zeitpunkt der Strahleneinwirkung anwesend sind, also keineswegsals „Nachbehandlung“ in Frage kommen. Dennoch hält sich an manchen Stellendie Vorstellung, dass „Wodka gegen Strahlen hilft“ – eine schlimme und men-schenfeindliche Verfälschung wissenschaftlicher Überlegungen.Radikalfänger spielen eine nicht unerhebliche Rolle in der Gesundheitsdiskussi-

on. Man schreibt ihnen wundersame Heilwirkungen und die Potenz zur Lebens-verlängerung, sicher aber eine Verminderung des Krebsrisikos zu. Hier ist Vor-sicht geboten: Sicher laufen in unserem Körper radikalvermittelte Reaktionen ab,wie weit sie am Krankheitsgeschehen beteiligt sind, kann seriös nicht abgeschätztwerden und somit auch nicht die Wirksamkeit vieler als „Radikalfänger“ beworbe-ner Substanzen. Die Effektivität der in diesem Zusammenhang immer wiederherausgestellten Vitamine C und E als Strahlenschutzstoffe ist übrigens eherbegrenzt, und deutlich niedriger als die von z. B. Glyzerin. Es muss auch bedachtwerden, dass biologische Systeme im Laufe der Evolution sehr effektive Detoxifi-zierungsstrategien entwickelt haben, die nur schwer durch Zugaben externerStoffe noch weiter verbessert werden können. Eine Schlüsselrolle kommt hiereinem recht einfachen Molekül zu, dem Glutathion (üblicherweise abgekürzt mitGSH), einem Tripeptid (korrekterweise „Pseudotripeptid“, weil es sich nichtimmer um echte Peptid-Bindungen handelt) aus den Aminosäuren Glutaminsäu-re, Cystein und Glyzin (alte deutsche Bezeichnung „Glykokoll“). Glutathionkommt in allen menschlichen Zellen vor und gilt als einer der effektivsten Radikal-fänger. Fehlt es, z. B. weil seine Synthese auf Grund einer Mutation nicht möglichist, so findet man eine deutlich erhöhte Strahlenempfindlichkeit.Im Gefolge der beschriebenen Forschungen stellte man sich im Hinblick auf

strahlentherapeutische Überlegungen die Frage, ob man die Selektivität der Strah-lenbehandlung nicht dadurch verbessern könnte, indem man die Tumorzellendurch chemische Sensibilisatoren gezielt empfindlicher machte. Es sind Stoffeentwickelt worden, welche dies ermöglichen; sie werden z. T. auch in der Tumor-therapie eingesetzt, aber die großen Hoffnungen wurden nicht erfüllt.Im Zusammenhang mit den verschiedenen beschriebenen Forschungen geriet

auch eine andere Substanz wieder in den Fokus des Interesses, der Sauerstoff. ImJahre 1921 hatte Hermann Holthusen (1896–1971), einer der Pioniere der deut-schen Strahlentherapie, am Modell von Spulwurmeiern festgestellt, dass Sauer-stoffentzug die Strahlenresistenz erhöht [123]. Dieser Befund wurde lange Zeitnicht sonderlich beachtet, erst in den 1950er Jahren entdeckte man diese Thematikgewissermaßen neu, als man realisierte, dass in ausgedehnteren soliden TumorenRegionen mit ausgeprägtem Sauerstoffmangel existieren, weil die Gefäßversor-gung nicht hinreichend ausgebildet ist. Tumorzellen können mit diesen Verhält-nissen gut umgehen, da sie ihren Energiebedarf durch anaerobe Glykolyse (Gä-

194 12 Strahlenwirkungen in der Zelle – etwas näher betrachtet

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rung) befriedigen können. Der Biochemiker Otto Warburg (1883–1970, Nobelpreis1931) hatte 1924 sogar die Hypothese aufgestellt, dass der Erwerb dieser Eigen-schaft das Kennzeichen einer neoplastischen Transformation sei, was heute sonicht mehr aufrechterhalten wird, auch wenn die Vorstellung bei vielen alternati-ven Krebstherapien immer noch eine Rolle spielt.Wegen der nunmehr erkannten Bedeutung für die Strahlentherapie beschäftigte

man sich intensiv mit dem strahlenbiologischen Sauerstoffeffekt, wobei der Na-mensgeber für die Dosiseinheit, Louis Harold Gray, wichtige Untersuchungenbeisteuerte. Sauerstoff ist der wirksamste bekannte Strahlensensibilisator. Beilocker ionisierenden Strahlen, also Röntgen- und Gammastrahlen, ist in seinerAbwesenheit eine zwei- bis dreifache Dosis notwendig, um denselben Effekt wie inseiner Anwesenheit zu erzielen. Das „Sauerstoffverstärkungsverhältnis“ (engl.oxygen enhancement ratio, OER) beträgt also 2 bis 3. Es ist wichtig, darauf hin-zuweisen, dass dies nichts mit der physiologischen Rolle des Gases bei Atmungs-prozessen zu tun hat, es handelt sich um einen rein strahlenchemischen Prozess,wobei auch Radikalreaktionen eine Rolle spielen. Das bedeutet somit auch, dass esdarauf ankommt, dass der Sauerstoff bei der Exposition anwesend ist, einenachträgliche Begasung bleibt wirkungslos.Genau genommen ist das nicht ganz korrekt. In ziemlich raffinierten In-vitro-

Experimenten konnte man zeigen, dass ein Zeitfenster von etwas weniger als einerMillisekunde besteht. Für die Grundlagenforschung bildet das eine wichtigeErkenntnis, für praktische Anwendungen ergeben sich aber keinerlei Konsequen-zen.Bei dicht ionisierenden Strahlen findet man die Sensibilisierung durch Sauer-

stoff nicht, was für neuere Modalitäten der Strahlentherapie von Bedeutung ist.Um den Sauerstoffeffekt auszuschalten, entwickelte man zunächst an verschiede-nen Orten die Neutronentherapie, die sich jedoch nicht bewährte, vor allem wegender sehr schlechten Dosisverteilung in größeren Tiefen. Auch für die Schwer-ionentherapie (s. Kapitel 8) liefert der Sauerstoffeffekt, besser die Möglichkeitseiner Überwindung, einen Teil der Argumentation.

12.5.4Reparaturprozesse

Eine auf den ersten Blick abenteuerliche Vorstellung: das Genom erkennt ihmzugefügte Schäden und repariert sie anschließend, oft sogar ohne Fehler. Unddoch, das gibt es tatsächlich. Heute spricht man wie selbstverständlich davon, voreinigen Jahrzehnten handelte es sich bei der Entdeckung um eine veritableSensation, die leider nie mit einem Nobelpreis gewürdigt wurde. Es ist müßig,darüber zu spekulieren, ob auch ohne Strahlenforschung diese Vorgänge irgend-wann entdeckt worden wären, Tatsache bleibt, dass hiermit die Strahlenbiologieeinen entscheidenden Beitrag zum Verständnis lebender Systeme geleistet hat.Es gab schon frühe Hinweise, deren Bedeutung aber meist nicht erkannt wurde.

Eine besondere Rolle kommt der ultravioletten Strahlung zu. Hausser und vonÖhmke stellten schon 1933 fest, dass man die UV-induzierte Bräunung von

12.5 Modifikationen der Strahlenwirkung 195

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Bananenschalen durch eine nachträgliche Belichtung rückgängig machen konnte,was sie aber nicht weiter diskutierten [124]. Wieder aufgenommen wurde dieErscheinung vor allem durch Kelner 1949 [125], der das Phänomen systematischuntersuchte und auch den heute gängigen Terminus „Photoreaktivierung“ prägte.Die Bildung von Pyrimidindimere in der DNA durch UV-C oder UV-B (s.Abschnitt 12.2) kann durch die Einwirkung längerwelliger Strahlung (UV-A, sicht-bares Licht) wieder rückgängig gemacht werden. Entscheidend hierfür ist einProtein, das als „Photolyase“ bezeichnet wird. Es kommt nicht in allen Organis-men vor, man findet es in den meisten Mikroben, einfachen Mehrzellern undniedrigen Tieren, nicht aber in höheren Säugetieren. Entwicklungsgeschichtlichhört die Fähigkeit zur Photoreaktivierung bei den Beuteltieren auf. Warum das soist, bleibt bis heute ein Rätsel.Die Geschichte der Aufklärung der Reparaturprozesse beginnt eigentlich im

Jahre 1963. Man beschäftigte sich mit der UV-Empfindlichkeit von Bakterien undfragte sich, warum es von derselben Art sowohl resistente als auch sensibleStämme gab. Es war auch ein gewisser Glücksfall, dass Pyrimidindimere, welcheschon als primäre UV-Schäden in der DNA identifiziert worden waren, chemischrelativ stabil und chromatographisch leicht nachweisbar sind. 1964 erschien in denProceedings of the Academy of Sciences der USA ein kurzer Artikel mit dem pro-phetischen Titel: „The disappearance of thymine dimers from DNA: an error correctingmechanism“ („Das Verschwinden von Thymindimeren aus der DNS: ein Fehler-korrekturmechanismus“) [126]. In der Arbeit wurde gezeigt, dass UV-induzierteDimere aus der DNA verschwanden und sich in Lösung wiederfanden. Eingenauer quantitativer Vergleich stellte sicher, dass es sich nicht um Bruchstückeaus zerfallenden Zellen handelte, auch ließ sich nachweisen, dass in der DNAüberlebender Zellen sich kaum mehr Dimere befanden. Die Photoproduktemussten also ausgeschnitten und anschließend die DNA-Struktur wiederher-gestellt worden sein. Dieses damals relativ verwegen anmutende Schema konntein vielen weiteren Arbeiten bestätigt werden. Die „Nukleotid-Exzisionsreparatur“(NER), wie sie heute bezeichnet wird, ist immer noch der am besten aufgeklärteReparaturweg, ihre Entdeckung lieferte den Anstoß zu einem umfangreichenForschungsgebiet, das längst weit über die Strahlenbiologie hinausgewachsen istund große Bedeutung selbst in der klinischen Medizin erlangt hat.Im Laufe der Jahre wurden die einzelnen Schritte des Reparaturablaufs auf-

geklärt. Sie sind erstaunlich ähnlich in Mikroorganismen und den Zellen höhererSäuger. Als Beispiel soll der Ablauf der Exzisionsreparatur näher betrachtet werden(Abb. 12.10): Durch die UV-induzierten Dimere in der DNA wird deren Strukturverformt, was durch spezielle Enzyme erkannt wird. Sie aktivieren eine Reiheanderer Proteine, welche die Reparatur vorbereiten. Der zunächst wichtigsteSchritt ist die „Inzision“, Dazu wird die Doppelstrangstruktur erst aufgeweitet, sodass die Schadensstelle durch zwei Schnitte aus dem betroffenen (Einzel-)Strangherausgelöst werden kann. Die so entstandene Lücke wird wie bei der normalenDNA-Replikation unter Rückgriff auf die intakte Basensequenz des Schwester-strangs mit Hilfe von Polymerasen aufgefüllt. Die endgültige Einfügung in denDoppelstrang („Ligation“) erfolgt mit Hilfe einer „Ligase“. Auf diese Weise erhält

196 12 Strahlenwirkungen in der Zelle – etwas näher betrachtet

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man wieder ein DNA-Molekül mit intakter Struktur und der ursprünglichenBasensequenz. Dieser Vorgang weist eine erstaunliche Präzision auf, die Fehler-häufigkeit liegt in der Größenordnung von eins zu einer Million.Der beschriebene Prozess ist der bekannteste und auch der, über den man am

meisten weiß, es gibt jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Reparaturvorgänge,die meist noch nicht in allen Einzelheiten aufgeklärt sind. Ohne Anspruch aufVollständigkeit hier einige Beispiele:Basenexzisionsreparatur: Falls nur die Basen in der DNA verändert sind, ohne

dass sich das auf die Struktur des Gesamtmoleküls auswirkt, werden sie aus-geschnitten und dann auf der Grundlage der Basenpaarung korrekt ersetzt.Fehlpaarungsreparatur: Sowohl bei der DNA-Replikation als auch durch Fehler

bei der Reparatur kann es zum Einsetzen von Basen kommen, die nicht derkorrekten Paarung entsprechen. Die Zelle verfügt über Mechanismen, dies zuerkennen und zu reparieren. Allerdings existiert das Problem, dass nicht klar ist,welche der fehlgepaarten Basen die ursprünglich richtige ist. Auf Grund derTatsache, dass in Säugeerzellen die DNA methyliert ist (d. h. viele Basen trageneine Methylgruppe), kann unterschieden werden, welches der „alte“ Strang ist, dadie Methylierung später als die DNA-Replikation erfolgt. Der methylierte Strangkennzeichnet daher die Ausgangsinformation.Doppelstrangbruchreparatur: Hier hat man es eigentlich mit zwei verschiedenen

Prozessen zu tun. Der erste, häufigere, ist die „nicht-homologe Wiederverbin-dung“ (engl. non-homologous endjoining, NHEJ). Mit Hilfe einiger Proteine werdendie Stränge wieder verbunden, wobei das Proteingerüst der DNA eine stützendeRolle übernimmt. Dieser Vorgang ist oft mit Fehlern verbunden und daherAusgang von Mutationen und Chromosomenaberrationen (Abb. 12.11).Falls ein zweites homologes DNA-Molekül vorhanden ist, also nach der DNA-

Verdopplung und vor der Zellteilung (in der G2-Phase des Zellzyklus), könnenDoppelstrangbrüche mit Hilfe der homologen Teile des Schwesterchromosomskorrekt ausgetauscht werden. Die Doppelstrangbruchreparatur bildet eine essen-

Abb. 12.10 Ablauf der Exzisionsreparatur. Erklärung im Text. (nach Clancy, 2008 [127])

12.5 Modifikationen der Strahlenwirkung 197

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tielle Voraussetzung für das Zellüberleben, da eine Zerstörung der DNA-Struktureine weitere Replikation unmöglich macht. Diese Aussage impliziert die absurderscheinende Konsequenz, dass die Entstehung von Mutanten notwendigerweisean die erfolgreiche (aber nicht fehlerfreie) Reparatur gekoppelt ist. Strahlenindu-zierte Schäden der DNA-Doppelstrangstruktur sind keine Mutationen, falls sienicht behoben werden, führen sie zum Tod der Zelle.Alle Reparaturprozesse unterliegen der genetischen Kontrolle. Bei der Nukleo-

tidexzisionsreparatur sind 18 Gene bekannt, die in irgendeiner Weise involviertsind. Für die Gesamtheit der Reparaturprozesse geht man beim Menschen vonmindestens 180 Genen aus.Es verwundert daher nicht, dass die beschriebenen Vorgänge eng mit dem Erhalt

der Gesundheit verbunden sind. Die Aufklärung der Mechanismen stellt zwar einungeheuer interessantes Feld der Grundlagenforschung dar, aber darüber hinausgibt es auch wichtige klinische Bezüge. Bei einer Reihe von Krankheiten weiß manheute, dass sie mit Defekten im Ablauf von Reparaturprozessen verbunden sind.Einige typische Beispiele sind in Tabelle 12.1 zusammengestellt [128].Die meisten dieser Defekte werden rezessiv vererbt und sind daher relativ selten,

für die betroffenen Familien stellen sie aber eine schwere Belastung dar. Gra-vierend sind die Einschnitte bei Xeroderma pigmentosum, die durch eine extremeUV-Empfindlichkeit und Anfälligkeit für Hautkrebs, aber auch andere Tumorartencharakterisiert ist. Die Kranken müssen dem Sonnenlicht aus dem Weg gehen,man hat sie auch als „Mondscheinkinder“ bezeichnet, sogar selbst ein Spielfilmbeschäftigte sich mit diesem schweren Schicksal [129].

Abb. 12.11 Schema der „nicht-homologen End-verbindung“ von DNA-Doppelstrangbrüchen.Nach der Erkennung des Schadens wird dieservon zwei Proteinen (ku-70 und ku-80) „versie-

gelt“, um einem weiteren Abbau vorzubeugen.Mit Hilfe des Enzyms DNA-Proteinkinase (PK)wird die Wiederverbindung vorbereitet, diedurch eine Ligase vollzogen wird.

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12.6Abschließende Synopse

Synopse heißt „Zusammenschau“ und dies ist in der Tat notwendig bei derkomplexen Reaktion von Zellen auf Bestrahlung. Die bisherige Betrachtungbeschäftigte sich vor allem mit Einzelaspekten, es muss jedoch betont werden,dass diese verwoben sind in ein sehr komplexes Netzwerk. Einen – zugegebe-nerweise sehr vereinfachten Eindruck – mag Abb. 12.12 vermitteln. Die DNA-Schäden lösen eine ganze Reihe zellulärer Aktivitäten aus: Sie wirken wie dasHeben des Taktstocks bei dem Beginn eines komplizierten Konzerts, das den

Tabelle 12.1 Menschliche Erbkrankheiten mit Defekten in Reparatursystemen.

Name Symptome Beteiligter Reparaturprozess

Xeroderma Pigmentosum Extreme UV-Empfindlichkeit, Hautkrebs Exzisionsreparatur

Cockayne-SyndromLichtempfindlichkeit, Zwergwuchs,mentale Retardation

Exzisionsreparatur

Trichothiodystrophie Brüchiges Haar, Hautveränderungen ExzisionsreparaturErbliches kolorektales Karzinomohne Polyposis (HNPCC, „Lynch-Syndrom“)

Darmkrebs Fehlpaarungsreparatur

Familiärer Brustkrebs Brustkrebsanfälligkeit Doppelstrang-bruchreparaturAtaxia telangiectasia (Louis-Bar-Syndrom, Boder-Sedgwick-Syn-drom)

Empfindlichkeit gegen ionisierendeStrahlen, Bewegungsstörungen, Immun-störungen

Schadenserkennung

Familiäres Melanom Melanome Schadenserkennung

Abb. 12.12 Vereinfachtes Schema zellulärer Reaktionen auf Strahleneinwirkung (nach Harperund Elledge, 2008 [130]).

12.6 Abschließende Synopse 199

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Namen trägt „DNA damage response (abgekürzt „DDR“)“. Wie im Orchesterübernehmen einige Instrumente die Führung. In unserem Spiel sind es zweiGene, die mit der Erbkrankheit Ataxia telangiectasia eng gekoppelt sind, nämlichATM und ATR.Eine der ersten Reaktionen auf eine Strahlenexposition besteht darin, dass der

Fortgang des Zellzyklus angehalten wird, um den dann einsetzenden Reparatur-vorgängen Zeit zu gewähren, damit die Schäden nicht weitergegeben werden.Hierbei spielen ATR und ATM eine wichtige Rolle. Sind sie desaktiviert, sounterbleibt das Anhalten des Zellzyklus, mit dem Resultat, dass die notwendigenReparaturen nicht effizient ablaufen können. Die betroffenen Zellen zeigen dahereine erhöhte Strahlenempfindlichkeit. Falls die Reparatur nicht gelingt oder wegendes Ausfalls der verantwortlichen Gene nicht ablaufen kann, kommt es häufigzum programmierten Zelltod, der Apoptose. Viele Gene spielen mit in diesemStück. Es sind natürlich alle, welche für die verschiedenen Reparaturwege verant-wortlich sind, aber auch diejenigen, welche den ordnungsgemäßen Fortgang desZellzyklus kontrollieren. Eine wichtige Rolle kommt auch dem Protein p53 zu, dasauch als „Wächter des Genoms“ bezeichnet wird. Es ist ein Sensor für DNA-Schäden und leitet – im Zusammenspiel mit den AT-Genen – die ersten Schritteder zellulären Reaktion ein. Wie bedeutsam es ist, geht auch daraus hervor, dass esin den meisten Tumorzellen verändert ist, was dazu führt, dass in ihnen dieStabilität der genetischen Information nicht mehr gewährleistet ist.Die Untersuchung der Vorgänge, die ablaufen, wenn eine Zelle bestrahlt wird,

sei es mit UV oder ionisierenden Strahlen, hat erstaunliche Erkenntnisse über dieRegulation des fein abgestimmten Netzwerks zellulärer Reaktionen geliefert, die inihrer Bedeutung weit über die Strahlenbiologie im engeren Sinne hinausgehen.Erst durch die Störung des „normalen“ Zustands lässt sich lernen, wie komplex dieZusammenhänge sind, welche die Normalität garantieren.

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