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Natürlich mehr leisten! || Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across...

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137 Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009 8.1 Jedes Team hat eine Struktur – 139 8.2 Ausrichtung: Kraft durch Visionen und Zielsetzung – 142 8.3 Personen und Potenzial – 145 8.3.1 Die bestmöglichen Leute einsetzen – 145 8.3.2 Training und Vorbereitung: Jedes Team braucht Übung und Erfahrungen – 148 8.3.3 Jedes Team hat emotionale Erlebnisse, die verbinden – 150 8.4 Strukturen und Prozesse: Annahmen anpassen und zielgerichtet neu strukturieren – 153 8.4.1 Der Rennverlauf – 153 8.4.2 Die erste Nacht am Rad – 154 8.4.3 Durch das rote Arizona – 154 8.4.4 Die ersten Learnings nach 24 Stunden – 155 8.5 Führung: hohe Reibungsverluste bei mangelnder Krisenführung – 159 8.5.1 Der Rennverlauf – Das Studium des Gegners – 159 8.5.2 Die »Gruppendynamik« setzte ein – 160 8.5.3 Der Kochprozess als Stimmungsmacher – 161 8.5.4 Der Eklat – 162 8.6 Umfeld: Die Fans mobilisieren, die Teamwerte leben – 164 8.6.1 Rennverlauf – Am Mississippi beginnt das Rennen neu! – 164 8.6.2 Der Zwischenapplaus – 164 8.6.3 Der Kampfgeist wurde geweckt – 165 8.6.4 Die Mitstreiter für die Extrameile gewinnen – 165 8.6.5 Die entscheidende Attacke – 165 8.6.6 Der Gegenangriff auf andere Art – 166 8 J. Leidenfrost, A. Sachs, Natürlich mehr leisten!, DOI 10.1007/978-3-642-35321-5_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
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Page 1: Natürlich mehr leisten! || Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

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Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

8.1 Jedes Team hat eine Struktur – 139

8.2 Ausrichtung: Kraft durch Visionen und Zielsetzung – 142

8.3 Personen und Potenzial – 1458.3.1 Die bestmöglichen Leute einsetzen – 1458.3.2 Training und Vorbereitung: Jedes Team braucht Übung und

Erfahrungen – 1488.3.3 Jedes Team hat emotionale Erlebnisse, die verbinden – 150

8.4 Strukturen und Prozesse: Annahmen anpassen und zielgerichtet neu strukturieren – 153

8.4.1 Der Rennverlauf – 1538.4.2 Die erste Nacht am Rad – 1548.4.3 Durch das rote Arizona – 1548.4.4 Die ersten Learnings nach 24 Stunden – 155

8.5 Führung: hohe Reibungsverluste bei mangelnder Krisenführung – 159

8.5.1 Der Rennverlauf – Das Studium des Gegners – 1598.5.2 Die »Gruppendynamik« setzte ein – 1608.5.3 Der Kochprozess als Stimmungsmacher – 1618.5.4 Der Eklat – 162

8.6 Umfeld: Die Fans mobilisieren, die Teamwerte leben – 1648.6.1 Rennverlauf – Am Mississippi beginnt das Rennen neu! – 1648.6.2 Der Zwischenapplaus – 1648.6.3 Der Kampfgeist wurde geweckt – 1658.6.4 Die Mitstreiter für die Extrameile gewinnen – 1658.6.5 Die entscheidende Attacke – 1658.6.6 Der Gegenangriff auf andere Art – 166

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J. Leidenfrost, A. Sachs, Natürlich mehr leisten!, DOI 10.1007/978-3-642-35321-5_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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8.7 Leisten im Flow: die motivierende »Extrameile« – 1698.7.1 Rennverlauf – nochmals alles geben – 1698.7.2 »Die Extrameile« – 169

8.8 Erfolge: Feiern und transformieren – 1718.8.1 Rennverlauf: so richtig genießen mit allen Zugängen – 1718.8.2 Das Team muss auch einmal im Mittelpunkt stehen – 1728.8.3 Und abends ging es dann richtig los – 1738.8.4 Teams müssen nicht ewig halten – 173

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139 88.1 • Jedes Team hat eine Struktur

Das Race Across America (RAAM) genießt einen besonderen Nimbus, gilt es doch als das härteste Radrennen der Welt. Manche Zeitungen bewerten es sogar als härtestes Rennen der Welt. Zirka 30–50 Einzelstarter und an die 300 Teamstarter gehen an den Start und wollen die 5.000 km von der West- an die Ostküste NON-STOP bewältigen! Über 30.000 Höhenmeter, bis zu 50 Grad in der Wüste, 95 % Luftfeuchtigkeit am Mississippi, endlose Geraden in Kansas, Gebirgspässe über 3.000  Höhenmeter warten dabei auf die Teil-nehmer. Die Sieger bei den Einzelstartern bewältigen die Strecke in knapp 9  Tagen und schlafen dabei unter 10  Stunden. Das Rennen kann im 2er-, 4er- oder 8er-Team bewältigt werden. Dabei ist immer zumindest 1  Radler auf der Strecke. 2009 geht das AusTria-Team (4  Radfahrer und 9  Begleitpersonen) zum ersten Mal bei diesem Rennen an den Start. Für ein Team, das im amerikanischen Sprach-gebrauch als Rookies (die Erststarter bzw. ganz neu in einer Sportart) bezeichnet wird, erscheint das Endergebnis, das Andreas Sachs hier präsentiert, noch unglaublicher:

» Wir haben einen ausgezeichneten 2. Platz erreicht! (. Abb. 8.1) Die Zeit: 6 Tage, 15 Stunden, 7 Minuten.Die Geschwindigkeit: knapp 30,5 km/h. «Im Nachgang stellen sich viele Fragen, die sich in jedem Team stellen, das Besonderes leisten will und kann: Wie gelingen solche Vorhaben? Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden? Was setzt die Energie zum Durchhalten frei?

» Als Radfahrer und Hauptorganisator des AusTria-Teams ging mir damals ein Traum in Erfüllung. Meine Abenteuerlust, meine Motiva-tion für spektakuläre Herausforderungen und die besondere Dynamik einer langjährigen Erfolgserfahrung in Sport und Wirtschaft fanden in diesem Rennen ein Ventil: die Lust an der Leistung, das Zutrauen in die Anderen und verschiedenste mentale, emotionale und physische Fähigkeiten vereinten sich in diesen Momenten. Ein Team der be-sonderen Art ging am 20.6.2009 an den Start! Obwohl einige von uns viel Führungs- und Teamleitungserfahrung hatten, wurden uns die Erfolgsfaktoren solcher projekthaft organisierter Teams während des eigentlichen Tuns immer bewusster. (Andreas Sachs, 30.01.12, persön-liche Mitteilung; . Abb. 8.2) «

8.1 Jedes Team hat eine Struktur

Nachfolgend erzählt Andreas Sachs seinen Erlebnisbericht die-ser spektakulären Fahrt. Zu Beginn wird er in Interviewform kurz erläutern, wie dieses Team aufgebaut war und worin die Zielset-zung bestand. Nachfolgend werden anhand der einzelnen Renn-sequenzen sowohl besondere Highlights und Erfahrungen der Teamentwicklung berichtet als auch mit sogenannten textlichen

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

Zwischenstopps wesentliche Elemente und Entwicklungstipps für Hochleistungsteams gegeben. Dieses Kapitel lädt Sie daher ein, sowohl der Erzählerperspektive als auch der Metaperspektive auf Teamerfolgsfaktoren zu folgen.

z Fragen an Andreas Sachs, interviewt von Jana Leidenfrost: 5 Wie ist die Idee für die Gründung eines Radteams zur Teilnah-

me am Race Across America 2009 entstanden?

. Abb. 8.1 Siegerehrung des AusTria-Teams für den 2. Platz direkt nach der Zieleinfahrt beim Race Across America 2009. Von links Gerald, Andi, Karl-Heinz, Günther

. Abb. 8.2 Das AusTriaTeam mit komplettem Begleitteam am Ziel beim Race Across America 2009. Hinten von links: Cindy, Susi, Andy, Karl-Heinz, Günter, Gerald, Peter, Andreas; vorne von links: Claudia, Anastasia, Sonja, Sedi, Uschi

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141 88.1 • Jedes Team hat eine Struktur

Das Race Across America ist in Österreich durch die Sieger Franz Spillauer, neuerdings Christoph Strasser und vor allem durch die 3 Siege von Wolfgang Fasching medial sehr prominent. Zusätzlich arbeite ich mit Wolfgang Fasching schon seit meinem ersten Interview 2002 mit ihm für das Buch Punch & Power regelmäßig zusammen und habe viele Insights in das Rennen gewonnen. Alleine geht es mit meinem möglichen Trainings-pensum nicht, allerdings im Team war es vorstellbar. Mein Kol-lege Kurt hatte das Rennen auch schon dreimal im Viererteam absolviert. Diese Umgebungsfaktoren relativieren auch große Vorhaben als machbar. Irgendwann war ich dann körperlich und mental so weit, dass es hieß: »Jetzt pack ma’s an!«.

5 Welche Vorerfahrungen prägten Euch?Nachdem Kurt das Rennen bereits dreimal erfolgreich absol-vierte hatte, gaben seine Erzählungen die ersten Hinweise für Grundannahmen und Glaubenssätze über notwendige Abläufe und Kompetenzen: Großer Wechsel der beiden Radteams alle 4 Stunden, jeder muss alles können, flexibel sein, navigieren ist jetzt kein Problem mehr, denn es gibt ja bereits Navigations-geräte, auch das Handynetz wird nun auch schon besser funk-tionieren, waren die wichtigsten Aussagen, nach denen wir uns orientierten.

5 Jedes Team hat eine zentrale Aufgabe bzw. einen zentralen Prozess?Die zentrale Aufgabe lag darin, von Oceanside nach Annapolis so schnell wie möglich zu fahren. Der entscheidende Prozess lag darin, dass ein Radfahrer ständig auf der Strecke war und diese im möglichst schnellsten aber langhaltig machbaren Tempo bewältigt. Deshalb splitten sich die 4 Radfahrer in 2 Teams mit je 6 Stunden Rennzeit. Zusätzlich wechseln die beiden Rad-fahrer im Rennteam 1 innerhalb der 6 Stunden alle 45 Minuten, d. h. 4-mal. Danach gab es für das Rennteam 1, die 2 Radler, den Autofahrer und den Navigator, 6 Stunden lang Regeneration im Motorhome. Rennteam 2 durchlief anschließend spiegelbildlich die gleiche Prozedur im Racecar und Motorhome. So ging es 7 Tage lang abwechselnd dahin. Alle anderen Prozesse wie Ko-chen, Motorhome fahren etc. unterstützten diesen Kernprozess. Gab es darin Fehler, wurde auch der Kernprozess behindert.

5 Inwiefern lebt eine solche ausdauernde und komplexe Höchstleistung wie das RAAM nicht nur von der Zusammen-setzung und dem Zusammenspiel des Teams, sondern auch von einer cleveren Strategie und bester Logistik?Das Eine geht nicht ohne das Andere. Die beste Strategie hilft nichts, wenn Deine Leute diese nicht umsetzen können oder wollen. Für mich ist es immer ein Wechselspiel zwischen optio-naler Strategie, realistischer Umsetzung im Team, Adaption der Taktik und auch manchmal Anpassung der Strategie an realis-tische Annahmen und Grundprozesse bzw. an den Ressourcen und gegenwärtigen Möglichkeiten der Mitarbeiter. Beim RAAM

Grundannahmen und Glaubenssätze

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

mussten wir die Prozesse nach 24 Stunden schnell ändern, da viele Grundannahmen nicht gepasst hatten.

5 Worin bestand die Herausforderung als Rookies?Natürlich lässt man sich viel erzählen, wir hatten ja unsere Quel-len. Trotzdem gewinnen Rookies normalerweise nie das Rennen. Zu groß ist dann der reale Lerneffekt als Quantensprung zu normalen Rennen. Auf 5.000 km kann alles passieren – und man kann auch nicht alle Varianten planen, selbst wenn ich dies alles im Vorhinein wüsste. Deswegen passieren Fehler, oft Rookiefeh-ler, die manchmal ganz simpel sein können, wie regelmäßiges trinken vergessen, keine warme Kleidung anziehen bei langen, kühlen Abfahrten etc.

5 Zur besseren Nachvollziehbarkeit bitte noch einige zentrale Grundbegriffe, Herr Sachs: Wie stellt man sich die Besatzung und den Ablauf am besten vor?

5 1 Motorhome (mit 6 Betten, Dusche/WC, Tisch) mit Haupt-fahrer und Navigator (Ersatzfahrer), Köchin, Masseurin und

5 1 Van als Führungsfahrzeug (Racecar)Das Racecar hat 2 abwechselnde Besatzungen:– Eine Rennbesatzung bestand aus einem Autofahrer,

einem Navigator und zwei Radrennfahrern. Die Renn-besatzung 1 wurde als Radfahrer von Gerald und mir gestellt. Einer der beiden radelte, während der andere regenerierte, die beiden Radler wechseln je nach Hitze, Berg etc. alle 30–60 Minuten, im Schnitt alle 45 Minuten ab. In Summe ist die Rennbesatzung je Einsatz 6 Stun-den an Bord des Führungsfahrzeugs. Die Radler sind dabei durchschnittlich je 3 Stunden am Rad. Danach geht es gemeinsam für durchschnittlich 6 Stunden zur Regeneration ins Motorhome.

– Die 2. Besatzung für das Racecar ist mit Fahrer, Naviga-tor und 2 Radlern, Günter und Karl-Heinz, genau gleich strukturiert.

– Das Ganze wiederholt sich im 24-Stunden-Rhythmus, mit einem Wechsel ca. alle 6 Stunden, d. h., die Renn-radler sind in Summe pro Tag bei zweimaligem Einsatz 6 Stunden am Rad, der Fahrer und Navigator des Füh-rungsfahrzeuges sogar 12 Stunden »on the job«.

5 Vielen Dank für die Einführung. Los geht’s!

8.2 Ausrichtung: Kraft durch Visionen und Zielsetzung

Andreas Sachs äußerte sich im September 2008 dazu:

» Ich bin bereit für die Herausforderung. Ich stelle mir bereits vor, wie ich körperlich und mental diese Strecke von 5.000 km bewältige. Mit

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143 88.2 • Ausrichtung: Kraft durch Visionen und Zielsetzung

dieser Vorstellbarkeit und Bereitschaft spüre ich zum ersten Mal die Kraft, das Projekt RAAM 2009 zu beginnen. Kurt sagte von Anfang an: »Leute, ich gebe Euch gerne Tipps, aber ich habe das dreimal organi-siert, jetzt seit ihr dran«. Ich weiß, uns erwartet viel Arbeit, sowohl für die Organisation als auch später fürs Training. Aber das Ziel lohnt es und es macht schon Spaß, nur daran zu denken. «Wir lassen den Bereich der Idee hinter uns und beschäftigen uns intensiv mit dem Thema der Homepage des Veranstalters, Erfahrungs-berichten von anderen, über Videos etc. Persönlich nenne ich die-sen Prozess: »Das Thema inhalieren«. Es ist die Phase der intensiven Auseinandersetzung mit Timestations, Streckenprofil, Wetterbedin-gungen, Kosten und taktischen Umsetzungskonzepten. Der normale Anspruch eines Rennens, jeden Stein am Weg zu kennen, wird in Amerika ad absurdum geführt. Trotzdem gilt es, die groben Land-schaften und deren Atmosphären und Anforderungen aufgrund des Höhenprofils und Stadtdurchquerungen in den Zeitplan einzubauen.

Schon von Anfang an gab es über die Umsetzung keine Zweifel, obwohl viele Herausforderungen warteten. Insbesondere die Finan-zierung war die erste große Hürde. Je mehr wir extern erzählten, desto mehr stieg der Zugzwang. Wir haben vom Projekt bewusst vielen Leuten im Freundes- und Bekanntenkreis erzählt. So ent-steht zusätzliche Energie, das Projekt zu realisieren – eine klassische Mentaltechnik.

Die nächste Stufe vom Vorhaben übers Wollen in die Realität der Umsetzung und konkreten Zielsetzung an Zeitvorhaben war ein kür-zerer Prozess. Unser Rubikon lag in der konkreten Anmeldung über die Homepage des Veranstalters. Damit ist schon ein erhebliches fi-nanzielles Commitment über einige tausend Euro notwendig und der Weg zurück nur mit Verlust machbar.

Nach intensiver Auseinandersetzung mit den Anforderungen durch das Höhenprofil von über 30.000 Höhenmetern, der enormen Länge von 5.000 km und den klimatischen Bedingungen mit Hitze und Schwüle über weite Teile, legten wir unser Ziel auf 7 Tage, d. h. knapp 30 km/h fest. Das war ein ambitionierter Kilometerschnitt, den wir uns trotz dieser Rahmenbedingungen zutrauten. Aus der Analyse der Rennzeiten in den Vorjahren wussten wir, dass man das Rennen mit durchschnittlich 32  km/h gewinnen kann. Aber auch das vari-iert von Jahr zu Jahr nach Streckenführung und Wetterbedingungen (. Abb. 8.3).

Eine höhere Geschwindigkeit und der konkrete Anspruch, ganz vorne mitzumischen, hätte für die Logistik und Personalauswahl eine erhebliche Auswirkung gehabt. Die Topteams haben in der Nacht ein zusätzliches Führungsfahrzeug im Einsatz, um den Wechsel zwischen den Fahrern fliegend, d. h ohne stehen zu bleiben, durchführen zu können. Laut Reglement durfte der Wechsel nur im Scheinwerferlicht des Begleitautos absolviert werden. Eine sinnvolle Sicherheitsstufe, damit man nicht von Lkw gerammt wird.

klassische Mentaltechnik

vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

Ein fliegender Wechsel mit 2  Autos bringt in der Nacht knapp 2  Minuten Zeitersparnis, was sich über die vielen Wechsel und die Länge des Rennens auf knapp 3 Stunden addiert, eine kleine Ewigkeit, d. h. ein MUSS an Zusatzlogistik, wenn man gewinnen will.

2009 hatten wir uns nur ein Leistungsziel und kein Platzziel vor-genommen. Erstens wollten wir uns auf uns selbst konzentrieren und unsere Leistung konstant bringen, zweitens ist im Vorfeld ohnedies unklar, welche Teams am Start sind und welches Leistungspotenzial diese mitbringen. Die Konkurrenzsituation ist im Team viel unüber-sichtlicher als im Solofeld, wo man sich gegenseitig kennt und der Favoritenkreis transparent ist.

Time out

Vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung – Teil 1Das Thema inhalieren: Setzen Sie sich gemeinsam im Team mit den Rahmen- und Kontextbedingungen Ihrer Aufgabe intensiv auseinander. So, als ob Sie in einer Bibliothek alle Bücher zu die-sem Thema durchstöbern würden, entstehen Bilder und Szena-rien zu Ressourcen, Strategie und Taktik, Budgets, Chancen und Risiken. Stärken und Schwächen von Ihrem Team im Vergleich zu anderen Teams werden herausgefiltert und die Besonderheiten der Aufgabe skizziert.

Dem Vorhaben Energie zuführen: Schaffen Sie nicht nur durch Fakten und Kontextbedingungen eine Orientierung und einen Überblick, sondern auch eine emotional sinnvolle Rahmung. Welche inneren Bilder haben die Teammitglieder zu diesem Vorhaben, dieser Aufgabe? Mit welchen Bildern, Videos, Erfahrungsberichten kann Kraft geweckt werden? Woran knüpfen

. Abb. 8.3 Race Across America 2009: Die Strecke wird sichtbar

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145 88.3 • Personen und Potenzial

die Teammitglieder aufgrund Ihrer Vorerfahrungen leicht an? Wem müsste man davon erzählen, um weitere Inspiration zu er-halten? Wem erzählt man in den ersten Phasen lieber nichts?

Jetzt TUN: Vom Wollen zum Tun ist es oft ein schleifender Prozess. Das ist die Realität unserer Motivationskraft, wir pendeln zwischen Wollen, Können, Dürfen und Tun hin und her. Hilfreich kann es hier sein, eindeutige Entscheidungspunkte zu markieren und sich als Team dahingehend zu synchronisieren. »JETZT« heißt, mit einer Anmeldung, einem PR-Statement oder einer Präsenta-tion werden Eindeutigkeiten geschaffen und nächste Handlungs-schritte ermöglicht.

Im Wechsel spielen – zwischen Vision und konkreter Ziel-setzung: Die Ausrichtung des Teams entsteht oft erst in vielen kleinen Prozessschritten, im Pendeln zwischen der Vorstellung einer Vision zur Umsetzung durch die Konkretisierung einer Ziel-setzung. Oft wird zu früh oder zu spät konkretisiert. Ermöglichen Sie sich und Ihrem Team daher ein Wechselspiel zwischen5 Visionieren: Welche Bilder erscheinen, wenn es uns gelungen

ist? Welche Qualitäten sind damit verknüpft? Welche Erfahrun-gen wollen wir dann gemacht haben?

5 Setzen konkreter Ziele: Was bedeutet Erfolg im Konkreten für uns? Was genau, wie, wer, wann?

Die Kraft der gemeinsamen Ausrichtung eines Teams entsteht genau in diesem wechselseitigen Annährungsprozess.

8.3 Personen und Potenzial

8.3.1 Die bestmöglichen Leute einsetzen

Als Fixstarter am Rad waren Kurt und ich gesetzt. Am Rad gesetzt war auch Kurts alter Radkollege Günter, ein Ex- Radrennfahrer, der in Amerika schon als Autorfahrer dabei war. Damit waren 3 von 4 Radfahrern klar. Auch das Betreuungsteam hatte gleich Fixpunkte. Günter brachte seine Frau Susi und seine Tochter Cindy ein, die beide schon in Amerika beim früheren Antreten mit Kurt dabei waren. Auch Alfred, ein Verwandter von Kurt, der damals dabei war, sagte gleich zu. Damit waren mit diesen 7 Personen auf einen Schlag die Hälfte des Gesamtteams von Anfang an klar. Relativ schnell stießen auch 3  Freunde, alles Piloten und eine Freundin von Alfred dazu, die sich fahren und navigieren teilen wollten. Uschi, eine Freundin von mir, eine ambitionierte Triathletin und ehemalige Führungskraft, die schon viele Jahre in englischsprachigen Ländern verbracht hatte, u.  a. in Chicago und entsprechende Kulturkenntnis und Sprachen-gewandtheit einbrachte. Damit fehlte nur der 4. Radfahrer. Die Suche dauerte erheblich länger. Mehrere Kandidaten hatten überlegt, dann

Aufstellung eines Teams

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

doch abgesagt. Schließlich fanden wir Gerald, einen Ultra-Ausdauer-Athleten aus der Triathlon-Szene. Da war es bereits Februar, 5 Monate vor Start.

Mitte März, ein Monat nach dem ersten gemeinsamen Trainings-lager, erreichte uns die erste Hiobsbotschaft. Mein Hauptpartner Kurt musste aus gesundheitlichen Gründen final absagen. Er hatte keine Kraft, den notwendigen Trainingsumfang durchzuziehen. We-nige Wochen später kam die nächste Meldung. Alfred, einer unserer Autofahrer, hatte bei einem extremen Motorradrennen einen kom-plizierten Bruch erlitten und fiel für mehrere Monate aus und damit auch für das Rennen. Damit verloren auch seine 3 Pilotenfreunde den Bezug zum Rennen und damit das Interesse.

Wie es halt so kommt, war damit die Pilotencrew, die Alfred mit-gebracht hatte, auf einen Schlag ausgefallen. Deren primäres Ziel war vor dem RAAM gemeinsam ein Motorradrennen in der USA zu fahren. Die Intention beim RAAM mitzutun, war eigentlich nur eine sekundäre. Es gab von seinen Freunden keinen persönlichen Bezug zu uns oder zum Radfahren. Damit standen wir 2½ Monate vor dem Radrennen mit der halben Crew da. Die Flüge waren schon gebucht, zusätzlich gestaltete sich die Sponsorensuche aufgrund der Wirtschaftskrise äußerst zäh. Was tun? Verschieben, aufgeben? Wäre vielleicht sinnvoll gewesen?!

Ein Krisengespräch zwischen den 3 Fahrern vereinte uns im Wil-len, das Projekt durchzuziehen. Wir stockten vorerst unseren inter-nen monetären Teil auf, um das Projekt auf jeden Fall finanzieren zu können. Nachdem Kurt ausgefallen war, übernahm ich nun alleine die Gesamtführung und setzte Uschi mit ihrer Managementkompetenz als Teamchefin ein. Die ungeplante Krise gab uns die Chance, das Projekt neu aufzusetzen. Diesmal begannen wir bei der Personal-suche nicht mehr beim WER (Familie und Freunde), sondern beim WIE und WAS.

WIE wollten wir unser Ziel umsetzen und WAS waren die kon-kreten Aufgaben, die gelöst werden mussten. Die unbesetzten Posten wurden nun mit einer klaren Beschreibung des Jobs versehen und Leute neben ihrer fachlichen Kompetenz auch nach einem tieferen Verständnis für uns Sportler und für die Art der Besessenheit für diese Art von Extremleistung neu gesucht.

Wir brauchten verbindende Werte und Leidenschaften, Leu-te mit sportlichem Hintergrund, die uns tiefer verstanden und eine eigene Sehnsucht nach solchen Abenteuern hatten. Die Intention der Mitfahrt sollte nicht sein, für jemand Anderen etwas zu tun, sondern einen eigenen persönlichen Nutzen daraus ziehen zu können. Nur so konnte man in Extremsituationen über die Komfortzone hinaus Extremleistungen bringen – und was vielen nicht so bewusst war, auch die Teammitglieder mussten Extremleistungen bringen, nicht nur die Radler.

Viel Zeit blieb uns nicht mehr. Aber genau solche Krisen setzen auch Kräfte frei, wenn man nur will. Alle Verbliebenen zogen an

Fehlschläge

Krisengespräche und Neuorientierung

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einem Strang und das Teamwork wurde viel stärker. Binnen 4 Wo-chen waren nun die restlichen Teammitglieder gefunden.

Unser 4. Radfahrer wurde Karl-Heinz, ein erfahrener Ultra-Tri-athlet, der schon einige Ironman absolvierte und sich ohnedies auf einen Double-Ironman vorbereitete und so im vollen Training stand. Peter, ein ehemaliger Berufsfernfahrer, der zwischenzeitlich an den Schreibtisch befördert wurde, freute sich, wieder das geliebte Lenkrad halten zu können und wurde unser Motorhome-Driver. Sedi (eigent-lich Herbert), ein ehemaliger Radrennfahrer, der auch noch aktuell in der Weltklasse bei den Masters tätig war, sollte das Führungsfahrzeug für Gerald und mich steuern. Zusätzlich konnte er als Rennkommis-sär bei großen Radrundfahrten viel Wissen und Taktik einbringen. Zudem war Sedi Kfz-Meister und erfahrener Radmechaniker. Eine perfekte Vernetzung von Kompetenzen. Andreas aus dem Burgen-land, ein Logistikmanager aus der Wirtschaft, übernahm die Leitung der Navigation, von der Vorbereitung bis zum Rennen. Sonja, eine Ironman-Lady, die aus der Mitfahrt für eine spätere eigene Fahrt pro-fitieren wollte, war ebenfalls für die Navigation und als Ersatzfahrerin eingeteilt. In der Neuplanung hatten wir uns auch eine eigene Mas-seurin gegönnt, eine Stelle, die Claudia einnahm.

Time out

Vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung – Teil 2Freunde sind gut, geeignete Mit-Arbeiter besser: Prüfen Sie bei Teambesetzungen, sofern Sie diese selbst vornehmen können: Wie wollen wir unser Ziel umsetzen und was sind daher die kon-kreten Aufgaben, die anstehen? Was müssen Personen an diesen Positionen können? Welches Grundverständnis der Aufgabe brin-gen diese Menschen mit? Was verknüpfen die Einzelnen damit und ist es das, was Sie auch damit verbinden?

Geteilte Werte und Leidenschaften verbinden: Für beson-dere Leistungen braucht es Menschen mit ähnlichem Engage-ment, stabiler Grundmotivation und geteilten Sehnsüchten. Die eigentliche Qualifikation ist eine Grundlage, manchmal sogar ein Hindernis – entscheidend ist eher die Frage: Was begeistert diese Menschen? Worin besteht der persönliche Nutzen, im Team dabei zu sein? Können persönliche Bedürfnisse fürs Team zurückgestellt werden? Wie passen die Teammitglieder zusammen?

Krisen als Chancen: Erst Krisen ermöglichen oft Neues, »thin-king out of the box«, neue Ansätze, weil es eben weh tut. Undenk-bares wird möglich. Wofür nutzen Sie den Freiraum und die Unge-wissheit, die damit entstanden ist? Was trauen Sie sich jetzt, was Sie sich unter »normalen« Bedingungen nicht getraut hätten?

8.3 • Personen und Potenzial

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

Regeln beherrschen

8.3.2 Training und Vorbereitung: Jedes Team braucht Übung und Erfahrungen

Viel Zeit zum Team-Building hatten wir nicht mehr. Zwei Wochen vor Abfahrt gab es einen kleinen Logistiktest im Wienerwald, mit fließendem Übergang in die Nacht. Dabei konnten wir das Nach-fahren und Nachtfahren üben und die verschiedenen kleinen und großen Wechsel simulieren. Zusätzlich lernten wir, dass Navigieren in der Nacht nochmals schwerer war als am Tag. Auch wenn dieser kein Test unter Wettkampfbedingungen war, so konnte man schon hierbei deutlich die Stärken und Schwächen der einzelnen Personen erkennen. Insbesondere das Navigieren hatten wir uns mit dem Navi-gationsgerät deutlich einfacher vorgestellt. Danach hatten die Team-mitglieder eine bessere Vorstellung, wie die diversen Logistikwechsel, die unsere Hauptprozesse darstellten, ablaufen würden.

Körperlich waren wir gut vorbereitet. Ein zweites Trainingslager in Cesenatico hatte uns mit 1.000 km in der Woche und vielen Hö-henmetern gut in Form gebracht. Zusätzlich hatten wir einige Vor-bereitungsrennen bestritten. Die Form passte bei den Radlern und so flogen wir in 2 Hauptgruppen motiviert nach Kalifornien.

Andreas, unser Navigationschef, und ich waren bereits 5 Tage vor dem Rennen vor Ort am Startpunkt in Oceanside, südlich von Los Angeles. Uschi stieß kurz danach dazu. Gemeinsam bereiteten wir uns für das Rennen vor. Man glaube gar nicht, was die Amerikaner an administrativen Hürden aufgebaut hatten. Es gab dicke Booklets mit Anweisungen und Regeln, die wir befolgen mussten. Ein dickes Roadbook, das nicht nur Strecke und Höhenprofil zeigte, sondern auch alle Anweisungen beinhaltete, welche Streckenabschnitte vom Motorhome nicht befahren werden durften.

Das Regelwerk musste man beherrschen, sonst gab es Zeitstra-fen von 15 Minuten durch die Rennkommissäre und ab der 5. Zeitstra-fe wurde man final disqualifiziert. Das Thema Sicherheit wurde sehr hoch geschrieben und so verbrachten wir einige Tage damit, Autos abzuholen, die Navigation mit allen GPS-Punkten vorzubereiten, Autos zu bekleben und die verschiedenen Unterschriften (10 an der Zahl für das Rennen) einzuholen. Ursprünglich hatten wir gedacht, noch einige Ausflüge machen zu können, allerdings fanden wir über-haupt keine Zeit dazu. Einen Event ließen wir uns nicht nehmen und war Teil meiner mentalen Vorbereitung: den Start der Solofahrer, der schon 3 Tage vor den Teams erfolgte. Das gab zusätzliche Motivation, wenn auch ich mir selbst kaum vorstellen konnte, wie solch eine Leis-tung erbracht werden sollte.

Bei einer Testfahrt über die ersten 100 km lernten wir, dass wir uns auf die GPS-Navigation auch nicht verlassen konnten. Wir hatten zwar vom Veranstalter an die 1.000  GPS-Koordinaten als Software erhalten und in unsere Navigationsgeräte eingespielt, allerdings galt immer das offizielle Roadbook. So fanden wir nach einigen Kilome-tern schon eine Stelle, an der wir nach dem »Navi« geradeaus gefahren

Logistiktest

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wären. Das Roadbook hatte aber noch einen Umweg zwischen den beiden GPS-Punkten vorgesehen. Wir fuhren eben nicht die kürzeste Strecke von West nach Ost, sondern eine »sichere« Strecke, idealer-weise abseits von den Hauptverkehrsrouten und auch nicht direkt durch die großen Städte.

Zwei Tage vor Rennstart stieß der Großteil der Mannschaft dazu und wir waren erstmals bei der ganzen Vorbereitung komplett ver-sammelt. Die letzte große Hürde vor dem Start wurde am letzten Tag mit der »general inspection« gemeinsam genommen. Das war ein einstündiger Test des gesamten Materials, ob wir alle Sicherheits-regeln eingehalten hatten und umfasste die notwendigen Reflektoren am Rad, die angepinnten Sicherheitshinweise im Auto und ging bis zum Vorweisen der Reservebatterien für die Radleuchten. Der Test wurde mit Bravour genommen und so erlebten wir gut motiviert abends die große Teamvorstellung, bei der alle Teams gleichzeitig an-wesend waren.

Dabei konnten wir erstmals live alle unsere Mitbewerber »begut-achten«. Man hat schon einen Blick dafür, wer was drauf hat, u.  a. leicht ersichtlich daran, wie niedrig der Fettanteil war (auf radlerisch: wie »zach« der Typ ist). Natürlich waren viele amerikanische Teams im Rennen. Eines posaunte auch bei der Mannschafsvorstellung aus, dass sie gerne den Streckenrekord brechen würden. Nun, das tan-gierte uns wenig, denn wir wollten unser eigenes Rennen fahren und kümmerten uns zu diesem Zeitpunkt ziemlich wenig um die anderen Teams. Trotzdem gab es natürlich nette Gespräche und so stiegen langsam, aber kontinuierlich der Puls und die Aufregung an.

Time out

Vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung – Teil 3Training: Während in Teams häufig Zeit zum Kennenlernen ge-währt wird, gibt es vergleichsweise selten Zeit zum Üben wich-tiger Tätigkeiten und Prozesse. Für jede Hochleistungseinheit ist das jedoch essenziell, denn anhand dessen wird gelernt, sich weiterentwickelt und die einzelnen Personen in Ihren Stärken spezifisch sichtbar. Wann gibt es Zeiten für Training in Ihrem Team? Was muss man beherrschen und lohnt sich daher zu trai-nieren? Wie kann das gehen? Welche Hauptprozesse können Sie simulieren? Wie werden Erfahrungen aus den Trainingseinheiten sichergestellt?

Unmittelbare Wettkampfvorbereitung: Im Sport ist das die »heiße« Phase, »Tapering« genannt, vor dem Wettbewerb. Es ist eine der wichtigsten Phasen, denn hier sind alle Grundlagen gelegt und es geht nur noch darum, die äußere Sicherheit und innere Stabilität zu erhöhen, Risiken zu minimieren, Rahmen-bedingungen zu optimieren und vor allem die Kraft kommen zu lassen. Kleine Testläufe, -fahrten oder -spiele werden gemacht.

8.3 • Personen und Potenzial

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8

Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

Wenn es in Ihrem Team so etwas wie einen Test unter Wettkampf-bedingungen gäbe, wie sähe dieser aus? Wie bereiten Sie sich selbst auf wichtige Termine vor?

»Energy flows where attention goes«: Unsere Wahrnehmun-gen steuern unsere Empfindungen. Mit unserer Aufmerksamkeit legen wir fest, was in unseren Wahrnehmungsbereich kommt und was nicht. Manchmal brauchen wir eine hohe Innenorientierung, um an eigene Visionen, Strategien, positive Dialoge anknüpfen zu können und uns zu fokussieren. Manchmal brauchen wir eine eher außenorientierte Aufmerksamkeit, um Veränderungen in der Umwelt besonders feinfühlig aufzunehmen. Worauf lenken Sie und Ihr Team besondere Aufmerksamkeit in wichtigen Mo-menten? Wird eher auf die Beziehungen im Innen geschaut oder eher auf die Ergebnisse im Außen? Werden eher Fehler fokussiert und Routinen zur Vermeidung eingespielt oder werden eher posi-tive Ausnahmen und neue Ideen mit Aufmerksamkeit bedacht? Welche bewusste Aufmerksamkeitssteuerung würde gut tun, gemessen an Ihren Zielen und Ihrem Umfeld?

8.3.3 Jedes Team hat emotionale Erlebnisse, die verbinden

z Der 20.6.2009 – StartAm Morgen des Starts fand das Abschlussmeeting statt. Uschi erklär-te die ersten Einteilungen. Wer beginnt, mit wem in welchen Funktio-nen, gestaffelt für die ersten 24 Stunden. Es war für die meisten, bis auf Günter und seine Frau Susi, alles Neuland und so lauschten alle noch andächtig. Von einigen wurden die Anweisungen hinterfragt, auf ihre Taschen Adresszettel und Namen anzuhängen, denn dies würde nach Militär und Bevormundung riechen. Die letzten Stunden vor dem Rennen waren den letzten Vorbereitungen wie Einkauf, Einpacken, Auschecken gewidmet. Letzte kleine Besprechungen fanden statt, um die Feinheiten und Startlogistiken mit den Betroffenen zu besprechen.

Schließlich war ich mehr als froh, endlich gegen 13 h an die Start-linie in Oceanside zu rollen. Es war eine Art Massenstart und die offizielle Freigabe des Rennens erfolgte einige Kilometer außerhalb der Stadt. Dies geschah in Form eines Einzelstarts mit einminütigen Abständen, um das Windschattenfahren von vornherein zu minimie-ren. Aber auch dazu gab es jede Menge an Regeln.

Zwecks Motivation nützen die meisten Teams die erste Phase, um gemeinsam zu starten, so auch wir. Es war ein schönes emotio-nales Teamerlebnis, den Start gemeinsam zu erleben, den »final countdown« zu genießen, die Spannung im Körper zu spüren. Die Teams wurden einzeln vorgestellt und so konnten wir uns noch einen gemeinsamen Applaus abholen.

emotionales Teamerlebnis als Motivationsförderer

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Der Startschuss erfolgte um 14 Uhr in einer Art Freilufttheater. Danach führte eine Polizeieskorte den Tross entlang der Strand-promenade, bis wir in verwinkelte Gassen abbogen und über einen Fahrradweg aus der Stadt geführt wurden. Nach der ersten Kurve verabschiedeten sich bei uns 2 Radfahrer, um zu unserem Begleitauto bzw. Motorhome zu eilen und an die vereinbarten Wechselstationen zu fahren.

Die erste Schicht hatten per Los Günter und Karl-Heinz gezogen. Die Besonderheit war, dass ich die ersten 20 km nach dem offiziellen Start mit Günter gemeinsam fuhr. Das hatte mehrere Gründe.

Einerseits durfte die Strecke nicht vom Auto befahren werden, sonst hätte sich gleich ein riesiger Stau gebildet. Einzig die Rennfahrer waren auf diesem Streckenteil erlaubt. Aus Sicherheitsgründen, um evtl. Pannen vorzubeugen, fuhren die meisten Teams, wie eben auch wir, zu zweit auf der Straße. Im Pannenfalle wäre der zweite Fahrer weitergefahren. Aus diesem Grunde hatte ich die ersten Kilometer gründlich einstudiert, um ohne Plan und Anweisungen auskommen zu können.

Kein 5.000-km-Rennen wird auf den ersten 20 km entschieden. Allerdings wurde in einem Tempo gestartet, als ob es nach 20 km zu Ende wäre. Nicht unerwartet, das ist jedes Jahr die gleiche Prozedur. Das war der zweite Grund, warum ich mit Günter fuhr, denn als ehe-maliger Rennfahrer hatte er noch das Rennblut in den Adern. Mir war im Vorfeld klar, dass sich Günter von der Rennatmosphäre voll anste-cken lassen würde. Das schlechteste, was man tun kann, ist, sich auf den ersten Kilometern zu verbrennen und zu übersäuern. Das bezahlt man in den nächsten Einheiten in Form von hohen Laktatwerten und verminderter Leistung.

Die Annahme war nicht unbegründet. Wir hatten vereinbart, dass ich die meiste Führungsarbeit machen sollte, da ich nach den ersten 20 km wieder komplett bis zu meiner echten Schicht ausstieg und nur die Ortskenntnis der ersten 100 km einbrachte. Doch zunächst war ich Günter scheinbar zu langsam und er überholte mich bald. Mein Puls stand bereits am Anfang bei 150 und eigentlich hatten wir aus Tests einen Puls von 140 für mich als ideal gefunden. Für mich be-deutete dies knapp unter 2 mmol, die Grenze, bei der das Blut stärker zu übersäuern beginnt).

Im Windschatten spart man natürlich Kraft und so überholte ich Günter bald wieder und versuchte ihn verbal einzubremsen. Lang-samer, 140 Puls, rief ich. Bald war ein vor uns gestarteter Teilnehmer zu sehen und Günter überholte mich wieder. Mein Puls stieg auf 160 im Windschatten. »Wir haben noch 5.000 km«, rief ich ihm zu. Ver-gebens, der nächste Starter war bereits wieder zu sehen. Es ging leicht bergauf. Ich zog nochmals an Günter vorbei. Meine Uhr zeigte einen Puls von 170. Das ist knapp unter meinem Maximalpuls, ich hatte es aufgegeben. Einerseits wusste ich aus dem Training, dass damit auch Günter an seinem Limit war und so versuchte ich das Beste daraus zu machen und ihn für seine Schicht etwas zu schonen. So überholten

8.3 • Personen und Potenzial

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8

Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

wir auf den ersten 20 km einige Teilnehmer und ich stieg am ersten erlaubten Wechselplatz knapp hinter dem Führenden aus dem Ren-nen aus und wünschte Günter noch alles Gute und gesellte mich ins Racecar zu Karl-Heinz.

Bald stieg das Gelände an und ein erster Gebirgszug war zu über-winden, bevor es dann in die Wüste hinunter ging. Knapp 2.000 Hö-henmeter galt es auf den ersten 100  km zu überwinden. In dieser Phase war alles neu und musste erst so richtig eingespielt werden. Prozesse, die wir dann im späteren Verlauf noch hunderte Male opti-mieren konnten. Entsprechend aufregend war die erste Rennpha-se. Der erste Wechsel, der zweite Wechsel, die ersten Abbiegungen, die erste Timestation, der erste Anruf ans Headquarter, um unsere Ankunftszeit durchzugeben. Weitere 53 Timestations sollten folgen.

Ein guter Start war getan, aber die erste Ernüchterung folgte. Nach wenigen Kilometern gab es eine Baustelle mit Verkehrsanhaltungen. Mit dem Racecar kamen wir gerade noch durch. Allerdings wurde hinter uns abgesperrt und es bildete sich ein ganzes Knäuel an Star-tern. Nur der Führende hatte es geschafft, vor der Sperre durchzu-kommen. Wie gewonnen, so zerronnen. Der ganze Vorsprung war dahin und die Kraftanstrengung zu Beginn blieb unbezahlt. Was soll‘s. Solche Gedanken dürfen gar nicht aufkommen.

Time out

Vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung – Teil 4Schöne Teamerlebnisse: Lernen und Entwicklung geschehen, wenn uns etwas unter die Haut geht, d. h., wenn etwas emotional bedeutsam für uns ist. Erleben im Team ist nochmals stärker als alleine. Welche Momente verbinden Sie mit »schönen Team-erlebnissen«? Was ist für die einzelnen Teammitglieder jeweils emotional bedeutsam? Wann und wie werden diese Erlebnisse ausgetauscht?

Das Beste daraus machen: Gerade in Teams erleben wir häu-fig Situationen, in denen eine oder mehrere Personen einfach mit dem »eigenen Strickmuster« agieren – unabhängig von Abspra-chen oder dem Wohle des Ganzen. Im Nachgang kann das alles besprochen werden, doch in der Situation gilt für alle, »das Beste draus zu machen«! Hier zeigen sich der Teamgeist, die Rückbesin-nung auf ein gemeinsames Ziel oder bestehende Konfliktlinien, das Einspringen von anderen als sinnvoll.

Wer Aufregendes und Neues managt, entwickelt sich wei-ter: Wenn Neues gemanagt werden muss, unterliegen alle einer gewissen Unsicherheit und beobachten die Geschehnisse genau. In solchen Phasen ist immer Emotionalität im Spiel, denn alle knüpfen besonders da an ihre ganz persönlichen Vorerfahrungen an (Erfolgsgeschichten, Niederlagen, Hilfslosigkeiten etc.)! Hier sind durch die Führungskraft einerseits klare Feedbacks bzgl. der Fakten (Zielerreichung, Meilensteine, Abweichungen etc.) gefragt

das Beste daraus machen

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153 88.4 • Strukturen und Prozesse: Annahmen anpassen und zielgerichtet …

und andererseits individuelle Ansprachen und Hilfestellungen (bestätigen, Mut machen, Grenzen setzen, Vertrauen schenken, Sicherheit geben, etc.). Denn unser Gehirn lernt ständig weiter. Die Frage ist, in welchem Zustand es lernt: ängstlich vermeidend, mutig risikovoll oder zuversichtlich ausbalanciert? Diese Emotio-nen werden unmittelbar mit dem neu Gelernten verknüpft und bilden Anker – im Positiven und im Negativen. Wie können Sie sich mit Ihrer Führungskommunikation auf solche Situationen einstellen?

8.4 Strukturen und Prozesse: Annahmen anpassen und zielgerichtet neu strukturieren

8.4.1 Der Rennverlauf

Wir hatten für alle 53 Timestations einen exakten Zeitplan vorbereitet, der auf das entsprechende Streckenprofil Rücksicht nahm. Schließlich galt es über 30.000 Höhenmeter zu bewältigen. Durch diese »Pha-sing« war für uns ein laufender Soll-Ist-Vergleich möglich, bei allen Einschränkungen von Ungenauigkeiten durch Wetter, Asphalt und Nachtfahrten, die passieren konnten. Nachdem wir von der ersten Timestation an besser als der Plan lagen, waren wir aber zusätzlich motiviert.

Der erste Höhepunkt nach der Überwindung des ersten Gebirgs-zuges war die Talfahrt hinunter in die Wüste; über 1.000 m Höhen-unterschied mit grandioser Aussicht ins Tal. Selbst im Auto war uns klar, dass ein enormer Wind herrschte, eigentlich ein Sturm mit star-ken Böen, der unsere Radler an ungeschützten Stellen fast vom Rad blies. Immer wieder gab es aufgrund der Kurven überraschende Sei-tenwinde, so dass das Rad richtig versetzt wurde. Günter kam nach dem Wechsel komplett bleich in den Wagen und sagte einige Minuten nichts, bis sich sein Puls beruhigte.

Es bedurfte schon enormen Mutes, die Strecke den Abgrund ent-lang mit vernünftiger Geschwindigkeit hinunterzurollen. Karl-Heinz, der mit Zeitfahrhelm unterwegs war, klagte nachher über starke Na-ckenschmerzen. Die Angriffsfläche des Helmes für den Wind war entsprechend größer und so musste er stark gegen eine Verdrehung des Kopfes gegenhalten. Das sind eben Naturgewalten, wie man sie beim RAAM erlebt und bei denen man beim Training zu Hause eben im Haus bleibt. Aber die nächste Naturgewalt sollte nicht lange auf sich warten lassen.

Heuschrecken! Wir waren schon beim Abschlussmeeting gewarnt worden, dass bei den Einzelfahrern richtige Schwärme unterwegs wa-ren. Zum Teil so dicht, dass der Scheibenwischer diese kaum von der Windschutzscheibe bekam. Bei uns Teamfahrern war dies schon etwas abgemildert, aber trotzdem noch ein beklemmendes Erlebnis.

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8

Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

8.4.2 Die erste Nacht am Rad

So hatte sich auf den ersten Kilometern schon einiges getan und vor der Abenddämmerung stand der erste große Wechsel auf dem Programm. Gerald und ich übernahmen unsere erste Schicht, die gleichzeitig die erste Nachtschicht war.

Die erste Nacht in der Wüste rund um den Salton See hatte eine besonders emotionale Stimmung, die sich für ewig in mein Gedächt-nis eingeprägt hat. Genau für solche Erlebnisse macht man solche Projekte. Stimmungssituation Wüste, richtige Wüste. Nach der Ab-fahrt war die Temperatur schlagartig angestiegen. Hatte es am Pazifik noch relativ kühle 20 Grad, so stieg das Barometer gleich auf 35 Grad. Die Sonne stand tief und die Schatten wurden länger. Immer stim-mungsvoller und sanfter wurde das Licht vor dem Sonnenuntergang. Unglaubliche Stimmungen entstanden in dieser ungewohnten Wüs-tenumgebung. Zusätzlich hatten wir auf diesem Steckenteil starken Rückenwind vom Gebirge herab. Das Tempo lag bei 45–50 km/h. Ein unglaubliches Gefühl so »dahinzufliegen«.

Nach dem Wechsel von Gerald auf mich, ging es erstmals in die dunkle Nacht. Trotzdem oder gerade deswegen genial. Ein Hoch-gefühl baute sich in mir auf. Die Endorphine spielten verrückt, der Flow stellte sich ein. Gut ausgeleuchtet von den Scheinwerfern des Führungsfahrzeuges ging es in hohem Tempo weiter. Wann fährt man schon in der Nacht in so einem Tempo. Neue Erfahrungen, neue Erlebnisse, die wieder stärken und das Erfahrungsspektrum erweitern. Überraschenderweise sah man in der Nacht viel mehr als angenommen. Jede Bodenunebenheit wurde ausgeleuchtet und warf dunkle Schatten.

Fast zu schnell war unsere erste Schicht vorbei und wir kamen erstmals in den Genuss, im Motorhome, einem Wohnmobil, zu schla-fen. Den Fahrern war die Kammer im hinteren Teil des 10 m langen Wohnmobils vorbehalten; sogar mit abgetrennter Tür. Der Nachteil des Luxus: man bekam jede Bodenwelle, jedes Schlagloch voll mit, dazu das unentwegte Quietschen der Achse und Stoßdämpfer. Schla-fen hieß dabei, in unregelmäßigen Abständen auch in der Luft zu sein. Sehr, sehr ungewohnt und entsprechend unruhig verlief die erste Nacht. 7

8.4.3 Durch das rote Arizona

Während die Kollegen in der Nacht mit angenehmen Temperaturen um die 30 Grad die Wüste durchquerten, warteten auf uns die nächsten Höhenmeter durch Arizona hinauf nach Flagstaff auf knapp 2.000 m. Beim Morgengruß gab es eine positive Überraschung. Wir waren an einer Timestation geparkt und die Betreiber hatten ein richtiges Ser-vice mit Kaffee und Kuchen organisiert. Gleichzeitig bot man uns an, im Swimmingpool zu baden. Da sich dieser allerdings als Planschbe-cken herausstellte und wir nicht wussten, wie viele schweißgebadete

neue Erlebnisse und Erfahrungen erweitern das Erlebnis- und Handlungsspektrum

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Biker schon drinnen waren, lehnten wir das doch freundlich ab. Den »Leiberltausch« hingegen nahmen wir gerne in Anspruch. Es waren echte Freaks, die T-Shirts von allen möglichen Events quer durch die Welt gesammelt hatten und so tauschten wir gerne gegen heimische Event-T-Shirts.

Wunderschöne Felslandschaften mit diversen Nationalparks durf-ten wir anschließen auf unserer Schicht durchqueren. Auch wenn die Hitze trotz Höhe sehr schweißtreibend war, ist doch die Motivation durch die beeindruckende Landschaft extrem hoch geblieben.

8.4.4 Die ersten Learnings nach 24 Stunden

Schön langsam wurden nochmals alle unsere geplanten Prozesse einmal in der Realität durchgespielt. Unsere ursprünglichen Grund-annahmen mit Auswirkungen auf die Personalbesetzung und die Grundprozesse waren:

5 Wechseltaktik: Großer Wechsel alle 4 Stunden. 5 Kommunikation: Handynetze funktionieren und sind die Ba-

siskommunikation zum Headquarter und intern zwischen den Fahrzeugen.

5 Navigation: Zum Navigieren gibt es das Navigationsgerät, das uns alles ansagt, nachdem es richtig gefüttert wurde.

5 Kompetenzen: Jeder muss alles können.

z Die WechseltaktikVom ursprünglichen Plan, den großen Wechsel alle 4 Stunden durch-zuführen, wie es von Kurt bei seinen ersten Auftritten praktiziert wurde, sind wir bereits einige Wochen vor dem Start abgerückt. Das hieße in der Realität, dass man gerade zu max. 2,5 Stunden Schlaf am Stück kommt. Zusätzlich wären die Teams über die Tage immer zu unterschiedlichen Zeiten unterwegs und könnten keinen konstanten Tag-Nacht- und damit Schlafrhythmus entwickeln.

Unsere neue Taktik war, im 6-Stunden-Rhythmus zu wechseln. Das ergab deutlich mehr Schlafmöglichkeit am Stück, auch wenn es in der Realität nie mehr als 3,5 Stunden wurde. Nach jedem Wech-sel mussten zuerst die Stresshormone runtergefahren werden. Eine Stunde vor Schichtwechsel hieß es dann wieder Tagwache. Der Schlaf funktionierte auch nur in der Nacht. Am Tag war es viel un-ruhiger im Motorhome. So musste vom Betreuungsteam auch mal das Geschirr gewaschen, vorgekocht, eingekauft und geduscht wer-den. Den Zusatzschlaf holten sich insbes. die Radfahrer durch die »Powernapchen« zwischendurch. Unglaublich wie schnell man Ener-gie gewinnen kann, mit nur wenigen Minuten Schlaf.

z KommunikationWir hatten angenommen, dass in diesem hochentwickelten Land, der Industrienation 1 der Welt, das Handynetz annähernd so gut wie in Europa funktioniert. So war es von den Mobilfunkbetreibern im

8.4 • Strukturen und Prozesse: Annahmen anpassen und zielgerichtet …

funktionierende Grundprozesse

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8

Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

Grunde auch angegeben. Mit AT & T hatten wir ohnedies den Anbie-ter mit der besten Abdeckung ausgewählt. Allerdings schon wenige Kilometer nach dem Start stellte sich heraus, dass Herstellerangaben relativ sind und in der Praxis eine sichere Abdeckung nur rund um Ortschaften gegeben war. Diese sind allerdings im Westen der USA durchaus rar. Bei der Hälfte der Timestations, die meist in oder rund um Ortschaften lagen, funktionierte dies immerhin zu 50 %, in den unendlichen Weiten allerdings meist nicht. Erst ab der Gegend ab dem Mississippi, als nach den unendlichen Geraden von Kansas die Landschaft urbaner wurde, konnten wir verlässlicher telefonieren. Es galt also kurzfristig Notlösungen zu finden.

An den Timestations waren immer Telefonzellen, so im richtig al-ten Stil, vorhanden. Allerdings funktionierten diese nicht immer und einmal mussten wir sogar mit einem von einem Indianer geliehenen Handy telefonieren. Zusätzlich funktionierte an den Timestations oft auch der Internetempfang und wir konnten per Skype vom PC im Motorhome anrufen. Auch das Motorhome war nicht ständig ver-fügbar. Nach dem großen Wechsel benötigte es für die Logistik mit Duschen, Essen etc. mindestens eine Stunde, bis es nachfahren konn-te, allerdings musste es die Fahrer auch zum nächsten Wechselpunkt vorbringen. So war dies auch nur punktuell eine Zwischenlösung, wenn es gerade vom Timing passte.

Zwischendurch haben wir uns in Supermärkten noch andere, z. T. lokale Handynetze dazugekauft, der Erfolg blieb aber beschei-den. Eine teure Lösung war, über die österreichischen Handynetze und deren Roamingpartner zu telefonieren. Diese wechselten nach Gegenden und waren damit etwas öfter verfügbar.

Auf jeden Fall war die Kommunikation zum Headquarter immer eine Überraschung und es war nicht immer vorausplanbar, über wel-chen Weg wir das Headquarter kontaktieren konnten.

Noch schwieriger war mit den amerikanischen Handynetzen die interne Kommunikation der Fahrer unserer Begleitahrzeuge. Deswe-gen versuchten wir die Abstände zwischen den beiden Fahrzeugen nicht zu groß werden zu lassen. So konnte bei den Überholungen auch direkt miteinander kommuniziert werden und die großen Wechsel immer wieder feingetunt werden. Das war deshalb so wichtig, um den geplanten Wechselpunkt der 6-Stunden-Schicht eingrenzen zu können. Je nach Streckenprofil, Wetterbedingungen und körperlicher Verfassung der Radler wurden zwischen 150 km und 220 km zurück-gelegt.

Auch wenn das Roadbook vieles erahnen ließ, so war die Reali-tät doch meistens anders. Der letzte Radfahrer vor dem Wechsel musste mental so fit sein, dass er die prognostizierte Kilometereinheit manchmal auch noch um 10–15 km verlängern konnte, weil das Mo-torhome vorher keinen geeigneten Platz zum Wechsel fand. Je früher man dies wusste, desto besser konnte man die Zusatzkilometer auf die beiden Fahrer aufteilen. Umgekehrt wurden wir auch schon mal aus dem Schlaf gerissen mit der Mitteilung, die Radler kommen in

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10 Minuten. Da wollten die Kollegen eben schon mal nach 5 Stunden aufhören, weil sie bereits erledigt waren. Deshalb ging es dann auch mal im Kaltstart los, was allerdings wirklich die Ausnahme darstellte.

z NavigationDas Navigieren hatten wir uns wirklich viel einfacher vorgestellt. An die 3.000  GPS-Punkte haben wir auf unser Navigationsgerät über-spielt und trotzdem gab es speziell in Orten Schwierigkeiten, wo Abzweigungen dicht nebeneinander waren. Die größte Fehlerquelle waren die kleinen Umwege, manchmal auch Schleifen, zwischen den Navigationspunkten. Entweder war dies ein Test für die Ehrlichkeit der Teams oder die Navigationspunkte waren einfach nicht sauber genug vom Veranstalter gesetzt. Jedenfalls zählte das Roadbook und jede Abweichung wurde beim Erwischen rigoros mit 15 Minuten Pe-naltystrafe geahndet.

Zusätzlich zeigte sich, dass die interne Kommunikationskette vom Navigationsgerät über den Navigator an den Autofahrer und über Hu-pen (1× rechts, 2× links) an den Radfahrer, der 10–20 m weiter vorne fuhr, ganz schön hektisch werden konnte. Und eines hasst jeder Rad-fahrer, unnütz Geschwindigkeit zu verlieren. Das heißt, jede falsche Anweisung hatte ein Abbremsen, umdrehen und neu Beschleunigen zur Folge. Jeder unnütze Tritt tut doppelt weh, insbesondere die Be-schleunigung aus dem Stand kostet unnütz Kraft. Natürlich passiert dies ab und zu. Entscheidend ist, dass dies den Mitbewerbern eher öfters passierte.

Bedingt durch diese ungeahnte Komplexität des Navigierens war der Job in den Kompetenzanforderungen deutlich anspruchsvoller als angenommen. Damit war auch das Personalkonzept zu überarbeiten. Reines Mitfahren im Racecar, um die Stimmung zu erleben und je-dermann ein Zusatzerlebnis zu ermöglichen, war nicht möglich. Weg von der Bedürfnisorientierung, hin zur Zielorientierung war ab-solut notwendig. Am ersten Tag hatten sich die relativ besten verfüg-baren Navigatoren herauskristallisiert und wir gingen dazu über, fixe Teams zu bilden. Das war ein entscheidender Schritt für die Prozesse und die Teamentwicklung. Dadurch wurde Erfahrungslernen ermög-licht und die Prozesse auf Basis von Kompetenzen entscheidend ver-bessert. Zusätzlich gaben die Strukturen Klarheit und Sicherheit und auch die körperliche Leistungsfähigkeit durch einen besseren Schlaf-rhythmus konnten erhöht werden.

z KompetenzenNachdem die Anforderungen an manche Jobs wie eben Navigieren in der Realität deutlich anspruchsvoller waren, war auch das besagte Prinzip »jeder muss alles können« ad absurdum geführt. Dieses Prinzip kann bestens zu Mittelmaß führen, aber niemals eine Spitzenleistung in Extremsituationen erbringen, die auf individuellen Kernkompetenzen basiert. Orientierungsläufer oder Rallye-Beifahrer haben eben einen anderen Erfahrungshorizont als Urlaubsnavigatoren.

8.4 • Strukturen und Prozesse: Annahmen anpassen und zielgerichtet …

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

Ähnliches galt auch für die anderen Jobs. Autofahren hinter dem Radfahrer mit durchschnittlich knapp 30  km/h klingt einfach, ist aber ein höchst anspruchsvoller Job. Volle Konzentration während der 6-Stunden-Schicht ist Voraussetzung, um den Radfahrer sicher über die Strecke zu bringen. Einerseits gilt es gegenüber den Verkehr abzusichern und hohe Konzentration gegenüber dem Verhalten des Radfahrers aufzubringen. Ein übersehenes Schlagloch kann zu einem Sturz führen und schnelles Handeln ist dann unabdingbar, sonst wird man vom eigenen Auto überrollt.

Andererseits ist das nächtliche Fahren eine weitere Herausfor-derung, nicht nur die Gefahr des Einschlafens durch die Eintönig-keit der Strecke. Dem Radfahrer wird durch das Führungsfahrzeug der Weg ausgeleuchtet. Ist dieses zu weit weg, sieht der Radfahrer nicht genug. Des Öfteren geht es bergab und 70 km/h sind keine Sel-tenheit. Mit dieser Geschwindigkeit eine Passstraße mit Serpentinen bergabzufahren, um bei hoher Geschwindigkeit den Radfahrer den Weg hinter den Kurven auszuleuchten, erfordert nicht nur höchste Konzentration, sondern auch fahrerisches Geschick. Der Radfahrer muss sich darauf verlassen können, dass nach Kurven, in denen man Sekundenteile auch mal nichts sieht, das Scheinwerferlicht wieder ausleuchtet. Nichts für schwache Nerven bei Schlafmangel.

Time out

Vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung – Teil 5Wirksam sein!: Handlungen sind das sichtbare Ergebnis von grundlegenden Handlungsmustern. Wirksam sein heißt, das Han-deln zielgerichtet und effizient zu gestalten. Dazu braucht man klare Ziele als Maßstäbe, einen ständigen Soll-Ist-Vergleich als Monitoring. Wirksam sein bedeutet auch, ein waches Auge, einen vorbereiteten wachsamen Geist zu haben, um flexibel und schnell auf Änderungen reagieren und größeres Unheil schon im Keime ersticken zu können. In diesem wachen, konzentrierten Zustand wird oft Flow möglich! Wie gestalten Sie das Wechselspiel zwi-schen offen wahrnehmen und spezifisch agieren? Wann nutzen Sie zielorientiertes Vorgehen und spezifische Messgrößen? Wann aktivieren Sie Ihre Intuition und nutzen situative Chancen?

Organisationale Energie: Jedes Team und jeder Mensch kennt diese Momente, wenn Unvorhergesehenes geschieht, das vor allem außerhalb der eigenen Steuerbarkeit liegt. Sie werden dann gern als »Naturgewalten«, esoterisch als kosmische Ener-gien bezeichnet, wenn wir überrascht werden, und können uns ir-gendwie »retten«. Aus solchen Ereignissen können sich besonders positive oder auch negative Erfahrungen entwickeln. In jedem Fall sind sie emotional bedeutsam und gehen im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut. Die Bewältigung oder das Erlebnis solcher Momente führt immer zu besonderen Geschichten, die daraus erwachsen. In Organisationen oder in Teams ist anhand

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159 88.5 • Führung: hohe Reibungsverluste bei mangelnder Krisenführung

dieser Geschichten die organisationale Energie abzulesen. Wovon lebt und zehrt ein Team noch heute? Welche Geschichten werden als »typisch« oder »ganz besonders« weitergegeben? Wer erzählt sie und mit welcher Bedeutung? Welche Geschichten müssten ggf. stattdessen erzählt werden, um die organisationale Energie, also den emotionalen Schmierstoff zu verändern?

Wachsam sein! Neue Erfahrungen verbreitern das Spektrum der Möglichkeiten: Die Fähigkeit zum konstanten Lernen ist viel-leicht das Wichtigste, was sehr erfolgreiche Teams auszeichnet. Eine Voraussetzung dafür ist hohe Wachsamkeit! Dies ist eine Haltung, die letztlich in der Bereitschaft gründet, Neues aufzunehmen und dies für die Weiterentwicklung zu nutzen – bezogen auf sich selbst, die Mitarbeiter, die Organisation. Wachsamkeit in diesem Sinne bedeutet für alle auch eine mentale Herausforderung, denn es gilt »100 % da zu sein«. Das will über längere Zeiträume auch trainiert sein! Wie werden Informationen über die Umwelt und die Innenwelt des Teams aufgenommen und verarbeitet? Mit welcher Haltung wird auf Abweichungen reagiert, wie in positiven, wie in negativen? Was wird mit Interesse und Neugier belohnt? Worauf wird die Auf-merksamkeit fokussiert? Wie werden diese neuen Informationen immer wieder in Kommunikation gebracht?

Konstantes Lernen – Grundannahmen überprüfen:Jede Stra-tegie, jede Struktur und jeder Prozess beruht auf einer oder meh-reren Grundannahmen. Dabei geht es um die tiefen »Insights«, das tiefe Verstehen der Materie. Annahmen sind unerlässlich, weil sie Ordnungen und erste Handlungen ermöglichen. Manche Firmen analysieren sich zu Tode und kommen nicht zu finalen Grundannahmen, die »Action« ermöglichen. Fehler werden oft auf der Grundlage falscher Annahmen gemacht. Im Sport gibt es durch das direkte Feedback schnell die Möglichkeit zu erkennen, wann Annahmen ad absurdum geführt sind. Im Team ist es bei jeder Strategie-, Prozess- oder Strukturdiskussion hilfreich, die zugrunde gelegten Hypothesen mit anzuschauen und Insights zu adaptieren. Welche Annahmen haben sich als falsch erwiesen und wie verändert das unser Handeln? Welche Annahmen behalten wir bei, koste es was es wolle?

8.5 Führung: hohe Reibungsverluste bei mangelnder Krisenführung

8.5.1 Der Rennverlauf – Das Studium des Gegners

Timestation für Timestation kämpften wir uns nun Richtung Rocky Mountains vor, quer durch Arizona, quer durchs rote Indianerland. Rot im wahrsten Sinne des Wortes. Selbst in der Nacht konnte man die rote Grundfarbe erkennen. Leider war einer der absoluten Highlights,

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

das Monument Valley, nicht zu sehen, da wir es in der Nacht passier-ten. Trotzdem konnte man in der Nacht schemenhaft diverse Forma-tionen erahnen. Es wurde eine aufregende Nachtschicht für uns.

Noch waren einige Teams eng beisammen und man fuhr an den wartenden Motorhomes und Medienfahrzeugen vorbei. Darunter zwei andere 4er-Teams und einige 8er-Teams. Da wir nun die Prozes-se strukturiert und uns selbst gefunden hatten, konnten wir wieder einige Aufmerksamkeit nach außen richten. Wie lagen wir eigent-lich? Die Befragung des Internets ergab, dass wir im Kampf um Platz 3 lagen. Davon waren wir natürlich sehr angetan, denn wir hatten uns platzierungsmäßig überhaupt kein Ziel vorgenommen und die Mög-lichkeit, ums Stockerl beim härtesten Radrennen der Welt fahren zu können, hätten wir uns kaum erträumt. Zwei Teams lagen 1 Stunde vor uns und das drittplatzierte Team nur wenige Minuten vor uns.

So ergab es sich, dass wir in der 2.  Nacht wieder auf das dritt-platzierte Team OC Quattro aus Kalifornien aufliefen. Es entwickelte sich ein Kampf über mehrere Stunden und so konnten wir die Taktik der Kalifornier gut studieren. Die Kollegen waren mit Zeitfahrrädern unterwegs und hatten bei den langen Geraden durch die bessere Windschlüpfrigkeit der Räder Vorteile. Wir hingegen fuhren größ-tenteils mit auf Triathlon adaptierten Rennrädern und hatten in den Bergen und bei kurvigen Abfahrten Gewichts- und Stabilitätsvorteile.

Als deutlichen Wettbewerbsvorteil hatten die Kalifornier in der Nacht ein zweites Führungsfahrzeug im Einsatz, wodurch sie auch in der Nacht fliegende Wechsel absolvieren konnten, während wir immer mindestens 90 Sekunden durch das Stehenbleiben verloren. Dadurch wechselten Sie deutlich öfter als wir, nämlich alle 30 Minu-ten, während wir noch in einstündigem Rhythmus unterwegs waren, um durch weniger Wechsel Zeit einzusparen.

Trotzdem konnten Gerald und ich den Kampf im hügeligen Ge-lände offenhalten. Während die Kollegen bei den Wechseln uns immer abhängten, konnten wir uns im Laufe der nächsten Einheit am blin-kenden Licht heranzoomen und auch überholen. Das gab Mut und Kraft, denn physisch waren wir stärker. Einen weiteren Vorteil hatten wir bergab. Das nutzte ich letztlich, um bei einer längeren schwieri-gen Abfahrt einen deutlichen Vorsprung herauszufahren und bis zum nächsten großen Schichtwechsel noch ordentlich Gas zu geben. Diese Einheit war echt wertvoll für die Psyche und so übergaben wir mit gu-tem Vorsprung an unser 2. Team und schickten uns in unsere zweite geruhsame Nacht mit Erdbebencharakter beim Schlafen.

8.5.2 Die »Gruppendynamik« setzte ein

Am Morgen beim Aufwachen war die Gegend viel grüner. Ein Zei-chen, dass wir über 2.000  m Seehöhe unterwegs waren. Trotzdem waren die Temperaturen gut an die 30  Grad. Zunehmend merkte man nun Müdigkeit und Gereiztheit bei den Teammitgliedern. Der

Gegner einschätzen

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Gruppendynamik fördern

Schlafmangel und ständige Druck des Rennens brachte das Team nun an Ihre körperlichen Grenzen. Beim Training macht man nach 2–3 intensiven Einheiten eine Ruhepause. Bei jedem Skikurs gibt es am 3. Tag einen halben Tag Ruhe. Das konnten wir uns nicht leisten und mussten durch dieses tiefe Tal der Schmerzen.

Bei solchen Rahmenbedingungen war es nicht verwunderlich, dass Konflikte entstanden. Potenzial für Reibungen gab es genug. Nach wie vor hatten wir das Telefonieren bei den Timestations noch nicht voll im Griff. Einmal hatte sowohl das Führungsfahrzeug als auch das Motorhome angerufen, was uns eine letzte Verwarnung vor einer Zeitstrafe eintrug.

Daraufhin wurde final der jeweilige Navigator als einzige Ent-scheidungskraft eingesetzt. Er war immer vor Ort bei der Entschei-dung, wusste über alle Optionen Bescheid und musste die effektivste und zeitschonendste auswählen. Im schlimmsten Falle musste das Auto stehen bleiben und der Anruf von der Telefonzelle getätigt wer-den, was Zeit kostete. Der Navigator hatte sich so als kleine Führungs-kraft etabliert.

Der Dreh- und Angelpunkt lag allerdings im Motorhome. Die Be-satzung dort und hauptsächlich die Köchin und Masseurin hatten zu allen Leuten ausreichend Kontakt, während sich die beiden Fahrzeug-teams jeweils nur kurz beim großen Wechsel sahen. Kommunikation ist Macht. Die besaß damit u. a. unsere Köchin. Liebe geht durch den Magen. Das »Papperl« (Essen) muss passen, sonst sinkt die Laune.

8.5.3 Der Kochprozess als Stimmungsmacher

Kochen ist im Motorhome wirklich nicht einfach. Für 13  Leute in Summe auf 2 Platten und das nur bei Stillstand des Fahrzeugs, denn während der Fahrt war es verboten und zu gefährlich, mit Gas zu hantieren. Die Stehzeit des Motorhomes musste somit immer genutzt werden. Allerdings braucht man zum Kochen auch Zutaten und da-von jede Menge. Der Stauraum war eng und so mussten neben Wasser auch andere Zutaten laufend zugekauft werden. Das ist in den USA nicht wirklich ein Problem, da die meisten Läden – und die sind oft in der Größe von Supermärkten – 24 Stunden offen haben.

Wie es kommen musste, ergab sich in den Rockies, in der ohne-dies schon angespannten Situation, dass ein Laden geschlossen hatte und wertvolle Zeit mit Warten verging und das bestellte Essen da-durch nicht möglich war. Unsere Köchin bot nämlich den besonderen Service des À-la-carte-Kochens für die 4 Radler. Man konnte seine Wünsche aufgeben und entsprechend wurde beim nächsten Wech-sel serviert. So musste Günter eben einmal auf seine Lieblingsspei-se verzichten und bekam den ungeliebten Wurstsalat der Begleiter vorgesetzt.

Noch schlimmer erging es den beiden allerdings beim nächs-ten Wechsel. Nachdem unsere Köchin aufgrund der aufwendigen

8.5 • Führung: hohe Reibungsverluste bei mangelnder Krisenführung

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

Kochlogistik nicht in der Lage war, für alle Teammitglieder gleich-wertig und gleichzeitig zu sorgen, hatte sich ein richtiger Hunger bei diesen aufgestaut.

Während beim großen Wechsel die große Pfanne von Gerald und mir zur Hälfte geräumt wurde, gingen wir in die nächste Schicht. Als Günter und Karl-Heinz von ihrer Schicht reinkamen, war die Pfanne leer. Irgendwelche hungrigen Geister hatten die Pause genutzt, um wie Mäuse die Pfanne zu leeren. Dass daraufhin die Stimmung nicht besser wurde, kann man sich vorstellen.

8.5.4 Der Eklat

So richtig zum Ausbruch kam es dann, als beim Führungsfahrzeug ein eingefahrener Nagel entdeckt wurde, bisher noch ohne Auswirkung. Natürlich bestand wieder einmal keine Verbindung zum Motorhome oder zum Headquarter. An der nächsten Timestation war ein größe-rer Ort, in dem wir sogar eine Werkstatt entdeckten. Nur, wo war das Motorhome und wo war unser Fahrer? Gerald war mit einem Aus-zug des Roadbooks derzeit alleine unterwegs und war bereits wieder außer Handyreichweite.

Was tun? Sicherheitshalber reparieren und Gerald einstweilen sei-nem Schicksal überlassen, zum nächsten Ort fahren und dort reparie-ren. Erschwert war die Lage, weil das mittlerweile eingetroffene Mo-torhome nicht wie sonst vorübergehend möglich kurzfristig als Füh-rungsfahrzeug eingesetzt werden konnte. Der nächste Abschnitt sah aufgrund der engeren und kurvigen Route eine Verbotszone für die großen und schweren Fahrzeuge vor. So verging Minute um Minute und die Sorge um Gerald wurde größer. Eine ideale Situation für Ek-lats. Kleine und größere Schreiduelle beendete ich schließlich damit, dass jene Person mit der größten Sachkompetenz,nämlich Sedi, als Kfz-Meister und erfahrener Radkommissär final entscheiden sollte. Er entschied für die Reparatur und nach 45 Minuten hetzten wir dann schließlich wieder Gerald nach. Bis wir ihn erreicht hatten, war er schon knapp 1,5 Stunden alleine unterwegs gewesen. Dass er mehr als nervös war und nicht sicher war, ob er auf der richtigen Route unter-wegs war, kann man sich vorstellen.

Schließlich waren wir alle erleichtert und wir machten uns an die Diskussion, was neben der Navigationshoheit, dem Kochprozess und der Schlafsituation alles verbessert werden musste. Unbeachtet dessen überquerten wir 2 Pässe, die über 3.000 m hoch waren und begannen die lange Abfahrt nach Kansas in die unendlichen Ebenen. Mittlerweile waren die finalen Teams gefunden und der Eklat hatte dazu geführt, dass wieder alle bemüht waren, zu einer bestmöglichen Lösung für alle zu kommen.

Wir wurden schön langsam ein Team, das auf Basis geänderter Strukturen und Anforderungen seine Kompetenzen entdeckte und neu optimierte. Die langen Geraden von Kansas gaben Gelegenheit,

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Wettbewerbsvorteile nutzen

wieder einmal tief durchzuschnaufen und die neuen Prozesse bei er-leichterten Rahmenbedingungen feinzutunen.

Time out

Vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung – Teil 6Schnelle Synchronität der Abläufe sichert Wettbewerbsvorteile: Für jedes ambitionierte Projektteam ist eine hohe Zielorientierung immer wieder verbindend. Diese Ausrichtung ermöglicht der Führungskraft ein konsequentes Delegieren von Aufgaben, Vertei-len von Kompetenzen und ein effektives Management entlang der notwendigen Prozesse. Im eigentlichen Sinne geht es darum, dass die »Dinge getan werden«. Erst wenn die managerialen Grund-lagen sauber gelegt sind und entlang der Kernprozesse gearbeitet wird, werden Wettbewerbsvorteile richtig wirkungsvoll. Ist man mit sich im »Reinen«, kann die Aufmerksamkeit und damit Energie produktiv zwecks Lagesondierung auch nach außen gerichtet werden. Was gelingt uns besonders gut? Wie liegen die Mitbewer-ber? Wo sind wir besser? Das Wechselspiel Innen-Außen, gerade in der Stresszone, ist die hohe Kunst der Metaebene.

Wird hingegen sehr frühzeitig immer wieder Aufmerksam-keit von innen nach außen abgezogen, durch Störungen, durch ständiges Vergleichen mit anderen, durch mangelnde Rahmen-bedingungen etc., dann ist es schwer, als geschlossene Einheit zur Höchstform aufzulaufen. Im Sport finden Mannschaften dann nicht zu »ihrem Spiel«.

Führung, um unter Druck und an Grenzen Balance wiederzu-finden: Eine hohe und oftmals einseitige Zielorientierung hat auch zur Folge, dass Bedürfnisse zurückgestellt werden und anderweitig störende Impulse unterdrückt werden. Wenn die Belastung jedoch steigt, jeder an seine Grenzen kommt bzw. keine ausreichenden Ausgleichsreaktionen mehr möglich sind, dann brechen sich per-sönliche Bedürfnisse teilweise unkontrolliert Bahn – Grundlage für Konflikte aller Art. Hier kann es hilfreich sein, die Konflikte zunächst als Ausdruck bisher unberücksichtigter Bedürfnisse anzuerkennen. Worauf haben wir bisher zu wenig geachtet? Was wurde vernach-lässigt? Wie können wir dementsprechend für eine neue Balance zu sorgen? Welche Dinge sind unklar und führen zur Diffusion der Verantwortung? Wer nimmt sich zu wenig Ausgleich zwischendurch, opfert sich für die Anderen auf und gefährdet mit den eigenen Be-lastungsgrenzen das Team? Wer teilt bisher die Ziele am wenigstens und müsste sich mehr einbringen?

Führung als neutrale Außenperspektive: Sowohl in Anfangs-situationen als auch in Belastungssituationen ist in Hochleistungs-teams besonders Führung gefragt, d. h. »ein Händchen für die Situa-tion und die Menschen«. Im Sport der klassische Coach, der erkennt, welcher Spieler jetzt als Joker eingesetzt werden kann oder der Entscheidungskompetenz an die stabilsten und kompetentesten

8.5 • Führung: hohe Reibungsverluste bei mangelnder Krisenführung

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

Teammitglieder neu zuweist. In diesem Sinne ist Führung durchaus rollierend möglich, doch gleichwohl braucht es jemand, der weiß, dass er für ein rollieren der Führung sorgen muss. Jemand, der das große Ganze im Blick hat, etwas Distanz zum operativen Geschehen und zu einzelnen Befindlichkeiten hat und dementsprechend agiert. Diese Art der Führung braucht in solchen Momenten eine »neutrale Außenperspektive«, um Orientierung zu vermitteln. Welche »Joker« haben Sie in Ihrem Team? Wer hat besondere Kompetenzen für besondere Situationen? Welche Herausforderungen bräuchten Sie, damit diese Kompetenzen zur Geltung kommen? Wie verschaffen Sie sich als Führungskraft immer wieder Möglichkeiten, um mit neutralem Blick von außen auf die Aufgabe, auf Situationen und Personen zu schauen?

8.6 Umfeld: Die Fans mobilisieren, die Teamwerte leben

8.6.1 Rennverlauf – Am Mississippi beginnt das Rennen neu!

In den Ebenen von Kansas passierten wir den »Half Way Point« und hatten viel Zeit, uns wieder nach außen zu orientieren. Ein Blick in das Internet hat uns allerdings einen gehörigen Dämpfer verpasst. Wir waren aufgrund der flachen Strecke ein gutes Tempo gefahren und fühlten uns sehr gut. Beim Internetcheck stellten wir jedoch über-raschend fest, dass wir beim Half Way Point eine Stunde Rückstand auf das Team OC Quattro aufgerissen hatten. Während wir noch in den Bergen ganz knapp Rückstand hatten, war der Rückstand in der Ebene, aufgrund derer für diese Strecke vorteilhafteren Zeitfahrräder, gehörig angewachsen. Nicht viel pro Stunde, aber über 1.000 km sum-miert sich das enorm. Immerhin hatten wir nun Richtung Mississippi wieder überwiegend Internetverbindung und wir konnten so regel-mäßig Updates einholen. Die Landschaft wurde jetzt wieder komplett anderes, grüner, feuchter. Es gibt einen Spruch beim RAAM: »Am Mississippi beginnt das Rennen neu.«. Zwei Drittel der Strecke sind absolviert und alle Teilnehmer müssen gewisse Zeitlimits erreichen, sonst werden sie aus dem Rennen genommen. Danach kann jeder zu Ende fahren und finishen.

8.6.2 Der Zwischenapplaus

Nun hatten wir die Möglichkeit, die Nachrichten auf unserem Blog einmal gründlich zu lesen. Wir hatten jede Menge Zugriffe, z. T. über 1.000 pro Tag, und dementsprechend viele Anfeuerungen, Aufmun-terungen und Belobigungen gab es für uns zu lesen.

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165 88.6 • Umfeld: Die Fans mobilisieren, die Teamwerte leben

8.6.3 Der Kampfgeist wurde geweckt

Am 5. Morgen, hinter St. Louis, wurden wir mit der Mitteilung ge-weckt, dass wir auf Platz 3 liegen. Das zweitplatzierte Team hat einen Fahrer des erstplatzierten Teams beim Überholen angefahren. Dieser war gestürzt und hatte sich den Knöchel gebrochen. Da das Team bereits sein Motorhome in der Wüste in Brand gesetzt hatte, reichte es ihnen nun endgültig und sie beendeten das Rennen. Damit rückten wir kampflos auf Platz 3 vor.

Jenseits des Mississippi beginnen die »Rolling Hills« von Illinois, ein ständiges Auf und Ab bei extremer Luftfeuchtigkeit. Nachmittags gab es dann immer kräftige Regenschauer. Irgendwie hatte sich der Körper an die Strapazen und an den Schlafmangel gewöhnt und so konnten wir ein gutes Tempo fahren. Vier Timestations nach dem Mississippi standen wir auf einmal an einer Ampel neben dem Team OC Quattro Sie waren genauso verblüfft wie wir. Wie das? Eine Re-cherche im Internet hatte gezeigt, dass wir in den schwülen Hügel-welten die mit Abstand besten Zeiten von allen 4er-Teams gefahren waren. Hatte sich die Konzentration auf unser eigenes Tempo doch ausgezahlt und hatten wir mehr Kräfte fürs Finale geschont? Zusätz-lich half uns scheinbar ein Navigationsfehler vom Team OC Quattro, da sie bei einer Timestation einen unerklärlichen Zeitverlust hatten.

8.6.4 Die Mitstreiter für die Extrameile gewinnen

Jetzt war der Kampfgeist bei uns natürlich erwacht. Es ging schließlich um Platz 2. Einen wichtigen Faktor hatten wir bei unserem 30-km/h-Ziel außer Acht gelassen. Für uns Fahrer war das toll. Man musste auch so 35 km/h in der Ebene fahren, um final auf diesen Schnitt zu kommen. Wenn man allerdings hinten im Racecar nachfährt, sind 30, 35 oder auch 40 km/h extrem langsam. Fährt sich der Radfahrer die Seele aus dem Leib und ist 1–2 km/h schneller, fällt das im Auto kaum auf. Der Kampf um den Platz ist allerdings für alle motivierend und klar erkennbar. Plötzlich spürten wir eine zusätzliche Energie und jede Timestation wurde sofort im Internet nach dem aktuellen Stand »gescreent«.

8.6.5 Die entscheidende Attacke

Kurzfristig verloren wir einige Minuten zum Team OC Quattro, da wir aufgrund eines Navigationsfehlers im Ort noch eine Schleife fah-ren mussten, die die Kollegen schon hinter sich hatten., Die Mitbe-werber von OC Quattro waren aber auch motiviert und gaben so richtig Gas. In der Nacht war es dann endlich wieder soweit. Mehr-mals glaubten wir, schon die blinkenden Lichter vor uns zu haben, aber es waren immer zu überholende Einzelfahrer. Zuletzt waren sie

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

es dann doch und ich konnte mich so richtig »anzoomen«. Nach einer kurzen Erholungsphase startete ich die Attacke an einer ungewöhn-lichen Stelle – bergab. Wusste ich bereits von der 2. Nacht, dass die Kalifornier uns bei Abfahrten nicht gewachsen waren.

Die Attacke war erfolgreich und wir wussten alle ganz genau, dass dies nun eine dieser entscheidenden Momente sein wird. Jetzt Gas ge-ben, nicht zurück schauen, voll reinhängen. Komplette Fokussierung, Energie bündeln, alles, was ich so an Mentaltechniken die letzten Jah-re gelernt hatte, wurde eingesetzt, der nächste Hügel im größten Gang genommen. Da das Auto hinter mir war, wusste ich nicht sicher, ob ich den Kollegen genug abgehängt hatte. So winkte ich das Auto heran und fragte mal nach. Der Kommentar: »Ja, die sind schon lange weg!«. Also weiter in meiner Schicht mit Vollgas. Das hügelige Profil kam uns entgegen. Kurz vor dem Wechsel kam ein Unwetter auf. Hagel, und das ganz dick. »Das gibt's ja wirklich nicht?«, dachte ich mir. Gerald zog sich dick an und übernahm. Er ist ein harter Knochen und die meisten würden sich wohl fürchten, er aber fuhr, als wenn es ein normaler Regen wäre.

Bei der nächsten Timestation hatten wir 20 Minuten Vorsprung. Unglaublich, aber wahr. Neben dem Vorsprung, den ich herausge-fahren hatte, mussten die sonnenverwöhnten Kalifornier wohl etwas Angst vor dem Hagel gehabt haben, sonst wäre dieser Vorsprung nicht vorstellbar gewesen.

Da das Profil immer hügeliger wurde, konnten wir im Laufe der nächsten Stunden den Vorsprung auf knapp 45 Minuten ausbauen. Schön langsam war das Ziel absehbar, nur mehr 24 Stunden trenn-ten uns von der Ziellinie in Annapolis, im Bundesstaat Maryland. Allerdings warteten noch 10.000 Höhenmeter auf uns. Keine leichte Aufgabe, bei der noch alles passieren konnte.

8.6.6 Der Gegenangriff auf andere Art

Als wir am letzten Vormittag auf einem längeren Anstieg gerade ge-wechselt hatten, kam plötzlich das Mediencar der Kalifornier ange-fahren und 2 Fahrer sprangen heraus. »You are cheeting, where is your driver?«, schrien sie uns an. »Ihr betrügt, wo ist Eurer Fahrer?«. Wir waren etwas perplex, ob dieser verbalen Attacke. Wir deuteten nach oben. Gerald war außer Sichtweise, so konnten sie ihn nicht sehen. Speziell einer der Fahrer des Mediencars war besonders wütend. Als wir ins Auto stiegen um Gerald nachzufahren, schlug er auf unser Autodach ein. Na super, echte Sportskameraden. Uschi war beson-ders sprachlos. Sie hatte lange in den USA gelebt und wusste, welchen Frevel diese Attacke für den Sportsgeist der Amerikaner darstellte. Allerdings hatten die Kalifornier noch nicht genug und fuhren uns nach, überholten uns und redeten auf Gerald ein. Er schüttelte nur den Kopf und fuhr weiter. Uns wurde schon etwas bange und wir hatten Angst um Gerald. Schließlich fuhren sie aber doch auf die Seite und drehten um.

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Nach kurzer Diskussion beschlossen wir, das Headquarter von diesem Zwischenfall in Kenntnis zu setzen. Wer weiß, was die Kolle-gen in Ihrer Wut noch auf Lager hatten. Irgendwie konnten sie nicht verstehen, dass wir in den Bergen schneller als ihre Landsleute waren – alles Trainingssache. Speziell die steilen Anstiege der Appalachen ka-men uns entgegen, sei es vom gewohnten Training, sei es aufgrund des Materials. Die Berge im Westen waren zwar viel höher und länger, aber bei weitem nicht so steil wie hier im Osten.

Kurz nachdem wir Meldung gemacht hatten, sahen wir bereits einen Race-Marshall entgegenkommen und zu den Kaliforniern wei-terfahren. Später sahen wir bei der Internetrecherche, dass das Team OC Quattro eine 15-minütige Penaltystrafe erhielt. Die hatten übrigens auch wir eingeheimst. Irgendwo in Kansas, weil wir nicht weit genug (5 m ist die Regel) vom Straßenrand entfernt geparkt hatten. Leider war da weit und breit keine Einfahrt vorhanden und auch kilometer-weit kein Auto zu sehen. Aber Regel ist Regel, speziell in den USA.

Die bergigen Hügel hier im Osten wollten nicht aufhören. Wir bauten unseren Vorsprung auf über 1 Stunde aus. 200–400 Höhenme-ter bergauf, dann wieder bergab. Hügel um Hügel. Bei einem geplan-ten Wechselpunkt sahen wir auf einmal unsere Team-Kollegen auf der parallelen Autobahn an uns vorbeizischen. »Nehmt die nächste Ausfahrt, ihr seid falsch«, riefen wir sie über Telefon an. Irgendwie hatten sie das Roadbook einige Kilometer davor falsch gelesen oder die Abzweigung übersehen. Per GPS ist es durch die Parallelität der Straßen nicht aufgefallen.

Wir übernahmen nach der Ausfahrt, und nach wenigen Minuten bekam ich die Anweisung, stehen zu bleiben. Wir müssen was bere-den, sagte Uschi. Wir haben einen Regelverstoß gemacht, dass müs-sen wir melden, meinte sie. Wir haben einen Wettbewerbsvorteil ge-habt, weil wir einige Kilometer Autobahn fuhren. Andere vom Team meinten: »Was soll’s – wie viele Regelverstöße von anderen Teams haben wir selbst gesehen. Das hat kaum Zeit gebracht! Wir rufen zu Hause ja auch nicht das Verkehrsamt an, wenn wir zu schnell fahren.«

Prinzipiell war für diese Art von Übertretung 15 Minuten Penalty vorgesehen. So einigten wir uns darauf, uns selbst diese Penalty zu ge-ben und fuhren danach weiter. Reinen Herzens, in sportlicher Fairness. Wir hatten ja auch Fairness in unsere Wertevereinbarung geschrieben.

Während das Team OC Quattro durch die Attacke gegen uns gegen ihre eigene Werteebene verstoßen hatten und wahrscheinlich letztlich daran scheiterten, einte uns diese Werteebene zu einem Team und machte uns noch stärker. Der Vorsprung wuchs bis auf knapp 1,5 Stunden gegenüber den Kaliforniern.

Time out

Vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung – Teil 7Zuspruch von außen = eine Extraportion Energie: Hochleis-tungsteams ziehen häufig viel Energie aus einer intrinsischen Motivation. Sie haben einerseits eine Vision und Ziele, die Zug

8.6 • Umfeld: Die Fans mobilisieren, die Teamwerte leben

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

erzeugen und steuern sich andererseits in der Aufgabenerfüllung, häufig autonom und weitestgehend unabhängig von dem Be-dürfnis nach äußerer Anerkennung. Die »Nahrung«, von der sie zehren, ist die gemeinsam erzeugte Begeisterungsfreude, die Energie im Miteinander und der Enthusiasmus, Teil von etwas Besonderem zu sein. Sie »laufen wie von alleine«, wenn die Auf-gaben und der Gestaltungsspielraum ihrem inneren Antrieb ent-sprechen. Das führt in Organisationen manchmal dazu, dass die Aufmerksamkeit des Managements von diesen Teams eher abge-zogen und sich stattdessen stärker den Sorgenkindern gewidmet wird. Unterschätzt wird dabei, dass jede Begeisterungsfreude ähnlich wie ein Feuer ist und Sauerstoff braucht, damit es weiter-brennt. Das heißt, derartige Teams brauchen in regelmäßigen Abständen eine Extraportion Energie. Das kann Lob und Applaus sein, das können Inspirationen sein, das können Zuschauer sein, das können Auftritte nach außen hin sein – was auch immer. Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Doch was besonders anreizt, sind Anerkennungen, die über die Teamführung hinaus-gehen, z. B. von ebenbürtigen Mitstreitern, wichtigen Kunden, dem Topmanagement, den Stakeholdern oder der Öffentlichkeit. Welche neuen Ideen fallen Ihnen ein, um Ihrem Team eine Extra-portion Energie zukommen zu lassen?

Werte stabilisieren, speziell in Grenzsituationen: Damit Wettbewerb Freude macht, braucht er Spielregeln. Damit Teams eine gemeinsame Ebene finden, brauchen sie eine gemeinsame Haltung und eine Werteebene, sozusagen ihre eigenen »Spiel-regeln«, die die Basis der Kooperation sichern. Dennoch: überall dort, wo es Regeln gibt, wird es auch Regelverstöße geben. Auch das ist Teil jedes Spiels und die Versuchung in jedem Wettbewerb. Wenn Entscheidungen in derartigen Grenzsituationen auf verein-barten Werten getroffen werden können, dann geht es nicht nur schneller und spart Kraft, sondern Konflikte werden dann tat-sächlich außerhalb des Teams belassen und die Regelverletzung der Anderen führt sogar noch zur Stärkung der inneren Haltung des eigenen Teams. Krisenzeiten können daher dazu dienen, eine Haltung von innere Stabilität (Werte, Spielregeln) und Sicher-heit (Umgang miteinander) eines Teams sichtbar zu machen und auszubauen. Wenn der Wettbewerber unfair und nicht nach ver-einbarten Regeln spielt, was machen Sie dann? Haben Sie eine gemeinsame Basis, aufgrund derer Sie agieren? Können Sie sich mit ihren Werten und geteilten Haltungen in diesen Momenten unabhängig und selbstsicher machen vor den äußeren Ereig-nissen, den Attacken oder Niederlagen? Zählt die Zielerreichung, koste es was es wolle? Wie passen Ihre eigenen Werte zu den geteilten Werten im Team oder der Organisation? Wie gehen Sie mit Abweichungen um?

Werte stabilisieren, speziell in Grenzsituationen

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169 88.7 • Leisten im Flow: die motivierende »Extrameile«

8.7 Leisten im Flow: die motivierende »Extrameile«

8.7.1 Rennverlauf – nochmals alles geben

Bei dieser Art von Rennen kann man nie sicher sein. Reifenschaden, Benzinmangel, Zusammenbruch, falsches Navigieren – eine Menge von Fehlerquellen lauern, speziell nach 6 Tagen und entsprechender Müdigkeit. So verkürzten wir zum Abschluss unseren Schichtwech-sel auf 3  Stunden, um nochmals alles geben zu können. Die letzte Nacht führte durch geschichtsträchtiges Terrain der Bürgerkriegszeit. Harrisburg mit den riesigen Schlachtfeldern wurde passiert und wir gaben unser Letztes. Es galt, die Appalachen zu durchqueren, den letzten Gebirgszug. Die Anstiege hier hatten bis zu 10–12 % Steigung und das merkten wir körperlich doch schon deutlich. Noch dazu, weil dies Stunde um Stunde so dahinging. Eben Hügel um Hügel, Abfahrt um Abfahrt. Selten ging es mal einige Kilometer flach.

Die Abendstimmung meinte es nochmals gut mit uns und ver-wöhnte uns mit dampfenden Wäldern und einem tollen Sonnen-untergang. Immer wieder überholten wir Solofahrer, die nach 9 Tagen noch verhältnismäßig fit wirkten. Man konnte spüren, dass sich alle freuten, schon dem unmittelbar bevorstehenden Ende entgegenfie-berten. Es war aber auch eine Grundfreude am gemeinsamen Fahren. Wir zogen alle an einem Strang, die Prozesse waren eingespielt und optimiert. Wir verstanden uns blind und es bedurfte keiner Worte.

8.7.2 »Die Extrameile«

Auch die Verkürzung der Schichten wurde ohne jede Diskussion still-schweigend von allen akzeptiert und ohne Diskussionen umgesetzt. Diese Änderung war nur möglich auf Basis von viel Grundver-ständnis für die Abläufe und dem starken gemeinsamen Ziel, den hervorragenden Platz zu halten und alles dafür zu tun. Ein klas-sischer Fall von »Extrameile«, wenn besondere Energie und Bereit-schaft entsteht, Einsatz über das normale Maß zu zeigen. Das stand nirgends geschrieben, dass alle nur mit 1,5 Stunden Schlaf nochmals alles geben sollten. Kein schriftlicher Vertrag, kein Extra-Bonus und doch waren alle ohne Worte dazu bereit.

Unsere letzte Morgenschicht startete gegen 2 Uhr früh, nach wie gesagt knapp 1,5 Stunden Schlaf. Der Unterschied zu den gewohnten 3,5 Stunden war deutlich spürbar. Allerdings wussten wir, es geht für jeden nur mehr zweimal 45 Minuten und das mobilisierte die letzten Kräfte. Der Körper war noch auf Schlaf programmiert und so fiel die Einheit sehr schwer.

Die letzten 120 km sollten laut Profil bergab gehen. Tendenziell stimmte es auch, leider aber über sehr welliges Terrain, so dass dies

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

keine Spazierfahrt wurde. Auf vielen kleinen kurvigen Straßen ging es dahin. Immerhin hielt dies unseren Fahrer im Racecar hinter uns wach. Sechs Stunden geradeaus ist als Autofahrer bei 30 km/h kein Honiglecken. Ich bewunderte Sedi für diese Leistung. Er gab uns Ver-trauen und Sicherheit. Bis zuletzt hielt er sich knapp hinter uns und leuchtete die Straße perfekt aus. Bei Timestation 51 hatten wir unseren letzten Schichtwechsel.

Zuerst fuhren wir vorbei und im halben Dämmerschlaf wunderte ich mich über die Anfeuerung. Dabei stellte es sich bald heraus, dass dies unsere eigene Besatzung war, die uns auf die Timestation auf-merksam machte. Gleichzeitig war es der Penalty Point, an dem wir unsere 15-Minuten-Strafe absitzen mussten, die wir aufgrund eines schlechten Wechsels mit mangelndem Abstand zur Straße (laut Reg-lement 5 m) in den Weiten von Kansas kassiert hatten.

Gerald und ich nutzten die 15 Minuten Strafzeit, um uns für den Zieleinlauf vorzubereiten. Frische Kleidung, soweit dies möglich war. Es gab ja u. a. auch die Vorschrift, das offizielle RAAM-Emblem bei Start und Ziel am T-Shirt tragen zu müssen. Etwas Besonderes am RAAM ist, dass die offizielle Zeitnehmung ca. 12 km vor der eigent-lichen Ziellinie genommen wird. Die letzten Kilometer werden dann vom Team gemeinsam gefahren und von einem »Race Official« angeführt. Dabei wird eine einheitliche Zeit für alle Teams addiert. Vielleicht wollten sich die Veranstalter nur die aufwendigen Navi-gationsanweisungen sparen oder Verletzungen bzw. Verkehrsüber-tretungen bei potenziellen Zielsprints verhindern. Jedenfalls ergab dies die Chance, die letzten Kilometer ohne Leistungsdruck voll zu genießen.

Während das Motorhome mit der gesamten restlichen Besatzung schon ins Hotel vorausfuhr, um uns frisch geduscht im Ziel in Emp-fang zu nehmen, galt es für Günter und Karl-Heinz noch die letzten 80 km zu absolvieren. Für Gerald und mich war es recht entspannt, da wir unser Pensum schon erledigt hatten und nun in Ruhe im Ra-cecar die Atmosphäre, sozusagen aus externer Sicht, hautnah erleben konnten. Hautnah im engsten Sinne. Zu dritt hinten im Fonds wurde es nun mit all den Utensilien wie Rad, Nahrung etc. schon sehr eng.

Auch für die Teambesetzung gab dies zusätzliche Belastung, da jemand Ungewohntes im Nacken saß und sie deswegen mehr Druck verspürte, keinen Fehler zu machen. Trotz dieser ungewohnten Situ-ation ging zunächst alles reibungslos bis sich, je näher die Ziellinie rückte, ein zunehmend scherzhafter Ton im Fonds durchsetzte.

Time out

Vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung – Teil 8Extrameilen motivieren zu Extrameilen, … wenn der Teamgeist hoch ist: Die Ausprägung des Teamgeistes erkennt man gerade in der Haltung, mit der Ausnahmesituationen gemeistert wer-den. Wenn Extrameilen gegangen werden müssen und es einer

hoher Teamgeist macht Extrameilen möglich

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171 88.8 • Erfolge: Feiern und transformieren

macht, machen es dann die Anderen auch? Braucht es dafür Auf-forderung oder ergibt ein besonderes Engagement das nächste? Wird in solchen Situationen das Ziel fokussiert oder wird in In-vestitionen und Rückerstattungen gedacht und auf Gerechtigkeit gepocht?

Die Extrameile muss etwas Besonderes bleiben: Das Beson-dere ist, dass Extrameilen mit Ausnahmesituationen verbunden sind und daher extra messbar sein müssen. Das heißt, es muss in einem schnellen, kurzfristigen Feedback ablesbar sein, ob diese Einsätze einen Unterschied in der Zielerreichung machen, sich im Wettbewerb auszahlen und von der Führung und der Organisa-tion als solche anerkannt werden. Nur so kann der Teamgeist an diesen Extramomenten wachsen. Werden die Extraleistungen zum dauerhaften Normalmaß deklariert (z. B., weil die Ziele zu hoch sind), dann sorgt das eher für Demoralisierung. Woran lesen Sie den Teamgeist ab? Wann wird er in Ihrem Team spürbar? Was sind die geteilten Werten im Team oder der Organisation?

8.8 Erfolge: Feiern und transformieren

8.8.1 Rennverlauf: so richtig genießen mit allen Zugängen

Für uns war es wunderschön, in den Sonnenaufgang hineinzufah-ren und die gepflegte Landschaft von Maryland zu genießen. Viel zu schnell verging die Zeit des Relaxens und Scherzens im Fond. Bei der letzten Timestation 53 wartete schon der »Race Official« um uns ab-zuholen. Wir ließen uns Zeit, klatschten ausführlich ab und machten uns dann gemütlich auf den Weg, meist zu viert nebeneinander, un-gewohnt aufrecht am Rad.

Wolfgang Fasching hat immer von diesen letzten Kilometern er-zählt, dass ihm diese inoffiziellen Kilometer am schwersten fielen. Mit diesem Hinweis gewappnet, hatte ich dann kein Problem mit diesen. Für mich war der Schlussstrich geistig an der Küste im Dock. Aber zu viert war das auch ein geringeres Problem. Wir scherzten und freuten uns, nun doch bald im Ziel zu sein. Ein Wechselspiel der Gefühle zwischen innerer Freude und äußerer Freude mit den Teamkollegen über die Erlebnisse und Freude, es geschafft zu haben.

Die echte Zielgerade war wirklich extrem kurz, vielleicht gerade 50  m lang. Kaum Platz, sich hinter der Kurve parallel zu sammeln und auf einer Linie durch das Ziel zu rollen. Es war zeitig am Mor-gen, gegen 8  Uhr, und so waren wenige Zuschauer zu sehen. Das wäre auch etwas zu viel verlangt, den Zieleinlauf vom ersten bis zum letzten in Ablauf von ca. 3 Tagen verfolgen zu wollen. Unsere Crew war dafür umso stimmgewaltiger und bescherte uns einen lautstarken Zieleinlauf. Eine spezielle Stimmung machte sich breit, die Freude

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

übers finishen, Freude über den zweiten Platz, ein wenig Traurigkeit, dass es vorbei war – ein Wechselbad der Gefühle.

Als erstes wieder obligatorisches Abklatschen, Umarmungen, Jubelschreie. Jeder nach seinem individuellen Temperament und seelischer Verfassung. Dabei gibt es verschiedene Subteams. Die engs-te Beziehung entstand sicherlich zu unserem Fahrer und der Naviga-torin. Zum restlichen Rennteam bestand während des Rennens gar nicht so viel Kontakt, auch wenn man sich gegenseitig in einer Art positiver Konkurrenz motivierte.

8.8.2 Das Team muss auch einmal im Mittelpunkt stehen

Gleich im Ziel bekamen wir Fahrer unsere Medaille auf der Tribune umgehängt und durften dem Moderator einige Fragen beantworten. Irgendwie wollten wir das aber gar nicht. Es war eine Teamleistung nicht nur von den Fahrern sondern vom gesamten Begleitteam. Schließlich hatten wir uns zielorientiert zusammengerauft und jeder sein Ego im Sinne der Zielsetzung zurückgestellt. Einige vom Begleit-team haben weniger geschlafen als wir. Die Medaillen und offiziel-len »Finisher Shirts« bekommen allerdings nur die Radler. Auch in der Aufmerksamkeit der Presse stehen die Radler im Vordergrund. Das entspricht in Hochleistungsteams sicherlich nicht der Realität der gemeinsam erbrachten Leistung.

Auf einem Schild waren die nächsten Zieleinläufe mit der erwar-teten Einlaufzeit angegeben. Daraus war ersichtlich, dass das Team OC Quattro 1 Stunde nach uns erwartet wurde. Zum erstplatzierten Team hatten wir einen Rückstand von 3,5 Stunden. Das klingt viel, bedenkt man aber die Logistiknachteile in der Nacht, könnte es ganz schön eng geworden sein. Hätte, wäre, würde gilt nicht! Wir waren überglücklich über unsere Platzierung und hoch zufrieden mit unse-rer Zeit, hatten wir doch das Ziel, unter 7 Tagen zu bleiben, mehr als deutlich unterboten.

Erstmals ging es ausführlich frühstücken, wenn auch die lange Warteschlange für das Frühstückslokal unterschiedliche Meinungen, ob warten oder nicht, auslösten. Einmal drin war es richtig urig und wir wurden auch schon von den wissenden Gästen ausführlich be-glückwünscht. Die ersten Biere machten die Runde, die ersten aus-führlichen Gedankenaustausche starteten, schließlich sahen wir uns seit dem Start jetzt alle das erste Mal wieder auf einem Fleck.

Amerikanisches Frühstück ist äußerst opulent und reicht eigent-lich für den ganzen Tag. Nicht so für uns ausgemergelten Gestalten. Der größte Vorteil der nächsten Tage/Wochen war, dass wir essen konnten, was wir wollten. Erst nach einiger Zeit hat der Körper die Verwertungsprozesse wieder umgestellt und dann wurde der Bauch-umfang gleich wieder deutlich größer.

Erfolgsrituale praktizieren

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8.8.3 Und abends ging es dann richtig los

Schlaf gab es nachmittags nicht viel, nur 1–2 Stunden. Dann ging das Programm schon weiter mit der offiziellen Siegerehrung. Diese hat uns letztlich enttäuscht. Ein Buffet in einem großen Saal mit wenig Moderation war uns stimmungsmäßig etwas dünn. Auch waren noch nicht alle Teams und schon gar nicht alle Einzelstarter im Ziel. Inte-ressant war speziell der Austausch mit den anderen Teams, der inte-ressante Insights in andere Geschehnisse wie bei den Einzelstartern lieferte.

So fanden wir uns nachher bald am Hafen in einer uns emp-fohlenen Kneipe ein. Mit angenehmen Temperaturen konnten wir im Freien direkt am Wasser die Füße in den Hafen baumeln lassen und eine Runde »Wiederauffüllung« nach der anderen ordern, bis tief in die Nacht. Immer mehr Teams fanden sich ein und so mischte sich das Ganze ein wenig durch. Meistens waren die Teams leicht am Trikot erkennbar, welcher Nationalität sie angehörten. Immerhin waren auch noch 3 deutsche Teams am Start, während wir als einziges Team Österreich repräsentierten. Nur unser Hauptgegner OC Quat-tro wurde nicht gesichtet, aber es gab ja auch noch mehr Kneipen in Annapolis.

Irgendwie verflog die Zeit und wir machten uns erst gegen 4 Uhr früh auf den Heimweg. Unglaublich aber wahr, wie dieser Event noch immer durch die Gedanken pulsierte, Emotionen hochtrieb und unserer Seele schmeichelte.

8.8.4 Teams müssen nicht ewig halten

Während sich das Team während des Rennens an dem gemeinsamen Ziel aufrichtete und sich ab Halbzeit zu einem echten Team steigerte, zeigten sich nach dem Rennen wieder beginnende Verfallserschei-nungen. Die alten Muster an Unterschiedlichkeiten und Egoismen traten wieder stärker auf. Tage, Wochen bzw. Monate danach hatte sich das Team im Grunde wieder in 2 Teile geteilt. Ein Teil fuhr das RAAM wieder, mit dem Ziel, es zu gewinnen, während der andere Teil rund um Gerald und mich sich auf ein anderes Projekt vorberei-tete. Eine kleine Schnittmenge von 2 Personen schaffte es, in beiden Teams zu arbeiten. Eine Person ging wieder komplett aus dem Wahr-nehmungsfeld, genauso, wie sie reingeschneit war.

Time out

Vom Vorhaben übers Wollen zur Umsetzung – Teil 9Freude zeigen - Erfolge feiern: Der Sport lebt von den Emo-tionen, die nach Gelungenem oder Misslungenem bzw. nach Erfolgen oder Niederlagen sichtbar werden. Diese Emotionen sind ansteckend! Da das Feedback immer unmittelbar ist und es

8.8 • Erfolge: Feiern und transformieren

gemeinsame Erfolge sofort feiern

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Kapitel 8 • Die Geschichte eines Hochleistungsteams – die Rookies beim Race Across America 2009

deutliche Unterschiede in der emotionalen Bedeutung von Ereig-nissen gibt (Training, Wettkampf, Olympiade, Weltmeisterschaft, Weltcup, Rekorde etc.), erleben alle gemeinsam, immer wieder besondere Momente – Sportler wie Zuschauer. Daran entwickeln sich nicht nur besondere Sportler, sondern auch Fans – mit all den Ritualen. In der Wirtschaft existiert dieses unmittelbare Feedback seltener und auch Emotionen werden weniger ausgedrückt. Doch wie soll die Energie für ein Ziel mobilisiert werden, wenn keiner den Moment spürt, an dem er die Ziellinie überquert? Wie soll menschliche Verbundenheit entstehen, wenn keine Emotionen sichtbar werden? Wie soll Spannung aufgebaut werden für höchs-te Leistungen, wenn es keine Rituale gibt? Eines hängt mit dem Anderen zusammen und bedingt sich wechselseitig. Hochleis-tung braucht das Ziel, das Ritual und das Gefühl.

Wie inszenieren Sie Ihre Feiern? Welche Rituale der Zwischen-anfeuerung und des Zielsprints haben Sie? Wie kommunizieren Sie Erfolge?

Erfolgsverfassung aufladen: Die Erfolge von heute stellen die Erfolge von morgen sicher. Habe ich etwas erreicht, habe ich sogar Grenzen verschoben, erhöht sich mein Leistungsstandard. Die Bilder im tiefen Herzen sind unbezahlbar. Beim nächsten Mal traue ich mir mehr zu, kann andere mitziehen und überzeugen. Das Momentum für nachfolgende Herausforderungen wird höher, je mehr Leute davon überzeugt sind. Erfolge feiern und reflektie-ren füllt die Energiebatterie enorm auf. Die Leistungslatte ist nach oben verschoben. Die »geladene« Erfolgsverfassung erlaubt die Latte das nächste Mal wieder höher zu legen.

Gehört unmittelbares Feiern zur Standardprozedur? Wie schnell wird wieder zur Tagesordnung übergegangen? Wie wird ein Unterschied zwischen Leistungen gemacht? Wie stellen Sie die Lernerfahrungen im Team sicher? Wie weit wird gelerntes strukturiert in die nächsten Prozesse eingebarbeitet?

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: »Höchste« Leistungen sind nur möglich, wenn es auch »tiefste« Regenerationen gibt und jeder wieder loslassen kann. Leistung lebt davon, dass Spannung aufgebaut, diese gehalten und wieder gelöst wird. Es ist ein zyklischer, rhythmischer Vorgang. Wollte man daraus ein lineares, dauerhaftes Geschehen machen, dann würde das eher im Burn-out münden oder hohe Folgekosten auf anderen Ebenen haben. Eine einseitige Zielorientierung lässt sich nur über einen gewissen Zeitraum aufrechterhalten, denn nach dem Tun braucht es wieder etwas Sein. Dann kann jedes Teammitglied wieder »so sein«, wie es will und braucht die eigene Autonomie nicht einem gemeinsamen Tun unterzuordnen. Unsere Potenziale entfalten sich im Wechselspiel zwischen Zugehörigkeit und Autonomie.

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Für dauerhaft »natürliche« Leistung brauchen wir einen gewissen Rhythmus, ein gesundes Maß und Abstand zu allem, genauso wie Hingabe an eine Sache.

Wie regenerieren Sie? Wie laden Sie ihre Batterien wieder auf? Wie sorgen Sie für Entspannung und Reflexion? Wann spüren Sie wieder die volle Kraft?

8.8 • Erfolge: Feiern und transformieren


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