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Stefan Schreiber - Begleiter durch das Neue Testament · STEFAN SCHREIBER BEGLEITER DURCH DAS NEUE...

Date post: 16-Oct-2020
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STEFAN SCHREIBER

BEGLEITERDURCH DAS

NEUE TESTAMENT

Patmos Verlag

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Für die Schwabenverlag AG ist Nachhaltigkeit ein wichtiger Maßstab ihres Handelns. Wir achten daher auf den Einsatz umweltschonender Ressourcen und Materialien.

Dieses Buch wurde auf FSC®-zertifiziertem Papier gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council®) ist eine nicht staatliche, gemeinnützige Organisation, die sich für eine ökologische und

sozial verantwortliche Nutzung der Wälder unserer Erde einsetzt.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

3. Auflage 2014Alle Rechte vorbehalten

© 2006 Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildernwww.patmos.de

Umschlagabbildung: Der Sturm auf dem Meer, Hitda-Codex aus Meschede, um 1020.Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Hergestellt in DeutschlandISBN 978-3-8436-0520-5

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Inhalt

Danksagung 9

§ 1 Die Lesebrille 9

I. Einleitung

1. Der Text und die Lesenden§ 2 Ein Lesemodell 11§ 3 Vom Nutzen der

Bibelauslegung (Exegese) 13§ 4 Zum Gebrauch des »Begleiters« 14§ 5 Deutsche Übersetzungen

des Neuen Testaments 15

2. Die Zeit des Neuen Testaments

§ 6 Hellenisierung undrömische Kaiserzeit 16

§ 7 Geschichtliche Daten 19§ 8 Weltanschauungen und Kulte 22

3. Wer war Jesus? – frühe Deutungen

§ 9 Formeln 25§ 10 Titel 27§ 11 Entfaltungen: Verschiedene

Modelle 31§ 12 Von Jesus erzählen 32

4. Was ist ein Evangelium?

§ 13 BiographischeJesus-Erzählungen 34

5. Die synoptische Frage

§ 14 Zwei-Quellen-Theorie 36

6. Die Logienquelle (Q)

§ 15 Herkunft und Inhalt von Q 39

7. Bekannte und unbekannte Verfasser

§ 16 Verfasserangaben in denneutestamentlichen Schriften 41

§ 17 Altkirchliche Verfasser-angaben – ein Beispiel 42

8. Die Herkunft der Evangelien undder Apostelgeschichte

§ 18 Das Markusevangelium 43§ 19 Das Matthäusevangelium 44§ 20 Das Lukasevangelium 45§ 21 Das Johannesevangelium 48§ 22 Die Apostelgeschichte 49

9. Was ist ein Brief?

§ 23 Briefpraxis und Briefform 51§ 24 Teilungshypothesen 54

10. Die Herkunft der Paulusbriefe

§ 25 Der 1. Thessalonicherbrief 57§ 26 Die Korintherbriefe 57§ 27 Der Philipperbrief 58§ 28 Der Brief an Philemon 59§ 29 Der Galaterbrief 59§ 30 Der Römerbrief 60

11. Die Herkunft der Deuteropaulinen

§ 31 Was sind Deuteropaulinen? 61§ 32 Der 2. Thessalonicherbrief 62§ 33 Der Kolosserbrief 62§ 34 Der Epheserbrief 63§ 35 Die Pastoralbriefe 64

12. Die Herkunft des Hebräerbriefs

§ 36 Der Hebräerbrief 65

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13. Die Herkunft derkatholischen Briefe

§ 37 Was sind katholische Briefe? 66§ 38 Der Jakobusbrief 66§ 39 Der 1. Petrusbrief 67§ 40 Der Judasbrief 68§ 41 Der 2. Petrusbrief 68§ 42 Die drei Johannesbriefe 69

14. Die Herkunft der Offenbarungdes Johannes

§ 43 Der Seher von Patmos 71

II. Die Schriften desNeuen Testaments

1. Geschichten über Jesus

§ 44 Geburtsgeschichten 73§ 45 Wundererzählungen 76§ 46 Gleichnisse: Eine typische

Redeform 79§ 47 Passionserzählungen 85§ 48 Ostererzählungen 91

2. Das Markusevangelium: Der Lebensweg Jesu

§ 49 Die Lage der Gemeinde 97§ 50 Erzählstruktur 99§ 51 Das markinische

Geheimnismotiv 101§ 52 Das Gegen-Evangelium 102

3. Das Matthäusevangelium: Der Lehrer Israels

§ 53 Die Gemeinde und das Judentum 104

§ 54 Erzählstruktur 105§ 55 Die Bergpredigt 106§ 56 »Gemeindeordnung« 108

4. Das Lukasevangelium: Die Geschichte des Heils in Jesus

§ 57 Die geschichtliche Situation der Gemeinde 110

§ 58 Erzählstruktur 111§ 59 Die Geschichte des Heils 112§ 60 Das Programm: Schrift und

Begegnung 113§ 61 Weg Jesu und Lebensweg der

Christen 115

5. Das Johannesevangelium: Bei Jesus bleiben

§ 62 Die Gemeinde in Bedrängnis 117§ 63 Erzählstruktur 120§ 64 Die Streitfrage: Kommt Jesus

von Gott? 121§ 65 Die Entscheidung:

Mit Jesus leben? 123

6. Die Apostelgeschichte: Von Jerusalem nach Rom

§ 66 Gemeindesituation undErzählstruktur 126

§ 67 Wirkt Gott in der Geschichte der Gemeinde? 127

§ 68 Die Gemeinde als Lebensraumin der Welt 129

7. Der 1. Thessalonicherbrief: Der älteste Brief und eine junge Gemeinde

§ 69 Situation, Briefstruktur, Anliegen 132

8. Die Korintherbriefe: Beziehungen in der Krise

§ 70 Die Situation in Korinth 135§ 71 Der 1. Korintherbrief 137§ 72 Der 2. Korintherbrief 139

9. Der Philipperbrief: Freude in Christus

§ 73 Anlass und Anliegen 141

10. Der Brief an Philemon: Ein Sklave als Bruder

§ 74 Das Problem der neuen Ordnung 143

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11. Der Galaterbrief: Das Evangelium in Gefahr

§ 75 Der Streit um die Tora 145

12. Der Römerbrief: Die Freiheit der versöhnten Kinder

§ 76 Paulus und die Gemeinden in Rom 148

§ 77 Gerechtigkeit Gottes und(Gegen-)Welt der Gemeinden 151

13. Die Deuteropaulinen: Briefe im Namen des Paulus

§ 78 Pseudepigraphie – verräterischeFiktion 156

§ 79 Der 2. Thessalonicherbrief 158§ 80 Der Kolosserbrief 159§ 81 Der Epheserbrief 161§ 82 Die Pastoralbriefe 162

14. Der Hebräerbrief:Auf dem Weg inshimmlische Heiligtum

§ 83 Gemeinde ohne Kult 165

15. Die katholischen Briefe:Positionen der »Mitte«

§ 84 Der Jakobusbrief 168§ 85 Der 1. Petrusbrief 170§ 86 Der Judasbrief 172§ 87 Der 2. Petrusbrief 174§ 88 Die drei Johannesbriefe 176

16. Die Offenbarung des Johannes:Ein Ende mit Schrecken?

§ 89 Sieben Gemeinden, die »Nikolaiten« und dasRömische Reich 180

§ 90 Die Antwort des Propheten 183

III. Jesus aus Nazaret

1. Der »Historische Jesus«

§ 91 Bilder von Jesus 189§ 92 Wo steht die Forschung heute? 190

2. Die Kunst, richtig zu fragen

§ 93 Die Quellen 195§ 94 Kriterien der Jesusforschung 199

3. Jesus, der Jude – die Welt Jesu

§ 95 Jüdische Identität 202§ 96 Weisheit und apokalyptisches

Denken 206§ 97 Gruppenbildungen 208§ 98 Politik: Römer und Juden 214§ 99 Galiläa 216§ 100 Jerusalem und der Tempel 221

4. Lebensdaten Jesu

§ 101 Geburtsjahr und -ort Jesu 223§ 102 Todestag und -jahr Jesu 226

5. Die Herkunft Jesu

§ 103 Nazaret 229§ 104 Familie 230§ 105 Beruf 231

6. Jesus, der Täuferschüler

§ 106 Johannes der Täufer 232§ 107 Johannes und Jesus 234§ 108 Trennung vom Täufer

aufgrund einer Vision? 236§ 109 Jesus geht neue Wege –

eine neue Praxis 237

7. Die Botschaft Jesu

§ 110 »Königsherrschaft Gottes« imFrühjudentum 239

§ 111 Die Königsherrschaft Gottes hat begonnen! 241

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§ 112 Das große Fest der Gottesherrschaft 244

§ 113 Gruppenbildung: Die Schüler Jesu 245

§ 114 Die Zwölf als Symbol derGottesherrschaft 247

§ 115 Männer und Frauen 248§ 116 Die Jesus-Gruppe in

Gesellschaft und Politik 249§ 117 Der Alltag der Jesus-Gruppe 251§ 118 Gemischte Erfolgsbilanz 252

8. Die Wunder Jesu

§ 119 Was ist eigentlich einWunder? 255

§ 120 Die historische Frage nach Jesu Wundern 256

§ 121 Jesus im Kreis anderer Wundertäter 258

§ 122 Die Bedeutung der Wunder Jesu 262

9. Jesus und die Tora

§ 123 Die Tora und ihre Auslegungen im Frühjudentum 263

§ 124 Die Tora-Auslegung Jesu 264

10. Der Tod Jesu

§ 125 Der Konflikt um den Tempel 270§ 126 Das letzte Mahl –

Todesdeutung Jesu? 274§ 127 Die Verantwortlichen 278§ 128 Die Kreuzigung 282

11. Ostern: Jesus lebt!

§ 129 Die ältesten Ostertexte:Erweckungs-Formeln 288

§ 130 Die Erzählüberlieferung 290§ 131 Die Historizität einzelner

Erscheinungen und des leeren Grabes 291

§ 132 Moderne Modelle des Verstehens 293

IV. Paulus aus Tarsus

1. Leben und Wirken des Paulus

§ 133 Die Bedeutung des Paulus 296§ 134 Die Umwelt: Hellenistisches

Judentum in der Diaspora 297§ 135 Paulus und die

Weltgeschichte 299§ 136 Biographie des Paulus 300

2. Theologische Schwerpunkte bei Paulus

§ 137 Das Selbstverständnis: Apostel 306§ 138 Die Mitte: Jesus, der Christus 308§ 139 Die Lebensform:

Hausgemeinden 310

Anhang: Der Weg zum »Neuen Testament«

1. Die Entstehung des Kanons

§ 140 Anfänge: Erste Sammlungen 313§ 141 Anstöße: Reduktionen 315§ 142 Entwicklungen 317

2. Die Textüberlieferung

§ 143 Der Prozess der Textüberlieferung 320

§ 144 Der Bestand an Handschriften 321§ 145 Die Aufgabe der

Textforschung 324§ 146 Zwei Beispiele 326

Literatur 327

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Danksagung

Bei meiner Arbeit am vorliegenden »Begleiter durch das Neue Testament« haben michmeine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Münsteraner Seminar für Zeit- und Religi-onsgeschichte des Neuen Testaments tatkräftig unterstützt. Ihnen danke ich an dieserStelle sehr herzlich: Frau Resi Koslowski hat große Teile des Manuskripts geschrieben.Herr Dr. Martin Faßnacht trug wichtige Informationen bei und gestaltete Grafiken amComputer. Frau Dipl.-Theol. Eva Rünker las und korrigierte das gesamte Manuskript; ihrverdanke ich zahlreiche stilistische und inhaltliche Verbesserungen und Vorschläge. HerrMatthias Adrian erstellte das Literaturverzeichnis und übernahm verschiedene »Nachar-beiten«. Schließlich haben sie alle die Last der Endkorrektur für mich getragen – zusam-men mit Frau Hanna Mehring, die ganz am Ende mit ins Team kam. Ich freue mich, soviel Entlastung, Interesse und Inspiration erfahren zu haben – danke!Für die 2. Auflage habe ich Fehler korrigiert, wo nötig aktualisiert und neueste Literaturergänzt. Für die 3. Auflage habe ich einige weitere Korrekturen vorgenommen.

Augsburg, im Januar 2014Stefan Schreiber

Liebe Leserin, lieber Leser!Das Lesen des Neuen Testaments beginntbei mir selbst. Mein Vorwissen, meine Ein-stellung dem Neuen Testament gegenüberentscheiden darüber, was ich beim Lesenverstehen werde, was mich anspricht oderabstößt. Kurz: Ich sehe das Neue Testa-ment durch eine Lesebrille. Und was ichdabei sehe, hängt davon ab, welche Brilleich benutze. Demnach ist die Wahl derrichtigen Brille entscheidend. In der Fach-sprache nennt man das »Hermeneutik«: Ichwerde mir darüber klar, mit welchem Vor-verständnis ich die Texte lese, und findeKriterien für die Entscheidung, welches dasrichtige Vorverständnis sein kann. Ichnehme wahr, in welcher Welt ich lebe, undsuche zu verstehen, in welcher Welt dieersten Christen (und natürlich Christinnen)lebten. Dann erst kann ich Brücken zwi-schen beiden Welten schlagen. Konkret be-

deutet es einen erheblichen Unterschied,ob ich die Schriften des Neuen Testamentsals kulturelle Basisdokumente einer bür-gerlichen Gesellschaft in der westlichenWelt lese oder – und hier kann man von derBefreiungstheologie und der feministischenTheologie viel lernen – aus der Perspektivepolitisch-gesellschaftlicher Außenseiter,Unterprivilegierter und Unterdrückter.Sie sehen schon: Um hier die richtige Lese-brille auszuwählen, muss man einiges überdie zeitgeschichtlichen und sozialen Ver-hältnisse der ersten Christen, in deren Ge-meinschaft die Schriften des Neuen Testa-ments entstanden sind, wissen. Man solltez.B. wissen, zu welchen gesellschaftlichenKreisen diese Christen gehörten, in welcherpolitischen Situation sie lebten, wie ihrewirtschaftlichen Verhältnisse waren, mitwelchen anderen Gruppen sie zusammen-lebten und vielleicht in Konfrontation stan-

§ 1 Die Lesebrille

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den. Man sollte wissen, auf welchem geis-tigen und religiösen Hintergrund die erstenChristen dachten, in welcher Kultur sieaufwuchsen und ihre Denkanstöße erhiel-ten. Daher wird die Darstellung dieses Bu-ches besonderen Wert darauf legen, diesezeitgeschichtlichen Hintergründe zu erhel-len. Es kann durchaus geschehen, dass wirdann gezwungen werden, eine alte Lese-brille wegzulegen, um eine neue zu probie-ren. Vielleicht passt die neue besser: Dannsehen wir schärfer, tiefer, erfahren Neuesund Ungewohntes.Wir können nicht davon ausgehen, dassdas Leben der ersten Christen eine »heileWelt« darstellte oder ein süßliches, viel-leicht etwas fades Idealbild einer christli-chen Gemeinschaft abgab. Das Gegenteilwar der Fall: Die Gemeindebildung, der wiralle Schriften des Neuen Testaments ver-danken, gestaltete sich innerchristlich alsschwieriger, konfliktorientierter Prozess,bei dem sich verschiedene Meinungen ge-genüberstanden und Konflikte ausgetragenwerden mussten. Neue Wege mussten erstausprobiert werden, was oft mit schmerz-vollen Rückschlägen und menschlichenEnttäuschungen einherging.

Die Welt der ersten Christen mag unsfremd erscheinen. Und das ist gut so. Dannnehmen wir nämlich wahr, dass die neu-testamentlichen Schriften nicht »unsere«Schriften sind, die einfach und direkt Be-troffenheit und existenzielle Umsetzung er-möglichen – so, wie wir es im Augenblickgerne hätten. Das wäre kurzsichtig. Wir be-nötigen eine Brille, die uns in die Ferne derGeschichte sehen lässt: Wir lesen fremdeTexte, die einen Prozess des Erarbeitens,des Kennenlernens, des Sich-Hineinden-kens von uns fordern. Dann wird Begeg-nung mit dem anderen – dem fremden Textund letztlich dem ganz anderen Gott –möglich.Auf dieser spannenden Entdeckungsreisedurch das Neue Testament will das vorlie-gende Buch Sie »begleiten«. Es will IhnenLesebrillen anbieten für Texte, die wir ohneBrille nur schwer entziffern können. Esmöchte Ihnen Fremdes nahe bringen, damitSie Ihre eigenen Erfahrungen mit den neu-testamentlichen Texten machen können.Es möchte Sie – durch das Neue Testament»verwandelt« – dorthin wieder zurück-führen, wo der Leseprozess begann: zu sichselbst.

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1. Der Text und die Lesenden

I. EINLEITUNG

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, dieersten Zeilen dieses Buches lesen, beginntein Kommunikationsvorgang. Sie haltenden »Begleiter« in Händen und wissen da-

bei, dass er von einem »Schreiber« verfasstworden ist. Ein einfaches Schema verdeut-licht den Vorgang (wobei mein Name zu-gleich meine Funktion bezeichnet):

§ 2 Ein Lesemodell

Schreiber Begleiter Leserin/Leser

Obwohl mich die (meisten) Leser/innennicht kennen, ist ein Lesen des »Begleiters«möglich. Der Text spricht für sich. Und erenthüllt zugleich einiges über den Schreiber,z.B. die Art und Weise, wie ich mich sprach-lich ausdrücke, oder meine Positionen in-nerhalb der Zunft der Bibelwissenschaftler.Nun sind Sie als Leserin, als Leser demText (dem »Begleiter«) aber auch nichthilflos ausgesetzt – Sie können ihn z.B. je-derzeit zur Seite legen. Sie selbst sind aktivam Lesen beteiligt, zunächst mit Ihren

Empfindungen und Stimmungen (Interesse,Neugier, Lustlosigkeit, Stress), dann mitIhren soziokulturellen Voraussetzungen(Ihrem Wissen vom Neuen Testament,Ihrer Weltanschauung im Allgemeinen, obSie kirchlich sozialisiert sind oder demChristentum gegenüber skeptisch), schließ-lich mit Ihrem eigenen Verstehen (wie Siemeine Ausführungen aufnehmen, was Siedarüber denken, wo Sie zustimmen undwas Sie ablehnen). Deswegen müssen wirdas Schema ein wenig modifizieren:

Schreiber Begleiter Leserin/Leser

Nebenbei bemerkt: Ich habe mir beim Schreibennatürlich immer schon ein Bild von Ihnen als Le-senden gemacht: Wie Sie wohl mit dem Chris-tentum in Kontakt stehen, welches VorwissenSie mitbringen, was Sie interessiert etc. MeinBild des Lesers nennt man den impliziten Leser,für den der Text geschrieben ist (und den manaus dem Text »erkennen« kann). Tatsächlichsind Sie aber der reale Leser (und natürlich Lese-rin), und je mehr Sie mit meinem Bild des Lesersübereinstimmen, desto besser gelingt unsereKommunikation, desto mehr Freude und Ge-

winn haben Sie am »Begleiter«. Je weiter aberimpliziter Leser und realer Leser auseinander tre-ten, desto schwieriger wird unsere Kommunika-tion (bis hin zur Unmöglichkeit: Wenn im Ex-tremfall ein Leser der deutschen Sprache nichtmächtig ist). Das gilt übrigens auch umgekehrt:Das Bild, das Sie von mir aus dem Text, den ichgeschrieben habe, gewinnen, ist der impliziteAutor. Der reale Autor ist Ihnen solange unbe-kannt, bis Sie mich kennen lernen. Vielleichtstimmt Ihr Bild mit meiner tatsächlichen Er-scheinung überein.

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Ich vermute, dass unsere Kommunikationnicht schlecht gelingt. Die Voraussetzun-gen dafür sind nämlich günstig:• Wir leben in der gleichen Kultur

(Westeuropa),• zur gleichen Zeit

(am Beginn des 21. Jahrhunderts),• und sprechen die gleiche Sprache

(Deutsch).

Wichtig ist, dass wir grundsätzlich ein an-nähernd gleiches kulturelles Wissen umPolitik, Gesellschaft, Religion, Bildung,Kunst und Literatur teilen. Uns verbindetweiter eine gemeinsame Kommunikations-situation, nämlich das Interesse am NeuenTestament. Darum muss unser Kommuni-kationsmodell eine entsprechende Erweite-rung erfahren:

Schreiber Begleiter Leserin/Leser

Kommunikationssituation/kulturelles Wissen

Unsere Kommunikation mittels des »Be-gleiters« dient aber nicht (nur) dazu, dasswir – Schreiber und Leserin/Leser – uns bes-ser kennen lernen. Vielmehr wollen wirüber die Schriften der ersten Christen spre-chen, die heute im Neuen Testament zu-

sammengefasst sind. Wenden wir das Kom-munikationsmodell auf eine neutestament-liche Schrift an, stellen wir schnell fest,dass wir – Sie und ich – darin eigentlich garnicht vorkommen. Ziehen wir versuchs-weise den Römerbrief des Paulus heran:

Παυ'λ�ς τ�ι 'ς εjν ÔΡωμηë κλητ�ι jΙησ�υ' �ριστ�υ'

εjλθει 'ν πρ�ς υÔμα'ς / εjν πα'σιν τ�ι 'ς ε“θνεσιν

So klingt das im Originalton des Römer-briefs. Ich versuche eine Übersetzung:

Paulus Römerbrief Christen in Rom

Situation des Paulus und der römischen Christen/Kultur der antiken Welt

Der Römerbrief ist also weder in unsererSprache noch für unsere Lebenssituationund kulturelle Welt geschrieben. Dennochkönnen wir ihn heute noch lesen (sofern

wir Griechisch verstehen können bzw. einegute Übersetzung vor uns haben) – alsomüssen auch wir im Modell unseren Platzfinden:

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Paulus Römerbrief Christen in Rom

Situation/antike Kultur

Geschichte

1. Jh.

21. Jhunsere Situation und Kultur

Leserin/Leser,Schreiber u. a.

Das Modell sollte uns vor unserer Lektüredes Römerbriefs nachdenklich machen. Wirsehen:• Wir lesen den Römerbrief in einer ande-

ren Situation und Kultur, fast 2000 Jahrenach seiner Abfassung.

• Von der ursprünglichen Kommunikati-onssituation liegt uns nur noch der Rö-

merbrief (der Text) selbst vor. Nur durchden Text und im Text sehen wir auch et-was von Paulus und den römischenChristinnen und Christen.

Aber immerhin: Wir haben einen Text voruns, den wir lesen, meditieren, aber auchmit wissenschaftlicher Methodik auslegenkönnen. Letzteres ist Aufgabe der Exegese.

Die neutestamentliche Exegese stellt sichdie Aufgabe, den Text des Neuen Testa-ments in seiner zeitgeschichtlichen Kom-munikationssituation zu verstehen. DieAnalyseverfahren, die sie dabei anwendet,lassen sich idealtypisch in zwei Bereicheaufteilen:1. Textinterne Untersuchung: Jeder Textenthält als Mittel der Kommunikation Ele-mente der »Leserlenkung«. Die Exegesesucht nach solchen Signalen, Leerstellenund Leseanweisungen. Dazu betrachtet siedie Bedeutung der verwendeten Wörter (Se-mantik), die Konstruktion von größerenSinneinheiten und Sätzen (Syntax) und dieWirkabsicht des Textes, seine erzählerischeGestaltung bzw. seine Argumentations-struktur (Pragmatik: Stilistik, Rhetorik,Narrativik). Ausgangspunkt des exegeti-schen Arbeitens ist also stets der konkreteText. Er enthält auch Spuren seiner Entste-

hungsgeschichte, seines Wachstums: Vo-rausliegende Traditionen wurden aufgegrif-fen, eingefügt, ausgebaut, weitererzählt.Nur aus dem Text lässt sich das ursprüng-liche Kommunikationsgeschehen, das zumGesamtverstehen entscheidend ist, wenigs-tens ansatzweise im Rückschlussverfahrenrekonstruieren. Damit sind wir bereitsbeim zweiten Bereich.2. Textexterne Bedingungen: Um einenText verstehen zu können, muss man seinekulturelle Umwelt kennen – den Denk-und Lebenshorizont von Verfassern undAdressaten. Zeit-, sozial- und religionsge-schichtliche Untersuchungen nähern sichder politischen und kulturellen Welt desNeuen Testaments an. Auch die Situation,in der sich Verfasser und Adressaten aktu-ell befinden, spiegelt sich im Text und kannteilweise aus dem Text erschlossen werden.Dass dabei Unsicherheiten und Wissenslü-

§ 3 Vom Nutzen der Bibelauslegung (Exegese)

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cken bleiben, liegt auf der Hand. Dennochist dieser Untersuchungsschritt äußerstwichtig, weil er uns einen Raum, einen Ho-rizont für das Textverstehen eröffnet.

Es existiert eine Reihe von »Methodenbüchern«,die die vielen einzelnen Untersuchungsschritteexegetischen Arbeitens erklären und einüben. Ei-nige habe ich bei der Literatur zu § 2 angeführt.

Mein »Begleiter« basiert auf solchen exege-tischen Untersuchungen, die sich histo-risch-kritischer und sprachwissenschaftli-cher Methoden verpflichtet wissen. Ichfrage möglichst genau nach, von wem undfür wen ein neutestamentlicher Text ge-schrieben wurde, welche Aussageabsichtihn leitete und wie er entstand. Eine solcheInterpretation bedeutet immer eine Kon-struktion des Textsinns. Das bedeutet, dassdas sprachliche Gebilde eines Textes im-mer dann Sinn erhält, wenn eine Leserin,ein Leser Sinn in diesem Text findet, denText auf seine Weise versteht. Es gibt kei-nen »reinen« Textsinn ohne verstehendeLeser. Dieser Textsinn ist jedoch nicht derBeliebigkeit unterworfen, vielmehr fun-

giert der Text selbst als ständiges Korrektiv.Ich muss mich immer wieder fragen, obmeine Interpretation auch wirklich demText gerecht wird, ihn erklärt und besserverstehen lässt (und nicht nur meine eige-nen Gedanken in den Text »hineinliest«).Maßstab der Interpretation ist also ihreTextplausibilität. Texte sind offene Gebilde– sie bieten sich für die Auslegung an. Ichhabe versucht, meine Auslegungen daranzu orientieren, dass sie den vorliegendenText möglichst plausibel erklären helfen.Wenn das gelingt, ist meine exegetischeAufgabe zunächst erfüllt. Aber das ist nochlange nicht alles. Betrachten Sie noch ein-mal das letzte Modell. Wir lesen den »al-ten« Text als Menschen unserer Situationund Kultur. Wenn wir besser verstandenhaben, was der Text in seiner Zeit sagenkonnte, stellt sich uns die Frage, was er füruns in unserer Zeit bedeuten kann. Sichdiese Frage zu stellen, liebe Leserin, lieberLeser, ist Ihre Aufgabe. Mein »Begleiter«will Sie dafür ausrüsten – abnehmen will erIhnen die Antwort nicht, weil es Ihre ganzpersönliche Antwort sein muss.

Der »Begleiter« ist so aufgebaut, dass Sie –nach einleitenden Überblicken über dieZeit der ersten Christen und die ersten Je-sus-Deutungen und -Überlieferungen – zu-nächst Auskunft über die geschichtlichenGrunddaten der einzelnen neutestamentli-chen Schriften erhalten, auch über die lite-rarischen Formen Evangelium und Brief,die synoptische Frage und die Logienquelle(Teil I). Der Hauptteil rekonstruiert für jedeeinzelne Schrift die Kommunikationssitua-tion und beschreibt in diesem Rahmen ihretheologische Absicht (Teil II). Der histori-schen Gestalt Jesus von Nazaret ist dernächste Teil gewidmet, nicht nur, weil Je-sus im Zentrum aller christlichen Tradi-tion steht, sondern auch wegen der um-fangreichen Forschungen, die zu Jesus

bereits geleistet wurden (Teil III). Ein wei-terer Teil beleuchtet Leben, Wirken undtheologische Grundlinien des Paulus ausTarsus, dem eine besondere Rolle bei derEntwicklung des frühesten Christentumszufällt (Teil IV). Ein Anhang behandeltschließlich Kanonbildung und Textge-schichte.Knappe Angaben über weiterführende Lite-ratur zu jedem Paragraphen finden Sie amEnde des »Begleiters«.Sie können den »Begleiter« ganz flexibelbenutzen: ihn von Anfang bis Ende lesen,sich gezielt über einzelne neutestamentli-che Schriften informieren (wobei Sie so-wohl in Teil I als auch in Teil II Informatio-nen erhalten) oder mit der Frage nach Jesusoder Paulus einsetzen. Letztlich beschreibt

§ 4 Zum Gebrauch des »Begleiters«

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Die Sprache der neutestamentlichen Schrif-ten ist Griechisch, genauer gesagt eineForm des klassischen Griechisch, wie sie inhellenistischer Zeit die Umgangssprachegroßer Teile der Bevölkerung bildete (dassogenannte Koine-Griechisch). Nur nochwenige Menschen beherrschen die grie-chische Sprache heute so, dass sie sie flie-ßend lesen können. Daher sind sowohl fürden kirchlichen Gebrauch als auch für dieprivate Lektüre Übersetzungen wichtig. Ichstelle zu Ihrer Orientierung die geläufigstendeutschen Übersetzungen kurz vor (die ge-nauen Angaben finden sich hinten bei derLiteratur):• Einheitsübersetzung: Im Bereich der ka-

tholischen Kirche im deutschsprachigenRaum gebräuchliche Übersetzung, diesich um eine gut verständliche, gehobeneund für die gottesdienstliche Lesung ge-eignete Sprache bemüht, dabei sich abermanchmal deutlich vom griechischenOriginal entfernt.

• Luther-Revision: Im Bereich der evange-lischen Kirche in Deutschland gebräuch-liche Übersetzung, die auf die berühmteBibelübersetzung Martin Luthers zurück-

geht und in der überarbeiteten Fassungvorsichtig dem heutigen Sprachgebrauchangepasst wurde.

• Zürcher Bibel: Übersetzung der refor-mierten Kirchen, die eine weitgehendeNähe zum griechischen Text mit gut les-barer Sprache verbindet.

• Münchener Neues Testament: Sehr wört-liche Übersetzung, die den Charakter dergriechischen Sprache nachempfindet,manchmal aber für unsere Ohren sehrfremd klingt (was ja nicht immerschlecht ist!) – empfehlenswert.

• Berger/Nord: Relativ freie, zum Teil ei-genwillige Übersetzung (und Anordnungder Schriften), die den Text in unsereWelt »übertragen« will; am besten mitanderen Übersetzungen vergleichen.

• Stier: Eigentümlicher Sprachstil, aber gutgeeignet, um an vermeintlich bekanntenTexten Neues zu entdecken.

• Elberfelder Bibel: Große Nähe zum grie-chischen Text.

Die von mir angeführten Bibelzitate sind übri-gens, wenn nicht anders vermerkt, von mirselbst ins Deutsche übersetzt.

§ 5 Deutsche Übersetzungen des Neuen Testaments

das Buch eine Kreisbewegung, in die manan jedem Ort einsteigen kann und die stetswieder zu diesem Ort zurückführt.Übrigens: Der »Begleiter« will Sie wirklich»begleiten« – nämlich bei der Lektüre des

Neuen Testaments. Deshalb sollten Siestets ein Neues Testament zur Hand haben– im griechischen Original oder in einer derempfohlenen deutschen Übersetzung (siehe§ 5).

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2. Die Zeit des Neuen Testaments

Das Urchristentum stellte als geschichtli-che Erscheinung einen Bestandteil der anti-ken Welt dar. Die Geschichte des Urchris-tentums im 1. Jahrhundert war untrennbarmit der Geschichte des Judentums im rö-mischen Weltreich verbunden, weil es anseinen Anfängen und teilweise bis zumEnde des 1. Jahrhunderts eine Gruppe in-nerhalb des Judentums bildete.Gemäß einem weithin anerkannten Peri-odenschema der Geschichtswissenschaftlässt sich das Urchristentum in die früherömische Kaiserzeit (Prinzipat) einordnen,deren Beginn man bei der unumschränktenBevollmächtigung des Augustus durch denrömischen Senat im Jahr 27 v.Chr. anset-zen kann. Voran ging die Epoche des Helle-nismus, womit man in der Regel die Zeitseit Alexander dem Großen (Ende 4. Jahr-hundert) bezeichnet, in der die klassischegriechische Geschichte neue Entwicklun-gen erfuhr. Der damit begonnene Prozessder »Hellenisierung« setzte sich über denBeginn der Kaiserzeit hinaus fort undwurde durch die allmähliche Vereinheitli-chung der lokalen Verwaltungen im Römi-schen Reich eher gefördert. Es handeltesich dabei um einen ausgesprochen viel-schichtigen Prozess, bei dem griechischeKulturmuster in anderen Gesellschaftenzusehends Einfluss gewannen und sichmit orientalischem Kulturgut verbanden(Akkulturation). Betroffen davon warenunterschiedliche Ebenen wie Sprache undLiteratur, Architektur, Religion und sozio-politische Organisation. So wurden z. B.griechische und orientalische Götter undKulte identifiziert und gleichgesetzt (so-genannte interpretatio Graeca: »Umwid-mung«), neue Kulte wurden im Westen be-

liebt (z.B. Isis-Kulte). In den verschiedenenKulturräumen kam es zu unterschiedlichstarken Ausprägungen der Hellenisierung.Einen gewissen Sonderfall stellt das Juden-tum dar, das Elemente griechischer Kulturzweckbestimmt für die Konstruktion sei-ner Identität übernahm, ohne diese preiszu-geben. In dieser kulturellen Umwelt entwi-ckelten sich und lebten die erstenchristlichen Gemeinden.An die Stelle des eigenständigen grie-chischen Stadtstaats (Polis) trat im Zugeder Hellenisierung ein weite Gebiete bzw.eine Vielzahl von Städten umfassendes po-litisches Gebilde (ein »Reich«), an dessenSpitze ein einzelner Herrscher stand. DerHerrscherkult entwickelte sich, um sicht-bar zu machen, dass hinter der Macht desHerrschers göttliche Macht steht. Prak-tisch diente der Herrscherkult der symboli-schen Sicherung der Einheit des Reiches.Wenn der Herrscher den Titel Soter (Retter,Befreier) trug, wurde freilich auch die Ver-pflichtung des Herrschers zur Sorge für dasWohlergehen des Volkes sichtbar. Für dasJudentum, das strikt am Monotheismusfesthalten wollte, wurde die Ausprägungdes Herrscherkults zum Problem (das in rö-mischer Zeit durch Befreiung der Judenvom Kaiserkult und ein tägliches Opfer imJerusalemer Tempel für den Kaiser gelöstwurde). Als das Römische Reich die Herr-schaft im Osten übernahm, wurde all-mählich auch der (im Osten ausgeprägte)Herrscherkult auf den römischen Kaiserübertragen (mehr dazu unter § 89). Erbedeutete eine öffentliche Loyalitätser-klärung, die religiöse Praxis breiter Volks-schichten war davon jedoch kaum be-troffen.

§ 6 Hellenisierung und römische Kaiserzeit

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Die hellenistische Gesellschaft war fest ge-fügt. Ganz oben im Sozialprestige rangier-ten stadtsässige Großgrundbesitzer undAngehörige der Finanzaristokratie (Groß-kaufleute, Großreeder). Die soziale Unter-schicht aus freien kleinen Handwerkernund Lohnarbeitern hatte um die Existenzihrer Familien zu kämpfen. Die Sklavereiwar eine selbstverständliche Einrichtung,etwas gemildert durch aufkommende hu-manitäre Ideale und an Altersgrenzen ori-entierte Freilassungen. Wohl nicht seltenerreichten Sklaven einen höheren Lebens-standard als freie Lohnarbeiter. Eine insti-tutionell getragene Sozialfürsorge existiertenicht, doch erfolgten sporadisch in großenStädten wohltätige Zuwendungen an dasVolk von Seiten der Oberschicht, die damitihr Sozialprestige steigern konnte. Frauenwaren keineswegs rechtlos, sie konntenz. B. über Vermögen und Besitz verfügenund von sich aus die Ehescheidung beantra-gen. Faktisch waren sie freilich meist vonöffentlichen Funktionen ausgeschlossen:Ihr Wirkungsbereich war der Bereich desprivaten Hauses, wo sie durchaus gesell-schaftliches Ansehen genossen. Die großeMehrheit der Frauen lebte in Unterordnungunter die männlichen Familienmitgliederund ohne öffentliche Aufgaben. PolitischeFunktionsträgerinnen und selbstständigewohlhabende Frauen blieben die Ausnahme.Die politische Form des Römischen Rei-ches hatte sich im 1. Jahrhundert von derRepublik (mit dem Senat als oberster poli-tischer Instanz) zum Kaiserreich (Prinzipat)gewandelt: An der Spitze stand seit Augus-tus der Kaiser, der in seiner Person die füh-renden Ämter und Vollmachten vereinte.Die Gestalt des Augustus (Octavianus) ver-körpert die neue römische Herrschafts-form, die mit dem Idealbild der Pax Roma-na (»römischer Friede«) propagandistischuntermauert wurde: Römische Kultur undZivilisation garantieren für alle VölkerFrieden und Wohlergehen, sofern sich dieseunter dem Dach der römischen Herr-schaft versammeln. Der militärische Zu-griff Roms auf Völker, die sich diesem Kon-zept verweigern, ist dabei eingeschlossen.

Die antiken »Massenmedien« wurden ge-schickt zur Verbreitung des Pax-Romana-Programms genutzt: Abbildungen derFriedensgöttin auf Münzen (Abb. 1), Er-richtung von Bauten (Ara Pacis – Friedens-altar des Augustus in Rom), Statuen.

Bezeichnend ist das Bildprogramm einer MünzeKaiser Neros (Abb. 2): Auf einem Triumphbogensteht Nero in einem Viergespann-Wagen, rechtsneben ihm befindet sich Victoria mit Kranz undPalmzweig (Siegesgöttin), links Pax mit Herolds-stab und Füllhorn (Friedensgöttin), darunter zwei

Abb. 1: Pax-Münze

Abb. 2: Münze aus der Zeit Neros

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Soldatenfiguren, in einer Nische des Bogenssteht der Kriegsgott Mars – der Friede wird durchKrieg, Sieg und die Oberherrschaft des Imperatorbestimmt!

Hoffnungen und Sehnsüchte der von Krie-gen und ihren Folgen geplagten Bevölke-rung wurden so auf das Ideal einer friedli-chen Völkergemeinschaft hin gelenkt. InRom trugen die Kaiser immer wieder durchGetreide- und Geldspenden an die Stadtbe-völkerung diesem Anspruch Rechnung. Fürdie betroffenen Völker bedeutete die PaxRomana freilich in der Regel politische undmilitärische Unterdrückung. Es verwun-dert nicht, dass die ersten Christen ange-sichts des Gebarens der Herrscher der Weltihre Hoffnung auf das Wirken Gottes inChristus setzten, das eine andere, göttlicheHerrschaft aufrichten werde (man denkenur an die Geburtsgeschichte in Lk 1–2;dazu § 44).Außerhalb Italiens war das Römische Reichin Provinzen unterteilt, die verschiedenenRechtsstatus besaßen: als senatorische Pro-vinzen unter der Führung eines Prokonsul,als kaiserliche Provinzen unter einem Prä-tor; kleinere Gebiete (wie Judäa) innerhalbgrößerer Provinzen konnten von Amtsinha-bern aus dem Ritterstand (Präfekt bzw. Pro-kurator) verwaltet werden (das galt z.B. ab6 n.Chr. für Judäa; dort war 26–36 PontiusPilatus Präfekt). Die Provinzstatthalter be-saßen schon allein aufgrund der räumli-chen Entfernung von der Hauptstadt Romgroße Machtbefugnisse. Ihnen unterstan-den direkt die lokalen Einheiten der Städte,Dörfer, Stämme und Heiligtümer.

Klientelstaaten (= Staaten mit landeseige-ner Regierung, die aber von Rom abhängigwar) konnten mit dem Römischen Reichverbunden sein: Das sicherte ihre innereUnabhängigkeit, außenpolitisch waren siejedoch ganz von Rom abhängig. Ein be-kanntes Beispiel dafür bietet Judäa, das von37–4 v.Chr. unter Herodes dem Großen alsKlientelkönig stand.Im Römischen Reich herrschte »religiöseToleranz«, d.h. es gab keine reichseinheit-liche, für alle Reichsbewohner allein ver-bindlich vorgeschriebene Staatsreligion,vielmehr stand den Völkern die Praxis ihreralthergebrachten Kulte frei. Auch »neue«Kulte, die z.B. aus dem Osten des Reichesimportiert wurden, waren gestattet. Esmusste freilich gewährleistet sein, dass dieöffentliche Sicherheit und die Interessendes Staates dadurch nicht gefährdet wur-den. Die im 1. Jahrhundert verbreitetenMysterienkulte galten den Behörden teil-weise (wegen ihrer Abgeschlossenheit nachaußen) als verdächtig. Die jüdischen Ge-meinschaften im Römischen Reich erhiel-ten weit reichende Privilegien wie Befrei-ung vom Militärdienst, Erlaubnis zurEinhaltung des Sabbat, eigene Verwaltung(was die Lebenspraxis nach der Tora ermög-lichte), Befreiung vom Herrscherkult. In al-len großen Städten des Reiches lebten jüdi-sche Gemeinschaften, das so genannteDiaspora-Judentum (mehr dazu in § 134).Die Auswirkungen der römischen Herr-schaft in Palästina behandle ich im Zusam-menhang mit der Frage nach dem histori-schen Jesus (in Teil III, §§ 95–100).

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Wichtige Daten, die ich in tabellarischerForm zusammenstelle, sollen die Einbin-

dung des Urchristentums in die Geschichtedes Römischen Reiches zeigen.

§ 7 Geschichtliche Daten

27 v.–14 n.Chr. Augustus (Octavianus)

14–37 n.Chr. Tiberius 14–68 Julisch-claudische

37–41 Gaius (Caligula) Dynastie

41–54 Claudius

54–68 Nero

69 »Vierkaiserjahr«: Galba, Vitellius, Otho, Vespasian

69–79 Vespasian 69–96 Flavische Dynastie

79–81 Titus

81–96 Domitian

96–98 Nerva

98–117 Trajan

Römische Kaiser

Herodianer

37–4 v.Chr. Herodes der Große (Klientel-)König über Palästina

Aufteilung des Erbes durch Rom (an die Söhne des Herodes) (Abb. 3):

4 v.–34 n.Chr. Philippus Nordosten37–44 n.Chr. Herodes Agrippa I. (Gaulanitis, Batanäa)

4 v.–39 n.Chr. Herodes Antipas Galiläa, Peräa39–44 n.Chr. Herodes Agrippa I.

4 v. – 6 n.Chr. Archelaos Judäa, Samaria, Idumäaab 6 n.Chr. kaiserliche Verwaltung (römische Provinzeinheit)41–44 n.Chr. Herodes Agrippa I.

41–44 n.Chr. Herodes Agrippa I. (Klientel-)König über Palästina

ab 50 Herodes Agrippa II.

Ereignisse

63 v.Chr.

37–4 v.Chr.

4 v.Chr.

6–41 n.Chr.

19 n.Chr.

26–36

38

der römische Feldherr Pompeius erobert Jerusalem

Herodes der Große, König in Palästina

Aufteilung Palästinas

römische Verwaltung über Judäa

Vertreibungen von Juden aus Rom

Pontius Pilatus Präfekt von Judäa

Judenpogrom in Alexandria

vor 4 v.Chr. Geburt Jesu

um 30 Tod Jesu

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