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Sarg statt Saxophon

Date post: 06-Jan-2017
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Chicago Band 12

Sarg statt Saxophon

Die wilden Zwanziger. In den USA herrscht Prohibition, doch eine ›tro­cken gelegte‹ Nation konsumiert mehr Alkohol als jemals zuvor. Für den Nachschub sorgen gut organisierte Gangsterbanden, gegen die die Polizei einen vergeblichen Kampf führt. Nicht zuletzt, weil auch sie oft mit am Alkoholschmuggel verdient. Die Sitten sind rau und ein Men­schenleben zählt wenig, wenn es um viele Dollars geht. Die Gangster­bosse unterhalten ihre Privatarmeen von Killern und leben selbst wie Könige.

In Chicago versucht der Privatdetektiv Pat Connor, nicht zwischen die Fronten zu geraten und trotzdem der Gerechtigkeit Geltung zu ver­schaffen. Um aber in diesem Haifischbecken zu überleben, muss man selbst auch die Zähne zeigen.

*

Ich hatte William P. McMurphy vor einigen Monaten in einem Speakea­sy kennen gelernt. Wir waren beide schon ziemlich gut abgefüllt, wie ich zugeben muss. In einem solchen Zustand gerät man entweder an­einander oder man trinkt einen zusammen. Bei uns war Letzteres der Fall. Ich erfuhr, dass Will ein wenig arrivierter Rechtsanwalt war und sich hauptsächlich mit der Verteidigung kleiner Ganoven über Wasser hielt. Obwohl ich für meine höfliche und umgängliche Art bekannt bin, sagte ich ihm, dass ich ihn eher für einen seiner Klienten gehalten hät­te. Er nahm es locker und äußerte sich nicht minder launig über mein Aussehen. Darauf tranken wir noch einen.

Am nächsten Morgen erinnerte ich mich nur noch vage an meinen neuen Freund und maß seinem Versprechen, auf mich zurückzukom­men, falls er mal einen Detektiv benötigte, wenig Bedeutung zu. Im Laufe der nächsten Wochen vergaß ich die Episode aus dem Speakea­sy ganz.

Das änderte sich schlagartig, als ein dicker, kleiner, ziemlich häss­lich aussehender Mittvierziger in meinem Büro aufkreuzte. Ich erkann­te ihn sofort wieder: ein breites Gesicht mit einer Knollennase, Hänge­backen, eine dunkle Hornbrille mit Gläsern, die so dick waren, dass man sie auch als Brennglas hätte einsetzen können. Er trug einen rie­

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sig wirkenden grauen Schlapphut, der ihm wohl über die Augen ge­rutscht wäre, wenn die abstehenden Ohren das nicht verhindert hät­ten.

»Hallo Pat«, begrüßte er mich jovial. Er warf den Hut in Richtung Garderobenständer und kümmerte

sich nicht darum, dass er diesen um einen halben Meter verfehlte. Betty, meine meistens bissige, blond gelockte Sekretärin, hob ihn mit spitzen Fingern auf und murmelte dabei etwas Unverständliches. Es hörte sich nicht gerade wie die Einladung zu Kaffee und Doughnuts an.

McMurphy fläzte sich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch und legte die ziemlich großen Füße auf den Tisch. Ich hatte Gelegenheit, seine Schuhsohlen zu betrachten. Sie waren nicht zu beanstanden.

»Es freut mich, dass du dich bei mir wie zu Hause fühlst«, sagte ich, »aber den Whiskey in meiner Schreibtischschublade lässt du in Ruhe, klar? Er ist die Notration für Härtefälle und du bist keiner.«

Will grinste nur. »Hör zu, ich habe etwas für dich.« Ich schaute, ob er damit eine mir zugedachte Papiertüte mit einer

Flasche Bourbon meinte, konnte zu meinem Leidwesen aber nichts entdecken. Deshalb entschloss ich mich, die Bemerkung beruflich zu werten.

»Was ist los, Will? Ist deine Frau fremdgegangen? Ermittlungen in Scheidungssachen übernehme ich nicht.«

»Meine Frau weiß, was sie an mir hat und tut so etwas nicht!«, empörte sich der Anwalt. »Wofür hältst du mich?«

Wenn man mich so direkt fragt, komme ich um eine ehrliche Ant­wort einfach nicht herum. »Für einen Kerl, der von seiner Frau nach Strich und Faden betrogen wird.«

»Das war nicht nett, Pat«, beschwerte er sich. »Zum Glück weiß ich, dass du es nicht so meinst.«

Ich ließ ihm seinen Irrglauben, zündete mir eine Lucky an und leg­te ebenfalls die Füße auf den Schreibtisch. »Schieß los.«

McMurphy hatte einen größeren Hut, größere Ohren und größere Füße als ich. Jetzt übertrumpfte er mich auch noch bei den Glimm­stängeln. Er zog ein nappaledernes Zigarrenetui aus der Brusttasche

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seines dunkelblauen Nadelstreifenanzugs, entnahm ihm einen eher billig aussehenden Stumpen und bediente sich mit meinem Feuerzeug.

»Ich habe endlich einen Fall, der mich berühmt machen kann«, verkündete er selbstzufrieden, nachdem er eine dicke, stinkende Qualmwolke abgesondert hatte. »Es handelt sich um einen Mann, der eine zweifache Mordanklage zu erwarten hat, in Wahrheit aber un­schuldig ist.«

»Woher willst du das wissen? Hat er es dir erzählt? Das behaupten sie alle.«

Der Anwalt winkte ab. »Musst du mir nicht sagen. Aber in diesem Fall glaube ich meinem Mandanten. Es gibt nämlich eine Mordzeugin, die den wahren Täter kennt.«

»Wo liegt dann das Problem?« »Die Zeugin ist nicht auffindbar.« »Aha«, meinte ich. »Und ich soll sie finden?« McMurphy paffte an seiner Zigarre und nickte. »Du hast es er­

fasst, Pat.« »Ich bekomme fünfundzwanzig Dollar am Tag plus Spesen«, leier­

te ich meinen Spruch herunter. »Darauf einen Vorschuss von hundert Dollar.«

Der Dicke reichte mir anstandslos zwei Grants herüber, die ich in der Hosentasche verstaute. Und dann sagte er etwas, was wie Musik in meinen Ohren klang. »Wenn du sie findest und sie bewegen kannst, mir - und zwar mir allein - ihre Beobachtungen mitzuteilen, gibt es obendrein eine Erfolgsprämie: fünfhundert Dollar.«

»Von dir?« »Natürlich von mir. Aber keine Sorge, ich hole mir das Geld von

meinem Mandanten zurück. Und einiges mehr. Ich sagte dir ja, das wird mein ganz großer Fall.«

Herumzumäkeln ist nicht mein Ding, wenn mir Präsidenten ins Haus spazieren wollen. Geister zu jagen allerdings auch nicht. Deshalb fragte ich: »Du bist sicher, dass diese Frau wirklich existiert?«

»Ganz sicher.« Er verschluckte sich an seinem Zigarrenrauch und hustete so sehr, dass ich ihm schon vorschlagen wollte, sich besser im Chicago State Hospital einzuquartieren. Aber er erholte sich wieder.

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Anwälte sind zäh. Winkeladvokaten wie dieser hier offenbar ganz be­sonders.

Wütend versuchte er die Zigarre im Aschenbecher auszudrücken, aber die beleidigten Überreste qualmten noch stärker und stinkender als zuvor. Mit tränenden Augen fuhr er fort: »Du darfst mir einiges an Menschenkenntnis zutrauen. Die erwirbt man in meinem Beruf zwangsläufig. Wenn ich mit einem Mandanten rede, weiß ich nach spätestens zehn Minuten, ob er mich belügt oder die Wahrheit sagt. Dieser Mann lügt nicht. Sein Leben hängt von der Aussage dieser Frau ab. Finde sie!«

Ich nickte. »Na schön. Wer ist sie und was hat sie gesehen? Er­zähl mir mehr über die Sache.«

McMurphy bequemte sich, endlich Ross und Reiter zu nennen. »Mein Mandant heißt Luigi Paresi...« »Ein Italiener?«, unterbrach ich ihn und ließ keinen Zweifel daran,

wie wenig begeistert ich war. »Seit wann lassen sich Giovannis denn von Schotten verteidigen?«

»Mister Paresi hat nur Gutes über mich gehört und deshalb ist seine Wahl auf mich gefallen«, meinte McMurphy selbstgefällig. »Pare­si ist Geschäftsmann und...«

»Was für eine Art Geschäftsmann?« »Im- und Export.« »Import von Schnaps aus Kanada und Export von blauen Bohnen

in die Körper unliebsamer Zeugen?«, wollte ich wissen. Der Anwalt seufzte. »Ach Pat, in Chicago beschäftigt sich doch

nicht jeder, der italienische Vorfahren hat, mit dem Schmuggel von Alkohol. Und auch nicht jeder Ire, oder? Das Zeug zu mögen heißt ja nicht gleich, es auch selbst zu schmuggeln oder schwarz zu brennen.«

Er spielte damit auf die Tatsache an, dass Chicagos Unterwelt von den miteinander konkurrierenden italienischen und irischen Gangster­syndikaten unter Il Cardinale beziehungsweise The Jar beherrscht wur­de. Seit der Prohibition hatten die Syndikate zumindest bei den Trin­kern Punkte gutgemacht, weil sie das Austrocknen der Kehlen verhin­derten.

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»Dazu kann ich nichts sagen. Was mich persönlich angeht, trinke ich selten etwas Härteres als Ginger Ale.«

»Das habe ich allerdings anders in Erinnerung.« »Erinnerungen sind oft trügerisch, wenn man schon einen in der

Krone hatte. Das sollte einem Anwalt eigentlich bekannt sein.« Bevor er sich eine passende Erwiderung ausdenken konnte, fuhr ich fort: »Kehren wir zu deinem Giovanni zurück. Was macht er also, wenn er sich nicht mit Schnaps beschäftigt?«

William P. McMurphy funkelte mich irritierend aus seinen dicken Brennglasgläsern an. »Mister Paresi führt über Agenturen in Boston und Neapel italienische Waren...«

»Makkaroni?« »... italienische Waren aller Art in die USA ein und verschifft ame­

rikanische Waren nach Italien. Alles legal und staatlich kontrolliert. Glaub mir, der Mann ist sauber. Willst du jetzt die ganze Geschichte am Stück hören oder nicht?«

»Wenn sie nicht so endlos lang und so schwer so packen ist wie eine italienische Weichnudel«, stimmte ich zu.

»Mister Paresi war spätabends noch beruflich im Hafen unterwegs, als in einem Büro, das er gerade passierte, ein Mord an einem anderen Geschäftsmann namens Sharkey verübt wurde. Paresi hörte den Schuss, mit dem Sharkey getötet wurde und sah den Täter davonren­nen, konnte aber nicht mehr als eine schemenhafte Gestalt in Hut und Mantel erkennen. Gegen alle Vernunft verfolgte er ihn. Der Mann rann­te in eine junge Frau hinein, die gerade um eine Hausecke bog. Die Frau ging zu Boden, aber ohne Zweifel hat sie das Gesicht des Täters genau gesehen. Der Mann rannte weiter. Paresi verfolgte ihn und gab erst auf, als der Mörder auf ihn feuerte, statt seiner aber einen Unbe­teiligten traf und tötete. Aus Angst, in die Sache verwickelt zu werden, flüchtete Paresi aus dem Hafen und wurde später aufgrund von Zeu­genaussagen festgenommen. Die Zeugen hatten allerdings nur Paresi davonlaufen sehen, während der wirkliche Killer längst über alle Berge war.«

McMurphy machte eine Pause und zuckte dann die Schultern. »Da der wirkliche Mörder entkommen und die einzige Zeugin, die ihn iden­

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tifizieren kann, spurlos verschwunden ist, glaubt die Justiz Paresi na­türlich kein Wort.«

Ich dachte eine Weile darüber nach, während ich mir eine neue Zigarette anzündete. Offensichtlich steckte dieser Paresi wirklich in der Klemme. Eine Situation, die mir nicht ganz unbekannt war. Allerdings störte mich etwas an der Geschichte.

»Warum glaubt man Paresi nicht? Immerhin ist er offenbar doch ein unbescholtener Mann ohne Motiv.«

McMurphy blinzelte mich durch die Hornbrille an. »Mit dem Motiv ist das so eine Sache. Paresi kannte den Ermordeten und hatte ein gespanntes Verhältnis zu ihm. Und leider hat Paresi in seiner Jugend ein paar Dummheiten begangen und dafür im Gefängnis gesessen. Aber das liegt fünfzehn Jahre zurück. Der Rest ist Politik. Es gab zwei Tote und der Bürgermeister will den Täter präsentieren können, bevor er sich im nächsten Monat wieder zur Wahl stellen muss. Er übt Druck auf Polizei und Staatsanwaltschaft aus. Und die nehmen, was sie ha­ben und was ihnen in den Kram passt: Paresi und die Zeugen, die ihn gesehen haben. Die junge Frau ist für sie nur ein Phantom.«

Ich nahm zur Kenntnis, dass der saubere Signore Paresi doch nicht ganz so sauber war. Im Gegensatz zu McMurphy war ich keines­wegs von seiner Unschuld überzeugt. Allerdings musste ich eingeste­hen, dass es wenig Sinn machte, wenn ein Mann, der beschuldigt wur­de, zwei Morde begangen zu haben, nach einer Entlastungszeugin suchen ließ, die es gar nicht gab. Ich wandte mich der praktischen Seite der Angelegenheit zu.

»Was ist über die Zeugin bekannt?« »Leider sehr wenig«, gab McMurphy zu. »Deshalb brauche ich ja

deine Hilfe. Paresi kann die Frau nur vage beschreiben: Ende zwanzig, die dunkelbraunen Haare zu einem Dutt aufgesteckt, ein kleiner, eher altmodisch wirkender Hut, schlank, ziemlich hausbacken gekleidet. Sie trägt eine Brille. Das Auffälligste an ihr war, dass sie einen Instrumen­tenkoffer bei sich hatte, in dem sich der Form nach wohl ein Saxophon befand.«

»Sicher?«

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»Paresi kennt sich ein wenig mit Musikinstrumenten aus und schwört darauf, dass es ein Saxophonkoffer war.«

»Eine Frau, die Saxophon spielt?« »Ungewöhnlich, ich weiß. Aber es gibt einige Bands mit aus­

schließlich weiblichen Musikern. Ich habe kürzlich selbst eine gesehen - die Hot Eleven, wenn ich mich nicht täusche -, in denen eine Frau Saxophon spielte.«

»Eine Frau mit Brille und Dutt?«, fragte ich sarkastisch. »Wo trat die Band auf? In einem Altersheim?«

Der Anwalt wirkte verunsichert. »Sie könnte auch Musiklehrerin sein.«

»Was macht eine Musiklehrerin nachts im Hafen?« »Keine Ahnung. Finde es doch einfach heraus.«

*

Nachdem mir William P. McMurphy noch einige Details mitgeteilt hatte und dann abgeschwirrt war, zündete ich mir eine Zigarette an und schlenderte zu Betty Meyers Schreibtisch hinüber.

»Was halten Sie von der Geschichte, Betty?« »Ich werde nicht gut genug bezahlt, um mir Gedanken zu ma­

chen«, kam die patzige Antwort. »Dann denken Sie eben nicht, sondern sagen Sie aus dem Bauch

heraus, was Sie von einer bebrillten Geschlechtsgenossin halten, die einen Dutt trägt und Saxophon spielt.«

Betty warf sich in die Brust, was sich bei ihr durchaus lohnt und warf die blondierten Locken zurück. »Sehe ich so aus, als hätte ich viel gemein mit einer Dutt-Tante?«

»Die Saxophon spielt«, erinnerte ich sie. Sie blieb bockig. »Ich kann nur das Radio ein- und ausschalten.« »Respekt, das kann nicht jeder. Ich wusste doch, dass irgendwo

tief in Ihrem Innern verborgene Talente schlummern müssen.« Meine Angestellte schnaubte, wandte sich der klobigen Remington

zu und spannte ein Blatt Papier ein. Interessiert schaute ich ihr zu. »Was wird das? Wollen Sie Ihre Kündigung schreiben?«

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»Das hätten Sie wohl gern«, kam die bissige Antwort. »Ich werde einen Teufel tun und ausgerechnet in dem Moment kündigen, wo Ih­nen eine fette Erfolgsprämie und mir damit eine Lohnerhöhung winkt.«

»Eine ziemlich abenteuerliche Kombination. Wie kommen Sie denn auf dieses schmale Brett?«

Betty wandte sich von der Schreibmaschine ab und sah mich an. »Wer sagt überhaupt, dass in einem Saxophonkoffer auch wirklich ein Saxophon ist?«

»He, Betty, Sie können ja doch denken«, lobte ich. »Das war eine freiwillige Vorleistung in Erwartung der Lohnerhö­

hung, Pat.« Ich nahm meinen Hut vom Garderobenhaken. »Und wovon träumen Sie nachts, Schätzchen?«

*

Als ich mich mit meinem Plymouth in den Verkehr auf der Monroe Street einfädelte, wusste ich genau, was mir fehlte: Ich benötigte dringend ein oder zwei Bourbon, um meine grauen Zellen auf Vorder­mann zu bringen. Flüchtig dachte ich daran, auf die North-Side zu fah­ren und bei Dunky einzukehren, um sein Wissen über dieses und jenes anzuzapfen. Ich entschied mich dagegen. Ein Speakeasy würde ich überall finden und ich wollte mich zunächst ein wenig im Hafen umse­hen.

Ich fuhr am Art Institute vorbei bis zum Grant Park und dann die South Wabash in Richtung Navy Pier. Bevor ich den Chicago River er­reicht hatte, bog ich rechts ab und parkte in Sichtweite der ersten Ha­fenkräne. Ich steckte mir eine Lucky an und schlenderte den Kai ent­lang, wo Dutzende von Schuten be- und entladen wurden. Am Kai türmten sich Sandhaufen, Kieshalden, Rollen mit Dachpappe, Holzkis­ten und gestapelte Dachschindeln. Ein Stück weiter lag ein Fracht­dampf er mit zwei Schornsteinen vertäut, daneben ein Schwimmkran. Auf der anderen Seite des Hafenbeckens sah ich die ›S.S. Florida‹, die als Ballroom Boat für Tanzvergnügungen auf dem Michigansee einge­setzt wurde. Auf außenbords angebrachten Gerüsten hämmerten

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Rostklopfer, die einen neuen Anstrich vorbereiteten. Ich überquerte die Gleise eines Dampfkrans, der sich ein Stück voraus mit bimmelnder Glocke schnaubend in Richtung der Schuten bewegte. An der Lade­rampe eines Schuppens zogen mehrere Lagerarbeiter Baumwollballen ins Innere des Gebäudes.

»Gibt es hier irgendwo was zu trinken?«, fragte ich einen der Männer, der gerade seinen Stauhaken in einen der Ballen schlug.

Der Mann, ein bulliger Typ mit speckiger Lederkappe, sah auf und musterte mich. Er grinste und zeigte in Richtung Kanal. »Genügt Ihnen unser Wasser nicht?«

»Als ich heute Morgen in den Spiegel schaute, sah ich noch nicht wie ein Erpel aus. Hat sich daran etwas geändert?«

Der Kerl zuckte die Achseln. »Sind Sie in der Gewerkschaft, Mis­ter?«

»Ich bin freiberuflich tätig. Warum?« »Sonst hätten Sie im Workers Club einen zwitschern können. Aber

egal.« Er zeigte über einige Bahngleise hinweg zu einem dreistöckigen Steinklotz. »Im Erdgeschoss finden Sie Fred's Rizz. Vorn gibt's Ham­burger, hinten Whiskey.«

Ich tippte mir mit dem Zeigefinger an den Hut. »Besten Dank, Meister. Haben Sie eigentlich neulich was von der Schießerei im Ship­ping District mitbekommen?«

»Da müssen Sie jemanden von der Nachtschicht fragen. Wenn Sie Glück haben, ist jemand von denen bei Fred.«

»Schon mal eine Lady mit Saxophonkoffer gesehen? Sie soll öfters nachts im Hafen unterwegs sein.«

Der Kerl grinste wieder. »Die mir bekannten Ladies, die nachts im Hafen unterwegs sind, brauchen zum Blasen kein Saxophon.«

Er machte deutlich, dass das Gespräch damit für ihn beendet war, indem er den Griff seines Hakens packte und den Baumwollballen mit sich zog.

Ich machte mich auf die Socken. Abgestellte Waggons der Chica­go Freight Company versperrten mir den Weg und ich musste einen Umweg über eine Klappbrücke mit riesigen, frei liegenden Zahnrädern wählen. Der Steinklotz erwies sich als Domizil verschiedener Versiche­

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rungsfirmen und Handelsagenturen. An der Nordwestecke entdeckte ich ein Schild mit verschnörkelten Buchstaben, das von den Gaumen­freuden kündete, die den Gourmet in Fred's Rizz erwarteten. Der Ein­gang wirkte eher wie ein Rattenloch und die Gaststube dahinter war winzig. Niemand hielt sich darin auf, aber es roch nach heißem, ranzi­gem Fett, Fleischklopsen und Senf. Hinter einer Durchreiche zischte und brutzelte es und als ich den Kopf hindurch steckte, entdeckte ich einen hageren Mann mit Käppi und Schürze, der ungeachtet der feh­lenden Kundschaft vor einem Gasherd stand, vor sich eine riesige Pfanne und emsig mit einem Bratenwender hantierte. Käppi und Schürze ließen ahnen, dass sie ursprünglich einmal weiß gewesen wa­ren, aber sie hatten mit Sicherheit seit Wochen keine Seifenlauge mehr gesehen.

Fred - wenn er es denn war - hatte mich ebenfalls entdeckt. »Was soll's sein?«, fragte er mürrisch. »Hummerschwanzsuppe, Cordon Bleu und einen frischen Salat«,

bestellte ich. »Wir haben nur Hamburger mit und ohne«, bekam ich zur Ant­

wort. »Mit und ohne was?« »Was Scharfem.« »Da kommen wir der Sache schon näher. Wo gibt's das Scharfe?« »Hinten. Gehen Sie einfach durch die Tür gegenüber dem Ein­

gang.« Ich wollte losmarschieren, aber Fred hielt mich auf. »Langsam, Mister. Wir sind ein Restaurantbetrieb.« »Schön für Sie.« Das beeindruckte ihn wenig. Er angelte mit dem Bratenwender ei­

nen schwarzbraunen Fleischklops aus der Pfanne, knallte ihn schwungvoll auf eine Semmelhälfte und pappte die zweite obenauf, nachdem er einen Löffel voll Senf auf den Klops geklatscht hatte. Dann packte er den Hamburger mit beiden Händen und schob ihn mir auf dem von verkrustetem Fett gebräunten Zinkblech entgegen. »Mitneh­men, Mister. Das ist Ihr Passierschein. Ohne Hamburger keine Beila­gen.«

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Er bemerkte meinen skeptischen Blick. »Sie müssen ihn ja nicht essen, wenn Sie keinen Hunger haben.

Bezahlt wird drüben.« Langsam wurde mir klar, wie der geschäftstüchtige Fred den Um­

satz seines Gastronomiebetriebs ankurbelte. Offensichtlich handelte es sich bei dem Kerl um einen Koch aus Leidenschaft, wenngleich die Speisekarte seines Etablissements etwas kärglich anmutete.

Ich nahm meinen vor Fett und Senf triefenden Hamburger, ging zur Hintertür und trat ein. Der Raum war dreimal so groß wie die vor­dere Gaststube. An rohen, blank gescheuerten Holztischen sowie an der Theke saßen gut fünfzehn Männer, die meisten wie ich mit Schlips und Kragen. Drei Typen trugen statt Anzügen gelbe Kittel. Hafenarbei­ter waren nicht zu entdecken. Offenbar diente Fred's Rizz hauptsäch­lich den Angestellten in den umliegenden Büros als Auftankstation in der Mittagspause.

Kaum einer sah auf, als ich eintrat. Man unterhielt sich ungezwun­gen. Laute Stimmen und Gelächter erfüllten den Raum.

Ich deponierte meinen Hamburger auf einem der freien Tische, wo schon andere Zweifler an Freds Bratkünsten ihre Passierscheine abgelegt hatten. Dann ging ich zur Theke und setzte mich auf einen freien Barhocker. Der Bartender, ein junger Bursche mit struppigen blonden Haaren und einem leichten Silberblick, brachte mir ungefragt ein Glas mit Bourbon. Offenbar war die Getränkekarte genauso kärg­lich wie die Speisekarte. Aber das sollte mir recht sein.

Ich kippte den Whiskey herunter und der Bursche schenkte mir sofort neu ein. Solche Aufmerksamkeit weiß ich zu schätzen.

»Hier in der Nähe soll es neulich eine Schießerei gegeben ha­ben?«, eröffnete ich das Gespräch, während ich mir eine Zigarette anzündete.

Der Junge zuckte die Schultern. »Es wird viel geschossen in Chi­cago. Ich halte mich da raus. Wer sich für Blei interessiert, kommt durch Blei um.«

»Shakespeare?« Der Junge grinste. »Nee, Kaminski.« »Das sind Sie?«

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»Richtig. Peter Kaminski.« Ich nahm einen tiefen Zug von meiner Kippe. »Aus Russland?« »Aus Baltimore. Aber meine Eltern stammen aus Osteuropa - aller­

dings aus Polen.« »Stimmt es, dass Polen leidenschaftliche Musikliebhaber sind?« »Das höre ich zum ersten Mal, Mister.« »Aber Sie selbst mögen Musik? Heiße Musik von weiblichen

Bands? Ich wette, Sie sind ganz wild nach weiblichen Saxophonspiele­rinnen.«

»Kann ich nicht sagen. Meine Freundin ist Anwaltsgehilfin bei Trautman & Hershel.«

Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ich noch nicht richtig auf Touren gekommen war. Ich schüttete Brennstoff nach und bekam meinen dritten Bourbon eingeschenkt.

»Na ja«, meinte ich, »man soll eben nicht von sich auf andere schließen. Was mich angeht, so ist meine Freundin tatsächlich eine Saxophonspielerin. Nur leider ist sie mir durchgebrannt und wurde zuletzt hier im Hafen gesehen. Sie sind ihr nicht zufällig begegnet? Brille, Dutt und, unübersehbar, ein Saxophonkoffer?«

Der Junge sah mich schief an. »Sie verscheißern mich, Mister.« »Aber durchaus nicht!«, versicherte ich und versuchte dabei so

treuherzig wie möglich dreinzuschauen.« »Mit Brille und Dutt?«, fragte Kaminski nach. »Na und?«, meinte ich. »Sie hat eben andere Qualitäten.« »Sie können Ihre Freundin getrost abschreiben«, sagte der Junge.

»Sie hat sich einen anderen Saxophonliebhaber gesucht.« Jetzt wurde ich hellhörig. »Sie kennen sie?« Kaminski schüttelte den Kopf. »Das nicht. Aber vor ihnen hat

schon ein Typ nach ihr gefragt. Er sagte ebenfalls, er sei ihr Freund.« »Wer war der Kerl?«, entrüstete ich mich. »In Ihrem Alter, mit einer ziemlich dicken Nase und einem großen

Mund mit wulstigen Lippen. Schwarze Haare. Sonst ist mir nichts an ihm aufgefallen.«

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Auf diese Neuigkeit hin benötigte ich erst einmal einen die Gedan­ken klärenden Schluck. Ich trank mein Glas leer und es wurde wieder gefüllt. Dann musste sich der Bartender den anderen Durstigen wid­men. Das war mir ganz lieb, denn ich brauchte etwas Zeit für mich. Ich klopfte mir eine frische Zigarette aus der Packung.

Wer war der Fremde, der sich ebenfalls nach der Frau mit dem Saxophonkoffer erkundigt hatte? Nach allem, was mir McMurphy er­zählt hatte, wusste außer Paresi nur die Polizei von der angeblichen Zeugin. Und die Polizei glaubte Paresi nicht. Außerdem würde ein Poli­zist seine Blechmarke zeigen und seine Fragen stellen, ohne sich als Liebhaber der Lady auszugeben. Aber dann fiel mir ein, dass es noch jemanden gab, der von der Zeugin wusste, wenn Paresis Geschichte stimmte: der Mörder. Wenn er sich nach der Lady erkundigt hatte, konnte das nur bedeuten, dass er sie finden und aus dem Weg räu­men wollte, bevor sie zugunsten von Paresi aussagen konnte.

Ich wandte mich meinem Nachbarn zur Linken zu, der die ganze Zeit in sein Glas gestiert, aber offenbar zugehört hatte. Es handelte sich um einen etwa vierzig Jahre alten schlanken Mann mit einem Durchschnittsgesicht ohne besondere Merkmale, das man sich nur schwer einprägen konnte. Ein typischer kleiner Angestellter, zu un­scheinbar, um Karriere zu machen und zu unauffällig, um jemals ge­feuert zu werden.

»Was sagen Sie dazu, Mister?« Er hörte auf, den unbefriedigenden Pegel seines Whiskeyglases zu

fixieren und sah auf. »Nehmen Sie es leicht. Auf manche Frauen ist eben kein Verlass.«

»So schnell gebe ich nicht auf. Können Sie mir vielleicht weiterhel­fen?«

»Nein, tut mir leid, ich kenne Ihre Freundin nicht. Bis eben wusste ich nicht einmal, dass es Frauen gibt, die Saxophon spielen.«

»Dann haben Sie etwas verpasst, Freundchen. Achten Sie in Zu­kunft auf solche Ladies. Sie könnten Ihnen zu ganz neuen Erfahrungen verhelfen.«

»Danke, ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.«

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Das wunderte mich wenig. Wahrscheinlich war ein gelegentlicher Bourbon in einem illegalen Speakeasy schon das Abenteuerlichste im Leben von Mr. Durchschnittlich.

»Ich mache mir Sorgen um die Kleine«, log ich ihm vor. »Sie ist oft im Hafen unterwegs und könnte leicht in eine Schlägerei oder so­gar Schießerei hineingeraten. Apropos Schießerei. Was halten Sie denn von dem Mord an dem Importeur? War doch ganz in der Nähe.«

»Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um«, meinte mein Nach­bar gleichmütig.

»Kommt mir bekannt vor. Kaminski?« »Ich glaube, das ist von Lincoln. Oder von Jackson.« »Wirklich? Ich habe diese Burschen bisher immer nur mit Ziffern

in Verbindung gebracht.« Ich kam zum Thema zurück. »Was redet man sonst in Ihren Kreisen über die Schießerei? Ich hörte hinter vor­gehaltener Hand, dass es Zeugen gibt, die untergetaucht sind.«

»Ich weiß nur, dass Mister Paresi verhaftet wurde«, meinte Mr. Durchschnittlich. Dann überraschte er mich. »Aber er war es nicht.«

Ich versuchte, ihn aus der Reserve zu locken. »Spricht nicht alles gegen ihn?«

»Das mag ja sein, aber ich kenne Mister Paresi persönlich und traue ihm keinen Mord zu. Er ist ein Gentleman.«

»Sie sind mit ihm befreundet?« »So kann man das nicht sagen«, wiegelte Mr. Durchschnittlich ab.

»Wir haben beruflich miteinander zu tun. Ich arbeite für die Versiche­rung, bei der er seine Fracht versichern lässt.«

»Und der Ermordete?«, wollte ich wissen. »Ein unsympathischer Kerl.« »Auch bei Ihnen versichert?« »Ja.« Der Mann senkte die Stimme. »Ich kann das nicht beweisen,

aber Sharkey hat mehrmals Fracht weit über Wert versichern lassen, die dann abhanden gekommen ist. Leider wollen meine Vorgesetzten davon nichts hören. Aber was mich angeht, bin ich ziemlich sicher, dass Sharkey mit Gangstern zusammengearbeitet hat. Vielleicht hat er sich mit ihnen überwerfen. In diesem Umfeld sollte man nach dem Mörder suchen.«

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»Das ist ja hochinteressant. Erzählen Sie mir mehr darüber.« Offenbar erschrocken darüber, dass er einem Fremden gegenüber

geplaudert hatte, schüttelte Mr. Durchschnittlich den Kopf. »Ich muss jetzt gehen.«

»Ach kommen Sie. Wir trinken noch einen auf meine Rechnung.« »Meine Mittagspause ist gleich vorbei«, behauptete der Mann und

wir wussten beide, dass es eine Lüge war. Er trank seinen letzten Schluck Bourbon aus, legte Geld auf die Theke und stand auf. Dann sah ich nur noch seine Absätze.

Als Kaminski wieder auftauchte, fragte ich ihn, ob jemand im Raum war, der die Schießerei aus nächster Nähe miterlebt hatte. Der Bursche verneinte dies. Damit hatte ich gerechnet. Hier verkehrten Angestellte und die trieben sich nicht nachts im Hafen herum. Viel­leicht wäre ich in der Gewerkschaftskneipe eher fündig geworden, aber dort hatte ich keinen Zutritt.

Mir war von Anfang an klar gewesen, dass kaum Aussicht be­stand, einen Tatzeugen aufzutreiben, der mir mehr über die Lady mit dem Saxophon erzählen konnte. Allmählich gewann ich aber auch den Eindruck, dass diese Lady hier im Hafen wenig bekannt war. Vielleicht hatte der Zufall sie in jener bewussten Nacht hierher geführt. Aber ich lebe davon, jeden Stein umzudrehen und sei er auch noch so klein, um nachzuschauen, was sich darunter befindet.

Ich ließ mir von Kaminski das Telefon zeigen und nannte der Ver­mittlung eine Nummer. Ich hatte gleich den Richtigen an der Strippe.

»Police Department Chicago«, kam es aus dem Hörer. »Captain Hollyfield.«

»Pat Connor«, gab ich zurück und fiel dann gleich mit der Tür ins Haus. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Captain.«

»Etwas anderes hätte ich von Ihnen auch kaum erwartet, Con­nor«, erwiderte der Captain brummig. »Worum geht es?«

Ich hatte mir vorher überlegt, ob es im Sinne meines Auftragge­bers war, wenn ich der Polizei gegenüber die Katze aus dem Sack ließ. Wohl eher nicht. Aber ich vertraute darauf, dass Hollyfield die Sache nicht herumposaunen würde.

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»Ich habe einen Auftrag, der mit dem Mordfall Sharkey zusam­menhängt«, sagte ich vorsichtig.

Der Captain lachte trocken. »Erzählen Sie mir bloß nicht, dass Sie eine Frau mit Saxophonkoffer suchen sollen.«

Ich war platt. »Wie kommen Sie denn auf so was, Captain?« »Weil dieser McMurphy, der Paresi verteidigt, uns dauernd damit

in den Ohren liegt. Mehr oder weniger fordert er, dass die gesamte Polizei von Chicago alle andere Arbeit einstellt und die Stadt nach der Frau durchkämmt. Jedenfalls hat er lauthals angekündigt, dass er ei­nen Privatdetektiv beauftragen wird, wenn die Polizei seinen Wün­schen nicht nachkommt. Was für eine Drohung! Sind Sie der biblische Racheengel, den er auf uns losgelassen hat, Connor?«

Es hatte wohl wenig Sinn, die Sache zu leugnen. »Sagen wir mal, es könnte in etwa in die Richtung gehen«, lavier­

te ich herum. »Vergessen Sie es, Connor!«, schnauzte Hollyfield. »Diese Frau

gibt es nicht. Alles frei erfunden. Ich habe selten eine so blöde Ge­schichte gehört. Wenn Sie schlau sind, bleiben Sie in Ihrem Büro, dre­hen Däumchen und kassieren Ihr Honorar. Alles andere kostet Sie nur abgelatschte Schuhsohlen und den einen oder anderen Kinnhaken.«

Ich bin ja nicht pingelig, aber solche Ratschläge gehen mir gegen die Berufsehre. »Hören Sie, Captain«, sagte ich leicht angesäuert. »Wenn Ihnen jemand eine unglaubwürdige Geschichte über einen Mord erzählt, dann gehen Sie der Sache doch auch nach, oder? Egal was Sie davon halten. Wenn mir jemand ein Honorar bezahlt, dann versuche ich, mir dieses Geld auch wirklich zu verdienen.«

»Schon gut, schon gut«, lenkte Hollyfield ein. »Irgendwie ist das ja wohl auch einer der Gründe, weshalb ich Sie ganz gut leiden kann, Connor. Tun Sie, was Sie tun müssen. Aber erwarten Sie nicht, dass ich bei diesem Firlefanz mitmache.«

»Denken Sie darüber, was Sie wollen, Captain. Aber ich habe in­zwischen herausgefunden, dass außer mir noch jemand nach der Lady sucht. Es könnte der wirkliche Mörder sein.«

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»Haltlose Vermutungen«, sagte Hollyfield verächtlich. Dann seufz­te er. »Ich bin einfach zu gutmütig für diesen Job. Also, was wollen Sie?«

»Ich bin in der Nähe des Tatorts und schaue mich um. Ich würde mir gern einmal Sharkeys Büro ansehen.«

»Das ist versiegelt.« »Das dachte ich mir. Deshalb rufe ich ja an.« Hollyfield schwieg eine Weile und ich hörte nur sein lautes Atmen.

»Na schön«, sagte er schließlich. »Lassen Sie uns einen Deal machen: Ich lasse Sie in das Büro und Sie halten mich über den Stand Ihrer Ermittlungen auf dem Laufenden.«

»Das ist ein Wort, Captain.« »Ich schicke Ihnen Lieutenant Quirrer. Er dürfte in einer Viertel­

stunde bei der Spedition eintreffen.« Bevor ich protestieren konnte, hatte er eingehängt. Ausgerechnet Quirrer, mein Lieblingspolizist! So viel Bourbon

konnte ich gar nicht schlucken, um diesen vernagelten Kerl zu ertra­gen. Ich fluchte leise vor mich hin.

Dann kehrte ich zur Theke zurück und zahlte für die Whiskeys, das Telefongespräch und den Hamburger, der immer noch auf dem Tisch lag. Ich hatte den Verdacht, dass der Fleischklops nach meinem Ab­gang wieder zu seinen Brüdern in die Pfanne hüpfen würde.

Dann steckte ich die Zigaretten ein, schnappte mir meinen Hut und verließ die Hinterstube von Fred's Rizz. Mein Anzug stank nach dem ranzigen Fett aus Freds Küche.

*

Ich hatte mir von Kaminski erklären lassen, wie ich zum Tatort gelang­te. Er lag nur einen Katzensprung von hier entfernt. Ich passierte ein halbes Dutzend Lastwagen, die vor einem Eiswerk eine Schlange bilde­ten und einer nach dem anderen an den Zinkrutschen der Abfüllluken bedient wurden. Dahinter erstreckten sich weitere Schuppen und Glei­se, die meistens direkt zu den Laderampen führten. Eine Rangierlok

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setzte sich gerade in Bewegung, stieß dicke schwarze Qualmwolken in den Himmel und schob eine Anzahl Waggons vor sich her.

Vor mir lag der Shipping District, der aus vier jeweils gut zweihun­dert Meterlangen, einstöckigen Klinkerblocks bestand. Jeder der Blocks war in dreißig Segmente aufgeteilt, die aus jeweils einem Lagerraum im Erdgeschoss und Büroräumen im ersten Stock bestanden. Hier hat­ten sich vor allem Speditionen und Stauereien angesiedelt.

Es herrschte emsiger Betrieb. Dutzende von großen und kleinen Trucks wurden an den Rampen der Lagerräume be- oder entladen. Ich nutzte die Gelegenheit, mit den Arbeitern ins Gespräch zu kommen und fragte nach der Schießerei und der Lady mit dem Saxophonkoffer. Niemand konnte oder wollte mir auf die Sprünge helfen. Wenn man von dem Witzbold absah, der behauptete, alles persönlich und aus nächster Nähe mit angesehen zu haben: Erst sei Il Cardinale Rigobello, der Boss der italienischen Gangster, höchstpersönlich aus seinem ge­panzerten Cadillac gestiegen und habe Paresi ein paar Handgranaten übergeben. Dann seien die beiden allerdings getürmt, als die Lady mit dem Saxophonkoffer auftauchte. Die habe eine Tommy-Gun aus dem Koffer geholt, auf den Cadillac geschossen und sei dann mit einem am Kai liegenden U-Boot abgetaucht.

Ich riet dem Kerl, seine Story zu Papier zu bringen und einem der Pulpmagazine zum Abdruck anzubieten. Als er mir schließlich noch anvertraute, Rigobello habe Hörner, die sogar aus dem Hut ragten und sei in Wahrheit Luzifer und die Lady ein verkleideter Erzengel Gabriel, reichte es mir und ich empfahl ihm, sich dem Onkel Doktor anzuver­trauen.

In mir reifte die Erkenntnis, dass ich meine Lady mit anderen Mit­teln aufspüren musste. Aber natürlich wartete ich vor Sharkeys Firma geduldig auf das Erscheinen von Lieutenant Quirrer und reduzierte dabei meinen Vorrat an Zigaretten. Was ich mir von der Besichtigung des Büros versprach, wusste ich selbst nicht so genau. Einen Zettel mit der Anschrift der Lady jedenfalls nicht. Da hielt ich es sogar für wahr­scheinlicher, das Flammenschwert des Erzengels Gabriel vorzufinden.

Quirrer ließ sich Zeit. Etwas anderes hatte ich von ihm auch gar nicht erwartet. Nach einer Dreiviertelstunde tauchte endlich mit ge­

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mächlicher Fahrt ein Polizeiwagen auf und hielt vor der Firma. Es dau­erte noch einmal zwei oder drei Minuten, bevor der strohblonde Kerl sich endlich bequemte auszusteigen und sich mir mit saurer Miene näherte.

»Sie sind eine verdammte Schmeißfliege, Connor«, begrüßte er mich mit seinem hinreißenden Charme.

»Wenn Sie damit andeuten wollen, dass Sie etwas sind, worauf sich Schmeißfliegen gerne niederlassen, habe ich nichts dagegen ein­zuwenden.«

Während er noch darüber grübelte, ob dies eventuell beleidigend gemeint sein könnte, ergriff ich die Initiative. »Es dürfte in unser bei-der Interesse sein, die Sache schnell und unkompliziert abzuhaken, oder? Schließen Sie auf und geben Sie mir fünf Minuten. Dann können Sie wieder heim ins Blechmarken-Hauptquartier fahren und sich im Büro die Ärmelschoner überziehen.«

»So einfach, wie sich ein billiger Privatdetektiv das vorstellt, geht es nicht«, blaffte Quirrer. »Ich muss ein staatliches Siegel aufbrechen und die Tür anschließend neu versiegeln. Und obendrein darf ich spä­ter über den Vorgang ein Protokoll schreiben!«

»Sie Ärmster«, bedauerte ich ihn. »Wenn wir nicht die Prohibition hätten und Alkohol streng verboten wäre - woran ich mich natürlich strikt halte -, würde ich Ihnen einen Whiskey für die Mühe spendieren. So kann ich Ihnen nur Gottes Lohn anbieten. Möge der Erzengel Gab­riel Sie schützen.«

»Ha?«, machte der Lieutenant. »Sind Sie jetzt völlig durchge­knallt? Um ehrlich zu sein, den Verdacht hatte ich schon immer.«

»Ja, nehmen Sie sich vor mir in Acht«, riet ich ihm und bleckte die Zähne. »Leute wie ich sind unberechenbar.«

Mit subtilem Humor weiß Quirrer nichts anzufangen. Er musterte mich misstrauisch und kam wohl zu dem Eindruck, dass es wirklich klug war, mich möglichst schnell wieder abzuschütteln. Ohne weitere Mätzchen zog er einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, sperrte die Haustür auf, führte mich einen Flur entlang und brach dann mit offen­sichtlichem Widerwillen das Siegel an der Bürotür auf.

»Nichts anfassen!«, befahl er.

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Ich trat ein. Quirrer folgte mir auf Tuchfühlung. Ich sah mich um. Mitten im Raum stand ein wuchtiger Schreibtisch aus Ebenholz, dahin­ter ein mit einem Sitzkissen gepolsterter Bürostuhl mit breiten Armleh­nen. Auf dem Schreibtisch gab es ein unordentliches Durcheinander von Notizzetteln, Geschäftsbüchern und Aktenordnern. Über dem Schreibtisch hing ein Ölgemälde, das einen Passagierdampfer mit drei Schornsteinen abbildete.

Dies hätte ein ganz normales Büro sein können, das sich nur in Nuancen von Dutzenden anderer Büros in diesem Gebäudekomplex unterschied. Das Einzige, was aus dem Rahmen fiel, war der langflori­ge dunkelblaue Teppich vor dem Schreibtisch, auf dem mit Kreide die Umrisse einer menschlichen Gestalt wiedergegeben waren. An einigen Stellen war der Langflor rostrot verfärbt und verklebt.

Quirrer leistete seinen ersten sachlichen Beitrag, indem er auf die Kreidezeichnung deutete und anmerkte: »Sharkey stand vor seinem Schreibtisch, als Paresi hereinstürmte und sofort schoss. Ergab drei Schüsse ab und einer davon traf das Herz.«

»Waren Sie dabei, Lieutenant?«, fragte ich interessiert, während ich die Kreidezeichnung umrundete und an den Schreibtisch trat.

Quirrer sah mich irritiert an. »Natürlich nicht, Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind, Connor. Als ehemaliger Polizist wissen Sie sehr gut, dass ich mich auf die Befunde des Gerichtsmediziners beziehe.«

»Ach ja?«, staunte ich. »Die Gerichtsmedizin muss seit meinem Weggang enorme Fortschritte gemacht haben. Zu meiner Zeit war es ihr noch nicht möglich, das Gedächtnis eines Toten zu untersuchen und damit den Täter zu identifizieren.«

»Sie sind genauso ein verdammter Wortverdreher wie Ihr Auftrag­geber McMurphy«, giftete Quirrer mich an. »Unser Land kann sich wahrhaft glücklich schätzen, dass Subjekte wie Sie aus dem Polizei­dienst entfernt wurden.«

Dieser Stachel sitzt immer noch tief bei mir, aber ich hatte mich weit genug unter Kontrolle, um Quirrer dafür nicht an die Gurgel zu gehen. Stattdessen sagte ich mit einem zugegebenermaßen etwas mühsamen Lächeln: »Haben Sie eben nicht etwas vergessen, Lieute­nant?«

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»Wie? Was meinen Sie?« Ich ließ meinen Blick über das Durchein­ander auf dem Schreibtisch wandern. Ich entdeckte ein kleines, in Kalbsleder gebundenes Notizbuch, das interessant aussah.

»Dass es ein noch viel größerer Glücksfall für unser Land ist, dass statt meiner so tüchtige Polizisten wie Sie uns vor den bösen Verbre­chern beschützen.«

Quirrer schnappte nach Luft. Irgendwie begriff er wohl, dass diese Aussage nicht aus vollem Herzen gekommen war. Aber er hatte Prob­leme damit, ihr zu widersprechen, da sie schließlich voll und ganz sei­ner eigenen Einschätzung entsprach. Schließlich murmelte er etwas, das wie eine Verwünschung klang und wandte sich ab.

Ich nutzte meine Chance und ließ das Notizbuch in meine Anzug­tasche wandern.

»Tja, Lieutenant«, sagte ich schließlich und bewegte mich in Rich­tung Tür. »Ich habe gesehen, was ich sehen wollte und getan, was ich meinem Klienten zuliebe tun musste. Vielen Dank für Ihr freundliches Entgegenkommen.«

Ich tippte mir an den Hut und ließ den verblüfften Lieutenant ste­hen. Mochte er seines Amtes walten und den Siegellack anwärmen. Ich hatte nicht die Absicht, ihm dabei zuzusehen.

*

Vor der Tür zündete ich mir erst einmal eine Lucky an und kehrte dann zu meinem Wagen zurück. Ich setzte mich hinter das Lenkrad und zog Sharkeys Notizbuch aus der Tasche. Die Idee, es an mich zu nehmen, war mir spontan gekommen. Ich wusste, dass ich mich damit auf dün­nes Eis begeben hatte. Man nannte so etwas Unterschlagung von Be­weisstücken. Mir war klar, dass ich Hollyfield die Sache nicht beichten durfte. Ich würde einen Weg finden müssen, es entweder an Ort und Stelle zurückzulegen oder Sharkeys Erben zukommen zu lassen. Da das Büchlein seit einer Woche unbeachtet auf dem Schreibtisch des Toten gelegen hatte, war zumindest anzunehmen, dass ihm in dem bevorstehenden Prozess gegen Paresi keine Rolle zugedacht war. Ich erinnerte mich an McMurphys Vorwurf, dass sein Mandant für die Jus­

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tiz längst als Täter feststand und Entlastungsmaterial unwillkommen war.

Ich blätterte in dem Buch und war dem Toten für seine gut leserli­che Handschrift dankbar.

Nur ein knappes Fünftel der Seiten enthielt Text. Entgegen mei­nen Erwartungen hatte das Buch nicht als Terminkalender gedient, sondern war wohl nur gelegentlich benutzt worden, um Ideen zu no­tieren oder Beobachtungen, Vermutungen und Einschätzungen festzu­halten. Das meiste hatte mit dem Im- und Export von Waren zu tun und ich konnte keinen Hinweis entdecken, dass Sharkey dabei unge­setzlichen Aktivitäten nachgegangen war. Ich fühlte mich wie ein Lei­chenfledderer, als ich sehrprivate Eintragungen las, die Sharkeys Frau, seine Kinder und offenbar eine heimliche Geliebte betrafen. Aber plötz­lich sprang mir ein vertrauter Name entgegen.

Paresi. Wortwörtlich stand da: Paresi das Geschäft vorschlagen, auch

wenn es mir gegen den Strich geht. Und etliche Eintragungen weiter hieß es: Als Geschäftspartner

verhält sich P. völlig korrekt. Aber Kooperation auf Einzelfälle begren­zen, sonst wird er mir zu fett.

Das haute mich von den Brettern. McMurphy hatte behauptet, Pa­resi und Sharkey seien Konkurrenten und Erzfeinde gewesen. Offenbar wusste er nicht, dass sie auch zusammengearbeitet hatten. Hatte ihm Paresi nichts davon erzählt? Eine wenn auch heimliche Zusammenar­beit war doch etwas, das zu seiner Entlastung beitragen konnte.

Ich überflog den Rest der Eintragungen, entdeckte aber nichts mehr, was von Belang war. Dann startete ich den Motor und fuhr Rich­tung North-Side. Ich wollte mir bei Dunky den Nachgeschmack hi­nunterspülen, den Quirrer bei mir hinterlassen hatte, McMurphy an­rufen und endlich der Lady mit dem Saxophonkoffer auf die Spur kom­men.

*

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»Einen Anti-Quirrer-Spezial«, bestellte ich, als Dunky mich erwar­tungsvoll ansah.

Damit konnte der mürrische Wirt meiner Stammkneipe wenig an­fangen, aber er verfügte über den siebten Sinn aller erfahrenen Wirte und schenkte mir einen doppelten Bourbon ein. Damit machte er kei­nen Fehler. Ich hatte nicht mehr und nicht weniger erwartet.

Ich trank einen guten Schluck, machte eine Lucky einsatzbereit und sah Dunky beim Polieren der Gläser zu. Außer drei Zechern, die an einem der hinteren Tische saßen und sich mit schweren Zungen über kommunistische Umtriebe in den Gewerkschaften unterhielten, war ich der einzige Gast.

»Hörst du eigentlich gern Musik, Dunky?«, fragte ich den dicken Glatzkopf und fügte gleich hinzu: »Sag jetzt nicht, du kannst das Radio ein- und ausschalten. Die Antwort musste ich mir schon von meiner Sekretärin anhören.«

Dunky ließ sich mit der ersten Antwort wie immer reichlich Zeit. Er ist ein alter Gesprächsmuffel und ich glaube, er muss sich jedes Mal erst selbst davon überzeugen, dass es nötig ist, auch die Funktionen einer Zunge ab und an zu nutzen.

»Selten«, meinte er schließlich. Ich fand die Antwort nicht sonderlich aufschlussreich. »Aber du

kennst Musiker?« »Ein paar.« »Musiker, die Tanz- oder Jazzmusik machen?« »Auch.« »Saxophonspieler?« »Einen.« Ich belohnte mich für meine Geduld erst mal mit einem Schluck

Whiskey und zog an der Zigarette. »Saxophonspielerinnen?«, fragte ich hoffnungsvoll. Diesmal kam die Antwort prompt. »Nein.« »Musiklehrerinnen, die das Saxophonspielen unterrichten?« »Nein.« Ich trank mein Glas leer und ließ es von Dunky auffüllen.

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»Das mit dem Saxophonspieler ist schon mal ein guter Ansatz, Dunky. Meinst du, der weiß auch über Saxophonspielerinnen Be­scheid?«

»Möglich.« »Und über Musiklehrerinnen?« »Möglich.« Ich wusste, dass sich bei Dunky die Möglichkeiten meistens mit

dem Bild eines Präsidenten vergrößern ließen und kramte einen Lin­coln aus der Tasche.

Dunkys Hand schnellte vor und Lincoln besah sich das Innere ei­ner Schürzentasche.

»Er heißt Milton Gabkin und wohnt...« Dunky zog einen Stapel Zettel unter der Theke hervor und sah sie durch. Er brauchte eine Wei­le, um fündig zu werden. »... West Lake, 123«, beendete er schließlich seinen Satz. »Wenn du ihn sprechen willst, dann gegen Abend. Nachts spielt er in einem Club und er steht selten vor drei Uhr nachmittags auf.«

Ich prägte mir die Adresse ein. Da Präsident Lincoln den guten al-ten Dunky gesprächig gemacht hatte, nutzte ich die Gunst der Stunde für Smalltalk. »Was fällt dir zu einer jungen Frau ein, die spät abends im Hafen mit einem Saxophonkoffer unterwegs ist?«

»Hmm«, machte Dunky. »Es gibt am Hafenrand ein paar Musik­kneipen. Vielleicht tritt sie dort auf.«

Ich schüttelte den Kopf. »Daran habe ich schon gedacht. Aber das sind drittklassige Läden, die sich bestimmt keine Damenkapelle leisten können.« Ich nahm einen Schluck Bourbon. »Und denk an Milton Gab­kin. Ein Musiker tritt abends auf und rennt dann nicht durch die Ge­gend.«

»Auch wahr.« Dunky überlegte. »Vielleicht ist in dem Koffer kein Saxophon, sondern Whiskey. Nachschub für eine Kneipe, deren Vorrä­te zur Neige gehen.«

»Habe ich erwähnt, dass die Frau ziemlich bieder aussieht, eine Brille und einen Dutt trägt?«

»Nein, aber das hat nichts zu sagen. Im Gegenteil. Sie versucht bieder auszusehen, um nicht aufzufallen.«

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Ich glaubte nicht, dass meine Lady Alkohol in ihrem Koffer trans­portierte, aber Dunkys Bemerkung gab mir zu denken. Hatte die Lady etwas zu verbergen? War ihre Aufmachung eine Art Maskerade?

Ein neuer Liebhaber geistiger Getränke erschien und Dunky wand­te sich ihm zu. Mir fiel ein, dass ich McMurphy anrufen wollte und ich schlenderte mit dem Glas in der Hand zum Telefon. Die Vermittlung verband mich mit dem Büro des Anwalts.

*

»Anwaltsbüro William P. McMurphy«, meldete sich eine weibliche Stimme, die ziemlich weinerlich klang.

»Pat Connor. Geben Sie mir Ihren Chef.« »Mister McMurphy ist in einer Besprechung«, versuchte die Büro­

maus mich abzuwimmeln. »Sie meinen, er macht ein Nickerchen? Wecken Sie ihn auf,

Schätzchen.« »Ich weiß nicht, ob...«, schniefte die Sekretärin. »Was ist los mit Ihnen? Hat er Sie geschlagen?« »Ich verstehe nicht.« »Sie klingen so traurig.« »Ich bin nur erkältet.« »Nehmen Sie ein Aspirin. Und nun möchte ich endlich mit Will

sprechen.« Die Büromaus sagte nichts mehr, aber wenig später meldete sich

der Anwalt. »Hallo Pat«, meinte er aufgeräumt. »Hast du sie etwa schon ge­

funden?« »Aber klar doch. Ich hab' sie draußen auf dem Michigansee in ei­

nem U-Boot erwischt. Sie knutschte gerade die Kommandantin ab. Wusstest du, dass sie in Wahrheit der Erzengel Gabriel ist?«

McMurphy schluckte vernehmlich. »Wie viele Whiskeys hast du heute schon getrunken, Pat?«

»Ein paar zu wenig, um wirklich fröhlich zu sein.« Ich kam zur Sa­che. »Bist du sicher, dass du mir alles über das Verhältnis zwischen

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Paresi und Sharkey erzählt hast? Ist dir bekannt, dass die Erzfeinde insgeheim geschäftlich zusammengearbeitet haben?«

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte McMurphy. »Ich sagte dir doch, Mister Paresi ist ein aufrichtiger Mann. Er hat mir auch davon erzählt.«

»Warum wusste ich davon nichts?« »Entschuldigung, Pat, Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung,

dass es wichtig sein könnte.« »Alles ist wichtig, was mit dem Mordfall zu tun hat.« »Aber du sollst doch nur die Zeugin ausfindig machen, Pat.« Damit hatte er irgendwie Recht, aber das gestand ich ihm nicht

ein. »Auch scheinbar belanglose Randinformationen können mir dabei helfen. Das muss ich dir als Anwalt doch wohl nicht erzählen, oder? Greifst du die geschäftliche Verbindung zwischen den beiden auf, um Paresi zu entlasten?«

»Das würde ich normalerweise natürlich tun«, meinte McMurphy. »Aber mein Mandant hat es mir verboten.«

»Warum das denn?« »Im Gegensatz zu ihm war Sharkey nebenher auch in unsaubere

Geschäfte verwickelt. Mein Mandant fürchtet um seinen guten Ruf, wenn herauskommt, dass er mit dem Ermordeten zusammengearbei­tet hat - übrigens nur bei absolut legalen Geschäften, was anhand von mir vorliegenden Unterlagen bewiesen werden kann.«

Ich lachte rau. »Ein Mann, dem die Todeszelle droht, macht sich Sorgen um seinen guten Ruf?«

»So sind die Italiener nun mal«, seufzte McMurphy. »Die Ehre ist ihnen wichtiger als das Leben. Im Übrigen geht mein Mandant davon aus, dass die Entlastungszeugin gefunden wird und zweifelt nicht an seinem Freispruch.«

Ich war lange genug mit meinem früheren Partner Joe Bonadore zusammen gewesen, um die merkwürdige Einstellung der Giovannis ein wenig kennen gelernt zu haben. Schein war bei ihnen oft mehr als Sein und selbst der übelste Gangster berief sich auf seine Art von Eh­re. Joe hätte diesen Paresi wahrscheinlich gut verstanden. Ich verstand ihn nicht.

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Ich versprach McMurphy, ihn auf dem Laufenden zu halten und hängte ein. Von dem Unbekannten, der wie ich nach der Lady mit dem Saxophonkoffer suchte, hatte ich ihm nichts erzählt. Wozu auch? Ich halte nichts davon, unfertige Informationen weiterzugeben.

Nachdem ich den letzten Schluck Whiskey getrunken hatte, zahlte ich und verließ das Speakeasy.

In Gedanken versunken ging ich zu meinem Plymouth. Ich war unzufrieden damit, dass meine Ermittlungen bisher nur Dinge ergeben hatten, die meinem Klienten bereits bekannt waren: die Zusammenar­beit zwischen Paresi und Sharkey auf der einen Seite und die bestätig­te Vermutung von Mr. Durchschnittlich, dass Sharkey in trüben Gewäs­sern fischte, auf der anderen. Es wurde Zeit, dass ich mich ernsthafter an die Erfolgsprämie von fünf Franklins heranarbeitete. Ich hoffte, dass Milton Gabkin mich auf Erfolgskurs bringen würde. Und wenn nicht er, dann ein anderer Saxophonist.

Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber von meinem Wa­gen, parkte ein Dodge. Die Sonne spiegelte sich in den Scheiben, nicht jedoch in der auf der Fahrerseite. Offenbar war sie heruntergekurbelt worden. Mir wäre das trotz der Frühlingssonne zu kalt gewesen, denn von den Seen wehte ein frischer Wind herüber und bestätigte Chicagos Ruf als Windy City. Ich erkannte die Silhouette eines Mannes, der hin­ter dem Lenkrad saß. Und ich hörte, dass der Motor des Dodge lief.

*

Dies alles nahm ich unterschwellig zur Kenntnis, etwa so, wie ich an einer Hauswand das riesige Plakat wahrnahm, das für den sensationel­len ersten Tonfilm warb, der im Imperial angelaufen war, oder die Ge­sichter der Passanten, die mir begegneten.

Ich mag noch so abgelenkt oder in Gedanken sein - es gibt ein paar Dinge, die mich schlagartig in die Wirklichkeit katapultieren und gewisse Reflexe aktivieren. Dazu gehört ein in der Sonne blinkender Lauf eines Revolvers, dessen Mündung in meine Richtung schwenkt.

Der Lauf der Waffe zeigte aus dem Dodge, dort wo der Typ am Steuer saß und die Scheibe herabgekurbelt war. Ich war noch knapp

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zwei Meter von meinem Wagen entfernt und bot ein gutes Ziel. Ich hechtete nach vorn, hin zum Motorblock meines Wagens, doch als ich das Mündungsfeuer sah, wusste ich, dass ich es nicht schaffen konnte.

Ich landete auf dem Pflaster des Gehwegs und rollte mich ab. Ich hatte keinen Einschuss in meinem Körper gespürt. Während ich mich geduckt aufrichtete, sah ich verblüfft an mir herab. Nichts. Der Kerl im Dodge hatte mich wahrhaftig verfehlt! Ich hatte nichts weiter als et­was Straßendreck an meinem Anzug davongetragen und meinen Hut verloren.

Auf der anderen Straßenseite heulte der Motor des Dodge auf und die Karre setzte sich mit quietschenden Reifen in Bewegung.

Mehrere Passanten auf meiner Straßenseite hatten das Ganze mit­bekommen. Zwei von ihnen standen stocksteif da, die anderen rannten schreiend und gestikulierend davon. Ich bückte mich nach meinem Hut, schwang mich hinter das Lenkrad meines Wagens und startete den Motor. Laut hupend erzwang ich mir Zugang in den fließenden Verkehr und nahm die Verfolgung auf. Das zornige Hupen der hinter mir fahrenden Autos, deren Fahrer in die Bremsen hatten steigen müs­sen, ignorierte ich.

Der Dodge hatte einen Vorsprung von gut hundert Metern, war aber zwischen einem Bus und einem Truck eingeklemmt. Der Fahrer des Dodge versuchte immer wieder auszuscheren, aber der lückenlose Gegenverkehr ließ ihm keine Chance, den Bus zu überholen. Mir ging es allerdings auch nicht viel besser. Um den Dodge zu erreichen, musste ich drei Limousinen und den erwähnten Truck passieren - eine Aufgabe, die am frühen Nachmittag auf der North Clark kaum zu lösen war.

Wir bewegten uns nach Süden auf die West Chicago zu und hat­ten die West Oak bereits passiert. Links kam der Washington Square in Sicht. Als auf der Gegenfahrbahn ein Bus eine Haltestelle ansteuerte, gelang es mir, mit Vollgas den vor mir fahrenden Ford und einen ural­ten Plymouth zu überholen, was mir erneut empörtes Hupen einbrach­te. Der Fahrer des vor mir fahrenden Packard hatte mein Manöver im Rückspiegel verfolgt und machte deutlich, dass mit ihm so etwas nicht

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zu machen war. Er lenkte seinen Wagen so weit nach links, wie es der Gegenverkehr zuließ und gab sofort Gas, wenn ich zu weit aufschloss.

Ich fluchte vor mich hin, obwohl mein eigentliches Problem nicht der Packard, sondern der wuchtige Lieferwagen von Kerman's war, der mir obendrein die Sicht auf den Dodge versperrte. Dass er überhaupt noch da war, konnte ich nur feststellen, wenn er nach links ausscher­te, um Möglichkeiten auszuspähen, den Bus zu überholen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Ich fischte mir eine Lucky aus der Packung und paffte hektisch. Meine Gedanken fuhren Karussell. Wer war der verdammte Kerl, der auf mich geschossen hat­te? Ich musste ihn unbedingt erwischen und ausquetschen. An den Zufall, dass jemand mich ins Jenseits befördern wollte, der noch eine alte Rechnung mit mir zu begleichen hatte, mochte ich nicht glauben. Der Anschlag musste mit meinem neuen Auftrag zu tun haben. Mir fiel der Kerl ein, der nach der Lady gefragt hatte. Wenn es Sharkeys Mör­der war, hatte er ein Interesse daran, mich mit allen Mitteln daran zu hindern, die Zeugin zu finden, die Paresis Unschuld bezeugen und ihn selbst ans Messer liefern konnte. Aber der Knilch musste verdammt gewieft sein, wenn er mich schon so weit ausspioniert hatte, dass er meinen Wagen und meine Stammkneipe kannte. Aber zum Glück war der Kerl ein lausiger Schütze. Wahrscheinlich gelangen ihm nur Tref­fer, wenn das Opfer so dicht vor ihm stand, wie das bei Sharkey der Fall gewesen war.

Der Fahrer des Packards hatte sich darauf verlegt, provozierend langsam und in Schlangenlinien zu fahren. Wahrscheinlich hatte er eine erzieherische Ader in sich entdeckt. Wenn er so weitermachte, würde bald die Polizei auftauchen, um erst ihn und dann mich aus dem Verkehr zu ziehen. Hinter mir hörte ich bereits eine Polizeisirene, aber das Geräusch entfernte sich. Wahrscheinlich war es ein Einsatzwagen, der zum Ort des Anschlags unterwegs war. Ich ging davon aus, dass einige der Passanten mich und meinen Wagen ausreichend gut be­schreiben würden. Mir war klar, dass ich irgendetwas tun musste, wenn ich nicht auf dem Polizeirevier landen und endlose Fragen über die Hintergründe des Anschlags beantworten wollte.

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Ich bremste und brachte meinen Wagen mitten auf der Fahrbahn zum Stehen. Der Verkehr hinter mir kam zum Stillstand. Ich erntete ein Hupkonzert. Das kümmerte mich wenig. Ich schaute nach vorn und achtete darauf, was der Packard machte. Der Fahrer schien über­rascht zu sein. Dann fuhr er seinen Wagen an den Straßenrand und stieg aus. Es war ein großer, breitschultriger Mann mit schwieligen Händen, die offensichtlich das Zupacken gewohnt waren. Mit seinem schwarzen Anzug und seinem schwarzen Hut sah er wie ein Bestat­tungsunternehmer aus, der die Toten höchstpersönlich einkuhlte. Er schien darauf zu warten, dass ich ebenfalls ausstieg. Ich zweifelte da­ran, dass er mir nur die Leviten lesen wollte. Wahrscheinlicher schien es mir, dass er meine Qualitäten als Preisboxer prüfen wollte. Auf die­se Prüfung legte ich keinen Wert.

Im Rückspiegel sah ich einen weiteren Schrank dieser Güteklasse auf ausgeprägten Säbelbeinen heranwanken. Wahrscheinlich handelte es sich um den Fahrer eines der Wagen, die ich am Weiterfahren hin­derte. Ich habe kein Glaskinn und kann meine kurze Rechte wirkungs­voll ins Ziel bringen, aber für die beiden Schränke wäre ich wohl nur ein Punchingball mit Hut gewesen.

Ich kurbelte die Scheibe ein Stück herunter und rief Mr. Säbelbein zu: »Tut mir Leid, Sportsfreund, der Arzt hat mir verboten, mit leerem Magen zu boxen. Ich komme zurück, sobald ich ein Steak gegessen habe. Du kannst schon mal mit dem Kollegen da vorn üben.«

Dann trat ich das Gaspedal durch. Der Fahrer des Packard machte einen Moment lang Anstalten, mir vor den Wagen zu springen, aber dann besann er sich eines Besseren. Als ich seine Limousine passierte, machte er nur noch ein wütendes Gesicht und zeigte mir die Faust.

Ich hatte eine Glückssträhne, denn der Lieferwagen von Kerman's bog gerade rechts in die West Chestnut ab. Doch dann endete die Glückssträhne abrupt. Vor mir fuhr der Bus, der an einer Haltestelle Station gemacht hatte, auf die Mitte der Fahrbahn zurück. Vom Dodge war weit und breit nichts zu sehen. Ich ging davon aus, dass er vor dem Truck in die West Chestnut abgebogen war. Mir war klar, dass ich ihn damit verloren hatte.

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Niederlagen werfen mich nicht um. Aber ich muss zugeben, dass ich verärgert war. Nachdem ich mir eine neue Zigarette angezündet hatte, beruhigte ich mich wieder. Ich wollte etwas von dem Knilch, das war richtig. Aber offensichtlich wollte der Knilch auch etwas von mir, nämlich mein Leben. Also würde ich ihn gewiss bald wieder sehen, auch ohne mein Zutun.

Wie die Dinge sich entwickelt hatten, schien es mir keine schlech­te Idee zu sein, meinen 38er aus dem Büro zu holen.

*

Im Büro hielt ich mich nicht lange auf, was dadurch gefördert wurde, dass Betty bereits Feierabend gemacht hatte. Ich hatte Zeit verloren, aber das änderte nichts an meinem Bärenhunger. Deshalb gönnte ich mir bei Henry's ein flinkes Steak und einen nicht minder flinken hoch­prozentigen Kaffee, bevor ich zur West Lake fuhr.

Die Gegend, in der Milton Gabkin wohnte, gehörte zu den Ecken von Chicago, die sich im Umbruch befanden. Ursprünglich eher ein Viertel, in dem kleine Leute wohnten, wurden viele der alten, meistens zwei- oder dreistöckigen Häuser abgerissen und durch Neubauten mit fünf, sechs oder mehr Stockwerken ersetzt. Die höheren Mieten konn­ten nur einigermaßen gut verdienende Angestellte aufbringen, wäh­rend die Arbeiter auf die West-Side auswichen.

Gabkin wohnte noch in einem der alten Backsteinblocks. Alles an­dere hätte mich auch gewundert. Ein Saxophonist musste wahrschein­lich froh sein, überhaupt einen Job zu haben. Und man würde ihn be­stimmt nicht besser als einen Arbeiter bezahlen.

Ich parkte meinen Wagen gegenüber der Nummer 123, zündete mir eine Zigarette an und stiefelte los. Die Fassade war schmucklos, doch die schwere, massive Haustür hatte erst kürzlich einen neuen, rostroten Anstrich erhalten. Ich zweifelte nicht daran, dass auch dieses Haus in nächster Zeit die Abrissbirne zu spüren bekommen würde, aber es machte keinen verwahrlosten Eindruck. Im Treppenhaus roch es sogar nach Bohnerwachs.

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Gabkin wohnte im zweiten Stock. Ich klingelte an der Tür und wartete.

Nichts rührte sich. Ich versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Fünf Uhr. Zu früh, als dass

Gabkin schon mit seiner Tröte unterwegs war. Und zu spät, als dass er noch im Bett liegen könnte. Aber vielleicht hatte er etwas zu besor­gen?

Die Wohnungstür auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich einen Spalt. Eine Lady steckte den Kopf heraus. Sie mochte Anfang dreißig sein und sah ganz appetitlich aus. Ich bemerkte eine tief aus­geschnittene weiße Leinenbluse und stellte fest, dass sie allen Grund hatte, ihr Sortiment nicht zu verstecken.

»Milton ist nicht zu Hause«, teilte sie mir mit. Sie besaß eine an­genehme Altstimme, die fast ein bisschen rauchig klang.

»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«, fragte ich. Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich nehme an, er studiert

mit seiner Band neue Nummern ein, bevor er im Club auftritt.« Sie musterte mich eingehend. Ich schien die Prüfung bestanden

zu haben, denn sie öffnete die Tür ein Stück weiter. Ich konnte fest­stellen, dass sich auch der Rest der Lady sehen lassen konnte. Sie trug einen schlichten blauen Wollrock, der nur knapp die Knie bedeckte und wohlgeformte Beine zur Geltung kommen ließ.

»Sind Sie auch Musiker?«, fragte sie. »Nein. Ich kann nur das Radio ein- und ausschalten.« »Was wollen Sie dann von Milton?«, wollte sie wissen. Als hätte

sie sich selbst bei einer Unhöflichkeit ertappt, fügte sie schnell hinzu: »Oder bin ich jetzt zu neugierig? Es ist nämlich so, dass Milton eigent­lich nur Umgang mit Musikern hat.«

»Mit anderen Saxophonspielern?« Sie lachte leise. »Nein, mit allen möglichen Musikern, aber nicht

mit Saxophonisten. Milton ist ziemlich von sich überzeugt und duldet keinen anderen Saxophonisten in seiner Nähe.«

»Aber er kennt die Konkurrenz?« »Ja, natürlich. Sie spähen sich gegenseitig aus und beklauen sich.

Ach, Mister...«

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»Pat Connor, Privatdetektiv.« Ihre Augen wurden groß und rund. »Sie sind Privatdetektiv, Mister

Connor? Darüber müssen Sie mir unbedingt mehr erzählen! Aber es redet sich schlecht zwischen Tür und Angel. Wollen Sie auf einen Sprung hereinkommen? Mein Mann kehrt erst um sieben von der Ar­beit zurück und ich muss zugeben, dass ich ein bisschen Langeweile habe.«

Ich fragte mich, was für eine Art Sprung ihr vorschwebte. Ein klei­ner Seitensprung? An mir sollte er nicht scheitern. Die Ermittlungen würden dadurch kaum vorangetrieben, aber es gab schließlich noch andere Dinge, die man vorantreiben konnte.

Ich nickte und sie gab den Eingang frei. Dann führte sie mich in das Wohnzimmer, das recht behaglich aussah. Besonders die weinrote Chaiselongue machte einen viel versprechenden Eindruck. Sie bat mich, darauf Platz zu nehmen und setzte sich neben mich. Dabei rutschte der Rock ein wenig nach oben, sodass makellose Knie zu se­hen waren. Ich stellte fest, dass sie keine Strümpfe trug.

»Hat Milton etwas ausgefressen?«, wollte sie wissen. »Mir nicht bekannt. Wie kommen Sie darauf?« »Weil Sie Detektiv sind, Mister Connor.« »Pat«, korrigierte ich. »Oh, gern«, flötete sie. »Ich heiße Alice.« »Ich ermittle in einer Angelegenheit, die mit einer Saxophonistin

zu tun hat - oder zumindest einer Frau, die den Eindruck erweckt, Sa­xophonspielerin zu sein oder Unterricht im Spielen dieses Instruments zu geben. Wahrscheinlich eher Letzteres. Ich habe die Hoffnung, dass Milton mir weiterhelfen kann.«

»Eine Frau, die Saxophon spielt? Ist es nicht sehr anstrengend, ein derart großes Instrument zu blasen?«

»Das kann ich nicht beurteilen, aber ich kann mir vorstellen, dass es für Frauen reizvoller ist, große Instrumente zu blasen als kleine.«

Eine feine Röte breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Wie meinen Sie das, Pat?«

Ich tat unschuldig. »Selbstverständlich dachte ich dabei aus­schließlich an Musikinstrumente.«

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Sie drohte mir schelmisch mit dem Finger. »Davon bin ich aber nicht überzeugt.«

»Wenn das für dich ein Problem ist, gibt es Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen, Schätzchen.«

»Wirklich?«, fragte sie und beugte sich interessiert vor. Dabei ge­währte sie mir einen weitaus tieferen Einblick in das Innere der Bluse als zuvor. »Was sind das für Möglichkeiten?«

Ich verzichtete darauf, sie ihr zu erklären. Ich zeigte sie ihr.

*

Gegen halb sieben verließ ich die Wohnung. Ich war vorsichtiger ge­worden, blieb im Hauseingang stehen und nahm die Umgebung in Augenschein. Kein parkendes Auto, das verdächtig wirkte. Kein Hin­weis auf einen anderswo versteckten Heckenschützen.

Ich zuckte die Schultern. Es wäre auch ein Wunder gewesen, wenn der Gangster, den ich verfolgt hatte, so schnell den Spieß umge­dreht hätte. Und außer Dunky wusste niemand, wo ich steckte. Aber ich hatte keine Ahnung, wer mein Fell erlegen wollte. Wenn nicht ein einzelner Gangster, sondern ein ganzes Syndikat dahinter steckte, musste ich mit allem rechnen.

Schließlich zündete ich mir eine Zigarette an, ging zu meinem Wa­gen und startete den Motor. Dann fuhr ich die North State hinab zur South-Side. Von Alice wusste ich, dass Milton Gabkins Band Seven Aces derzeit im Dragon Club auftrat. Der befand sich in der Van Buren Street und gehörte zu den nobleren Schuppen der Stadt. Ungeachtet dessen lag er im Machtbereich von Il Cardinale und es war anzuneh­men, dass der Besitzer Schutzgeld an das italienische Gangstersyndikat zahlte.

Als ich das Lokal betrat und die zahlreich versammelten Giovannis im Foyer erblickte, wurde mir schnell klar, dass ich zu optimistisch ge­wesen war. Offensichtlich war der Besitzer des Dragon Club selbst Italiener und möglicherweise Rigobellos Strohmann.

Das gespannte Verhältnis zwischen Italienern und Iren in Chicago bedarf keiner besonderen Erwähnung. Beide Lager waren der Ansicht,

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dass man besser dort blieb, wo man hingehörte: die Italiener auf der South-Side, die Iren auf der North-Side. Da man mir die irische Ab­stammung ansieht, rechnete ich mit den üblichen Schwierigkeiten.

Die fingen auch sofort an, als ich den Hut an der Garderobe ab­gab.

Bevor die Garderobenfrau den Hut nehmen konnte, trat einer der Giovannis heran und angelte ihn sich. Er hielt ihn mir unter die Nase.

»Was ist das?«, fragte er grinsend. »Ein irischer Kartoffelsack?« Ich musterte den Giovanni, einen noch ziemlich jungen Burschen

in einem feinen dunklen Anzug und schwarzen Lackschuhen, die ge­nauso glänzten wie die Pomade in seinem Haar. »Nein«, sagte ich und riss ihm den Hut aus der Hand. Dabei tat ich einen Schritt nach vorn und stand damit auf einem seiner Lackschuhe. »Sie müssen sich irren, Mister. Dies ist ein ganz normaler Hut. Aber Sie sollten mal das Parkett erneuern lassen. Es scheint mir reichlich uneben zu sein.«

Das Grinsen war dem Burschen vergangen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er den Fuß unter meinem hervor. Im nächsten Moment holte er auch schon mit der Rechten aus.

Ich brachte beide Fäuste hoch und hätte keine Mühe gehabt, den Schlag abzufangen. Doch statt des Schlags erklang ein scharfer Befehl hinter meinem Rücken.

»Ernesto! Lass das! Es ist Connor!« Ernesto ließ die Faust sinken und wandte sich wütend ab. Um ehrlich zu sein, begriff ich die Logik des Geschehens nicht. Ich

hatte noch niemals erlebt, dass der Name Connor einen Giovanni dar­an hinderte zuzuschlagen. Das Gegenteil war mir wesentlich vertrau­ter.

Ich legte den Hut wieder auf den Tresen und drehte mich um. Ein älterer, ziemlich beleibter Italiener mit silbergrauem Haar trat mir ent­gegen. Er lächelte sparsam und deutete eine leichte Verbeugung an. Als er sprach, erkannte ich an der Stimme, dass es der Kerl gewesen war, der Ernesto gemaßregelt hatte.

»Entschuldigen Sie das flegelhafte Benehmen meines Sohnes, Mis­ter Connor«, sagte er. »Es soll nicht wieder vorkommen.«

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Ich konnte mich nicht erinnern, den Mann schon mal gesehen zu haben.

»Sind wir uns schon mal begegnet?« »Nein, aber man kennt Sie in Chicago, Mister Connor«, kam die

Antwort. Obwohl er sich um ölige Freundlichkeit bemühte, hörte ich heraus,

dass dies nicht unbedingt als Kompliment zu verstehen war. Ich legte auch wenig Wert darauf, von einem Makkaroni angehimmelt zu wer­den. Mir war ein Rätsel, warum ich von dem Kerl mit einem gewissen Respekt behandelt wurde. In mir breitete sich sogar so etwas wie Ent­täuschung aus und ich hoffte, das Phänomen blieb auf diesen einen Giovanni beschränkt. Es würde mir etwas fehlen, wenn ich keinen Grund mehr hatte, Giovannis auf die Füße zu treten.

Mein Gegenüber setzte noch einen drauf: »Ich darf Sie bitten, sich als kleine Entschädigung für das Ungemach als unser Gast zu betrach­ten. Ihre Drinks gehen auf Rechnung des Hauses.«

Mir blieb die Spucke weg. Was war los mit dem Kerl? Oder war mit mir etwas nicht in Ordnung? Ich sah an mir herab. Ich stellte fest, dass ich noch immer meinen ganz normalen Anzug trug und keines­wegs in eine italienische Fahne gehüllt war.

»Sie haben nicht zufälligerweise heute einen alkoholfreien Tag?«, fragte ich misstrauisch.

»Wir halten uns immer an die Gesetze und schenken nur Säfte aus«, erwiderte mein Gesprächspartner. Leise fügte er hinzu: »B-Saft steht für Brandy, W-Saft für Whiskey.«

»Guter Whiskey - ohne Rattengift?«, knurrte ich. Der Giovanni schüttelte missbilligend den Kopf. »Niemand will Ih­

nen etwas Böses, Mister Connor. Warum tun Sie sich so schwer damit, italienische Gastfreundlichkeit anzunehmen?«

»Weil sie bisher immer mit fliegenden Fäusten oder blauen Boh­nen garniert war.«

»Lassen Sie einfach die Vergangenheit ruhen und genießen Sie die Gegenwart.«

»Shakespeare?« »Wie bitte?«

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»Ach, vergessen Sie es.« Ich grübelte immer noch über den Grund nach, der mich zum Eh­

rengast eines Makkaroni-Lokals gemacht hatte. Aber ich rief mich zur Ordnung. Ich war hier, um mit Milton Gabkin zu reden und das ziem­lich bald. Wenn Gabkin nichts über seine weiblichen Kollegen wusste, gab es andere Etablissements mit anderen Saxophonisten.

Auf einen Wink seines Vaters hin geleitete mich der immer noch stocksaure Ernesto in den Saal und anschließend, auf meinen Wunsch hin, zur Bar. Er zischte dem Bartender etwas zu. Dessen Augen weite­ten sich ungläubig. Der Kerl hatte ein freches, für Iren reserviertes Grinsen im Gesicht, als er sich näherte, aber er hielt seine Zunge im Zaum.

»Sie sind Gast des Hauses. Was wollen Sie?« »W-Saft und den Saxophonisten.« Das freche Grinsen wich purer Unsicherheit. »Ich bin nicht sicher,

ob die Einladung auch... äh... solche Bedürfnisse einschließt und ob der Saxophonist überhaupt...«

»Ich will mit dem Saxophonisten nur reden, Giovanni.« »Ich heiße Pietro.« »Macht nichts. Wenn die Band eine Pause macht, bitten Sie Mister

Gabkin, zu mir an die Bar zu kommen. Ich will ihm einen Drink spen­dieren. Keine Sorge, ich zahle dafür.«

Der Bartender schwirrte ab und stellte wenig später das Glas mit meinen W-Saft so derb vor mir auf die Theke, dass ein Teil des Saftes überschwappte.

Ich rührte das Zeug nicht an. »Einen neuen, Giovanni. Halbe Sa­chen mag ich nicht.«

Mit zornigen Augen wischte er die Theke ab, nahm das Glas mit und brachte ein neues. Dieses Mal setzte er es gesittet ab.

Ich zündete mir eine Zigarette an und testete den Saft. Ganz nor­maler Bourbon, sogar von der besseren Sorte. Ich trank aus und be­stellte Nachschub. Dann sah ich mich um.

Viel los war in dem Schuppen nicht, aber das war zu dieser frühen Stunde auch nicht anders zu erwarten. An der Theke saßen noch drei andere Typen, aber ein Stück entfernt. Gut zwei Dutzend weitere Gäs­

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te, darunter etliche Paare, verloren sich an den zahllosen Tischen, die die illuminierte Tanzfläche umgaben. Niemand tanzte, aber es wurde allenthalben fleißig Saft konsumiert.

*

Ich wandte mich der Band zu, die gepflegte Tanzmusik spielte, meis­tens langsame Nummern. Die Besetzung bestand aus Schlagzeug, Bass, Banjo, Trompete, Saxophon und zwei Violinen. Hinzu kam eine Sängerin. Die Musiker waren nicht schlecht, aber für meinen Ge­schmack zu zahm. Die Burschen trugen dunkelblaue Anzüge und dazu rote Fliegen, die ziemlich kleine und pummelige Sängerin ein himmel­blaues Taftkleid. Sie saßen auf Stühlen hinter Schilden, auf denen je­weils ein Ass abgebildet war. Wenn ein Musiker ein Solo abzuliefern hatte, stand er auf, damit das Publikum auch mitbekam, wer sich da kaprizierte. Alles sehr brav. Ich achtete auf Gabkin, dessen Saxophon dezent im Hintergrund agierte. Als er sein Solo hatte, wurde er etwas lebhafter, aber von dem Jazz, den ich kannte, war das weit entfernt. Immerhin konnte ich gegen sein Spiel nichts einwenden. Gegen sein Aussehen auch nicht. Er war ein bisschen kleiner und ein bisschen jün­ger als ich, besaß ein offenes Gesicht und krauses, dunkelblondes Haar.

Nach vier Nummern und spärlichem Beifall verließen die Musiker fürs Erste das Podium. Ich sah, dass ein Kellner mit Gabkin sprach und in meine Richtung zeigte. Offenbar hatte der Bartender den Kellner an­gewiesen, sich um die Sache zu kümmern. Gabkin schaute etwas rat­los drein, kam aber dann auf mich zu.

»Mister Connor?«, fragte er. »Sie wollen mich sprechen?« Ich deutete auf den Barhocker rechts von mir. »Einen schönen Gruß von Ihrer Nachbarin Alice«, sagte ich. »Wel­

che Art von Saft trinken Sie?« »W-Saft.« »Das macht Sie mir sofort sympathisch, Mister Gabkin.« Ich bestellte für uns beide. »Wieso Alice?«, fragte Milton Gabkin reserviert.

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Mir kam der Verdacht, dass der Hunger der flotten Nachbarin sich nicht allein auf zufällig vorbeikommende Privatdetektive beschränkte. Offenbar pflegte sie auch ein herzliches Verhältnis zu Saxophonisten. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden.

»Sie teilte mir mit, wo man Sie abends finden kann.« »Ach so.« Wir tranken erst einmal und ich zündete mir eine Zigarette an. »Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen, Mister Gabkin«, sag­

te ich dann. »Ich bin kein Musikagent, der Sie verpflichten will, son­dern Privatdetektiv.«

Die Enttäuschung war ihm deutlich anzumerken. »Und was wollen Sie von mir?«

Ich schilderte ihm mein Problem und er hörte aufmerksam zu. Seine Aufmerksamkeit wuchs noch, nachdem ich uns beiden einen weiteren W-Saft bestellt hatte.

»Damenkapellen nehme ich nicht besonders ernst«, gestand er ein. »Sie sind eher etwas für Gaffer als für Zuhörer. Es gibt sogar wel­che, bei denen die Weiber nur herummimen, während hinter dem Vor­hang eine Männerband spielt. In Chicago gab es mal eine Frauenband, aber die hat nur ein paar Wochen existiert. In New York, San Francisco oder Miami finden Sie solche Truppen schon eher.«

»Hatte diese Chicago-Band eine Saxophonistin?«, fragte ich. Gabkin nickte. »Eine grauenvoll schlechte, die von Violine auf Sa­

xophon umgestiegen ist. Aber die können Sie vergessen. Sie ist eine füllige Matrone von mehr als fünfzig Jahren. Die anderen Mitglieder der Band sahen ähnlich aus. Die haben irgendwie nicht kapiert, worauf es ankommt.«

»Vielleicht haben sie sich neu gegründet. Eine Saxophonistin mit Dutt und Brille würde ja gut zu ihrem Image passen.«

Gabkin grinste. »Das ist wohl wahr. Aber wenn es so wäre, hätte ich davon gehört.«

»Wie ist es mit auswärtigen Bands, die in Chicago gastieren?«, wollte ich wissen.

»Ich kenne nur die Szene in Chicago.« »Und wie sieht es mit Musiklehrerinnen aus?«

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»Die Saxophonspielen unterrichten? Gibt es nicht. Jedenfalls nicht in Chicago. Alles Männer, meistens Neger. Am Williams-Floyd-Konservatorium unterrichten zwar ein paar Frauen, aber nur Streich- und Zupfinstrumente. Der Saxophonunterricht ist auch bei denen Männersache.«

Das machte einige meiner Hoffnungen zunichte. Es war wohl sinn­voll, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass die Lady kein Saxo­phon, sondern etwas anderes in dem Koffer herumgetragen hatte. Wenn es die Lady überhaupt gab.

»Halten Sie es für denkbar, dass jemand einen Saxophonkoffer für ein anderes Instrument benutzt?«

»Diese Koffer kosten viel Geld und sind exakt auf ein Saxophon zugeschnitten. Wer ein Kornett oder so etwas darin unterbringt, muss einen Dachschaden haben.«

Gabkin trank seinen Whiskey aus. »Ich muss wieder zu meinen Leuten. Vielen Dank für den Saft.« Er wandte sich zum Gehen, aber dann fiel ihm noch etwas ein. »Wenn es jemanden gibt, der so ziem­lich jeden Musiker und jede Musikerin in Chicago kennt, dann ist es Zacharias Murawski. Er ist Musikagent und hört sich jede Truppe an, die hier spielt. Er vermittelt auch auswärtige Bands nach Chicago und hat beste Verbindungen zu anderen Agenturen.«

»Hört sich gut an. Wo finde ich ihn?« »Kennen Sie sich im Hafen aus? Da gibt es diesen Shipping

District, in dem die Speditionen sitzen. Da finden Sie auch Murawski. Er hatte früher mal eine Spedition und hat dann auf Musik umgesat­telt, ist aber in seinem Domizil geblieben.«

Damit war Gabkin verschwunden und ich war wie vor den Kopf geschlagen. Hatte ich eben noch keinen Pfifferling mehr auf die Lady mit dem Saxophon gegeben und Paresi als Fantasten verdächtigt, stellte sich die Sache plötzlich wieder in einem anderen Licht dar. Für eine Musikerin gab es einen Grund, sich im Shipping District sehen zu lassen und der hieß Murawski. Ich kannte die Gepflogenheiten in der Musikbranche nicht, konnte aber nicht ausschließen, dass Murawski auch am späten Abend noch im Einsatz war. Wenn die Lady bei ihm gewesen war, kannte Murawski wahrscheinlich auch ihren Namen und

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ihre Adresse. Ich musste ihn einfach nur anrufen. Mit etwas Glück würde mich dieser Anruf auf direkten Kurs zu fünf Franklins bringen.

Ich entschloss mich, es sofort zu tun. Der Bartender schickte mich hinaus ins Foyer, wo sich das Telefon

befand. Dort traf ich auch wieder auf Papa Giovanni und Sohn Giovan­ni, die mir eher überrascht entgegensahen.

»Wir haben eigentlich nicht damit gerechnet, dass Sie auf eigenen Füßen herauskommen, sondern sturzbetrunken auf einer Trage he­rausgebracht werden«, meinte der Senior.

Ich stellte fest, dass der Giovanni erstaunlich viel über mich wuss­te.

»Freuen Sie sich nicht zu früh«, erklärte ich. »Was nicht ist, kann ja noch werden. Bis jetzt habe ich an Ihren Vorräten nur ein bisschen genippt, ohne meinen Durst zu befriedigen. Aber jetzt muss ich erst mal telefonieren.«

Senior zeigte zum Telefon. »Dort drüben. Wenn Sie eine Horde Saufkumpanen anfordern, müssen die ihre Getränke aber selber zah­len. Unsere Sympathie für Luigi Paresi muss schließlich irgendwo auch ihre Grenzen haben.«

Dies schien die Stunde der Erleuchtungen zu sein. Ich Hornochse hatte darüber gegrübelt, warum ein Giovanni mir gegenüber so spen­dabel war. Ich hätte eigentlich auch von allein darauf kommen müs­sen. McMurphy verteidigte einen Italiener und ich versuchte, für die­sen Italiener eine Entlastungszeugin zu finden. Und die Makkaronis halten zusammen, wie man weiß. Alle. Dass sie mich plötzlich gut lei­den konnten, war zu bezweifeln. Aber immerhin war ich zumindest einem von ihnen ein paar Whiskeys wert. Natürlich nur so lange, bis ich meine Schuldigkeit erfüllt hatte.

»Wenn Sie Ihrem Landsmann helfen wollen, dann geben Sie mir das Telefonbuch«, forderte ich Papa Giovanni auf.

Sein Sohn förderte es unter dem Tresen der Garderobe hervor und reichte es mir. Ich trug es zum Telefon, das neben der Garderobe an der Wand hing und blätterte darin herum, bis ich den fett hervor­gehobenen Eintrag ›Murawski, Zacharias – Musikagentur‹ fand.

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Das Telefonat verlief allerdings anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Als die Verbindung hergestellt wurde, meldete sich eine brum­mige Männerstimme.

»Bei Murawski.« »Connor. Ist Mister Murawski zu sprechen?« »Nein.« »Ist er unterwegs?« »In gewisser Weise könnte man es so nennen.« Der Kerl nervte mich, aber ich blieb höflich. »Wann kehrt er zurück?« »Überhaupt nicht.« Jetzt reichte es mir. »Was soll das heißen? Wer sind Sie überhaupt?« »Sergeant Wilkins, Police Department Chicago. Mister Murawski

wird deshalb nicht zurückkehren, weil er erschossen wurde.«

*

Ich verlor keine Zeit und rief sofort im Police Department an, um von Hollyfield mehr zu erfahren. Ich wurde mit einem Lieutenant verbun­den - zum Glück war es nicht Quirrer -, der mir mitteilte, dass Holly­field erst morgen früh wieder im Dienst sei. Auf meine Fragen nach dem Mord an Murawski reagierte er zugeknöpft und verwies mich an seinen Vorgesetzten, der aber unterwegs sei. Ich hängte auf.

Mein nächster Anruf galt meinem väterlichen Freund Brendon Smith von der Chicago Tribune, Ich erwischte ihn in der Redaktion.

»Brendon, ich höre gerade, dass der Musikagent Murawski er­schossen wurde. Weißt du etwas darüber?«

»Klar«, sagte Brendon. »Der Mord liefert uns den Aufmacher für die nächste Ausgabe der Tribune. Warum interessiert dich das?«

»Ich hatte gehofft, von Murawski die Adresse einer Lady zu be­kommen, die ich finden muss.«

»Du hättest ihn früher fragen sollen. Jetzt kann er dir nicht mehr antworten.«

»Wer hat ihn erschossen?«

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»Weiß man noch nicht. Wahrscheinlich ein Profi. Murawski wurde mit drei Einschusslöchern in seinem Büro aufgefunden und die Schüsse wurden aus nächster Nähe abgefeuert. Man kann es als Hinrichtung bezeichnen.«

Ich zündete mir eine Lucky an. »Das wäre innerhalb einer Woche schon der zweite Mord im Shipping District.«

»Du spielst auf den Mord an Sharkey an? Ja, stimmt, es gibt ge­wisse Ähnlichkeiten in der Art der Ausführung.«

»Aber Paresi kann es diesmal nicht gewesen sein, denn er sitzt in Untersuchungshaft. Könnte das nicht sogar ein Beweis für seine Un­schuld sein?«

Brendon schnaufte. »Nun mal langsam, Pat. Gleicher Ort, gleiches Strickmuster - aber das muss nichts zu bedeuten haben. Ich sehe so­mit absolut keinen Zusammenhang. Nach allem, was wir wissen, hatte Murawski keine Verbindung zu Sharkey, die über ein gelegentliches Gespräch über das Wetter hinausging. Und im Gegensatz zu Sharkey war Murawski absolut integer und überdies sehr beliebt. Dass er in irgendeiner Weise mit Gangstern zu tun hatte, ist unwahrscheinlich.«

»Kanntest du ihn persönlich?« »Flüchtig. Musik ist ja nicht mein Ressort. Aber er war immer auf

dem Presseball zu finden und wir haben uns über die White Socks un­terhalten. Zach war ein lebhaftes Kerlchen mit tausend Interessen und ziemlich beschlagen in allem. Es ist wirklich schade um ihn.«

Ich inhalierte einen tiefen Zug und stieß den Rauch aus. »Und trotzdem muss er Feinde gehabt haben.«

»Es gibt immer irgendwelche Verrückten, die dich auf dem Kieker haben können. Vergiss nicht, der Mann hatte mit Hunderten von Künstlern zu tun. Vielleicht hat er einem von denen mal auf den Kopf zugesagt, dass er seine Tröte besser gegen einen Stauhaken eintau­schen und sich Arbeit im Hafen suchen sollte. Oder er konnte jeman­dem nicht das gewünschte Engagement vermitteln. Bei manchen Ty­pen reicht das schon.«

Mein Hauptinteresse war, an die Adresse der Lady heranzukom­men. Ich ging davon aus, dass Murawski eine Kartei führte, in der die Adressen der von ihm vertretenen Musiker verzeichnet waren. Den

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Weg zu dieser Kartei konnte mir allein Hollyfield ebnen. Aber ich wollte nicht akzeptieren, dass der Mord an dem Musikagenten nicht in einem Zusammenhang zu dem Sharkey-Mord stand.

»Das mag ja alles sein, Brendon. Aber versuche es mal aus meiner Sicht zu sehen. Ich bekomme den Auftrag, eine Frau zu suchen, die als Tatzeugin Paresi entlasten könnte. Ich tappe ziemlich im Dunkeln, weil die Lady spurlos verschwunden ist und niemand sie zu kennen scheint. Irgendeine Ratte schießt auf mich. Und irgendeine Ratte bringt mit Murawski jenen Mann um, der wahrscheinlich Kontakt zu der Lady hielt. Siehst du da keine Verbindung?«

»Jemand hat auf dich geschossen, Junge?«, fragte Brendon be­troffen.

»Ein lausiger Schütze, der wahrscheinlich nur aus nächster Nähe trifft. He, Brendon, du sollst mich nicht bemitleiden. In meinem Job wird man öfters mal zur Zielscheibe. Ich will nur, dass du mir sagst, ob ich spinne oder vielleicht doch die richtigen Schlüsse ziehe. Es kann sein, dass Paresi Sharkey erschossen und etwas von einer Entlas­tungszeugin gefaselt hat, die es gar nicht gibt. Es kann sein, dass je­mand auf mich angelegt hat, dem ich früher mal auf die Füße getreten bin. Und es kann sein, dass ein größenwahnsinniger Musiker Murawski kaltgemacht hat, weil der es gewagt hat, ihn auf einen falschen Ton hinzuweisen. Das alles kann so sein. Aber es gibt außer mir einen an­deren Mann, der sich nach der Lady erkundigt hat. Warum? Kann es nicht sein, dass es jemanden gibt, der verhindern will, dass Paresis Anwalt eine Entlastungszeugin präsentiert? Ich kann mir nach Lage der Dinge nur einen vorstellen, der daran ein Interesse haben könnte: der wirkliche Mörder von Sharkey.«

Brendon schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Pat, sei vernünftig. Wenn der gleiche Mann hinter allem steckt, hätte er dich auf die glei­che Weise hingerichtet wie die anderen Opfer: aus nächster Nähe. Und was hätte er davon? McMurphy würde einen anderen Detektiv mit der Sache beauftragen.«

So leicht gab ich mich nicht geschlagen. »Der Kerl weiß offenbar eine Menge über mich und meine Gewohnheiten. Damit dürfte ihm auch klar sein, dass ich kein so leichtes Hinrichtungsopfer bin wie

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Sharkey und Murawski.« Dass McMurphy nach meinem Dahinscheiden einen Kollegen beauftragen würde, konnte ich nicht so leicht entkräf­ten. Aber dann hatte ich eine Idee. »Nehmen wir mal an, der Kerl er­fährt, dass ein Privatdetektiv beauftragt wurde, nach der Lady zu su­chen. Bisher fühlte er sich sicher, aber jetzt wird er nervös und ver­sucht mir zuvorzukommen, indem er ebenfalls nach der Lady sucht. Er versucht, mich auszuschalten, um Zeit zu gewinnen und findet tat­sächlich schneller als ich heraus, dass die Lady bei Murawski war. Er geht zu dem Musikagenten, lässt sich die Adresse der Lady geben und legt ihn um.«

»Warum?«, fragte Brendon. Ich zog an meiner Zigarette. »Warum was?« »Warum legt er ihn um?« »Ist doch klar, oder? Damit ich nicht an die Adresse herankomme

- oder zumindest aufgehalten werde.« »Wenn das wahr ist, legt er als Nächstes die Lady um.« »Du sagst es. Und, verdammt noch mal, ich komme erst morgen

früh an Murawskis Unterlagen heran - wenn überhaupt.« »Ich höre mich um, Pat. Wenn ich irgendetwas über eine Lady mit

Saxophonkoffer oder generell was über Saxophonistinnen herausfinde, melde ich mich.«

»Danke, Brendon.« »Pass auf dich auf, Pat.«

*

Ich hatte nicht übel Lust, mich genau auf die Art voll laufen zu lassen, wie es Papa Giovanni von mir erwartete. Mein Bauch riet mir zu. Mein Verstand machte den Einwand, wenigstens auf den letzten Gra­tiswhiskey zu verzichten, der mich auf die Trage schicken würde, da­mit ich am Morgen halbwegs frisch war, wenn ich Hollyfield aufsuchte. Womit keineswegs gesagt war, dass ich dann fündig wurde. Wenn der Mörder wirklich clever war, hatte er sich nicht darauf beschränkt, Mu­rawski nach der Adresse zu fragen, sondern gleich dessen Kartei ver­nichtet.

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Als ich mich schwungvoll umwandte, prallte ich mit einem Kerl zu­sammen. Im ersten Moment dachte ich, es sei einer der Giovannis, der mich beim Telefonieren belauscht hatte. Tatsächlich hatte er ebenfalls pechschwarzes, welliges Haar. Allerdings fehlte die Pomade. Die Züge wirkten mediterran, aber nicht italienisch, sondern eher griechisch.

Er war genauso überrascht wie ich und zuckte zurück. Im gleichen Moment erkannte ich ihn.

Spiro Miller. Ein Kollege von mir, dem ich von Zeit zu Zeit an die­sem oder jenem Ort in der Stadt begegnete. Wir waren nicht mitein­ander befreundet, doch wir respektierten einander und tranken manchmal einen Bourbon zusammen, wenn sich die Gelegenheit er­gab. Den Namen Miller hatten seine Eltern angenommen, als sie in die Staaten einwanderten. Der richtige Name war ellenlang und unaus­sprechlich.

»Pat...«, stammelte er. »Was machst du denn hier?« Es war eine saudumme Frage und das wusste er auch. Ich drückte

meine Zigarette im Aschenbecher aus. »Das Gleiche könnte ich dich fragen. Aber ich will deine Neugier gern befriedigen: Ich wurde zum Giovanni des Monats gewählt und darf mich in diesem Laden kostenlos besaufen.«

Miller lachte heiser. »Erzähl mir noch einen.« »Du glaubst mir nicht? Frag den Besitzer des Schuppens. Er steht

da hinten. Der Dicke mit dem Silberhaar.« »Den Teufel werde ich tun! Es ist schon erstaunlich genug, dass

sie dich überhaupt hier dulden.« »Im Dienst, Spiro?«, fragte ich. »Heute nicht mehr«, antwortete er. »Dann lass uns einen trinken. Du wirst schon sehen, dass ich nicht

gelogen habe. Du selbst musst deine Drinks allerdings bezahlen.« Miller nickte und wir begaben uns zur Bar. Wir bestellten Whiskey

und ich ließ mir vom Bartender bestätigen, dass meine Drinks nach wie vor auf Rechnung des Hauses gingen.

Spiro Miller staunte. Er kippte seinen Whiskey herunter und leckte sich anschließend genießerisch über die wulstigen Lippen.

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Wulstige Lippen? Wieso fiel mir in diesem Moment das Wort wuls­tig ein? Mich interessierte es im Grunde doch die Bohne, welche Art von Lippen den riesigen Mund von Spiro Miller umrahmten.

Plötzlich wusste ich, wie ich auf das Wort gekommen war. Und als ich die dicke Nase des Mannes betrachtete, schwand jeder Zweifel. Kaminski, der Bartender im Hinterzimmer von Fred's Rizz, hatte mir einen Kerl mit schwarzen Haaren, einer dicken Nase und einem großen Mund mit wulstigen Lippen beschrieben. Ich fiel gleich mit der Tür ins Haus.

»Hast du die Lady mit dem Saxophonkoffer inzwischen aufge­spürt?«

Damit erwischte ich ihn auf dem falschen Fuß. Er sperrte den gro­ßen Mund, die dicke Nase und die dunklen, in beeindruckend tiefe Au­genringe eingelagerten Augen auf und japste.

»Bist du Hellseher?«, brachte er schließlich heraus. »Ich bin Detektiv«, klärte ich ihn auf. »Und du?« »Auch so was Ähnliches, wenn ich mich nicht täusche. Aber im

Gegensatz zu dir spioniere ich keine Kollegen aus.« Darauf ging ich nicht ein. Das Erklärungsmodell, das ich mir zu­

rechtgezimmert und Brendon am Telefon skizziert hatte, erforderte eine weitere Frage.

»Antworte mir klar und deutlich, Spiro und versuch keine Mätz­chen: Hast du auf mich geschossen?«

»Hast du eine Meise? Was soll der Mist?« »Eine klare und deutliche Antwort, Spiro!« »Nein, verdammt noch mal!« Ich wusste nicht warum, aber ich glaubte ihm. Und sei es nur

deshalb, weil Miller keinen Dodge, sondern einen Ford-T fuhr. Außer­dem erinnerte ich mich, gehört zu haben, dass er ein ganz guter Schütze war.

»Wer ist dein Auftraggeber?« Millers Augen verengten sich. »Was soll das werden, Pat? Ein

Kreuzverhör? Du weißt genau, dass ich dir den Namen nicht nennen werde.«

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Ich zündete mir eine Zigarette an und er griff ebenfalls nach sei­nen Kippen.

»Hör zu, Spiro«, begann ich. »Ich arbeite an der gleichen Sache wie du und mein Auftraggeber ist der Rechtsverdreher McMurphy. Wenn du mir deinen Klienten nicht nennen willst, ist das in Ordnung. Aber ich wusste zumindest gern, ob McMurphy so schofelig war, uns beide auf den Fall anzusetzen, ohne dass der eine vom anderen wuss­te.«

Spiro Miller entspannte sich ein wenig und nahm einen Zug von seiner Zigarette. Dann sagte er: »Da kann ich dich beruhigen. McMur­phy ist nicht mein Auftraggeber.«

Ich bestellte einen weiteren Whiskey und Miller schloss sich der Bestellung an. Ich schwieg eine Weile und rauchte. Währenddessen konzentrierte ich mich darauf, die einzelnen Elemente meiner zer­trümmerten Hypothese zu besichtigen und zu versuchen, aus ihnen etwas Neues zu formen. Ich kam mir wie ein kleiner Junge vor, der mit Bauklötzen spielte, ohne überhaupt zu begreifen, was man damit an­fangen konnte. Irgendwie drehte sich alles im Kreis. Bislang war ich davon ausgegangen, dass zwei Leute die Lady mit dem Saxo­phonkoffer suchten: ich selbst und der Mörder. Ich wollte die Lady zur Aussage bewegen, der Mörder wollte sie an der Aussage hindern. Was Millers Auftraggeber anging, gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder war ein dritter Interessent im Spiel. Oder der Mörder hatte ebenfalls einen Detektiv eingesetzt.

Ich versuchte erneut, Millers Zunge zu lockern. »Du weißt, dass die Lady als Einzige die Schießerei im Shipping District miterlebt hat und den Täter identifizieren kann?«

Miller nickte. »Und du weißt auch, dass der Staatsanwalt Paresi die Geschichte

mit der Lady nicht abkauft?« Die Whiskeys trudelten ein und Miller trank einen Schluck. Wieder

leckte er sich anschließend die Lippen. »Ist mir bekannt.« Er grinste. »Du machst schon wieder auf

Kreuzverhör. Kommt bei dir der ehemalige Polizist durch, Pat?«

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»Ich bin schon fertig damit. Was ich damit sagen will, ist nur: Au­ßer Paresi kann nur der wirkliche Mörder - immer vorausgesetzt, Paresi ist unschuldig - ein Interesse an der Lady haben. Ist dir wohl bei dem Gedanken, für einen Mörder tätig zu sein und ihm möglicherweise die Gelegenheit zu geben, die Lady umzubringen? Du weißt vielleicht, dass er auch den Musikagenten Murawski umgenietet hat?«

Während ich es sagte, kam mir flüchtig in den Sinn, dass für Letz­teres auch Spiro Miller in Frage kam. Aber wenn ich ihn dieser Tat ver­dächtigte, konnte ich ihn auch gleich für den Mord an Sharkey verant­wortlich machen.

»Von dem Mord an einem Musikagenten weiß ich nichts«, gab Miller zu. »Aber wenn du meinst, er steht mit dem Fall in Verbindung: bitte. Ich kann dir nur versichern, dass ich nicht für den Mörder von Sharkey arbeitete. Im Gegensatz zu dir. Denn der Mörder war Paresi - ob du es nun wahrhaben willst oder nicht.«

»Dummes Zeug«, entgegnete ich und es entsprach voll und ganz meiner inneren Überzeugung. Bisher war ich nicht hundertprozentig von Paresis Unschuld überzeugt gewesen, aber der Mord an Murawski hatte mich eines Besseren belehrt. Es gab diese Lady und der Mörder wollte verhindern, dass sie zugunsten von Paresi aussagte.

Wir tranken noch einige Whiskeys miteinander, aber es gelang mir nicht, mehr aus Spiro Miller herauszukitzeln. Irgendwann hatte er ge­nug von meinen Fragen und verabschiedete sich. Ich bestellte für mich noch einen doppelten W-Saft zum Abschied, zahlte für Gabkins Säfte und die Telefonate und wankte hinaus.

»Pfeifen Sie die Jungs mit der Trage zurück«, ließ ich Papa Gio­vanni wissen, als ich meinen Hut aufsetzte. »Ich kann sogar noch Auto fahren.«

»Wenn Sie es sagen, Mister Connor«, meinte der Besitzer des Makkaroniladens. »Schade, dass es Ihnen bei uns nicht gefallen hat. War etwas nicht in Ordnung?«

»Ich habe die Boxhiebe in den Magen vermisst. Dann hätte mehr hineingepasst.«

»Wir werden uns bemühen, das bei Ihrem nächsten Besuch nach­zuholen, Mister Connor.«

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*

Als mich der rasselnde Wecker am nächsten Morgen hochscheuchte, fühlte ich mich nicht unbedingt so, als könnte ich Bäume ausreißen. Aus dem Spiegel im Bad grinste mir eine Art Geist entgegen, dessen Augenringe es mit denen von Spiro Miller aufnehmen konnten. Mögli­cherweise war es ansteckend. Anzeichen für eine dicke Nase und einen Wulstmund konnte ich zum Glück nicht entdecken.

Nachdem ich mich gewaschen, rasiert, zwei Tassen heißen Kaffee hinuntergekippt und die erste Zigarette geraucht hatte, traute ich mir immer noch keine Bäume zu. Aber vielleicht ein Bäumchen - wenn es nicht allzu groß war und in lockerem Boden wuchs.

Mit jedem Zug der zweiten und dritten Zigarette, die ich am Steu­er meines Wagens rauchte, kehrten weitere Lebensgeister zurück. Meine Laune war allerdings nicht die beste. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Ich blickte bei meinem Fall nicht durch. Die fünf Franklins flüchteten vor mir. Und ich musste befürchten, dass die Lady mit dem Saxophonkoffer bereits das Schicksal von Sharkey und Murawski teilte. Die Lady war mir nur aus Beschreibungen bekannt, aber wenn sie nicht mehr lebte, würde ich dies als persönliche Niederlage betrachten.

Ich überlegte, ob ich gestern zu viel Zeit vertrödelt hatte. Viel­leicht hätte ich als Erstes das Telefonbuch nehmen und alle Musik­agenten anrufen sollen. Aber ich war mir ja keineswegs sicher gewe­sen, dass die Lady als Saxophonistin auftrat. Im Grunde bezweifelte ich es noch immer. Dass sie wirklich bei Murawski gewesen war, blieb eine Vermutung. Der Hauptgrund dafür, dass ich nicht von Anfang an alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, war allerdings ein anderer: Ich konnte nicht ahnen, dass ich nicht der einzige Spürhund war, der ihre Fährte suchte. Ich glaubte, Zeit zu haben und es gemächlich angehen lassen zu können. Was sich leider als Irrtum erwiesen hatte.

Als ich am Police Department eintraf, war ich fest entschlossen, die gestrigen Versäumnisse wettzumachen. Allerdings wusste ich, dass es dabei nicht allein auf mich ankam. Captain Hollyfield musste mit­spielen. Und verschiedene andere Umstände mussten mir hold sein.

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Ich hasse solche Situationen. Wenn ich eine Forelle angeln will, nehme ich eine Angel. Wenn ich dazu erst einen Angelschein mit diversen Stempeln und einen Angelverleih benötige, lasse ich mir die Forelle lieber gleich in einem Restaurant servieren. Normalerweise. Aber ein Privatdetektiv muss die Dinge nun mal nehmen, wie sie sind.

Ich beachtete Quirrers launige Begrüßung nicht weiter und ließ mich von ihm auch nicht aufhalten. Stattdessen klopfte ich an der Tür zu Hollyfields Büro und erntete ein knurriges »Herein«.

Der Captain, der hinter dem Schreibtisch saß und eine Akte stu­dierte, schien selbst nicht allerbester Laune zu sein. Sein Gesicht ver­finsterte sich noch mehr, als er mich erblickte.

»Sie schon wieder, Connor?« »Wir hatten ausgemacht, dass ich Sie auf dem Laufenden halte,

Captain«, erinnerte ich ihn. »Ein Anruf hätte genügt«, brummte Hollyfield. »Fassen Sie sich

kurz, ich habe zu tun.« Das Telefon klingelte. Der Captain nahm den Hörer ab, meldete

sich, hörte kurz zu und bellte dann: »Das können Sie alles Lieutenant Quirrer fragen!«

Er hängte ein. Ich hatte mich ungefragt auf einen der Stühle gesetzt und mir ei­

ne Zigarette angezündet. Hollyfields Schreibtisch stand auf einem klei­nen Podest und ich musste zu ihm aufschauen. Ich fühlte mich wie ein Delinquent, der Rede und Antwort zu stehen hatte. Ich stellte das ab, indem ich mich vom Stuhl erhob, auf und ab ging und die Asche mei­ner Zigarette gleichmäßig auf dem Fußboden verteilte.

»Man hat auf mich geschossen, ein unbekannter Auftraggeber hat ebenfalls einen Privatdetektiv mit der Suche nach der Lady beauftragt und der Musikagent Murawski, den die Lady wahrscheinlich aufgesucht hat, wurde auf die gleiche Art erschossen wie Sharkey«, fasste ich zusammen. »Glauben Sie immer noch, dass Paresi der Täter und die Lady ein Phantom ist?«

»Ja!«, knurrte Hollyfield. »Und mischen Sie sich gefälligst nicht in meine Arbeit ein. Im Übrigen wurde Murawski nicht auf die gleiche Art

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erschossen und die Waffe, mit der die Tat verübt wurde, hat ein ande­res Kaliber.«

»Ich meinte damit das Prinzip«, versuchte ich zu erklären. »Prinzip? Ich sollte es mir besser zum Prinzip machen, nicht mit

Ihnen zusammenzuarbeiten, Connor!«, kam die bissige Antwort. Ich fragte mich, warum der Captain so knurrig war. Ich konnte

nur hoffen, dass es nichts mit Sharkeys Notizbuch zu tun hatte. »Was ist los mit Ihnen, Captain?«, fragte ich betont fröhlich. »So

ein wunderschöner Frühlingsmorgen und Sie genießen ihn nicht?« »Haben wir Frühling?«, schnauzte Hollyfield. »Ist mir nicht aufge­

fallen. Seit zwei Stunden nervt mich die Presse mit Fragen nach dem Murawski-Mord und dieser dreimal verdammte Quirrer lässt immer wieder Anrufe zu mir durchstellen. Und jetzt auch noch Sie! Und was tun Sie? Unterbreiten mir Theorien über den Murawski-Mord! Ver­dammt, Connor, ich bin noch nicht einmal dazu gekommen, die Akte in Ruhe durchzusehen!«

Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass dies nicht die allerbesten Voraussetzungen waren, um den Captain zu bitten, mir Zugang zu Murawskis Unterlagen zu verschaffen. Aber mir blieb nichts anderes übrig, als es trotzdem zu versuchen.

»Captain, ich will keine Nervensäge sein, aber...«, begann ich. »Was wollen Sie, Connor?«, herrschte mich Hollyfield an. »Sich in

Murawskis Büro umsehen? Verdammt noch mal, dann fahren Sie doch endlich hin. Ich lasse den Sergeant, der dort Wache hält, instruieren. Und nun verschwinden Sie!«

Mit diesen Worten beugte er sich wieder über die Akte und igno­rierte mich.

Ich machte, dass ich hinauskam.

*

Im Shipping District musste ich nicht erst lange nach Murawskis Büro fragen. Der mittlere Abschnitt des zweiten Blocks war mit Sperrgittern abgeriegelt und davor hielt ein Polizist Wache. Eine Hand voll Reporter und Fotografen harrte an den Gittern aus.

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»Was ist los, Jungs?«, fragte ich in die Runde. »Wartet ihr auf den nächsten Mord? Dann müsst ihr euch gedulden. Hier wird nur einmal pro Woche geballert.«

Ich erntete böse Blicke. Ich hatte keine Ahnung, worauf die Pres­sefritzen lauerten. Auf die verschleierte Witwe? Auf Murawskis Musi­kerfreunde, die ›St. James Infirmary‹ intonierten?

Hollyfield hatte Wort gehalten. Der Blechmarkengardist mit dem breiten Ledergurt und der daran befestigten Revolvertasche ließ mich anstandslos passieren, als ich meinen Namen nannte und ihm meine Zulassung als Privatdetektiv unter die Nase hielt. Er öffnete mir sogar die Haustür.

Im Hausflur saß ein weiterer Polizist auf einem dort deponierten Stuhl und las die Tribune.

»Mister Connor?«, fragte er, als er mich sah. Er legte die Zeitung weg und stand auf.

»Sie haben es erfasst, Sergeant...« »Shoemaker«, sagte der junge Bursche, dessen Dienstmütze auf

dem schmalen Kopf ein bisschen zu groß aussah. »Ich soll Ihnen den Tatort zeigen.«

»Das nenne ich Service«, lobte ich. Meistens bekomme ich Ärger, wenn ich mit meinen ehemaligen Kollegen zusammentreffe, aber manchmal läuft es auch wie geschmiert. Allerdings muss ich zugeben, dass dies nur dann der Fall ist, wenn der Captain seine schützende Hand über mich hält. Polizisten mögen Privatdetektive nicht besonders. Und das beruht auf Gegenseitigkeit.

Ich wollte nach oben stiefeln, aber der Sergeant hielt mich am Arm fest. »Es ist hier unten passiert.«

Er führte mich in den Nebenraum, der eher wie eine kleine Halle aussah. Ich hatte gestern flüchtig in mehrere dieser Räume hineinge­schaut, die bei den meisten Firmen im District als Lagerräume genutzt wurden. Bei Murawski war das anders. Er hatte die Halle zu seiner Arbeitsstätte gemacht. Mitten im Raum stand ein wuchtiger Steinway-Flügel, davor war ein Dutzend Stühle angeordnet. Ich wusste nicht, ob Murawski ein Instrument beherrscht hatte. Aber ich konnte mir gut vorstellen, dass er am Flügel gesessen und Einsätze für vorspielende

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Musiker gegeben hatte. Vielleicht hatte er manchmal auch mit beson­ders geschätzten Musikern eine Session abgehalten. Möglicherweise war die Vorstellung gar nicht so abwegig, dass in den nächsten Stun­den Musiker aufkreuzten und dem Toten zu Ehren ein Ständchen ga­ben.

Ich schaute mich in dem riesigen Raum um und versuchte dabei, die sattsam bekannte Kreidezeichnung auf dem Fußboden weitgehend zu ignorieren. Immerhin nahm ich zur Kenntnis, dass Murawski auf halbem Weg zwischen dem Flügel und einem ebenfalls frei im Raum stehenden Schreibtisch erschossen worden war. Die Wände waren bis hinauf zur Decke dicht an dicht mit einander überlappenden Veranstal­tungsplakaten bedeckt. In Lücken oder an den Rändern gab es klaf­terweise Fotos von einzelnen Musikern und Bands, Zeitungsausschnitte und Notizzettel, die kreuz und quer und übereinander hingen und mit Heftzwecken oder Stecknadeln befestigt waren. Ich entdeckte noch einige ebenfalls mit Papieren überladene Tische, einen sehr gemütlich aussehenden Ohrensessel mit zerschlissenem dunkelblauem Samt­polster, ein Trichtergrammophon, ein Regal mit Hunderten von Schel­lackplatten und einen frei stehenden Tresor. Der einzige freie Platz war das Doppelfenster auf der Stirnseite, vor dem mehrere Pflanzenkübel standen. Die Pflanzen waren vertrocknet. Offenbar hatte Murawski zu viele andere Interessen gehabt, um sich ihnen zu widmen.

Rein beruflich interessierte mich vor allem der Schreibtisch und ich trat näher. Das Teil war fast so groß wie der Flügel. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals einen ähnlich großen Schreibtisch gesehen zu haben. Er war aus Nussbaum und mit zahllosen Schnitzereien und Ver­zierungen versehen. Es hätte mich nicht überrascht zu hören, dass Shakespeare an diesem Schreibtisch die Rohentwürfe für die Sprüche von Kaminski und Mr. Durchschnittlich angefertigt hatte. Wie alles an­dere in dem Raum auch war er mit einer dicken Schicht von Papieren überhäuft. Der dahinter stehende Stuhl wirkte dagegen eher nüchtern. Am Boden rund um den Schreibtisch stapelten sich Bücher, Broschü­ren, Notenhefte, Schallplatten und Zigarrenkisten.

»Nichts anfassen«, sagte Sergeant Shoemaker nervös.

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»Kommt mir bekannt vor«, meinte ich. »Sind Sie bei Lieutenant Quirrer in die Lehre gegangen?«

»Ich habe Weisung...«, begann der Sergeant. »Ich suche eine bestimmte Kartei und die hilft mir nichts, wenn

ich sie nicht anfassen darf«, unterbrach ich ihn. Auf dem Schreibtisch standen, halb von Papieren überwuchert, gleich zwei Telefone. Ich deutete darauf. »Rufen Sie Captain Hollyfield an, wenn Sie glauben, dass ich nicht nach der Kartei suchen darf.«

Sergeant Shoemaker überlegte eine Weile. Ich kümmerte mich nicht darum, sondern sah schon die obersten Papiere auf dem Schreib­tisch durch, besonders jene, die nahe dem Stuhl im Schreibbereich lagen. Hier war die Papierschicht dünn genug, dass an einigen Stellen sogar die Schreibunterlage aus grünem Leder durchschimmerte. Ir­gendwo in dem Gewühl entdeckte ich einen mit Zigarrenstummel an­gefüllten Aschenbecher, Streichhölzer, drei Bleistifte und einen Füllfe­derhalter ohne Kappe.

»Ich glaube, das geht auch so in Ordnung«, rang sich der Serge­ant endlich zu einer Entscheidung durch. »Aber ich werde die Angele­genheit im Protokoll vermerken.«

»Ja, tun Sie das, Sergeant, das ist eine ganz hervorragende I­dee«, lobte ich ihn und steckte mir eine Lucky an.

Die Papiere, die ich begutachtete, sagten mir nichts. Es waren Honorarabrechnungen, Quittungen, Kostenkalkulationen für Konzerte und Verträge der verschiedensten Art. Hinzu kamen ein paar Einkaufs­zettel, Skizzen, wie man sie beim Telefonieren anfertigt und immer wieder Textfragmente, einzelne Verse oder ganze Strophen. Offen­sichtlich hatte Murawski auch Songtexte geschrieben oder sich zumin­dest daran versucht.

Meine Hoffnung verflüchtigte sich, einen Zettel zu finden, auf dem stand: Sehr geehrter Mister Connor, die von Ihnen gesuchte Frau heißt XY und wohnt in der YZ Street. In gleichem Maße wuchs jedoch meine Überzeugung, dass Murawski eine Kartei geführt hatte. Er mochte an­sonsten ein Chaot gewesen sein, aber ein erfolgreicher Agent verließ sich schwerlich allein auf sein Gedächtnis. Ich öffnete die Schreibtisch­schubladen, eine nach der anderen. In denen wucherten wie überall

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Papiere aller Art, aber nichts sah nach einer Kartei aus, auch nicht nach einer Kladde oder einem Adressbuch. Ich fragte mich, ob Mu­rawski so etwas aus irgendwelchen Gründen in den oberen Räumen aufbewahrt hatte. Oder gar im Tresor?

»Haben Sie den Schlüssel zum Tresor, Sergeant?«, fragte ich. »Der liegt im Police Department.« »Ist ja entzückend. Was befindet sich in den oberen Räumen?« »Eine Küche, ein Bad und ein Schlafzimmer.« Als ich ihn aufmun­

ternd anschaute, fügte er verdrießlich hinzu: »Wenn Sie darauf beste­hen, kann ich Ihnen die Räume zeigen.«

Ich hatte mir schon gedacht, dass Murawski hier nicht nur gear­beitet, sondern auch gewohnt hatte. Gerade wollte ich das unwillige Angebot des Sergeants annehmen, als mein Blick die Stapel neben dem Schreibtisch streifte. Dabei fiel mir einer ins Auge, der halb unter den Schreibtisch geschoben worden war und den ich wegen der oben­auf liegenden Notenhefte schon als uninteressant abgetan hatte. Jetzt bemerkte ich, dass unter den Notenheften helles Holz schimmerte. Ich rechnete mit einer weiteren Zigarrenkiste, aber als ich die Notenhefte anhob, stand vor mir ein massiver Karteikasten aus blond gebeiztem Eichenholz. Der abgegriffene Deckel zeigte, dass das Teil häufig be­nutzt worden war.

Hoffnungsvoll zog ich den Kasten zu mir heran, hob ihn auf die Schreibtischplatte und setzte mich. Mit der Zigarette im Mundwinkel öffnete ich ihn und prüfte den Inhalt, während mir Sergeant Shoema­ker misstrauisch auf die Finger schaute.

Es war die Kartei, die ich gesucht hatte! Sie bestand aus Hunder­ten von blauen Karteikarten, die meisten davon am oberen Rand fin­gerfleckig. Kartenreiter aus Metall gliederten die Karten in vier Haupt­gruppen: Musiker, Bands, Lokale/Veranstalter, Allgemeines. Die beiden ersten und umfangreichsten Gruppen waren mit von Hand beschrifte­ten Trennblättern in Untergruppen aufgeteilt. Bei den Bands betraf dies Unterscheidungen wie Jazz, Blues, Country, Tanzmusik und Varie­té, bei den Musikern die Instrumente.

Ich wandte mich der Abteilung Musiker zu. Die Gruppen vocal, drums, guitar, violin, piano, cornet, trumpet und so weiter interessier­

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ten mich nicht weiter. Meine Aufmerksamkeit galt allein dem Karten­stoß hinter dem Trennblatt sax. Es waren mehr als dreißig Karten. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es derart viele Saxophonisten in Chi­cago gab. Aber vielleicht hatte Murawski auch Musiker aus anderen Städten vertreten.

Ich nahm den Stapel aus dem Kasten und sah ihn durch. Mu­rawski hatte sich eigene Karten drucken lassen, auf denen oben die Agenturadresse vermerkt war. Jede der Karten enthielt die Rubriken Name, Adresse, Telefon, Instrumente, Band, Kategorie und Anmer­kungen, wobei für Letztere die gesamte Rückseite reserviert war. Die meisten Karten enthielten Korrekturen und Ergänzungen aller Art. Ich entdeckte Milton Gabkins Karte und stellte fest, dass er außer Saxo­phon auch Trompete spielte. Murawskis Anmerkungen hätten Gabkin zumindest teilweise gefallen, denn der Musikagent schätzte ihn hoch ein. Allerdings hielt er ihn auch für eigensinnig und kritisierte, dass er sein Potential nicht wirklich ausschöpfte und die falsche Art von Musik machte.

Bei den anderen Karten achtete ich nur auf die Namen. Sie waren ausnahmslos männlich. Gabkins Einschätzung hatte sich als richtig er­wiesen: Es gab keine weibliche Saxophonistin in Chicago - oder zumin­dest keine, die noch im Geschäft und von Murawski für würdig befun­den worden war, sich mit ihr zu beschäftigen.

Ich war wenig begeistert von den Früchten meiner bisherigen Ar­beit. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich die Adressen abschrei­ben und jedem der Saxophonisten auf die Pelle rücken sollte. Aber ich fragte mich, ob dabei mehr herauskommen würde, als dies bei dem Gespräch mit Gabkin der Fall gewesen war. Wohl kaum.

Ich schaute die Karteikarten der Rubrik Bands durch, konnte aber keine Damenkapelle ausmachen.

Das war's dann wohl, dachte ich. Eher aus Langeweile widmete ich mich der Rubrik Allgemeines.

Die Karte sprang mir förmlich entgegen! Sie sah so neu und wenig benutzt aus, dass sie erst kürzlich angelegt worden sein konnte.

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Name: Cooper, Helen Adresse: zzt. Coswell's Garden,

North Morgan, 166 Telefon: Instrumente: sax. Band: Sweet Syncopators

(Las Vegas) Kategorie: ***/ooo

Ich drehte die Karte um und las Murawskis Anmerkungen:

Managerin der Band, sucht aber neues Betätigungsfeld. H. stammt aus Chicago und will zurückkehren, Vertrag mit ihr möglich. Spielt für eine Frau ganz passabel, aber nicht wirklich gut. Vielleicht als Solistin oder im Duo mit einem Mann etwas fürs Variete. Hat Ausstrahlung. Heißer Feger!!!

Die letzten beiden Aussagen kühlten meine Begeisterung in den Frostbereich hinunter. Die Lady mit dem Saxophonkoffer war mir als Heimchen mit Dutt und Brille beschrieben worden. Entweder hatte der Agent normalerweise eine mindestens so dicke Brille wie McMurphy getragen, sie aber bei der Besichtigung von Helen Cooper verlegt. O­der Helen Cooper war nicht die Frau, die ich suchte.

Ich entschied mich, den ›heißen Feger‹ zu ignorieren. Helen Coo­per war meine erste wirkliche Spur und dieser Spur würde ich nachge­hen. Ich gönnte meiner Zigarettenkippe die gesellige Runde der Zigar­renstummel im überfüllten Aschenbecher und steckte die Karte an ih­ren Platz zurück. Mir war unklar, warum Murawski sie nicht bei den Musikerkarten deponiert hatte. Vielleicht deshalb, weil Helen noch nicht zu seinen Klientinnen gehörte? Im Grunde konnte mir das egal sein. Wichtig war allein, dass es eine Saxophonistin namens Helen Cooper gab, die sich mit ein bisschen Glück noch in Chicago aufhielt.

Ich war mir ziemlich sicher, dass Murawskis Killer die Karte nicht zu Gesicht bekommen hatte. Er hätte sie mitgenommen. Auf jeden Fall hätte er sich nicht die Mühe gemacht, den Karteikasten anschließend

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wieder unter dem Stapel Notenblätter zu verstecken. Oder doch? Um das Motiv des Mordes zu verschleiern?

Ich fegte die lästigen Gedanken beiseite. Mir war klar, dass der Killer so oder so einen Vorsprung vor mir haben konnte. Wenn er die Karte nicht gesehen hatte, mochte er Murawski gezwungen haben, ihm Helens Adresse zu nennen, bevor er ihn niederschoss.

»Sie können die Tribune jetzt zu Ende lesen oder sich Notizen für Ihr Protokoll machen«, sagte ich zu dem Sergeant. »Ich bin hier fer­tig.«

*

Ich brauchte nur eine knappe Viertelstunde, um zur North Morgan zu gelangen. Als ich das Hotel erreichte, rechnete ich mit allem. Vor allem damit, dass ich zu spät kam und die Polizei den Laden bereits abgerie­gelt hatte. Aber ich konnte weder einen Einsatzwagen der Polizei noch Absperrungen entdecken.

Coswell's Garden erwies sich als zweistöckiges Holzhaus, das dem Anschein nach hauptsächlich durch blaue Farbe zusammengehalten wurde. Wenn es hier jemals einen Garten gegeben hatte, dann war er durch einen reichlich bemessenen Parkplatz vor dem Haus ersetzt worden. Eine Fehlinvestition, wie es schien, denn nur drei der rund dreißig Parkplätze waren besetzt. Vor dem Eingang gab es zwei Fah­nenmasten, an denen die amerikanische und die kanadische Flagge wehten. Vielleicht stammte Mr. Coswell aus Kanada. Oder er erwies unseren nördlichen Nachbarn Reverenz für ihre Bemühungen, uns mit wärmenden Getränken zu versorgen.

Ich stellte meinen Plymouth ab, zupfte die Krawatte zurecht und betrat das Hotel.

Ich war bereits bemerkt worden und hinter der Rezeption blickte mir eine dunkel gelockte junge Lady in Rüschenbluse und dunkelgrü­nem Jackenkleid lächelnd entgegen.

»Bleiben Sie für eine Nacht oder länger?«, fragte sie, als ich den Tresen erreicht hatte.

»Das liegt ganz an Ihnen, Schätzchen«, erwiderte ich.

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Ihr Lächeln erstarrte. »Ich fürchte, diese Art von Hotel sind wir nicht.«

»Dann sollten Sie umdenken. Der Laden würde dann besser lau­fen.«

Sie bewahrte ihre Professionalität. Als Hotelangestellte, versteht sich.

»Wurden wir Ihnen empfohlen?« »Ja, von einem Toten.« »Wie darf ich das verstehen?«, fragte sie unsicher. Ich erlöste sie von dem Spielchen. »Mein Name ist Pat Connor und

ich bin Privatdetektiv. Wohnt bei Ihnen eine Miss Helen Cooper?« Sie schaute im Gästebuch nach. »Tut mir Leid, Mister Connor. Ei­

ne Miss Cooper zählt nicht zu unseren Gästen.« »Vielleicht benutzt sie einen anderen Namen. Die Lady ist Saxo­

phonspielerin und müsste Ihnen aufgefallen sein, weil ein Saxophon­koffer zu ihrem Gepäck gehört.«

Eine steile Falte bildete sich auf der Stirn der Hotelangestellten. Dann sagte sie: »Wir hatten vor einer Woche eine Damenkapelle zu Gast und ich glaube, zu ihr gehörte auch eine Saxophonistin.«

»Wenn es sich um die Sweet Syncopators gehandelt hat, liegen Sie goldrichtig.«

»Den Namen der Band habe ich mir nicht gemerkt.« Sie blätterte im Gästebuch ein paar Seiten zurück. »Aber Sie haben Recht. Miss Cooper war unser Gast. Ich kann mich jetzt auch an sie erinnern. Sie regelte die finanziellen Dinge für die Band. Eine junge Frau mit Brille, nicht wahr?«

»Altmodisch gekleidet und mit einem Dutt«, ergänzte ich. Sie nickte. »Wann ist die Band abgereist?« »Am Donnerstag. Die Damen haben ein einmaliges Gastspiel in

Chicago gegeben und sind nur zwei Nächte geblieben.« »Um dann nach Las Vegas zurückzukehren?«, fragte ich. Die Kleine zuckte mit den Schultern. Ich heilte das Nervenleiden

mit einem Lincoln. Der Heilungserfolg stellte sich sofort ein.

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»Rein zufällig hörte ich, dass die Band anschließend für zwei Wo­chen im Red Rose in Milwaukee spielen wollte.«

»Sie sind ein Goldschatz«, lobte ich sie. Sie lächelte und die Art, wie sie mich ansah, gefiel mir. Einen Mo­

ment lang überlegte ich, ob ich das Thema von vorhin noch einmal aufgreifen sollte. Aber mein Pflichtgefühl siegte. Wie es aussah, hatte ich einen Vorsprung vor Murawskis Killer, doch das müsste nicht viel heißen. Der Kerl kannte meine Lebensgewohnheiten und war mir schon einmal zuvorgekommen.

Ich schob der Kleinen einen weiteren Lincoln über den Tresen. »Wenn noch jemand kommt und nach Helen Cooper fragt, erzählen Sie ihm das Gleiche. Nur Milwaukee und das Red Rose lassen Sie weg.«

Die Kleine ließ den Lincoln blitzschnell verschwinden. »Geht in Ordnung.«

Ich wandte mich dem Ausgang zu. »Ach, Mister Connor...«, rief sie mir hinterher. Als ich mich umdrehte, sah ich ein schwer zu deutendes Lächeln in

ihrem Gesicht. »Gibt es noch etwas, Schätzchen?« »Es war gestern Abend bereits ein Herr da, der sich nach Miss

Cooper erkundigt hat. Dem habe ich ebenfalls erzählt, dass die Band im Red Rose auftritt.«

Die Kleine hatte mich mit ihrem angestrengten Grübeln und Her­umblättern doch wahrhaftig an der Nase herumgeführt! Ich verzichtete darauf, mir den Kerl beschreiben zu lassen und marschierte wütend ab.

*

Fünf Franklins hatten mich angelächelt und zeigten mir jetzt wieder die kühle Schulter. Ich fragte mich ernsthaft, ob es Sinn machte, nach Milwaukee zu fahren. Der Killer war aus der Entfernung ein schlechter Schütze, aber ansonsten schien es sich um einen Profi zu handeln. Auf das Leben von Helen Cooper gab ich keinen Cent mehr.

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Ich entschloss mich, das aus meiner Sicht einzig Sinnvolle zu tun. Ich fragte mich zu einem Speakeasy durch, genehmigte mir dort einen doppelten Bourbon und telefonierte dann mit Captain Hollyfield.

Seine Laune von heute Morgen schien sich erheblich gebessert ha­ben. »Na, Connor«, meinte er beinahe aufgeräumt, »sind Sie bei Mu­rawski fündig geworden?«

»Es hat mich einen Schritt weitergebracht, aber Murawskis Mörder ist mir nach wie vor eine Nasenlänge voraus.« Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. »Sie können das nicht mehr ignorieren, Captain. Sie müssen etwas unternehmen!«

»Ich mag es nicht, wenn mir jemand Ratschläge erteilt, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe«, brummte Hollyfield, aber es klang nicht mehr so bissig wie am frühen Morgen. »Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Sie einem Phantom nachjagen. Außer Ihnen sieht nie­mand einen Zusammenhang zwischen der Ermordung von Murawski und dem Sharkey-Fall. Also hören Sie auf damit!«

»Lassen Sie Sergeant Shoemaker in der Kartei nachsehen. Die Sa­xophonistin ist kein Phantom!«

»Ich zweifle gar nicht daran, dass es eine Saxophonistin namens Helen Cooper geben mag, Connor. Aber alles andere ist reine Spekula­tion. Im Übrigen geht mich diese Helen Cooper nichts mehr an, wenn sie sich in Milwaukee aufhält.«

Ich blieb hartnäckig. »Sie könnten Ihre Kollegen in Milwaukee um Amtshilfe bitten. Wenn die Lady erschossen wird, müssen die sich oh­nehin darum kümmern.«

»Was zum Teufel wollen Sie eigentlich von mir, Connor?«, stöhnte Hollyfield. »Eine Razzia in Milwaukee, bei der die Titten wackelnden Mitglieder der Sweet... Wie hießen sie noch mal?«

»Sweet Syncopators«, half ich aus. »... der Sweet Syncopators in Schutzhaft genommen werden? O­

der soll ich gleich beim Präsidenten vorstellig werden und ihn auffor­dern, den Ausnahmezustand über das ganze Land zu verhängen?«

»Wenn darunter der Alkoholnachschub aus Kanada nicht leidet, habe ich nichts dagegen einzuwenden. Aber fürs Erste würde mir ge­nügen zu wissen, ob es in Milwaukee einen Mordfall Cooper gibt.«

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»Das mit dem Alkohol will ich überhört haben«, meinte der Cap­tain. »Ob es den Mordfall Cooper gibt, lasse ich klären. Ich rufe Sie zurück. Sind Sie im Büro?«

»In einem Speiselokal.« Ich nannte ihm die Nummer, die auf dem Apparat stand. »Sind Sie sicher, dass es sich um ein Speiselokal handelt?«, fragte

Hollyfield misstrauisch. »Wofür halten Sie mich, Captain?«, entrüstete ich mich. »Denken

Sie etwa, ich trinke während der Arbeit und dazu noch am Vormittag?« »Ja«, sagte Hollyfield und hängte ein. Mit der Wahrheit kann ich normalerweise gut umgehen. Ich grins­

te in mich hinein und ließ mir von der Vermittlung die Privatnummer von Brendon Smith geben. Da er gestern Abend Nachtdienst gehabt hatte, würde er zu Hause sein.

Es dauerte eine Weile, aber dann meldete er sich. »Brendon, hier ist Pat«, sagte ich. »Hast du irgendetwas über Sa­

xophonspielerinnen herausfinden können?« »Ja, Pat. Ich habe auch schon versucht, dich anzurufen, aber du

warst weder zu Hause noch im Büro zu erreichen.« »Ich bin in einer Kneipe und weiß inzwischen, dass die Lady Helen

Cooper heißt und bei den Sweet Syncopators die Gießkanne quält. Aber erzähl du zuerst.«

Ich zündete mir eine Zigarette an und hörte Brendon zu. »He«, sagte er. »Genau das wollte ich dir auch erzählen. Chicago

hat keine eigene Damenkapelle, aber in den letzten Wochen sind hier zwei auswärtige Frauenbands aufgetreten, die Hot Eleven...«

»Von denen hat McMurphy auch erzählt«, fiel ich ihm ins Wort. »... und die Sweet Syncopators«, beendete er den Satz. »Die eine

Band ist aus New York, die andere aus Las Vegas. Zur Tatzeit waren nur die Sweet Syncopators in der Stadt. Ein Kollege aus der Lokalre­daktion hat sie sich angesehen und einen Konzertzettel mitgenommen, auf dem die Namen der Mitglieder standen. Die Saxophonistin und Managerin der Truppe heißt in der Tat Helen Cooper. Greg, das ist der Kollege, sagt, dass sich ihretwegen der Besuch lohnt, aber weniger der Musik wegen. Sie hat nur einen knappen Fummel an und bewegt sich

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beim Spielen ziemlich wild, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.«

»Ein anderer Musikkenner gebrauchte vorhin die einprägsamen Worte ›wackelnde Titten‹«, gab ich zum Besten. »Und er zitierte dabei keineswegs Shakespeare.«

»So ähnlich hat es Greg auch ausgedrückt. Er nannte die Cooper einen absolut...«

»Heißen Feger?«, wollte ich wissen. »Warum muss ich mir den Mund fusselig reden, wenn du schon

alles weißt?«, meinte Brendon beleidigt. »Aber diese Helen Cooper kann doch unmöglich die Frau sein, die du als Entlastungszeugin suchst, oder? Du hast etwas von Brille und Dutt erzählt. Greg sagt, sie braucht keine Brille, wohl aber lang herab fallendes Haar, damit die Polizei sie nicht wegen unzüchtiger Entblößung von der Bühne holt.«

»Es deutet aber alles darauf hin, dass es sich um ein und dieselbe Lady handelt. Aus irgendeinem Grund hat sie sich in der Nacht, als sie bei Murawski war, verkleidet.«

»Wenn Helen Cooper wirklich deine Lady mit dem Saxophonkoffer ist, hab' ich noch mehr für dich, Pat. Willst du es hören, oder weißt du selbst schon mehr als ich?«

»Ich weiß nur, dass sie mit ihrer Band nach Milwaukee abgereist und der Murawski-Killer ihr auf den Fersen ist.«

»Dann bin ich dir um Längen voraus«, triumphierte Brendon. »Es gab bei dem Auftritt im Lee Side Club einen Eklat auf offener Bühne. Die Cooper hat sich mit der Sängerin gefetzt, erst verbal und dann sind die beiden auf einander losgegangen. Das Publikum meinte erst, dass es zur Show gehörte, aber dann ist die Cooper mit ihrem Saxo­phon von der Bühne gegangen und nicht zurückgekehrt. Dass sie mit der Truppe nach Milwaukee gefahren ist, hält Greg für ausgeschlossen. Falls doch, spielt sie jedenfalls nicht mehr in der Band. Ich habe mit einem alten Kumpel telefoniert, der jetzt für den Milwaukee Star arbei­tet. Die Sweet Syncopators treten in Milwaukee auf, aber ohne Saxo­phon.«

Ich erinnerte mich daran, was Murawski notiert hatte: Helen Coo­per hatte ohnehin vor, die Band zu verlassen und in ihre Heimatstadt

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Chicago zurückzukehren. Ich konnte mir gut vorstellen, dass der defti­ge Streit dazu geführt hatte, dass sie den Entschluss sofort in die Tat umsetzte.

»Brendon, du hast mir mit diesen Informationen sehr geholfen. Erinnere mich daran, wenn wir uns mal wieder eine Nachtschicht gön­nen.«

»Worauf du dich verlassen kannst.« Ich hängte ein und hoffte, dass Hollyfield in der Zwischenzeit nicht

vergeblich versucht hatte, mich zu erreichen. Seine Auskunft war für mich immer noch wichtig. Ich kehrte zur Theke zurück und ließ mir einen neuen Whiskey einschenken. Während ich auf den Anruf des Captains wartete, trank und rauchte ich und dachte dabei nach. Wo steckte die Lady, wenn sie denn überhaupt noch lebte? In Milwaukee oder Chicago? Oder war sie nach Las Vegas zurückgekehrt? Dann würde ich kaum eine Chance haben, sie aufzuspüren. Ich hoffte auf Chicago, aber das warf neue Fragen auf. Hatte sie ein Hotelzimmer gemietet? Gab es Freunde von früher, bei denen sie untergekommen war? Vielleicht hatte sie Murawski gebeten, ihr eine Bleibe zu vermit­teln. Aber den konnte ich nicht mehr fragen.

Das Telefon in der hinteren Ecke des verrauchten Speakeasys klingelte und ich beeilte mich, an den Apparat zu gehen.

Es war Hollyfield. »Es gibt keinen Mordfall Cooper in Milwaukee«, erklärte er knapp.

Um ein Haar hätte ich dem Captain zum Dank für seine Mühe das Gleiche wie Brendon in Aussicht gestellt, aber ich konnte mich im rich­tigen Moment noch bremsen. Es wäre wirklich keine gute Idee gewe­sen. So beschränkte ich mich auf ein durch die Zähne gequetschtes »Danke, Captain« und fügte dann hinzu: »Ich werde gleich einen Milch-Shake auf Ihr Wohl trinken.«

»Den Milch-Shake kaufe ich Ihnen nicht ab, Connor«, knurrte Hol­lyfield und hängte ein.

*

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Ich brauchte eine zündende Idee und fuhr deshalb zu Dunky. Ich hatte kaum meinen Hut auf den Garderobenständer geworfen und an der Theke Platz genommen, als der Griesgram auch schon mit der Whis­keyflasche auftauchte und mir einschenkte. Diese Art von Service hat mir schon immer gefallen.

»Weitergekommen, Pat?«, fragte er. Ich wusste nicht, ob er sich wirklich an unser gestriges Gespräch

erinnerte. Ein »Weitergekommen?« passte bei mir eigentlich immer. Ich zündete mir eine Zigarette an, zuckte die Achseln und machte

auf Understatement. »Geht so.« »Also nicht wirklich weitergekommen«, stellte Dunky gnadenlos

fest, womit er im Grunde sogar Recht hatte. Ich hatte einiges heraus­gefunden, aber die Lady war immer noch unauffindbar.

»Du bist heute so gesprächig, Dunky«, wunderte ich mich. »Ist dir nicht gut?«

»Ich hätte da eventuell etwas für dich«, meinte der Glatzkopf. Ich wurde hellhörig, ließ mir dies aber nicht anmerken. Dunky wartete und ich wusste worauf. »In welche Richtung geht es?«, wollte ich wissen, tat gelangweilt

und trank einen Schluck Bourbon. Dunky breitete seinen Lockstoff aus. »Saxophonkoffer.« »Das ist mir zu vage.« »Es ist ein Saxophonkoffer aufgetaucht.« »So was soll vorkommen.« »Und Flitterkram.« »Was verstehst du unter Flitterkram?« »Weibliche Bühnenkleidung, die mehr zeigt, als sie verdeckt.« »In dem Koffer?« Dunky schüttelte den Kopf. »Zusammen mit dem Koffer.« Jetzt hatte mich der Lockstoff voll im Griff. »Wo ist das Ganze auf getaucht? Im Chicago River? Zusammen

mit einer Frauenleiche?« »Nein, in einer Pfandleihe.« Ich gab mich geschlagen und zückte einen Lincoln.

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»Die Zeiten sind schwer und alles wird teurer«, meinte Dunky traurig. Er machte keine Anstalten, den Fünf-Dollar-Schein zu nehmen.

Ich ersetzte den Lincoln durch einen Hamilton. Der fand Gnade vor Dunkys Augen.

»Also, ich will mehr darüber hören.« »Ich habe ein paar meiner Bekannten nach einer Frau mit einem

Saxophonkoffer gefragt. Die Frau hat niemand gesehen. Wohl aber den besagten Koffer und die Kleider. Die Sachen befinden sich in der Pfandleihe von Isaac Goldblum in der West Randolph, Ecke North Dearborn und sind erst vor ein paar Tagen hereingekommen.«

»Eine Pfandleihe in der Loop?«, wunderte ich mich. Dunky gestattete sich die Andeutung eines Grinsens, was bei ihm

selten vorkam und auf eine geradezu übermütige Stimmung hindeute­te. Wahrscheinlich hatten meine zehn Dollar einen entscheidenden Anteil an seiner fröhlichen Ausgelassenheit. »Denkst du vielleicht, Ge­schäftsleute gehen nicht zum Pfandleiher? Bei den vielen Pleiten in der Stadt muss eine Pfandleihe in der Loop eine Goldgrube sein.« Das zaghafte Grinsen erstarb und wich der vertrauten Leichenbittermiene. »Was man von meinem Lokal leider nicht sagen kann. Die Gäste trin­ken so wenig. Ich sollte auch eine Pfandleihe aufmachen.«

»Vielleicht wäre die Kombination aus Speakeasy und Pfandleihe reizvoll«, regte ich an. »Wer mehr Durst als Geld hat, könnte dann gleich an Ort und Stelle seine Armbanduhr verflüssigen.«

Dazu sagte Dunky nichts. Um ihn aufzumuntern, trank ich meinen Whiskey aus und bestellte noch einen. Aber er blieb bei seiner bitteren Miene. Wahrscheinlich war er der Meinung, dass seine Mundwinkel durch das halbe Grinsen genug beansprucht worden waren.

Mit dem zweiten Bourbon hielt ich mich nicht lange auf. Ich hatte kein Sitzfleisch mehr. Die Sache mit der Pfandleihe hörte sich einfach zu viel versprechend an.

*

Ich fuhr die North Clark hinab, bog links in die West Chicago ein und fuhr dann auf der North State in Richtung Loop. Nachdem ich den Wa­

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cker Drive und die West Lake passiert hatte, gab es plötzlich einen Stau und ich brauchte eine geschlagene Viertelstunde, um die fehlen­den hundertfünfzig Meter bis zur West Randolph zurückzulegen. Ich sah, dass mitten auf der Kreuzung ein Truck von Willoughby & Humble umgekippt war. Ein zweiter Truck der Firma war eingetrudelt und Ar­beiter luden die Kisten mit Fleischkonserven um, bevor es einem Kranwagen gelang, den verunglückten Truck wieder aufzurichten. Wahrscheinlich war verrutschte oder zu hoch verstaute Ladung schuld an dem Schlamassel. Derweil versuchte ein halbes Dutzend Polizisten, den Verkehr an den beiden Lastwagen vorbeizulenken, aber das ver­bliebene Nadelöhr konnte den Mittagsverkehr in der Loop einfach nicht schlucken.

Ich war heilfroh, als ich endlich in der West Randolph war. Kurz vor der North Dearborn fuhr ein Dodge aus einer Parklücke und ich nutzte die Gelegenheit, um meinen Plymouth einzuparken. Der Dodge hatte mir ein mulmiges Gefühl im Magen bereitet, obwohl der Kerl, der den Wagen fuhr, mit seinem Bowler eher wie ein Banker denn wie ein Gangster aussah. Wenn man bei diesen beiden Berufen einen Unter­schied sehen will.

Nachdem ich mir eine Zigarette angesteckt hatte, schlenderte ich zur Hochbahnbrücke an der Kreuzung und schaute mich um. Auf mei­ner Straßenseite befand sich ein pompöses achtstöckiges Gebäude, in dem die Illinois Building & Loan und Dutzende von kleineren Finanz­firmen untergebracht waren. Daneben gab es weitere Bürohäuser und allerlei Läden im Erdgeschoss, meistens Geschäfte der nobleren Ort: Hunter's, der die wohl teuersten Schuhe der Stadt verkaufte, den Kra­wattenladen Enquist sowie Kinski, der modernste Elektrogeräte wie Kühlschränke und Staubsauger anbot.

Also musste sich Goldblums Pfandleihe auf der anderen Seite der Straße befinden. Aber hinter den Bögen des Hochbahnviadukts ent­deckte ich ebenfalls nur Geschäftsgebäude und große Läden. Dann sah ich, dass die Bögen des Viadukts an einigen Stellen zugemauert wor­den waren und Platz für ein paar kleine Läden boten. Ich entdeckte die Buchhandlung Johnson und direkt daneben einen Laden, über dessen Eingang im Halbkreis angeordnete Großbuchstaben keinen Zweifel

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über die Art des Geschäfts ließen: PAWNSHOP. Die Pfandleihe befand sich genau gegenüber der riesigen gläsernen Drehtür, die ins Innere der Illinois Building & Loan führte. Mr. Goldblum musste sich dabei etwas gedacht haben. Vielleicht spekulierte er darauf, dass Leute, die bei der Building & Loan keinen Kredit bekamen, noch ein paar Wertsa­chen besaßen, die sie im Pawnshop versilbern konnten.

Ein Hochbahnzug ratterte ein Stück über mir mit ohrenbetäuben­dem Lärm vorbei, als ich die Tür des Pfandhauses auf stieß und hin­einmarschierte. Ich hatte einen mit allerlei Absurditäten voll gestellten Laden erwartet, aber ich wurde enttäuscht. Ich befand mich in einem winzigen Raum, der zur Hälfte von einem Tresen ausgefüllt wurde, hinter dem ein gut sechzig Jahre alter Mann mit gelber Bürojacke und Augenschirm im Schein einer Bankerlampe saß. Er machte mit einem Füllfederhalter Eintragungen in seinem Geschäftsbuch. Wäre hinter ihm die mit Uhren und Schmuck angefüllte Vitrine aus Panzerglas nicht gewesen, hätte man das Ganze auch für die Auszahlungsstelle eines Lohnbüros halten können. Allerdings führte eine Stahltür in ein Hinter­zimmer und ich nahm an, dass Goldblum dort den größeren Teil seiner Schätze aufbewahrte.

Der Mann sah auf und nickte mir knapp zu. »Womit kann ich Ih­nen dienen?«

Erbetrachtete mich aus seinen eng stehenden Augen und ich fühl­te mich taxiert.

»Was geben Sie für einen 38er Smith & Wesson?«, fragte ich lo­cker und streifte die Asche der Zigarette in dem Aschenbecher ab, der auf dem Tresen stand.

Der Mann versteifte sich und seine Hand bewegte sich den Tresen entlang. »Wenn das ein Überfall sein soll...«

»Keine Panik, Mister Goldblum«, beruhigte ich ihn, bevor er auf die Idee kommen konnte, einen Alarmknopf zu drücken, der vermut­lich unter dem Tresen angebracht war. »Ich bin zwar Besitzer der er­wähnten Knarre, aber ich setze sie als Privatdetektiv nur beruflich ge­gen böse Buben ein. Und behalten will ich sie auch. Es sollte nur ein Scherz sein.«

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Goldblum entspannte sich und er kam näher. Ich stellte erst jetzt fest, dass er überhaupt nicht gesessen hatte, sondern eine Art Zwerg mit einer ziemlich langen und ziemlich krummen Nase war.

»Welche Art von Wertsachen gedenken Sie dann als Sicherheit für einen Kredit einzusetzen?«, wollte er wissen. Er hatte die Stimme an­gehoben, als über uns ein Hochbahnzug hinweg bretterte, aber ich hatte trotzdem Mühe, ihn zu verstehen.

»Mein ehrliches Gesicht genügt Ihnen nicht?« Goldblum lächelte verbindlich. »Mir persönlich würde es völlig aus­

reichen, aber ich habe einen Partner, der das anders sieht. Außerdem müssen wir die Gesetze beachten. Wir sind keine Bank, sondern eine Pfandleihe und dürfen nur Geld für Dinge geben, die wir in Verwah­rung nehmen. Von Ihrem Gesicht werden Sie sich kaum trennen wol­len, nicht wahr? Und es wäre für den Fall, dass Sie es nicht einlösen, auch schwer zu verkaufen.«

Ich musste zugeben, dass der alte Bursche einen gewissen Sinn für Humor besaß.

»Na schön«, sagte ich und kam zur Sache. »Ich möchte auch nur eine Auskunft von Ihnen. Ich wurde informiert, dass jemand bei Ihnen einen Saxophonkoffer und weibliche Bühnenkleidung verpfändet hat.«

Der Zwerg machte eine Handbewegung, die den kleinen Raum umfasste. »Sehen Sie, wie eng es hier ist? Und das Hinterzimmer ist kaum größer. Sperrige Gegenstände kann ich nicht annehmen.«

»Dann hat man mich falsch informiert.« Ich war fest entschlossen, den Hamilton von Dunky zurückzufor­

dern und wandte mich zum Gehen. »So warten Sie doch, Mister«, rief Goldblum. »Dass ich die er­

wähnten Gegenstände nicht angenommen habe, heißt ja nicht, dass sie mir nicht angeboten wurden.«

Ich drehte mich wieder um. »Von wem?« »Von einer jungen Dame.« »Wie sah sie aus? Brille, Dutt, etwas altmodisch wirkende Klei­

dung?«

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»Keineswegs. Die junge Dame hatte keine Brille, war schlank und ziemlich hübsch, besaß langes, glattes, dunkles Haar und trug ein ein­faches, aber durchaus modisches Jackenkleid.«

»Würden Sie sie für eine Künstlerin halten, die in einem Nachtlokal auftritt?«

»Keineswegs, sie wirkte frisch und natürlich.« »Hat sie einen Namen genannt?« »Nein, dazu kam es nicht, denn ich musste sie wie gesagt abwei­

sen.« Wenn es sich wirklich um Helen Cooper gehandelt hatte, musste

die Lady eine Verwandlungskünstlerin sein. Vielleicht hatte Murawski deshalb notiert, dass sie besser in einem Variete aufgehoben wäre. Mir war nur ein Rätsel, wie Dunkys Informant behaupten konnte, sie habe den Koffer und die Kleidung bei Goldblum versetzt.

»Waren andere Kunden im Laden, als sie Ihnen die Sachen an­bot?«

»Nein«, gab Goldblum zur Antwort, »das heißt...« Er dachte nach. »Ein Kunde verließ gerade die Pfandleihe. Möglich, dass er noch mitbe­kommen hat, dass sie mir die Sachen anbot.«

Die Lady mit dem Saxophonkoffer war und blieb ein Phantom. Wann immer ich glaubte, sie am Schlafittchen zu haben, löste sie sich in Luft auf.

»Gibt es andere Pfandleihen in der Nähe?«, erkundigte ich mich. »Mehrere. Davidson zum Beispiel, dann Olshovski und Kidd, alle in

der Loop - aber ich würde Ihnen nicht empfehlen, sie aufzusuchen.« »Haben die Burschen bissige Hunde, die auf das Vertreiben von

Privatdetektiven abgerichtet sind?« »Das weiß ich nicht. Aber wenn Sie den Namen der jungen Frau

herausfinden wollen, sollten Sie sich an die Pfandleihe Levison in der West Kinzle, 472 wenden. Dorthin habe ich sie nämlich geschickt und ihr versprochen, dass Levison ihr die gewünschten dreißig Dollar zahlt.« Als er meinen fragenden Blick sah, fügte er hinzu: »Levison ist mein Partner. Die junge Frau ist übrigens tatsächlich bei ihm erschie­nen und hat die Sachen dort versetzt.«

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Ich knirschte mit den Zähnen. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Mister Goldblum?«

Der Pfandleiher zuckte die Achseln. »Weil...« Er wartete ab, bis ein weiterer ratternder und polternder Hochbahnzug den Laden pas­siert hatte. »Weil es sich mit Ihnen so angenehm plaudern ließ. Was ist nun mit Ihrem Smith & Wessen? Wollen Sie sich die Sache nicht noch einmal überlegen? Ich mache Ihnen auch einen wirklich guten Preis.«

Ich hatte die Türklinke schon in der Hand. »Ich komme darauf zu­rück, sobald ich mir eine Tommy-Gun zugelegt habe.«

*

Die Fahrt zur West Kinzle vollzog sich ohne umgekippte Trucks und andere Hindernisse. Das Pfandhaus Levison entsprach schon eher meinen ursprünglichen Erwartungen an derartige Etablissements. Hier stapelte sich auf Dutzenden von Regalen Plunder aller Art bis zur De­cke. Levison war in Goldblums Alter, aber normal gewachsen. Er trug einen Kneifer und einen dichten grauen Bart, der so lang war, dass man nicht erkennen konnte, ob er sich darunter eine Krawatte umge­bunden hatte oder nicht. Ich bezweifelte es und mir wäre auch kein passender Schlips zu dem fadenscheinigen und ausgebeulten großka­rierten Anzug eingefallen, den der Kerl spazieren führte. Auf den Klei­derstangen in seiner Pfandleihe hingen weitaus bessere Zwirne.

Immerhin erwies sich der Mann als umgänglich und ich musste nicht viel erklären, weil Goldblum ihn schon angerufen hatte. Ohne große Umstände zu machen, kramte er einen Pfandschein aus seinem Sekretär und wedelte damit herum.

»Dreißig Dollar«, seufzte er. »Ich glaube nicht, dass die Sachen das wert sind. Isaac muss nicht bei Trost gewesen sein, als er ihr diese Summe versprach. Dabei ist er sonst viel geiziger als ich. Ich kann nur hoffen, dass sie wieder eingelöst werden.«

Ich tröstete ihn. »Ich denke, Miss Cooper wird sie bald benötigen, wenn sie wieder Arbeit hat.«

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»Miss Cooper? Hier steht ein anderer Name.« Er rückte den Knei­fer gerade. »Mabel Ellison.«

Ich nahm es zur Kenntnis, ohne mir etwas anmerken zu lassen. »Ja, natürlich. Helen Cooper ist ihr Bühnenname. Hat sie das Saxo­phon auch versetzt?«

»Ich wollte, es wäre so. Dann müsste ich um das Geld nicht zit­tern. Nein, es war nur der leere Koffer.« Er zeigte zu einem der Rega­le.

Ich schaute hin und erblickte zum ersten Mal dieses schwarze, ab­geschabte Ding, das sich meinen Blicken so lange entzogen hatte. Wenn es denn das bewusste Ding und nicht irgendein anderer Saxo­phonkoffer war.

»Und die Kleider«, ergänzte er und deutete auf eine der Kleider­stangen.

Was da hing, glitzerte und war knapp. Äußerst knapp. Meine Fan­tasie kam auf Touren. Ich bedauerte, dass ich die Kleider ohne Inhalt betrachten musste, denn sie waren wirklich wenig geeignet, einen etwaigen Inhalt zu verstecken. Wenn sie Helen Cooper gehörten, musste die Lady tatsächlich ein heißer Feger sein. Murawski mochte als Dichter vielleicht kein Shakespeare gewesen sein, aber offenbar hatte er sich darauf verstanden, die Dinge auf den Punkt zu bringen.

Levison ließ sich meine Zulassung als Detektiv zeigen und rückte dann die Adresse von Mabel Ellison heraus: West Ohio, 412. Das war ganz in der Nähe.

»Warum ist sie nicht gleich zu Ihnen gekommen?«, wollte ich wis­sen.

»Das habe ich sie auch gefragt. Sie sagte, das Pfandhaus Gold­blum sei das Einzige gewesen, das sie kannte. Es ist ihr früher einmal aufgefallen, als sie noch in der Loop gearbeitet hat.«

Das würde zu Helen Cooper passen, die nach längerer Abwesen­heit wieder in Chicago war, den Job geschmissen hatte, dringend Geld brauchte und zu diesem Zweck alte Erinnerungen aktivierte.

Ich verließ das Pfandhaus, fuhr die North Ashland hoch und bog drei Querstraßen weiter in die West Ohio ab. Ich war keineswegs ü­berzeugt davon, dass es im Haus Nr. 412 eine Mabel Ellison geben

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würde. Der Name konnte frei erfunden sein und das Gleiche galt für die Adresse. Die Lady ahnte wohl kaum, dass sie sowohl von zwei Pri­vatdetektiven als auch von einem Killer gesucht wurde. Aber wenn sie wirklich die Schießerei im Shipping District miterlebt hatte, musste sie Gründe haben, sich nicht als Zeugin bei der Polizei zu melden. Die Fra­ge war nur, ob sie sich darauf beschränkt hatte abzutauchen, um sich keinen Ärger aufzuladen, oder bewusst ihre Spuren verwischte. Wenn Letzteres zutraf, würde ich in der Nummer 412 vergeblich nach einer Miss Ellison oder Miss Cooper fahnden.

Ich entschloss mich, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern mich einfach von den Fakten überzeugen zu lassen. Das änderte nichts an meinem Hunger. Als ich ein Diner entdeckte, stieg ich aus und gönnte mir einen heißen Kaffee und einen Hotdog, dem ich zumindest zubilligte, dass er vor einer halben Stunde mal heiß gewesen war.

Ich ging zum Telefon und ließ mich mit meinem Büro verbinden. »Pat Connor, private Ermittlungen«, kam es aus der Hörmuschel.

»Betty Meyer am Apparat.« »Hier ist Pat. Gibt es was Neues?« »Wo stecken Sie denn die ganze Zeit, Pat?«, klang es vorwurfs­

voll. »Ich wette, Sie rufen aus irgendeiner Kneipe an. Unsereiner ar­beitet sich an der Remington die Finger wund, während der Chef sich einen hinter die Binde kippt.«

Ich hatte heute keine Lust auf Geplänkel und sagte nur: »Das Ers­te möchte ich gern erleben und das Zweite widerfährt mir höchst sel­ten. Tatsächlich habe ich schon so lange keinen Whiskey mehr getrun­ken, dass ich mich kaum noch an den Geschmack erinnern kann.«

»Haben Sie die fünfhundert Mäuse schon im Sack?«, wollte Betty wissen.

»Nein, aber ich arbeite mich auf das Mäuseloch zu.« »Setzen Sie sich unbedingt mit diesem McMurphy in Verbindung.

Er ruft hier alle zehn Minuten an. Er faselt davon, dass Ihnen ein iri­scher Killer auf den Fersen ist.«

»McMurphy ist nicht auf dem Laufenden«, erklärte ich. »Rufen Sie ihn trotzdem an, Pat.«

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Sie hängte ein, was mich kränkte, weil ich es für ein Vorrecht des Chefs hielt, Gespräche zu beenden. Ich nahm mir vor, mit Betty gele­gentlich einen Kursus über Rechte und Pflichten von Angestellten zu veranstalten.

Ich zündete mir eine Zigarette an und fragte die Kellnerin, ob sich die Spezialität des Hauses auf kalte Würstchen beschränkte oder ob es auch kalten Kaffee gab. Sie machte Punkte bei mir gut, als sie mir eine Kaffeetasse brachte, deren Inhalt nicht unbedingt etwas mit Brasilien zu tun hatte.

Dann widmete ich mich wieder dem Telefon und nannte der Ver­mittlung die Nummer von McMurphys Anwaltskanzlei. Ich hatte zuerst die immer noch schniefende Angestellte an der Strippe, wurde aber ohne langes Theater zu dem Anwalt durchgestellt.

»Wo steckst du denn die ganze Zeit, Pat?«, begrüßte er mich. Allmählich ging mir das auf den Geist. »Was hältst du davon,

wenn du das Ganze vertonen lässt und im Duett mit Betty singst, am besten mit Saxophonbegleitung?«, fragte ich zurück.

Das gab ihm zu denken. »Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich will dich nur warnen, Pat. Ich habe durch einen Zufall erfahren, dass Mel­calve einen Killer auf dich angesetzt hat, weil er spitzgekriegt hat, dass du für mich und damit für Paresi arbeitest.«

»Schnee von gestern«, bürstete ich ihn ab. Dass die rechte Hand von O'Malley den Killer beauftragt hatte, war mir neu, aber dass er im Sold der irischen Gangster stand, hatte ich mir schon zusammenge­reimt. »Wenn Melcalve nur solche Luschen hat, soll er sie am besten gleich im Zehnerpack vorbeischicken.«

»Bist du in der Sache vorangekommen, Pat?« Ich entschied mich, ein bisschen auf den Putz zu hauen. »Hol

schon mal die fünf Franklins von der Bank, Will. Ich habe die Adresse der Lady und werde sie gleich besuchen.«

»Grandios, Pat, wirklich grandios!«, schrie McMurphy mir begeis­tert ins Ohr. »Ich wusste doch, dass auf dich Verlass ist! Gib mir die Adresse.«

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Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich versuchte mich herauszure­den. »Ich halte nichts davon, Zwischenergebnisse abzuliefern. Ich will erst selbst mit der Lady reden.«

»Du musst mir unbedingt die Adresse geben, Pat!«, beschwor mich er mich. »Du weißt doch, wie wichtig das für Paresi und mich ist! Wenn dir etwas zustößt, was Gott verhüten möge, wäre all deine Ar­beit umsonst gewesen.«

Aus der Kiste kam ich nicht mehr heraus. Ich nannte ihm den Na­men der Lady und ihre Adresse.

»Hervorragend!«, freute sich McMurphy. »Hör zu, Pat, lass mich mit ihr reden. Ab jetzt ist das mein Job. Wenn es wirklich die Entlas­tungszeugin ist, wie du gesagt hast, kriegst du dein Geld, das verspre­che ich dir! Du kannst inzwischen was für die Spesenrechnung tun. Lass dich auf meine Kosten irgendwo voll laufen.«

Er hängte ein. Ich dachte gar nicht daran, McMurphys Ratschlag zu befolgen. Wenn die Lady eine falsche Spur gelegt hatte, wollte ich es sein, der das herausfand und es irgendwie wieder ausbügelte. Das war die berufliche Seite. Vor allem wollte ich jedoch endlich die Lady in natura besichtigen, die mit Brille, Dutt und Saxophonkoffer durch den Hafen geisterte, als heißer Feger auf der Bühne die Männer verrückt machte und als goldige Unschuld im Jackenkleidchen sogar den geizi­gen Mr. Goldblum so sehr becirct hatte, dass er ihr dreißig Dollar für ihren Plunder versprach.

Ich trank den kalten Kaffee aus, zahlte und verließ das Diner.

*

Die Nummer 412 erwies sich als verwitterter dreistöckiger Backstein­bau mit verschnörkelten Fenstergiebeln im Zuckerbäckerstil in einer Kette von ähnlich aussehenden Häusern.

Ich rechnete mit gar nichts, als ich den schmalen, zertrampelten Vorgarten durchquerte, die Haustür öffnete und mich der linken Par­terrewohnung zuwandte.

Das Türschild trug den Namen Ellison.

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Ich klingelte. Flinke Schritte näherten sich. Eine helle Stimme er­klang und die Tür wurde schwungvoll aufgerissen.

»Ma-?« Die Stimme brach ab. Eine junge Lady mit lang herab fallendem

dunkelbraunem Haar schaute mich mit großen, runden, ebenfalls braunen Augen an. Sie trug eine eng anliegende, reizvoll gefüllte Bluse aus beigefarbenem Samt, einen weiten braunen Baumwollrock, weiße Söckchen und flache, ebenfalls weiße Riemenschuhe.

Die Überraschung wich einem deutlichen Unwillen. »Wer sind Sie?«, fragte sie misstrauisch. »Pat Connor«, stellte ich mich vor. »Und wer sind Sie?« Eine Spur Hochmut, gepaart mit Trotz, mischte sich in ihren Blick.

»Geht Sie das etwas an, Mister?« Ich zuckte die Schultern. »Wie man es nimmt. Ich habe die Agen­

tur von Zach Murawski übernommen und suche händeringend eine Saxophonspielerin. Mir wurde gesagt, dass hier eine Helen Cooper wohnt, die früher bei den Sweet Syncopators gespielt hat.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«, forschte die Lady. »Irgendein Typ, der mit Zach zusammengearbeitet hat. Ich habe

den Namen vergessen.« Ich sah ihrem hübschen Gesicht an, dass es hinter der makellos

glatten Stirn arbeitete. Wahrscheinlich überlegte sie, ob es diesen Typ geben konnte und wenn ja, ob er etwas über ihren derzeitigen Aufent­halt wissen konnte. Ich nahm an, dass das Ergebnis negativ ausfiel. Aber eine Frau, die Sachen zusammenklauben musste, um in einem Pfandhaus dreißig Dollar zu bekommen, konnte an einem Jobangebot nicht gänzlich uninteressiert sein. Wenn sie denn eine Saxophonspiele­rin war.

Sie entschied sich für einen Mittelweg. »Ich bin Mabel Ellison und nicht Helen Cooper«, sagte sie. »Aber man hat Sie nicht gänzlich falsch informiert. Ich kenne Helen Cooper flüchtig, weiß allerdings nicht, wo sie wohnt. Soll ich ihr etwas ausrichten, falls sie mir rein zu­fällig einmal über den Weg läuft?«

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Sie mochte eine Menge Talente haben, aber als Schauspielerin war sie mäßig. Ich sah ihr an der Nasenspitze an, dass es sich um eine faustdicke Lüge handelte.

»Dann haben Sie wohl auch rein zufällig Helens Saxophonkoffer und ihre Flitterkleider im Pfandhaus Levison versetzt, Mabel?«, fragte ich freundlich.

Ihre Augen weiteten sich erneut und sie versuchte, blitzschnell die Tür zuzuschlagen. Aber damit hatte ich gerechnet. Ich stemmte mich dagegen und schob einen Fuß in den Türspalt.

»Hören Sie, Helen«, sagte ich. »Ich kann Ihre Vorsicht gut verste­hen, aber Sie können die Maskerade aufgeben. Ich bin Privatdetektiv. Geben Sie mir fünf Minuten, um mein Anliegen vorzubringen.«

»Verschwinden Sie«, zischte sie, »oder ich schreie um Hilfe!« Ich drückte nicht mehr gegen die Tür, ließ aber den Fuß im Tür­

spalt. »Ich werde gehen, wenn Sie es wünschen, Schätzchen. Aber denken Sie nach. Wenn ich Sie aufspüren konnte, dann können es auch andere. Ich bin Ihr Freund, aber es gibt auch andere, die an Ih­nen interessiert sind. Ich weiß, dass ein Killer auf Sie angesetzt wur­de.«

Der Druck auf die Tür und damit meinen Fuß ließ nach. Ich spürte, wie sie sich versteifte. Nach einer Weile flüsterte sie: »Wer sagt mir, dass Sie nicht dieser Killer sind?«

»Sehe ich wie ein Killer aus?« Ich griff in die Jackentasche und schob meine Zulassung als Privatdetektiv durch den Türspalt.

Sie warf einen flüchtigen Blick darauf. Ihr Widerstand erlosch. Sie öffnete die Tür und trat einen Schritt zurück. »Kommen Sie rein.«

Als ich sie passierte, stieg mir der frische Duft von Maiglöckchen­parfüm in die Nase. Mein rechter Ellbogen streifte unbeabsichtigt ihre Samtbluse an der Stelle, die am weitesten hervorragte. Mir war das nicht unangenehm.

Die junge Lady führte mich in einen sparsam möblierten Raum, in dem sich ein Bett, ein Stuhl, ein kleiner Tisch, ein Regal und ein Klei­derschrank befanden. Auf dem Kleiderschrank lag ein Koffer aus rissi­ger brauner Presspappe mit schwarzen Metallecken. Im Regal entdeck­te ich ein Saxophon.

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Sie hatte meinen Blick bemerkt und ihr schien klar zu sein, dass Leugnen keinen Zweck mehr hatte. »Ja, es stimmt, ich bin Helen Coo­per«, sagte sie. »Mabel Ellison ist eine Schulfreundin von mir, die mich vorübergehend aufgenommen hat. Ich habe ihren Namen benutzt, als ich die Sachen versetzte.«

Sie nötigte mich, auf dem Bett Platz zu nehmen, zog den Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber. Die Beine hielt sie sittsam ge­schlossen und der Rock saß korrekt.

»Sie hätten es mir schwerer gemacht, wenn Sie einen Fantasiena­men und eine Fantasieadresse angegeben hätten«, meinte ich und steckte mir eine Zigarette an.

Sie nahm einen Aschenbecher vom Tisch und reichte ihn mir. Ich deponierte ihn auf dem Bett.

»Ich wusste überhaupt nicht, dass man einen Namen angeben muss«, sagte Helen. »Die Frage des Pfandleihers kam für mich überra­schend und auf die Schnelle fiel mir nichts Besseres ein.«

Ich nahm einen tiefen Zug von meiner Lucky und stieß den Rauch aus. »Ihnen ist also klar, dass Sie gesucht werden?«

Sie zuckte die Achseln. »Natürlich, es stand in der Zeitung.« »Und warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet?« »Ich will mit der Sache nichts zu tun haben.« Ich verzichtete darauf, sie daran zu erinnern, dass ohne ihre Aus­

sage ein Mann für zwei Morde verurteilt wurde, die er nicht begangen hatte. Das konnte McMurphy besorgen, wenn er eintraf. Schließlich gehörte es zum Handwerkszeug eines Rechtsverdrehers, flammende Plädoyers zu halten.

»Sie waren mit Brille und Dutt im Shipping District unterwegs, He­len. Warum die Maskerade?«

Sie lächelte spitzbübisch und dieses Lächeln gefiel mir. »Wenn Sie so viel über mich wissen, Mister Connor...«

»Pat«, unterbrach ich sie. »... Pat, dann ist Ihnen vielleicht auch bekannt, dass ich auf der

Bühne ziemlich aus mir herausgehe...« »Murawski notierte auf seiner Karteikarte, Sie seien ein ›heißer

Feger‹.«

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Sie nahm es gelassen auf. »Wenn Sie mich deshalb für ein Flitt­chen halten, schätzen Sie mich falsch ein, Pat. Aber es war manchmal nötig, lästige Verehrer abzuwimmeln. Irgendwann kam ich auf die I­dee, die Helen Cooper, die auf der Bühne eine heiße Show abzog, klar von der Helen Cooper zu trennen, die in Ruhe gelassen werden wollte. Da genügte es nicht, mich einfach nur abzuschminken. Aber mit Dutt und Brille hat mich jeder übersehen.«

»Und so gingen Sie auch zu Murawski?« »Er kannte mich auch anders. Er holte mich am Abend vor dem

Auftritt im Lee Side Club im Hotel ab. Er hatte Pläne, mich im Variete unterzubringen und ich sollte mit ihm in seinem Büro einen musikali­schen Sketch einüben: Ich auf dem Saxophon, er am Klavier. Das klappte auch ganz gut, aber dann wollte er mir an die Wäsche gehen. Ich habe ihm eine gescheuert und bin gegangen.«

Ich streifte die Zigarettenasche ab. »Sie mögen es nicht, wenn man Ihnen an die Wäsche geht?«

Sie bedachte mich mit einem irritierenden Blick. »Das kommt ganz darauf an, wer es tut. Murawski war eigentlich ein netter Kerl, aber als Mann kam er für mich nicht in Frage.«

Ich hatte einige Mühe, mich auf die beruflichen Erfordernisse zu konzentrieren. »Und dann wurden Sie Zeugin der Schießerei.«

Helen nickte. »Und Sie können den Täter eindeutig identifizieren?« »Allerdings.« Ich hörte draußen einen schweren Wagen vorfahren und drückte

die Zigarette aus. »Hören Sie, Schätzchen. Ich hatte nur den Auftrag, Sie zu finden und sollte eigentlich gar nicht hier sein. Paresis Anwalt kommt gleich vorbei und versucht Sie zu überzeugen, eine Aussage zu Protokoll zu geben. Tun Sie mir den Gefallen und hören sich an, was er zu sagen hat. Ich denke, es wird nicht Ihr Schaden sein.«

Sie sah mich entgeistert an. »Sagten Sie gerade: Paresis Anwalt?« »Ja, das ist mein Auftraggeber. Ich musste ihm Ihre Adresse ge­

ben.« »Sie verdammter Mistkerl haben mich hereingelegt!«, schrie sie

mich an und im nächsten Moment fing ich mir eine Ohrfeige ein.

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Ich hielt ihre Hände fest, bevor sie noch einmal zuschlagen konn­te. »He, Schätzchen, ich hab' doch noch gar nicht angefangen, Ihnen an die Wäsche zu gehen.«

Ihre Augen sprühten vor Wut. »Wissen Sie Idiot eigentlich, was Sie da angerichtet haben? Dieser Anwalt will bestimmt keine Aussage von mir, wenn er noch bei klarem Verstand ist! Paresi war der Mör­der!«

Ich muss zugeben, dass diese Information für mich ein wenig ü­berraschend kam. Aber wenn es darauf ankommt, funktionieren meine Organe ganz gut. Auch das Gehirn. Ich musste nicht lange überlegen, was sich aus der neuen Erkenntnis ergab.

Ich ließ Helens Hände los, zog den Revolver, ging zum Fenster und spähte durch die Gardine.

»Was...«, begann Helen. »Pscht!«, machte ich. Der Wagen, der gerade vorgefahren war und direkt hinter meinem

Plymouth parkte, war nicht McMurphys Marmon und auch nicht der Dodge des Killers, der auf mich geschossen hatte. Es handelte sich vielmehr um eine Packard-Limousine und die beiden Figuren, die gera­de ausgestiegen waren und die Hausfassade musterten, sahen nicht gerade wie barmherzige Samariter aus. Ich sah grobe Gesichter unter tief herabgezogenen Hüten und bemerkte die an den rechten Achsel­höhlen deutlich ausgebeulten Jacketts. Ich musste die Haarpomade nicht riechen, um zu wissen, dass die beiden Kerle Italiener waren.

Sie schienen genug geguckt zu haben und bewegten sich jetzt auf die Haustür zu.

»Giovanni-Gorillas«, fluchte ich leise und wandte mich vom Fens­ter ab. »Hat die Wohnung einen Hinterausgang?«

»Nein, aber das Haus hat einen.« »Gibt es hier ein Telefon?« »Nein.« »Verdammt!« Es klingelte an der Tür. Helen erstarrte. Nur Ihre Samtbluse hob und senkte sich in ra­

scher Folge und das sich abzeichnende Volumen ließ mich ahnen, was

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die Männer verrückt machte, wenn Helen in luftigerer Kleidung auf der Bühne ihre Atemübungen absolvierte.

Es klingelte wieder. »Mabel kann jeden Moment vom Einkaufen zurückkehren«, flüs­

terte Helen. »Wenn die Gangster...« Sie brach ab. Mir war klar, dass wir die Situation nicht einfach aussitzen konn­

ten. Wenn die Gorillas Mabel erwischten, würden sie sie zwingen, die Tür zu öffnen. Wenn nicht, würden sie die Tür aufbrechen.

Kurz entschlossen kehrte ich zum Fenster zurück und schlug mit dem Kolben des Revolvers ein Loch in die Scheibe. Dann feuerte ich dreimal auf den Packard und versuchte, die Reifen zu treffen. Beim Vorderreifen gelang mir das auch.

Die Gorillas hörten die Schüsse und taten genau das, was ich mir erhofft hatte: Sie stürmten auf die Straße und versuchten den ver­meintlichen Überfall abzuwehren.

Ich packte Helen mit der freien Hand, rannte mit ihr den Flur ent­lang und stieß die Wohnungstür auf. Der Hausflur lag verwaist da. Ich sicherte mit dem 38er zur Haustür hin. Helen riss die Kellertür auf und wir stürmten die Stufen hinab. Wenig später erreichten wir den Hinter­ausgang.

Draußen peitschten Schüsse. Ich ging davon aus, dass die Gorillas kapiert hatten, was passiert war und das Fenster von Helens Zimmer unter Feuer nahmen.

Ich steckte den Revolver ein, zog den Hut so tief ins Gesicht wie die Gorillas und legte den Arm um Helens Schulter. Sie spielte mit und schmiegte sich an mich, den Arm um meine Hüfte geschlungen. Wie ein Liebespaar schlenderten wir um das Haus herum.

Durch die Schüsse angelockte Gaffer standen in respektvoller Ent­fernung, guckten zu der zerschossenen Fensterscheibe und tuschelten miteinander. Die Gorillas hatten ihre Waffen eingesteckt und hasteten zu ihrem Wagen. Irgendwo war eine Polizeisirene zu hören. Mit plat­tem Vorderreifen setzte sich der Packard in Bewegung und fuhr rum­pelnd davon.

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Helen und ich stiegen in meinen Plymouth. Ich wendete und fädel­te mich in den Verkehr ein. Wenig später brauste auf der Gegenfahr­bahn ein Polizeiwagen vorbei, aber das interessierte uns nicht mehr.

*

Ich fuhr mit Helen in meine Wohnung. Obwohl McMurphy sich aus­rechnen konnte, dass ich ihm in die Suppe gespuckt hatte, würde er es nicht wagen, die Gorillas in die North Clark zu schicken. Winkeladvoka­ten wussten recht gut, wann das Spiel verloren war. Und es war verlo­ren. Ich ging davon aus, dass McMurphy rasch seine Koffer packen und aus Chicago verschwinden würde.

Helen hatte sich auf die Couch gesetzt und ich nahm im Sessel gegenüber Platz. Ich goss uns beiden Bourbon ein, zündete mir eine Lucky an und forderte sie auf, die ganze Geschichte zu erzählen.

»Als ich in jener bewussten Nacht Murawski verließ«, begann sie, »kam ich bei Sharkeys Firma vorbei und hörte aus einem offenen Fenster im ersten Stock Bruchstücke eines lautstarken Streits. Unwill­kürlich blieb ich stehen und lauschte. Ein Mann mit italienischem Ak­zent verlangte von einem anderen Mann einen größeren Anteil an ei­nem Geschäft. Wie ich später erfuhr, handelte es sich bei den beiden Männern um Paresi und Sharkey.«

»Was war das für eine Art von Geschäft?«, wollte ich wissen. »Das wurde nur angedeutet, aber es kann sich nur um Waffen­

schmuggel gehandelt haben. Jeder der beiden scheint seinen eigenen Abnehmerkreis bedient zu haben und Paresi drohte unter anderem damit, Sharkey die italienischen Gangster auf den Hals zu hetzen, wenn ihm nicht ein größeres Kontingent zugebilligt würde. Sharkey verhöhnte ihn nur und sagte, er solle sich mal besser vor The Jar in Acht nehmen.«

Ich nickte. »Ja, das würde passen.« »Jedenfalls fielen plötzlich kurz hintereinander drei Schüsse. Ich

war erschrocken und rannte weg, prallte dabei aber mit einem Mann zusammen, der gerade um die Ecke bog. In dem Moment stürmte Pa­

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resi aus der Spedition, sah uns, geriet wohl in Panik und schoss auf uns. Er traf den Mann tödlich.«

Helen trank einen Schluck Whiskey. Ich griff ebenfalls zu meinem Glas.

»Weiter«, brummte ich. »Ich war wie benommen - von dem Zusammenprall und allem,

was ich erlebt hatte. Ich weiß nicht, was Paresi mit mir gemacht hätte, aber ich kann mir gut vorstellen, dass er mich ebenfalls getötet hätte. Aber aus der Spedition kam ein weiterer Mann gerannt, der seinerseits auf Paresi schoss, ihn aber nicht traf.«

»Wer war das?«, wollte ich wissen. »Ich weiß es nicht, aber ich habe sein Gesicht gesehen, als er an mir vorbeikam. Er sah wie ein Gangster aus - ein irischer Gangster, würde ich sagen.«

Ich nickte. »Vielleicht Sharkeys Kontaktmann zu The Jar. Wahr­scheinlich war er im Nebenzimmer oder im Lager, als Paresi Sharkey niedergeschossen hat.« Ich dachte an den Kerl im Dodge, der so mise­rabel geschossen hatte. Vermutlich war es der gleiche Bursche.

»Sie sind dann geflüchtet?«, fragte ich. »Ja, aber mir war klar, dass ich untertauchen musste. Schließlich

war ich die Einzige, die sowohl Paresi als auch den anderen Killer über­führen konnte. Ich kündigte, trat aber aus Solidarität am nächsten Abend noch im Lee Side Club auf.«

»Wo es zum Streit mit der Sängerin kam?« »Das wissen Sie auch? Ja, Mary ist zugleich die Bandleaderin. Sie

war stinksauer und wollte sich abreagieren.« Den Rest konnte ich mir zusammenreimen. Dieser McMurphy hat­

te mich gründlich verladen. Er hatte mir ein Märchen aufgetischt, in dem alles verdreht war. Die Entlastungszeugin, die ich aufspüren soll­te, war in Wirklichkeit eine Belastungszeugin, der ein Sarg zugedacht war. Die irischen Gangster hatten mit Helen das Gleiche im Sinn ge­habt, denn ihre Aussage konnte auch ihren Mann belasten. Wahr­scheinlich war Spiro Miller von ihnen über einen ähnlichen Strohmann wie McMurphy mit einer erlogenen Geschichte auf den Fall angesetzt worden.

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Da wir beide unseren Whiskey ausgetrunken hatten, schenkte ich uns neu ein.

»Hat es sehr wehgetan, Pat?«, wollte sie mitleidig wissen. Ich wusste nicht, was sie meinte und machte ein ratloses Gesicht. »Komm mal her«, meinte sie. Ich setzte mich gehorsam zu ihr aufs Sofa. »Ich meine die Ohrfeige«, erklärte sie. »Es tut mir Leid. Aber ich

kann auch anders.« Sanft strich sie mir mit der Hand über die Wange. Das gefiel mir.

Ich stellte fest, dass der Whiskey die Lady etwas erhitzt hatte. Oder war es gar nicht der Whiskey? Ich erinnere mich vage, dass ich ihr einen Vorschlag zur Abkühlung unterbreitete, der irgendwo mit viel zu warmen Samtblusen und Baumwollröcken zu tun hatte. Er wurde ü­beraus positiv aufgenommen.

In der Folge erlebte ich eine hinreißende Privatvorstellung der Bühnenschau von Helen Cooper. Allerdings ganz ohne die Flitterkleid­chen, denn die hingen ja noch in der Pfandleihe.

*

Es wurde eine Session mit vielen Soli und Duetten, die sich bis weit in die Nacht hineinzog. Am nächsten Morgen überzeugte ich Helen da­von, mit mir zu Captain Hollyfield zu gehen.

Dank ihrer Aussage wurde Paresi überführt und auch der irische Killer konnte aufgrund ihrer Beschreibung verhaftet werden. McMurphy wurde gefasst, als er die kanadische Grenze passieren wollte. Von Captain Hollyfield erfuhr ich später, dass nach Helens Ermordung eine präparierte Zeugin aufgetaucht wäre, die Paresis Unschuld beschworen hätte. Und was den Mord an Murawski betraf, so ging er, wie ich be­reits vermutet hatte, auf das Konto des irischen Killers.

Alles hatte sich bestens geregelt. Nur die fünf Franklins waren lei­der an mir vorbeimarschiert. Aber erstens hat mich die Lady mit dem Saxophon dafür reichlich entschädigt und zweitens liegt mir Betty nicht mehr mit der Forderung nach einer Lohnerhöhung in den Ohren. Was ja auch etwas für sich hat.

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Ende

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