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Ende August 1961: In einem kleinen Krankenhauszimmererwacht Rita Seidel aus ihrer Ohnmacht. Und mit demErwachen wird auch die Vergangenheit wieder lebendig.Da ist die Erinnerung an den Betriebsunfall und vor allemdie Erinnerung an Manfred Herrfurth. Zwei Jahre sindvergangen, seit sie dem Chemiker in die Stadt folgte, um anseiner Seite und mit ihm gemeinsam ein glückliches Lebenzu beginnen. Wann hat die Trennung begonnen? Hat siedie ersten Anzeichen einer Entfremdung übersehen? Den-ken, Grübeln, Fiebern — Tage und Nächte hindurch! »Ichgebe Dir Nachricht, wenn Du kommen sollst. Ich lebe nurfür den Tag, da Du wieder bei mir bist.« Manfred ist voneinem Chemikerkongreß in Westberlin nicht zurückge-kehrt in dem festen Glauben, daß ihm Rita folgen wird. Siemuß eine Entscheidung treffen, die sie in eine tiefe Krisestürzt .. .

Christa Wolf wurde am 18. März 1929 als Tochter einesKaufmanns in Landsberg/Warthe geboren. Sie studierte inJena und Leipzig Germanistik, arbeitete als Verlagslekto-rin und lebt heute als freie Schriftstellerin in Berlin. Ihrumfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk istmit zahlreichen nationalen und internationalen Preisenausgezeichnet worden.

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Christa Wolf

Der geteilte Himmel

Erzählung

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Personen und Handlung sind erfunden.

Für G.

Ungekürzte AusgabeJuli 1 973

28., neu durchgesehene Auflage August 1 99440. Auflage Oktober 2007

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

www.dtv.de1973 Christa Wolf (für die Taschenbuchausgabe)

Erstveröffentlichung: Halle/Saale 1963Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: Angela HampelSatz: IBV Satz- und Datentechnik, Berlin

Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 978-3-423-00915-7

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Die Stadt, kurz vor Herbst noch in Glut getaucht nachdem kühlen Regensommer dieses Jahres, atmete heftigerals sonst. Ihr Atem fuhr als geballter Rauch aus hundertFabrikschornsteinen in den reinen Himmel, aber dannverließ ihn die Kraft, weiterzuziehen. Die Leute, seit lan-gem an diesen verschleierten Himmel gewöhnt, fanden ihnauf einmal ungewöhnlich und schwer zu ertragen, wie sieüberhaupt ihre plötzliche Unrast zuerst an den entlegen-sten Dingen ausließen. Die Luft legte sich schwer auf sie,und das Wasser — dieses verfluchte Wasser, das nach Che-mie stank, seit sie denken konnten — schmeckte ihnen bit-ter. Aber die Erde trug sie noch und würde sie tragen,solange es sie gab.

Also kehrten wir zu unserer alltäglichen Arbeit zurück,die wir für Augenblicke unterbrochen hatten, der nüchter-nen Stimme des Radiosprechers lauschend und mehr nochden unhörbaren Stimmen sehr naher Gefahren, die alletödlich sind in dieser Zeit. Für diesmal waren sie abgewen-det. Ein Schatten war über die Stadt gefallen, nun war siewieder heiß und lebendig, sie gebar und begrub, sie gabLeben und forderte Leben, täglich.

Also nehmen wie unsere Gespräche wieder auf: Überdie Hochzeit, ob sie schon zu Weihnachten sein soll odererst im Frühjahr; über die neuen Kindermäntel zum Win-ter; über die Krankheit der Frau und den neuen Vorgesetz-ten im Betrieb. Wer hätte gedacht, daß einem das alles sowichtig ist?

Wir gewöhnen uns wieder, ruhig zu schlafen. Wir lebenaus dem vollen, als gäbe es übergenug von diesem seltsa-men Stoff Leben, als könnte er nie zu Ende gehen.

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In jenen letzten Augusttagen des Jahres 1961 erwacht ineinem kleinen Krankenhauszimmer das Mädchen Rita Sei-del. Sie hat nicht geschlafen, sie war ohnmächtig. Wie siedie Augen aufschlägt, ist es Abend, und die saubere weißeWand, auf die sie zuerst sieht, ist nur noch wenig hell. Hierist sie zum ersten Mal, aber sie weiß gleich wieder, was mitihr, heute und vorher, geschehen ist. Sie kommt von weither. Sie hat noch undeutlich ein Gefühl von großer Weite,auch Tiefe. Aber man steigt rasend schnell aus der unend-lichen Finsternis in die sehr begrenzte Helligkeit. Ach ja,die Stadt. Enger noch: das Werk, die Montagehalle. JenerPunkt auf den Schienen, wo ich umkippte. Also hatirgendeiner die beiden Waggons noch angehalten, die davon rechts und links auf mich zukamen. Die zielten genauauf mich. Das war das Letzte.

Die Krankenschwester tritt an das Bett, sie hat beobach-tet, wie das Mädchen wach geworden ist und sich miteigentümlich stillen Augen im Zimmer umsieht, sie sprichtsie leise und freundlich an. »Sie sind gesund«, sagt sie mun-ter. Da dreht Rita das Gesicht zur Wand und beginnt zuweinen, hört auch die Nacht über nicht mehr auf, und alsmorgens der Arzt nach ihr sieht, ist sie nicht fähig, zu ant-worten.

Aber der Arzt braucht nicht zu fragen, er weiß ja alles, essteht auf dem Unfallblatt. Diese Rita Seidel, eine Studen-tin, arbeitet nur während der Ferien im Betrieb. Sie istmanches nicht gewohnt, zum Beispiel die Hitze in denWaggons nicht, wenn sie aus der Trockenzelle kommen.Sowieso ist es verboten, bei hohen Temperaturen imWagen zu arbeiten, aber niemand kann bestreiten, daß dieArbeit drängt. Die Werkzeugkiste ist schwer, sechzig bissiebzig Pfund, sie hat sie noch bis zu den Schienengeschleppt, wo gerade rangiert wurde, und dann kippte sieum — kein Wunder, zart wie sie ist. Nun heult sie, auch daskennen wir.

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»Der Schock«, sagt der Arzt und verschreibt Beruhi-gungsspritzen. Nach Tagen allerdings, als Rita immernoch nicht verträgt, daß man sie anspricht, wird er unsi-cher. Er denkt, wie gerne er den Kerl unter die Finger krie-gen möchte, der dieses hübsche und empfindsame Mäd-chen so weit gebracht hat. Für ihn steht fest, daß nur Liebeein junges Ding so krank machen kann.

Ritas Mutter, von ihrem Dorf herbeigerufen und hilflosvor dem fremden Zustand der Tochter, kann keine Aus-kunft geben. »Das Lernen«, sagt sie. »Ich hab mir gleichgedacht, sie hält es nicht aus.« Ein Mann? Nicht, daß siewüßte. Der frühere, ein Chemiedoktor, ist doch schon einhalbes Jahr weg. Weg? fragt der Arzt. Nun ja: Abgehauen,Sie verstehen.

Das Mädchen Rita bekommt Blumen: Astern, Dahlien,Gladiolen — bunte Tupfer im bleichen Krankenhaustag.Niemand darf zu ihr, bis sich eines Abends ein Mann miteinem Rosenstrauß nicht abweisen läßt. Der Arzt gibtnach. Hier kann vielleicht ein Reuebesuch den ganzenKummer auf einmal heilen. Ein kurzes Gespräch unter sei-ner Aufsicht. Aber da kommt nichts von Liebe, auchnichts von Verzeihen, so etwas merkt man doch, und wärees an den Blicken. Von irgendwelchen Waggons ist dieRede, was nun jetzt weiß Gott nicht wichtig ist, und nachfünf Minuten artiger Abschied. Der Arzt erfährt, daß diesder junge Betriebsleiter vom Waggonwerk war, und nenntsich selber einen Trottel. Aber er wird das Gefühl nichtlos, daß dieser junge Mann mehr von der Patientin RitaSeidel weiß als die Mutter, mehr als er selbst, der Arzt, undals jeder der Besucher, die nun zahlreich kommen: Zuerstdie Tischler aus der Brigade Ermisch, abwechselnd allezwölf, dann eine blonde, zierliche kleine Friseuse, RitasFreundin, nach den Ferien Studenten aus dem Lehrersemi-nar und hin und wieder auch Mädchen aus Ritas Dorf. Eskann für ausgeschlossen gelten, daß die Patientin einsamgewesen ist.

Die da zu ihr kommen, haben sie alle gern. Sie sprechen

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behutsam mit ihr und tasten mit Blicken ihr Gesicht ab,das blaß und müde, aber nicht mehr trostlos ist. Sie weintjetzt seltener, meistens abends. Sie wird der Tränen Herrwerden und, weil es ihr fernliegt, ihr Leid zu hätscheln,auch der Verzweiflung.

Sie sagt niemandem, daß sie Angst hat, die Augen zuzu-machen. Sie sieht immer noch die beiden Waggons, grünund schwarz und sehr groß. Wenn die angeschoben sind,laufen sie auf den Schienen weiter, das ist ein Gesetz, unddazu sind sie gemacht. Sie funktionieren. Und wo sie sichtreffen werden, da liegt sie. Da liege ich.

Dann weint sie wieder.Sanatorium, sagt der Arzt. Sie will nichts erzählen. Soll

sie sich ausweinen, soll sie zur Ruhe kommen, soll Grasüber alles wachsen. Sie könnte mit der Bahn fahren, soweitist sie schon wieder, aber der Betrieb schickt ein Auto.

Ehe sie abfährt, bedankt sie sich beim Arzt und bei denSchwestern. Alle sind ihr wohlgesinnt, und wenn sie nichtserzählen will, ist das ihre Sache. Alles Gute.

Ihre Geschichte ist banal, denkt sie, in manchem auchbeschämend. Übrigens liegt sie hinter ihr. Was noch zubewältigen wäre, ist dieses aufdringliche Gefühl: Die zie-len genau auf mich.

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Als er damals vor zwei Jahren in unser Dorf kam, fiel ermir sofort auf. Manfred Herrfurth. Er wohnte bei einerVerwandten, die vor niemandem Geheimnisse hatte. Dawußte ich bald so gut wie jeder andere, daß der jungeMann ein studierter Chemiker war und daß er sich im Dorferholen wollte. Von seiner Doktorarbeit, unter der dannstand: »Mit Auszeichnung«. Ich hab's selbst gesehen.Aber das kommt später.

Wenn Rita, die mit Mutter und Tante in einem winzigen

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Häuschen am Waldrand lebte, früh ihr Rad bergauf biszur Chaussee schob, stand der Chemiker halbnackt beider Pumpe hinter dem Haus seiner Kusine und ließ sichdas kalte Wasser über Brust und Rücken laufen. Rita sahprüfend zu dem blauen Himmel hoch, in das klare Mor-genlicht, ob es angetan war, einem überarbeiteten KopfEntspannung zu geben.

Sie war zufrieden mit ihrem Dorf: Rotdachige Häuserin kleinen Gruppen, dazu Wald und Wiese und Feld undHimmel in dem richtigen Gleichgewicht, wie man sich'skaum ausdenken könnte. Abends führte aus dem dunklenKreisstadtbüro eine schnurgerade Straße mitten in denuntergehenden Sonnenball, und rechts und links von die-ser Straße lagen die Ortschaften. Wo der Pfad in ihr eige-nes Dorf abzweigte, stand dieser Chemiker an der einzi-gen windzerrupften Weide weit und breit und hielt seinekurzen Haarstoppeln in den lauen Abendwind. Die glei-che Sehnsucht trieb sie in ihr Dorf und ihn an dieseChaussee, die zur Autobahn und, wenn man will, zu allenStraßen der Welt führte.

Wenn er sie kommen sah, nahm er seine Brille ab undbegann sie sorgfältig mit einem Zipfel seines Hemdes zuputzen. Später sah sie ihn langsam auf den blauschim-mernden Wald zugehen, eine große, etwas dürre Gestaltmit zu langen Armen und einem schmalen, harten Jun-genskopf. Dem möchte man mal seinen Hochmut aus-treiben. Den möchte man mal sehen, wie er wirklich ist.Das prickelt sie. Gern, sehr gern, zu gerne möchte mandas.

Aber Sonntag abends im Gasthaussaal fand sie, daß erälter und härter aussah, als sie gedacht hatte, und ihr sankwieder der Mut. Den ganzen Abend sah er zu, wie dieJungen aus dem Dorf sie herumschwenkten. Der aller-letzte Tanz begann, man öffnete schon die Fenster, undfrische Luftschleusen zerteilten den Rauchvorhang überden Köpfen der Nüchternen und Betrunkenen. Jetzt end-lich trat er zu ihr und führte sie in die Mitte. Er tanzte

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gut, aber unbeteiligt, er sah sich nach anderen Mädchenum und machte Bemerkungen über sie.

Sie wußte, am nächsten Tag fuhr er in aller Frühe zurückin die Stadt. Sie wußte, er kriegt es fertig, nichts zu sagen,nichts zu tun, er ist so. Ihr Herz zog sich zusammen vorZorn und Angst. Plötzlich sagte sie in seine spöttischenund gelangweilten Augen hinein: »Ist das schwer, so zuwerden, wie Sie sind?«

Er kniff bloß die Augen zusammen.Wortlos ergriff er ihren Arm und führte sie hinaus.

Schweigend gingen sie die Dorfstraße hinunter. Rita bracheine Dahlienblüte ab, die über einen Zaun hing. EineSternschnuppe fiel, aber sie wünschte sich nichts. Wiewird er es anstellen, dachte sie.

Da standen sie schon an der Gartenpforte, langsam gingsie die wenigen Schritte bis zu ihrer Haustür — ach, wiestieg ihre Angst bei jedem Schritt! —, schon legte sie dieHand auf die Klinke (die war eiskalt und fühllos wie einganzes einsames Leben), da sagte er in ihrem Rücken,gelangweilt und spöttisch: »Könnten Sie sich in einen wiemich verlieben?«

»Ja«, erwiderte Rita.Sie hatte keine Angst mehr, nicht die mindeste. Sie sah

sein Gesicht als helleren Fleck in der Dunkelheit, undgenauso mußte er das ihre sehen. Die Klinke wurde warmvon ihrer Hand, die eine Minute, die sie noch so dastan-den. Dann räusperte er sich leise und ging. Rita blieb ganzruhig an der Tür stehen, bis sein Schritt nicht mehr zuhören war.

Nachts lag sie ohne Schlaf, und am Morgen begann sieauf seinen Brief zu warten, staunend über diese Wendungder Dinge, aber nicht im ungewissen über ihren Ausgang.Der Brief kam eine Woche nach jenem Dorftanz. Der ersteBrief ihres ganzen Lebens, nach all den Aktenbriefen imBüro, die sie überhaupt nichts angingen.

»Mein braunes Fräulein«, nannte Manfred sie. Erbeschrieb ihr ausführlich und voller Selbstironie, was alles

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an ihr braun war, auf wieviel verschiedene Weise, daß esihn, den doch seit langem nichts mehr an einem Mädchenüberraschte, von Anfang an verwundert hatte.

Rita, neunzehn Jahre alt und oft genug mit sich selbstuneinig, weil sie sich nicht verlieben konnte wie andereMädchen, mußte nicht erst lernen, einen solchen Brief zulesen. Auf einmal zeigte sich: Die ganzen neunzehn Jahre,Wünsche, Taten, Gedanken, Träume, waren zu nichtsanderem dagewesen, als sie gerade für diesen Augenblick,gerade auf diesen Brief vorzubereiten. Plötzlich war daeine Menge von Erfahrung, die sie gar nicht selbst gesam-melt hatte. Wie jedes Mädchen war sie sicher, daß vor ihrkeine und keine nach ihr gefühlt hatte und fühlen konnte,was sie jetzt empfand.

Sie trat vor den Spiegel. Sie war rot bis an die braunenHaarwurzeln, gleichzeitig lächelte sie, auf neue Weisebescheiden, auf neue Weise überlegen.

Sie wußte, es war genug an ihr, was ihm gefiel undimmer gefallen würde.

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Rita weiß seit ihrem fünften Jahr, daß man immer auf eineplötzliche Veränderung des ganzen Lebens gefaßt seinmuß. Dunkel erinnert sie sich an ihre frühe Kindheit ineinem blaugrünen hügligen Land, an das Auge des Vatersmit dem eingeklemmten Vergrößerungsglas, an den feinenPinsel in seiner Hand, der flink und genau winzig kleineMuster auf Mokkatassen malte, aus denen Rita niemalseinen Menschen trinken sah.

Ihre erste große Reise fiel fast genau mit dem Ende desKrieges zusammen und führte sie inmitten trauriger,wütender Menschen für immer fort aus den böhmischenWäldern. Die Mutter wußte eine Schwester des Vaters ineinem mitteldeutschen Dorf. An ihre Tür klopften sie

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eines Abends wie Schiffbrüchige. Sie fanden Einlaß, Bettund Tisch, ein enges Zimmer für die Mutter, eine weißge-tünchte Kammer für Rita. Und sooft die Mutter in derersten Zeit sagte: Hier bleib ich nicht, nie und nimmer! —sie blieben, an die allgemeine Not und an die unsinnigeHoffnung gefesselt, eines Tages werde doch eine Nach-richt vom Vater, der an der Front vermißt war, diesessichere kleine Haus erreichen.

Wie die Hoffnung schwand und an ihre Stelle Trauertrat, dann schmerzende Erinnerung, vergingen die Jahre.Rita lernte in diesem Dorf lesen und schreiben, sie lerntedie Abzählreime der einheimischen Kinder und die alt-überlieferten Mutproben am Bach. Die Tante war trockenund genau, ihr Leben, an dieses Häuschen gekettet, hatteihr großes Glück und großes Unglück versagt, hatte ihrjeden Funken Sehnsucht ausgesogen und zuletzt sogar denNeid auf andere in ihr getilgt. Sie pochte auf ihr Besitz-recht an den zwei Stuben und der Kammer, aber sie liebtedas Kind auf ihre Weise.

Den Platz auf dem Herd und die Liebe des Kindes zuteilen, kostete die Mutter mehr Kraft, als sie Rita ahnenließ. Rita war anhänglich und aufgeschlossen, jedermannwar freundlich zu ihr, jedermann glaubte sie zu kennen.Aber worüber sie sich wirklich freute und woran sie wirk-lich litt, das zeigte sie keinem. Der junge Lehrer, der späterin ihr Dorf kam, sah, daß sie oft einsam war. Er gab ihrBücher und nahm sie auf seine Streifzüge in die Umgebungmit. Er wußte auch, was es sie kostete, die Schule zu verlas-sen und in dieses Büro zu gehen. Aber sie blieb starrsinnigbei ihrem Entschluß. Ihretwegen hatte die Mutter auf denFeldern und dann in der Textilfabrik gearbeitet. Da siekrank war, hatte nun ihre Tochter die Pflicht, für sie zusorgen. »Sie werden's noch manchesmal schwer haben«,sagte der Lehrer. Er war wütend auf sie.

Rita war damals siebzehn Jahre alt. Starrsinn ist gut,wenn man gegen sich selbst angehen muß, aber ewig hält ernicht vor. Etwas anderes ist es, mutig einen unangenehmen

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Entschluß zu fassen, ein Opfer, meinetwegen — etwasanderes, dann Tag für Tag in diesem engen Büro zu sitzen,allein (denn wieviel Angestellte brauchte schon so einekleine ländliche Zweigstelle von einer großen Versiche-rung?); tagtäglich Zahlenreihen in endlose Listen zuschreiben und mit immer den gleichen Worten immer diegleichen säumigen Zahler an ihre Pflichten zu erinnern.Gelangweilt sah sie die Autos kommen, denen anleitende,lobende, tadelnde Männer für ihr Büro entstiegen — immerdie gleichen. Gelangweilt sah sie sie wieder wegfahren.

Einst hatte der junge, blasse, begeisterte Lehrer ihreAnsprüche an das Leben bestärkt: Sie erwartete Außeror-dentliches, außerordentliche Freuden und Leiden, außer-ordentliche Geschehnisse und Erkenntnisse. Das ganzeLand war in Unruhe und Aufbruchstimmung (das fiel ihrnicht auf, sie kannte es nicht anders); aber wo blieb einer,der ihr half, einen winzigen Teil dieses großen Stromes inihr eigenes kleines, wichtiges Leben abzuleiten? Wer gabihr die Kraft, einen bösen blinden Zufall zu korrigieren? —Schon bemerkte sie an sich mit Schrecken Zeichen derGewöhnung an den einförmigen Ablauf ihrer Tage.

Wieder wurde Herbst. Zum drittenmal sollte sie zuse-hen, wie die Blätter von den zwei mächtigen Linden vorihrem Bürofenster fielen. Manchmal schien ihr das Lebendieser Bäume vertrauter als ihr eigenes. Oft dachte sie:Niemals krieg ich von diesem Fenster aus noch was Neueszu sehen. In zehn Jahren hält das Postauto auch noch hier,Punkt zwölf Uhr mittags, dann werden meine Fingerspit-zen staubtrocken, ich wasche mir die Hände, noch ehe ichweiß, daß ich essen gehen muß.

Tagsüber arbeitete Rita, abends las sie Romane, und einGefühl der Verlorenheit breitete sich in ihr aus.

Da traf sie Manfred, und auf einmal sah sie Sachen, diesie nie gesehen hatte. Dieses Jahr verloren die Bäume ihreBlätter in einem Feuerwerk von Farben, und das Postautoverspätete sich manchmal um schreckliche Minuten. Einefeste, zuverlässige Kette von Gedanken und Sehnsüchten

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band sie wieder an das Leben. In dieser Zeit gab sie sichzufrieden, wenn sie Manfred wochenlang nicht sah. Siekannte keine Langeweile mehr.

Dann schrieb er, Weihnachten werde er kommen. Ritaerwartete ihn an der Bahn, obwohl er es sich verbetenhatte.

»Ach«, sagte er. »Das braune Fräulein mit brauner Pelz-mütze. Wie in einem russischen Roman.«

Sie gingen die paar Schritte bis zur Omnibushaltestelleund blieben vor einem Schaufenster stehen. Es zeigte sich:In Briefen kann man leicht »Sie« zueinander sagen unddabei doch ganz vertraut werden, weit weniger leicht aberin Wirklichkeit.

»Sehen Sie«, sagte er schließlich — und für eine Sekundepackte sie die Angst, sie könnte ihn schon jetzt, für immer,enttäuscht haben — »das hab ich vermeiden wollen. ImSchneematsch stehen, auf Gießkannen und Kinderbade-wannen starren und nicht wissen, wie's weitergehen soll.«

»Wieso denn?« sagte Rita. Sie lernte wirklich rasendschnell, wenn sie mit ihm zusammen war. »Wir lassen denRoman einfach ablaufen.«

»Zum Beispiel?« fragte er gespannt.»Zum Beispiel sagt die Heldin jetzt zum Helden :

Komm, wir steigen in den blauen Bus ein, der da geradeum die Ecke biegt. Dann bring ich dich nach Hause, unddu kommst mit mir zu meinen Leuten, die noch keineAhnung haben, daß es dich gibt, und die dich kennenler-nen müssen, damit sie dich zur Weihnachtsgans einladenkönnen. Genug Handlung für einen Tag?«

In der Schaufensterscheibe begegnete sie seinem Blick.»Genug«, sagte er überrascht. »übergenug. Das hast dugut gemacht ... «

Sie lachten ein bißchen und stiegen dann in den blauenBus ein, der vor der Schaufensterscheibe hielt, und siebrachte ihn zu seiner Kusine, und er begleitete sie zu ihrenLeuten, die fast keine Ahnung hatten, daß es ihn gab, unddie ihn minutenlang schweigend musterten. Sehr männ-

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lich, dachte die Tante, aber zu alt für das Kind. Ein Che-miedoktor, dachte die Mutter. Wenn er sie nimmt, hat sieausgesorgt, und ich kann beruhigt sterben. Und beidesagten gleichzeitig: »Kommen Sie Weihnachten zumGänsebraten?«

Wenn Rita heute daran denkt: Weihnachten in demverschneiten Dörfchen — denn zu Heiligabend warSchnee gefallen, wie es sein muß — und sie gingen ganzstill, Arm in Arm, die einsame Dorfstraße hinunter, dannfragt sie sich: Wann war es noch mal so? Wann kann esnoch mal so sein? Die beiden Hälften der Erde paßtenganz genau ineinander, und auf der Nahtstelle spaziertensie, als wäre es nichts.

Vor ihrer Haustür zog Manfred einen schmalen silber-nen Armreifen aus der Tasche und gab ihn ihr, unge-schickter, als er je einem Mädchen etwas geschenkt hatte.Rita hatte längst begriffen, daß ein für allemal sie dieGeschicktere sein mußte. Sie zog ihre Hände aus den dik-ken Wollhandschuhen, die in den Schnee fielen, und legtesie an Manfreds kalte Wange. Er hielt ganz still und sahsie an. »Warm und weich und braun«, sagte er und bliesihr die Haare aus dem Gesicht. Das Blut schoß ihm in dieAugen, er blickte weg.

»Sieh mich ruhig an«, sagte sie leise.»So?« fragte er.»So«, erwiderte Rita.Sein Blick hatte sie getroffen wie ein Stoß. Den ganzen

Abend lang mußte sie verbergen, daß ihre Hände zitter-ten, dann hatte er es doch gemerkt und lächelte, und sieverdachte ihm das Lächeln, obwohl sie ihn weiter undweiter ansehen mußte. Sie war ein wenig zu lebhaft, aberdie Tante und die Mutter hatten nie erfahren oder längstvergessen, wie ein Mädchen beklemmende Liebe zu ver-bergen sucht. Sie sorgten sich um das Gelingen des Bra-tens.

Später hob man die Gläser und trank einander zu. »AufIhr Examen«, sagte die Mutter zu Manfred. »Daß alles

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gutgeht.« — »Auf die lieben Eltern«, versuchte es dieTante. Sie hatte bis jetzt zu wenig von dem jungen Mannerfahren.

»Danke«, sagte er trocken. Rita könnte heute nochlachen über sein Gesicht. Er war damals neunundzwanzigJahre alt und eignete sich ein für allemal nicht für den liebe-vollen Schwiegersohn. Er sagte: »Heut nacht hab ichgeträumt, wir feiern zu Hause Weihnachten. Mein Vater,hab ich geträumt, hebt sein Glas und trinkt mir zu. Da habich — im Traum! — alle Teller und Gläser, die ich zu fassenkriegte, nacheinander an die Wand geschmissen.«

»Mußt du die Menschen so erschrecken?« fragte Ritaihn später an der Gartenpforte.

Er zuckte die Achseln. »Warum erschrecken sie?«»Dein Vater...«»Mein Vater ist ein deutscher Mann. Im ersten Krieg hat

er durch den Verlust eines Auges für den zweiten vorge-sorgt. So macht er's heute noch: Opfere ein Auge, behaltdas Leben.«

»Du bist ungerecht.«»Läßt er mich in Ruhe, laß ich ihn auch. Zutrinken darf

er mir nicht mal im Traum. Warum wollen sie nicht wahr-haben, daß wir alle ohne Eltern aufgewachsen sind?«

Zu Neujahr waren sie in einer kleinen Herberge im nahenVorgebirge. Sie fuhren nachmittags auf Skiern die sanft-weißen Hänge ab, und abends feierten sie mit den anderenHerbergsbewohnern — alles junge Leute — den Anbruchdieses neuen Jahres: i96o.

Nachts waren sie allein.Rita erfuhr, wie dieser spöttische kalte Mensch sich

danach sehnte, unspöttisch und warm zu sein. Es über-raschte sie nicht, und doch weinte sie etwas vor Erleichte-rung. Er wischte ihr brummelnd mit den Fingern dieAugen trocken, sie trommelte mit den Fäusten auf seineBrust, erst sacht, dann wütend.

»Na«, sagte er leise, »was trommelt man?«

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Da weinte sie stärker. Auch sie war allein gewesen.Später drehte sie sein Gesicht zu sich herum und suchte

im Schneelicht, das durch das Fenster fiel, seine Augen.»Hör mal«, sagte sie. »Wenn du nun nicht damals diesen

letzten Tanz mit mir getanzt hättest? Wenn ich nicht diesemerkwürdige Frage gestellt hätte? Wenn du geschwiegenhättest, als ich schon ins Haus gehen wollte?«

»Nicht auszudenken«, sagte er. »Aber ich hab mir allesvorher ausgedacht.«

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So war er immer: Hochmütig bis zuletzt und schwer zufassen. Einmal, an einem der seltenen gemeinsamen Sonn-tage, fragte sie ihn: »Ich bin doch nicht die erste Frau, diedir gefällt?«

Sie zupfte an den Knöpfen seiner Jacke herum, er hieltihr die Hände fest und dachte: daß sie sich »Frau« nenntund genauso sein kann wie alle anderen! Es rührte ihn, wieihn früher erschüttert hatte, daß sie anders war als alle.

»Nein«, sagte er ernsthaft. »Nicht die erste.«Leichthin fragte sie, viel später: »Du hast viele gehabt?«Er hatte ruhig zugesehen, wie sie schwieg und sich

abplagte mit dieser Frage. Jetzt gab er zu: »Mehrere.«Sie blickte unsicher zu ihm auf, aber er spottete nicht.

»Na ja«, sagte sie nach einer Weile, »du gewöhnst mich analles mögliche.«

Er hob ihr Kinn an und wartete, bis sie ihn doch ansah.»Du«, sagte er. »Willst du mir was versprechen? Ver-

such niemals, dich meinetwegen an Unmögliches zugewöhnen, nein?«

Sie legte den Kopf an seine Brust, ließ sich streicheln wieein Kind, schluckte und schniefte noch und dachte, ganzgetröstet: Was soll mir von dir schon Unmögliches pas-sieren ?

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Die Wochen zwischen den Sonntagen dehnten sich zäh,manchmal fielen ein paar Tränen auf seine Briefe. Einmalkam ein verwunderter Ausdruck in ihr Gesicht, als ihreMutter sie dringlich fragte: »Bist du glücklich, Kind?«

Glücklich? Sie fühlte, daß sie lebte wie nie vorher.Manfred, der viele Arten von Frauen und viele Arten

von Liebe kennengelernt hatte, verstand besser als Ritaselbst, was an ihrer Liebe Besonderes war. Noch nie hattenihn gemeinsame Nächte an eine Frau gebunden. In jedeneue Begegnung nahm er schon die Kälte der unvermeid-lichen Trennung mit hinein und wurde gleichgültiger vonMal zu Mal. An dieses Mädchen band ihn das erste Wort,das sie zu ihm sagte. Er war getroffen, auf unzulässige, fastunwürdige Art im Innersten verwundet. Einige unent-schiedene Wochen lang versuchte er, sich zu lösen, bis ereinsah, daß dies nicht in seiner Macht lag.

Er war mißtrauisch. Er prüfte Rita auf verschiedeneWeise. Sie bestand jede Probe, lächelnd und unbewußt.Gerade daß sie ihre Vorzüge nicht kannte, gewann ihn, deralles an ihr für sie beide entdeckte. Er war wütend, daß sieHoffnungen weckte, die er begraben hatte. Dann gab ersich zögernd der Hoffnung hin.

»Mein braunes Fräulein«, sagte er, »du bist leider einKind und ich bin leider ein alter Mann. Das wird nicht gutausgehen mit uns.«

»Ach«, sagte sie, »ich bin gewohnt, daß alle Leute sichschlauer vorkommen als ich. Aber so schlau bin ich doch,daß ich keinen Mann laufen lasse, der mich erst verführthat.«

»Ich verderbe dich«, sagte er.»Lieber du als ein anderer«, erwiderte sie.Das hat es gegeben. Das Leben hat vor ihnen gelegen,

und sie hatten darüber zu befinden. Alles war möglich, nurdaß sie sich wieder verloren, war unmöglich.

Anfang März kam ein »Bevollmächtigter für Lehrerwer-bung« in Ritas Kreis, ein hagerer, schwarzhaariger Mann,

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der alles, was er brauchte, in einer großen Aktentasche beisich trug. Da sich nirgends ein freier Raum für ihn fand,verfiel man darauf, ihn in Ritas Büro unterzubringen undsie zu bitten, dem Lehrerwerber mit Schreibarbeiten zurHand zu gehen.

Neugierig beobachtete sie seine Tätigkeit. Er war denganzen Tag unterwegs, manchmal rief er an und sagte, woer gerade war. Abends brachte er ein paar ausgefüllte Fra-gebogen von zukünftigen Lehrerstudenten und übergabsie Rita mit Kommentaren. »Man müßte sich eben öfterdie Haare schneiden lassen«, sagte er, als er ihr denLebenslauf der zierlichen blonden Friseuse von der Eckeüberreichte. Oder: »Brigadiere sind meine natürlichenFeinde; glauben Sie, die trennen sich freiwillig von einemeinzigen Mann? Aber jetzt hab ich mir einen Brigadiergeangelt.«

Dann hängte er seinen Mantel an den Haken und hatteauf einmal viel Zeit. Gleichmütig hörte er sich an, was lei-tende Funktionäre des Kreises wieder über ihn geschimpfthatten — sie kamen sogar extra in Ritas Büro und erzähltenihr alle Sorgen, die sie mit Arbeitskräften hatten, alskönnte sie ihnen helfen. Erwin Schwarzenbach ließ sichnie auf Verteidigung ein. Er setzte sich hin, rauchte undsprach mit Rita über vielerlei — sie wunderte sich, wieinteressant sogar die Zeitung wurde, wenn er sie las —, undam Ende fragte er sie immer über alle möglichen Leute aus,die sie kannte und deren Namen er sich aufschrieb.

Rita kam jeden Abend zu spät nach Hause und wurdeimmer erregter, je länger Schwarzenbach dablieb. Zumerstenmal erlebte sie, wie eine höhere Hand in dieGeschicke gewöhnlicher Leute eingriff, die kleine Fri-seuse, den Brigadier, den Abteilungsleiter aus der Stadt-verwaltung packte. Ach, der? dachte sie manchmal zwei-felnd. Und die auch? Hatte es ihr an Phantasie gefehlt, daßsie sich diese Menschen immer nur in ihrem alltäglichenKreis denken konnte? Mußte erst einer von weit her kom-men wie der nüchterne Schwarzenbach, um mühelos den

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gewöhnlichsten Leuten alles mögliche Ungewöhnlichezuzutrauen ?

»Zwanzig«, sagte Erwin Schwarzenbach am vorletztenAbend. »Nicht schlecht für einen Kreis.«

»Neunzehn«, verbesserte ihn Rita. Sie verbarg einekleine, ziehende Enttäuschung — woher kam die eigent-lich?

»Zwanzig«, sagte er und reichte ihr, auch jetzt gleich-mütig, noch einen Fragebogen über den Tisch. Der warnicht ausgefüllt, aber in der ersten Spalte stand mit seinerSchrift ihr Name.

Ach, ich ? dachte sie nun und war nicht so überrascht,wie sie es hätte sein sollen.

»Woran denken Sie?« fragte Schwarzenbach nach einerWeile, in der es ziemlich still im Zimmer war.

Rita dachte: Ich hab mich immer nach kleinen Geschwi-stern gesehnt. Manfred, dachte sie. Er studiert in derselbenStadt. Sie dachte an Eisenbahnen und Straßenlärm, plötz-lich an das blasse Gesicht ihres Lehrers — wo war derjetzt? —, an Schulbücher, an Stadtlichter und Kinderge-ruch, und ganz zuletzt sah sie eine Schulklasse, die gingvom Wald her ihrem Dorfe zu und sang: »Fidirallallala,der Frühling ist da.«

»Ich hab Angst«, sagte Rita. — Schwarzenbach nickte. Erkonnte sehr aufmerksame Augen haben. Er will michwirklich, dachte sie. »Ich kann das nicht.«

»Doch«, sagte Schwarzenbach. »Sie können. Das wissenSie ja selbst. Wer denn sonst, wenn nicht Sie? Jetzt schrei-ben Sie Ihren Lebenslauf, dann komme ich einen Tag frü-her nach Hause und hole die Abende wieder ein, an denenich um Sie geworben hab wie ein Brautmann.«

Rita übereilte sonst nichts, aber wichtige Entschlüssefaßte sie von einer Sekunde zur anderen. Es gelang ihr,während sie, ein wenig abwesend, nach ihrem Federhaltersuchte, in Blitzesschnelle den Zufall dieser Lebenswendefür sich in Notwendigkeit zu verwandeln. Hatte sie nichtlange genug darauf gewartet? Mußte es nicht so kommen,

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