+ All Categories
Home > Documents > Rh Hr - dtv · n önnt lbn, r hättn übrhpt nht dlb Hrnft. l nht lr. h dr n, D nl. ht dh, Lt, t rf...

Rh Hr - dtv · n önnt lbn, r hättn übrhpt nht dlb Hrnft. l nht lr. h dr n, D nl. ht dh, Lt, t rf...

Date post: 16-Jun-2019
Category:
Upload: duongque
View: 214 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
20
dtv Reihe Hauser
Transcript

dtvReihe Hauser

Jurek, Ahiva und Jola leben in einem Kinderheim in Israel.Ihre Eltern werden nach Ende des Zweiten Weltkrieges im-mer noch vermißt. Jeden Tag aufs Neue hoffen sie auf Le-benszeichen von ihnen.Immer häufiger beherrschen Schreckensnachrichten denAlltag — immer mehr Kinder bekommen die Nachricht, daßihre Eltern in Konzentrationslagern ermordet wurden.Eine Geschichte über Jugendliche, die ohne Familie überle-ben müssen. Eine Geschichte über Freundschaft, Vergan-genheitsbewältigung und was es bedeutet, erwachsen zuwerden.

Gila Almagor zählt in Israel zu den bekanntesten Schau-spielerinnen und Schriftstellerinnen. Sie schreibt Bücher fürKinder und für Jugendliche. Ihr Jugendroman >Der Sommervon Ahiva< wurde mit der Autorin in der Hauptrolle ver-filmt und unter anderem mit dem >Silbernen Bären< derBerliner Filmfestspiele und dem >Preis für den besten aus-ländischen Film< in San Remo ausgezeichnet.

Gila Almagor

Auf dem Hügelunter

dem Maulbeerbaum

Aus dem Hebräischen vonMirjam Pressier

Deutscher Taschenbuch Verlag

Von Gila Almagorist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

Der Sommer von Ahiva (78099)

Ungekürzte Ausgabe

Oktober i9

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

München

O 1992 Sifriat l)an Haschan

(Am Oved Publishers Ltd., Tel Aviv)

'Titel der Originalausgabe:

>Etc ha'dumim tafus<

0 1994 der deutschsprachigen Ausgabe:

Carl Hanser Verlag München - Wien

Umschlagbild: O Quint Buchholz

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten

Druck und Bindung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei,Nüürdlingen

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423-62ot t-o

Für meine Lieben Jankele und Hagar

E s begann alles an einem Wintertag, nachmittags beimGruppentreffen, als Ariel, unser Betreuer, das Thema

»Wiedergutmachung« auf den Tisch brachte. »Sollte dieisraelische Regierung Wiedergutmachungsgelder von derdeutschen Regierung für die Verbrechen der Nazis anneh-men oder die Annahme verweigern?» So stellte er uns dasProblem vor.

Es war das erste Mal, daß bei uns über die Judenvernich-tung diskutiert wurde, bis dahin hatten wir nicht über dasgesprochen, was dort in Europa passiert war. Als wäre dieVergangenheit ausgelöscht, als hätte unsere Geschichte ersthier in Israel begonnen. Am Anfang war die Diskussion sach-lich. Die meisten waren der Meinung, daß es für Völkermordkeine Wiedergutmachung gebe und Geld keine Sühne fürBlut sei. Der Sturm, den das Thema in unseren Herzen ent-facht hatte, war nach außen nicht zu bemerken.

Aber etwas später, im Speisesaal, sagte Sarah B.: »Ichglaube nicht an den Blödsinn, den ich heute nachmittag inder Gruppe gehört habe. Ihr redet wie kleine Kinder. Schließ-lich haben wir keine Eltern, die für uns sorgen können undsich um uns kümmern. Es geht um Geld. Um die Zukunft.Um unsere Zukunft. Um meine Zukunft. Ich weiß, daß mirWiedergutmachung zusteht. Ich weiß, daß sie meine El-tern nicht mehr lebendig machen können, sie können mirnicht die Familie zurückgeben, die ich hatte, auch nicht die

Kindheit, die sie mir gestohlen haben — aber endlich hätteich etwas in der Hand.«

Daniel bekam einen Wutanfall und schrie: »Was für einMensch bist du nur? Wer redet denn von dir? Wir sprechenüber das Volk, über die israelische Regierung, und du bringstdie Diskussion nur auf dich.«

Und Se'ewik sagte: »Ist das vielleicht was Neues? Sie hältsich doch immer für eine Ausnahme. Was regst du dich auf?Schade um deine Worte und um deine Nerven, Daniel. Hördoch nur, wie sie >Meine Zukunft! Meine Familie!< sagt.Man könnte glauben, wir hätten überhaupt nicht dieselbeHerkunft.« Se'ewik ließ nicht locker. »Schau sie dir an, Da-niel. Schaut doch, Leute, was sie ißt!« rief er. »Schaut sieeuch an!«

Alle im Speisesaal blickten zu ihm hin und lachten, umsich von der Spannung zu befreien, die sie seit dem Beginnder Diskussion gepackt hatte. Noch immer ließ es Se'ewiknicht gutsein. »Schaut nur, was sie ißt. Mitten im Jahr ißt sieMazza ' ! Seit Pessach hat sie sich Mazzot aufgehoben, damitsie ihr um Gottes willen nicht ausgehen. Sie macht nämlicheine Diät. Sie ist anders als die dicken einfachen Mädchen inder Gruppe.«

Als er »die dicken einfachen Mädchen« sagte, waren ausallen Ecken Proteste zu hören. » Se'ewik, wirklich, hör auf,fang nicht auch noch mit Beleidigungen an. Du weißt genauwir haben richtig tolle Schönheiten in der Gruppe. « Andereriefen: »Weiter, weiter! « Und Se'ewik fuhr fort: »Wo war ichstehengeblieben? Ach ja, Fräulein Sarah B. ist anders. Sie istwas Besonderes.« Bei den Worten »was Besonderes« betonteer jede Silbe. Und wieder richteten sich die Blicke auf SarahB. Alle waren gespannt, wie sie darauf reagieren würde.

Mazza, pl. Mazzot: ungesäuertes Fladenbrot (ähnlich wie Knäckebrot),das am Pessachfest zur Erinnerung an den Auszug der Juden aus Ägypten ge-gessen wird.

Und dann sahen wir, wie ihr der Bissen ihrer sorgfältigaufgehobenen Mazza fast in der Kehle steckenblieb. Sie hu-stete, und Brösel fielen ihr aus dem Mund auf den Tisch, undsie sah schon gar nicht mehr so erwachsen aus. Sarah B. ver-suchte etwas zu sagen, doch ihre Stimme brach, ihr Gesichtwurde rot, und sie fuchtelte mit den Armen wie ein Ertrin-kender, der mit den Wellen kämpft. Naomi, ihre beste Freun-din, die neben ihr saß, gab ihr ein Glas Wasser, erst dannhörte sie auf zu husten. Sarah B. sagte mit heiserer Stimme:»Se'ewik, schau dich doch selbst an, schau doch, wie duaussiehst, der Neid springt dir förmlich aus den Augen.Du würdest alles darum geben, ein bißchen anders auszuse-hen. Du siehst schmuddelig aus, armselig. Wie ein Diaspora-Jude. Wenn du ein Mensch wärst, hätte ich dir vielleichtmeine Diät vorgeschlagen, aber du bist nur ein Waschlap-pen, Se'ewik, der kleine Sklave von Jurek. Das bist du immergewesen. «

Das war ein harter Schlag. Se'ewik war überrascht. Erwarf einen Blick zu Jurek hinüber, der die ganze Zeit ge-schwiegen hatte. »Hörst du, was sie sagt! « rief er Jurek zu.»Ich soll ein Waschlappen sein? Ein Diaspora-Jude?« Erwartete einen Moment, ob Jurek reagieren würde, dannsetzte er sich wieder und murmelte halblaut vor sich hin:»Man kann hier mit niemand reden, man kann hier mit nie-mand reden.»

Erst da stand Jurek auf und fauchte Sarah B. an: »LaßSe'ewik in Ruhe, verstanden?»

Es war ganz still, keiner sagte ein Wort. Es dauerte eineMinute, bis Jureks Stimme erneut zu hören war: »Ichmöchte gerne wissen, was das heißen soll: >Ich werde Geldhaben<, >Ich habe eine Zukunft<? Du hast genau dieselbeZukunft wie wir: erst kommt die Militärzeit, dann die land-wirtschaftliche Ausbildung und schließlich der Kibbuz, denwir gründen werden, das ist doch eine sichere Zukunft,

oder?« Sarah 13. schaute ihn an und sagte mit fester Stimme:»Jurek, du bringst mich zum Lachen. Glaubst du wirklich,daß ich mir meine Zukunft mit euch zusammen vorstelle?Mit dieser ganzen Gruppe? Sieben Jahre sind wir zusam-men, seit Ende des Krieges. Das reicht. Mir jedenfalls reichtes. Ich möchte morgens allein aufstehen und abends alleinschlafen gehen, in meinem eigenen Zimmer, nicht mit fünfanderen zusammen. Ich möchte in keiner Gruppe leben, ichmöchte nicht mein ganzes Leben lang mit allen zusammensein. Verstehst du das, Jurek? « Gespannt starrten wir Jurekan; wir wollten wissen, was er darauf antworten würde.

Jurek, der sonst um keine Antwort verlegen war, schwiegdiesmal. Er blickte Sarah B. durchdringend an. Seine schma-len Augen sahen plötzlich noch schmaler aus, und seinAdamsapfel bewegte sich, als wollte er sprechen, doch wirhörten kein Wort.

Sarah B. wußte genau, was sie in dieser Situation zu tunhatte. Sie hatte ein Publikum, und die Bühne gehörte ihr al-lein. «Du sagst nichts, Jurek? Hast du nichts zu sagen? Dubist nicht daran gewöhnt, daß jemand eine andere Meinunghat und sie dir ins Gesicht sagt, besonders wenn ich dieser Je-mand bin, nicht wahr?«

Die drückende Stille, die sich im Speisesaal ausbreitete, wur-de von Ariel unterbrochen, unserem Betreuer. »Leute«, sagteer, »ich verstehe die Aufregung, es war zu erwarten, daß wirhier verschiedene Meinungen hören würden. Das ganze Landbrodelt nicht umsonst seit Monaten wegen dieser Frage. Wirwerden das weiter diskutieren, aber um die Wahrheit zu sagen:Ich schätze die Aufrichtigkeit und den Mut von Sarah sehr.

Er sagte nicht »Sarah B. «, nur wir nannten sie so, um sievon Sarah Altman zu unterscheiden, die wir Saralef ' riefen.

Verbindung des Namens Sarah mit Alef, dem ersten Buchstaben des he-hriischen Alphabets.

I0

»Ich hoffe«, fügte Ariel noch hinzu, »daß ihr lernt, der Mei-nung des anderen zuzuhören und sie zu achten. « Wir moch-ten den anerkennenden Ton nicht, den wir heraushörten, alser über Sarah B. sprach. Jurek war der ungekrönte König un-serer Gruppe. Sarah B. hatte ihm eine Niederlage beige-bracht, und nun zeigte Ariel sogar noch Verständnis für sie.

Ariel hatte kaum zu Ende gesprochen, da stand Jurek aufund verließ den Speisesaal. Erst dachten wir, er würde gleichwiederkommen, doch dann sagte Se'ewik: »Das Ekel hatihm den Appetit verdorben. «

Während des Essens machte ich für Jurek Brote mit wei-ßem Käse, Oliven, Tomaten und Salatblättern und wickeltesie in meine Serviette ein. Bevor wir auseinandergingen, gabich die Brote Se'ewik. »Für Jurek.« Und Ajala, meine Freun-din, sagte: »Wann hörst du endlich auf, für die ganze Welt zusorgen? Soll seine Freundin ihm doch Essen bringen.«

Das alles geschah beim Abendessen.

Den ganzen nächsten Tag setzten wir die Diskussionen überdie Wiedergutmachungsfrage fort, und abends hatten sichdie Gemüter immer noch nicht beruhigt. Ich stand im Vor-raum des Speisesaals und wusch mir die Hände, als plötzlichJurek neben mir stand und sagte: »Sind sie schön sauber?Zeig mal. « Ich streckte folgsam die Hände aus und hätte ihnfast berührt. Er warf mir einen Papierball in die geöffnetenHände und sagte: »Für dich.«

»Danke«, sagte ich und ging zu meinem Tisch hinüber. Ju-rek, dachte ich. Für die Brote gestern hat er sich nicht be-dankt, aber einen Papierball gibt er mir. Und warum wurdemein Gesicht rot, wenn er neben mir stand? Ich hoffte, daßer meine Erregung nicht bemerkt hatte. Noch nie hatte er sodicht neben mir gestanden. Genau in diesem Moment tratSarah B. in den Speisesaal und setzte sich auf ihren festenPlatz an Jureks Tisch. Immer saßen sie nebeneinander. Sie

II

waren Freunde. Ein Paar. Das älteste und festeste Paar in un-serer Gruppe. Sie waren schon Jahre zusammen. Schon alssie mit der Jugendalijah' aus Polen hier ins Kinderdorf ge-kommen waren, waren sie Freunde gewesen. Ich war nachihnen gekommen, und ich hatte sie so kennengelernt, alsSarah B. von Jurek und Jurek von Sarah B.

Als sie sich neben ihn setzte, stand Jurek auf und setztesich, ohne ein Wort zu sagen, an den Nachbartisch, obwohldort kein Platz frei war. Die anderen rückten zusammen,und Jurek zwängte sich dazu. Im Speisesaal machte sich Ver-wirrung breit. Auch wenn sie gestritten hatten, war Jurek niean einen anderen Tisch gegangen. Wenn er Probleme hatte,stand er auf und verließ den Speisesaal, ohne gegessen zu ha-ben, wie am Abend zuvor. Wir waren neugierig, wie es wei-terging und wie Sarah B. reagieren würde. Jurek nahm sichmit der Gelassenheit, die für ihn typisch war, eine ScheibeBrot und begann zu essen, als wäre er allein im Speisesaal.

Und dann sagte Sarah B.: »Schaut ihn an! Seit gestern hater kein Wort mit mir gesprochen. Er geht mir aus dem Weg,weil ich eine andere Meinung habe, weil ich es gewagt habezu sagen, was ich denke.

Jurek aß weiter, als hätte er sie nicht gehört, und Sarah B.fuhr fort: »Das fällt dir schwer, was, Jurek? Daran bist dunicht gewöhnt. Du schluckst es nicht so leicht, daß ... « Siehatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da warenschon Stimmen zu hören: »Schlucken ... Was für ein Hebrä-isch, Sarah B. Alle Achtung!« Und Se'ewik sagte laut:» Schlucken! Auf zum Sprachunterricht bei Fräulein Sarah!

Sarah B. wurde lauter, sie übertönte die Einwürfe unddas verächtliche Lachen, die im Speisesaal zu hören waren.»Lacht doch, von mir aus! Sogar mein Hebräisch ist besserals eures. Wir werden schon sehen, wer zuletzt lacht.» Sie

Alijah (hebr. Hinaufsteigen): Einwanderung nach Israel.

I2

wollte ihre Rede an Jurek fortsetzen, doch Jurek stand auf,kam zu unserem Tisch und sagte zu mir: »Komm einenMoment. «

Überrascht sagte ich: »Wer, ich?»»Ja. Ich spreche doch mit dir, oder?«Ajala, meine beste Freundin, die neben mir saß, stieß mich

mit dem Knie an und sagte: »Na los! «Ich stand gehorsam auf, und in dem allgemeinen Lärm im

Speisesaal bekamen die anderen gar nicht richtig mit, daßwir zusammen hinausgingen. Oder vielleicht doch, nursagte keiner etwas. Neben der Reihe Waschbecken vor demEingang blieb er stehen und sagte: »Und, hast du ihn gele-sen?«

»Was soll ich gelesen haben? « fragte ich.» Den Brief. «»Was für einen Brief? Ich habe keinen Brief bekommen.«»Aber ich habe ihn dir doch gegeben, hier neben dem

Waschbecken. Ich habe dir den Brief gegeben. «»Hör doch auf, dich über mich lustig zu machen, Jurek «,

sagte ich. »Du hast mir einen Papierball in die Hand ge-drückt, keinen Brief.»

Er schaute mir direkt ins Gesicht und sagte: »Spinnst du!Ich hoffe, du hast ihn nicht weggeworfen. «

Verwirrt sagte ich: »Nein, hier ist er, in meiner Tasche.«Ich zog den Papierball aus der Hosentasche und streckte dieHand aus. Er packte meine Hand und sagte: »Lies!« In die-sem Moment erschien Se'ewik und fragte: »Was ist los? «

»Redet sie noch?» fragte Jurek zurück. »Ich kann ihreStimme nicht mehr ertragen. « Sie gingen zurück in den Spei-sesaal, und ich rannte zur Toilette. Ich schloß mich ein undglättete das Stück Papier im blassen Licht der nackten Birnean der weißen Kachelwand. Es war so zerknittert, daß ich Ju-reks Schrift nur mit Mühe entziffern konnte.

»Für Dich«, stand über dem Brief. Keine Anrede. Nur

13

»Für Dich«. Kein Name. «Es hat mir sehr gut gefallen, wasDu gestern bei der Diskussion über Wiedergutmachungs-zahlungen aus Deutschland gesagt hast. Es war genau das,was ich von einer Zabarit -' erwarte, die nie dort war. Über-haupt, ich höre Dir gerne zu. >Ich war nie dort, und ich habekein Recht, etwas zu sagen< — diesen Satz, den Du gesagthast, werde ich nicht vergessen. Auch Deine Stimme.Hier war etwas ausradiert, danach stand das Wort «gut«.Dann ging es weiter: »Ich glaube, wir haben viel, worüberwir miteinander reden können, wenn Du willst. Ich wartehinter der Küche auf Dich, nach dem Abendessen.« Und ineiner neuen Zeile das Wort »Nachschrift«, dann:

» 1. Ich bin fertig mit Sarah B., endgültig.z. Danke für die Brote gestern.3. Du darfst Dir nie Deinen Zopf abschneiden lassen. Er

ist sehr schön. «Unten auf dem Papier stand »Von mir«, dann eine unleser-

liche Unterschrift.Ich war vollkommen verblüfft. Immer wieder las ich den

Brief. Einen Moment dachte ich, er wolle mich vielleicht nurauf den Arm nehmen oder sich über mich lustig machen. Dashätte zu ihm gepaßt. Er machte seltsame Witze. Immer wie-der suchte er sich ein Opfer, über das er sich lustig machenkonnte. Aber warum mich? Warum jetzt?

Wie die meisten Mädchen in der Gruppe war auch ichheimlich in ihn verliebt. Obwohl wir alle nicht die geringsteChance hatten, er war schließlich Jurek von Sarah B. Viel-leicht hatte er nach dem Streit, dessen Zeuge wir gesterngewesen waren, wirklich beschlossen, mit ihr Schluß zumachen?

Ich ging zurück in den Speisesaal und warf unauffällig

Zabar, pl. Zabarim: eigentlich Kaktusfrucht. Hier: Zabar (auch Sabre);weibl. Form: Zabarit, pl. Zabariot:. in Israel geborene Jungen und Mädchenbzw. Männer und Frauen.

14

einen Blick zu ihm hinüber. Mir kam es vor, als würde er sichabwenden. Wieder kam meine Sicherheit ins Wanken, undich dachte, er habe sich nur einen Witz mit mir gemacht. Paßauf, er stellt dir nur eine Falle, sagte ich mir und beschloß,den Brief und alles, was davor war, zu ignorieren.

Ich hatte mich kaum an den Tisch gesetzt, da betrat Ka-chel, die Leiterin des Kinderdorfs, mit kleinen, energischenSchritten den Speisesaal. Sie erschrak wegen des Lärms undhob die Hand, um uns zur Ruhe zu bringen. »Freunde, wosind eure Manieren? Ihr habt wohl vergessen, daß ihr imSpeisesaal seid.

Ariel stand auf, ging zu ihr und sagte: »Entschuldige,Rachel. Hier gibt es eine Diskussion wegen der Wiedergut-machung aus Deutschland.»

Se'ewik schrie: »Es gibt keine Diskussion! Außer Sarah B.sind alle mehr oder weniger einer Meinung.»

Rachel sagte, Se'ewik solle nicht so brüllen, sie versteheihn auch, wenn er ruhig spreche, dann flüsterte sie Arieletwas zu, und sie verließen beide den Raum. Ajala nutztedie Gelegenheit und fragte mich: »Wohin warst du ver-schwunden?«

»Auf die Toilette. «Sie ließ nicht locker. »Nein, als du mit Jurek rausgegangen

bist. Was hat er gewollt?»Bevor ich antworten konnte, kamen Ariel und Rachel mit

einem jungen Mädchen zurück. Das war »die Neue«. Plötz-lich war sie da, mitten im Schuljahr, mitten beim Abendes-sen — das war ein schlechter Zeitpunkt. Es war nicht gut,mitten im Jahr in ein Kinderdorf zu kommen, noch dazu amAbend. Wer kam schon am Abend an?

Ariel rief uns zu: »Freunde, ich bitte um eure Aufmerk-samkeit!» Der Lärm ging weiter, und Ariel schrie: »Ruhe!»In der eintretenden Stille hörten wir alle seine warmeStimme: »Freunde, ich möchte euch eine neue Kameradin

15

vorstellen, die in unsere Gruppe kommt. Hier ist sie, Mi-riam.

Sie unterbrach ihn und sagte: » Mira.Ariel fragte erstaunt: »Was sagst du?«» Mira «, sagte sie. » Ich heiße Mira. «Für einen Moment herrschte Verwirrung, dann fuhr Ariel

fort: »Entschuldige, es tut mir leid. Also: Das ist Mira. « Erwarf ihr einen Blick zu, als bitte er sie für etwas um Erlaub-nis, dann fügte er hinzu: »Ich hoffe, ihr werdet ihr helfen,sich einzugewöhnen und sich bei uns wohl zu fühlen.« Erschaute prüfend von Tisch zu Tisch, und schließlich bliebsein Blick an unserem hängen. »Mira«, sagte er, »heuteabend setzt du dich an den vegetarischen Tisch, morgen su-chen wir dir dann einen anderen Platz. Oder bist du zufälligVegetarierin?« Sie schüttelte den Kopf, und Ariel führte siezu uns.

Wir waren fünf Vegetarier in der Gruppe. Unser Tischhieß nur der »Hasentisch«, wegen der Berge von grünem Sa-lat und Karotten, die wir immer vorgesetzt bekamen. Bevorer ihr einen Stuhl zeigte, sagte Ariel zu uns: »Ihr Mädchennehmt Mira nach dem Essen mit in euer Zimmer. Sie be-kommt das untere freie Bett, das von Dita. « Dann stellte eruns vor.

Mira setzte sich und sagte: »Warum gibt es kein Huhn? «Daniel antwortete: »Das ist der vegetarische Tisch. «Sie beachtete ihn gar nicht und sagte: »Aber ich esse kein

Gras.«Wir waren verblüfft. Sie war neu. Sie war gerade ge-

kommen, mitten beim Abendessen. Was erwartete sie? Daßwir ihr genau das Essen servierten, an das sie gewöhntwar?

Ajala stieß mich mit dem Knie an, und ihr Ellenbogenberührte meinen. Wir wechselten einen Blick und wußtensofort, daß die Neue uns nicht gefiel. Von dem Moment an,

r6

als sie sich an unseren Tisch setzte, sprachen wir kein Wortmehr; wir beendeten die Mahlzeit schweigend.

Während des ganzen Abendessens sah Jurek kein einzigesMal zu mir herüber. Ich schaute von der Seite zu ihm hin. Ersprach, und alle an seinem Tisch hörten zu. Ich wollte wis-sen, worüber er sprach, deshalb stand ich auf und ging zuSe'ewik, der in unserer Gruppe für die Arbeitsverteilung zu-ständig war. Ich fragte, ob es für morgen früh irgendwelcheVeränderungen gebe, und Se'ewik antwortete kurz angebun-den: »Nein, wieso denn? Bis der Gärtner von Holland zu-rückkommt, gibt es keine Änderungen.» Ich stand nicht weitvon Jurek, und er hob noch nicht einmal den Blick. Ich gingzurück, sicher, daß er sich mit diesem Brief nur über mich lu-stig gemacht hatte und daß er mich auslachen würde, wennich zu dieser Verabredung hinginge. Jurek war zuzutrauen,daß er sich mit Se'ewik und Daniel hinter dem Gebüsch ne-ben der Küche versteckte, um mich zu verspotten, wenn ichauftauchte. Und warum sollte er ausgerechnet mich wollen?Außer Sarah B. gab es in unserer Gruppe noch andere, schö-nere Mädchen als mich, vor allem solche, die er noch vonfrüher kannte, von Polen, und zwischen ihnen herrschte eineganz besondere Beziehung, eine besondere Nähe. Wir hattenoft genug darüber gesprochen, Ajala und ich. Wir beidewaren in Israel geboren, als einzige in unserer Gruppe. Undmanchmal fühlten wir uns wie zwei Fremde, die es zufälligin die Gruppe verschlagen hatte. Nie sagten sie ein bösesWort über uns, und nie machten sie eine böse Bemerkung,und trotzdem fühlten wir, daß wir anders waren. Wir sahenalle sehr ähnlich aus, und wir trugen fast die gleichen Sa-chen, die wir aus demselben Kleiderlager bekamen, dochder Unterschied in der Art zu sprechen war deutlich. IhrHebräisch war oft noch schwerfällig, sie sprachen ein rol-lendes R, und ihre fremden Sitten beeinflußten unseren

17

Alltag. Es war schwer zu sagen, was es genau war, aber eswar ein Gefühl von »sie« und »wir«.

Auch während der Diskussion über Wiedergutmachungs-zahlungen waren Ajala und ich plötzlich eine Gruppe inner-halb der Gruppe gewesen. Ariel hatte sich an uns gewandtund gefragt: »Und ihr? Was sagt ihr? Ich habe noch keinWort von euch gehört. « Ich sagte: » Ich war nie dort, ich habenicht das Recht, etwas zu sagen.» Ariel drängte. »Dannüberleg es dir. Zerbrich dir den Kopf. Du weißt doch, welcheVerbrechen die Nazis begangen haben, du weißt, was dieDeutschen dem jüdischen Volk angetan haben. Und da hastdu nichts zu sagen?« Ich fühlte mich bedrängt. Ich hätte vielsagen können: Schließlich hatte ich eine Mutter, die überlebthatte. Von einer großen Familie war nur sie übriggeblieben,meine Mutter, die nicht aufhörte, sich dafür zu bestrafen,daß sie überlebt hatte. Meine Mutter, die krank war, dienicht lachte, die schwieg. Doch von all dem, was mir durchden Kopf raste, sagte ich nur: »Ich habe nicht das Recht zusprechen. Nur wer dort war, kann sagen, ob man Geld fürdiese schrecklichen Verbrechen annehmen soll.« Und Ajalasagte: »Meiner Meinung nach sollte man Geld von denDeutschen nehmen, nach allem, was sie getan haben, jemehr, desto besser. Man könnte dieses Geld dem Militär ge-ben, dann würde es unserer Sicherheit dienen und ...« Ajalakonnte ihren Satz nicht zu Ende sprechen, denn gleich fielendie anderen über sie her: »Halt den Mund, Ajala, was weißtdu schon darüber? Wer braucht überhaupt ihr dreckigesGeld? Keinen Pfennig!« Ajala versuchte zu erklären: »Da-mit das Land stark wird. Nicht für Luxus, für die Sicher-heit. « Jemand lachte. »Du bist eine Zabarit, Aj ala. « Se'ewikstand auf und schrie: »Du weißt nichts darüber! Ihr beidedürft überhaupt nichts sagen!» Seine Stimme war schonganz heiser vom Schreien. Ajala antwortete ruhig: »Se'ewik,schrei doch nicht so. Lern erst mal zuhören.» Aber Se'ewik,

18

mit glühendem Gesicht und Augen, die aus den Höhlen zuquellen drohten, konnte sich nicht beruhigen. »Hör du lie-ber zu! Es gibt keine Sühne, und es gibt keine Wiedergut-machung! Geld sühnt kein Blut, und für Völkermord kannman nicht bezahlen.« Ajala schaute mich verwirrt an undflüsterte: »Hast du ihn gesehen? Er sieht aus wie ein Verrück-ter. Zum Fürchten! « Und ich sagte: »Er hat recht. Wir wis-sen nicht, was dort war, und wir verstehen nicht, was sieempfinden, wenn sie die Wörter >Wiedergutmachung< und>Deutschland< hören.

Daniel, der neben uns saß, meinte: »Er regt sich immer soschnell auf, ihr kennt ihn ja. Aber unter uns gesagt: Er hatrecht. « Auch die anderen waren Daniels Meinung. Und wirbeide spürten, daß wir Fremde waren, daß wir hier gebo-ren waren und nicht das Recht hatten, eine Meinung zuäußern. Die Diskussion über die Wiedergutmachung ver-mittelte uns das Gefühl, daß »hier« und »dort« zwei ver-schiedene Welten waren, zwischen denen keine Verbindungmöglich war.

Als darum an jenem Abend Mira, die Neue, an unserenTisch kam, war mein erster Gedanke: Von wo ist sie? Vonhier oder von dort? Und als müsse ich ein Rätsel lösen, be-gann ich, jeden ihrer Gesichtszüge zu studieren. Doch ihrGesicht war ausdruckslos und verriet nichts. Sie sah aus wiewir. Ich erinnere mich gut, daß sie schwere braune Schuhetrug, dunkelblaue Hosen und ein weißes Hemd, darübereinen dunkelblauen, vorn geknöpften Pullover und einenrandlosen blauen Sonnenhut. Warum trug sie diese seltsameKopfbedeckung abends? Warum nahm sie das Ding beim Es-sen nicht ab? Sie sah seltsam aus damit. Schatten fielen überihre Stirn und ihre Augen. Und die ganze Zeit hielt sie ihrenArmeesack auf dem Schoß. Fast hätte ich vorgeschlagen, siesolle ihn doch auf den Boden stellen und in Ruhe essen, dochnach ihrem ersten Satz über das fehlende Huhn hatte ich

19

schon keine Lust mehr, mich anzustrengen und freundlich zuihr zu sein und ihr den Anfang zu erleichtern.

Wir alle waren einmal Neue in diesem Kinderdorf oder inanderen gewesen, wir wußten, wie bloßgestellt man sich indiesem Moment fühlte. Wir wußten, daß es besser war, amAnfang des Schuljahres zu kommen, weil man dann einervon mehreren neuen Schülern war. Auch am Ende eines Jah-res zu kommen, war nicht schlecht. Dann hatte man Aussich-ten, zu Beginn des nächsten schon bekannt zu sein und nichtmehr wie ein Grünschnabel behandelt zu werden. Aber dieda war mitten im Jahr gekommen, mitten beim Abendessen.Und sie hatte etwas an sich, das uns zu warnen schien:»Kommt mir nicht zu nahe! Ich will das nicht. «

Nach dem Essen kam Ariel wieder an unseren Tisch undsagte: »Mira, du bist in guten Händen, in den besten. Diebeiden werden dir helfen.» Und zu uns sagte er: »Ich hoffe,ihr kommt zurecht.» Als wir den Speisesaal verließen, sagteAjala zu Mira: »Hast du deinen Koffer nicht vergessen?«

»Ich habe alles hier», antwortete Mira und deutete aufden Sack, der ihr über der Schulter hing.

Im Zimmer zogen wir das untere Bett heraus, das Dita ge-hört hatte, und Ajala sagte: »Plötzlich habe ich Sehnsuchtnach ihr, nach Dita. «

Ich schwieg.»Du nicht?» fragte Ajala.»Doch, ja, natürlich», antwortete ich, aber in diesem Mo-

ment dachte ich nicht an Dita.Dann erklärten wir Mira, wie man das untere Bett auf-

und morgens wieder zuklappte, um es an seinen Platz zu-rückzuschieben. »Wieso soll ich es morgens zuklappen? DasBett kann stehenbleiben, genau wie die anderen Betten imZimmer. Mich legt ihr nicht rein.»

Wer will denn jemanden reinlegen? Und wieso über-

zo


Recommended