+ All Categories
Home > Documents > NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ......

NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ......

Date post: 18-Sep-2018
Category:
Upload: lamtu
View: 255 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
8
NEWSLETTER GESCHICHTE www.klett.de © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2013. Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten. 1 Karl der Große und das Frankenreich Karl der Große (747/748–814) gehört zu den bekanntes- ten Herrschergestalten überhaupt. Als König des Fran- kenreichs und Kaiser des (West-)Römischen Reiches genoss er bereits zu Lebzeiten legendären Ruhm. Der Beiname „der Große“ wurde Karl schon von Zeitgenos- sen verliehen. Als „Carolus Magnus“, „Charlemagne“ oder „Karl der Große“ ging er in die Geschichte ein. Nach seinem Tode wurde Karl zum Mythos verklärt und als Modellherrscher idealisiert. Sein Leben, soweit es sich aus den Quellen rekonstruieren lässt, und seine historischen Leistungen wurden dabei für verschie- dene Zwecke instrumentalisiert. So tauchte die Frage, ob Karl der Große „Franzose“ oder „Deutscher“ sei, be- reits im 13. Jahrhundert auf. Das war und bleibt eine ahistorische Frage, denn im frühen Mittelalter gab es noch keine Nationen. Karl selbst verortete sich in christlichen und antiken Traditionen, sah sich in direk- ter Nachfolge der römischen Kaiser – eine Traditions- linie, der er im Jahre 800 mit der Kaiserkrönung Aus- druck verleihen sollte. Nach Karls Tod zerfiel das Frankenreich in einen west- fränkischen Teil, aus dem im Laufe der Zeit Frankreich hervorging, und einen ostfränkischen, aus dem dann noch später das Deutsche Reich entstehen sollte. Die in den beiden Teilen herrschenden Nachfolger beanspruch- ten Karl und dessen Erbe jeweils für sich. Besonders im 19. und 20. Jahrhundert wurde Karl national und natio- nalistisch vereinnahmt. So bezeichnete sich etwa Napo- leon Bonaparte (1769–1821) als „Charlemagne“, als Eini- ger Europas unter französischer Oberhoheit. Aber auch die Deutschen stilisierten Karl als Gründungsvater des Deutschen Reichs, wobei Karls Bild durch sein grau- sames Vorgehen gegen die Sachsen immer zwiespältig blieb. Widersprüchlich war auch sein Bild während des Nationalsozialismus. Während Hitler Karl den Großen als Vorbild und wiederum Einiger Europas gegen die Ge- fahren aus dem Osten, dieses Mal unter nationalsozia- listischen Vorzeichen, vereinnahmte, blieb er für andere NS-Führer wie den „Chefideologen“ Alfred Rosenberg oder SS-Chef Heinrich Himmler als „Sachsenschlächter“ eine eher negative Figur. Karls Rolle als vermeintlicher Urvater einer europä- ischen Einigung wurde nach 1945 erneut aufgegriffen. Im Jahr 1950 initiierte der Kaufmann Kurt Pfeiffer (1893– 1987) in Aachen, Lieblingspfalz und Begräbnisort Karls des Großen, den Internationalen Karlspreis. Pfeiffer woll- te mit der Namensgebung nicht nur an den „ersten Ei- niger Europas“ erinnern, sondern mit der Wahl von Namenspatron und Verleihungsort im deutsch-franzö- sisch-belgisch-niederländisch-luxemburgischen Grenz- gebiet ein Zeichen für die zukünftige Einheit Europas setzen. Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese- hensten und symbolträchtigsten Auszeichnungen für Bemühungen um die europäische Einheit. Wer aber war der historische Karl der Große und worin bestan- den seine historischen Verdienste? Herkunft und Familie Wie bei allen frühmittelalterlichen Herrschern wissen wir aufgrund der Quellenlage vergleichsweise wenig über das Leben Karls des Großen. Das wichtigste und einflussreichste Zeugnis über Karl ist die Lebensbe- schreibung „Vita Karoli Magni“, die sein enger Vertrauter Einhard (um 770–840) kurz nach Karls Tod geschrieben hat. Orientiert an antiken Vorbildern idealisierte Ein- hard Leben und Wirken seines verstorbenen Herrschers. Gleichfalls unter höfischem Einfluss entstanden zu Leb- zeiten Karls oder unmittelbar nach seinem Tode so ge- nannte Annalen, die über bestimmte Zeitabschnitte oder Ereignisse in Karls Leben oder seiner Herrschaft Auskunft geben. Das Ziel, Karls Leben zu idealisieren, verfolgten auch die später entstandenen, meist aus Anekdoten bestehenden Gedichte und Epen, die Karl 1 Reitender König Diese Bronzestatue gilt als Abbild Karls des Großen. Sie stammt aus dem 9. Jahrhundert. © akg-images (Erich Lessing), Berlin
Transcript
Page 1: NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ... Fast nichts ist über seine Kindheit bekannt. Wo ... in manchmal mehr und manchmal

NEWSLETTERGESCHICHTE

ww

w.k

lett

.de

© E

rnst

Kle

tt V

erla

g G

mbH

, Lei

pzig

201

3. V

on d

iese

r D

ruck

vorl

age

ist

die

Verv

ielf

älti

gung

für

den

eig

enen

Unt

erri

chts

gebr

auch

ges

tatt

et. D

ie K

opie

rgeb

ühre

n si

nd a

bgeg

olte

n.

1 Karl der Große und das Frankenreich

Karl der Große (747/748–814) gehört zu den bekann tes­ten Herr schergestalten überhaupt. Als König des Fran­kenreichs und Kaiser des (West­)Römischen Reiches genoss er bereits zu Lebzeiten legendären Ruhm. Der Bei name „der Große“ wurde Karl schon von Zeit genos­sen verliehen. Als „Carolus Magnus“, „Charlemagne“ oder „Karl der Große“ ging er in die Geschichte ein. Nach seinem Tode wurde Karl zum Mythos verklärt und als Modellherrscher idealisiert. Sein Leben, soweit es sich aus den Quellen rekonstruieren lässt, und seine his torischen Leis tungen wurden dabei für verschie­dene Zwecke instrumentalisiert. So tauchte die Frage, ob Karl der Große „Franzose“ oder „Deutscher“ sei, be­reits im 13. Jahrhundert auf. Das war und bleibt eine ahistorische Frage, denn im frühen Mittelalter gab es noch keine Nationen. Karl selbst verortete sich in christ lichen und antiken Traditionen, sah sich in direk­ter Nach folge der römischen Kaiser – eine Tra di tions­linie, der er im Jahre 800 mit der Kaiserkrönung Aus­druck verleihen sollte.

Nach Karls Tod zerfiel das Frankenreich in einen west­fränkischen Teil, aus dem im Laufe der Zeit Frank reich hervorging, und einen ostfränkischen, aus dem dann noch später das Deutsche Reich entstehen sollte. Die in den beiden Teilen herr schenden Nachfolger beanspruch­ten Karl und dessen Erbe jeweils für sich. Be sonders im 19. und 20. Jahrhundert wurde Karl national und natio­nalistisch vereinnahmt. So bezeichnete sich etwa Napo­leon Bonaparte (1769–1821) als „Char lemagne“, als Ei ni­ger Europas unter französi scher Ober hoheit. Aber auch die Deutschen stilisierten Karl als Grün dungs vater des Deutschen Reichs, wobei Karls Bild durch sein grau­sames Vorgehen gegen die Sachsen immer zwiespältig blieb. Widersprüchlich war auch sein Bild während des Nationalsozialismus. Während Hitler Karl den Großen als Vorbild und wiederum Einiger Europas gegen die Ge­fah ren aus dem Osten, dieses Mal unter nationalsozia­listischen Vorzeichen, vereinnahmte, blieb er für andere NS­Führer wie den „Chef ideologen“ Alfred Rosenberg oder SS­Chef Heinrich Himmler als „Sach senschlächter“ eine eher negative Figur.

Karls Rolle als vermeintlicher Urvater einer europä­ischen Einigung wurde nach 1945 erneut aufgegriffen. Im Jahr 1950 initiierte der Kaufmann Kurt Pfeiffer (1893– 1987) in Aachen, Lieblingspfalz und Be gräb nisort Karls des Großen, den Internationalen Karls preis. Pfeiffer woll­te mit der Namens gebung nicht nur an den „ersten Ei­ni ger Europas“ erinnern, sondern mit der Wahl von Na menspatron und Verleihungsort im deutsch­franzö­sisch­belgisch­niederländisch­luxemburgischen Grenz­gebiet ein Zeichen für die zukünftige Einheit Europas setzen. Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese­hensten und symbolträchtigsten Auszeichnungen für Bemühungen um die europäische Einheit. Wer aber war der historische Karl der Große und worin bestan­den seine historischen Verdienste?

Herkunft und FamilieWie bei allen frühmittelalterlichen Herrschern wissen wir aufgrund der Quellenlage vergleichsweise wenig über das Leben Karls des Großen. Das wichtigste und ein flussreichste Zeugnis über Karl ist die Lebens be­schrei bung „Vita Karoli Magni“, die sein enger Vertrauter Einhard (um 770–840) kurz nach Karls Tod geschrieben hat. Orientiert an antiken Vorbildern idealisierte Ein­hard Leben und Wirken seines verstorbenen Herrschers. Gleichfalls unter höfischem Einfluss entstanden zu Leb­zeiten Karls oder unmittelbar nach seinem Tode so ge­nannte Annalen, die über bestimmte Zeitabschnitte oder Ereignisse in Karls Leben oder seiner Herrschaft Aus kunft geben. Das Ziel, Karls Leben zu idealisieren, verfolgten auch die später entstandenen, meist aus Anek doten bestehenden Gedichte und Epen, die Karl

1 Reitender KönigDiese Bronzestatue gilt als Abbild Karls des Großen. Sie stammt aus dem 9. Jahrhundert.

© a

kg-im

ages

(Eri

ch L

essi

ng),

Ber

lin

Page 2: NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ... Fast nichts ist über seine Kindheit bekannt. Wo ... in manchmal mehr und manchmal

NEWSLETTERGESCHICHTE

ww

w.k

lett

.de

© E

rnst

Kle

tt V

erla

g G

mbH

, Lei

pzig

201

3. V

on d

iese

r D

ruck

vorl

age

ist

die

Verv

ielf

älti

gung

für

den

eig

enen

Unt

erri

chts

gebr

auch

ges

tatt

et. D

ie K

opie

rgeb

ühre

n si

nd a

bgeg

olte

n.

2 Karl der Große und das Frankenreich

als christlichen Idealherrscher verherrlichten. Das be­kannteste dieser Werke ist die „Gesta Karoli“ des Mönches Notker von St. Gallen, das in den 880er­Jah­ren entstand.

Wie problematisch die Quellenlage insgesamt ist, ver­ deutlicht die Tatsache, dass weder Geburtsjahr noch Geburtsort Karls mit letzter Sicherheit bestimmt wer­den konnten. Vermutlich wurde er am 2. April 748, mög­licherweise aber schon 747, in einer der zahlreichen Re si denzen seines Vaters zwischen Loire und Rhein ge­boren. Fast nichts ist über seine Kindheit bekannt. Wo und durch wen Karl seine von den Zeitge nossen be­zeugte umfangreiche, für einen Adligen seiner Zeit außer gewöhnliche Bildung erhalten hatte, liegt eben­falls im Bereich der Vermutungen. Einiges spricht da­für, dass er gemeinsam mit seinen Geschwis tern in den damaligen Bildungszentren erzogen worden ist, in be­rühmten Klöstern wie St. Denis bei Paris oder St. Calais an der Loire.

Karls Vater Pippin (714–768) war ein hoher fränkischer Adliger. Einer Familientradition folgend, hatte Pippin zum Zeitpunkt von Karls Geburt das einflussreiche Amt eines „Hausmeiers“ („major domus“) inne. Als Pippin 768 starb, regierte Karl das Frankenreich zunächst ge­meinsam mit seinem Bruder Karlmann I. (751–771). Nach dem Tode Karlmanns übernahm Karl die alleinige Königsherrschaft.

König der FrankenDas Frankenreich gehörte im frühen Mittelalter zu den euro päischen „Großmächten“. Zu Beginn der Regie­rungs zeit Karls des Großen erstreckte es sich im Osten vom heutigen Thüringen über Friesland im Norden bis zur Atlantikküste im Westen. Bis zu seinem Tode hatte Karl das Territorium durch Kriege beträchtlich erweitern können. Am Anfang seiner Herrschaft sah es allerdings keineswegs so aus, als ob sich Karl gegen die von allen Seiten drohenden Gefahren würde behaupten können.

Noch während der Doppelregentschaft bis 771 hatte Karl das im Südwesten des heutigen Frankreich, zwi­schen den Pyrenäen und dem Atlantik gelegene ab­trünnige Herzogtum Aquitanien zurückerobert und da ­bei auch die benachbarte Gascogne dem Franken reich eingegliedert.

In den Auseinandersetzungen zwischen dem Papst und den Langobarden, deren Reich sich über große Teile des heutigen Italien erstreckte, stellte sich Karl 773 auf die Seite des Papstes. Mit seinem Heer erober­te Karl ein Jahr später die Hauptstadt des Langobarden­reiches, Pavia, und setzte dessen König Desiderius ab, der immerhin sein Schwiegervater war. Karl verstieß seine Ehefrau und ließ sich selbst in Pavia zum König der Langobarden krönen. Auch das zum Langobarden­reich gehörende Herzogtum Benevent im Süden blieb formal unabhängig, geriet aber als Vasallenstaat unter Karls Kontrolle. Karl war nun in Personalunion König der Franken und König der Langobarden. Anders als das

Langobardenreich konnte Karl die benachbarten Reiche der Awaren und Baiern im Südosten relativ mühe los unterwerfen und dem Frankenreich angliedern.

Verlustreicher und langwieriger verliefen Karls Kriege gegen die Mauren im Westen und gegen die Sachsen im Osten. Sein Feldzug gegen den Emir von Córdoba endete ohne Erfolg: 778 musste er die Belagerung von Saragossa abbrechen. Als besonders hartnäckige Geg­ner erwiesen sich auch die „heidnischen“ Sachsen, die in der unwirtlichen Grenzregion des Frankenreiches zwi schen Nordsee, Weser und Elbe siedelten. Die als „Sachsenkriege“ bekannten Auseinandersetzungen dauer ten mit Unterbrechungen von 772 bis 804. Karls rücksichtslos und grausam geführte Kriege gegen die Sachsen brachten Karl nachhaltig in Verruf. So sollen auf seinen Befehl, allerdings nach nicht ganz zuverläs­sigen zeitgenössischen Quellen, allein beim so genann­ten „Blutgericht“ oder „Sachsenmord“ von Verden an der Aller im Jahre 782 etwa 4500 aufständische Sachsen enthauptet worden sein. Im Jahr 804 war die Bevöl­kerung im sächsischen Grenzgebiet endgültig unter­worfen und christianisiert. Das zuvor kaum organsierte und uneinheitliche Territorium der Sachsen wurde ins Frankenreich integriert.

Kaiserkrönung 800Inwieweit Karl der Große persönlich ein frommer Mensch war, ist eine Interpretationsfrage. Sein Lebens­wandel, seine fünf Ehen und die zahlreichen Geliebten entsprachen alles in allem den adligen Gepflogenheiten der Zeit. Als Herrscher entwickelte Karl der Große ein funk tionales Verhältnis zu Christentum und Kirche. Hier agierte er als „defensor eclesiae“, als „Verteidiger der Kirche“, war für ihren Schutz nach innen und für die Missionierung und Christianisierung des Reiches so­wohl im Innern als auch an den Grenzen und in den neu eroberten Gebieten verantwortlich.

Von zentraler Bedeutung für Karls Herrschaft war sein Verhältnis zum Papst in Rom und zum Klerus in seinem Reich. Beide suchte er zu Verbündeten zu ma­chen. Das spektakulärste Ereignis in diesem Zusammen­hang stellt die Kaiserkrönung Karls des Großen zu Weih nachten im Jahr 800 durch Papst Leo III. dar. Diese Kaiserkrönung stieß im Byzantinischen Reich (das Im­perium Romanum war 395 in ein west­ und ein oströ­misches Reich aufgeteilt worden) zunächst auf hef­tigen Widerstand. In Byzanz verstand man sich bis da­hin als alleiniger Nachfolger des Römischen Reiches. Erst nach langjährigen Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen erkannte der byzantinische Kaiser („Basileus“) Michael I. seinen Kontrahenten Karl den Großen schließlich als Kaiser des (west­)römischen Reiches an. Bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 existierten fortan zwei Kaiserreiche, die sich direkt auf das antike Römische Reich bezogen, in manchmal mehr und manchmal weniger friedlicher Koexistenz.

Page 3: NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ... Fast nichts ist über seine Kindheit bekannt. Wo ... in manchmal mehr und manchmal

NEWSLETTERGESCHICHTE

ww

w.k

lett

.de

© E

rnst

Kle

tt V

erla

g G

mbH

, Lei

pzig

201

3. V

on d

iese

r D

ruck

vorl

age

ist

die

Verv

ielf

älti

gung

für

den

eig

enen

Unt

erri

chts

gebr

auch

ges

tatt

et. D

ie K

opie

rgeb

ühre

n si

nd a

bgeg

olte

n.

3 Karl der Große und das Frankenreich

Die Krönung Karls durch den Papst war eine Gegen­leis tung für die Unterstützung, die der fränkische König dem in Bedrängnis geratenen Leo III. im Kampf gegen die adlige römische Opposition gewährt hatte. Diese hatte seine Absetzung gefordert. Papst Leo bat Karl um Hilfe. Dieser wiederum verlangte als Gegenleistung die Krönung zum Kaiser.

Karl der Große wollte das antike römische Kaisertum jedoch nicht einfach nur bewahren oder fortsetzen. Als „Imperator Renovati Imperii Romani“, also als Kaiser eines erneuerten Römischen Reiches, war Karl vielmehr bestrebt, den Bestand seines Reiches, nicht nur durch kriegerische Grenzsicherungen und Gebiets erwei te­rungen, sondern auch durch tiefgreifende Reformen zu sichern.

Reformen und Neuordnung des FrankenreichsKarls Reformen zielten vor allem auf die innere Neu­ordnung des Reiches. Kernstück seiner Reformen war der Auf­ und Ausbau einer einheitlichen Verwaltung. Aber auch auf rechtlichem, kulturellem und kirchlichem Gebiet sowie im Bereich des Geldwesens ist Karls Herr­schaft mit umfassenden Reformen verbunden.

Die folgenreichste innenpolitische Reform stellt die Schaffung einer Grafschaftsverfassung dar, die die ver­schiedenen Stämme des Reiches zu einem einheitlichen Verwaltungsgebiet zusammenschloss. Karl setzte in be­stimmten Gebieten Grafen als königliche Amtsträger und als seine Stellvertreter ein. Sie übten in seinem Namen die Macht in ihren Territorien aus. Die Grafen waren Karl direkt unterstellt und durch einen Treueeid an ihn gebunden. Nach dem Vorbild des römisch­anti­ken Klientelwesens sicherte er sich ihre Loyalität durch die Vergabe von Lehen. Damit wurden die Grafen Be­sit zer und Nutznießer von Grund und Boden; Eigen­tümer blieb jedoch der König. Karls Grafschafts ver fas­sung band die „Großen“ des Landes an seinen Hof und an seine Person. Damit schuf er eine neue, an den Hof und den Herrscher gebundene Aristokratie.

Im Rechtswesen etablierte Karl durch die Einführung von reichsverbindlichen Anordnungen bzw. Gesetzen – den Kapitularien – schriftlich fixierte Normen, die die Verwaltung und Rechtsprechung regelten. Ihre Nicht­ein haltung wurde mit Sanktionen und Strafen belegt. In der langen Regierungszeit Karls bildeten die Kapi­tularien einen wichtigen Grundpfeiler zur Konsolidie­rung seiner Herrschaft und zur Herausbildung eines einheitlichen Rechts­ und Verwaltungsraums im Fran­ken reich. Unter Karls Nachfolgern nahm ihre Bedeutung jedoch immer mehr ab.

Auch im Geldwesen kam es unter Karl zu einer Ver­ein heitlichung. Mit dem Silberdenar führte Karl eine reichs weit gültige und akzeptierte Währung ein.

Folgenreich waren Karls Bemühungen, das Kirchen­wesen in seinem Reich zu reformieren. Auch hier be­diente er sich vor allem der Kapitularien, die zahlreiche religiöse und innerkirchliche Angelegenheiten regel­

ten. Karl war als König und Kaiser nicht nur formal oberster Kirchenherr. Er behielt es sich vor, in wich­tigen innerkirchlichen Belangen direkt einzugreifen und die kirchliche Infrastruktur nach seinen Vorstel­lungen zu gestalten. Auf den von ihm einberufenen Synoden beriet und entschied er gemeinsam mit den Bischöfen und anderen Geistlichen die anstehenden kirchenrechtlichen Fragen. Bei der Wahl neuer Bischöfe, die auch für die Verwaltung des Reiches von Bedeutung waren, versuchte Karl mehr als einmal, seinen Einfluss geltend zu machen. Karl initiierte den Bau neuer Kirchen und gründete eine Reihe von Bistümern.

Zu den wichtigsten Leistungen Karls gehört die För­derung von Bildung, Wissenschaft und Kultur. Nicht zu Unrecht ist seine Herrschaftszeit als „Karolingische Renaissance“ in die Geschichte eingegangen. Unver­kenn bar ist der Aufschwung, den die Baukunst, das Bil dungswesen, die Dichtkunst oder das Buchwesen unter seiner Herrschaft erlebten. Karls Hof entwickelte sich zu einem Zentrum der damaligen Künste und Wis­senschaften. In den Klöstern im Reich erlernten immer mehr Mönche Lesen und Schreiben. Das Kopieren und Sammeln antiker Texte wurde in vielen Klöstern nicht mehr zufällig, sondern nun systematisch betrieben. Aachen, Karls Lieblingsresidenz sollte zu einem neuen Rom ausgebaut werden, wobei Antikes und Christliches zusammen mit byzantinischen Einflüssen zu einer neu­en Einheit verschmolzen wurden. Dies zeigt bis heute eines der wenigen noch erhalten Gebäude aus der Karolingerzeit, die Pfalzkapelle des Aachener Doms.

Tod und ErbeKarl der Große starb am 28. Januar 814, vermutlich an einer Erkältung oder Rippenfellentzündung, die er sich wenige Wochen zuvor bei einer Jagd in den Ardennen zugezogen hatte. Er hinterließ ein ausgedehntes Reich, das die Vorherrschaft in Europa für sich beanspruchte. Seinem Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen (778–840), den er bereits zu Lebzeiten zum Mitregenten erhoben hatte, gelang es jedoch nicht, Karls ambitio­niertes Reform­ und Herrschaftsprogramm in gleicher Weise fortzusetzen. Knapp zwanzig Jahre nach dem Tod Karls zerfiel das Frankenreich. Im Vertrag von Ver­dun 843 wurde das ausgedehnte Frankenreich, alten fränkischen Traditionen folgend, unter den drei erbbe­rechtigten Enkeln Karls aufgeteilt. Im Laufe der Jahr­hun derte entwickelten sich aus diesen Nachfolgestaa­ten unter anderem das spätere Frankreich und das Deutsche Reich.

Page 4: NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ... Fast nichts ist über seine Kindheit bekannt. Wo ... in manchmal mehr und manchmal

NEWSLETTERGESCHICHTE

ww

w.k

lett

.de

© E

rnst

Kle

tt V

erla

g G

mbH

, Lei

pzig

201

3. V

on d

iese

r D

ruck

vorl

age

ist

die

Verv

ielf

älti

gung

für

den

eig

enen

Unt

erri

chts

gebr

auch

ges

tatt

et. D

ie K

opie

rgeb

ühre

n si

nd a

bgeg

olte

n.

4 Karl der Große und das Frankenreich

2 Einhard über Karl den GroßenDer fränkische Adlige Einhard (um 770–840) gehörte zu den engsten Vertrauten Karls des Großen. Der hoch gebil-dete Einhard genoss hohes Ansehen am Hof. In seinem berühmtesten Werk „Vita Karoli Magni“ berichtet er über das Leben Karls. Der Text entstand vermutlich erst nach dem Ausscheiden Einhards aus Hofdiensten, vermutlich in den 830er-Jahren. Am Vorbild römischer Kaiserbiographien orientiert, dient Einhards Werk vor allem der Idealisierung Karls des Großen. Die auf Latein verfasste „Vita“ zählt bis heute zu den zentralen Quellen zu Leben und Werk Karls. Über den älteren Karl schreibt Einhard:22. Karl war kräftig und stark, dabei von hoher Gestalt, die aber das rechte Maß nicht überstieg. Es ist allgemein be­kannt, dass er sieben Fuß [ein karolinger Fuß maß 32,24 cm] groß war. Er hatte einen runden Kopf, seine Augen waren sehr groß und lebhaft, die Nase etwas lang; er hatte schöne graue Haare und ein heiteres und fröhliches Gesicht. Seine Erscheinung war immer imposant und wür­devoll, ganz gleich, ob er stand oder saß. Sein Nacken war zwar etwas dick und kurz, und sein Bauch trat ein wenig hervor, doch fielen diese Fehler bei dem Ebenmaß seiner Glieder nicht sehr auf. Sein Gang war selbstbewusst, seine ganze Körperhaltung männlich und seine Stimme klar, obwohl sie nicht so stark war, wie man bei seiner Größe

hätte erwarten können. Seine Gesundheit war immer aus­ge zeichnet, nur in den letzten vier Jahren seines Lebens litt er öfter an Fieberanfällen und hinkte schließlich sogar auf einem Fuß. Trotzdem folgte er weiterhin lieber seinem eigenen Gutdünken und nicht dem Rat der Ärzte, die er fast hasste, weil sie ihm vorschrieben, dass er das gewohn­te Bratenfleisch aufgeben und dafür gekochtes Fleisch essen sollte. Nach fränkischem Brauch ritt und jagte er fleißig; es gibt auf der Welt kein Volk, dass sich in dieser Beziehung mit den Franken messen könnte. Karl liebte die Dämpfe heißer Naturquellen und schwamm sehr viel und gut, dass es niemand mit ihm aufnehmen konnte. […]

23. Er kleidete sich nach der nationalen Tracht der Fran­ken: auf dem Körper trug er ein Leinenhemd, die Ober­schen kel bedeckten leinene Hosen; darüber trug er einen Rock, der mit Seide eingefasst war; die Unterschenkel wa­ren mit Gamaschen umhüllt. Sodann umschnürte er seine Waden mit Bändern und seine Füße mit Schuhen. Im Win­ter schützte er seine Schultern und Brust durch ein Wams aus Otter­ oder Marderfell. Darüber trug er einen blauen Umwurf. Auch gürtete er sich stets ein Schwert um, des­sen Griff und Gehenk aus Gold und Silber waren. Nur an hohen Feiertagen oder bei Empfängen von Ge sand ten aus fremden Ländern trug er ein Schwert, das mit Edelsteinen besetzt war. Ausländische Kleider ließ er sich fast niemals

anziehen, auch wenn sie noch so ele gant waren, denn er konnte sie nicht leiden. […] An hohen Festtagen trug er goldgewirkte Klei der und Schuhe, auf denen Edelsteine glänz ten. Sein Um­hang wurde dann von einer goldenen Spange zusammengehalten, und er schritt im Schmucke seines Diadems [schmuckvolles Stirnband] aus Gold und Edelsteinen einher. An anderen Tagen unterschied sich seine Kleidung nur wenig von der des gewöhnlichen Volkes.

24. Karl war maßvoll im Essen und Trinken. Zu­mal im Trinken, da er die Trunkenheit bei jedem Menschen, ganz besonders an sich selbst und den übrigen Mitgliedern seines Haushaltes sehr verabscheute. Enthaltsamkeit im Essen fiel ihm dagegen schwer, und er beklagte sich oft, dass das Fasten seiner Gesundheit schade. Er gab sehr selten Gelage, meist nur an hohen Feier tagen, dann aber für eine große Anzahl von Leuten. Seine täglichen Mahlzeiten bestanden aus vier Gängen und dem Fleisch, das seine Jäger auf dem Spieß brieten, das er lieber als alles andere aß. Während des Essens hörte er sich entweder Musik oder einen Vorleser an. Dabei wurden ge­schichtliche Werke und die Taten der Alten [der Antike] vorgetragen. […] An Wein und anderen Getränken gönnte er sich so wenig, dass er wäh­rend der Mahlzeiten selten mehr als drei Becher trank. […] Mit der Nachtruhe hielt er es so, dass sein Schlaf gewöhnlich vier­ oder fünfmal unter­brochen wurde; sobald er erwachte, stand er dann auch auf. Während man ihm die Schuhe

5

10

15

20

25

30

35

3 Das Frankenreich zur Zeit Karls des Großen

© K

lett

-Arc

hiv,

Stu

ttga

rt

40

45

50

55

60

65

70

Page 5: NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ... Fast nichts ist über seine Kindheit bekannt. Wo ... in manchmal mehr und manchmal

NEWSLETTERGESCHICHTE

ww

w.k

lett

.de

© E

rnst

Kle

tt V

erla

g G

mbH

, Lei

pzig

201

3. V

on d

iese

r D

ruck

vorl

age

ist

die

Verv

ielf

älti

gung

für

den

eig

enen

Unt

erri

chts

gebr

auch

ges

tatt

et. D

ie K

opie

rgeb

ühre

n si

nd a

bgeg

olte

n.

5 Karl der Große und das Frankenreich

4 Ein König bei der ArbeitDer Mittelalterhistoriker Johannes Fried (geb. 1942) beschreibt den Arbeits- und Herrschaftsalltag Karls des Großen am Beispiel der Frankfurter Synode 794:Frankfurts Geschichte begann mit Karl dem Großen (768–814), so weiß heute jedes Kind. Der Winter zog herauf, als der König kam, die Zeit, in der die Leute am Hof aus den Scheuern [Scheunen, Lagergebäuden] und vom Geselch­ten [Geräucherten] lebten, nicht von den Feldern, er selbst, der König, sich in der Kemenate [kleiner beheizter Wohn­raum, Kaminraum] wärmte und ins Wams aus Ottern­ und Marderfell hüllte, die Zeit der Untätigkeit und des Nach sin­nens, die häufiger der Buchlektüre diente und den Schreib­übungen für die schwere Hand. Damals, um die Jahres­wen de 793/94, in den letzten Tagen des Dezember, den ersten des Januar, begann Frankfurts Geschichte. […]

Der Ort freilich, den der König für eine Überwinterung bestimmte, musste entsprechend eingerichtet sein. Feste Häuser, eine Kirche, Speicher, Ställe, Werkstätten, Arbeits­kräfte – alles musste in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, sollte er hier monatelang wohnen. Das war kein Werk des Augenblicks, setzte intensive Vorbereitungen vor aus, mehrjährigen Aufbau, wenn die ganze Anlage nicht ohnehin schon seit Langem bestand. So existierten Ort und Königshof Frankfurt zweifellos schon vor jener Jahreswende […].

Über sieben Monate weilte der König damals in seiner hiesigen Pfalz [burgähnliche Palastanlage, im Mittelalter Stützpunkt und zeitweiliger Wohnort des Königs], bis tief in den Sommer hinein. Hier feierte er das Osterfest, emp­fing Besucher, sprach Recht, stellte Urkunden aus, hier ließ er theologische Gutachten verfassen und vortragen, die kirchliche Funktion von Bildern erörtern, religiöse Prak­tiken prüfen, hier beklagte er den Tod seiner Frau. […] Der Aufenthalt gipfelte in einer Synode, gar als ein ökume­nisches Konzil geplant. Manch ein Zeitgenosse […] nann­te sie entsprechend. Es ging um Glaubens­, Rechts­ und soziale Fragen, die nicht nur das Frankenreich und die Angelsachsen, sondern auch Rom, Byzanz, Spanien, ja die ganze christliche Kirche in Unruhe versetzten. In diesem halben Jahr stand Frankfurt im Zentrum der Weltpolitik.

Schlimme Nachrichten hatten Karl kürzlich erreicht: Die Dänen hätten England überfallen, ganz Sachsen sei in Aufruhr, ein sarazenisches Heer nach Septimanien [histo­

5

10

15

20

25

30

35

40

und Kleider anzog, gab er seinen Freunden meist Au dien­zen. Und wenn ihm der Pfalzgraf von einer Streitigkeit be richtete, die seine Entscheidung verlangte, ließ er die streitenden Parteien sofort hereinführen, hörte sich den Fall an und verkündete sein Urteil, genauso als säße er auf dem Richterstuhle. Doch nicht nur das, er gab gleichzeitig auch Anweisung, was alles am Tage getan oder den Beamten aufgetragen werden sollte.

25. Karl war ein begabter Redner, er sprach fließend und drückte alles, was er sagen wollte, mit äußerster Klarheit aus. Er beherrschte nicht nur seine Muttersprache, son­dern er lernte auch fleißig Fremdsprachen. Latein verstand er und sprach es wie seine eigene Sprache. Griechisch konnte er allerdings besser verstehen als sprechen. Er war rednerisch so begabt, dass er ein Lehrer der Rhetorik hät­te sein können. Die Geisteswissenschaften pflegte er mit großem Eifer, achtete seine Lehrer sehr und bewies ihnen große Ehrbezeugungen. […] Er lernte Rechnen und ver­folgte mit großem Wissensdurst und aufmerksamen Inte­resse die Bewegungen der Himmelskörper. Auch versuch­te er sich im Schreiben und hatte unter dem Kopfkissen im Bette immer Tafeln und Blätter bereit, um in schlaf­losen Stunden seine Hand im Schreiben zu üben. Da er aber erst verhältnismäßig spät damit begonnen hatte, brachte er es auf diesem Gebiet nicht sehr weit.

26. Die christliche Religion, mit der er seit seiner Kind­heit vertraut war, hielt er gewissenhaft und fromm in höchs ten Ehren. Deshalb erbaute er die wunderschöne Kirche in Aachen, die er mit Gold und Silber, mit Leuchten und mit Gittern und Türen aus massivem Metall aus­schmückte. Für diesen Bau ließ er Säulen aus Marmor aus Rom und Ravenna bringen, da er sie sonst nirgends be­kommen konnte. Er besuchte die Kirche regelmäßig mor­gens und abends […]. Er bestand darauf, dass alle dort abgehaltenen Gottesdienste mit möglichst großer Feier­lich keit zelebriert wurden. […] Er schenkte der Kirche viele heilige Gefäße aus Gold und Silber sowie eine große Anzahl von Priestergewändern […]

Ganz besonders lag Karl die Unterstützung der Armen am Herzen und jene uneigennützige Freigebigkeit, die von den Griechen mit dem Wort „Almosen“ bezeichnet wird. Er übte diese Tugend aber nicht nur in seinem eigenen Vater­land und Reich, denn sobald er sicher wusste, dass die Christen in Syrien, Ägypten und Afrika, in Jerusalem, Ale x­an drien und Karthago in Armut lebten, schickte er ihnen aus Mitleid mit ihrer Lage regelmäßig Geld über das Meer. […] Er verehrte die Kirche des heiligen Apostel Petrus in Rom vor allen anderen heiligen und verehrungswürdigen Stätten und beschenkte ihre Schatzkammern mit großen Mengen von Gold, Silber und Edelsteinen. Auch an die Päpste sandte er zahllose Geschenke. […]

29. Nachdem er den Kaisertitel angenommen hatte, wid mete er seine Aufmerksamkeit den Gesetzen seines Vol kes, die in vielem mangelhaft waren. Die Franken hat­ten nämlich zweierlei Rechte, die in manchen Einzelheiten stark voneinander abwichen. Karl beabsichtigte, Fehl en­des zu ergänzen, Widersprechendes auszugleichen und

alles Falsche und Verkehrte zu verbessern. Doch kam er nicht weit damit und fügte den bestehenden Gesetzen nur wenige und unvollständige Ergänzungen hinzu. Er ließ aber alle ungeschriebenen Gesetze der von ihm be­herrschten Stämme sammeln und schriftlich aufzeichnen. Auch die uralten heidnischen Lieder, in denen die Taten und Kriege der alten Könige besungen wurden, ließ er aufschreiben, um sie für die Nachwelt zu erhalten. […]

Zit. nach: Einhard, Vita Karoli Magni / Das Leben Karls des Großen. Latei­nisch und Deutsch. Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Evelyn Scherabon Coleman, © Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart 1968, S. 47ff.

75

80

85

90

95

100

105

110

115

120

125

130

135

Page 6: NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ... Fast nichts ist über seine Kindheit bekannt. Wo ... in manchmal mehr und manchmal

NEWSLETTERGESCHICHTE

ww

w.k

lett

.de

© E

rnst

Kle

tt V

erla

g G

mbH

, Lei

pzig

201

3. V

on d

iese

r D

ruck

vorl

age

ist

die

Verv

ielf

älti

gung

für

den

eig

enen

Unt

erri

chts

gebr

auch

ges

tatt

et. D

ie K

opie

rgeb

ühre

n si

nd a

bgeg

olte

n.

6 Karl der Große und das Frankenreich

45

50

55

60

65

70

75

80

85

90

95

risches Territorium im heutigen Südfrankreich, zwischen der Rhônemündung und den Pyrenäen] eingedrungen, schwere Verluste seien zu beklagen. Päpstliche Legaten [Abgesandte] hatten kostbare Geschenke und mit ihnen irritierende Botschaften aus Rom überbracht. Der König musste handeln. Wichtige Entscheidungen standen an und sollten in Frankfurt getroffen werden. Einige Militär­aktionen gegen die Awaren im Südosten des Reiches wa­ren gerade beendet, ein Heereszug gegen die Sachsen stand bevor; Frankfurt lag etwa in der Mitte zwischen den beiden Fronten. Karls Verweilen am Main war nur eine Atem pause in einer schier endlosen Kette von Kriegen, die seine Herrschaft in den Augen jenes kampfwilligen Adels legitimierten, der ihn umgab. Auch Adelsaufstände mach­ten dem König zu schaffen. Keine zwei Jahre war es her, seit Pippin, Karls buckliger Sohn, sich gegen den Vater ver­schworen und nach dem Thron getrachtet hatte. So galt es, das Reich auch im Innern zu festigen und zu ordnen. Zumal dieser Aufgabe wandte sich der König in Frankfurt zu. War er in seinen bisher fünfundzwanzig Regierungs­jah ren vor allem Heerführer und Eroberer gewesen, so musste er nun Reformer werden, den Konsens zu seiner Herr schaft steigern, Gottesverehrung und Wissenschaft mehren, Frieden und Gerechtigkeit schaffen, das Volk zum christlichen Glauben führen.

Karl kam nicht allein. Wie jedem frühmittelalterlichen König auf Reisen begleiteten ihn sein Hofstaat, Männer, Frauen, selbst Kinder, zahlreiche Große und starke Trup­pen. Die Königin Fastrada, jung, schön und grausam, wie zeitgenössische Autoren sie nannten, folgte dem Gemahl. Sie starb während der Hundstage, am 10. August. Elf Jahre hatte ihre Ehe gewährt, zwei Töchtern hatte die Königin das Leben geschenkt; Karl bestattete sie feierlich in St. Al­ban zu Mainz und suchte schon bald nach einer Nach fol­gerin. Bischöfe, Äbte und Grafen aus allen Ländern, über welche die Franken geboten, erschienen vor dem König, zahlreiche Gelehrte trafen zusammen, um ihn bei den an­stehenden kirchlichen und theologischen Fragen zu bera­ten, dazu schlichte Schreiber, viel Volk, die ganze Mar ke­tenderei. Die Herren wurden von ihren Leuten begleitet, Waffen trug nahezu jeder. Der Frieden hielt, zerstritten wie sie untereinander waren, nur schlecht. Des Königs Gegen wart mochte die Fehdelust kaum einzudämmen. […] Eini ge Bittsteller hatten Erfolg, drangen bis zum König vor, und Karl gewährte ihnen, worum sie baten. Entrichteten sie die geforderten Gebühren, konnten sie eine Urkunde ent gegennehmen, die Recht und Besitz schriftlich verzeichnete. […]

Der Angelsachse Alkuin bat Karl um Hilfe gegen die Dänen und bei der Befreiung der Gefangenen, die jene in England gemacht hatten. Es müssen Tausende gewesen sein, die Frankfurt damals unterzubringen und bei Laune, mithin friedlich zu halten hatte, Angehörige der verschie­densten Völker und Sprachen. Irgendwo, mehr schlecht als recht, lagerten und wohnten sie alle, die der König gerufen und die gekommen waren. Glanz und Elend lagen nahe beieinander. Manch einer starb, gleich der Königin,

hier in der Fremde. Die Baulichkeiten auf dem Pfalzhügel reichten nicht hin, um jedem ein Dach über dem Kopf zu gewähren. Zelte, notdürfte Hütten wird man aufgeschla­gen, Schiffe auf dem Fluss vertäut haben, um die Besucher unterzubringen. […]

Hierher [nach Frankfurt] – und nur dieses einzige Mal in seiner langen Regierungszeit – berief Karl „die Bischöfe aus allen Provinzen seines Reiches“. […] In der Halle der Pfalz, „in aula sacri palacii“, wurde getagt, „zum Kranz geordnet“, im Kreis also, nahmen die Bischöfe, Priester, Diakone [geist­liches Amt, Vorstufe zum Priester] und der übrige Klerus Platz. Karl thronte über ihnen und beteiligte sich von oben herab an den Sitzungen der Synode. Dieselbe fasste wie ein Brennspiegel die Nöte und Ängste des Frankenreiches und seines Königs zusammen. […]

Es war Routinearbeit, was König und Synode hier leis­teten, unsystematisch, bloß durch die Bedürfnisse der Gleich zeitigkeit zusammengehalten und durch Karls Willen zur Reform vereint. Allgemein formulierte Hinweise auf die Kanones [kirchliche Vorschriften] spiegeln mehr Einheitlichkeit vor, als es sie tatsächlich gab. Noch exi­stierte kein kirchliches Rechtsbuch, das für alle in gleicher Weise verbindlich war. Die Normen kursierten vielmehr in divergierenden Sammlungen, nicht selten mit abweichen­dem Wortlaut. Karl ahnte die damit verbundenen Pro­bleme, lösen konnte er sie nicht. Sein Handeln war spora­disch, situationsbezogen, reagierte auch in seinem Re form­streben gewöhnlich nur auf akutelle Missstände, ohne eine Gesamterneuerung seines Reiches vorgreifend und weg weisend zu umreißen. Gleichwohl war ihm eine Hie­rarchie der Zwecke nicht fremd. Gott, König, Volk waren ihre Stufen, die Kirche, der Leib des Herrn, gab das Muster, nachdem sie zueinander geordnet waren. […]

Zit. nach: Johannes Fried, Karl der Große in Frankfurt am Main. Ein König bei der Arbeit, in: 794 – Karl der Große in Frankfurt am Main. Ein König bei der Arbeit. Ausstellung zum 1200­Jahre­Jubiläum der Stadt Frankfurt am Main. Veranstaltet vom Magistrat der Stadt Frankfurt am Main, Amt für Wissenschaft und Kunst, Historisches Museum, Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1994, S. 25–34, hier S. 25ff.

100

105

110

115

120

125

130

5 Karl – „der Große“Der Paderborner Historiker Jörg Jarnut bezieht in einem Vor trag von 1998 in seine Überlegungen von Karls „Größe“ verschiedene Aspekte des Menschen, Herrschers und des Mythos ein: Sie wissen es mittlerweile alle, denn zumindest die loka­len und die regionalen Medien berichten ja seit Monaten beinahe ständig darüber. Vor 1200 Jahren, also im Jahre 799, trafen sich hier in Paderborn Karl I. und Leo III. Ich sehe Ihren Gesichtern an, dass Sie überrascht, wenn nicht gar befremdet sind. Wie, Karl I.? Gut, Leo III., das ist ein mir sonst kaum bekannter Papst, offensichtlich der dritte sei­nes Namens. Aber Karl I.? Karl rechtfertigt seine Ord­nungs zahl nun sogar in doppelter Weise: Zum einen ist er der erste Frankenkönig, der diesen Namen trägt, und zum anderen ist er der erste Kaiser, der „Karl“ hieß. Karl I. über­ragt aber seine zahlreichen königlichen und kaiserlichen

5

10

Page 7: NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ... Fast nichts ist über seine Kindheit bekannt. Wo ... in manchmal mehr und manchmal

NEWSLETTERGESCHICHTE

ww

w.k

lett

.de

© E

rnst

Kle

tt V

erla

g G

mbH

, Lei

pzig

201

3. V

on d

iese

r D

ruck

vorl

age

ist

die

Verv

ielf

älti

gung

für

den

eig

enen

Unt

erri

chts

gebr

auch

ges

tatt

et. D

ie K

opie

rgeb

ühre

n si

nd a

bgeg

olte

n.

7 Karl der Große und das Frankenreich

Na mensvettern offenbar so weit, dass das Epitheton [schmüc kendes Beiwort] „der Große“ zu einem festen Be­standteil des Namens geworden ist, während es völlig un an gemessen erscheint, ihm mit seiner Ordnungszahl „der Erste“ zu etikettieren. Das wird in anderen europä­ischen Kultursprachen noch deutlicher, heißt es dort noch, abgeleitet vom lateinischen „Karolus magnus“, „Charle­magne“ […] und „Charlomagno“, das „groß“ ist hier also sogar zum unlösbaren Teil seines Namens geworden. Eine derartige Benennung und diese dazu noch in mehreren Spra chen wie eben für den ersten Karl ist absolut einma­lig, ein allererster Hinweis auf die ungewöhnliche Bedeu­tung dieses Herrschers.

Ehe ich nun versuche, dem großen Karl als Menschen, als Herrscher und als Mythos gerecht zu werden, musss ich eine kurze, aber entscheidende Bemerkung über die Quellenlage machen. Es gibt beinahe nur Zeugnisse über Karl, deren Entstehung von ihm selbst oder von seinen unmittelbaren Nachfahren kontrolliert wurden, seine zahl­reichen, von ihm besiegten Feinde haben keine, ihre eige­nen Positionen widerspiegelnden Quellen hinterlassen. Hier hat also wirklich einmal der Sieger die Geschichte nicht nur gemacht, sondern sie auch noch geschrieben, was dem Historiker deren Rekonstruktion und Deutung nicht gerade leichter macht. […]

Nun aber zunächst einmal zu dem, was Sie wahrschein­lich am meisten interessiert: Wie groß war denn Karl nun? Anthropologen glauben, aus seinen Skelettresten auf 1,92 m schließen zu dürfen. Einhard und andere Quellen liefern uns also das Bild eines überaus kriegstüchtigen und selbst verständlich mit höchsten jagdlichen und reiter­lichen Fähigkeiten ausgestatteten Herrschers. Wir kom­men damit zu einem Aspekt unseres Themas, den zu ver­mitteln besonders schwer fällt, da hierbei die völlige An­ders artigkeit des Mittelalters sichtbar wird, im Fach jargon: seine Alterität. Der frühmittelalterliche adlige Herr leitete aus seiner perfekten Körperlichkeit ein uns eher befrem­dendes ungeheuer starkes Selbstwertgefühl ab, das mit der Hochschätzung des vollkommenen männlichen Kör­pers in der adligen Gesellschaft korrespondierte. War ein derartiger Körper doch die Voraussetzung für die Ausübung des adligen Berufs schlechthin, nämlich den des Kriegers.

Und jetzt mute ich Ihnen bezüglich der Alterität des Mit tel alters gleich noch mehr zu. Wenn ich unter Ihnen, die Sie so verschieden an Alter, Geschlecht, Herkunft, Beruf und Weltanschauung sind, eine Umfrage machen würde, was Sie als besonders hohe Werte ansehen, dann bin ich sicher, dass die „Wahrung des Friedens“ und die „Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“ für fast hun­dert Prozent von Ihnen zu diesen höchsten Werten gehö­ren. Das hätten weder Karl noch seine adligen Vasallen verstanden. Ihr Selbstwertgefühl und ihre adlige Identität basierten nämlich auf steter Bereitschaft zum Kampf auf Leben und Tod und damit auf ihrer Fähigkeit zu töten. Ein adliger Herr, der gepflügt, gewebt oder getöpfert hätte, hätte gegen die gottgewollte Ordnung verstoßen und

damit seinen adligen Status verloren; denn ihm war jede körperliche Arbeit außer Kampf und Jagd untersagt, sie war […] ihn deklassierende Sklavenfron.

In Friedenszeiten trug dieser Modellkrieger Karl nach dem Zeugnis Einhards fränkische Tracht […].

Diese letzte Feststellung ist bemerkenswert, denn Karl entfaltete demnach im Alltag nicht den im gesamten Mit­telalter verbreiteten Kleiderluxus, das ostentative Vor zei­gen seiner Stellung und seines Reichtums durch die Art seiner Bekleidung, ja, er verachtete diese Schaustellung der Mächtigen zutiefst. Ähnliche Mäßigung zeichneten ihn auch beim Alkoholgenuss aus, wiederum ein eher aty­pisches Verhalten in einer Zeit, in der starkes Trinken zu­mindest bei offiziellen Gastmählern eher die Regel als die Ausnahme war. […]

Keineswegs maßvoll war sein Konsum an Frauen. Fünf Ehe frauen und vier Konkubinen [öffentlich bekannte Ge­liebte] sind uns namentlich ebenso bekannt wie achtzehn seiner Kinder. Es dürfte sicher sein, dass diese Zahlen be­zogen auf Konkubinen und Kinder die Realität nur zum Teil abdecken. Aber hier verhielt sich Karl wie zahlreiche seiner merowingischen Vorgänger und wie viele seiner adligen Zeitgenossen, zu deren – nach unseren Vorstel­lungen – eher zweifelhaften Privilegien die beinahe unbe­grenzte Verfügungsgewalt über die Sexualität der von ih­nen abhängigen unfreien Frauen gehörte. […]

Natürlich war dieser sexuell so aktive Karl dennoch über aus fromm. Es gibt eben keinen mittelalterlichen Herr scher, der nach der Darstellung der ihn glorifizieren­den Quellen nicht überaus fromm gewesen wäre. Die drei wohl häufigsten Unterarten mittelalterlichen Herrscher­lobs sind nun einmal die Betonung der Frömmigkeit, der kriegerischen und der jagdlichen Tüchtigkeit des Gefeierten. […]

Doch kommen wir nun zu Karl als Herrscher. Um 800 erstreckte sich sein Reich von Holstein bis Katalonien, von der Bretagne bis nach Ungarn. Eine derartige Großreichs­bildung hatte es im westlichen Europa seit dem Untergang des weströmischen Reiches, also seit mehr als drei Jahrhunderten, nicht mehr gegeben. Durchweg war Krieg das Mittel gewesen, um das Reich zu erweitern. Karl dürf­te so ein Drittel seines Herrscherlebens auf Kriegszügen verbracht haben. […]

Als Herrscher brach Karl bisweilen das Gesetz, auch wenn es das göttliche war, wenn das die politischen Ver­häl tnisse erforderten.

Damit wären wir zu unserem Schlussteil gelangt, zum Mythos Karl. Ein erster Mythos, der ihn umgibt, ist uns schon etwas fragwürdiger geworden, nämlich der eines durch und durch christlichen Herrschers […]. Aber die von Karl ausstrahlende Aura des Erfolgs, die Vorstellungen, die die Nachwelt aufgrund seiner Herrschaftsleistung von ihm hegte, machten den Karolinger doch für das gesamte Mittelalter zum Idealherrscher, auf den sich die westfrän­kisch­französischen Könige ebenso beriefen wie die ost­fränkisch­deutschen, in dessen Tradition sie sich stellten zur besseren Legitimierung der eigenen Herrschaft. […]

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

65

70

75

80

85

90

95

100

105

110

115

120

125

Page 8: NEWSLETTER GESCHICHTE - Ernst Klett Verlag · Der Karlspreis gehört bis heute zu den angese ... Fast nichts ist über seine Kindheit bekannt. Wo ... in manchmal mehr und manchmal

NEWSLETTERGESCHICHTE

ww

w.k

lett

.de

© E

rnst

Kle

tt V

erla

g G

mbH

, Lei

pzig

201

3. V

on d

iese

r D

ruck

vorl

age

ist

die

Verv

ielf

älti

gung

für

den

eig

enen

Unt

erri

chts

gebr

auch

ges

tatt

et. D

ie K

opie

rgeb

ühre

n si

nd a

bgeg

olte

n.

8 Karl der Große und das Frankenreich

Ausdruck der mystischen Größe Karls ist auch die Tat­sache, dass seit dem 10. Jahrhundert zahlreiche europä­ische Adelsfamilien sich mit mehr oder weniger großem Recht, mit mehr oder weniger gefälschten Genealogien als seine Nachfahren darstellten, was in Anbetracht der Kinderschar dieses Herrschers nicht allzu schwierig war. Ziel war immer, das eigene Prestige zu erhöhen. Ähnlich müssen die zahlreichen Urkundenfälschungen auf den Namen Karls gesehen werden. Ein Privileg von ihm hatte einen weit höheren Wert als das irgendeines anderen Herrschers.

Wie kein zweiter mittelalterlicher König wurde Karl zum Gegenstand der mittelalterlichen Sage und Literatur. In den französischen Chansons de geste und in von ihnen abhängigen nichtfranzösischen Dichtungen wurde er zum Modellherrscher und gewaltigen Heidenbezwinger […].

Schon seit dem 13. Jahrhundert war zwischen Franzosen und Deutschen ein Streit darüber entbrannt, ob Karl Fran­zose oder Deutscher sei. Es ist schon deswegen völlig un sinnig, weil es um 800 zwar Franken, aber eben weder Fran zosen noch Deutsche gab. Dieser Streit wurde mit besonderer Erbitterung im Humanismus weitergeführt und hatte Fortsetzungen bis in unser Jahrhundert hinein. […]

In Frankreich konnten sich so verschiedene Herrscher wie Ludwig XIV. oder Napoleon mit Karl identifizieren, wobei der Korse [Napoleon] an den Papst schrieb: „Je suis Charlemagne“ – „Ich bin Karl der Große“.

Machen wir einen Sprung. Nicht sonderlich überraschen kann es, dass Karl in der Zeit des Nationalsozialismus höchst unterschiedlich bewertet wurde. Himmler und Rosenberg wollten ihn auf die Negativfigur eines den nordischen Menschen vernichtenden romanisierenden „Sachsenschlächters“ reduzieren. Hitler aber sah in ihm „einen der größten Menschen in der Weltgeschichte“, der eine entscheidende Rolle bei der Entstehung Deutschlands gespielt habe. Gewiss nicht gegen seinen Willen wurde eine Division der Waffen­SS, in der vor allem Franzosen dienen sollten, „Charlemagne“ benannt. […]

Kommen wir nun aber zum Schluss und fragen: Was bedeutet uns Karl im Jahre 1999 noch? Bezogen auf seine im Vexierspiegel der parteiischen Quellen nur schemen­haft erkennbaren Persönlichkeit lautet die ehrliche Antwort: wenig. Er scheint eher ein Mensch in all seinen Widersprüchen als ein wirklich großer Mensch gewesen zu sein.

Zweifellos war er hingegen ein großer Herrscher. Be­grün dete er doch ein Großreich, und erwarb er sich doch dabei eine Würde, das Kaisertum, die beide als ideale und idealisierte Orientierungs­ und Handlungsmodelle für sei­ne Nachfolger für Jahrhunderte bedeutsam blieben. Zu­dem verfestigte er in seinem Reich Strukturen, die wiede­rum für Jahrhunderte Modellcharakter behielten, man denke etwa an die sakrale Legitimation der Herrschaft, die daraus erwachsenden engen Verflechtungen von Staat und Kirche, an das Königtum als Förderer der Kultur und an den Königshof als Integrationszentrum für den staatstragenden Adel.

Da die Nachwelt aus den verschiedensten Gründen län­ger als ein Jahrtausend glaubte, Karl sei groß, und ihn deswegen zum vorbildlichen Idealherrscher stilisierte, ihn aber dabei zugleich für ihre jeweiligen Interessen instru­mentalisierte, wurde er zum gewaltigen Mythos, der fast alles und fast jedes bewirkt hatte und in dem sich beinahe jeder Herrscher wiedererkennen und damit legitimieren wollte.

Also: Karl I. oder Karl der Große? Jetzt spätestens muss es gesagt werden: Karl ist wohl der einzige Mensch zwi­schen Caesar und Hitler, von dem die meisten Europäer wenigstens den Namen und die Funktion kennen. Und selbst, wenn auch noch diese Kenntnisse verloren gingen, wofür einiges spricht, wenn man die Entwicklung der eu­ropäischen Schulsysteme betrachtet, dann werden Caesar im deutschen Wort „Kaiser“ und Karl in dem ebenso von seinem Namen abgeleiteten slawischen Wort „krol“ = „Herrscher“ wenigstens noch ein bescheidenes Schatten­dasein fristen. […] Also – nach sorgfältiger Abwägung al­ler Argumente: nicht Karl I., sondern Karl der Große.

Zit. nach: Jörg Jarnut, Karl der Große: Mensch, Herrscher, Mythos, Paderborner Universitätsreden Nr. 66, Paderborn 1999, S. 3ff.

1. Nennen Sie die wichtigsten historischen Leistungen Karls des Großen.

2. Einhards Beschreibung des Lebens Karls des Großen in seiner „Vita Karoli Magni“ idealisiert den Frankenherrscher. Erklären Sie, mit welchen stilistischen und sprachlichen Mitteln Einhard dabei vorgeht (M2).

3. Karl der Große ist für viele Zwecke vereinnahmt worden. Bis heute wird er als erster „Einiger Europas“ gewürdigt. Diskutieren Sie darüber im Unterricht.

4. Neben Karl dem Großen wird auch eine Reihe weiterer Herrscher als der oder die „Große“ bezeichnet. Warum? Nennen Sie Beispiele und stellen Sie einen von ihnen kurz vor. Informieren Sie sich dazu in der Bibliothek und im Internet. Diskutieren Sie anschließend über historische „Größe“ (M5).

Autor: Jens Thiel

130

135

140

145

150

155

160

165

170

175

180

185

190

195

200


Recommended