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Joachim Fernau_Halleluja Die Geschichte Der USA

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Joachim Fernau Halleluja Die Geschichte der USA
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Joachim

Fernau Halleluja

Die Geschichte der USA

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Joachim Fernau wurde am 11. September 1909 in Bromberg geboren, ging in Hirschberg (Riesengebirge) zur Schule und studierte nach dem Abitur in Berlin. Hier schrieb er als Journalist für Ullstein, bis er 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Seit 1952 lebt er als freier Schriftsteller in München und in der Toscana. Fernau, der temperamentvolle Konservative, hat über zwanzig Bücher geschrieben - die meisten haben über 200 000, manche über eine Million Auflage. Es sind vor allem seine Werke zur Geschichte und Zeitgeschichte, die stets heftiges Für und Wider auslösen und für ebenso viel Jubel bei den Lesern wie für Ärgernis bei den Kritikernsorgen. Fernau über sich: »Man nennt mich (richtiger: schimpft mich) konservativ. Das stimmt, wenn man darunter einen Mann versteht, dem das Bewahren des Vernünftigen und Guten im Geistigen ebenso wie im Alltäglichen wichtiger ist als das Ändern um des Änderns und das Verwerfen um des >Fortschritts< willen und der nicht um jeden Preis >in< sein will, wie man heute zu sagen pflegt. In allen Büchern habe ich mich bemüht, wahrhaftig und unabhängig im Denken zu sein...«

Außer dem vorliegenden Band sind von Joachim Fernau als Goldmann-Taschenbücher erschienen:

Rosen für Apoll. Die Geschichte der Griechen (3679)

»Deutschland, Deutschland über alles...« Von Anfang bis Ende (3681) Sprechen wir über Preußen.

Die Geschichte der armen Leute (6498) Disteln für Hagen. Bestandsaufnahme der deutschen Seele (3680)

»Guten Abend, Herr Fernau«. Ich sprach mit Aristides, Friedrich Nietzsche, Xanthippe,

dem Müller von Sanssouci, Andreas Hofer, Agnes Bernauer, Kaiser Heinrich IV, Campanella, Rudolf Steiner (8517)

Wie es euch gefällt. Eine lächelnde Stilkunde (6640) Ernst & Schabernack. Besinnliches und Aggressives (6722)

Sappho. Ein griechischer Sommernachtstraum (9088) War es schön in Marienbad. Goethes letzte Liebe (6703)

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Joachim

Fernau Halleluja

Die Geschichte der USA

GOLDMANN VERLAG

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Ungekürzte Ausgabe

Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann

Made in Germany • 13. Auflage • 7/89

Genehmigte Taschenbuchausgabe © 1977 by F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München/Berlin

Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Manfred Schmatz und Adolf Bachmann, München

Druck: Eisnerdruck, Berlin Gescanned von Shango, für meinen Gacki, meinen Lebensmenschen

Verlagsnummer: 3849 Herstellung: Gisela Ernst/AS

ISBN 3-442-03849-9

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I. Moses 6,

Vers 5-7

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I

Als wir - meine Frau und ich -1945 in einem kleinen Mansardenzimmer lebten, dessen Wände zwei Monate im Jahr mit einer Eiskruste überzogen waren, überbrachte uns freundlicherweise ein alliierter Soldat einen Brief aus Amerika, Antwort einer alten Freundin. Der Brief bestand nur aus einer Zeile; sie lautete: »Ich verabscheue alle Deutschen. « Jahre später zeigte ich diesen Brief meinem alten Verleger Walter Kahnert und fragte ihn, ob ich den Spieß auch umdrehen dürfte. Er sah mich ernst an und sagte: »Nein. Die Amerikaner sind im Grunde ihres Herzens gute Menschen. Sie haben uns, als wir hungerten, Care-Pakete geschickt. Vergessen Sie das niemals!« In Rom fragte ich einmal eine freundliche Anarchistin, warum sie sich Abend für Abend die Ohren mit der Musik der Amerikaner volldudele und ein Hemd mit der Aufschrift »Wrigley« trage. Sie antwortete: »Der Amerikanismus ist des Teufels, aber das amerikanische Volk ist gut.« Unmittelbar nach Kriegsende (das Beispiel gehört also eigentlich an den Anfang) lebte ich in Süddeutschland unangemeldet und incognito. Eines Tages erhielt ich ein Schreiben unter meinem vollen Namen vom amerikanischen C./.C. Man forderte mich auf, zwei Tage später in der Dienststelle zu erscheinen. Unterschrieben war der Brief von einem Leutnant. Wohlgemerkt, es kam kein Jeep, der mich einfach abholte. Man gab mir zwei Tage Zeit zu erscheinen, das heißt, zwei Tage Zeit zu verschwinden, ich begriff es sofort. Bis auf den heutigen Tag zerbreche ich mir den Kopf, warum dieser Leutnant das tat. Es gibt nur eine Erklärung:

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Dieser Amerikaner war ein guter Mensch. Wieder also. Sind die Amerikaner gut? Ich muß es glauben. Es ist angenehm, so etwas im voraus zu wissen. Und mit solcher Gewißheit wollen wir nun mit der Geschichte dieses guten Volkes beginnen.

*

Daß Amerika nach Amerigo Vespucci heißt, weiß jedermann. Wer aber, so fragt man sich, hat dem unschuldigen Erdteil diesen Namen angehängt? Denn Vespucci hat weder die Neue Welt entdeckt, noch Nordamerika jemals gesehen. Er war überhaupt ein rechtes Lügenmaul; aber von der Namensgebung hat er keine Ahnung gehabt. Wer also ist der Schuldige? Nun, wer wird es wohl sein? Wir haben allen Grund, uns an die Brust zu schlagen, denn es war ein Deutscher. Im Jahre 1507 brachte der Geograph Waldseemüller die erste Karte von der »Neuen Welt« heraus und erkühnte sich, dem Kontinent auch gleich einen Namen zu geben; vom Norden sprach man wenig, der Süden war weit besser bekannt, und die Weisheit hatte man aus den Schriften des Herrn Vespucci. So kam Waldseemüller zu dem Geniestreich nach dem dubiosen Florentiner einen ganzen Erdteil zu benennen. Den Namen haben wir also. Und wenn wir ihn fortan im Munde führen, so wollen wir uns einigen, an Nordamerika, besser noch, nur an die USA zu denken. Daß es die Vereinigten Staaten von Amerika gibt, verdanken wir (abgesehen vom dritten biblischen Schöpfungstag natürlich) vor allem den Briten. Hätten sie nicht die Idee gehabt, die Indianer auszurotten, so würde Nordamerika ein ganz anderes Schicksal erfahren haben. Es hätte das Schicksal Afrikas gehabt. Das heißt: Es wäre

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jetzt so weit, daß die Weißen das Land räumten und zwanzig oder dreißig Indianerstaaten ihre Befreiung vom Joch der Kolonialherren feierten. Die neuen Staatspräsidenten würden statt Lumumba und Mobutu »Wiehernder Mustang« und »Listige Schlange« heißen und ihre First Ladies »Heller Morgen« und »Fleißige Finger«, und in Bonn wäre für sie, wenn sie ihr Entwicklungsgeld abholten, eine Ehrenkompanie angetreten. Haben wir uns das eigentlich schon einmal klargemacht? Daran ist nicht das geringste komisch. Die Briten und Franzosen, auch ein wenig die Spanier - vor allem aber wie gesagt die Briten mit ihrer Weitsicht bewahrten uns davor; es kam anders. Daß es anders als mit Afrika kam, dafür sehe ich weit und breit nur einen einzigen Grund, so banal er auch klingen mag: Nordamerika hatte im Gegensatz zu Afrika keine Malaria und keine Tsetsefliegen. Diese Erkenntnis ist profund, denn in Afrika hat es den Briten keineswegs an gutem Willen zur Vernichtung gefehlt, sie sind lediglich an den beiden offenbar von Gott gewollten außerparlamentarischen Oppositionen gescheitert. Nun darf man aber nicht glauben, die Ausrottung der Indianer sei auch ohne diese beiden Plagen kein sehr schweres Stück Arbeit gewesen. Im Gegenteil. Vor allem anfangs kam so manches dazwischen, in erster Linie die Friedlichkeit der Indianer. Als Kolumbus (er war etwa der hundertste oder zweihundertste Europäer, der nach den Normannen amerikanischen Boden betrat), als Kolumbus 1492 die Neue Welt entdeckte, kamen ihm und später den ersten Siedlern die Eingeborenen freundlich entgegen. Es stimmt traurig, daß unsere heutige Zeit so weit, weit entfernt ist von der Gläubigkeit und dem Vertrauen der

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»Wilden«. Die Vorstellung einer Landung fremder Wesen erweckt in uns heute die Vision des Untergangs der Menschheit und läßt uns sofort zur Maschinenpistole greifen. Was für ein fürchterliches Gift in unseren Gehirnen, daß außer uns Erdbewohnern nur böse Wesen existieren können. Wo sind wir hingekommen! Die Indianer waren unbesorgt. Sie waren freundlich und mehr neugierig als ängstlich. Daß sie die Fremden für weiße Götter gehalten haben, ist wenig wahrscheinlich, denn sie sahen sie hinter dem Busch ihre Notdurft verrichten, was Manitu gewiß nicht nötig hatte, sie sahen sie von Zahnschmerzen geplagt, und sie sahen, daß sie Hunger hatten. Lauter sehr menschliche Dinge, die sie gut kannten. Ich betone nicht ohne Grund den Hunger. Er brachte den ersten Stein ins Rollen. Die frühesten Siedlungen bestanden aus wenigen Dutzend Spaniern. Es waren kühne Männer. Wenn ihr Schiff ohne sie wieder heimsegelte, werden sie das Gefühl gehabt haben, auf dem Mond abgesetzt worden zu sein. Da standen sie nun, ein. Häufchen Verlorener, neben sich Tonnen und Ballen mit Lebensmitteln, Decken, Zelten, Äxten, Sägen, Flinten, Pulver hörnern, Schnapskrügen und Rosenkränzen. Es war Sommer. Die Erde, auf der sie standen (das spätere Florida), brütete, die Luft war feucht, landeinwärts lagen weite Sümpfe. In den ersten einsamen Nächten lernten sie das Gruseln. Doch nicht lange; denn sie bekamen Gesellschaft. Indianer tauchten auf. Es waren gedrungene, kräftige Gestalten im Lendenschurz, eine bunte Decke über die Schulter geschlagen, Federbüsche im blauschwarzen Haar, bartlose, knochige Gesichter, ihre lehmfarbene Haut rot angestrichen, sie sahen aus wie Rothäute. Sie besuchten das Lager ohne Scheu, brachten den Weißen Früchte und Maismehl, schenkten ihnen ein

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Kanu, rauchten ihnen ein Pfeifchen vor und zeigten ihnen die Kräuter gegen Sumpffieber. Es vergingen Monate. Bald trugen auch die Weißen nur noch wenig mehr als einen Lendenschurz. Abgefahren waren sie in »spanischer Mode«, mit Barett, Glockenmantel, hochgeschlossenem Wambs, gepolsterten Schultern, kürbisförmigen Hosen mit herausgearbeitetem Latzbeutel, langen gestrickten Strümpfen und Halbstiefeln. Angekommen waren sie schon weniger schön, und jetzt war von der so berühmten spanischen Mode nichts mehr übrig. Sie sahen aus, wie man aussieht, wenn man tagaus, tagein rodet, gräbt, hackt, sägt. Es waren recht abgerissene Gestalten, die alle Augenblicke an den Strand liefen, um den Horizont nach einem Segel abzusuchen. Sie brauchten neue Kleidung, Geräte, Pulver, Kugeln, Nahrungsmittel. Die nächsten Schiffe brachten es. Aber zugleich brachten sie neue Siedler; die Misere verdoppelte sich. Zwar verdoppelte sich auch die Zahl der Hände, aber die Jahreszeiten, Ernte und Saat, beeilten sich um keinen Deut. Jedes Schiff schüttete neue Menschen ans Ufer, Gott mochte wissen, warum eigentlich. Was wollten sie nur? Sie hatten zu Hause keine größere Not gelitten, der König brauchte kein Land, es gab nichts zu holen, Nordamerika war hart. Was wollten sie nur? Die Frage hat sich damals niemand gestellt, und wir stellen sie für uns heute ja auch nicht, wenn wir zum Mond fahren. Warum fliegen wir auf den Mond? Wir reden von Erkenntnissen und Fortschritt, während wir im gleichen Atemzug die für das Leben der Menschheit tödlichste Sünde, die totale Vergiftung der Erde, gelassen auf uns nehmen. Wir reden von Wissenschaft, von Eroberung des Weltalls und von kühnem Forschergeist, der uns »befreien« wird - wovon? Lauter Flausen und dummes Gequatsche. Die einzig

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richtige Antwort ist die von Schopenhauer: Der Mensch ist vollkommen verstrickt in seinen Willen. So ist es. Manchmal kann man ein Nahziel erkennen. Ein Fernziel nie. Wissen Sie eines? Der spanische König wollte also. Die Admirale wollten, die Schiffsbauer wollten, die Priester wollten, die Schnapsbrenner wollten, die Matrosen wollten. Es begann ein regelrechter Pendelverkehr. Die Schiffe waren unförmige Kästen, hilflos in jedem Sturm, Zweimaster mit weit ausladenden Rahen und ungeschlachten Segeln, das Heck wie ein vierstöckiges Wohnhaus mit Fenstern und Gardinen hoch aufgetürmt, Karavellen von hundert oder hundertfünfzig Tonnen, Monstren, wie sie kein vernünftiges seefahrendes Volk im Altertum sich hätte einfallen lassen. Man kann sie auf vielen Bildern des 16. Jahrhunderts studieren. Als 1539 die Spanier ein ganzes Regiment landen wollten und dafür zum erstenmal eine Flotte geschlossen in Marsch setzten, muß sie ausgesehen haben wie eine Elefantenherde, die über das Wasser kam. Während dies im Süden geschah, knabberten zwei andere Nationen den Kontinent im Norden an. Im höchsten Norden, in Labrador und um den St. Lorenzstrom die Franzosen, und an der mittleren Küste die Engländer. Jeder hätte es dem anderen gern vermasselt, aber es ging nicht, die Entfernungen waren zu groß. England verschob dieses Vorhaben auf später. Die Verhältnisse im Norden glichen denen im Süden überhaupt nicht. Die warme Jahreszeit war kurz, der Winter lang und streng. Der Schnee lag dann meterhoch, und die Stürme waren eisig. Es gab keinen Ackerbau; die Indianer im Norden waren Jäger, unruhige Geister, Waldläufer; sie schienen auch kriegerischer. Sie lebten in zahllosen Sippenverbänden und Stämmen, die mit merkwürdig komplizierten Verwandtschaftskontrakten

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und Familienverträgen zusammenhingen und ebensooft verfeindet waren. Sie hatten hohe, mitunter etwas unverständliche Ehrbegriffe; es war nicht ganz einfach, sich durchzumanövrieren. Allen gemeinsam war ihre Entschlossenheit, nicht zu arbeiten. An Lebensmittelunterstützung war nicht zu denken; diese Indianer lebten von der Jagd in riesigen Wäldern, und die Weißen also auch. Sie hatten es einfacher als die Wilden, sie knallten mit ihren Musketen in der Gegend herum, während die Rothäute sich nach einem Hirschen die Lunge aus dem Leibe rennen mußten. Ursprünglich hatten diese Weißen einmal eine »Aufgabe« gestellt bekommen, sie sollten die Nordwestpassage zum Stillen Ozean finden. Die Passage gab es nicht, und nun blieb als ihre einzige Aufgabe, dort zu leben und zu sterben. Letzteres erfüllten sie in reichem Maße. Indes - nach Art des perpetuum mobile - karrten die Schiffe immer neue Menschen heran. In einem Sommer allein (1578) überquerten hundertfünfzig französische Karavellen den Ozean. Die Männer konnten gar nicht so schnell sterben, wie die Siedlungen wuchsen. Was sollte erreicht werden? Ich kann es Ihnen leider nicht sagen. Entschuldigen Sie, daß ich immer wieder die Frage nach dem Sinn stelle, es liegt daran, daß mein Gehirn noch nicht aus dem Supermarkt stammt. Der französische König pflegte zu antworten, daß er die reichen Fischgründe vor dem Lorenzstrom ausnutzen wollte. Gewiß, gewiß. In dieser Zeit, im 16. Jahrhundert, trat eine verhängnisvolle Wende ein: Die Indianer, denen man Schritt für Schritt in der Umgebung der Siedlungen die Jagdgründe kahlzuschießen begann, lernten die Weißen hassen. Das besiegelte später ihren Untergang, während sie sich sonst sehr leicht als Schuhputzer oder Liftboys in unsere Zeit hinübergerettet haben würden. Aber nein; anstatt die

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verlorengegangenen Gebiete liberal sausen zu lassen, anstatt realistisch zu denken und zu entspannen, taten sie das, was den Mächtigen der Welt gegenüber tödlich ist: Sie glaubten an ihr Recht! Stellen Sie sich das mal vor! Alle drei, Spanien ebenso wie England und Frankreich, waren schuld an dieser Wende. Daß der Weiße Mann nicht nur zu einem kurzen Besuch gekommen war, sollten sie alsbald merken. Denn in den Jahren 1539/40 unternahmen im Süden die Spanier zwei Expeditionen ins Innere des Landes; die eine hatte überhaupt kein Ziel, die andere ein kindisches. Die eine dauerte vier Jahre und endete an einem Hindernis, das man aus völliger Erschöpfung nicht mehr überwinden konnte, es war der Mississippi. Man hätte auch nicht gewußt, wozu man ihn überwinden sollte. Die Truppe war dezimiert, war am Verhungern und dauernd bedroht von den Indianern, nachdem sie ihnen die Ernten geraubt und die Dörfer niedergebrannt hatten. Es wurde eine Anabasis. Mit einem Indianer-Reich, mit einem empfindlichen Machtzentrum wie in Peru oder Mexiko wäre man spielend fertig geworden. Hier aber stieß man ins Leere. Die andere Expedition brach von Mexiko auf und drang, jenseits des Mississippi, nach Norden vor. Dem Zug voran ritt Herr Coronado in goldblitzender Rüstung (das Gold war den Azteken gestohlen). Seine Briefe sind uns erhalten und offenbaren einen tüchtigen General mit Gehirnerweichung. Er wollte die »Sieben goldenen Städte der Indianer« entdecken. Die Städte gab es nur in der Phantasie eines roten Witzboldes, aber die Spanier, beraten vom frommen Padres, waren gläubig, und Gott hatte ihnen in Mexiko und Peru schon zweimal geholfen. Auch Herrn Coronados Weg war von verwüsteten Feldern, toten Indianern, Frauen und Kindern gesäumt.

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Nicht alle Toten hatten Widerstand geleistet, Coronado war oft ganz einfach zornig gewesen. Die Don Quixoterie endete in Kansas. Irgendwo mußte er ja umkehren. Die Indianer des Südens waren geheilt. Weiter nördlich liefen die Dinge anders. Delikater, denn hier handelte es sich um ein so versiertes Volk wie die Briten. Ein Gentleman tötet nur, wenn es nicht anders geht, und hier ging es anders. Die Interessensphären Frankreichs und Englands stießen hart aneinander. Im englischen Küstenstrich (etwa bis hinauf nach Boston) lebten die Irokesen, im Territorium der Franzosen (um den Lorenzstrom) die Huronen, verwandte Indianerstämme, traditionell in Eifersüchteleien und Streitigkeiten verwickelt. Es bedurfte nun nur einer geringfügigen Ermunterung der Irokesen (die sehr gefürchtet waren), um sich über die Huronen herzumachen. Sie machten sich her. Die »Wuschelköpfe« (französisch: les hures) baten die Franzosen um Hilfe. Der Gouverneur, bereit, den Engländern einen Warnschuß vor den Bug zu setzen, sagte zu und zog blank. Die Irokesen wurden böse geschlagen. Das freute England, es argumentierte genauso richtig, wie im Berlin der zwanziger Jahre einmal ein Gewerkschaftsführer bekannte: »Jeder verlorene Streik ist ein Sieg, denn er heizt den Haß an.« Die Briten brauchten jetzt nur noch den Irokesen den Rücken im eigenen Gebiet freizumachen, indem sie die feindlichen Nachbarn Delawaren und Mohikaner ausrotteten. Das taten sie. Damit war der permanente Krieg zwischen den (notgedrungen) englandfreundlichen Irokesen und den (notgedrungen) frankreichfreundlichen Huronen geboren, eine diplomatische Glanzleistung, die alle Erwartungen erfüllte. Die Verluste der Weißen waren zum Glück minimal.

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Britisches Blut ist tapfer, wir wissen es, aber es ist auch sehr wertvoll. Was nun das damalige französische betrifft, so war es weniger wertvoll. Die Mehrzahl der Männer waren nämlich Verbrecher. Graf Roberval hatte sie zu Hunderten in den Pariser Gefängnissen und Kerkern zusammengekehrt, nach Amerika verfrachtet und dort losgelassen. Immerhin, als Weiße standen sie denn doch noch hoch über den Wilden. Der blutige Urwaldkrieg wurde nun ein Dauerzustand. Er entfachte bei den Rothäuten Mordinstinkte, die sie vorher nicht gekannt hatten. Pioniere, die später ins Innere des Landes vordrangen, bestätigten, daß die Indianer, die noch nicht mit Weißen in Berührung gekommen waren, sich weder tückisch noch grausam zeigten. Sie kannten auch das Skalpieren nicht. Gelernt haben sie es von den Holländern und den englischen Calvinisten, die den Irokesen eine Prämie für jeden getöteten »Feind« aussetzten, wofür der Skalp als Beweis dienen sollte, etwa so, wie manche Dorfschulzen früher einen Groschen für jede erschlagene Kreuzotter zahlten. Es waren nicht alles »Kreuzottern«-Skalpe, die die Irokesen brachten. Die Briten machten keinen Unterschied, ob Mann oder Frau oder Kind. Dadurch erreichten die frommen Puritaner auch eine Art Buchführung über die Verluste des Feindes, das war das Neuartige daran. Denn das Skalpieren selbst hatten sie nicht erfunden; es wird uns schon aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. berichtet. Im Alten Testament (2. Makkabäer-Buch 7/7) heißt es nämlich: »Als der erste [der sieben jüdischen Brüder, die man zusammen mit ihrer Mutter zwingen wollte, Schweinefleisch zu essen] auf diese Art gestorben war, führten sie [die Folterknechte des Königs von Syrien] den zweiten zur Marter. Sie rissen ihm die Kopfhaut samt den Haaren ab und fragten ihn: Willst du essen, bevor dein

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Körper gliedweise gemartert wird?«

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II

Elende Zeiten, elende Schinderei, im Norden wie im Süden. Jedoch, als es den Spaniern zum erstenmal gelang, ein Pferd, eine Muttersau und einen Sack Weizen über den Ozean zu bringen, machte das Leben für die Siedler einen gewaltigen Sprung. Es war nicht einfach gewesen; jedenfalls schwieriger, als das Hündchen Laika in den Weltraum zu schießen. Viele Versuche scheiterten; Schiffe gingen unter, Stürme schüttelten sie wochenlang so durch, daß die Pferde getötet, die Schweine und Schafe notgeschlachtet werden mußten. Das Getreide wurde muffig und verdarb. Wann die erste Fracht glücklich landete, ist unbekannt, zumindest mir; aber aufregend genug muß es gewesen sein. Alles, was diese Arche Noah brachte, war in Amerika unbekannt. Die Indianer hatten noch nie ein Pferd gesehen,, noch nie einen Esel, nie ein Schwein oder Schaf. Sie kannten auch Weizen, Roggen und Hafer nicht. Für die Siedler bedeutete das alles einen so großen Umschwung, als wäre die Heimat zu ihnen gekommen. Briten und Franzosen machten es den Spaniern bald nach. Auch Frauen kamen an, jener Teil der Menschheit, der zur Komplettierung der Männer so unerläßlich und überdies auch vergnüglich ist. Man hatte sie begreiflicherweise schmerzlich entbehrt. Ein Indianermädchen zu ergattern, war schwierig. Vorgekommen ist es. Das berühmteste Beispiel ist die schöne Häuptlingstochter Pocahontas, die den abenteuerlichen Seehelden John Smith vom Marterpfahl rettete und heiratete. (Eine Urenkelin von

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Pocahontas wurde im zwanzigsten Jahrhundert die Frau von Woodrow Wilson und damit First Lady der USA.) Fast war nun alles wie zu Hause. Im spanisch-katholischen Süden waren auch die frommen Priester in Scharen da, ja sogar hohe Herren der Inquisition. Auf Bildern einer Handschrift von Champlain und in einem Bericht de Brys aus dem Jahre 1599 sieht man sie in bunten Kürbishosen, in tailliertem Wambs, sogenannten Erbsenschoten-Schnitt, und hohem Faltenhut neben einem Scheiterhaufen stehen, auf dem gerade unbelehrbare Indianer gebraten werden, ad majorem Dei gloriam. Die vielen Menschen im Süden warfen nun aber ein ernstes Problem auf. Ein einzelner Mann kann sich ganz gut durchbringen, auch zwei, auch zehn, denn man kann -nehmen wir einmal als Grundlage ein Feld oder einen Gemüsegarten - ein Stück bewirtschaftetes Land ohne große Schwierigkeiten auf das Zehnfache vergrößern. Wenn man aber, um tausend Menschen zu ernähren, das Feld auf das Tausendfache ausweiten soll, so muß man in den Urwald oder in den Sumpf oder in die Prärie vorstoßen. Das ist der wunde Punkt. Die Multiplikation hat ihre Grenzen. Irgendwo an einer Ecke steht dann auch ein Indianer, der Halt sagt. Auch bleiben jetzt zu viele Hände müßig: die Kinder, die Frauen, die Soldaten, die Priester. So ist das eben leider bei einer feudalistischen Gesellschaftsordnung (jedermann arbeitet, mit Ausnahme der Privilegierten). Damals kannte man das kommunistische Prinzip noch nicht (jedermann arbeitet, mit Ausnahme der Privilegierten). In diesem Dilemma fand ein Spanier um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts einen genialen Ausweg, der sich vierhundert Jahre später allerdings als ein fürchterliches Trojanisches Pferd erwies. An »später« dachte in jenen alten Jahrhunderten natürlich niemand. Das tun Völker erst,

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wenn sie alt geworden sind und schon keuchend auf dem Rücken liegen. Der Mann, der jenen Ausweg fand, hieß Las Casas und ist in die Geschichte als ein wahrer Nothelfer eingegangen, würdig, unter die heiligen vierzehn Nothelfer der Kirche eingereiht zu werden, um so mehr, als auch er ein Gottesmann war. Zunächst war er Jurist, was ihn qualifizierte, Recht und Unrecht zu erkennen, ganz so wie unsere heutigen Richter. Dann trat er, seine hohe Berufung ahnend, in den Dominikaner-Orden ein, dem bekanntlich die Tötung der irrgläubigen und verhexten Menschen oblag. Er brachte es bis zum Bischof, was ihn qualifizierte, nun auch genau zu wissen, was gottgefällig war und was nicht; wiederum ganz genau wie unsere heutigen Oberhirten. Daß es ihn in die Neue Welt zog, lag ihm im Blut: schon sein Vater, seines Zeichens Händler, hatte Columbus begleitet, ohne umzukommen. Dieser vielseitige Las Casas ging zunächst nach Cuba, was damals noch identisch mit »Amerika« war. Dort sah er das gleiche Dilemma, das auf dem Festland herrschte, nicht ganz so schlimm, denn auf Cuba war es schon gelungen, die Eingeborenen zur Zwangsarbeit zu pressen. Das tat Las Casas in der Seele weh. Laßt, rief (und schrieb) er, die Indianer in Ruhe; sie haben eine rote Haut, aber eine weiße Weste und dieselbe Menschenwürde wie alle Ebenbilder Gottes. Und hier nun kam ihm jener rettende Gedanke, der ihn unsterblich machte: Er erinnerte sich, auf welche Weise er schon zehn Jahre zuvor auf seiner heimatlichen Farm das Arbeiterproblem gelöst hatte, nämlich mit Negersklaven, und er beschloß, auch das amerikanische Dilemma so zu lösen. Und zwar in großem Stil. Der Papst gab seinen Segen und freute sich herzlich über die befreiten Indianer. Auch die spanische Regierung war

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sehr einverstanden, denn ihrem gesunden Instinkt entging nicht, welche Möglichkeiten für das Aufblühen von Handel und Wandel darin steckten. Es klappte auch anfangs vorzüglich. An der Elfenbeinküste hatte man bereits Erfahrung: Man überfiel die Negerdörfer, brannte sie nieder, tötete das unnütze Gerumpel an Kindern, alten Weibern und Greisen, nahm den gesunden Rest, stopfte ihn in den Bauch der wartenden Schiffe zwischen Tonnen, Kisten und Vieh und segelte ab nach Amerika. Es brachte ganz schöne Preise. Was dem Scharfsinn Spaniens allerdings entging, war, daß es über kurz oder lang mit England zusammenrumpeln mußte, das in puncto christlicher Seefahrt noch nie Spaß verstanden hat. England, von Grund aus eine friedliche Nation, die nicht zufällig das fair play erfunden hat, erwartete, im Handel und Wandel nicht brutal beiseite gestoßen zu werden. Die Königin der Meere war Spanien schon lange nicht mehr, seit Howard und Drake in der berühmten Seeschlacht von Gravelines die spanische Armada vernichtet hatten. Törichterweise beteiligte sich Spanien dann auch noch an dem dreißigjährigen Gemetzel um Deutschland, kurzum, es blutete sich auf dem Kontinent aus, während England schon weit über Europa hinausdachte. Die Dinge standen für die Briten also bestens, das Ende des Zweikampfs um die christliche Seefahrt war abzusehen. Der Friede wurde unvermeidbar. Er nannte sich Friede von Utrecht. Spanien gestand England das absolute Primat im Sklavenhandel zu. James Thomson, Theologe und Dichter, verfaßte, Gott dankend, Englands seitdem berühmtes Nationallied »Rule, Britannia, rule the waves«, »Beherrsche die Meere, Britannien!«

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III

Inzwischen war man ins 18. Jahrhundert umgestiegen. Die Zahl achtzehn erweckt optisch leicht einen falschen Eindruck. Sie wirkt so nahe dem Neunzehnhundert und .Sagen wir also besser: Inzwischen war man in das Säkulum umgestiegen, dessen Jahre sich zum erstenmal mit einer Siebzehn schrieben. Man war wohlgemut wie selten umgestiegen. Die Luft roch, meinten viele, nach Neuzeit. Nun ist zwar immer »Neuzeit«, eigentlich jeden Morgen, auf alle Fälle aber, wenn die nächste Generation es sich einbildet. Aber diesmal kam: tatsächlich aus Europa ein Signal, und ein einzelner Mann hatte es gegeben: Der Engländer John Locke. Er verkündete die »Aufklärung«. Ein herrliches Wort! Es wurde alsbald von jedermann verstanden, nachdem man es auf die gefällige Formel vereinfacht hatte, daß der »gesunde Menschenverstand« jedes Menschen das Beste und Vertrauenswürdigste sei, was Gott fabriziert hat, Locke hatte gemeint, man müsse mit den alten Vorstellungen von »ewigen sittlichen Wahrheiten« brechen, man müsse auf die kritische Erkenntnis jedes Menschen bauen und den Staat der Volkssouveränität unterstellen. Man müsse die Naturwissenschaften auf den Thron erheben; vor allem aber müsse die Freiheit des Individuums verkündet und verwirklicht werden. (Wir heute, die wir seit einiger Zeit in der Verwirklichung dieser Thesen leben und uns zu bekreuzigen beginnen, können uns schwer vorstellen, wie

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- unter Gebildeten - diese Fanfare wirkte! leb sagte: unter Gebildeten. Damit hat es sich auch. Die Staatsmänner des alten Europa kümmerten sich um diesen »Pinscher«, wie ein deutscher Bundeskanzler einmal die Dichter und Denker so treffend bezeichnet hat, nicht, sondern wurstelten politisch weiter wie bisher. Hingegen konnte man ausgerechnet dort, wo man es am wenigsten erwartet hätte, tatsächlich Ansätze einer stark veränderten Geisteshaltung erkennen: bei den englischen Kolonisten in Amerika. Das Pionierleben war dafür günstig; es öffnete die Augen für Persönlichkeiten (die in Old England verkümmerten) und für Individualisten (die in England eingeebnet wurden), für die Schärfung der Sinne auf der untersten Ebene des Überlebens, und es öffnete die Augen dafür, wie wenig »ewige sittliche Wahrheiten« hier in der Wildnis galten. Der geistige Nährboden für dieses Selbstvertrauen war schon vorbereitet durch die berühmten »Pilgrimsväter«. Die Pilgrimsväter waren jene Schiffsladung Menschen, die vor Generationen aus England gekommen waren, das drei Kreuze hinter ihnen machte. Sie hatten sich in der alten Heimat nicht mehr wohlgefühlt, was verständlich ist, denn ihr arrogantes Auserwählten-Bewußtsein und ihr puritanischer Glaubenseifer müssen unerträglich gewesen sein. Kaum in Amerika gelandet und mit »Halleluja« in die Knie gesunken, infizierten sie die ganze Luft mit ihrer verheuchelten Rechtschaffenheit und der Überzeugung, Gott zahle mit Erfolg und klingender Münze aus. Sie wirkten wie die Hefe in einem Teig: er gärt. Es war der Fanatismus der Pilgrimsväter, der später den Kampf gegen die französischen Siedler erst richtig in Schwung brachte, denn bei ihnen gesellte sich zu allem anderen noch der Religionshaß gegen die Katholiken hinzu. Rätselhaft, wie die Pilgrimsväter es fertig gebracht

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haben, für sich und ihre Abkömmlinge einen nicht totzukriegenden Ruhm zu schaffen. Damals müssen sie eine wahre Pest gewesen sein. Zählen Sie alle diese Dinge zusammen, so haben Sie als Summe das, worüber man sich heute so oft den Kopf zerbricht: die Wurzeln des Amerikanismus. Man fing auch schon an, sich »Amerikaner« zu nennen. Nicht, weil England weit, weit weg war. Die Franzosen waren genauso weit von ihrem Vaterland entfernt und fühlten sich dennoch nie anders als Franzosen. Auch nicht etwa deshalb, weil man in reichem Maße in Verwaltung und Rechtsprechung Selbständigkeit vom Mutterland erhalten hatte, - nein, sondern weil man sehr instinktsicher fühlte, daß man ein anderer Menschenschlag zu werden begann. Äußerlich hatten sich in der ganzen Welt die Menschen sehr verändert. Keine Kürbishosen, keine Erbsenschotenwambse mehr, nicht einmal mehr eine Allonge-Perücke, man hätte sich zu Tode geschämt. Nein, man ging jetzt in Halbschuhen, hellen Strümpfen, enger Kniehose, Weste, langem farbigem Jackett, man trug einen Zopf im Rücken und darauf einen Dreispitz - ein Bild, das uns zeitlich schon vertraut anmutet und das man sich leicht vorstellen kann. So ging der junge »Alte Fritz«, in dessen Zeit wir nun stehen. So sahen nun auch die Siedler in Amerika aus, von der Hudson-Bai bis Florida. Sofern man Militär war, ging man in Schaftstiefeln statt Halbschuhen, den Frack in vorgeschriebener Farbe: die Briten in Rot, die Franzosen in Blau. Wie die Menschen hatten sich auch die einst bescheidenen »Siedlungen« gewandelt. Ein ganzes Jahrhundert war vergangen, auch wenn die Jahre dort drüben zäher zu verstreichen schienen als im vulkanischen Europa. Boston zum Beispiel, der kräftigste

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britische Säugling, war nun schon so eine Art Husum oder winziges Danzig. Die Häuser um den großen Rathausplatz waren zwei- und dreistöckig, schmale Handtücher, wie man sie heute noch im alten London der Squares findet; die hohen Fenster in viele kleine Scheiben geteilt, denn Glas war rar und teuer. Vor den Haustüren standen Säulen, das Rathaus (richtiger eigentlich: Regierungsgebäude) hatte einen steinernen Balkon und eine kleine Freitreppe. Auf einem Gemälde aus jener Zeit kann man nicht erkennen, ob der Platz gepflastert war, aussehen tut er nicht so. Aber es tummelt sich allerhand darauf. Eine dreispännige .Diligence (mit Herren und Damen besetzt), Wagen, Karren und Reiter; ein Straßenhändler sitzt vor einem Haus, ein Stubenmädchen geht einkaufen, eine Dame macht mit ihrem Kind einen Spaziergang, und ein Hausknecht führt einen Hund aus. Alle sehen aus wie im gleichen Augenblick die Leute in Brighton oder Lübeck oder Potsdam. An Columbus denkt niemand mehr; die ganz Alten erzählen vielleicht noch abends am Kamin: »Früher, mein Junge, standen hier nur niedrige Holzhäuser und oft konnte man, wenn der Wind von Norden kam, das Gewehrfeuer der Franzosen hören, mitunter sogar das Kriegsgeschrei der Indianer. Es war nicht, wie ihr wohl glaubt, >schon immer so wie heute<, es waren schwere Zeiten, my boy, damned schwer.« Sie sind immer noch sehr schwer, draußen. Hier in Boston ist Etappe. Man stolziert, wie auf dem Gemälde, im pastellfarbenen Frack herum, treibt Handel, arbeitet in Kontoren, schmiedet, zimmert, schneidert, kutschiert, gießt Kugeln, macht Flinten, gräbt Gärten um, pflügt Felder in der Peripherie; die Hauptarbeit verrichten »weiße Sklaven« , Männer, die sich in den Londoner Elendsvierteln für ein Handgeld von zehn englischen Pfund als Leibeigene auf Zeit verkauften. Vielleicht ist

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der Hausknecht auf unserem Bild ein weißer Sklave, oder der Kutscher der Dillgence. In fünf Jahren wird er frei sein, frei und ohne Sorgen, ohne Slums und ohne den Makel des Paria. Gods own country! Es läßt sich nicht beweisen, aber ich bin sicher, daß die Engländer drüben alle schon die Ahnung hatten, die Neue Welt werde einmal eine Macht werden. Es kann gar nicht anders gewesen sein. (Und das alles mit dem Zopf im Rücken, wir wollen den Anblick nicht vergessen.) Dabei hatten die »Amerikaner« noch nicht den blassesten Schimmer, auf welchem Riesenkontinent sie saßen. Wenn man damals mit einem Hubschrauber die Küste von Norden bis Süden hätte abfliegen können, so würde man gesehen haben, wie schmal die Borte war, die den unendlichen grünen Teppich säumte. Um den Lorenzstrom gab es das bescheidene Quebec und das ebenso bescheidene Montreal, hier und da einige französische Forts und Pelzjäger-Stationen, wenig Leben, wenig Bewegung, wenige blaue Röcke, sogar die Indianer waren wenige. Stunden weiter Südlich endlich Boston mit allem, was zu einem richtigen Städtchen gehört, mit richtigem Hafen, mit richtigem kleinen Menschengewimmel, mit richtigem Lärm, rauchenden Schornsteinen und mit Ausfallstraßen, die sich nach Westen hin bald in der Wildnis verloren. Dort lagen als kleine Fleckchen die vorgeschobenen Forts und noch weiter im Innern als kaum erkennbare Punkte die Gehöfte der Farmer, der »Hinterwäldler«. Nach langem Flug hätte man dann die ganz akzeptable Handelsstation Neu-Amsterdam oder, wie sie jetzt ja hieß, New York gesichtet, bald darauf Philadelphia und Baltimore (ein Dorf, wo man noch in Schaftstiefeln mit Reusen im Hafenbecken fischte), Jamestown (neben dessen Ruinen später Richmond entstand) und schließlich, nach einer Pause von endlosem Nichts, tief

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im Süden Gharleston. Was waren sie alle? Nicht mehr und nicht deutlicher als kleine »Webfehler« in dem großen grünen Teppich. Die Zweihundert- oder Dreihunderttausend, die in diesem britischen Gebiet lebten - Sandkörner über Zweitausend Kilometer gestreut. Und immer das typische Bild: Kleckse an der Küste entlang, dazwischen Hunderte von Meilen ohne eine Menschenseele: das Bild änderte sich über Florida mit einem Schlage. Man War in Spanien. Alles erinnerte daran. Weite Kulturen, legende Felder, blühende Gärten, Herden. Unterstützt vom reichen spanischen Mexiko stießen die Plantagen, Hazienden und Vieh-Ranches schon tief in das Innere vor. Man mußte bereits tagelang reiten, um an ihre Grenzen zu kommen. Und von dort war es dann nicht einmal sehr weit bis zum Mississippi, wo wieder Spanier und Franzosen säßen. Und von da konnte man schon fast den Brüdern, di von Mexiko aus in Südkalifornien gelandet waren, di Hand reichen. Na ja, eine ziemlich lange Hand müßte es sein; die Enkel würden sie haben. Die Enkel würden auch die letzten Indianer bändigen, so oder so. Das Leben war schön. Es war auch einfach zu leben; die Winter waren so milde wie in Boston der Frühling. Jeder Spanier ein Caballero, zumindest ein kleiner. Die Arbeit verrichteten die schwarzen, lebenslänglichen Sklaven. Die Schiffe karrten jährlich mehr als vier-, fünftausend Neger heran. Die Burschen waren ganz gut zu haben. Ein bißchen traurig vielleicht und still, aber sonst brav. Vor allem gehorsam. Sie wohnten in Reihenhütten, ganz ungestört unter sich. Sie heirateten sogar und bekamen Kinder, wie ja auch Vögel im Käfig heiraten und Kinder kriegen. Sie singen sogar. Was sangen die Neger, wenn sie in der Dämmerung vor

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den Hütten saßen und in den Himmel blickten? Kein« Ahnung. Unverständliche, seltsame Lieder, monoton und klagend. Die Missionare hörten das nicht gern und lehrten sie die schönen christlichen Gesänge. Es ist vorgekommen, dass manche Sklaven sich weigerten, an den guten katholischer Gott zu glauben. Aus Dummheit natürlich oder aus Bockbeinigkeit. Wenn dann einer nach dem anderen sich in seiner Gorillagröße aufreckte und vor Wut und Haß die Zähne fletschte, dann mußte man durchgreifen. Solche Leute mußten, allein schon um der Ehre Gottes Willen, schwer, schwer bestraft werden, auch mit dem Tode, obwohl das einen erheblichen Geldverlust bedeutete. Aber, wie gesagt, dazu war man selten gezwungen. Gewöhnlich wurden die Sklaven sogar besonders eifrige Beter. So richtig christlich fröhlich allerdings nie. Es waren für alle, wie man sieht, schöne Zeiten, im Norden härter, im Süden leicht. Aber leider, es blieb nicht so. Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Wir wollen nicht kleinlich sein und einen Sprung von zwei Generationen machen. Natürlich haben wir vieles unterschlagen, Übergriffe, zerstörte Siedlungen, Brandschatzungen und zu jeder Stunde des Tages und der Nacht den Todesschrei eines Indianers; langweilig, zwar nicht für die Betroffenen, wohl aber für die, die es des Morgens am Frühstückstisch bei Cornflakes und Spiegeleiern hörten. Leid tut mir nur, daß ich einen Mann wie Robert de la Salle verschwiegen habe, der als Pelzhändler in Canada begann, dann mit einer winzigen Schar (zwei Dutzend) Franzosen bei Schnee und Eis loszog, den halben Kontinent bis zum Mississippi durchquerte und in Louisiana die Fahne Frankreichs hißte. Wissen Sie,

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warum der Mann so einzi-gartig war? Weil er nicht töten konnte. Natürlich hatte er Glück, daß er im Innern des Landes auf keinen Weißen Stieß. Die Indianer, denen er auf dem langen Marsch begegnete, wurden alle seine Brüder. Er hatte ein Zaubermittel: Seine kleine Schar war immer nahe am Sterben. Da sind solche wilden Völker ja komisch, sie mögen das nicht. Freilich ist es nicht das schöne christliche Erbarmen, sondern wahrscheinlich einfach Trotz. Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen: Er wurde später von weißen Söldnern erschlagen. Nun wollen wir aber mal diesen Kauz lassen und uns in das Jahr 1756 begeben. In diesem denkwürdigen Jahr begann Friedrich der Große, Amerika zu erobern. Er wußte es nur nicht. Es dauerte eine Weile, bis es ihm aufging, und das geht manchen Historikern heute noch so. Wir müssen einen Sprung nach Europa machen, jedoch nicht nach Potsdam, vielmehr in die Boudoirs von Kaiserin Maria Theresia in Wien (sie war damals vierzig Jahre alt), von Kaiserin Elisabeth von Rußland (damals sieben-undvierzig Jahre alt) und von Madame Pompadour in Versailles (damals fünfunddreißig Jahre alt). Dort herrschte ein eifriges Gehen und Kommen von Diplomaten, Liebhabern, Günstlingen und Unterröcken, Russen in Paris, Engländer in Paris, Österreicher in Petersburg, Franzosen in Wien. Behalten Sie vor allem die »Engländer in Paris« im Gedächtnis. Einziges Gesprächsthema, sogar im Bett, war der kleine spitznasige König in Sanssouci. (Ich möchte noch mal eine Komödie »Die Eroberung Amerikas« schreiben, die nur in Boudoirs spielt.) Friedrich der Große hatte, wie Sie sich erinnern werden, die beiden Schlesischen Kriege gewonnen und damit seinen legitimen Anspruch auf die einst österreichische Provinz durchgesetzt, ein Faktum,

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das Maria Theresia um keinen Preis hinzunehmen gedachte. Sie rüstete fieberhaft, und als der preußische König die Versicherung verlangte, daß die Kriegsvorbereitungen nicht gegen ihn gerichtet seien (vollkommen albernes Verlangen natürlich), da machte die Kaiserin etwas, wofür wir ihr an dieser Stelle ein paar Sekunden staunenden Gedenkens widmen wollen: Sie log nicht. Stellen Sie sich das vor! Eine Regierung, die nicht lügt! Begreifen Sie's, wenn Sie können. Friedrich der Große las die Antwort und beschloß, Österreich zuvorzukommen. Er wußte, daß die Pompadour und Elisabeth ihn aus dem Bauch und noch tieferen Regionen haßten, ihn ganz persönlich, weil sein Mundwerk einmal böse mit ihm durchgegangen war: das alte Leiden der Hohenzollern. Aber daß Ludwig XV., traditionell Erzfeind Österreichs und Friedrichs Verbündeter in den Schlesischen Kriegen, losschlagen würde, konnte er nicht glauben. Jedoch: Er schlug. (»Engländer in Versailles«! Sie rieten dazu.) Und damit war der Dreifrontenkrieg da. Schöne Bescherung, wir kennen es. Doch siehe da, wenn die Not am größten, ist England, so es ihm paßt, am nächsten. Kaum hatte es Frankreich in den Krieg getrieben, warf es jetzt das Steuer um hundertachtzig Grad herum. William Pitt, zur Zeit mächtigster Mann in London, bot Friedrich eine fast unbegrenzte Hilfe an. Verstehen Sie mich recht: Geld, nicht etwa Soldaten. Er hatte, zwar auch Soldaten, aber während die Franzosen in Europa bluteten, schickte England seine Regimenter nach - - - an diesem Punkte durchschaute auch Friedrich n. endlich das Spiel und begriff, daß es gar nicht um Preußen oder Habsburg oder Schlesien ging, sondern um etwas viel Gigantischeres, um die Verteilung ganzer Kontinente. In sechstausend und in zwanzigtausend

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Kilometern Entfernung, in Nordamerika und in Indien, bereitete England einen Weltkrieg vor, den ersten wahren weltweiten Eroberungskrieg der modernen Geschichte. Es ging um Besitz, der hundertmal so reich war wie Europa, um Land, das zehntausendmal so groß war wie Schlesien, es ging um ein ganz großes Spiel. Weder Wien noch Potsdam noch Petersburg waren drin in diesem Spiel. Es war ein Waffengang, den nur die beiden Stärksten unter sich ausmachen konnten, und die Stärksten waren Frankreich und England. Eine Sternstunde. Sie müssen nicht an die Toten, an Leid und Elend denken; das ist laienhaft, habe ich mir sagen lassen. Denken Sie größer! Stellen Sie sich vor, Sie seien Staatsmann, Sie stünden am Grünen Tisch und schauten auf die Weltkarte. Sie dürfen natürlich nicht durch die Landkarte hindurchschauen, weil Sie da schreckliche Dinge erblicken könnten. Nein, einfach daran denken, daß Ihr Land die halbe Welt besitzen könnte und Ihr Volk damit für lange Zeit gesichert und sorglos und reich und glücklich werden würde. So dachte Pitt. Dazu war nötig, daß Friedrich der Große siegte; aber nicht zu viel und nicht zu schnell. Im Mai 1758, gerade als in Paris die Hiobsbotschaft eintraf, daß der Herzog von Braunschweig, Friedrichs General im Westen die Franzosen zurückgeworfen hatte und schon jenseits des Rheins stand, landeten neununddreißig englische Linienschiffe und Fregatten mit zehntausend frischen Soldaten an der französischen Küste Canadas in Halifax. Die Zehntausend setzten sich sofort nach Norden in Marsch, in Richtung der Schlüsselfeste Louisbourg, stürmten sie, nahmen die gesamte Besatzung von über fünftausend Franzosen gefangen und schickten sie sozusagen postwendend mit den Schiffen nach England. Gleichzeitig mobilisierte Virginia, tausend Kilometer

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südlicher, seine Miliz; sie überquerte die Allegheny-Berge und stieß gegen Fort Duquesne vor, Frankreichs wichtigsten Stützpunkt im Rücken von New York und Philadelphia. Das hatte eine reguläre Truppe unter einem General vor einigen Jahren schon einmal versucht und schlimm büßen müssen. Diesmal aber lief alles wunderbar. Nach schweren Kämpfen mußte sich das Fort ergeben. Es ist die heutige Zweimillionenstadt Pittsburg. Der Mann, dem der Gouverneur die Bürgerregimenter anvertraut hatte, der Mann, der siegte, war ein sechsundzwanzigjähriger ehemaliger Landmesser und Bodenspekulant mit Namen George Washington. Er hatte die Devise mitbekommen: »kill and destroy«, und er hielt sich daran. Damit, meine Damen und Herren, betritt Amerikas Legendär-Gestalt, der Vater des Vaterlandes, die Bühne. Betrachten Sie ihn: Er ist noch sehr jung, in seinem Gesicht fällt hier noch nichts weiter auf als eine lange hängende fleischige Nase, eine kurze Oberlippe und ein vorgeschobenes Kinn. Auch über den Augen deuten sich schon die hängenden Lider an. Er trägt das Haar in einem kleinen Zopf gedreht, der Hals ist mit der modischen Binde umwickelt, die in ein kleines Jabot ausläuft. Der Waffenrock zeigt auf den Schultern die Kommandeurs-Epauletten mit Raupen. So hat ihn Peale gezeichnet. Der Gesichtsausdruck ist unbeschwert und etwas zynisch. Zwanzig Jahre später malte ihn C. Stuart. Washington hat dann den Waffenrock abgelegt, er trägt einen hochseriösen, altväterlichen schwarzen Rock und auf dem Kopf die zopflose lockige Perücke in Weiß. Der Mund ist der, den die amerikanischen Bankiers heute haben, die Lider sind noch hängender; die Augen blicken kalt, das Gesicht ist immer noch rosig. Wenn Sie ihn deutlich vor sich sehen, kann er von der

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Bühne wieder abtreten. In der Tat, da das Finale des (ebenfalls siebenjährigen) amerikanischen Krieges sich im Norden abspielte, konnte General Washington nach Hause gehen, was er auch tat. Er wusch sich die Hände, hängte den Sinnspruch »kill and destroy« ab und den alten wieder auf: »Eine feste Burg ist unser Gott«, denn er war ein frommer Mann. Die Entscheidung konnte nur in Canada fallen, das noch fest in französischer Hand war. Das Land wehrte sich verzweifelt. Nach dem Verlust der fünftausend Mann in Louisbourg besaß es noch dreitau-sendzweihundert Soldaten. Montcalm, übrigens einer der bedeutendsten französischen Generäle, rief den Landsturm auf. Siebentausend kamen. Also zehntausend Mann für die ganze Länge der Front. Fünfzigtausend hatten die Engländer. Es wurde ernst. Zuerst fiel Fön Niagara (fünfhundert Soldaten verloren), dann ergab sich die Festung Ticonderoga (tausend Soldaten verloren). Der Lorenzstrom, im Vergleich zu den Waldwegen die reinste Autobahn, war nun frei bis Quebec. Die Engländer segelten mit fünftausend Mann heran. Montcalm hätte kapitulieren können, dann wäre er im heutigen Sinne ein vernünftiger Mann gewesen. Aber er war im heutigen Sinne ein Idiot, er nahm den Kampf an. Ebensolche Idioten waren die Bürger Quebecs; Tausende griffen zu den Waffen und waren bereit zu sterben. Wofür? Es bestand die geringe Chance, die ganz geringe Chance, durch einen Sieg den ganzen Krieg zu gewinnen. Na ja, so kann man sagen. Es verschiebt aber nur die Frage nach dem Sinn. »Den Krieg gewinnen« - für wen, warum? Was spielte sich in den Köpfen dieser altmodischen Menschen ab? Das Leben, hat Schiller geschrieben, ist der Güter höchstes nicht. Na, na!

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Sondern? Man hat uns vor nicht langer Zeit einmal gesagt: Wenn wir den Krieg verlieren, lohnt es sich nicht mehr zu leben. Wir Überlebenden müssen es doch nun wissen: lohnt es sich? Ich frage Sie: Lohnt es sich? Wieviel Koteletts mit Bratkartoffeln haben wir seitdem gegessen, wieviele Weinchen getrunken, wieviele Filme gesehen, wie oft geliebt? Lohnt es sich, ich frage Sie? Dieser Schiller mit seinen Sentenzen! Die Franzosen verloren die Schlacht um Quebec; die meisten fielen, auch Montcalm. Wieviel hätte er noch erleben können, wieviel Entrecotes verputzen! Wieviel Borscht und Sonnenblumenkerne hätten die Verteidiger von Leningrad noch essen können. Aber auch sie sagten: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld.« Inzwischen waren die Engländer nicht in Quebec stehengeblieben. Das nächste Ziel, Stadt und Festung Montreal, lag nur dreihundert Kilometer stromaufwärts, ein Katzensprung. Auch Montreal fiel. Der Krieg war nicht beendet, aber entschieden. Die überlebenden französischen Soldaten (es gab noch einige) kehrten nach Europa zurück. Canada war englisch. Wir stehen im Jahre 1760. Friedrich der Große hat die Schlacht von Kunersdorf verloren, die Russen besetzen Berlin. Wären Englands Pläne in diesem Moment erfüllt gewesen, so würde der Alte Fritz den Siebenjährigen Krieg verloren haben. Es wäre kein Bismarck und kein Reich gekommen, die Geschichte Europas hätte einen anderen Weg genommen, welchen, das weiß der liebe Gott.* Pitts Ziele jedoch waren mit der Eroberung Canadas noch nicht erreicht. Es schien ihm ein Aufwaschen, gleich im Süden weiterzumachen. England erklärte Spanien den Krieg. Die Briten segelten jetzt einfach (»rule the

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waves«) in Richtung Florida, ließen es jedoch überraschend liegen und wandten sich den Antillen-Inseln zu. Sie eroberten Martinique und Cubas Hauptstadt Havanna. Sie liegt bekanntlich Florida direkt gegenüber. Spanien bekam es mit der Angst. Es wollte wenigstens eines von beiden retten und bot zum Tausch gegen Cuba Florida an. Sehen Sie, so einfach geht das. Jetzt sind wir im Jahre 1762. Englands Ziele waren erreicht, es stellte mit gleichem Datum die Hilfszahlungen an Preußen ein. Der Preußenkönig war ihm wurscht. Da der Alte Fritz Gehirn hatte, wußte er das frühzeitig und brachte es fertig, den Wettlauf mit dem Termin zu gewinnen. Zarin Elisabeth war gestorben, Rußland schloß kriegsmüde Frieden, Friedrich gewann die letzte Schlacht, Maria Theresia schloß Frieden, Madame Pompadour schloß Frieden, alle Welt schloß Frieden, denn England genehmigte ihn jetzt. Im »Frieden von Paris« 1763 verlor Spanien an England Florida, Frankreich an England Canada, Louisiana und alle indischen Besitzungen. Das britische Imperium war da! Es stand auf festen Säulen, und die festeste, so glaubte London, die treueste, die hilfreichste war Amerika. Es gab ein böses Erwachen.

*Eben höre ich, wie er mir antwortet: »Den von 1945.«

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IV

In den Jahren des siebenjährigen amerikanischen Krieges Englands gegen Frankreich spielt Coopers berühmtes Buch »Lederstrumpf«. Kinder lesen es heute, geschrieben ist es für Erwachsene. »Indianer« war damals kein romantisches Thema, es war das Wort für »Kriegsbericht«. Auch in England las man auf der ersten Seite der Zeitungen fast täglich das Wort »Indianer«. Man verschlang die Nachrichten aus Amerika, aber es streikte die Phantasie. Coopers Idee, einen romanhaften Erlebnisbericht nachzuliefern, war also reines Mannah. Endlich konnte man sich den Urwald vorstellen; sah man das Leben in den einsamen Forts, hörte man das Kriegsgeschrei der Wilden, sah ihre gräßlich bemalten Gesichter, die sausenden Tomahawks, die blutigen Skalpe an ihrem Gürtel. Man sah die katzenhaften Gestalten anschleichen, Kühnheit oder Mord (je nachdem, ob es Irokesen oder Huronen waren), und man fühlte das Grauen der dunklen Nächte am glimmenden Lagerfeuer. Tatsächlich enthält der »Lederstrumpf« viele wirklich schöne Beschreibungen. Es gibt einige, die auch ich nicht vergessen habe, Schilderungen von Flußfahrten, von Waldseen und Schlittenpartien an einem Wintermorgen. Durch den »Lederstrumpf« war nun auch die letzte Miss im schottischen Hochland im Bilde, und alle Droschkenkutscher in Limerick wußten, daß eine Bärentatze noch besser schmeckte als eine Rehkeule. Was sie so ganz nebenbei auch noch erfuhren, war, daß die Franzosen einen dubiosen Charakter hatten; daß sie Verrat

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an allen Ecken und Enden übten; daß sie - mit einem Wort - keine Gentlemen waren wie die Engländer. Und ihre Verbündeten, die Huronen, waren überhaupt das Allerletzte, feige, hinterhältig, wortbrüchig, blutdürstig und grausam. Wie Giftschlangen pflegten sie von den Bäumen der Flußufer auf harmlose englische Boote zu fallen, sie steckten Blockhütten in Brand, in die sich englische Ladies geflüchtet hatten, sie raubten die beiden süßen Mädchen Cora und Corinne, die weiter nichts gewollt hatten, als in einem Fort ihren Pappi zu besuchen, lauter Dinge, die zum Himmel schrien. Aber England hatte die Welt davon befreit. Das Buch erschien erst lange nach den Ereignissen, aber die ältesten Kriegsveteranen bekamen es noch zu lesen und waren ziemlich erstaunt: Sie hatten die Franzosen ganz anders in Erinnerung. Auch die Erfahrungen mit den Indianern waren sehr verschieden von denen des Konsuls Dr. Fennimore Cooper. Sie erinnerten sich der Huronen (es gab nur noch wenige) als tapfer und aufrichtig, wenn auch oft grausam, der Irokesen dagegen als hinterhältig und verräterisch. Wenn man ehrlich war, mußte man gestehen, daß Cooper log, was ja eigentlich ganz unenglisch ist.

*

Nun, nach dem Kriege, im Frühjahr 1763, lag wirklich eine sonntägliche friedliche Atmosphäre über Amerika, und alle Siedler, Soldaten, Städter, Waldläufer hätten gesagt, daß die Indianer ganz umgängliche Leute geworden seien. Und ausgerechnet jetzt irrten sie sich, denn inzwischen hatten die Indianer ein bißchen nachgedacht. Sie verstanden vieles nicht beim weißen Mann; was sie aber vor allem anderen nicht verstanden, das war seine

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Habsucht, seine Unersättlichkeit. Sie sahen, daß die Engländer mit Mühe die Küste besiedeln konnten, daß ihnen »hands« fehlten, Material fehlte, Lebensmittel fehlten, und daß sie dennoch immer tiefer ins Land vorstießen, rodend, brennend, holzend, jagend, ausrottend, wie von einem bösen Dämon getrieben. Den Trappern folgten die Ranchers, den Ranchers die Tramps (Gesindel, das man in die Wildnis statt in Gefängnisse schickte), den Tramps die Soldaten. Wo sollte das hinführen? Wo würde das enden? Von Osten kamen sie, von Norden, von Süden, sie kamen stets mit Feuerwaffen, stets drohten sie, stets logen sie; wenn es nicht eilte, kamen sie mit Schnaps. Es waren die Häuptlinge, die an die Zukunft dachten; die, obwohl sie von den Möglichkeiten der Weißen wenig wußten, klar sahen; Häuptlinge, die zu erkennen imstande waren, was zu verkraften und was nicht mehr zu verkraften war. Sie konnten sehr wohl unterscheiden, was die Substanz anfraß und das Wesen des roten Volkes zerstörte. Sie ahnten, daß dies tödlicher sein würde als hundert verlorene Kämpfe. Wir dürfen diese roten Männer getrost bewundern. Der erste in der Geschichte des Verzweiflungskampfes der Indianer war Pontiac, Häuptling der Ottawa-Indianer.* Er war damals dreiundvierzig oder vierundvierzig Jahre alt; wie er aussah, wissen wir nicht. Wahrscheinlich war er auch äußerlich eine imponierende Gestalt. Alte Bilder zeigen die Prärie-Indianer, seit langem schon zu Pferde, in Lederkleidung, mit Fransen oder Skalpen besetzt, mit Federn im Haarknoten, während die gezähmten Waldindianer in der Nähe der britischen Siedlungen sehr viel Ähnlichkeit mit den heutigen »Hippies« hatten.

*Ich weiß nicht, ob die Automarke nach ihm benannt ist: es würde passen wie die Faust aufs Auge.

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Pontiac mochte die Engländer nicht. Im soeben beendeten britisch-französischen Kriege hatte er gegen sie gekämpft. Sie erinnerten sich noch mit Schrecken an seinen Vormarsch gegen New York. Die Reden, die er jetzt schwang, waren beunruhigend. Sie kamen sehr bald zu den langen Ohren der Briten, die daraufhin beschlossen, sich mit ihm »ins Benehmen« zu setzen. Zu diesem Zweck schickten sie einen Mann zu ihm, den ungeeignetsten, der sich denken ließ; er hatte unter den Rothäuten einen großen Ruf, allerdings keinen sehr feinen. Es war ein gewisser Major Rogers, der sich rühmen konnte, schon einen ganzen Indianerstamm ausgerottet zu haben. Die beiden trafen sich in Detroit, das zu dieser Zeit schon ein kleines Städtchen war, befestigt und von Fort Pontchartrain geschützt. Rogers machte dem Häuptling einiges klar, er nannte ihm die Zahl der englischen Truppen, die Zahl der Gewehre, die Zahl der Kanönchen, die Zahl der Forts und die Zahl der Schiffe, die England schicken konnte. Pontiac fragte, ob es wahr sei, daß die Franzosen fortgegangen seien. Rogers nickte. Pontiac hätte ihm liebend gern das Messer in die Brust gerannt, und Rogers hätte den Roten gern abgeknallt. Beide taten es nicht: der eine, weil seine Mission lautete, Frieden zu stiften, der andere, weil er hoffte, den Herrn Major später zu erwischen. (Er irrte sich.) Sie trennten sich mit Pontiacs Versprechen, sich bei den Stämmen für Frieden einzusetzen, und mit Rogers Versicherung, daß die Briten nur die allerbesten Gefühle für die Rothäute hätten. Selbstverständlich logen beide. Als der große Aufstand der Rothäute begann, war Pontiac erwiesenermaßen der Organisator und Stratege. Er wollte die Weißen nicht ins Meer zurückwerfen, er war kein Phantast. Er wollte sie über die Alleghenies

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treiben; das Gebirge sollte für alle Zeiten die Grenze bleiben; Pontiac vollbrachte eine enorme Leistung. Alle Stämme des riesigen Hinterlandes standen auf - furchterregende Scharen. Es sah böse aus.* In wenigen Sommermonaten des Jahres 1763 fielen von der Seenplatte im Norden bis Carolina im Süden neun Forts in die Hände der Roten, Hunderte von Lagern, Siedlungen und befestigten Plätzen. Alles floh. Als der Herbst kam, gab es westlich der Alleghenies nur noch zwei Punkte auf der Landkarte, die englisch waren: Fort Pitt (Pittsburg) und Detroit. Und an diesen beiden Punkten entschied sich das Schicksal des ersten großen Indianeraufstandes. Fort Pitt wurde von einem in Eilmärschen herangeführten Regiment entsetzt, und der Handstreich auf Detroit mißlang - eine Indianerin hatte ihn verraten! Pontiac erkannte das Menetekel und bat um Frieden. Die Engländer, die immer den Hut vor einem großen Gegner ziehen, gewährten ihn. Anschließend ließen sie Pontiac durch einen gedungenen Mörder umbringen.

*

Machen wir Kassensturz. England hatte gesiegt und hundertvierzig Millionen Pfund Staatsschulden. An Steuern brachten alle Bürger der britischen Insel drei Millionen Pfund auf. In siebenundvierzig Jahren würde der Staat den Schuldenramsch hinter sich haben. Sie kennen doch den Begriff »Staatsschulden«?

*Es ist doch hoffentlich in Ihrem Sinne, wenn ich es aus der Sicht der Engländer und nicht der Wilden sehe. General Amherst schlug vor, Wolldecken mit Pocken-Erregern zu verseuchen und an die Indianer zu verschenken.

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Natürlich kennen Sie ihn, Sie leben ja mittendrin. Der Staat nimmt in finanzieller Bedrängnis bei seinen Bürgern Kredite auf. »Kredite« klingt vornehm und seriös; von Mann zu Mann würde man es »anpumpen« nennen. Solche Pump-Versuche des Staates, oft mit vagem Rückzahlungstermin, gelingen natürlich nur, wenn, wie der Brockhaus es ausdrückt, das Volk »die objektbezogenen Gesichtspunkte einsieht, d.h. in Hinblick auf bestimmte Eigenschaften der zu finanzierenden Vorhaben, zum Beispiel ihrer Rentabilität.« Dies ist der Punkt, den ich herausarbeiten wollte, oder, wie unsere wortgewandten Volkstribunen sagen würden: Mit der Transparentmachung dieses Problems, das im Raum steht, habe ich Prioritäten gesetzt, um das Folgende voll und ganz in den Griff zu bekommen. »Das Folgende« war für die britische Regierung eine höchst heikle Geschichte: Amerika sollte sich nun rentieren! Indien bot da keine Schwierigkeiten; in Indien wohnten Inder, man plünderte sie einfach aus. Wer aber, den man ausplündern konnte, wohnte in Amerika? London, das die Siedlungen in Amerika offiziell als Militärkolonien betrachtete, beschloß, dort Steuern einzuführen; nichts Aufregendes, zunächst nur eine Stempelsteuer, wie sie sie auch in England gab. Der Effekt war der einer Bombe. England fiel aus allen Wolken. Es waren doch Penny-Beträge, um die es ging, Groschenbeträge für den einzelnen! Aber es ging eben nicht um die Groschen, es ging den Kolonisten um das Prinzip. Sie waren empört. Sie waren der Meinung, das Londoner Parlament habe nicht das geringste Recht, in ihre vom König verbriefte Selbstverwaltung einzugreifen. Sie riefen London ins Gedächtnis, daß sie keine vom englischen Militär eroberte Kolonie seien wie Canada oder Florida. Die britischen Soldaten hätten sie lediglich beschützt. Statt ihrer hätte

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man sich auch ein Amulett umhängen können. Sie riefen London auch ins Gedächtnis, daß das Parlament nur über counties beschließen könne, die durch Abgeordnete vertreten seien. Amerika war nie vertreten. Sie riefen London in Erinnerung, daß die amerikanischen counties eigene Parlamente hätten, an die eigentlich sogar der englische König gebunden sei. (In England fiel man fast in Ohnmacht). Denn, so erinnerten sie London, seit der Revolution von 1688 stelle die britische Verfassung den König unter das Parlament, also auch unter ihres. Saftige Argumente, finden Sie nicht auch? Es ist klar, daß nicht der Mann auf der Straße sie gefunden hatte. Und wenn wir ein bißchen suchen, entdecken wir auch sofort einige merkwürdige Gestalten, die sich der Situation bemächtigten: Vertreter jenes Berufes, der heute zur höchsten Blüte gelangt ist, die Demagogen. Der führende Kopf hieß Samuel Adams. Er war, wie fast alle Demagogen, Sprößling aus reichem Hause und wandte sich, wie alle Demagogen, sofort mit sicherem Instinkt an das beste Sprungbrett, das Demagogen haben, an die Habenichtse, die nichts besaßen außer viel Zeit. Man kann sich an sie wenden, das darf man, wenn die Sache sie angeht. Doch diese Leute hatten noch nie einen Stempel gebraucht und wußten gar nicht, wie so was aussah. Adams hielt flammende Reden (reden können sie alle), streute auch etwas von dem Geld aus, das sein Vater mit seinen Schiffen verdient hatte, und schuf sich unter den Arbeitsscheuen, die die Städte nicht mehr wie früher loswerden konnten, und dem Hafenproletariat eine Truppe, die sich den tönenden Namen »Söhne der Freiheit« gab. Der Name verrät, daß Adams eine Morgenluft witterte, die gar nichts mehr mit der albernen Steuer zu tun hatte. Die »Freiheitssöhne« bedrohten und nötigten alle Bürger, die für

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Verständigung mit England waren. Sie drangen nachts in die Wohnungen, sie teerten und federten, sie schlugen die Steuereinnehmer und demolierten die Lager der Kaufleute. Selbstverständlich taten das die Freiheitssöhne vermummt. Auch Jugendliche, die mal zu Hause Indianer spielen wollten, machten begeistert mit. Adams siegte. Die Steuerbeamten schlössen ihre Büros und die Kaufleute kamen unter dem Druck der Straße überein, keine englischen Waren mehr einzuführen. Es war ein Schlag, der England hart traf, und es dauerte nicht lange, da hob es die Steuerverfügung auf. Adams war ein Held. War er nicht wirklich einer? Man kann ihn nämlich auch anders sehen, als ich es getan habe in meiner Abneigung gegen alle Demagogen und heimlichen Gewalttäter. Wahr ist, daß er ein anderes Instrument als die Habenichtse gar nicht gehabt hätte. Die Arbeiter waren uninteressiert, die Bürger satt, die Stadtväter ängstlich. Wahr ist auch, daß er selbst aus dem Aufruhr nichts erntete. Wahr ist, daß ihm als einem der ersten ein »Staat« Amerika vorschwebte. Zumindest behauptete er es später. War er ein Idealist? Ich kann es nicht glauben. Er hat genug geredet, um den wahren Samuel Adams erkennen zu lassen. Er hat jede Übertragung von Machtbefugnissen an irgend jemand (der nicht mit ihm identisch war) abgelehnt. Er war skrupellos und neurasthenisch. Das sind die Zutaten, aus denen Unholde gemacht werden.* Es gibt aber auch eine andere Type von Unholden. Old England war damals voll von ihnen. Es war der unerträglich dünkelhafte, weltfremde, in manchen Exemplaren geradezu verblödete Adel. Bernard Shaw hat den jungen Napoleon

*Wenn Sie unbedingt etwas Bewunderung loswerden wollen, so empfehle ich Ihnen James Otis, den Theoretiker der damaligen Freiheitsbewegung. Näheres in allen modernen Enzyklopädien.

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über so einen vernagelten Aristokraten einmal sagen lassen: Es hat keinen Zweck, man kann ihn nur vor eine Kanone binden und in die Luft schießen. Wahr! Man kann durch sie ebenso wie durch ihre Antipoden zur Weißglut gebracht werden. Aber schließlich: durch welchen Vernagelten nicht. Zwei Jahre nach dem Versuch mit der Stempelsteuer unternahm ein neuer englischer Schatzkanzler, Lord natürlich, einen zweiten Vorstoß. Er belegte die amerikanischen Kolonien mit einer Importsteuer für Tee, Papier, Glas und Farben. Die Empörung über die Stempelsteuer war ein milder Wind gewesen im Vergleich zu dem Sturm, der sich nun erhob. In Boston legte Adams wieder los, in New York führte John Scott die Radikalen an, im Süden Christopher Gadsden. Man verprügelte die Konservativen, teerte, demolierte, legte Feuer, trug über Nacht ganze Lagerhäuser ab. Natürlich zahlte man nicht nur keine Steuer, man bezahlte englische Waren überhaupt nicht mehr. Noch vor wenigen Jahren hatte England anderthalb Millionen Pfund durch Exporte nach Amerika eingenommen. Jetzt schuldeten die Kaufleute von Virginia allein schon über zwei Millionen, die sie nicht zu bezahlen gedachten. Kein Zweifel, Amerika entglitt der Londoner Regierung. Auch der Sklavenimport stockte. Das waren noch Zeiten gewesen, als die Herren der Welt Amerika jährlich fünfzehn-tausend Neger verkaufen konnten! Den Lords zitterten die Knie. Auch den Besonneneren in Amerika zitterten sie. Wenn man sich in diese hochabsolutistische Zeit zurückversetzt, ahnt man, wie groß der Schrecken vor einer offenen Empörung gegen die Krone gewesen sein muß. Und eben deshalb glaube ich auch nicht an die bona fide der Aufpeitscher. Sich weigern oder mordbrennen sind zwei sehr

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verschiedene Dinge. Importe boykottieren und Gläubiger verlachen sind zwei sehr verschiedene Dinge. Überzeugen und Terrorisieren sind zwei sehr verschiedene Dinge. Wenn Adams und Genossen die Wahl gehabt hätten, auch mit Überzeugen zum Ziel zu kommen, sie würden ganz sicher die Gewalt gewählt haben. Sie wollten die Menschen radikalisieren. Was waren sie? Beantworten Sie sich die Frage selbst. An einem Märztag 1770 passierte in Boston folgendes: Einige Rowdies griffen den englischen Wachtposten vor dem Zollhaus an. Der Soldat zog den Säbel und verletzte einen der Angreifer am Arm. Als habe man auf dieses Signal gewartet, rottete sich im Handumdrehen eine tobende Menge zusammen und schleuderte einen Hagel von Steinen auf den Posten. Der Mann schrie um Hilfe, Soldaten rannten herbei und bildeten eine Kette vor dem Zollhaus. Die Masse — inzwischen war es eine geworden — sah rot und griff einen Soldaten an, der fiel zu Boden, es löste sich ein Schuß aus seinem Gewehr (andere Version: er schoß absichtlich), die Masse geriet außer sich und ging auf die Soldaten los. Die legten die Gewehre an und feuerten. Fünf Angreifer wurden getötet (darunter auch ein Neger!). Die Soldaten wurden vom eigenen Kommandeur zur Rechenschaft gezogen. Kennen Sie die Musik? Vertraute Melodie, nicht wahr? Die Zeitungen - Boston besaß schon seit 1704 eine - heulten vor Freude über diesen Knüller auf, und die Druckereien schütteten Tausende von Flugblättern aus. Es existieren noch einige davon. Das verbreitetste brachte auch eine Zeichnung, die den großen Platz zeigt, auf dem aber nun nicht mehr Kutschen fahren, Stubenmädchen einkaufen und Gemüsehändler am Rinnstein sitzen, sondern vor einem Haus mit dem Schild »Butchers Hall« (Butcher heißt Fleischer, es kann aber auch Mörder bedeuten) steht eine

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Kette von Soldaten und schießt unter furchterregendem Pulverdampf in die sittsam und ruhig verharrende Menge. Ein Silberschmied war der Künstler. Das Blatt trägt die Überschrift »Das blutige Massaker von Boston«, ein Schlagwort, das bald in den entlegendsten Waldsiedlungen ankam und in die Geschichtsschreibung eingegangen ist. Ich weiß nicht, ob die Jugend in Amerika heute noch etwas bei dem Wort »Massacre of Boston« empfindet. Damals, und noch bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein genügte die Erwähnung, um die Volkswut gegen England zum Sieden zu bringen. Aber die Zeit heilt, nicht wahr? Die britische Garnison war mit einem Schlage in einer heiklen Lage. Sie wagte kaum noch, sich zu rühren. In dem heißen Topf rührte auch nicht sie, sondern abermals die Regierung in London. Wieder ein Anlaß, so banal wie nur denkbar. Es ging noch einmal um Tee. »Tee« klingt nobel und für die Angelsachsen lebenswichtig, aber schließlich ist es nur ein Gesöff, ohne das man nicht gleich stirbt, auch wenn die Engländer das fürchten. Seit der Einführung der Teesteuer hatte sich ein blühender Schmuggel mit Tee entwickelt. König der Schmuggler war - wie könnte es anders sein - ein »Radikaler«, ein »Freiheitssohn«. Der Herr hieß John Hancock und war - wie könnte es ebenfalls anders sein - Sprößling eines Reeders und Erbe von rund vierhunderttausend Goldtalern. Diesem Mann wollte England das Handwerk legen. Dafür hatte es diesmal etwas ganz Listiges ausgeheckt. Es beschloß, den Tee unter Umgehung der Umschlagplätze direkt an den Einzelhandel zu liefern und so zu verbilligen, daß er unter den Schwarzhandelspreis sank. Man hat nie erfahren, ob er sank. Denn als die ersten Tee-Schiffe landeten, erlitten sie alle möglichen Schicksale, nur leider nicht das ihnen zugedachte. Die »Söhne der Freiheit« traten wieder auf den Plan! Zunächst wurden die Hafenarbeiter unter Druck

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gesetzt: Die Fracht blieb ungelöscht. In Charleston verrottete sie, ehe man das Schiff umkehren ließ. In New York und Philadelphia dagegen schickte man die Schiffe sofort nach Hause. Für Boston hatten sich Adams und Hancock etwas Originelles einfallen lassen. »Söhne der Freiheit«, als Indianer verkleidet und bemalt, enterten drei Schiffe und warfen dreihundert Kisten Tee ins Meer, London war nicht nur empört, es war zutiefst verletzt. Suchten die Kolonien denn wirklich die offene Auseinandersetzung? Man kann verstehen, daß eine Nation, die so sensibel in punkto Recht und Unrecht ist, enttäuscht, sehr enttäuscht war über die zurückgestoßene Hand. Das Londoner Parlament beschloß, jetzt nicht mehr mit der sanften Kunst des Jiu-Jitsu zu antworten, sondern mit einem Faustschlag. Am 1. Juni 1774 legten sich englische Kriegsschiffe vor den Hafen von Boston und sperrten ihn. Boston lebte vom Meer; die Stadtväter waren nun doch erschrocken und sahen schwarz. Arbeitslosigkeit drohte, Hunger drohte, Bankrotts drohten. Die Briten auf ihren Fregatten lehnten an der Reling, tranken Tee und sahen gelassen zu. Eigentlich müßten sie dort immer noch stehen und Tee trinken, denn Boston kapitulierte nie. Das gesamte Land sprang für die Stadt ein und ernährte sie! Zum erstenmal trat eine Solidarität aller amerikanischen counties zutage! England war gezwungen, den nächsten Schritt zu tun. Es legte vier Regimenter in den Unruheherd Boston. Der Kommandierende General hatte Anweisung, Privathäuser als Quartiere zu beschlagnahmen und Lager zu errichten, wo es ihm paßte. Das »Parlament« von Massachusetts wurde aufgelöst - es etablierte sich unter dem Namen »Provinzialkongreß« sofort neu und berief zu seinem Präsidenten das Rote Tuch für England, John Hancock, den Schmugglerkönig.

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Hancock, zunächst machtlos gegen die britische Einquartierung, verlegte die Arbeit in den Untergrund. Überall wurden »Sicherheitskomitees« ins Leben gerufen, Waffenverstecke angelegt, ein Minutenplan für die Stunde X ausgearbeitet. Die Männer nannten sich sogar Minute-Men. Das Gewehr lag griffbereit. Es gab noch eine andere Tretmine, die England gelegt hatte. Es hatte aufgrund des Pariser Friedens die Grenze zwischen »seinem« Canada und den Küstenkolonien weit nach Süden und Osten verlegt, so weit, daß die Alleghenies dicht im Rücken der Städte jetzt die Grenze bildeten. Das klingt harmlos, aber es bedeutete, daß die vielen Siedler, die schon jenseits des Gebirgszuges auf Farmen und kleinen Dörfern lebten, plötzlich unter englischer Verwaltung standen. Es bedeutete auch, daß ohne die Erlaubnis Londons kein »Amerikaner« mehr die Alleghenies überschreiten und sich häuslich niederlassen konnte. Die britische Regierung hatte sich dabei ausnahmsweise etwas sehr Ehrenwertes gedacht: Sie wollte die Indianer vor Überflutung schützen; die Kolonien sollten sich mit dem Küstenstreifen (immerhin etliche hundert Kilometer tief) begnügen. Aber das war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr möglich. Es gab bereits weiße Familien, denen Ländereien von der Größe Preußens gehörten. In North Carolina residierte ein Mann, der - für ein Butterbrot - von den Cherokesen das gesamte Stammesgebiet, das heutige Kentucky, aufgekauft hatte. Thomas Jefferson, Rechtsanwalt in Virginia und späterer dritter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, galt nur als »begütert«, er besaß siebeneinhalb Millionen Quadratmeter. Ich fürchte, es kommt bald der Augenblick, wo Sie mich fragen werden, warum ich in diesem schier endlosen Kleinkram wühle, während ich frühere Jahrhunderte im Zeitraffer durcheilt habe. Ach, der liebe

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Kleinkram in der Weltgeschichte, aus dem so oft der Großkram entsteht! Sie werden es sofort begreifen, wenn ich Ihnen sage, was nun geschah. Im September jenes Jahres (1774) trafen sich die Repräsentanten aller Kolonien (außer Georgia) auf einem Kongreß in Philadelphia, dem ersten in der Geschichte Nordamerikas. Es kamen die vom hohen Norden, die aus dem Mittelosten, aus dem Süden, aus Florida, es kamen die Männer aus zwölf counties zusammen, Reeder aus Boston, Großgrundherren aus der Mitte, Sklaven-Haziendaeros aus dem Süden, Männer, die sich gegenseitig sonst nicht mit dem Hinterteil angesehen hätten, und dazwischen die führenden »Söhne der Freiheit«. Jener »schier endlose Kleinkram« war es, der im Begriff stand, sie zusammenzuschweißen. Seit Anbeginn der Welt, meine Freunde, sind noch niemals Nationen oder Reiche anders entstanden als durch Druck und Not. Noch niemals in der Geschichte haben etwa Verhandlungen, Geschwätz, »Bestrebungen« oder einfache Vernunft Gegensätze vergessen lassen, fremdes Blut vergessen lassen, fremde Art und fremde Ideologie. Es war immer der Krieg oder die Not oder die Angst, die die Menschen zwang, zusammenzuwachsen zu einer Einheit. Das Schicksal schmiedet nicht anders als wir: mit Feuer und gewaltigen Schlägen, und nicht mit frommen Wünschen. Wann werden die Menschen das je begreifen? Die Söhne der Freiheit haben damals behauptet, in ihrer Mitte sei die Einigung Amerikas geboren worden. Das ist nicht wahr. England hat die Vereinigten Staaten geschaffen: Sein Unverstand, sein Imperialismus, seine Drohungen waren es. Wer von Ihnen, meine Herren, wünscht schnell mal fix ein Vereintes Europa? Der Kongreß von Philadelphia erließ zwar zunächst nur, wie es sich für einen Kongreß gehört, eine Deklaration, er war aber mehr: er war ein Rütli-Schwur. Der Winter ging

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vorüber. Im Frühjahr 1775 mehrten sich die Anzeichen militärischer Vorbereitungen der »Amerikaner«. Der englische Kommandierende General in Boston entsandte ein Bataillon von achthundert Mann, um in Concord (sechzig oder siebzig Kilometer entfernt) das geheime Waffenlager auszuheben, über das so viel gemunkelt wurde. Die Operation war so geheim gehalten, daß die Stadt sie erst in der Nacht des Abmarsches bemerkte. Minute-Man Nr. 1 (es war der Silberschmied Paul Revere, der das Flugblatt vom »Massacre« gezeichnet und gedruckt hatte) warf sich aufs Pferd und jagte den Soldaten voraus, um Alarm zu schlagen. Auf halbem Wege schon stießen die Soldaten auf eine Schar bewaffneter Dörfler, die aber beim Anblick eines ganzen Bataillons sofort in den Hinterhalt zurückwichen. Und aus dem Hinterhalt fiel der erste Schuß. Der berühmte »erste Schuß«, der in der Geschichte so oft schon Kriege und Revolutionen ausgelöst hat. Ein Schuß ging am 18. März 1848 in Berlin los und gebar die Barrikadenkämpfe. Ein Schuß ging am 28. Juni 1914 in Sarajewo los und gebar den Weltkrieg. Der Schuß bei Concord gebar zunächst vor allem eine Heidenangst. Der englische Offizier, der das Bataillon befehligte, war jung und unerfahren und erlebte zum erstenmal einen Kampf ä la Indianer: Seine Männer fielen um, ohne daß man den Feind zu sehen bekam. Auf dem Rückmarsch wurden sie pausenlos beschossen. Sie ballerten aufs Geratewohl zurück, sei es auch nur, um sich in der Dunkelheit Mut zu machen. Ohne eine Patrone kehrten die Soldaten nach Boston zurück. Es waren noch fünfhundert. War der Krieg ausgebrochen? Verwirrt versuchte man sich klarzumachen, was eigentlich geschehen war. War es Auflehnung, war es Bürgerkrieg, Inselbriten gegen

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Amerika-Briten? Sah so der Anfang eines Krieges aus? In Philadelphia trat eiligst ein neuer Kongreß zusammen. Die Besonnenen hatten schlaflose Nächte verbracht, hundertmal alles durchdacht und gegeneinander abgewogen. Sie kamen nicht lange zu Wort, die Radikalen schrien sie nieder*, titulierten sich jetzt »Patrioten«, was bedeutete, daß alle Andersdenkenden keine waren, und erzwangen drei Beschlüsse, von denen einer immer ein saftigerer Hochverrat war als der andere: Die bewaffneten Aufständischen wurden zur »American Continental Army« ernannt, also zur eigenen Armee; die dreizehn Kolonien wurden aufgefordert, autonome Regierungen zu bilden; und schließlich krönte man den Hochverrat, indem man mit Frankreich Verhandlungen über ein Bündnis aufnahm. König George III. gab den Befehl, die Rebellion mit Waffengewalt niederzuschlagen. Es war so weit.

* Ich weiß nicht, ob schon einmal untersucht worden ist, wieweit diese Szenerie das Vorbild für die ja nur fünfzehn Jahre später sich in Paris abspielenden Konventtaktiken zwischen Girondisten und der Bergpartei war.

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V

Briten gegen Briten. Der König hielt es für unmöglich. Ganz England hielt es für unmöglich. Es ist merkwürdig, daß gerade Politiker, die doch sonst alles so leicht schlucken, sich das nicht vorstellen können. Briten gegen Briten, Deutsche gegen Deutsche, Söhne gegen Väter - glauben wir es immer noch nicht? Weil sie gemeinsamen Blutes sind? Gemeinsamen Staates, gemeinsamer Sprache, gemeinsamer Eltern? Es sind starke Bande, kein Zweifel, und um so stärker, je weniger im Gehirn ist. Ein Italiener in Amerika bleibt auch noch in seinem Enkelkind Italiener, und es weint, wenn es >O sole mio< hört. Aber Völker, die in Ideen leben, gerade starke Völker, die ihren Instinkten mißtrauen, die mehr Furcht vor Lachen und Weinen als vor dem Denken haben, Völker, die einen Arminius und Hagen von Tronje, einen König Arthur und Archibald Douglas haben, sind gefährdeter, sie fühlen ihr Blut nicht so stark. In ihren Adern fließen Wille und Ideen. Ihnen sind sie treu wie niemandem sonst - bis sie sie wechseln. Im Bruderkrieg schießen sie nicht auf Blut, sie schießen auf die andere Idee. Als 1775 der amerikanische Unabhängigkeitskrieg ausbrach, standen sich bereits nicht mehr Briten und Briten gegenüber, sondern Briten und Amerikaner. Auf der einen Seite Menschen eines absolutistischen Zeitalters mit einem geheiligten König, mit einer gottgegebenen Ordnung, mit einer alttestamentarischen

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Hierarchie, mit einer Entpersönlichung ohnegleichen, mit einer stummen Masse von Untertanen. Auf der anderen Seite lauter Einzelgänger und Individualisten, einst nach Amerika verschlagen ohne Ordnung, ohne Oberhaupt, ohne Staat, ohne Schutz, hart geworden, selbstbewußt und gewohnt, alles persönlich und direkt zu erledigen. Sie waren in einer Lage, die der frühen Schweiz ähnelte. Sie konnten noch auf dem Marktplatz zusammenkommen und mit Handheben abstimmen oder der »Regierung« ihre Meinung zurufen.* Sie wußten damals nicht, wie man das nennen könnte, aber wir wissen es: Es war die sagenumwobene Demokratie, die es heute auf der Welt nicht mehr gibt. Sie verachteten die Untertanen-Demut und konnten sich eine Rückkehr, eine Umkehr nicht vorstellen. Sie drohte ja auch in Wahrheit gar nicht, aber allein die Erinnerung an die Unfreiheit ließ die Zornesader schwellen. Es war ihr Land, ihr Leben, ihre Freiheit, die in Gefahr waren - zu den Waffen! Zu den Waffen! Erleichtert wurde ihr Gewissen, als sie sahen, daß die ersten Soldaten, die England herüberschickte, fast alle bloß dämliche Deutsche waren, jene armen Teufel, die von ihren skrupellosen Landesfürsten gegen »Subsidien«, gegen Judasgeld, vermietet worden waren. Erinnern Sie sich der Szene zwischen der Maitresse Lady Milford und dem Kammerdiener des deutschen Duodezfürsten in, Schillers »Kabale und Liebe«? Nein? Wenn Sie erlauben, holen wir es nach, denn mir ist es lieber, Sie hören die bösen Worte aus seinem, statt aus meinem Munde, Schiller war zur Zeit der Ereignisse siebzehn Jahre alt.

* Es gab überhaupt nur fünf Städte, die mehr als zwanzigtausend Einwohner hatten: Boston, Philadelphia, New York, Baltimore und Charleston.

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Kammerdiener: Seine Durchlaucht der Herzog empfehlen sich Mylady zu Gnaden und schicken Ihnen diese Brillanten zur Hochzeit, Sie kommen soeben erst aus Venedig.

Lady hat das Kästchen geöffnet und fährt erschrocken zurück:

Mensch! was bezahlt dein Herzog für diese Steine?

Kammerdiener mit finsterem Gesicht: Sie kosten ihn keinen Heller.

Lady: Was? Bist du rasend? Nichts? - Und du wirfst mir ja einen Blick zu, als wenn du mich durchbohren wolltest - nichts kosten ihn diese unermeßlich kostbaren Steine?

Kammerdiener: Gestern sind siebentausend Landskinder nach Amerika fort - die zahlen alles. Lady, nach einer Pause: Mann, was ist dir? Ich glaube, du weinst?

Kammerdiener, mit schrecklicher Stimme: Edelsteine, wie diese da - ich hab auch ein paar Söhne drunter.

Lady, seine Hand fassend: Doch keinen gezwungenen?

Kammerdiener lacht fürchterlich: O Gott! - nein - lauter Freiwillige! Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? - Aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradenplatz aufmarschieren und

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die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster spritzen, und die ganze Armee schrie: Juchhe! nach Amerika! -

Lady fallt mit Entsetzen in den Sofa: Gott! Gott! - Und ich hörte nichts? Und ich merkte nichts?

Kammerdiener: Ja, gnädige Frau - warum mußtet Ihr denn mit unserem Herrn gerad auf die Bärenhatz reiten, als man den Lärmen zum Aufbruch schlug? - Die Herrlichkeit hättet Ihr doch nicht versäumen sollen, wie uns die gellenden Trommeln verkündigten, es ist Zeit, und heulende Waisen dort einen lebendtgen Vater verfolgten, und hier eine wütende Mutter lief, ihr saugendes Kind an Bajonetten zu spießen, und wie man Bräutigam und Braut mit Säbelhieben auseinanderriß, und wir Graubarte verzweiflungsvoll dastanden und den Burschen auch zuletzt die Krücken noch nachwarfen in die neue Welt. - O, und mitunter das polternde Wirbelschlagen, damit der Allwissende uns nicht sollte beten hören -

Lady steht auf, heftig bewegt: Weg mit diesen Steinen - sie blitzen Höl-lenflarnmen in mein Herz, Mäßige dich, armer, alter Mann. Sie werden wiederkommen. Sie werden ihr Vaterland wiedersehen.

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Kammerdiener, warm und voll: Das weiß der Himmel! Das werden sie! -Noch am Stadttor drehten sie sich um und schrien: »Gott mit euch, Weib und Kinder! - Es leb unser Landesvater! -Am Jüngsten Gericht sind wir wieder da!« -

Das alles wußten die Amerikaner nicht. Wissen ist bekanntlich Macht, aber Nichtwissen erleichtert oft das Leben. Der zweite Teil des Satzes ist der berühmte »american way of life«. Das britische Korps* landete im Juni 1776. Es landete nicht wie erwartet in Boston, um die aufsässige Stadt zu bestrafen und wieder zu besetzen. (Sie hatte eben nach einem blutigen Scharmützel die Engländer hinausgejagt und bis nach Canada getrieben). Auch Philadelphia, der Treffpunkt der Kongresse, wäre als erstes Ziel denkbar gewesen. Die Briten landeten jedoch überraschend in Long Island und marschierten sofort auf New York los. Die Kolonien hatten in Eile Freiwillige zusammengekratzt und nach New York geworfen. Befehlshaber: George Washington. Da ist er nun wieder, einst Oberst, jetzt General, der Mann mit der Sieger-Aureole. Man hatte ihn ungern gerufen, und ungern war er gekommen. Ungern gerufen, weil sich die Freiwilligen, vor allem die Squatters (Hinterwäldler) mit einem »Kommandierenden« absolut nicht abfinden wollten. Aber wie immer in der Welt sahen sich die Autorität zu beugen oder ein Sauhaufen zu bleiben. Es hatte im

* Davon siebentausend Deutsche, vor allem Hessen. Später kamen noch zwanzigtausend hinzu! Sie wurden direkt nach Amerika verschifft, das Betreten Englands war ihnen verboten.

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Kongreß der ganzen Überredungskunst John Adams bedurft, um ihn zu berufen. Und ebenso ungern war Washington dem Ruf gefolgt. Siegte England, so würde er als Hochverräter gehenkt werden, 4as ist kein angenehmer Aspekt, war jedoch nicht der Grund. Der Grund war, daß er Revolutionäre haßte. Er , war ein altenglischer Tory. Er fühlte englisch (nämlich überhaupt nicht), dachte englisch (nämlich berechnend) und lebte englisch (nämlich innerlich und äußerlich wie ein Lord). Er war schon wohlhabend, als er mit siebenundzwanzig Jahren eine noch reichere Witwe heiratete; jetzt bewohnte er Mount Vernon, ein feudales Landschlößchen inmitten eines riesigen Besitzes, auf dem ein Heer von Arbeitern schuftete, darunter fünfzig Negersklaven, deren armseliges Dasein ihn, wie er sich einmal ausdrückte, durchaus bewegte. Wenn das der Fall war, hat man es ihm jedenfalls nicht angemerkt. Man hat ihm nie etwas angemerkt, er konnte sich beherrschen. Er war humorlos, total unmusisch, hochfahrend und verletzend. Die Fälle, in denen er jemand dankend die Hand gab, sind an fünf Fingern abzuzählen, und daß er später, als Präsident einem Volksvertreter je einen Stuhl angeboten hätte, ist nicht vorgekommen. Er muß, obwohl die Biographen ihn seit zweihundert Jahren reinzuwaschen versuchen, ein rechtes Ekel gewesen sein. Und wie so viel Öfter bei Ekeln als bei rumorigen Volksfreunden: integer. Nun fehlt noch die Antwort, warum er die Berufung annahm. Man vermutet drei Gründe, alle menschlich, aber ziemlich kleinkariert. Erstens nahm er hiermit etwas an, was seiner Überheblichkeit zustand. Sodann rächte er sich dafür, daß die britische Armee ihn einst als Offiziersanwärter abgelehnt hatte. Und schließlich war

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die amerikanische Unabhängigkeit, genauer gesagt, die Niederlage Englands, der einzige Weg, seine jenseits der Alleghenies im britischen Sektor liegenden gewaltigen Ländereien zurückzuerhalten. Sehr wohl war ihm nicht, als er den wilden Haufen sah, mit dem er siegen sollte. Die Amerikaner hatten zu dieser Zeit etwa dreihundert tausend Waffenfähige* im Alter zwischen sechzehn und sechzig Jahren, alles Männer und Burschen, die mit dem Gewehr aufgewachsen waren, die Jungen zum Teil schon städtisches Proletariat und nicht mehr so gestählt wie die vorige Generation, aber dafür angeheizt von Umsturzideen und Partisanenträumen, Die Älteren alle energiegeladen und furchtlos, vor allem die Farmer und die Waldläufer, unter denen sich mancher als Scharfschütze einen Ruhm geschaffen hatte, der von Canada bis Florida reichte. Dreihunderttausend also - würden sie kommen? Wenigstens hunderttausend? Fünfzigtausend? Würden sie kommen? Von Norden, von Süden? Von weit her, zu Pferde, zu Wagen, zu Fuß? Aus den Städten, aus den Wäldern? Wir werden bald sehen, daß die ganze Berechnung falsch war. Die britische Operation ging zu schnell. Vor New York konnte Washington gerade achttausend Mann zusammenraffen, zu wenig, um sich auf ein Abenteuer einzulassen. Er gab die Stadt auf und zog sich zurück. Ein bißchen hohnlachte er noch, weil die Engländer die

* Die Zahl stammt von Benjamin Franklin, der als Bevollmächtigter der Kolonien eine warnende Rede vor dem Londoner Unterhaus hielt. Derselbe Franklin, der den Blitzableiter erfunden hat.

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Zurückflutenden nicht verfolgten. Auch manche Historiker lächeln über den harmlosen General Lord Howe und seine Methoden »von anno dazumal«. Aber so sehr harmlos war Howe nicht. Er ließ Washington laufen, ging auf das beherrschende Fort am Hudson los, nahm es und entschädigte sich mit zweitausendsechshundert Gefangenen. Blitzkrieg, Blitzsieg, Blitzirrtum. Lord Howe hätte sich nun gern an den Verhandlungstisch gesetzt. Der Tisch war da, Washington aber nicht. Der Lord wartete vergeblich. Wer weiß, wie lange er so dagesessen hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre. Für ihn schien der Krieg beendet. Aber ein Krieg ist nie beendet, wenn nach einem Sieg unerklärliche Stille herrscht. Das sicherste Zeichen, daß ein Krieg zu Ende ist, besteht darin, daß der Plebs des besiegten Volkes auf die Straße rennt, mit Taschentüchern winkt und den verschwitzten Siegern die letzte, vom Munde abgesparte Flasche Bier darreicht. Dann dürfen auch getrost noch hunderttausend Soldaten in unversehrten Forts stehen. Lord Howe hatte, da sich nichts rührte, die Vorstellung, er müsse nun damit beginnen, das Land zu besetzen. Er teilte also seine Truppen und tröpfelte sie in die schon vorsorglichen Winterquartiere, die einen hierhin, die anderen dorthin. Er war zufrieden und London war es auch. Man konnte an den Urlaub denken, an Brighton oder das schottische Grampian und seine Forellen. In diesem Augenblick ging unerwartet eine Bombe hoch: Ein turbulenter Kongreß in Philadelphia nahm mit den Stimmen von zwölf Kolonien die Erklärung der Loslösung von England an! Es war der 4. Juli 1776. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren geboren! Der Donnerschlag dröhnte bis nach Europa

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hinüber, aber er schreckte nicht viele auf. Dem alten Fritzen war Amerika Wurst, Maria Theresia bereitete sich auf den Bayrischen Erbfolgekrieg vor, Zarin Katharina II. hatte gerade den Krieg mit der Türkei und den Kosakenauf-stand hinter sich - nur in Paris und Madrid spitzte man die Ohren, Man wartete auf weitere Nachrichten. Vereinigte Staaten? Was war das?

*

Ja, was war das? Wenn schon das Wort »Staat« für diese »zwei Dutzend Städtchen« komisch in europäischen Ohren klang, so standen die Zeitgenossen damals vor dem Wort »Vereinigte« gänzlich ratlos. Die Kolonien hätten sich zu einem Staat vereinigen können, natürlich, doch das taten sie ja nicht, sie blieben ein Dutzend und bildeten - was, zum Teufel, bildeten sie? Es war ohne Beispiel. Vereinigte Königreiche kannte man. Das war leicht zu verstehen. Es war ein König, der sich andere Länder unter den Nagel gerissen oder erheiratet hatte. Hier aber hatte niemand gerissen und niemand geheiratet. Wenn man dieses Modell ins Europäische übersetzte, so hatte man sich vorzustellen, daß England, Frankreich, Preußen und wer weiß, wer sonst noch, sich »vereinigten«. Das war grotesk, das war Utopie. So lagen die Dinge in Amerika natürlich nicht. Ein Mensch, der noch alle fünf Sinne beieinander hat, begreift, daß in der Welt etwas zusammenfindet, was seiner Natur nach zusammen gehört. Aber zu was? Das war immer noch ziemlich unklar. In der Tat, es war auch den Vätern der USA noch ein bißchen unklar. Sich für unabhängig zu erklären, ist einfach. Solche Erklärung aber zu einem Fundament, einer Art

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Verfassung zu machen, ist schwer. Die Formulierung ist lange Zeit im stillen Kämmerlein gebrütet worden. Es war wirklich ein Kämmerlein. Im Frühsommer 76 saßen fünf Männer in einem kleinen Zimmer in Philadelphia beisammen, schwitzten und grübelten vor sich hin oder stritten erbittert gegeneinander, mit Ausnahme von Thomas Jefferson, dem jedes Gekreisch zuwider war. Er hatte kaum die ersten zwei Sätze formuliert:

»Wenn es im Laufe der geschichtlichen Ereignisse für ein Volk notwenig wird, die politischen Bande zu lösen, die es mit einem anderen verknüpfen, und unter den Mächten der Erde die gesonderte und gleichwertige Stellung einzunehmen, zu der die Gesetze der Natur und des Schöpfers es berechtigen, so erfordert eine geziemende Achtung vor der Meinung der Welt, daß es die Gründe angibt, die notwendig zu der Trennung führten. Wir halten es für eine einleuchtende Wahrheit, daß alle Menschen gleich und unabhängig geboren sind . . .«

- da sprangen John Adams* und Thomas Paine auf und verlangten die Streichung des Wortes »unabhängig«, der eine, weil er es für eine damned Lüge, der andere, weil er es für einen Widerspruch zur Unterordnung unter den Volkswillen hielt. Man kann, rief er, nicht ein staatliches Zusammenleben mit der Verneinung des Staatswillens beginnen. Alle redeten. In dem Zimmer herrschte der schönste Krach. Noch nie war diesen fünf Männern so klargeworden, wie viel sie voneinander trennte. Ein fortschrittsgläubiger Parsifal wollte in das Dokument die

* Nicht zu verwechseln mit Samuel Adams, dem Wind- und Feuerkopf aus Boston, dessen man sich mit Mühe und Not seit einiger Zeit entledigt hatte.

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Verurteilung der Sklaverei aufgenommen sehen, worauf der Südstaatler explodierte. Der Passus wurde gestrichen. Statt dessen kam ein poetischer, janusköpfiger Satz hinein: »Zu den unveräußerlichen Rechten aller Menschen gehören das Recht auf Leben und Freiheit, sowie das Streben nach Glück.« Flott ging es bei der Anklage des englischen Königs: »Die Geschichte dieses Königs ist eine Kette von Anmaßungen, die alle darauf abzielen, eine unbegrenzte Tyrannei über die Staaten aufzurichten. . . Er hat unsere Meere geplündert, unsere Küsten verheert, unsere Städte niedergebrannt, unsere Landsleute getötet. Er landet jetzt große Heere fremder Söldner, die das Werk der Zerstörung vollenden sollen.« Als die Stube endlich so verqualmt war (in Virginia wuchs der beste Tabak), daß es sogar den berühmten Stechfliegen des Delaware zu viel wurde, war das Werk vollendet. Stellen Sie sich vor: eine Staatengründung ohne Sekretärin und Schreibmaschine! Über das, was nun zu tun war, sagte es leider nichts aus, denn man wußte es selbst nicht. Man wußte nur eines: Man war frei von England und hatte sein Schicksal ganz in die eigene Hand genommen. Die Macht sollte niemals mehr »von Gottes Gnaden« sein, wie unter den Königen, sondern von Volkes Gnaden. Als die fünf Männer* dem Kongreß meldeten, sie seien bereit, schritt man zur feierlichen Ratifizierung. Das Kongreßgebäude war ein simples langgestrecktes Haus, zweistöckig, und lag an einem dörflich anmutenden, kopfsteingepflasterten Platz. Auch die Linden fehlten nicht. Dorthin »strömten« also die fünfundachtzig Vertreter

*Neben Jefferson, John Adams, Livingston und Sherman auch die ehrwürdige Gestalt des siebzigjährigen Benjamin Franklin

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der Kolonien zusammen. Der Saal, in dem die Zeremonie stattfand, war ebenfalls bescheiden. Ein kahler Raum, in dem man heute höchstens Zivilprozesse bis zu eintausend Mark verhandeln würde, die Fenster mit Stoff gerahmt, zwei hohe Türen mit klassischer Steineinfassung, und dazwischen als Wandgemälde die Apotheose aller Kriegervereine: Trommel und gekreuzte Fahnen. Etwas erhöht an einem plüschgedeckten Tisch der Präsident des Kongresses, davor »die Fünf« stehend, dahinter sitzend die Abgeordneten, noch mit kleiner Perücke und in Kniehosen, aber nicht mehr fritzisch wirkend; es liegt deutlich ein neuer Hauch von bürgerlicher Einfachheit und Demokratie darüber. John Trumbull hat die Szene zehn Jahre später gemalt (er wird also wohl schon ein bißchen in Richtung »Stille Einfalt, edle Größe« gemogelt haben). Es ging durchaus nicht ohne Auseinandersetzungen und Nörgeleien zu. Man kritzelte auch noch in dem Konzept herum. Endlich war es soweit; feierlich wurden die Unterschriften vollzogen (New York, noch besetzt und auch immer noch verdächtig englandfreundlich, enthielt sich für den Moment); feierlich gingen alle nach Hause. Sollte Ihnen, verehrter Leser, inzwischen aufgefallen sein, daß das neue Staatsgebilde weder ein Oberhaupt noch eine Regierung hatte, so gratuliere ich Ihnen; damals fiel es nicht vielen auf. Es hatte sich ja im Alltag nichts geändert. Man ging wieder den Geschäften nach oder hängte sich aufs neue das Gewehr über, denn der Krieg mußte ja wohl erst noch entschieden werden. Dieser Meinung war auch London. Es fühlte sich von der Unabhängigkeitserklärung tief gekränkt, aber daß das Dokument einstweilen nur ein Fetzen Papier war, das glaubten alle. Man mußte jetzt energisch durchgreifen. Vor allem die britischen Händler (unfeine Bezeichnung natürlich, man nennt sich allenthalben Kaufmannschaft,

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heute »Wirtschaft«), die Händler begannen, über ihre Verluste zu schreien und verlangten erbarmungslose Kriegsführung. Da das für jede Regierung, die ihr Glaubensbekenntnis auf der Registrierkasse tippt, Befehl ist, beschloß das Londoner Parlament, jetzt Ernst zu machen, vor allen Dingen aber schlau zu sein. Im nächsten Jahr (es war inzwischen Winter geworden) sollte General Bourgoyne mit sechstausend Mann erstklassiger Soldaten von Canada südwärts in das Hudsontal vorstoßen, also über die Berge steigen und George Washington in den Rücken fallen; eine glänzende Idee, wenn man einmal großzügig davon abzieht, daß der Marsch über fast tausend Kilometer durch unwirtliches »Partisanen«gebiet ging und daß Truppen gelegentlich essen müssen. Nun, man würde ja sehen. Vielleicht brauchen Hessen wirklich nicht viel zu essen. Wie gesagt, es war Winter geworden, niemand erwartete noch große Dinge. In Trenton zum Beispiel, wo vierzehn-hundert Hessen im Quartier lagen, war es direkt gemütlich. Die Verpflegung war gut, die Pfeife rauchte, der Kamin ebenfalls. Es war die Nacht vor Heiligabend, draußen tobte ein Schneesturm, ein Wetter, bei dem man nicht einmal den sprichwörtlichen Hund vor die Tür gejagt hätte, geschweige denn Vorposten. Das erwies sich als kleiner Fehler. Es waren nämlich durchaus Leute unterwegs, einige wenige Tausend unter Führung von Washington. Sie setzten bei diesem Hundewetter über den vereisten Delaware, am Bug in napoleonischer Haltung und Zeus trotzend der Generalisssimus, wie man ihn auf dem Gemälde von Leutze im Bremer Museum bewundern kann. Sie pirschten sich an Trenton heran, überfielen es und »nahmen tausend Hessen gefangen«. Vom Rest hört man nichts.

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Die warmen Kamine und weihnachtlichen Mistelzweige lockten Washington nicht, er trieb seine Männer gleich wieder in die Kälte hinaus, überrumpelte noch drei andere britische Abteilungen »und vernichtete sie«, Danach verschanzte er sich vor New York.

*

Viele Männer waren ihm nicht geblieben. Das lag nicht etwa an den Verlusten, es lag daran, daß die wackeren Kämpen nach Hause zu gehen pflegten, sobald für ihr Gebiet die unmittelbare Gefahr beseitigt war. Sie fanden das in Ordnung; sie waren freiwillig gekommen und gedachten, auch wieder zu gehen, wenn es ihnen paßte. Hierin hatte auch der Fehler in Benjamin Franklins Berechnung gelegen, als er dreihunderttausend Wehrfähige erwartete. Gewiß, die meisten von ihnen (außer den nicht so wenigen England-Loyalen) waren entschlossen, die Unabhängigkeit zu verteidigen. Aber sie hatten eine kuriose Vorstellung von Unabhängigkeit, sie meinten damit die ihrer Familie, ihrer Farm, ihres Dorfes, ihres Städtchens. Die englischen Truppen waren für sie so eine Art Indianer, die man von Haus und Hof abwehren mußte. Wohin abwehren? Die Frage erinnert lebhaft an die schwäbische Anekdote, in der ein Gemeindediener durch das Dorf geht und die Bekanntmachung ausklingelt: »Auf oberamtlichen Befehl lauft a wütender Hund rum; wer ihn sieht, soll ihn nüber-jagen ins Bad'sche, darmits kei Unheil gibt.« Sehr weit entfernt davon war die Einstellung der Freiwilligen nicht, und sie waren gerade dabei, den ganzen Krempel hinzuschmeißen, als der nächste Kongreß Kriegsdienstverpflichtungen beschloß und die Befehlshaber von Truppen zu Strafen ermächtigte.

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Washington hatte keinen anderen Ausweg gewußt, er fand die Schrullen und den Eigensinn der alten Kämpen alles andere als komisch. Am gefährlichsten waren in seinen Augen die kleinen Siege, die die Bevölkerung beruhigten und den Krieg nicht entschieden. De facto klappte nichts. Die Eingezogenen mußten nun offiziell Löhnung erhalten, aber der Kongreß hatte kein Geld. Steuern zu erheben, wagte er nicht, das Wort Steuern war ein rotes Tuch. Man konfiszierte Krongüter und Besitzungen von rückgewanderten Royalisten, man konfiszierte sogar Häuser von Leuten, die kein anderes Verbrechen begangen hatten, als gegen die Unabhängigkeit zu sein, mit einem Wort, man benahm sich durchaus modern, so, wie sich neue Herren zu benehmen pflegen, die nicht mehr aus noch ein wissen. Man benahm sich im Namen des Volkes. Und als alles nicht ausreichte, begann man, Papiergeld zu drucken, im ganzen so an die vierhundert Millionen Dollar. Der »Dollar« war die neue amerikanische Währung; auch auf sie waren ihre Väter sehr stolz. Leider war sie ungedeckt, und das freute sie weniger. Es kam der Tag, an dem (wörtlich) die Friseure damit ihre Barbierstuben tapezierten. Es mußte was geschehen. Ach Gott, ja, es mußte an allen Ecken und Enden etwas geschehen. Man sandte Benjamin Franklin, den bewährten Botschafter und »Blitzableiter«, nach Paris. Der brave alte Herr, immer freundlich, immer schlicht im kaffeebraunen langen Rock inmitten der s über glitzernden Hofgesellschaft schaffte es. Wir werden gleich sehen, was er schaffen sollte. Inzwischen ging drüben der Krieg weiter. Die sechstausend Soldaten unter Bourgoyne waren wirklich

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von Canada losgezogen und befanden sich auf dem Wege ins Hudsontal. Es war elend heiß, solange sie über Berge und Geröll zogen, und es war duster und unheimlich, wenn es durch die Wälder ging. Mit ein Paar Stiefeln und leerem Magen wird alles doppelt unerfreulich. Nach einigen hundert Kilometern riß die Nachschubverbindung ab. Bourgoyne schickte Trupps aus, um Lebensmittel zu besorgen - die Trupps kehrten nicht zurück. Am oberen Hudson angelangt, dezimiert und halb verhungert, machte das Regiment Halt. Von dort bis New York, wohin Bourgoyne eigentlich wollte, sind es auch für den besten Marschierer noch einige hundert Kilometer. Man horte läuten, Lord Howe habe sich in Bewegung gesetzt. Das hatte er. Aber nicht, wie es nahe gelegen hätte, Bourgoyne entgegen, sondern per Schiff in Richtung Delaware-Mündung. Er plante einen Entlastungsangriff auf Philadelphia. Nun - man kann entlasten. Unzweifelhaft ist das bisweilen eine gute Idee. Aber dazu ist Voraussetzung, daß den Amerikanern der Verlust von Philadelphia ein schwerer Schlag bedeutet hätte. Lord Howe schwebte so etwas Patriotisches vor wie England ist gleich London, Frankreich ist gleich Paris, Preußen ist gleich Potsdam, Amerika gleich Philadelphia. Doch den Amerikanern war der Kongreßschuppen ziemlich schnuppe. Man zog einfach um. Howe schlug General Washington, der sich ihm entgegenstellte, und nahm die Stadt. Er hatte also »entlastet«. Ging es jetzt leichter mit Bourgoyne und seiner Truppe? Wie sollte es denn! Er stand immer noch Gewehr bei nacktem Fuß und leerem Magen. Natürlich ahnte er, daß mit jedem Tag, den er den Amerikanern Zeit ließ, die Zahl der Freiheitskämpfer wachsen würde. Aber daß die

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Amerikaner schon die vierfache Übermacht hatten, das wußte er leider nicht. Zu spät beschloß er, im offenen Gefecht die Wende herbeizuführen. Es gelang ihm zwar, doch leider negativ. Er verlor die Schlacht, kapitulierte und ging mit dem gesamten Regiment in Gefangenschaft. Bis Saratoga war er gekommen. General Gates, einst britischer Offizier, war der Sieger von Saratoga. In diesem Moment war George Washington fast vergessen; Gates war der neue Heros. Ein schöner Sieg. Nicht übel, wirklich. Von weitem sah er noch schöner aus als von nahem. Paris zum Beispiel war entzückt! Ja, diese Amerikaner, dieses urwüchsige Volk! Die französische dekadente Gesellschaft war gerade mitten im Jean-Jacques Rousseau-Fieber. Benjamin Franklin lenkte das Entzücken in die richtigen Bahnen, nämlich in die finanziellen. Es ging Frankreich selbst nicht gut, aber der Gedanke, das »schlichte Hirtenvölkchen in Amerika in seiner tugendhaften Armut (Armut ist laut Rousseau immer tugendhaft) zu unterstützen«, war ebenso schön wie der Gedanke, den Engländern eins auszuwischen. So also kamen zunächst einmal die Finanzen des Kongresses einigermaßen wieder in Ordnung. Amerika schrie aber nicht nur nach Geld, es schrie auch nach militärischer Hilfe. General Washington war nach der Niederlage bei Philadelphia in eine böse Lage geraten. Er hatte sich nicht ins Innere Pennsylvanias zurückgezogen, um nicht das ganze reiche, fruchtbare Land offen preiszugeben, sondern sich in Valley Forge, kurz hinter Philadelphia, verschanzt. Sein Lager befand sich einigermaßen sicher im Zusammenfluß-Delta zweier Flüsse. Lord Howe griff ihn nicht an, entweder aus Dummheit oder aus Klugheit, der Effekt war derselbe: Der Winter kam und Washington saß in der Falle. Er war abgeschnitten.

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Seine dreitausend Mann froren jämmerlich und hungerten noch jämmerlicher. Der Kongreß schickte keine Hilfe. Washington war nicht mehr up to date. General Gates, der neue Heros, intrigierte heimlich, andere intrigierten offen. Im Februar gingen Wolkenbrüche nieder, die das ganze Tal in einen Sumpf verwandelten. Die Soldaten bekamen Fieber, Typhus, Vergiftungen und starben wie die Fliegen. Es gab die ersten Deserteure. Washington selbst gönnte sich nicht mehr als jedem einfachen Mann. Seine Leute verehrten ihn. Am 6. Februar 1778 schlössen Frankreich und Amerika offiziell ein Bündnis. Französische Truppen landeten, ohne daß England es verhindern konnte, und stießen auch bis Valley Forge vor. Der Durchhaltegeneral war gerettet und wieder ein Held. So ist das. Unter denen, die den Dreispitz ziehend, ihm die Hand reichten, war auch ein siebenundvierzig jähriger Mann aus Deutschland, der bald eine Schicksalsfigur der Vereinigten Staaten werden sollte. Amerika benannte vier Städte nach ihm und feiert bis heute seinen Gedenktag.

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VI

Der Mann hieß Friedrich Wilhelm von Steuben. Wenn man im Lexikon nachschlägt, findet man folgende knappen Zeilen: »Steuben, Friedr. Wilh. von, geb. 1730 in Magdeburg, gest. 1794 in Steuben (Oneida County), trat 1747 ins preußische Heer, wurde 1764 unter undurchsichtigen Umständen als Hauptmann verabschiedet, ging als Hofmarschall des Fürsten von Hohenzollern nach Hechingen, wurde 1775 badischer Oberst und wanderte 1777 nach Nordamerika aus, wo er rasch das Vertrauen Washingtons gewann. Er stieg zum Generalmajor und Generalinspekteur auf. Er übertrug seine preußische Generalstabserfahrung auf die amerikanische Revolutionsarmee für die taktische und operative Kriegsführung gegen die englischen Truppen - der Sieg der Amerikaner geht zum großen Teil auf ihn zurück.« Ich kenne nur ein einziges Porträt von Steuben. Es zeigt ein schmales langes Gesicht, viel eher wienerisch als preußisch. So ähnlich sah Joseph II., der Sohn Maria Theresias aus, und so ähnlich werden sich beide wohl auch im Geiste gewesen sein: Jünger der Aufklärung. Steuben ist auf dem Bilde auch nicht in Uniform, er trägt einen einfachen Rock mit Schillerkragen, und auf dem Kopf einen bäuerlichen Jägerhut (Kulturhistorisch interessant. Im 17. Jahrhundert galt er noch als feudaler Jagdhut. Auf Velasquez' Bildern tragen ihn König Philipp und sein Bruder Don Fernando. Hundertfünfzig Jahre lang war er dann

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Bauernmütze, bis ihn die deutschen Landjunker Ende des 18. Jahrhunderts wieder zum Ritterguts-Symbol machten. Hitlers Reichsarbeitsdienst griff erneut auf ihn zurück.) Wenn Sie mich fragen: Er hat mit dem Alten Fritzen Krach bekommen. Wenn der König etwas nicht vertragen konnte, dann waren es Phantastereien. Sie begleiteten Steuben (wie so oft hochbegabte Menschen) ein Leben lang. Als er durch Vermittlung Frankreichs nach Amerika ging, ließ er sich noch schnell zum General umdichten. Er hat die Geisteshaltung der Amerikaner richtig eingeschätzt. Steuben wurde ein wahres Geschenk des Himmels. Er machte aus dem Andreas-Hofer-ähnlichen Soldatenhaufen ein fast preußisches Heer. Die »Vereinigten Staaten« hatten es bitter nötig, ihren führenden Köpfen war klar, daß der Ernst des Krieges jetzt erst beginnen würde. Er begann. Frankreich erklärte England offiziell den Krieg. Spanien und Holland - Morgenluft, witternd - schlössen sich an. Mitteleuropa, Skandinavien und Rußland verbündeten sich zu einer »neutralen Allianz« gegen England. Wenn es den Briten auch nicht an den Kragen gehen würde - eine ganz schöne Ansammlung von Feinden. London antwortete mit der Entsendung einer Elitetruppe unter General Clinton. Sie landete nicht an einem der Brennpunkte im Norden, sondern in Georgia. Die Front sollte von Süden aufgerollt werden. Clinton nahm Georgia und Carolina. In Charleston erwischte er einen amerikanischen »General« mit fünftausend Mann. Das sind eine Menge Leute; wohin mit ihnen? Fast zur gleichen Zeit überrumpelte der im Norden operierende Lord Cornwallis den Liebling der Amerikaner, Gates, mit seinen Truppen. Der Gefangenenklotz am Bein wuchs. Man war alles andere als glücklich. Sobald die Briten weiterzogen, ging hinter ihnen das Leben weiter, als wäre nichts geschehen; die amerikanische Selbstverwaltung setzte

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wieder ein, neue Partisanengruppen bildeten sich - alles schien umsonst. Im August 1780 stand Clinton schon nahe vor den Toren Richmonds. Er hoffte, sich mit Cornwallis vereinen zu können, aber Cornwallis fummelte so lange herum, bis er von inzwischen eingetroffenen französischen Truppen an die Küste abgedrängt wurde. Er verschanzte sich in Yorktown und wollte in Ruhe die Unterstützung der britischen Flotte abwarten. Um es kurz zu machen: Fünftausend Mann, die Frankreich schleunigst herübergeworfen hatte (unter Rochambeau und Lafayette) sowie einige tausend von Steuben gedrillte Nordstaatler unter George Washington schlössen Yorktown ein und zwangen Cornwallis mit siebentausend Mann zur Kapitulation. Das war ein sehr fetter Brocken! Nun gab es noch Clinton. Das stimmt, aber wie sah er aus, mit seiner angeschlagenen Truppe und fünftausend Gefangenen am Halse! Er tat das klügste, was er tun konnte: nichts. Es gab auch nichts mehr zu tun: mit der Kapitulation Cornwallis' war die Entscheidung eigentlich gefallen, der Krieg war praktisch aus. Verloren hatte ihn das Parlament in London. Man schickt nicht. Man schickt nicht eine Handvoll Regimenter los, ein Land von zweitausend Kilometer Länge, voller feindlicher Bevölkerung und mit französischen Gardetruppen zur Seite, zu erobern. Denn erobert hätte es werden müssen. König George III. wollte es immer noch nicht glauben. Notabene war er nicht ganz klar im Kopf. Über diesen konfusen Kopf hinweg rief London seine Generäle und Soldaten zurück. Einige Forts im Innern des Landes hielten weiter aus, aber die Küste war sauber. Es dauerte noch einmal ein Jahr, ehe George III. in einer feierlichen Thronrede die »Vereinigten Staaten von Amerika« als unabhängig und souverän anerkannte. Das geschah am 5.

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Dezember 1782. Eine lange Leidenszeit für die Amerikaner war vorüber. Sie müßte eigentlich ein paar Bücher statt ein paar Seiten füllen. Aber welche Leidenszeit müßte das nicht und wird mit noch weniger Zeilen abgetan?

*

Nun waren sie also frei und souverän; das war schön, aber auch alles. Was hatten sie? Eine Urkunde und einen Kongreß. Die Urkunde war ein Papier und der Kongreß eine Null. Er konnte alles mögliche beschließen, keiner der Staaten brauchte sich daran zu halten, man war ja souverän. Von Zeit zu Zeit hielten die Kongreßmitglieder ihr Tabakskollegium ab, rauchten ihr Pfeifchen und palaverten über das, was man alles tun würde, wenn man könnte. Und dann gingen sie wieder nach Hause. Jedoch etwas gab es, was man in schöner Einigkeit als erstes tun konnte, das, was neue Herren nach Revolutionen stets tun: verfolgen. Man verfolgte die englandtreuen Amerikaner, als wären sie Abschaum. Es genügte, daß jemand einmal »God save the King« gesungen hatte. Hunderttausend (Eine enorme Zahl. Die Gesamtbevölkerung der dreizehn Staaten betrug damals nur vier Millionen) flohen, nach Canada, nach Westindien, nach England. Die Sieger lachten hinter ihnen drein, was sie nicht hätten tun sollen, denn die Flüchtlinge waren es, die Canada wie eine Überschwemmung anglisierten, aber den Anschluß an die Vereinigten Staaten ebenso haßten, wie die eingesessenen Franzosen. Was die schnelle Rache manchmal sät! Wem sage ich das! Ohne die Verfolgung der Loyalisten würden die USA heute bis zum Nordpol reichen. Ohne die Überschwemmung durch die Loyalisten

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(sechzigtausend!) wäre Canada französisch geworden. Mit einem französischen, reichen Canada hätte Frankreich vielleicht den Bankrott abwehren können. Ohne den Bankrott wäre die Französische Revolution vielleicht nicht gekommen. Ohne die Revolution ganz sicher kein Napoleon. Ohne Napoleon ein anderes Europa. Nun ja, wer fragt noch danach, heute, da die Abnabelung von der Geschichte als chic gilt! Die Amerikaner fanden die Entwicklung damals prima. Die kulturtragende Schicht war zwar so gut wie weg, aber Holzhacker, Tabakspflanzer und Kolonialwarenhändler sterben nicht an fehlender Kultur. Sie hielten sich an handfesten Dingen schadlos. Man teilte die verlassenen Ländereien und Häuser untereinander auf. Die Emigranten hatten zum großen Teil alten, reichen Familien angehört. In Virginia wurde der riesige Besitz von Lord Fairfax konfisziert, New York enteignete neunundfünfzig Plantagen, einige bis zu dreihunderttausend Quadratmeilen groß. Auf dem »Gut« eines Sir John Johnson hatten zehntausend Neusiedler Platz. Der Besitz Granvilles in North Carolina umfaßte eine Million Morgen, Stadthäuser, Fabriken, Maschinen, Geräte - den Siegern lachte das Herz im Leibe. Neureiche schössen wie Pilze aus der Erde. Schon der Krieg hatte viele reich gemacht: Blockadebrecher, Schmuggler, Heereslieferanten. Sie alle drängten nach oben an die Futterkrippe und in die Schlüsselstellungen. Aber leider sah es trotz allen Lachens nicht gut aus. An allen Ecken und Enden fehlte hartes Geld. Papierlappen gab es tonnenweise; jeder Staat druckte, was die Maschinen hergaben. Die Steuern waren höher als je zuvor. Aber was zurücklief in die Kasse, war wieder Papier. Ein Zentner von dem Plunder hätte Europa nicht einmal gegen ein Pfund Salz getauscht. Die inneren und äußeren Schulden der Konföderierten betrugen

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vierzehn Milliarden Dollar! Nein, das sah nicht gut aus. Schlimmer, es sah aus wie eine kolossale Pleite. England gab die Forts im Innern des Landes nicht heraus, solange die USA nicht die Emigranten entschädigten, wie es der Friedensvertrag vorsah. Spanien benutzte die Ratlosigkeit, die Mississippi-Gebiete wieder an sich zu bringen, und afrikanische Seeräuber erschienen vor den Küsten, überfielen unter freundlichem Lächeln der Briten amerikanische Schiffe und führten die Besatzungen in die Sklaverei. So begann Amerika seine Freiheit. Gebildete Amerikaner dachten schon an eine Militärdiktatur, indem sie sich aus der Schulzeit vage an Camillus und Cincinnatus, jene wackeren Männer erinnerten, die aus dem Sauhaufen Rom wieder einen ehrenwerten Staat gemacht hatten, oder an Gaius Julius Cäsar; an den schon mit weniger Begeisterung. Aber so dachten vielleicht einhundert; dreimillionenneunhunderttausendneunhundert dachten mit Grausen an jeden Zwang. Es ist Tatsache, daß sie am liebsten überhaupt keinen Staat gehabt hätten. Wozu war er eigentlich nütze? Straßen besorgten die Städte, Häuser bauten die Bürger, gefegt wurde vor jeder Tür, Kanalisation gab es keine, Beleuchtung lieferte der Mond, Elektrizität war noch nicht entdeckt, Gaslicht noch nicht erfunden, Eisenbahnen existierten nicht, die Schiffe gehörten den Reedern, Militär war überflüssig, Mörder bekamen keine möblierten Zimmer mit Vollpension, sondern wurden gehenkt, den Büttel bezahlten die Bürger, Richter konnte noch jeder sein, der seinen Grips beieinander hatte und ein Ehrenmann war. Wo war der »Staat«, wenn die Indianer eine Siedlung überfielen? Wo war der Staat, wenn ein Stadtteil abbrannte? Wo war der Staat, wenn die Ernte verhagelte oder das Vieh starb? Wer war eigentlich dieser gottverdammte Staat?

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Wissen Sie eine Antwort, die man einem Robinson Crusoe geben kann? Die Pioniere und Siedler, die Dörfler und Farmer waren wirklich überzeugt, daß die Erfindung »Staat« ein großer Schwindel war. Darf ich Sie, meine Freunde, einmal beiseite nehmen und in einem Eckchen, wo uns niemand hört, fragen, was Sie davon halten? Ich persönlich denke seit meinem neunundzwanzigsten Lebensjahr über das Wesen des Staates nach. Damals hing ich der Theorie der »erweiterten Familie« an, der sogenannten Patriarchat-Theorie. Es leuchtete mir ein, daß sich ein Staat bildet, wenn sich das Prinzip des Familienlebens zu einer großen Gemeinschaft, sozusagen einer Genossenschaft unzähliger Familien ausdehnt. Ich dachte da (als Humanist gleich an die Quelle gehend) an Hellas und konnte mir Athen sehr gut als Zusammenschluß von Familien, als Interessengemeinschaft vorstellen. Bei einigem Nachdenken jedoch kamen mir Zweifel, ob die »Polis«, der Stadtstaat, wie die Gräzisten ihn nennen, wirklich ein Staat gewesen ist. Eine souveräne Gemeinde ist sicher noch kein Staat. San Marino, falls Ihnen das von Ihren Urlaubsfahrten an die Adria ein Begriff ist, nennt sich gewiß zu Unrecht Staat. Vielleicht, so bohrte ich weiter, hatten die altgriechischen Stadtstaaten viel eher den Charakter von Enklaven? Dieser Gedanke gefiel mir außerordentlich. Mich störte auch nicht, daß Enklaven, wie das Wort ja besagt, eingeschlossen sein müssen. Athen war in nichts eingeschlossen, Theben war in nichts eingeschlossen, sehr richtig. Sie waren nicht, sie hatten sich eingeschlossen zwischen lauter ihresgleichen. Sie lebten wie in einer Enklave. Viele von ihnen hatten die gleichen Gesetze und Sitten, viele die gleichen Lebensbedingungen, viele waren

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versippt, alle des gleichen Blutes und des gleichen Glaubens; sie hatten diesen und jenen Bund geschlossen, aber etwas haben sie wie die Pest vermieden: sich zu einem Staat, einem griechischen Staat zu vereinen. Ich glaube, sie hielten ihn wie die frühen Amerikaner für Schwindel. Alexander »der Große« bewies es ihnen dann auch. Staat ist also ganz sicher einst kein Vorstellungszwang gewesen. Wie sind wir mit unserem Denken da nur hineingerutscht? Menschen, die sich den Luxus leisten, auch heute noch nachzudenken, sind alle zu der Erkenntnis gekommen, daß »Staat« keine Form ist, die die Natur verlangt, sondern eine »Erfindung«, etwas Künstliches, was vielleicht einmal »Bündnisaufgaben« hatte (Recht, Fürsorge, Schutz), aber längst ein selbstherrlicher, allmächtiger Homunkulus geworden ist. Carl Burckhardt hat den Staat »ein schönes, aber unheimliches, dem Einzelnen innerlich fremdes Ungeheuer« genannt. Meinecke sprach ihm einen höheren übergeordneten Sinn völlig ab. Es gibt nichts, was nicht die kleine Gemeinschaft lösen könnte und in Wahrheit auch löst und trägt. Nichts - außer dem Krieg. Solange ich zurückdenken kann, ist auch für mich »der Staat« immer ein fremdes Ungeheuer gewesen. Politik, Hunger, Politik, Krieg, Inflation, Vertreibung, Politik, Krieg, Verrohung, Verarmung, verlorene Jahre, gestohlene Jugend — »der Staat« hat mich nie gekannt, nie angesehen; ich habe ihn nur kennengelernt, wenn er wie ein von der Sauftour heimkehrender Vater mich entdeckte und prügelte. Ich erschrecke Sie, meine Dame? Jetzt schon? Sie sind wütend, mein Herr, zornbebend? Reißen Sie sich zusammen, befreien Sie sich von der Illusion, daß irgend jemand auf der Welt allein durch den Staat in Frieden und Glück leben kann. Fallen Sie nicht auf die Lüge herein, daß

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Vaterland gleich Staat sei. Darf ich jetzt weitersprechen? Nach dem Kriege las ich Rousseau und Locke. Ich erfuhr, daß sie den Staat einen »Vertrag« nannten und die Entstehung eines Staates auf »freiwillige, vertragsmäßige Unterwerfung des Bürgers unter eine Staatsgewalt« zurückführten. Und hier gingen mir die Augen auf. Hat der moderne Mensch wirklich den Wunsch, sich zu »unterwerfen« für ein bißchen Schutz, ein bißchen einheitliches Recht und ein bißchen breiter fundierte Wohlfahrt? Ja? Dann ist das Ducken, das Kriechen in einen Staat die Bankrotterklärung des Menschen als soziales Individuum. Ist es das? Wahrhaftig, ich glaube es heute. Der Staat als Institution hat die Welt erobert. Die Erdoberfläche ist mit »Staat« wie mit Flechten überzogen. Wo ist noch kein Staat? Niemand kann mehr in keinem Staat leben oder leben wollen*. Er kann staatenlos sein, das heißt ohne die Rechte eines Staatsbürgers, aber wo er auch hingeht, so weit ihn die Füße tragen, überall ist Staat. Mit welchem göttlichen Recht? Als der Staat sich ein Territorium zulegte und sich damit identifizierte, und als er seine Macht verselbständigte, hatte er seine Unschuld verloren. Ich weiß, im heutigen Leben (vier Milliarden Menschen) geht es nicht mehr ohne Staat und nicht mehr ohne Loyalität zum Staat, aber das ändert nichts daran, daß wir erbärmliche Wichte sind. Das aber wollten die Amerikaner von 1783 nicht sein. Auch 1785, als die Regelung eines Strom-Schiffahrtsrechts aktuell war, winkten sie ab. Sie regelten ohne. Wer drängte denn nun eigentlich auf eine Gesamtstaatsgewalt? Die Offiziere drängten; sie hatten (durch Steuben) inzwischen preußischen Geist inhaliert. Ferner drängten die Verwaltungsleute, die mit zwischenstaatlichen Dingen zu arbeiten hatten. Dann

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drängten einige redlich besorgte Männer, die dem Wettlauf der einzelnen »Staaten«* ins Innere des Kontinents ein Ende bereiten wollten. Denn seit dem Abzug der Engländer versuchte jeder der Dreizehn, Land an sich zu reißen, um »groß« zu werden. Vor allem aber drängten die Politiker. Zwei der treibenden Kräfte waren George Washington (der in Mount Vernon die Daumen drehte) und der ehrgeizige Alexander Hamilton, junger Rechtsanwalt in New York. Der »Fortschritt« ließ sich nicht mehr aufhalten. Im Mai 1787 versammelten sich in Philadelphia unter dem Vorsitz des alten Washington fünfundfünfzig Delegierte mit dem Auftrag, für die Vereinigten Staaten von Amerika eine Verfassung zu erarbeiten, die sie zu einer Nation zusammenschweißen konnte. Die fünfundfünfzig Delegierten waren prächtige, handfeste Leute; weder die alten revolutionären Quängler waren darunter, noch mörderische Utopisten vom Typ Robespierre, die es sehr wohl gab. Brave Männer also, die Hälfte wie üblich Advokaten; leider waren sie nicht vom Volk gewählt, sondern von den Regierungen einfach »ernannt«. Und das ist nicht viel. »Diese Versammlung - um es von vornherein deutlich zu sagen - überschritt ihre Vollmachten gewaltig« (Richter), »sobald sie wie bei einer Papstwahl hinter verschlossenen Türen verschwunden war, bemächtigte sie sich einer Autorität, die vorher überhaupt nicht gegeben war. Es war, wenn man will, ein Staatsstreich.«** Die fünfundfünfzig Herren erarbeiteten nämlich nicht, wie vorgesehen, einen Text auf der Grundlage der *Noch waren die »Staaten« kaum mehr als autonome Provinzen, sie nannten sich halt so. ** Merke: Staaten werden immer »gestreicht«. Ich kenne keinen, den das Volk direkt instituiert hätte.

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Konföderation, sondern setzten sie einfach außer Kraft, schufen eine Verfassung auf völlig neuer Basis (zum Glück!), genehmigten sie auch gleich und unterschrieben sie. So wurde sie den dreizehn Unionsstaaten zur Ratifizierung zugestellt. In diesen turbulenten Sitzungen spielte Washington »Bodennebel«, das heißt, er saß da und schwieg sich aus. Freilich, er war von Natur wortkarg, aber hier war es mehr: Überheblichkeit, die ihm unversehens das Air des Olympischen gab. Aber ganz so überrumpelnd schnell, wie man es sich gedacht hatte, ging es nicht. Es dauerte noch eine Weile, bis alle so hypnotisiert oder so ermüdet waren, daß sie Ja und. Amen sagten. Am 4. März 1789 wurde auf einem feierlichen Kongreß die Verfassung proklamiert - die dreizehn »Staaten« waren ein echter Staat geworden. Am gleichen Tage noch brachen die Kongreßmitglieder zum erstenmal die neue Verfassung. Sie nahmen dem Volk die lästige Bürde der Wahl eines Staatsoberhauptes ab und ernannten aus eigener .schöner Machtvollkommenheit kurzerhand selbst den ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika: George Washington. Was geschah nach diesem Verfassungsbruch? Wie üblich nichts. Dem einen Teil der Amerikaner war es egal, der andere Teil legte die Hände an die Hosennaht. Wie hatten die Pilgrimsväter einst geschworen? »Wir wollen rechte Gesetze erlassen, Einrichtungen und Ämter schaffen. Wir versprechen dabei schuldige Unterwerfung und Gehorsam.« Das ist immer erfreulich und vereinfacht vieles.

*

Unschuldig wie ein neugeborenes Kind traten die USA

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ins Leben. Sie waren in so einzigartiger Lage wie nach dem Zweiten Weltkrieg die DDR. Die Deutschen der DDR haben bekanntlich nie das geringste mit Hitler zu tun gehabt, sie haben keinem Juden je etwas angetan, sie waren nicht in Stalingrad, von Coventry haben sie nie etwas gehört, sie waren nicht in Patras, nicht in Tobruk, die DDR war da noch gar nicht geboren; sie ist an nichts schuld und niemandes Rechtsnachfolger. In dieser Lage waren die Amerikaner. Wer hatte die Indianer-Massaker auf dem Gewissen? Die Briten. Wer hatte die Schlachten geschlagen? Briten gegen Briten. Wer hatte die Hunderttausende von Sklaven herangeschleppt? Die Briten. Das alles war passiert, ehe es die Vereinigten Staaten von Amerika gegeben hatte. Das Banner der USA war ohne Flecken, wenn man von dem kleinen Verfassungsbruch absieht. Mit dieser Verfassung müßten wir uns nun eigentlich eingehend beschäftigen, aber ich gestehe Ihnen, daß ich keine Lust habe. Ich würde es lieber kurz machen. Wenn man Verfassungen so gründlich durchkaut, wie es Staatsrechtlern Freude macht, geht spätestens nach zehn Minuten das Sandmännchen um. Und das hat die amerikanische Verfassung nicht verdient. Sie ist nämlich gut. Wie brav sie ist, sieht man daran, daß sie bis heute gehalten hat. An der Spitze der USA steht für jeweils vier Jahre der Präsident, der zugleich Regierungschef ist. Er beruft seinen Stellvertreter, seine Minister (secretaries of state), die Bundesrichter, Diplomaten und Leiter der Bundesämter. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Einen Krieg zu erklären ist jedoch nur der Kongreß befugt. Der Kongreß, das heißt die Gesamtheit der Volksvertretung, setzt sich aus zwei Häusern zusammen, dem Senat und dem Repräsentantenhaus. Sie haben keine Ähnlichkeit mit dem englischen Ober- und Unterhaus, sondern sind aus der

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Notwendigkeit entstanden, zunächst einmal alle dreizehn ursprünglichen Staaten gleichmäßig und ohne Ansehen ihrer Größe zu berücksichtigen: durch je zwei Senatoren. Das Repräsentantenhaus schuf den Ausgleich für die volkreichen Gebiete: Die Zahl der Abgeordneten wurde entsprechend der Bevölkerungszahl vergeben. Alle Vertreter werden vom Volk gewählt, die Senatoren alle sechs Jahre, die Repräsentanten alle zwei Jahre. Die Befugnisse von Senat und Repräsentantenhaus sind sorgfältig aufgeteilt, so daß das Machtverhältnis Senat -Repräsentantenhaus - Präsident möglichst ausbalanciert ist. Auch gegen den höchsten Beamten, den Präsidenten, kann vorgegangen werden. Der Weg - im Falle schwerster Pflichtverletzung oder Eidbruch - ist dann: Das Repräsentantenhaus klagt an, der Senat richtet. Hüter der Verfassung ist das Oberste Bundesgericht. Es gibt eine Einrichtung, die uns Europäer leicht verwirrt: Die Wahl des Präsidenten durch die sogenannten »Wahlmänner«. Sie ist aus der Not geboren. Bei den riesigen Entfernungen in den USA, wo Maine von Georgia so weit entfernt ist wie Bonn von Moskau, schien es vernünftig, nicht einzeln die Ergebnisse jedes Wahlbezirkes in die Hauptstadt einzusenden, sondern in jedem Staat Vertrauensmänner in allgemeiner und unmittelbarer Wahl zu bestimmen, die dann nach Washington auf die Reise geschickt wurden. Jedem der Staaten stehen so viele Wahlmänner zu, wie er Senatoren und Repräsentanten im Kongreß hat. Heute, im Zeitalter des Funks und des Computers, ist das Prinzip natürlich überholt. Aber da der Stolz der Amerikaner auf jede Tradition im umgekehrten Verhältnis zu deren Reichtum steht, halten sie an diesem Zopf fest. Leider ist es nicht nur ein schmückender Zopf, sondern das gefährlich schwache Glied in der Verfassung. Die

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Wahlmänner sind nicht in allen Staaten der USA gesetzlich verpflichtet, ihre Stimme dem Kandidaten zu geben, für den sie beauftragt wurden. Überdies ist der letzte Wahlgang geheim. Es kann also passieren, daß durch Manipulation oder Charakterschwäche von Wahlmännern ein nicht gemeinter Kandidat siegt. Ist es vorgekommen? Sie fragen mich zuviel. Wozu überhaupt das ganze Theater, wenn es alle naselang geschieht, daß beim Tode eines Präsidenten nicht ein neuer gewählt wird, sondern sein Stellvertreter ins Weiße Haus einzieht. Auf der einen Seite der dubiose »historische« Aufwand, auf der anderen Seite das Prinzip der »Adoptivkaiser«. War die Verfassung vielleicht doch nicht so gut? War Fultons erstes Dampfschiff vielleicht doch nicht so gut? Das ist die Antwort. Je nun, den Amerikanern gefiel Fultons Dampfboot damals großartig und die Geburt ihres Monsterstaates nicht minder. Nanu?, ihnen gefiel es, daß ihre dreizehn Regierungen noch eine übergeordnete huckepack aufgeladen bekamen? »Vor Tische las man's anders«, würde Schiller sagen. Das stimmt. Aber mit vollendeten Tatsachen zu leben, wandelt die Menschen, vor allem die nächste Generation. Was den Amerikanern jetzt ausgesprochen Spaß machte, war die Tatsache, daß jeder durch den Stimmzettel »seines Glückes Schmied« war; mit einem .Wort, daß jeder einzelne mitregierte - und das ohne jede Mühe. Ganz einfach so: indem er ein Kreuz machte. Die Wahltage wurden zu Volksfesten. Ein altes Bild zeigt so einen Freudentag: Die Häuser haben das Sternenbanner geflaggt, an den Wänden kleben Plakate, Würstel- und Brezelbuden sind aufgeschlagen, singende Gruppen ziehen umher, einer Kutsche entsteigen Herrschaften und schließen sich der Prozession von Zylinderhüten an, die die Stufen zum

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Rathaus, zum Wahllokal, hinaufstreben. Es ist auch ärmeres Volk ohne Zylinder da, viel Kinder und viel Hunde. Pastellfarben sind verpönt, bürgerliches Allerweltsbraun ist bevorzugt. Alle Gesichter sind vergnügt und werden sehr gewichtig, sobald es an die Wahlurne geht. Verständlich - man ging j a zum Regieren! Wenn die Amerikaner nach Europa blickten, das alte Europa mit seinen albernen Gottesgnaden-Königreichen, so schwoll ihnen die Brust. Das arme, geknechtete Europa! Amerika war die neue Zeit. Amerika besaß etwas, was sonst niemand besaß: die Demokratie, die Volksherrschaft. Hier war nun jeder wirklich seines Glückes Schmied. Wirklich?

*

Es gibt zum Lobe und zur Verteidigung der Demokratie drei landläufige Antworten, die je nach dem Intelligenzgrad wie aus der Pistole geschossen kommen. Da ist zuerst die Antwort, die der französische Gelehrte und Philosoph des 17. Jahrhunderts, Descartes, anbietet: »Der gesunde Menschenverstand ist diejenige Sache in der Welt, die am besten verteilt ist.« Er glaubte also, daß jeder Mensch in den grundsätzlichen Lebensfragen ein gewisses Maß an gesundem, gutem Urteil hat. Dem widerspricht der Augenschein an allen Ecken und Enden. Die Welt, die ja aus nichts anderem als aus lauter Descartesschen Menschenkindern besteht, befindet sich zum überwiegenden Teil in völliger Unordnung, vom Staat bis zur Familie herunter. Descartes gibt zu, daß er einschränkend nur diejenigen meint, die unverbildet sind und ein gesundes Empfinden haben. Damit hebt er aber seine allgemeine Behauptung

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leider auf und macht sie wertlos. Denn daß Menschen mit gesundem Urteil ein gesundes Urteil haben, ist keine großartige Erkenntnis. Der große Philosoph des alten Griechenland, Aristoteles, hat dagegen in seiner Schrift »Politik« gesagt: Da es für die Demokratie wesentlich ist, daß völlige Gleichberechtigung herrscht, und da es hierbei allein auf die Zahl, die Quantität, und nicht mehr auf die Qualität ankommt, ist die Folge, daß die Beschränkten und Unwissenden mehr Stimmen zusammenbringen als die Kritischen und Erfahrenen. Heute kommt noch die ungeheure Macht der Massenmedien hinzu, die durch Manipulieren von Nachrichten, ja, allein schon durch geschicktes Präsentieren von »photogenen« Gesichtern die Masse des Volkes dirigieren können. Das gefundene Fressen für sie sind die Denkfaulen und die rührend Gutgläubigen. In der Demokratie Italien, hochgeachtetes Mitglied der demokratischen europäischen Gemeinschaft, ist auf vielen staatlichen Formularen heute noch, 1977, die Rubrik fest eingedruckt: Analphabeten müssen ihr Kreuzzeichen von zwei Zeugen bestätigen lassen! Die zweite Antwort, die möglich und sehr beliebt ist, vermeidet, die Mehrzahl der Menschen für klug und uneigennützig zu halten; sie argumentiert so: »Jeder ist dort, wo der Wille des Volkes strikt verwirklicht wird, wenigstens seines eigenen Glückes Schmied. Das Recht, seines Glückes Schmied zu sein, hat jeder Mensch.« Diese Antwort hat auf den flüchtigen Hörer noch nie ihre Wirkung verfehlt. In Wahrheit ist sie jämmerlich. Da ist zunächst die Behauptung, daß ein strikt verwirklichter Volkswille jedem die Befriedigung gebe, seines Glückes Schmied zu sein. Daran stimmt nichts. Wenn der Wille von 51% Bürgern durchdringt, ist es für die übrigen 49% ein sehr schwacher Trost, daß sie auch mitstimmen durften. Sie

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waren anderer, eventuell gänzlich entgegengesetzter Meinung. Ihr Wille, wie das Glück zu schmieden sei, wurde also nicht verwirklicht. Da man im Leben nicht zwei entgegengesetzte Meinungen gleichzeitig durchsetzen kann, steht die Demokratie wie jede andere Regierungsform vor der Notwendigkeit, den Willen eines großen Teils des Volkes einfach zu ignorieren. Nun wollen wir uns den zweiten Teil der Antwort ansehen. Da wurde behauptet, jeder habe das Recht, seines Glückes Schmied zu sein. Es ist klar, daß das nie zu verwirklichen ist. Keineswegs schmiedet jeder nur für sich selbst wie in einem Ein-Mann-Staat zu Neandertalers Zeiten; er schmiedet automatisch am Glück, vor allem am Unglück, aller anderen mit. Wenn erwiesen ist, daß einer ein sehr schlechter, geradezu selbstmörderischer Schmied ist, dann wäre es nicht nur unmoralisch, es wäre auch geradezu gesellschaftsfeindlich, ihm das Recht zum Schmieden zuzugestehen. Die Antwort ist nicht mehr als eine flache Redensart. Die dritte nun ist die weitaus vorsichtigste: »Alle Bedenken gegen Quantität über Qualität mögen zutreffen, aber zwei Vorteile der Demokratie lassen sich nicht leugnen: nämlich, daß bei keiner anderen Regierungsform eine Opposition sich so furchtlos melden kann, und ferner, daß das Volk als Ganzes weniger leichtfertig mit Menschenleben umspringt und weniger besessen handelt, als es einzelne Machthaber oder Gruppen tun.« Ich glaube, den ersten Teil der Antwort können wir vom Tisch fegen, seit uns »Demokratien« vorgeführt haben, wie sie furchtlose Opponenten an die Wand stellen oder ins Irrenhaus stecken. Aber der zweite Teil, der, den Sie wahrscheinlich benicken, ist weitaus interessanter.

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Im Jahre 399 vor unserer Zeitrechnung, als Athen »Demokratie« war, wurde einer seiner größten Söhne vor ein Volksgericht gestellt und der Verderbung der Jugend angeklagt: Sokrates. Ah - werden Sie sagen, ich erinnere mich. Ja, Sie erinnern sich natürlich. Eines Morgens im Frühjahr jenes Jahres strömten die Athener zusammen, um das Urteil zu fällen. Jedermann wußte, daß die Anklage in dieser Form nicht stimmte, aber das Volk hatte Sokrates' spöttische Moralpredigten und Wortverdrehungen einfach satt und war wütend. Sokrates hielt - schon im Bewußtsein, daß es vergeblich sein würde - eine Verteidigungsrede, die zu dem Liebenswertesten gehört, was uns die Weltliteratur überliefert hat. Jedoch, das Volk wollte nicht. Mit dreißig Stimmen Mehrheit von fünfhundertundeins verurteilte es Sokrates zum Tode. Die »Opposition« wollte ihn retten. Es war in der Stadt ein offenes Geheimnis, daß die Gefängnistüren nachts offenstanden. Aber Sokrates war ein konsequenter Demokrat, er blieb und trank den Giftbecher. Das ist eine sehr lehrreiche Geschichte. Keiner der geistig führenden Männer Athens hätte dieses Urteil gefällt. Keiner von ihnen wäre so intolerant, keiner so von Leidenschaften verhetzt gewesen. Jedoch: Quantität ging vor Qualität. Wir wollen uns ganz besonders im klaren sein über einen tragischen Zug: Das Offenlassen der Gefängnistüren nach dem Urteilsspruch. Das hatte nichts mehr mit Oppositionsrecht zu tun, sondern war dem Buchstaben und dem demokratischen Geist nach ein Vergehen an der Demokratie. Denn die Mehrheit in einer Demokratie macht mit ihrem Beschluß nicht einen »Vorschlag«, sondern ein Diktat. Den Unsinnigkeiten und Schandtaten von Alleinherrschern steht eine ebenso lange Kette von

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Unsinnigkeiten und Schandtaten der Volksmassen gegenüber. Vierhundert Jahre nach Sokrates schlug das Volk der Juden Jesus Christus ans Kreuz. Der römische Prokurator Pontius Pilatus war gewillt gewesen, ihn zu retten. Vergeblich. Das Volk zog den Raubmörder Barabbas vor. Achtzehnhundert Jahre nach Christus war die Menge um keinen Deut zuverlässiger. Die Französische Revolution von 1793, die in der Geschichtsschreibung als glorreicher Beginn der modernen Volksbefreiung gefeiert wird, ist im einzelnen ein furchtbares Beispiel rasender Leidenschaften der verhetzten Massen. Die Revolution hat sich nicht nur an den Quälgeistern und Blutsaugern, dem König und dem verkommenen Adel, gerächt, sondern lief blind Amok. Die wenigsten Menschen wissen heute noch, daß von den vielen Zehntausenden von Ermordeten nur jeder zehnte ein Adliger oder »Volksfeind« war. Die anderen Opfer, die unter der Guillotine starben, waren einfache Bürger, kleine Leute, Bauern, Volk. Soll ich die Beispiele fortsetzen? Die Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag ist voll von Dokumenten über das totale Versagen des Volksempfindens.

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VII

Am 30. April 1789 trat George Washington sein Amt als erster Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika an. Man hatte als vorläufigen Sitz New York gewählt, bis Philadelphia wieder bezugsfähig sein würde. Washington, vom Süden kommend, überquerte die Bay in einer Barke; sie war mit rotem Samt ausgeschlagen, der als lange Schleppe noch auf dem Wasser nachschleifte. Es sah alles ein bißchen nach Lohengrin und Bayreuth aus. Auch die Stadt New York sah nicht imposanter als Bayreuth aus. Unter freiem Himmel leistete er vor einer großen Menge den Eid. Er dankte Gott, sonst niemandem, und er reichte auch keinem die Hand. Nun konnte das Regieren also losgehen. Aber bis zum Ende des Jahres tat sich überhaupt nichts. Das entbehrt nicht der Komik. Neun Monate Untätigkeit einer frisch eingesetzten Regierung können nur zwei Gründe haben: Entweder ist sie hilflos (wie etwa heute in Italien), und das Volk lebt auf eigene Faust so gut es geht; oder sie hält vergeblich nach Arbeit Ausschau wie ein neu niedergelassener Arzt nach Patienten. Fast traf das zweite zu. Es galt nirgends einzugreifen. Die größeren Städte verwalteten sich selbst zu aller Zufriedenheit, die Dörfer und Siedlungen kamen gut zu Rande, die Farmen hatten keine Scherereien. Der Alltag sah aus wie immer. Die Schuster kloppten auf den Schuhen herum, die Schneider nähten braune und schwarze Bratenröcke, die Leutnants hämmerten den Soldaten preußischen Drill und Steubensche Taktik ein, die Kontoristen saßen auf ihren

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hohen Schemeln und kritzelten, noch bei Öllämpchen- Licht, die Geschäftsbücher voll, die Ärzte hatten zu tun, die Kerzenzieher waren in Ordnung, die Schauerleute hat- ten nicht zu klagen, die Lehrer verhauten weiter die faulen Schüler, die Mütter verheimlichten wie eh und je, daß das zweite Kindlein nicht vom Herrn Gemahl war. Es herrschte auch Friede. Wie hätte ein neugeborenes, un- schuldiges Land auch etwas so Böses wie Krieg im Sinne führen können? Da war zum Beispiel früher mal, zur Zeit der Briten, die Indianerfrage gewesen. Die gab es gar nicht mehr vor lauter Friedensliebe. Der Kongreß beschloß und verkündete: »Jeder Indianerstamm, der den Interessen der Vereinigten Staaten freundlich gegenübersteht* soll die Möglichkeit haben, sich diesem Bund anzuschließen, einen Staat zu bilden und seine Vertreter in den Kongreß zu schicken.« Das ist doch nun wirklich nobel. Eine Angelegenheit gab es allerdings, die die Sonne etwas verdunkelte, eine disaströse Angelegenheit, und ausgerechnet sie war die einzige, die Washington sich selbst auf den Schreibtisch legte: die Schulden. Sie betrugen vierzehn Milliarden Dollar. Genaugenommen ging diese beängstigende Schuldenflut Washington nichts an, sie war Sache der einzelnen Staaten. Sie und nicht die Bundesregierung hatten sie gemacht. Man kann sich vorstellen, wie die amerikanischen Bürger aus allen Wolken fielen, als Washington erklärte, die Bundesregierung werde die gesamten internationalen Verpflichtungen übernehmen und für jeden Cent geradestehen. Die Situation war absolut verrückt. Bund und Staaten waren doch identisch! Und eine Regierung im Sinne eines Kabinetts gab es in der Verfassung überhaupt nicht. Washington konnte sich Sachbearbeiter nehmen, so viel

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er wollte, er war und blieb eine Ein-Mann-Regierung. Wer übernahm nun die Schulden? Washington persönlich? Hundert Dinge hätte der Präsident an sich reißen können; um die Schulden mußte er doch einen weiten Bogen machen! Die Amerikaner hielten den Atem an und warteten auf den Knall, mit dem die Seifenblase platzen würde. Washington berief als erstes vier Männer zu seinen »Staatssekretären«, und übertrug ihnen die einzelnen Ressorts. Thomas Jefferson, der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, übernahm die Außenpolitik. Für das Heer und das Kriegswesen wurde »General« Knox verantwortlich, der einstige Buchhändler aus Boston; seine rechte Hand: Steuben. Randolph, ein vornehmer Herr aus Virginia, übernahm die Justiz und das Amt des Generalstaatsanwalts. Nun fehlte noch der Schatz-Sekretär, der statt eines Schatzes den Schuldenberg vorfinden würde. Washington erinnerte sich jenes dynamischen Rechtsanwalts aus New York der schon beim Verfassungskongreß Un- mögliches möglich gemacht hatte, Alexander Hamiltons. Hamilton nahm die Berufung ohne Zögern an. Er war zu diesem Zeitpunkt ganze zweiunddreißig Jahre alt; vielleicht lag's daran. Er krempelte die Ärmel hoch und legte los. Zunächst er- hob er Steuern, die an den Bund abzuführen waren. Washington sah, daß sie maßvoll waren und die kleinen Leute nicht betrafen, und unterschrieb. Das war ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber es war ein wichtiger Versuchsballon für die Macht des Bundes. Dann kam der entscheidende Schachzug: Hamilton überredete eine Reihe von finanzstarken (sehr starken) Männern, unter der Hoheit des Bundes eine Bank zu gründen, die er Staatsbank nannte. Sie sollte das alleinige Recht haben, eine neue Währung herauszugeben, die in allen dreizehn Staaten gesetzlich gültiges Zahlungsmittel und von der

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Bank garantiert werden sollte. Hamilton war entschlossen, va banque zu spielen, den gesamten im Umlauf befindlichen alten Papierplunder einzuziehen und auf Heller und Pfennig mit dem neuen garantierten Dollar zu bezahlen. Den finanzstarken (sehr starken) Herren trat zwar der Angstschweiß auf die Stirn, aber, je nun, sie unterschrie- ben. Washington setzte seinen Namen unter das Gesetz- Amerika hatte die Inflation beendet und eine neue Währung. Der Prüfstein ist immer das Ausland: Wie reagierte es? Frankreich war mitten in den Revolutionswirren, sein Notgeld war nicht die Druckkosten wert; es hätte jeden Dollar blind genommen. England, in der Zwangslage, sich im Überseehandel mit den Vereinigten Staaten zu arrangieren, zeigte Vertrauen und nahm es - natürlich hielt es mit der anderen Hand Hamilton sofort die Schuldscheine unter die Nase.» Es traf ihn nicht unerwartet. Der nächste Schachzug war schon in vollem Gange. Er bestand darin, daß die Bundesregierung herrenloses Land zum Staatsland erklärte und zu Schleuderpreisen verkloppte. Die Folgen überblickte Hamilton durchaus, er nahm sie in Kauf, und die Schreie der Empörung über die Spekulanten und Währungsgewinnler ließen ihn kalt. Es eilte; er mußte Parforce reiten! In Massachusetts allein wurden neun Millionen Morgen losgeschlagen. Herr Minister Knox sicherte sich anderthalb davon und zahlte einundzwanzig Cents pro Morgen. Vier Millionen kaufte der gutsituierte Herr Macomb im Bereich von New York für je acht Cents. Ein Sir William Pultenay und einige holländische Banken legten ihr gutes, hartes Geld in fünfzehn Millionen Morgen an. Auch Hamilton selbst beteiligte sich ein bißchen am Ontariosee. Ein Strom von Gold, Silber und Devisen floß in

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die Staatsbank. Hamiltons Rechnung war aufgegangen. Merken Sie sich: In den Vereinigten Staaten muß immer die Rechnung stimmen; die Moral kommt später und von selbst. Eine böse Bemerkung. Ich werde Ihnen auch sagen, warum ich sie so wichtig nehme und hingeschrieben habe: Hamilton hatte damals bewußt den Gedanken, das Geldwesen zum Fundament der Vereinigten Staaten und der Macht der Zentralregierung zu machen. Das war der Hebel, der ihm zur Verfügung stand, und er setzte ihn an, er war ihm adäquat, er war seines Geistes. »Vom Geld her in Gang setzen«, das ist seitdem tief verwurzelt im amerikanischen Menschen, es ist der Stern von Bethlehem, der ihnen einst erschien und an den zu glauben sie bis heute verdammt sind. Das Bankkonto ist der Adelsbrief Amerikas geworden. Ein schäbiger, aber ein beweiskräftiger für einen Calvinisten, denn Gott ist mit den Reichen. Ist er wirklich so schäbig? Haben diese Männer nicht den Staat gerettet? Haben sie nicht das Land als Dank und Ausweis dafür bekommen? Hat nicht auch Otto von Wittelsbach für Barbarossa dasselbe getan? Hat nicht auch er als Dank und Ausweis dafür das Land Bayern bekommen? Sollte das eine wie das andere keinen Schuß Pulver wert sein? Sie fragen mich? Der eine hat mit seinem Leben den König gerettet, ohne auf Dank zu warten; aus Treue. Der andere hat die Finanzen des Landes mit seinen Kröten saniert. Wer diesen Unterschied nicht begreift, ist eine Krämerseele. Ein Mann, der seine Stimme gegen diese zynische Etablierung eines Staates erhob, war Thomas Jefferson. Er erhob die Stimme leise, wie es seine Art war, aber schneidend. Eine schillernde Gestalt! Im Augenblick war er noch als Botschafter seines Landes in Paris, ein teuer aber salopp gekleideter Herr, ehemals, wie Sie sich erinnern werden, Advokat, äußerst

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gebildeter Herr aus Virginia; um von seinem Äußeren zu reden: groß, schmal, rothaarig, sommersprossig, mit leichter Aufwärtsnase und zu kurzer Oberlippe; um von seinem Geistigen zu sprechen: idealistisch bis zur Schwärmerei, zugleich zielstrebig, ja sogar intrigierend, in der Theorie ein Bruder der Masse, in der Praxis ein reicher Aristokrat. Träge und arbeitswütig zu- gleich. Er schrieb gut (Über die Phonetik des Altgriechischen und über amerikanische Vorgeschichte), er musizierte gut, er war ein ausgesprochen begabter Architekt, einige der schönsten Landschlößchen Virginiens sind von ihm entworfen. Ein pedantischer Tagebuchführer und zugleich ein Bohemien. Er benutzte in seinem Hause die erste Vierundzwanzig- Stunden-Uhr, den ersten Bürodrehsessel, das erste funktionelle Bett. Verliebt in die Menschenwürde und die Duldsamkeit, begeistert für »Liberte, egalite, fraternite«, blind für die Scheußlichkeiten der Französischen Revolution. Ein begnadeter Mann, ein unheilvoller Mann. Ein kluger Kopf. Ein Dummkopf. Wenn Sie können, machen Sie sich daraus ein Bild. Schwer ist es nicht. In kleinerem Maßstab ist die Welt auch heute noch voll davon. Jefferson haßte Hamilton. Hamilton seinerseits gähnte, wenn Jefferson seine Gesänge anzustimmen begann. Der große alte Mann Washington saß dabei und hörte stumm zu. Wie die drei so dasaßen, ahnten sie nicht, daß sie die Urheber der politischen Parteien Amerikas werden würden, Hamilton und Washington der heutigen republikanischen, Jefferson der demokratischen; Jefferson kämpfte im »Kabinett« und wühlte im Volk gegen Hamiltons Ideen, gegen dessen Zentralisierungsbestrebungen, gegen dessen Sichstützen auf die Ober- schicht, gegen dessen Entmachten der Einzelstaaten und der Städte. Er schwärmte von

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Frankreich. Ein Agent Robespierres, der französische Gesandte »Bürger Genet« klopfte dem Bürger Jefferson anerkennend auf die Schulter, gründete Debattierklubs nach Pariser Muster, begann, Freikorps für Frankreich zusammenzustellen und heuerte Schiffe an. Kurzum, er benahm sich ungeniert. Washington mußte ihn wohl oder übel einmal empfangen. Er tat es, nachdem er vorher im Audienzsaal die Porträts Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes aufhängen ließ. Wenig später schmiß er ihn aus dem Land (Leider nur theoretisch. Ein Haftbefehl Robespierres kam ihm zuvor. Daraufhin begab sich Genet Groteskerweise als politisch Verfolgter in den Schutz der USA, wo er als wohlhabender Herr sein Leben beschloß.) Jefferson, Läppischerweise tief gekränkt, demissionierte. Er widmete nun sein vorläufiges Rentnerdasein den Diskutierklubs und den Herren Journalisten, die, sechstau- send Kilometer von der Guillotine entfernt, ihm entzückt lauschten. Die »öffentliche Meinung« begann sich be- merkbar zu machen. Auch hierin also war Jefferson in aller Unschuld der erste, der die Macht der Presse roch, lange bevor Paul Julius Reuter das Nachrichtenbüro erfand. In was, um Himmels willen, ließ sich Amerika da ein? Politik in des Wortes suspekter demagogischer Bedeutung hatte es bisher nie gegeben. Richtig. Aber nun, meine Herren, ist »der Staat« da! Faust hat sich dem Pudel verschrieben, dessen Kern wir seit Goethe kennen. 1793 wurde George Washington zum zweitenmal zum Präsidenten gewählt. Er war nun über sechzig. Körperlich gealtert, geistig resignierter.

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Das französische Problem war keineswegs nur eine Bagatelle. Es bestand immer noch der Bündnispakt! Jefferson hatte die Ansicht vertreten, daß die Pariser Revolutionäre die legitimen Rechtsnachfolger der Monarchie seien; Hamilton und Washington lehnten diese Auslegung ab, Washington, weil ihm alle Anarchisten verächtlich waren, Hamilton, weil er mit England, das gegen Robespierre kämpfte, ins reine kommen wollte. Da waren ja immer noch die englisch besetzten Forts im Hinterland, und da waren die noch ungeklärten lebenswichtigen Handelsfragen. Was bot Robespierre? Nichts. Was bot England? Handel. Eine leichte Entscheidung. Im Sommer 1794 schickte Washington seinen Vertrauten John Jay nach London, der auch tatsächlich mit einem Vertrag nach Hause kam. Die Fort-Besatzungen zogen ab, aber von »freier Schiffahrt, freiem Seehandel« war nicht die Rede. In London hatte man noch alle fünf Sinne beieinander; man gedachte nicht, das unterentwickelte Land Amerika so zu unterstützen, daß es in Bälde zu einer ebenbürtigen Macht werden konnte, man gedachte nicht, ihm die dicken Handelspfründe und damit den Geldsack zu überreichen. Das war, auf kurze Formel gebracht, der Jay-Vertrag. Der großen Mehrheit der Amerikaner, den Siedlern, Farmern*, Jägern, Pionieren, Handwerkern und Arbeitern war der Vertrag mitsamt Herrn Jay egal. Aber die Städte (Um diese Zeit lebten in Ortschaften mit über achttausend Einwohnern nur drei Prozent der Amerikaner. Diese drei Prozent konnten hundertmal so viel Lärm machen wie die anderen.) und fast alle großen Städte waren Hafen - die Städte mit ihren Unternehmern, Importeuren, Exporteuren, Fabrikanten und Reedern und den Tausenden, die mit dem internationalen Handel verfilzt waren, wandten sich von Washington und Hamilton ab. Die Forts interessierten

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plötzlich nicht mehr, Washington war ein Trottel. Vergessen war der Befreiungskampf, vergessen Trenton, Saratoga, Yorktown, vergessen die Not der Inflation, vergessen die Bank der United States. Hamilton war schlimmer als ein Esel; er war ein Verräter. Hamilton trat ab; und Washington wagte nicht, sich zum drittenmal zur Wahl zu stellen. Er wollte sich und Amerika die Schande der Niederlage ersparen. Sollte es wirklich so kommen? Es kam so. Sic transit gloria. Oder, wie wir Deutschen zu sagen pflegen: Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiß. Gewöhnlich trifft es ja die Kleinen, hier nun traf es einen Großen, und die haben den Vorteil, daß es ihnen schnuppe sein kann. Washington war es schnuppe. Er trat sang- und klanglos ab. Was hinterließ er? Außer ein paar guten Ratschlägen eine gähnende Leere. Der einfache Bürger konnte sich gar nicht vorstellen, daß es den Alten nicht mehr gab. War Washington nicht Amerika? War er nicht der Vater des Vaterlandes? Stand die Welt kopf ? Blödsinn. »Dieser Mann«, schrieb eine Zeitung, und es war pikanterweise die seines Schwiegersohnes, »dieser Mann war die Quelle allen Mißgeschicks unseres Landes. Wenn es jemals Augenblicke gab, sich zu freuen, dann jetzt.« 1976, anläßlich der Zweihundertjahrfeier zur Unabhängigkeit, ehrte der amerikanische Kongreß Washington, indem er ihn zum Sechssterne-General ernannte. Wahrhaftig, sie wagten es! Ein Haufen von zivilen Ignoranten und gescheiterten Militärs hatten die Güte, Washington zu befördern. Fast ist mir der Presselümmel lieber, der jenen Zeitungsnachruf schrieb. Aber das verstehen Sie sicher nicht.

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Man könnte den neuen Präsidenten mit einem neuen Kapitel beginnen, aber ich glaube, es lohnt sich nicht. Aus der Wahl ging John Adams hervor, den schon Washington zu seinem Stellvertreter ernannt hatte. Keine große Leistung also, keine neuen Ambitionen, keine Wagnisse. Es ist jener John Adams, der seit Beginn »dabei« gewesen war, sozusagen alter Kämpfer, einst Schüler von Otis wie sein Bostoner Verwandter Samuel Adams, aber nicht so verrückt, im Gegenteil ein inzwischen ruhig und besonnen gewordener älterer Herr. Auch er war Bostoner, vermögend natürlich und nicht ungebildet. Ein zeitgenössisches Porträt zeigt ihn, das weiße Haar in Locken gelegt, mit schmaler Nase und zu kurzer Oberlippe. Sie können ja schließlich nicht alle von Natur eine zu kurze Oberlippe gehabt haben; der Verdacht liegt also nahe, daß ab sechzig die Zähne rar wurden. Aber sonst schien es ihm gutzugehen, er hat Hängebacken, und um seinen kleinen Mund spielt ein leicht ironischer Zug. John Adams war von Haus aus Jurist. Sie alle damals, die eine Rolle spielten, waren keine Männer hinter dem Mond. Adams war Gesandter in London gewesen und wird dort in der Gesellschaft gewiß eine gute Figur gemacht haben. Er war einst auch mutig gewesen. Er war es, der Washington als Truppenführer herangeholt hatte, er war es, der die im »Massacre of Boston« angeklagten britischen Soldaten vor Gericht zu verteidigen gewagt hatte, na, und so weiter, was ein anständiger Mann so tut, der keine Angst hat. Sie werden sich fragen, warum ich John Adams so eingehend beschreibe. Offen gestanden, weil es sonst nur wenig zu berichten gibt. In den Geschichtsbüchern werden Sie zwar des langen und breiten über einen kleinen französisch-amerikanischen Krieg unter John Adams lesen können; ich empfehle Ihnen jedoch, es

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bleibenzulassen. Dieser »Krieg« ging aus wie das Hornberger Schießen. Kurz gesagt: Frankreich hatte den einstigen Bündnisvertrag zer- rissen und erklärte alle amerikanischen Schiffe, die es er- wischte, als Konterbande. Adams entsandte, um eine Versöhnung herbeizuführen, eine Abordnung nach Paris, die erst nach fünfmonatiger Wartezeit von Herrn Talleyrand empfangen wurde. Talleyrand hörte sich ihr Palaver an und teilte ihr dann mit, mit welcher Summe er bestochen zu werden wünschte. Die Amerikaner kehrten empört heim und berichteten dem Präsidenten und dem Kongreß. Die Reaktion war überraschend: Man erklärte Frankreich den Krieg! Wer sollte ihn führen, das war die Frage .angesichts der Tatsache, daß drüben gerade ein gewisser Revolutionsgeneral Bonaparte seinen Siegeszug durch Südeuropa angetreten hatte? Da half nur eine alte Requisite: Washington. Man pilgerte nach Mount Vernon! Washington schien der einzige zu sein, dem auffiel, daß zwischen den USA und Frankreich sechstausend Kilometer Wasser lagen. Erfand, daß ein maßvoller Kaperkrieg das einzige war, was einen bescheidenen Sinn hatte. Das sah man (erleichtert) ein, bat ihn jedoch, seine alte Generalsuniform noch einmal anzuziehen als Symbol für alle Amerikaner. Er zog sie an. Und irgendwann zog er sie wieder aus, denn der »Krieg« schlief endgültig ein, als für Napoleon England der Feind Nummer eins wurde. Das war's mit dem John Adams-Krieg. Zum Schluß tat John Adams noch etwas, abermals etwas recht Harmloses, das jedoch für alle Zeiten in die Ge- schichte einging: Er verlegte den Sitz des Präsidenten und der Bundesregierung von Philadelphia in ein kleines Nest. Dieses Nest war kein Dorf, es war sozusagen eine Stadt im Rohbau, also etwas besonders Scheußliches. George Washington hatte einst seine Liebe an diese Walhalla-

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Stätte gehängt, ihm hatte etwas von Ruhmeshalle, von Pantheon und römischer Klassik vorgeschwebt. Er hatte auch Geld hineingesteckt und vor Jahren schon den Grundstein zu dem »Capitol« gelegt. Inzwischen waren einige Pracht- bauten fertig geworden und der Kongreß beschloß mit diesem Umzug zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: einen sichtbaren neuen Anfang zu machen und zugleich ein Zugeständnis an den Süden, dem, wie heute den Bayern, die »Saupreußen« mit dem Nordstaatler Adams und dem nordstaatlerischen Philadelphia langsam reichten. Sie nannten dieses einstweilen noch etwas Potemkinsche Dorf nach seinem Gründer: Washington. Inzwischen ist daraus der Nabel der Welt geworden. Damit verabschiedete sich (wie er irrig annahm, einstweilen) John Adams, der zeitlebens geglaubt hat, ein besserer Präsident gewesen zu sein als George Washington. Nun können wir mit gutem Gewissen ein neues Kapitel beginnen, denn Amerika begann es auch. Jefferson kam!

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VIII

Zum erstenmal erlebten die Amerikaner eine Präsidentenwahl mit dem ganzen Hader, den Lügen, den Propagandaparolen, der ideologischen Verteufelung und Verhetzung, die unausweichlich sind, wenn Parteien in der Institution »Staat« das Machtinstrument sehen, das sie in die Hand bekommen müssen. Da es das Wesen einer Ideologie ist, sich nicht am Leben auszurichten, ist der Staat das einzige Instrument, mit Hilfe dessen man das Leben nach der Ideologie ausrichten kann. Der Wahlradau ging nicht so sehr von den »Föderalisten« (nicht nach heutigem Sprachgebrauch Gegner der Bundesmacht, sondern gerade umgekehrt Anhänger) aus, als vielmehr von der Gegenseite, die von Jefferson zu einer regelrechten Partei organisiert worden war. Ihren extremen Flügel vertrat ein Mann namens Aaron Burr. Die Ansichten über Burr gingen damals schon auseinander, sie reichten von »skrupellos« bis zu »Schurke«. Bezeichnend, daß sich trotz der Kandidatur von Jefferson auch Burr aufstellen ließ. Im ersten Wahlgang schied John Adams aus. Übrig blieben Jefferson und Burr. Nach sage und schreibe fünfunddreißig Wahlgängen siegte endlich Jefferson. Er verdankte den Sieg dem Einfluß seines »Feindes« Hamilton. 1801 trat Jefferson sein Amt an. Natürlich geschah es auf typisch volksbeglückende Weise: Er benutzte nicht die Staatskutsche, sondern marschierte zu Fuß durch die dörflichen Straßen zum Capitol. Nachdem er noch ein

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paar andere Mätzchen praktiziert hatte, wurde er ganz normal - zur großen Enttäuschung seiner Parteigänger und zum Staunen aller, die erwartet hatten, daß die Marseillaise die neue Nationalhymne werden würde. Nachdem er sich, seiner Kultur entsprechend, im Weißen Haus aufs beste eingerichtet hatte, ging er an die Arbeit. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß man ohne Macht nicht regieren kann, worauf er erst einmal sein Hauptprinzip »Entmachtung des Bundes« über Bord warf und ihm postwendend auch gleich ein anderes Ideal hinterherschmiß, das er einst gegen Washington und Hamilton bis aufs Blut verteidigt hatte, nämlich seine Überzeugung, daß der Bund nur so viel Handlungsfreiheit habe, wie sie die Verfassung ausdrücklich nenne. Washington hatte es anders gelesen: Die Bundesregierung habe alle Rechte, die ihr durch den Text der Verfassung nicht ausdrücklich genommen seien. Es trat ein Ereignis von ursprünglich geringer Bedeutung ein, für das er die neu interpretierte Handlungsfreiheit schleunigst in Anspruch nahm. Er erfuhr, daß Spanien seine Besitzungen am Mississippi und in Westflorida unter dem Druck Napoleons in einem Geheim vertrag an Frankreich abgetreten habe. Franzosen im Süden und Westen, und Franzosen vielleicht bald in Canada - das krempelte auch die heißeste Liebe zur Marseillaise in Jefferson um. Sollte die Welt vielleicht doch nicht so schön und der Mensch doch nicht so gut sein? Hier nun wurde endlich aus dem Saulus ein Paulus: aus dem Jefferson beinahe ein Hamilton. Sein erster Gedanke war klassisch amerikanisch: das muß mit Geld hinzukriegen sein. Rückblickend und in Kenntnis Napoleons ein verrückter Gedanke!

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Jefferson trug die Sache (immer schön mit leiser Stimme, mit vielen Abschweifungen und geistreichen Sentenzen) dem Kongreß vor. Was er wollte, war nichts weiter, als bei Napoleon mal in aller Unschuld anzufragen. Das erlaubte man ihm. Es reiste ein Mann hinüber, der später selbst Präsident werden sollte, James Monroe. Jefferson gedachte, fünfzig Millionen Francs lockermachen zu können und schärfte Monroe ein, notfalls vierzig Millionen allein für die Hafenstadt New Orleans zu bieten. Diese Stadt war imstande, den ganzen Südwesthandel Amerikas lahmzulegen. Monroe, der sicherlich tage- und nächtelang seine Rede repetiert hatte, denn er war kein Mann, der sich auf dem Parkett leicht zurechtfand, trat also vor den gefürchteten Ersten Konsul Bonaparte. Alles war sehr vergoldet, sehr plüschig, sehr löwig, sehr zackig, sehr einschüchternd. Seinem Ruf entsprechend schien Napoleon bereits genau informiert, auf dem bureau plat lag die Landkarte der Vereinigten Staaten. Die Audienz war kurz. Monroe holte gerade tief Luft, da war praktisch schon alles vorbei, Napoleon holte seine Pranke aus dem Westenausschnitt, legte sie auf die Landkarte und sagte: Einzelheiten interessieren mich nicht, alles oder nichts, sechzig Millionen Francs, au revoir. Napoleon stelzte hinaus. Monroe blieb vor Glück sprachlos. Ein Adjutant führte ihn zur Tür, wie man einen verdatterten Vater hinausbegleitet, der soeben die Nachricht über die Geburt von Drillingen erhalten hat. Jefferson war begeistert. Jetzt mußte also das Geld irgendwo her. Er wußte, daß er mit dem Kongreß nicht rechnen konnte. Man kann Kaufleuten, Anwälten, Plantageherren nicht klarmachen, warum sie fünfzehn

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Millionen gute Dollar für Wüsten und Wildnisse zahlen sollten, die für sie im Monde lagen. Er mußte also, den Kongreß vor die vollendete Tatsache stellen. Aber wie? Und hier nun tat Jefferson etwas Außerordentliches. Er brach die Verfassung, er unterschrieb den Staatsvertrag, ohne ermächtigt zu sein. Der nächste Schachzug, der seinen Stuhl retten mußte, war ebenso gerissen wie simpel. Ehe die Öffentlichkeit erfuhr, was der Präsident getan hatte, legte Jefferson in Eile dem Senat als zuständigem Gremium den Vertrag unter der schlichten Bezeichnung eines einfachen Handelsabkommens vor. Er habe doch bloß etwas gekauft, nicht wahr? Und das darf ein Präsident, nicht wahr? Immer schön mit leiser Stimme und vielen Abschweifungen paukte er das »Handelsabkommen« durch. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

*

Was war eigentlich los? Wenn Sie einmal den Atlas aufschlagen, so wird Ihnen schlagartig klar werden, was geschehen war. USA – das bedeutete bisher einen Küstenstreifen von einigen hundert Kilometern Breite von Boston bis Florida. Ein Netz von Capillar-Äderchen bildeten die Farmer und Settler, die nach Westen eingesickert waren. Der riesige Kontinent war im atlantischen Osten nicht mehr als angekratzt. Faktisch bedeckten die Vereinigten Staaten eine Fläche wie Frankreich. Napoleon verzehnfachte das französische Imperium um den Preis von hunderttausenden von Toten und um den Preis der völligen Verarmung Europas. Jefferson verzehnfachte die Vereinigten Staaten

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ebenfalls: ohne einen Toten. Napoleons Reich brach zusammen. Jeffersons Reich hielt. Es reichte nun anerkannt vom Atlantik bis fast zu den Rocky Mountains, vom Golf von Mexiko bis zu den Quellen des Mississippi am Oberen See. Aus dem ungehorsamen Sohn Englands mit seinem Streifchen Küste war ein Koloß von fast zwei Millionen Quadratkilometern geworden. Aber ein leerer Koloß. Ja, noch ein leerer Koloß; doch in hundert Jahren würde er gefüllt und das Arkadien der weißen Menschen sein. Jefferson hatte schon immer von diesem Arkadien geträumt. Vorher würde man sich noch mit den Indianern auseinandersetzen müssen. In melancholischen Stunden ahnte er, wie dieses Auseinandersetzen nur aussehen konnte. Nun - es würde ihn nicht mehr treffen. Er war jetzt über sechzig Jahre alt; sollten es andere tun. Als Jefferson 1805 zum zweitenmal gewählt wurde, hatte sein Schatzsekretär Gallatin die ganze Schuld von fünfzehn Millionen Dollar bereits abgetragen. Durch New Orleans blühte der Handel mit Mexiko auf, durch Spekulationsverkäufe und Zölle schwoll die Kasse an – lauter Maßnahmen, die Jefferson an Hamilton so verabscheut hatte. Gallatin erlebte seinen größten Triumph, als er seinem Präsidenten berichten konnte, daß die Bundeseinnahmen fast doppelt so hoch waren wie die Ausgaben. »Der Herr der Zukunft ist, wer sich wandeln kann«, nicht wahr? (Stefan George) Hatte er sich eigentlich gewandelt? Nicht freiwillig und nicht durch eigenes Reifen. Gewiß nicht. Es sieht eher so aus, als habe er Präsident und Privatperson säuberlich getrennt. Der private Jefferson war noch der alte linientreue Genösse. Es gibt einen typischen Fall: Als der Linksaußen Aaron Burr, von Hamilton als

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Gesetzesbrecher entlarvt, diesen zum Duell forderte und erschoß (das war »Mord« in den USA), flüchtete er zu seinem »alten Freund« Jefferson, und der »alte Freund« hielt die Hand über ihn. Und als Burr, politisch verfemt, im mexikanischen Hoheitsgebiet ein eigenes Reich errichten wollte und vom Bundesgericht des Hochverrats angeklagt wurde, sorgte der »alte Freund« für einen Freispruch. Hatte Jefferson sich gewandelt? Das Leben hat ihm die Flausen ausgetrieben, das war's. In Frankreich wäre aus ihm ein Mittelding zwischen Graf Mirabeau und Danton geworden; vor zwanzig Jahren hatte er einmal gesagt, jede Generation sollte ihre Revolution erleben. Er konnte dem Schicksal dankbar sein, daß er keine Revolution zu erleben brauchte; jede hätte ihn innerlich zerbrochen, denn er war darin ein Kind, das bei der Zerstörung seiner Puppe bitterlich weint. So, wie nun alles gekommen war, konnte er mit sich und der Welt in Frieden sein Amt 1809 in die Hände des nächsten legen. War er ein großer Mann? Weiß der Teufel, wie das Schicksal es fertiggebracht hat: Ja, er war ein großer Mann. Und er wäre in den Gehirnen der Heldensammler ein noch viel größerer, er wäre ein Napoleon, wenn er damals statt mit fünfzehn Millionen Dollar mit hunderttausend Gefallenen bezahlt hätte. Sie glauben es nicht? Ich glaube es.

*

Der nächste Präsident sah ganz so aus, als würde er eine Verschnaufpause werden, in der wir uns einmal im Alltag der Amerikaner ein bißchen in Ruhe umsehen könnten.

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James Madison, zu dessen Unsterblichkeit am meisten der Madison Square Garden mit Jack Dempsey, Max Schmeling und Cassius Clay beigetragen hat, war achtundfünfzig Jahre alt, als er vierter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde. Wieder ein Virginier, so daß man beinahe schon wie bei Kaisern »ein Bourbone« oder »ein Hohenstaufe« von »einem Virginier« sprechen kann. Als junger Mann war er bei der Unabhängigkeitsbewegung dabeigewesen, dann bei der Verfassungsgebung Virginias und schließlich als Staatssekretär unter Jefferson, ein offenbar kluger Mann, sonst wäre seine Laufbahn nicht zu erklären, denn Ellbogen hatte er nicht. Er war klein, unscheinbar und schüchtern. Nach landläufiger Vorstellung hatte er den Kopf eines Gelehrten, nämlich einen großen Schädel mit breiter, hoher Stirn, schmalem Kinn, im ganzen empfindsame Züge. Der richtige Mann, um vom Kongreß überspielt zu werden. Der Kongreß war es auch, der ihn 1812, nach drei ruhigen Jährchen, in ein lächerliches Abenteuer stürzte, das die Vereinigten Staaten den halben Kontinent hätte kosten können. Also, aus unserer Pause wird leider nichts. Wie es begann, ist heute fast unverständlich. England beschränkte immer noch den Überseehandel, zugegeben, aber die USA waren bisher nicht daran gestorben. Der Kontinent war im Norden, in Canada, noch englisch, zugegeben, aber sich das wegzuwünschen, waren nicht nur Träume, sondern auch sehr kriegerische Träume. Die Wahrheit ist, daß die USA sich an die berauschenden Erfolge Napoleons auf die peinlichste Weise anhängen wollten. Zu diesem Zeitpunkt gehörte dem Usurpator bereits das ganze europäische Festland, und er war auf dem Marsch nach Moskau. Sein nächstes

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Ziel würde dann wohl England sein. Da mußte man sich à la italiana rechtzeitig an seine Rockschöße hängen. Madison wurde eine lange Liste angeblich von England gekaperter Schiffe vorgelegt, die gefälscht war, so sicher wie das Amen in der Kirche. Ein Teil der Abgeordneten lachte ganz offen. Madison lachte nicht, ihm war unheimlich zu Mute. Er konnte nichts gegen die »war hawks«, die Kriegsfalken ausrichten, von denen der Kongreß voll war. Um einem eventuellen Irrtum vorzubeugen, muß ich hinzufügen, daß die »war hawks« nicht Rechte, sondern Linke waren. Die Demokraten, wie sie sich jetzt nannten, beherrschten das Repräsentantenhaus. Unglaublich, aber wahr: Amerika erklärte England den Krieg! Jefferson war überzeugt gewesen, daß es nie wieder Krieg geben würde, das stehende Heer betrug nur einige tausend Mann. Im selben Moment, als Napoleon in Rußland besiegt und seine Armee vernichtet war, fühlte England sich frei und warf seine Truppen nach Amerika hinüber. Es hätte eine Katastrophe werden können. Während einige amerikanische Regimenter eine ihrer dümmlichen Invasionen nach Canada versuchten, landeten die Briten in der Potomac-Bucht, stürmten auf Washington los und brannten es nieder. Die »war hawks« sind, wie ich Ihnen versichern kann, nicht mitverkohlt. Gut hielt sich die amerikanische Kriegsflotte. Sie bestand nur aus wenigen Schiffen, aber sie schlug sich (sogar vor Englands Toren) tapfer. Aus jener Zeit scheint die Liebe und der Stolz der Amerikaner auf ihre Marine herzurühren. Episoden! Der Ausgang des Abenteuers wäre übel gewesen, wenn nicht das Schicksal beschlossen hätte, dem lächerlichen

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Anfang des Krieges ein ebenso lächerliches Ende daranzusetzen. Der Zar, ausgerechnet der Zar, überredete auf dem Wiener Kongreß England, mit den USA Frieden zu schließen, nach einem Motto, das nach Siegen über Diktatoren sich mehr und mehr Beliebtheit erfreut: »Friede! Friede! Der Bösewicht ist weg, und wir übrigen sind gut und die Welt ist schön.« Am Heiligabend 1814 wurde in Gent der Friede geschlossen. Selbstverständlich nannte er sich »Ewiger Friede«. Das haben Frieden so an sich. Die nächsten Jahre brachte das amerikanische Löwenbaby damit zu, seine Wunden zu lecken und Washington wieder aufzubauen. 1817 übergab Madison nach zweimaliger Amtszeit seinen Stuhl einem alten Bekannten von uns, James Monroe. Er regierte - der letzte der virginischen Linie - bis 1825. Später nannte man diese Zeit »The era of good feeling« - die glücklichen Jahre. * Das waren die Jahre, als Beethoven seine Neunte Sinfonie komponierte, als Goethe die Marienbader Elegie erlebte, als Caspar David Friedrich den »Mondaufgang über dem Meer« malte, als Champollion das Geheimnis der Hieroglyphen entzifferte, als in Köln der erste Karnevalsumzug stattfand, als durch Berlin der erste Pferdeomnibus fuhr und die »Linden« zum erstenmal im Gaslicht erstrahlten. Das hört sich auch nach »good feeling« an, nicht wahr? Es waren überall glückliche Jahre - na ja, sagen wir: ziemlich glückliche. Wie kommt das? Es kommt, wenn nichts weltgeschichtlich Heroisches geschieht. Das sind jene Atempausen, in denen die Nemesis ein Nickerchen macht. Auch Völker müssen

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sich einmal die Hausjoppe anziehen und unter die Leselampe setzen, während auf dem Kachelofen die Bratäpfel schmoren. Ein bißchen ist es vielleicht hausbacken und spießig, aber nur ein bißchen, und davor braucht man keine Angst zu haben. Nur Schwächlinge wollen dauernd Helden sein. Renan nannte diese Jahre auch für Frankreich die glücklichsten. Es ist der »siebente Tag«, der Sonntag, an dem alles geschlossen ist. Im Atemholen, hat Goethe einmal gesagt, sind zweierlei Gnaden: die Luft einziehen, sich ihrer entladen; jenes bedrängt, dieses erfrischt; so wunderbar ist das Leben gemischt. Das Furchtbare ist, daß die Amerikaner, solange sie existieren, immer nur inhaliert haben. Im alten Europa begann damals die Windstille der Biedermeierzeit. Die Uhren rasten nicht mehr, die Zeit flog nicht mehr. Lange, lange hatten die Linden nicht mehr so schön geblüht. Es genügte, wenn man des Morgens die Fensterflügel aufstieß, den Himmel mit den ziehenden Wolken zu sehen, damit die Brust sich vor Freude spannte. War es so? Auch bei den Armen? Offenbar; denn gerade diese Szene hat Moritz von Schwind in einer ärmlichen Dachkammer gesehen und gemalt. Und Eichendorffs »Taugenichts« ist arm wie eine Kirchenmaus. Man entdeckte die kleinen Freuden wieder, die Pelargonien auf dem Fensterbrett, die lange Tabakspfeife, den Sonntagskuchen, den Mond über den Dächern, die Rehe am dunklen Waldrand. Man fühlte wieder, daß der Höhenflug eine Sache des Gemütes und nicht der Fäuste ist. Man war äußerlich bescheiden, aber im Herzen glühend. Ist das »Glück« ? Das ist ganz gewiß jenes Glück, das Gott gemeint hat. Er hat seinerzeit das Schwert nicht

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Adam gegeben, sondern seinen Erzengeln. Gloire kommt aus dem Lärm, Glanz aus der Stille. Auch das wirklich bewußte Leben. Je älter ich werde, desto sicherer weiß ich, daß man nur in den wenigen Stunden, in denen man von der Freude zu leben wie von einem Blitz getroffen wird, wirklich lebt. Wie viele sind das? Ich glaube, daß ein Rotkehlchen länger lebt als wir. Ach, Sie werden mich wohl nicht verstanden haben: Sie werden an Ibiza und an die Elferwette denken. Lassen wir's. Für Amerika, das immer ruhelos war, bedeutete »good feeling« etwas anderes. Es hatte ein »Ferien vom Staat«- Gefühl und konnte nun wieder ungestört Pläne schmieden. Alle Amerikaner dachten Tag und Nacht an die Zukunft, an eine ferne, auf die bei uns im alten Europa kein Glücklicher einen Gedanken verschwendet hätte. Alle Amerikaner standen unter dem Starkstrom der Erwartung. New York war nun schon eine große Stadt; keine anheimelnde, aber eine reputierliche und, man sah es ihr an, selbstgerechte. Vom Hudsonfluß aus konnte man sehen, wie lang es sich hinzog, wie groß es schon war. Es füllte schon fast die Manhattan-Insel bis zum Harlem-River. Im Hafen lagen die Atlantik-Segler, die den Reichtum brachten, aber auch von Norden aus dem Binnenland kamen Schiffe an, Lastkähne voll Salz, Korn, Kohle und Holz, denn soeben war der Erie-Kanal fertig geworden, der die großen Seen mit dem Hudson verband. Ein schmaler Kanal, doch ein stolzes Werk. Treidelpferde zogen die Schiffe zwischen Feldern und Wäldern und durch Schleusen über sechshundert Kilometer. Boston wirkte da direkt etwas zurückgeblieben. Das kommt davon, wenn man zu konservativ ist. Das ist falsch! Immer an der Spitze des Fortschritts sein!

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Auch mit Philadelphia und Richmond war es noch nicht weit her. Und Washington sah mehr wie ein Ausstellungsgelände aus als eine gewachsene Stadt. Natürlich, die Prachtbauten und Parks im Regierungsviertel waren eine Reise wert. Das Capitol konnte sich mit der St. Pauls Cathedral von London messen. Eine Sitzung im Repräsentantenhaus zu erleben, war unvergeßlich, wenn auch die hartgesottenen Hinterwäldler nie ganz den Verdacht loswurden, daß die Burschen im Grunde alle Tagediebe waren. Aber das Schauspiel war schon überwältigend: Der Saal mit der gewaltigen Kuppeldecke und die Reihen der Marmorsäulen hatten wohl nur noch im Pantheon des antiken Rom ihresgleichen. So sah es in den Städten an der Küste aus. Vor kurzem konnte man noch sagen: »Der Rest ist Schweigen«. Auch das stimmte längst nicht mehr. In den kleinen Städtchen landeinwärts lebte es sich gut. Hier saßen auch die Ärmeren fast alle auf ihrem eigenen Fleck Erde und in ihrem eigenen Häuschen, und hier faßten auch die Neueinwanderer schnell Fuß. Man fühlte sich gesichert und stark. Pioniere hatten diese Hunderte von bescheidenen Orten gegründet, und als Pionier fühlte man sich immer noch. Man war gottesfürchtig und achtete sehr auf sein Ansehen. Man besaß ein Drugstore oder eine Bäckerei oder ein Tuchgeschäft oder eine Pferdeausspannung oder ein boardinghouse, oder man war sogar Advokat und Arzt, oder man arbeitete im Dienste der Gemeinde, man war Stadtschreiber oder Sheriff, und die Söhne von diesem und jenem, dessen Sinn nach Hohem stand, studierten vielleicht in Harvard oder Yale. Beide gab es schon. Mister Harvard und Mister Yale hatten sie einst als eine Art Fachschulen gestiftet, aber jetzt waren es

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Universitäten, die für das Land die Wissenschaftler und Gelehrten schon in eigener Produktion auswarfen. Wenn die Söhne in den Ferien nach Hause kamen (die Wege waren leider in miserablem Zustand und die Reise dauerte tagelang), dann sah das Städtchen in ihnen neidlos die künftigen großen Männer, vorausgesetzt allerdings, sie achteten darauf, das Studentische abzustreifen und sich als einer der ihren zu geben. Sie zogen die alte Kluft an, griffen mal schnell zu Nagel und Hammer oder halfen die Pferde anspannen. Und sonntags gab es in schöner Gleichheit mit allen anderen Häusern Truthahnbraten. Man saß in der geschonten guten Stube, auf dem Tisch statt der so fortschrittlichen Plastikdecken noch das blütenweiße Leinen. Und zum Abschluß des köstlichen Mahls gab es Plumpudding, jenes Monstrum zwischen Paste und Kuchen, wie es Präsident Monroe, der Glückliche, jeden Tag essen durfte. Auch hier also sieht das »good feeling« idyllisch aus. Es täuscht, es scheint uns nur so. In Wahrheit waren alle diese Menschen voll von Tatendurst; auch hier tänzelten alle nur auf der Stelle wie Rennpferde, die nicht zu lange im Stall stehen dürfen.

*

Im Norden blieben diese kleinen Orte noch eine Weile so. Im Mittelteil und im Süden trat eines Tages eine Umwälzung ein. Eine schöne oder eine häßliche? Wir werden es gleich sehen. Ein Startschuß fiel. Der Starter war ein junger Mann namens Eli Whitney. Er besuchte nach einem Studium in Yale (da haben wir's) eine freundliche ältere Bekannte auf ihrer Baumwollplantage in Georgia. Whitney sollte, zu seinem Leidwesen, Lehrer werden; lieber wäre er Tischler

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geworden. Basteln und Tischlern war seine Leidenschaft. Dort bei der alten Dame hörte er von der Mühsal der Baumwollaufbereitung. Das Schlimme war das Entkernen, es ruinierte die Finger; ein Sklave schaffte, wenn er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeitete, ein Pfund Baumwolle. Es lag an der einheimischen harten Pflanzensorte. Eli grübelte ein paar Nächte darüber nach, dann ging er in die Werkstatt der Farm und begann zu basteln. Das hatten schon andere vor ihm getan, leider erfolglos. Als Eli Whitney aus dem Schuppen herauskam, hatte er die Baumwoll-Entkernungsmaschine erfunden. Erbrachte das erste Exemplar, einen nicht besonders großen, simplen Holzkasten mit Kurbel, gleich unter dem Arm mit. Anschließend führte er ihn vor. Er leistete etwa so viel wie ein Dutzend Arbeiter in der gleichen Zeit. Man hat nicht gehört, daß Whitney reich wurde. Das wurden andere, viele, und sehr, sehr reich. Der Gewinn lag jetzt in schwindelnder Höhe. Die Maschine arbeitete bald so schnell, daß die Pflücker kaum nachkamen. Die Farmer begannen, Land hinzuzukaufen, denn Baumwolle erschöpft den Boden schnell; bald hatten die Plantagen den Gürtel der kleinen Städte ereicht und okkupiert. Das Leben krempelte sich um. In den Ortschaften wurden Magazine angelegt, Maschinen aufgestellt; Neger zogen ein, die einheimischen jungen Männer wechselten die Berufe, gutes schnelles Geld lockte, Geschäfte vergrößerten sich, neue schössen aus der Erde. Aus den Pflanzern wurden Großunternehmer. Vor kurzem hatte die Baumwollausfuhr noch zweitausend Zentner betragen. Jetzt betrug sie dreihunderttausend. Hören Sie, wie die Kasse klingelt? Aus den Dörfern wurden Städtchen, aus den Städtchen

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Städte, und aus dem weiten Vorland der alten Staaten wurden neue, selbständige Mitglieder des Bundes (Die Verfassung sah vor, daß mindestens sechzigtausend freie Menschen ein Gebiet bewohnten, das ein Staat werden wollte). Es entstand Kentucky, es entstanden Tennessee, Alabama, Ohio, Illinois, Louisiana, Indiana und Mississippi. Alle fünf oder zehn Jahre prangte ein neuer Stern im Sternenbanner. Es ging mit Riesenschritten vorwärts, es war aufregend, very good feeling. Die alten Leute, die, die das alles erkämpft hatten, wurden ein bißchen überrollt. Aber wo werden sie das nicht?

*

Alles drängte jetzt nach Westen; die Unternehmer schoben automatisch die Welle der Pioniere und Siedler vor sich her. Es gab sehr viele Leute, die sich in den alten Orten nicht mehr wohlfühlten. Sie vermißten das, um dessentwillen sie einst gekommen waren: Die Weite, die Ellbogenfreiheit, das einfache Leben, in dem man sich ebenso einfach zurechtfinden konnte. Sie beschlossen, Haus und Hof zu Geld zu machen und aufs neue aufzubrechen. Auch für die Scharen von europäischen Einwanderern, die jährlich zu Tausenden hereinströmten, war der Zug nach Westen die beste Lösung. Sie waren vorher schon arm gewesen, hatten die Überfahrt (ein Bombengeschäft für die Reeder) mit den letzten Talern aus dem Sparschwein bezahlt und waren nun noch ärmer. Unter Monroe kamen besonders Hessen, Pfälzer und Badener, die nach den Napoleonischen Kriegen schlimme Hungerjahre durchlitten hatten, in das Land, in dem angeblich Milch und Honig floß. Emerson, Dichter und Unitarier-Prediger, schrieb über sie: »Die Deutschen sind

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für Amerika nur dazu da, um den Boden zu düngen. Sie kommen herüber, bestellen Land und legen sich dann hin, um selbst ein Stückchen grünen Rasens zu werden. Das ist ihre Kulturaufgabe für Amerika.« (Stellen Sie sich einen ähnlichen Ausspruch aus dem Munde Bismarcks vor!) Sie verstanden oft kein Wort Englisch. New York konnte leicht mutlos machen, jedoch ein paar hundert Kilometer weiter kehrte die Zuversicht zurück, man war in Pennsylvania, wo man wieder die ersten deutschen Laute hörte (Von 1808 bis 1839 waren, mit einer Ausnahme, dort alle Gouverneure gebürtige Deutsche), zum erstenmal wieder deutsche Aufschriften, Zeitungen und Plakate sah. Das war, als wäre man erwartet worden, das gab ein gutes Gefühl. Sie waren auch wirklich erwartet worden. An den Mauern klebte ein Anschlag, der uns erhalten ist, in deutscher Sprache:

»Für westliche Einwanderer! Jowa Land, im Thale des Des Meines Flusses. (es folgt eine Kartenskizze) Eine Million Acker. Zu verkaufen gegen Credit von der Des Moines Navigation Compagnie.«

Deutsche, Iren, Holländer und natürlich Amerikaner machten sich auf, den Kontinent zu durchdringen. Ein endloser Zug von Reitern und Planwagen wälzte sich gen Westen; fast alle nahmen die neuerbaute Nationalstraße vom Potomac nach Wheeling am Ohio. Dann begann der Weg ins Ungewisse. Zehn Jahre vorher wäre es noch für viele der Weg in den Tod gewesen. Sie wären direkt in die Pfeile und Tomahawks der Indianer gerannt. Es waren die Jahre des

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Tecumseh-Aufstandes. Nun war alles vorüber, der große Treck ging nicht mehr auf Leben und Tod. Ich fürchte, daß der Name Tecumseh keine Erinnerung in Ihnen weckt? Das ist schade. Dieser gewaltige rote Mann hätte der Washington des indianischen Volkes werden können - er war zu spät geboren. Die Indianer hatten den Kampf gegen die Weißen, die ihnen das Land und das Wild wegnahmen, nie mehr aufgegeben seit Pontiac. Aber nie vorher und nie mehr später standen die Roten so einmütig auf wie unter dem sagenumwobenen Tecumseh. Er war der Kriegshäuptling der Shawnee aus South Carolina. Der Weidegründe beraubt, der Büffelherden beraubt, vertrieben waren die Shawnee nordwestwärts gewandert, immer weiter gehetzt, immer in Sorge um die Nahrung, immer auf der Flucht vor den Gewehren der Weißen. Jetzt, unter Tecumseh, waren sie am oberen Ohio angelangt. Tausend Kilometer zurück lag ihre alte Heimat. Es genügte nicht. Die Weißen kamen nach. Sie konnten das Land zwar gar nicht füllen, aber sie wollten es haben. Wem gehörte es? Später hat der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten einmal das Urteil gesprochen, daß ein Indianer durch Abstammung und von Geburt fremdrassig ist und grundsätzlich kein Staatsangehöriger der USA sein kann. Die Siedler zogen mit der »KaufUrkunde« in der Tasche hinter den Shawnee her. Der Gouverneur des Indianerterritoriums, der berüchtigte William Harrison, hatte auf eigene Rechnung riesige Ländereien von den Indianern gekauft (bitte stören Sie sich nicht daran, daß die Indianer angeblich keine Besitzrechte hatten), er tat das auf einfache Weise, er lud Stammesälteste ein, machte sie betrunken und ließ sie für eine Flasche Schnaps den Kaufvertrag für, ' nun sagen wir, zehn

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Quadratkilometer Land unterzeichnen. Die Alten verfielen in Lethargie, sie wünschten, sie wären tot, ihre müden Körper unter dem Rasen der Prärie und des Waldes, ihre gequälten Seelen bei dem guten, traurigen Manitu. Die Jungen tranken. Der weiße »Pedlar«, der Hausierer mit seinem Planwagen und seinem abgetriebenen Klepper streifte durch die Indianerdörfer, unter den Ballen von Baumwolldecken und Tabak heimlich die Whisky-Fässer. So war die Lage, als Tecumseh sich entschloß, den Kampf aufzunehmen. Was für ein Entschluß war das? Das Gewehr zu nehmen, seine Krieger Pfeil und Bogen ergreifen zu lassen? Aufzubrechen? Wohin? Gegen wen? Tecumseh besaß nur ein paar hundert Krieger. Spartakus hatte weniger besessen. Nein, Tecumseh kannte Spartakus nicht, er kannte nichts und niemanden, der ihm die Hoffnungslosigkeit abnehmen konnte. Die Stämme waren untereinander in Zwistigkeiten verwickelt, die Zwietracht war die Saat des weißen Mannes. Zu viele Feinde, zu viele - Tecumseh hätte schon die Einigung der Stämme nicht geschafft ohne seinen Bruder, der eine geradezu hypnotische Redegabe besessen haben soll. Leider ein Charakterschwächling in roter Haut, ein Kleinmütiger, ein Größenwahnsinniger, ein Rechner, ein Phantast - der Segen und der Untergang Tecumsehs. Wie lang der Weg war von der ersten Rede bis zum Laden der ersten Kugel, wer kann das nachfühlen? Ein Weg voller Kreuzstationen. Hörten die Weißen schon das Knistern? Sie mußten es hören, denn die Pedlars wurden zum erstenmal verjagt, die Pelzhandelsstationen verödeten, kein Indianer kam mehr mit Fellen, jeder Handel hörte auf. Die Amerikaner wurden nervös. Auch »Registrierkassen

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haben Nerven. Es genügte. Gouverneur Harrison erschien eines Tages plötzlich vor dem Dorf der Shawnee und überfiel es. Die Brüder Tecumseh waren nicht unter den Toten. Als Harrison Erfolgsmeldung nach Washington machte, nannte man ihn den »Helden von Tippecanoe«. Das Maß war voll. Tecumseh rief die Krieger der Nachbarstämme zusammen. Es werden tausend oder zweitausend gewesen sein. Während sein Bruder, der »Prophet«, mit Engelszungen redete und die Krieger beschwor, einig zu sein und an ein glückliches Ende zu glauben, befielen Tecumseh wieder Zweifel. Er fürchtete nicht den Tod, er fürchtete, Fehler zu machen, die das Ende bedeuten würden. Er rang sich dazu durch, sich den kanadischen Engländern zu offenbaren. Er bat um Hilfe, er beschwor sie. Die Briten sagten tatsächlich zu. Die beiden Verbündeten vereinten sich am Ufer des Ontario-Sees. Die Spione meldeten es dem Gouverneur. Gouverneur »General« Harrison rückte mit starkem Heer vor. Tecumseh nahm die Schlacht an. Es sah gut aus. Und dann kam das Verhängnis. Der »Prophet«, der eine Abteilung führte, setzte sich in blindwütigem Haß gegen die Weißen über einen Befehl seines Bruders hinweg, griff zu früh an und verriet dadurch die ganze Strategie der Umklammerung. Gott war mit den Amerikanern. Unter den Toten lag auch Tecumseh. Irgendein Verrückter nannte später eine Stadt in Nebraska nach ihm. So war das damals gewesen. Seitdem herrschte Friedhofsruhe. Die großen Trecks brauchten nicht mehr viel zu fürchten. Wirklich: Glückliche Jahre. Wenn die Amerikaner unter das Soll und Haben dieser Zeit die »Buchhalternase« (So nannte man bis vor

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kurzem noch das große Z-Zeichen, das den leeren Teil der Seite abschloß, um zu verhindern, daß noch etwas nachgetragen wurde) setzten, ging die Rechnung zufriedenstellend auf. Auch ganz Florida gehörte nun ihnen. Monroe hatte die spanische Enklave beinahe gütlich von Spanien für fünf Millionen Dollar gekauft. Ehe James Monroe sich 1825 verabschiedete, verfaßte er noch eine Proklamation. Er hätte sie eigentlich als Rede vor dem Kongreß halten sollen, aber er war noch nie ein Freund von Auftritten gewesen. Er schrieb sie also nieder; sie zeigt eine kleine, exakte Schrift, eine Zeile wie die andere, sehr sauber. Nur bei den energischen Abstrichen des y ist fast jedesmal die Tinte zu winzigen Pünktchen abgespritzt. Diese Proklamation, die später unter dem Namen »Monroe-Doktrin« berühmt wurde, galt den Amerikanern bis zum zwanzigsten Jahrhundert als Stein der Weisen. Danach galt sie als Blödsinn. Sie besagt in kurzen Worten, die Vereinigten Staaten von Amerika mögen es sich zum Grundsatz machen, keiner fremden Nation eine Einmischung in ihre Angelegenheiten zu gestatten und sich auch selbst niemals in die Angelegenheiten einer anderen Nation einzumischen. Damit nahm Monroe seinen Hut und ging. Mit ihm die »glücklichen Jahre«. Sein Nachfolger, von dem alle wußten, daß er nur eine Interimsfigur war, wurde Quincy Adams, ein inzwischen auch schon in die Jahre gekommener Sohn des zweiten Präsidenten. Leben in die Bude brachte erst wieder der nächste. Wenn Sie ihn kennengelernt haben, werden Sie meinen saloppen Ausdruck verstehen und milde finden.

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IX

Mit großer Mehrheit und unter dem Jubel der Hinterwäldler wurde 1829 Andrew Jackson zum Präsidenten gewählt. Mit ihm zog zum erstenmal ein »einfacher Mann aus dem Volke«, ein Mann mit dem »Blockhütten-Geruch«, ins Weiße Haus. Wenn Sie den Verdacht haben, ich möchte ihn am liebsten einen Proleten nennen, so haben Sie recht. Alle, die seines Geistes waren, nannten ihn »Old Hickory«. Sie sahen in ihm also vor allem den knorrigen Kerl; was sie offenbar für besonders geeignet zu einem Präsidenten hielten. Er hatte noch einen zweiten Beinamen: »Indianer-Töter«. Seine Eltern waren aus Irland eingewandert. Mit fünfzehn Jahren wurde Jackson Waise. Er schlug sich in Tennessee, das damals einen finsteren Ruf hatte, mit großem Mut durchs Leben, nahm mit sechzehn Jahren eine Lehrerstelle an (er selbst war halber Analphabet), drei Jahre später trat er in ein Anwaltsbüro als irgendwas ein und nannte sich Jurist, mit einundzwanzig wählten ihn die Polypheme von Tennessee zum Staatsanwalt. Bald zog er in den Kongreß ein, sprang von dort zum Gouverneur über, wurde auch »General«, und kehrte als Old Hickory und Indianertöter hochbeliebt heim. Zu Hause angekommen, widmete er sich hauptsächlich drei Beschäftigungen: Er betrieb ein Drugstore mit Tabak und Pökelfleisch als Spezialität; ferner betrieb er einen ausgedehnten Handel mit Sklaven; und drittens betrieb er - und dies am intensivsten - den Rufmord an Präsident Quincy Adams. Er hatte schon vier Jahre zuvor Präsident werden wollen;

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warum auch nicht. Adams und die »bornierten Eierköpfe« aus dem Norden hatten ihm das vermasselt. Jetzt konnte der knorrige Old Hickory sich rächen, indem er über die dankbaren demokratischen Gazetten verbreiten ließ, Adams sei, als er Gesandter in Moskau war, professioneller Zuhälter gewesen, er sei außerdem ein Verschwender und werfe Steuergelder für seine Spielleidenschaft hinaus (Adams hatte auf eigene Kosten ein Billard in seiner Wohnung aufstellen lassen) - na, und was man eben so alles erfinden kann, Sie wissen schon. Nun war es soweit - er war Präsident des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten. Zu Fuß, wie einst Jefferson, begab er sich zum Capitol. Der kleine Unterschied bestand darin, daß Jefferson als einsamer Johnny Walker dahergekommen war, während Jackson die Spitze eines langen Zuges von Fans bildete. Es herrschte schlechtes Wetter, er und das Capitol wurden gleichermaßen schmutzig, aber was ficht das einen Old Hickory an! Anschließend an seine Vereidigung gab er ein großes Gelage für alle Kumpels, man raufte sich an den Büfetts, betrank sich anschließend mit Punsch, zertepperte das Porzellan und bepflasterte die Teppiche mit Kautabak. Wollen Sie wissen, wie Jackson aussah? Wie Old Wabble in Karl May's »Surehand«, lang, dünn, etwas verkrampft forsch (in seinem Körper steckten immer noch mehrere Kugeln), wallendes graues Haar à la Franz Liszt. Das Gesicht - ja, was für ein Gesicht war das? Auf einem Gemälde, das mir vorliegt, sieht er aus wie ein Reverend der High Church; auf einer Fotografie (!) tritt ein anderer Jackson zutage; die Züge sind hier deutlich geistlos, im ganzen primitiv; sie verraten (nicht etwa der zahnlose Mund, sondern die Augen) die Anlage zur Bösartigkeit. Eigentlich sieht er aus wie ein verbitterter, von allen

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Gesellen gefürchteter Handwerks-Innungsmeister. Ich glaube nicht, daß Sie mir widersprechen würden, wenn Sie das Foto lange ansähen. Jackson gilt als Erfinder des sogenannten Beutesystems. Das Wort sollte ausdrücken und drückt auch plastisch aus, daß der Staatsapparat mit allen Posten eine Beute des jeweiligen Präsidenten und seiner Parteigänger wurde. Quincy Adams hatte Fachleute in alle Schlüsselstellungen berufen oder die alten Beamten belassen. Andrew Jackson warf sofort jeden hinaus, der nicht zuvor für ihn gewesen war. Er machte tabula rasa. So knorrig war Old Hickory. Er hat auch einmal sein halbes Kabinett entlassen, weil die Herren die Frau Gemahlin seines Kriegssekretärs gesellschaftlich schnitten. Die Dame war die schlecht beleumundete Tochter eines Kneipiers. Verwunderlich übrigens; demnach müssen einige Staatssekretäre Old Hickorys doch noch höher gestanden haben als ein Destillenwirt. In den acht Jahren seiner Präsidentschaft hat Jackson ununterbrochen im Topf gerührt und Unruhe gestiftet. Er ging sogar einmal mit Militär gegen South Carolina vor, das sich vom Bund lösen wollte, weil es durch unsinnige Bundesgesetze in ernste Schwierigkeiten geraten war. Vernünftige Politiker sorgten dafür, daß der jähzornige, vielleicht auch schon etwas senile Jackson sich noch rechtzeitig beruhigte. Wozu die ewige Verunsicherung und Unruhe? Falls Sie sich diese Frage stellen, muß ich Sie ernstlich ermahnen. Es ist ein Ideologe am Werk, und ich sagte Ihnen bereits, daß Ideologen sich nie am Leben, auch nicht an einem paradiesischen, ausrichten, sondern stets das Leben an der Ideologie. Drum werden sie niemals fertig, bevor wir als Ruinen oder als Ameisenstaat enden. Old Hickory hatte viele Ideen, alle waren sehr idealistisch, sehr edel. Zum Beispiel haßte er die Macht des Geldes, was zu verstehen ist. Leider hielt

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er das Unabänderliche und das Abänderliche nicht auseinander. Er ging also frohen Mutes daran, »die Macht des Geldes« zu zerschlagen. Und er wollte den wilden Spekulanten den Hals umdrehen (dies natürlich nicht wörtlich, sie waren ja keine Indianer). Sein erstes Opfer war die Bundesbank. Sie war zwar eine halb private Gründung, aber ihre außerordentlichen Privilegien hatte sie vom Bund erhalten, und zwar nicht für alle Ewigkeit. Der Bundesstatus mußte periodisch erneuert werden. Die Bundesbank war eine Macht. So war sie gedacht. Sie garantierte die harte Währung, sie war ein Pfeiler, auf dem die USA ruhten. Die Bank ging allerdings auch oft selbstherrlich mit ihrer Macht um, sie vergab »Kredite«, die manchmal einer Begünstigung gleichkamen. So war es nicht gedacht gewesen, es hatte allerdings auch nie jemandem weh getan. Diese Willkürakte der Bank waren natürlich nicht der wahre Grund für Jacksons Eingreifen. Der wahre Grund war, er wollte das Symbol treffen, das Goldene Kalb stürzen. Bei der Prolongierung des Bundesstatus der Bank legte er sein Veto ein und verbot alle künftigen Zahlungen in die Kasse der Bundesbank. Die Gelder flössen jetzt in die Banken der einzelnen Staaten. Das Goldene Kalb blökte und wackelte. Der Dollar fiel. Der Überseehandel kam ins Stocken, der ganze Osten erschrak. Das Proletariat in den Städten, von seiner Presse liebevoll über die bösen Banken aufgeklärt, und die Siedler im Westen jubelten. War er nicht ein großer Mann, unser Old Hickory, ein wahrer Vater der Armen? Vater holte zum zweiten Schlag aus, und der traf die Vereinigten Staaten nun wirklich ins Mark. Er brachte ein Gesetz durch, daß alle öffentlichen Verkäufe und alle Kredite nur noch auf Hartgeldbasis erfolgen durften. Jetzt ging es also den spekulierenden Banken an den Kragen.

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Die Wirkung war grandios. Nur Narren wissen nicht, daß die Wirtschaft von indirekten Krediten, von Stundungen, von Garantien, vom Gutsagen lebt und nicht von Ruckzuck-Geschäften. 1836 waren sechshundert Banken zusammengekracht, neun Zehntel aller Fabriken bankrott, Zehntausende von Arbeitern arbeitslos. Firmen, die einen Wert von einer Million Dollar gehabt hatten, konnte man nun für zwanzigtausend bar in fünf Minuten kaufen. Wer? Wer hatte für einen »öffentlichen Kauf« zwanzigtausend harte Dollars in der Truhe? Die lebensgefährliche Wirtschaftskrise dauerte sieben Jahre. Ja, was Old Hickory machte, machte er ganz, der alte Haudegen. Sagte ich schon, daß er auch Bigamist war? Er wurde achtundsiebzig Jahre alt, mit mehreren Beinbrüchen, mit Kugeln im Leib, mit Verkalkung, mit Rheumatismus und offener Tuberkulose. Was dem lieben Gott manchmal gefällt! Da kann man nur staunen.

*

Ich muß Ihnen gestehen, daß mein Bedarf an »bedeutenden« Präsidenten wieder für eine Weile gedeckt ist. Die Geschichte tut mir den Gefallen; die nächsten sind ohne große Bedeutung. Wir können sie da liegenlassen, wo sie liegen: in der Vergessenheit. Das heißt natürlich nicht, daß nichts los war! Das gibt es nicht bei der amerikanischen Mentalität. Bloß keine Ruhe, bloß kein Stillstand! Bewegung, Taten! Unruhe ist das Leben, Geld ist der Gutschein für Glück! Man sollte meinen, daß wenigstens die Hinterwäldler davon frei waren. Aber nein. Es gab viele Siedler, die das eben im Schweiße ihres Angesichts erbaute Farmhaus verkauften, um das Geld zu nehmen und weiterzuziehen. Ohne Träne, ohne Adieu! Vorwärts und immer was Neues! 1848

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wurde im Sacramentofluß Gold gefunden. Der Goldrausch kam wie ein Fieber über Amerika. In fünf Jahren wurde Gold für achtzig Millionen Dollar geschürft. Welch Segen Gottes! Gold vermag ja alles, alles! 1846 kauften die USA von England Oregon, das Gebiet an der kanadischen Grenze hoch im Nordwesten. Damit erreichten sie (»endlich«) den Stillen Ozean. 1848 kam nach einem vom Zaun gebrochenen Krieg mit Mexiko Texas zur Union. Damit Mexiko nicht weinte und auch Gott zufrieden war, zahlten die Vereinigten Staaten fünfzehn Millionen Dollar. Gold stillt Blut besser als Hansaplast. Gleich sprangen noch andere Gebiete in das Boot USA, in das Boot der Erfolgreichen, in das Glücksboot: die ursprünglich spanisch kolonisierten California, Neu Mexiko, Arizona, dann Nevada, Utah und einige Landstriche von Colorado und Wyoming. Alle freiwillig. Die Vereinigten Staaten reichten nun von einem Ozean zum anderen. Jeder Amerikaner, auch wenn er nichts damit anzufangen wußte, wuchs innerlich um zehn Zentimeter. Es war die Geburtsstunde des amerikanischen Größenwahns — eine Erscheinung, die man in der Geschichte gerade da findet, wo man sie am wenigsten erwartet: in den demokratisch revolutionären Nachwehen. Nach der Französischen Revolution von 1792 war der chauvinistische Wahn Frankreichs auffallend deutlich. 1854 verfaßte Amerika an die Adresse Europas eine Erklärung, in der es hieß, die USA benötigten für ihre Sicherheit Cuba, und sie hätten das göttliche Recht, Cuba den Spaniern zu nehmen, so oder so. Gerade den Demokraten war es aus der Seele gesprochen. In Euphorie erhoben sie einen Gleichgesinnten, James Buchanan aus Pennsylvania, 1857 zum Präsidenten. Aber Herr Buchanan mußte einstweilen auf das göttliche Recht,

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Cuba zu überfallen, noch verzichten. Es gab nämlich außer den USA noch einige andere Staaten auf der Welt, und die hatten das nicht gern. Auf die Unterjochung nichtamerikanischer Länder mußten die Ungeduldigen noch vierzig Jahre warten. Nicht in Cuba explodierte die Bombe, sondern in den Vereinigten Staaten selbst. Den Schwefelgeruch der Zündschnur konnte man schon riechen. Als Buchanan 1861 abtrat, wurde ein Republikaner* Präsident der USA: Abraham Lincoln.

*

Bilder von Lincoln, Fotografien, Zeichnungen, Gemälde, haben Sie sicher zu Hunderten gesehen. Er ist neben dem schon kyffhäusernen Washington der geliebteste Präsident der Amerikaner. Er hat, obwohl er alles andere als ein guter Redner war, wundervoll Sprüche zu kloppen verstanden. Daß er außerdem den grausamsten aller Bürgerkriege geführt hat, ist vergessen. Ich bin ja ungern ein Spielverderber, aber ich werde nicht umhinkommen, viel davon zu sprechen. Später. Lincoln war jung, als er gewählt wurde: einundfünfzig Jahre alt. Er war »armer Leute Kind« - nun ich schon die Platitüde benutzt habe, kann ich sie auch ungeniert vervollständigen: armer, aber ehrlicher Leute Kind. Sein Vater war Farmer in Kentucky, ein Bauer also, der sich von einem Tag zum anderen durchbrachte. Später ging es ihm besser. Logisch. Ein guter, wenn auch bitterer Anfang für Abraham

* Sieben Jahre zuvor war in Michigan endlich eine Gegenpartei zu den Demokraten zustande gekommen. Sie nannte sich republikanisch, - so hatten sich in ihren Anfängen die Demokraten genannt.

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Lincoln. Er wurde Landarbeiter, dann Tagelöhner, Holzfäller, wozu er sicher nicht geeignet war. Dann gelang ihm der Sprung zum Verkäufer und Commis, leider machte der Laden gleich pleite. Der Schleudersitz, wie die Piloten zu sagen pflegen - warf ihn auf den Stuhl eines Posthalters. Dort (wen, der die Post kennt, wundert es), hatte er viel Zeit, sich an Büchern weiterzubilden. Er wurde ein Selfmademan, aber kein hemdsärmeliger wie Old Hickory. Er war sehr fleißig. Bald reichte es, um eine Universität zu besuchen. In einer Biographie heißt es: »Er wurde Rechtsanwalt wie Jackson«. Diesen Satz hätte Lincoln sich - mild lächelnd - verbeten. Kann sein, daß er auch grob geworden wäre, das wußte man bei ihm anfangs nie. Später legte er sich eine dickere Haut zu. Die muß man als Präsident ja haben. Seit 1836 genoß er als Rechtsanwalt in Springfield schon einen guten Ruf. 1847 kam er als Abgeordneter ins Repräsentantenhaus. 1856 trat er der Republikanischen Partei bei. 1858 hielt er in Charleston eine Rede zu einem Thema, das in den Vereinigten Staaten allmählich zum Gespräch der Straße geworden war: zur Negerfrage. Um diese Zeit hatten die USA dreiundzwanzig Millionen Einwohner, davon über drei Millionen Negersklaven. »Ich bin nicht«, sagte Lincoln, »und war nie für die Verwirklichung, in welcher Form auch immer, der politischen und sozialen Gleichheit zwischen der weißen und der schwarzen Rasse. Ich bin nicht und war auch nie dafür, den Schwarzen das Stimmrecht zu geben oder das Recht, einer Jury anzugehören; auch nicht, daß man ihnen gestattet, öffentliche Ämter zu bekleiden oder sich mit Weißen zu verheiraten. Ich möchte dem noch hinzufügen, daß es einen physischen Unterschied zwischen der weißen und der schwarzen Rasse gibt, der sie meiner Meinung nach

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immer daran hindern wird, auf der Grundlage einer sozialen und politischen Gleichheit miteinander zu leben.« An der Rede fällt dreierlei auf. Erstens, daß sie schwunglos, fast pedantisch ist. Tatsächlich war Lincoln ein glanzloser Redner. Er nahm mehr durch seine zur Schau getragene Aufrichtigkeit gefangen, als durch die Fähigkeit zu begeistern. Zweitens fällt auf, daß er Rassist war. Und drittens, daß er zur Befreiung der Neger nichts sagte, weder dafür noch dagegen. Was wollte er also? Seine Partei wünschte offiziell die Aufhebung der Sklaverei; er also wohl auch. Wollte er die befreiten Sklaven wie Fische aufs Trockene schmeißen? Eine sphinxische Rede. Jedermann las heraus, was er herauslesen wollte. Um zu verstehen, warum die Sklavenfrage plötzlich so brennend geworden war, muß man etwas zurückgreifen. Sie schwelte seit 1820. Durch die Erfindung Eli Whitney's Sie erinnern sich - hatten sich die Baumwollfelder wie eine Flechte nach Westen und Norden über das Land gelegt. Mit ihnen die Negerarbeiter. Damals hatten die Nordstaaten im Kongreß durchgesetzt, daß der Ausbreitung der Sklaven eine Grenze gesetzt wurde. Im »Missouri-Kompromiß« wurde festgelegt, daß der Breitengrad 36,6, der die Südgrenze des Staates Missouri bildete, die Schranke nach Norden sein sollte. Es ging um handfeste wirtschaftliche Sorgen der Nordstaaten, es ging darum, den Bombengeschäften, die der Süden mit der Baumwolle machte, ein Stop entgegenzusetzen. Denn auch der Norden arbeitete in Baumwolle, aber in importierter, die zwar besser aber teurer war. Der Süden drohte die neue Finanzmacht* zu werden. Das war der springende Punkt. Würde der Norden zum Äußersten schreiten? Und was war das Äußerste? »Drohte« - ein Wort, das es zwischen Brüdern nicht

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geben dürfte. Ich erinnere mich, was Oswald Spengler einmal gesagt hat: »Das Leben ist Kampf unter Pflanzen, Tieren und Menschen, ob er sich bei den Menschen zwischen Einzelnen, Klassen der Gesellschaft, Völkern und Staaten, ob er sich nun in wirtschaftlichen, sozialen, politischen oder militärischen Formen abspielt. Es ist ein Kampf um die Macht, seinen Willen, Vorteil oder seine Meinung vom Nützlichen oder Gerechten durchzusetzen, und wenn andere Mittel versagen, wird man immer wieder zum Letzten greifen, zur Gewalt. . .« Und dann spricht Spengler ein prophetisches Wort - ». . . und wenn die Welt ein Einheitsstaat wäre, würde man die Kriege Aufstände nennen.« Amerika war ein Einheitsstaat. Kann ein Staat mit sich Krieg führen? Das ist nicht möglich. Aber er kann einen »Aufstand« niederschlagen. Schließlich hat auch Kain Abel erschlagen. Kansas und Nebraska, neue Territorien mit Agrarstruktur, die von nur wenig Weißen bewohnt waren, verlangten das Recht, über Sklaven- oder Nicht-Sklaven selbst zu entscheiden, auch wenn sie damit den Missouri-Kompromiß mißachteten. Der Norden setzte seine Propaganda-Maschinerie in Gang. Frau Harriet Beecher-Stowes, rührend weichherzige und ebenso rührend umorientierte Pastorsgattin, schrieb »Onkel Toms Hütte«, einen Neger-Roman, der seinen Siegeszug um die halbe Welt antrat. Plötzlich sah man »die armen Sklaven« nur noch gepeitscht, in Ketten oder von Hunden zerrissen.

* In Louisiana, wo das Zuckerrohr üppig gedieh, war es inzwischen gelungen, durch Einkochen von Zuckerrohr-Sirupweißen Kristallzucker zu gewinnen. Der weiße Zucker trat seinen Siegeszug an und wurde die zweite Trumpfkarte des Südens.

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Das Schicksal begann hörbar mit dem count down. Kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten war auch Lincoln schon umgeschwenkt. Er hielt eine Rede, die später berühmt wurde: »Ein Haus, das in sich selbst geteilt ist« (ich füge gleich immer den Kommentar, der sich einem unweigerlich aufdrängt, hinzu) »kann nicht stehen.« (Die USA bestanden von Anfang an aus vielen Teilen und hielten sich bisher vorzüglich.) »Ich glaube, daß unser Regierungssystem, halb für, halb gegen die Sklaverei, nicht von Dauer sein kann.« (Warum nicht? Bisher war es von Dauer gewesen.) »Ich erwarte nicht, daß die Union der Staaten sich auflöst, ich erwarte nicht, daß das Haus einstürzen wird.« (Sondern?) »Sondern ich erwarte, daß es aufhören wird, geteilt zu sein.« (Und wie?) »Es wird total das eine oder das andere sein.« Wovon spricht der Mann eigentlich? Ich errate nicht, welchen Kommentar hinter seinen letzten Satz Sie geschrieben hätten: ich lese daraus eine reine Kriegsdrohung. Auch dem Süden war es klar. Es war ihm mehr als klar, daß es nicht um eine plötzlich erwachte Moral ging. Die Neger sollten frei sein, sie sollten abwandern können, sie sollten rebellisch werden. Sie sollten Sand im Getriebe werden, sie sollten den Baumwollherren an die Kehle. Das war die »Moral«. Die Reaktion kam schnell und schlug wie ein Blitz ein: South Carolina erklärte seinen Austritt aus den USA! Totenstille. Der Norden rührte sich nicht. Das war noch vor Lincolns Wahl. Wenn der Süden gehofft hatte, seine Präsidentschaft zu verhindern, so irrte er. Lincoln wurde gewählt. Die Antwort der Südstaaten folgte auf dem Fuße: Weitere sechs verließen die Union, Florida, Georgia, Alabama, Mississippi, Louisiana und Texas. Eine Katastrophe bahnte sich an. Stellen Sie sich vor, alle deutschen Länder südlich des Mains verließen die Bundesrepublik! Die Südstaaten waren in echtem Revolutionsfieber, wie es sich Jefferson

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für jede Generation gewünscht hatte. Sie gründeten die »Konföderierten Staaten von Amerika« und wählten einen eigenen Präsidenten. Aller Augen richteten sich auf Lincoln, auf den ewig ironisch scheinenden, eckigen Lincoln. Äußerlich ruhig, wie meistens, trat er vor den Kongreß und sprach die denkwürdigen Worte (nicht berühmt geworden, weil etwas peinlich): »Ich beabsichtige nicht, mich direkt oder indirekt in die Einrichtung der Sklaverei, wo sie bereits besteht, einzumischen.« Man glaubt, nicht recht zu hören. Was war das? Eine Schlaftablette? Natürlich. Pfeif auf die Neger - sieben Staaten waren abtrünnig geworden! Das war jetzt das Problem. »Ich beabsichtige nicht. . .«, das war das einzige, was er im Moment verabreichen konnte. Was hätte er sonst sagen können? Ich weiß es nicht, und er wußte es offenbar auch nicht, weil es eine Telefonverbindung zwischen Washington und der Wallstreet in New York noch nicht gab. Er wartete noch auf den Postboten. Glauben Sie bitte nicht, daß das ein Scherz ist. Nehmen Sie nicht die Schale, aber nehmen Sie den Kern wörtlich. Hier, unter Lincoln, haben wir wahrscheinlich den Zeitpunkt zu suchen, an dem die Industrie und die Hochfinanz des Nordens die wahre Macht im Staate übernahm. Virginia richtete die Gretchen-Frage nach Washington: Es erklärte sich bereit, in der Forderung nach Freilassung der Sklaven nachzugeben, wenn Lincoln die prinzipielle Selbständigkeit der einzelnen Staaten garantiere. Lincoln antwortete: Nein. Der Postbote war also inzwischen angekommen. Dieses »Nein« hätte Lincoln liebend gern vertuscht, aber der ganze Süden erfuhr es natürlich sofort. Die Wirkung war verheerend: Virginia, North Carolina, Arkansas und Tennessee traten zu den Konföderierten über. Der Kladderadatsch war da. Vor einem Jahr noch

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wäre das unvorstellbar für jeden Amerikaner gewesen. Die Konföderierten bewiesen sogleich, daß man sehr wohl in einem zweigeteilten Hause leben konnte. Sie schickten die Bundesbeamten und das Bundesmilitär nach Hause und waren nun zufrieden unter sich. Unter sich, mit Ausnahme der Forts Sumter und Pickens, die die Bundesbesatzung nicht räumte. Das war ärgerlich und ein Schönheitsfehler, jedoch konnte man warten, bis die Herren Offiziere Hunger hatten. Lincoln machte Fort Sumter sofort zum Präzedenzfall. Er schickte Proviantschiffe los. Sumter (im Hafen von Charleston gelegen) war schon im Begriff, sich zu ergeben, als es das Corned beef ansegeln sah. Es lehnte jetzt ab. Die Regierung von South Carolina forderte den Kommandanten zum letztenmal auf, vergeblich. Im Morgengrauen des 12. April 1861 begannen die Kanonen der Festlandbatterien zu sprechen. Der erste Schuß, der berüchtigte »erste Schuß« aller Kriege, war gefallen. Vierundzwanzig Stunden später kapitulierte Sumter.* Lincoln sah rot. Abermals vierundzwanzig Stunden später machte er mobil. Alea jacta. Der Rubikon war überschritten, der Bürgerkrieg begann.

* Das Sternenbanner wurde unter Ehrenbezeigung und Ehrenschüssen niedergeholt. Es wäre gut, wenn Sie dies im Gedächtnis behielten. Es spielt noch die Rolle einer »Emser Depesche«.

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X

Es wird Sie vermutlich nicht reizen, über die staatsrechtliche Seite dieses Krieges nachzudenken. Mich auch nicht, aber es wird sich nicht umgehen lassen. Erlauben Sie mir daher, Ihnen das Häkeln abzunehmen. Wer in einer kriegerischen Auseinandersetzung den ersten Schuß abgegeben hat, ist hauptsächlich für die Journalisten interessant, zur Beurteilung der Rechtslage sehr selten. Man kann in einen Zugzwang geraten, man kann absichtlich in die Lage hineinmanövriert werden. So war es im Falle von Fort Sumter nicht. Jedenfalls nicht offensichtlich. Lincoln war der Ansicht, daß die Entsendung von Verpflegungsschiffen keinen feindseligen Akt bedeutete. Hätte Charleston die Schiffe passieren lassen, und zwar bis in alle Ewigkeit, so wäre Fort Sumter zweifellos in dem Moment in Zugzwang des ersten Schusses geraten, wenn sich vor seinen Augen konföderierte Kriegsschiffe zum Auslaufen angeschickt hätten. Anders ist es nicht denkbar, sonst wäre das Halten von Sumter zu einer reinen Farce geworden. Der Kommandant des Forts, Major Anderson, konnte nicht freiwillig kapitulieren, ohne vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Betrachtete er South Carolina als Mitglied der USA, so waren die Caroliner Rebellen. Betrachtete er sie als ausgeschieden aus der Union, so hatten sie ihm nichts zu befehlen. Sumter war Boden des Bundesheeres. Das Gouvernement von South Carolina argumentierte, der Bund sei etwas Abstraktes und besitze überhaupt keinen Quadratmeter Erde. Er habe sich zu

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entfernen, sobald er sich auf Terrain befinde, dessen Hoheit in keiner Verbindung mehr mit der Union stehe. In diesem Dilemma gibt es keine Klarsicht, wenn man sich nur mit den Folgeerscheinungen der fundamentalen Frage beschäftigt, statt mit dem Fundament selbst. Und die fundamentale Frage ist: Waren die Vereinigten Staaten von Amerika ein Bundesstaat oder ein Staatenbund? Wenn sie ein Staatenbund waren, so ist die Antwort leicht: Der Austritt der Südstaaten (also auch die Argumentation um Fort Sumter) war staatsrechtlich möglich und zu respektieren. Dann war Lincoln ein Angreifer und Imperialist. Wenn die USA aber ein Bundesstaat waren, wird die Antwort schwieriger und greift vom Formaljuristischen ins Ethische über. Denn das Wort »Bundesstaat« betont, daß der Bund selbst den Status eines Staates hat, während die Bezeichnung »Staatenbund« das nicht tut. Daß man sich aus einer Verbindung von Staaten lösen kann, ist klar. Aber kann man auch aus einem Bund ausscheren, der selbst ein völkerrechtlich anerkannter Staat, ein Großstaat ist? Dessen Teilnehmer nur Gliedstaaten sind? Dies war Lincolns Ansicht: Nein. Nie? Lincolns Antwort: Jedenfalls nicht so. Ich wiederhole: Nie? Lincolns Antwort: Die Frage ist nicht aktuell. Und damit hört die Debatte auf. Es wird eine Frage der Ethik. Lincoln hat einmal angedeutet, daß ein Austritt aus dem Bund (er sagte »Bund«, nicht »Staat«!) nur im Einverständnis mit allen anderen Gliedstaaten möglich sei, so wie auch der Eintritt nur auf diese Weise erfolgen konnte. Hier irrt Lincoln: eine Initialbedingung gebiert nicht zugleich dieselbe Finalbedingung. Auch eine Ehe kann bei Verschulden eines Partners gegen dessen Einverständnis gelöst werden.

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Die Frage - und hier sprechen Ethik und Anstand mit -ist: war die Ehe den Südstaaten, zum Beispiel South Carolina, noch zuzumuten? Offen zutage war längst getreten, daß Industrie und Hochfinanz des Nordens den »König Baumwolle« abwürgen wollten. Von Tag zu Tag waren neue Gesetze zu erwarten, die die Lage des Südens weiter verschlechterten. Das war keine Vermutung, das war Gewißheit. Wie weit darf ein Ehemann gehen? Wie weit könnte er, mit der Gewißheit der Unlösbarkeit der Ehe im Hintergrund, erpressen? Die Antwort der Wallstreet: Niemand wird erpreßt, wir wollen die armen Negersklaven befreien. Bravo! Da wären wir also wieder. Mit dieser Lüge, Schicksal, nimm deinen Lauf!

*

Als es kein Zurück mehr gab, hat Lincoln zu einem englischen Journalisten gesagt: »Mein höchstes Ziel in diesem Kampf ist die Rettung der Union, nicht der Schutz oder die Vernichtung der Sklaverei. Wenn ich die Einheit retten könnte, ohne einen einzigen Sklaven zu befreien, würde ich es tun.« Erschütterndes Geständnis, und zu spät. Ja, leider, sagen die amerikanischen Historiker, aber jetzt sei er zum großen Staatsmann gewachsen. Tatsächlich? Dann waren also die Abolitionisten* Dummköpfe? Sie wollten lieber den Süden abstoßen, als Zehn- oder Hunderttausende von Toten auf ihr Gewissen laden. Nein, sie waren keine Dummköpfe, sie waren nur vollständig unwissend darüber, welche Ziele die Wallstreet im Auge hatte.

*Eine starke Bewegung im Norden, die für die totale Bereinigung der Sklavenfrage durch die Trennung von den Südstaaten war.

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Und Lincoln scheint es - obwohl ich es kaum fassen kann - auch gewesen zu sein. Er klammerte sich an etwas, das sehr, sehr große Ähnlichkeit mit einer »Reichsidee«, mit dem alten Traum der Weltgeschichte hat. Dachte er nicht an Blut und Elend, die er heraufbeschwor? Ich weiß nicht, wie es in den Köpfen solcher Großveranstalter aussieht. Am 20. April 1861 hingen an den Wänden des ganzen Nordens der Vereinigten Staaten Plakate, die die armseligen Menschen aller Zeiten so gut kennen.

»Volunteers wanted! An attack upon Washington anticipated!! The country to the rescue!. . .«

»Freiwillige vor! Ein Angriff auf Washington erwartet! Zur Rettung des Vaterlandes! Nun ist es Zeit, sich anwerben zu lassen. Patriotismus und Liebe zur Heimat verlangen eine bereitwillige Antwort von jedem waffenfähigen Mann in dieser Stunde der Prüfung, nicht nur die Existenz der Regierung zu erhalten, sondern auch die Ehre der Fahne zu verteidigen, die so brutal durch die Verräterhände von den Mauern von Fort Sumter gerissen wurde.« Fünfundzwanzigtausend eilten, die Beschmutzung der Fahne von Fort Sumter zu rächen. Überwältigend war die Zahl nicht. Neunzehn Millionen Weiße zählte der Norden, fünf Millionen der Süden. Vierhunderttausend Neger lebten (zum Teil noch Sklaven) im Norden, dreieinhalb Millionen im Süden. Das stehende Heer des Nordens war klein. Man preßte hunderttausend Neger zum Kriegsdienst. Auch die reguläre Truppe des Südens war zahlenmäßig gering. Sie besaß jedoch hervorragende Offiziere. Es zahlte sich jetzt aus, daß die feudalen Pflanzer ihre Söhne fast alle erst West Point durchlaufen ließen, ehe sie die väterlichen Güter übernahmen. Die Militärakademie

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West Point (bei New York) galt seit zwei Generationen als das »Oxford« der Offiziere. Chef war der damals vierundfünfzigjährige Oberst Robert Edward Lee. Natürlich ein Virginier. An dem Tage, an dem das Mauerplakat aufrief, zu den Fahnen zu eilen, tat auch er es. Er schrieb an das Kriegsministerium in Washington einen Brief, der zwei Zeilen lang war. Er lautete: »Sir, ich habe die Ehre, Ihnen mein Ausscheiden aus meinem Amt als Oberst des I. Kav. Reg. anzuzeigen.« Er packte seine Koffer und »eilte zur Fahne« - aber zur anderen. »Jedes Volk« hatte der wandlungsreiche Lincoln (Ironie des Schicksals) dreizehn Jahre zuvor selbst gesagt, »wo auch immer, hat das Recht, sich zu erheben und die bestehende Regierung abzuschütteln, um eine neue zu bilden, die ihm besser geeignet scheint.« Lee erhob sich aus Liebe zu seinem engeren Vaterland und dessen Wohl, nicht um des Sklavenstreits willen. Er gab seine eigenen Neger im gleichen Atemzug frei. Er sollte als Oberbefehlshaber des Südens der bedeutendste General des Krieges werden, der bedeutendste, der humanste, der kultivierteste. Zum Oberbefehlshaber des Nordens avancierte der fünfundsiebzigjährige General Scott. Sie können den Namen gleich wieder vergessen. Im ersten Gefecht des Sezessionskrieges (wie die Amerikaner verschämt ihren Bürgerkrieg nennen) standen sich zwei Milizdivisionen gegenüber; die des Nordens zählte etwa dreißigtausend Mann, die des Südens weniger. Die Konföderierten standen auf südlichem Boden, die ändern auf Unionserde. Allerdings muß man hinzufügen, wo, um die Nervosität der Nordtruppen zu verstehen: nämlich am Potomac, und der fließt bekanntlich durch Washington. Von der Spitze des Capitols hätte man mit einem

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Scherenfernrohr die Konföderierten sehen können. So etwas macht leicht kopflos. Man überschritt also den Fluß und griff die Südstaatler an. Beide Seiten schlugen sich mit vaterländischer Begeisterung und kriegerischer Unerfahrenheit (Lee war noch nicht zur Stelle). Die Nordstaatler erlitten erhebliche Verluste und mußten sich zurückziehen, richtiger gesagt: fliehen, und ihre Niederlage wäre katastrophal gewesen, wenn der Kommandierende des Südens nachgesetzt hätte. Darauf warf Lincoln den armen Trottel Scott hinaus und berief ein frisches Blut, den vierunddreißigjährigen McClellan. McClellan erbat sich zunächst Zeit, um das Heer auf Vordermann zu bringen. Darüber verging der Winter. Im Süden arbeitete Lee an derselben Aufgabe. Es war ein Wettlauf mit dem Kalender. Es war auch ein Wettlauf McClellans mit der Unzufriedenheit Lincolns. Es wurde Frühling (62), und als der junge General immer noch an den Truppen herumbastelte, verlor der Präsident (oder New York) die Geduld und befahl den Angriff auf Richmond. Die beiden Hauptstädte Washington (Norden) und Richmond (Süden) lagen sich ja fast Auge in Auge gegenüber. Er gab McClellan hunderttausend Mann und ließ ihn auf Richmond los. Während der Süden noch keinen Fuß auf das Gebiet der Union gesetzt hatte, fielen die Nordstaaten also nun zum zweitenmal in das Territorium der Konföderierten ein. Das Ziel war genau das, das umgekehrt ein Jahr zuvor Lincoln als Aufputschmittel mißbraucht hatte: Die Hauptstadt sollte zur Ruine werden. Es wurde nichts daraus: Lee war inzwischen angekommen. Er operierte mit seinen geringen Mitteln brillant. Auch McClellan war natürlich kein Neuling, aber er war - was Lincoln schon gerochen hatte - ein Zauderer. So kam es, daß

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nicht er, sondern Lee plötzlich angriff. Er warf, als die Lawine ins Rollen geriet, alles, was er hatte, nach vorn, doch es reichte nicht zum großen Schlage aus. Fünfzig- auch nur zwanzigtausend Mann mehr, und der Krieg wäre vielleicht beendet gewesen. McClellan rettete seine Armee »über den Fluß und in die Wälder«. Man stand wieder dort, wo man vor einem Jahr begonnen hatte. Die Verluste dieser »Sieben-Tage-Schlacht« waren schwer; für den Norden beschämend (es kam zu ernsten Unruhen in New York), für den Süden unersetzlich. Und das ist schlimmer. In diesen Wochen trafen aus dem fernen Westen Nachrichten ein, die dazu angetan waren, die Lage der Konföderierten noch düsterer zu sehen: Unionstruppen waren über den Ohio nach Süden in Richtung New Orleans vorgestoßen und hatten zwei Forts mit fünf zehntausend Südstaatlern kassiert. Es war der Handstreich eines Mannes gewesen, der entgegen der Strategie seines Generals gehandelt hatte. Der Mann hieß Ulysses Grant, ein unbekannter junger Offizier, der unter dem Kanonendonner gerade seinen vierzigsten Geburtstag feierte. Beklemmende Nachrichten! New Orleans, das den Handel des Nordens blockieren sollte, lag ungeschützt da. Der Mississippi wimmelte von Kanonenbooten und Soldaten der Union. Kanonenboote - so etwas hatte es bis dahin nie gegeben! Der Norden hatte sogar Boote sehen lassen, die unter Wasser tauchen konnten. Die schlimmste Hiobsbotschaft aber war wieder die Zahl der Toten: elf tausend. Man fühlte, wie man langsam verblutete. Der einzige, der bei dem Zweifrontenkrieg nicht die Nerven verlor, war Lee. Er war überzeugt, daß der Krieg im Osten entschieden würde. Er fand den Vormarsch der Nordarmee am Mississippi ziemlich unnütz. Ein Beinbruch war höchstens der Eindruck, den

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das alles auf die Ignoranten an den europäischen Höfen machen mußte. Das war es, was Lee Sorge machte. Er hoffte von Tag zu Tag darauf, daß England und Frankreich sich offen auf seine Seite schlagen würden. Die Blockade, die Lincoln vor die gesamte Südküste gelegt hatte, mußte die Textilindustrie Europas über kurz oder lang in Schwierigkeiten bringen. Tatsächlich stand die baumwollverarbeitende europäische Industrie im Sommer 62 nahe am Bankrott. Lee drängte die Diplomaten. Die Diplomaten drängten Napoleon in., Napoleon m. drängte England. Lord Palmerston, der Premier, sagte nein. Warum ? Der edle Lord war sechsundsiebzig Jahre alt und, wie viele verknöcherte Greise, starrköpfig und vor allem erbarmungslos. Ihm gefiel es, daß Amerika sich zerfleischte. Ihm gefiel es, daß die Baumwollzucht in den USA zusammenkrachte. Er dachte weiter als die Fabrikanten, er dachte an die indische Baumwolle und an Ägypten, das sich ebenfalls auf die Gewinnung von Baumwolle verstand und in nächster Zukunft dringend einer Befreiung durch Großbritannien bedurfte. Selbstverständlich sagte Lord Palmerston das nicht. Es wäre shocking gewesen. Er sagte vielmehr, daß er Sklavenhaltung empörend fände. Gegen die Kinderarbeit in der Tiefe der englischen Kohlengruben hatte er nichts, sie waren ja frei und konnten es bleiben lassen. Mit der Zeit wurde klar, daß Europa nicht helfen würde. Was nun? Lee wurde der Mühe des Nachdenkens enthoben - der Norden griff an. Den Massen der großen Städte dauerte die ganze Geschichte überhaupt schon zu lange. Warum war der Gegner nicht bereits ausgeknockt? Der Norden hatte das doppelt so große Menschenreservoir (wobei der jeweils Ungeduldige sich selbst natürlich nicht mitrechnete),

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der Norden kontrollierte mit seinen Schiffen den Atlantik, der Norden besaß die Rüstungsindustrie. Gold Spring bei New York konnte allein schon dreitausend Kanonen und anderthalb Millionen Kugeln gießen. Vielleicht sollte man doch den Lincoln rausschmeißen? Das gibt es nicht! Man schmeißt immer den nächst Niedrigeren hinaus. Lincoln ernannte statt McClellan einen frischen Besen. Der neue Besen führte seine Truppen schnurstracks, wie befohlen, auf Richmond zu, das nun endlich fallen sollte. Lee ließ ihn marschieren. Dann griff er ihn im Rücken an und brachte ihm eine schwere Niederlage bei. Es geschah Ende August 62 bei Bull Run. Noch heute hört man diesen Namen im Norden nicht gern. Lincoln war empört. Er entließ den neuen Besen und rief McClellan zurück. Diese damned Untergebenen, sie machen immer alles falsch! Es gelang der Geduld McClellans, die Truppen zum Stehen zu bringen. Das war aber zunächst alles. Inzwischen brach Lee über den Potomac, um Washington und Philadelphia in den Rücken zu kommen. Wenn er die kleine Armee an sich vorbeiziehen sah, diese überanstrengten, müden, schlecht bewaffneten Männer, dann wurde ihm flau im Magen. Schade, daß er nicht einen der senilen Generäle vor sich hatte. Aber wenigstens ein Gutes hatte McClellan: Er war ein Zauderer, er würde die Umklammerung zu spät erkennen. Er bemerkte sie tatsächlich sehr spät. Lee war inzwischen durch Maryland marschiert, hatte im weiten Bogen Washington umgangen und stieß bereits, ohne auf Washington einen Blick zu verschwenden, auf Harrisburg zu. Harrisburg am Susquehanna war die lebenswichtige Eisenbahnbrücke der neuen Pacific-Bahn. Der halbe Weg nach New York! Noch hundert Kilometer bis Harrisburg - da wachte

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McClellan auf. Er warf seine Truppen nach vorn. Zugleich schrie er nach Ersatz. Und dann tat er etwas, was er noch nie getan hatte: Er griff Lee an! Lee war nicht unvorbereitet, aber doch überrascht. Die Schlacht kam zu früh. Vier, fünf Tage zu früh. Nun - es war nicht zu ändern. Der Kampf wogte hin und her. Aus Washington traf Verstärkung ein. Immer mehr Kompanien rückten an. Für jeden Gefallenen standen zwei neue Männer da. Für jeden gefallenen Südstaatler niemand. Am Abend des 17. September war der Traum von Harrisburg ausgeträumt. Lee gab den Befehl zum Rückzug. Es gab keinen Sieger, aber es gab einen Besiegten: Lee. Auch wenn er gewonnen hätte, es wäre ein Pyrrhussieg gewesen. Das Schicksal Hannibals zeichnete sich ab. Eisen war stärker als Blut geworden, Geld stärker als die Fahne. Fünfzig Jahre später ging Amerika mit dieser Devise auf Tournee. Der einzige, der geahnt hat, daß das einmal eintreten würde, ist Bismarck gewesen.

*

Der Norden bildete sich nicht ein, das Ende des Krieges abzusehen. »Hannibal« stand immer noch ante portas. Auch war Lincoln nicht sicher, ob Europa nicht doch noch einschreiten würde. Hier nun - nach langen Gewissenskämpfen, wie die Historiker hellseherisch versichern - griff er zu einem wirkungsvollen Schachzug. Wenige Tage nach der unentschiedenen Schlacht vor Harrisburg erließ er eine Botschaft mit Gesetzeskraft, die zum i. Januar 1863 die Aufhebung der Sklaverei in den Südstaaten verkündete. Er hoffe, die Proklamation würde zwei Wirkungen haben. Die eine trat ein, die andere blieb aus. Nicht

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verrechnet hatte er sich darin, daß die europäischen Mächte sich nun nicht mehr gegen einen so humanen und christlichen Norden stellen konnten. Verrechnet hatte er sich in der Hoffnung, die Sklaven im Süden würden sich erheben, die Arbeit niederlegen und sich von ihren Herren lossagen. Nichts dergleichen geschah, obwohl im ganzen Süden nur noch Frauen und alte Männer zu Hause waren, die »die Knute« nun wirklich nicht schwingen konnten. Es wurde nicht geschwungen und es wurde nicht losgesagt; es ist historisch, daß die Neger treu blieben. Freiheit war für sie ein Gut, dessen Wertlosigkeit sie für sich erkannten. Ein Kanarienvogel blickt vielleicht sehnsüchtig zwischen den Gitterstäben seines Käfigs den Schwalben nach, aber er ahnt auch, daß er unter den Schnabelhieben der Krähen und den Krallen der Katzen sterben müßte. An dieser Stelle wäre mir beinahe etwas entgangen, was auch Sie, meine Leser, wahrscheinlich übersehen haben, nämlich das Wörtchen »Südstaaten« in Lincolns Proklamation. Welch ein Zynismus, daß sich die Befreiung der Neger nicht auf die Sklaven der unionstreuen Staaten bezog, und das waren nicht wenige: Kentucky, Maryland, Delaware, Missouri. Diese Sklaven, die zu befreien Lincoln die Macht gehabt hätte, hat er »in Ketten«, wie es doch immer hieß, gelassen; sie wurden vom Land geholt und an die Hochöfen und in die Munitionsfabriken geschickt und durften, als Soldaten gepreßt, für ihre Herren den Heldentod sterben. Konnte Abraham Lincoln ruhig schlafen? Konnte Robert Kennedy ruhig schlafen, als er nach Südafrika fuhr und dort in flammenden Reden die Gleichberechtigung der Neger forderte, während in den Vereinigten Staaten die Neger für ihre Rechte schon zu blutigen Krawallen greifen mußten? Es waren viel »wichtigere« Dinge als die banale

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Negerfrage, die Lincoln den Schlaf raubten: Wahlen in den nördlichen Staaten hatten in beängstigendem Maße das Absinken der Republikaner gezeigt. Lincolns Thron wankte. Ein Sieg mußte her! McClellan erhielt den Befehl, Richmond anzugreifen. Der General glaubte, nicht recht zu hören. Er erklärte dem Präsidenten, der so flott befahl, die Lage und die Moral der Truppe. Er zeigte ihm die abgerissenen Regimenter. Diese damned Untergebenen! Lincoln warf also McClellan wieder einmal hinaus und berief General Burnside. Der Herr war unter den vielen unfähigen Generälen, die Lincolns Scharfsinn aussuchte, der unfähigste. Burnside war überzeugt, daß ein Präsident immer recht hat. Er zog also los, und zwar schnurstracks und auf der Luftlinie sozusagen, denn es eilte ja. Lee fing ihn bei Fredericksburg ab. Es wurde eine Einbahn-Schlacht. Als siebentausend Soldaten der Unionsarmee gefallen waren, kehrte General Burnside zum Rapport nach Washington zurück. Lincoln feuerte ihn und ersetzte ihn durch einen neuen Ignoranten, General Hooker. General Hooker nahm die Witterung seines Vorgängers auf und folgte dessen Fußstapfen in Richtung Richmond. Er hatte nichts hinzugelernt. Die Konföderierten überfielen den Spaziergänger bei Chancellorsville und brachten ihm eine schwere Niederlage bei. Dann stieß Lee nach Norden vor. Lincoln jagte Hooker davon und berief einen General (es muß von Schreibstuben-Generälen gewimmelt haben) namens Meade. Er sollte nicht das vermaledeite Richmond einnehmen, sondern erst einmal die Bevölkerung beruhigen, indem er Lee suchte. Weiß der Himmel, wo der stand! (Rommel hat im Zweiten Weltkrieg die Taktik der verschleiernden Bewegung wiederholt). Meade suchte zufällig in der richtigen Himmelsrichtung. Eine Kavalleriestreife stieß bei Gettysburg auf Lee's

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Soldaten, die gerade dabei waren, ein Militärdepot auseinanderzunehmen und sich neue Stiefel und Unterhosen an zuprobieren. Das Geballer ging los, die Hauptmasse beider Seiten eilte heran, Meade erschien, Lee erschien - die Schlacht war nicht mehr zu vermeiden. Wieder nur wenige Kilometer vor Harrisburg! Es lag so greifbar nahe wie Paris in der Marneschlacht 1914! In der Ferne rollten die Versorgungszüge der Pacific-Bahn über die Brücke, die das so heiß ersehnte Ziel gewesen war - wieder mißglückt, wieder zu spät. Das abgerissene Heer unter der Kreuzflagge des Südens auf offenem Felde gegen die Geschütze und die modernsten Repetiergewehre des Nordens! Es flössen Ströme von Blut - drei Tage lang. Am vierten gab Meade die Angriffe auf und überließ dem Gegner das Schlachtfeld. Fast sah Lee wie der Sieger aus, aber der Löwe trug die tödliche Wunde in sich. Am Ende war Gettysburg doch das »Marnewunder« für Lincoln geworden. Kein Zweifel, die Schicksalsstunde für den Süden hatte geschlagen. Lee befahl den Rückzug über den Potomac. Hatte der Süden Fehler gemacht? War schon Fort Sumter ein Fehler gewesen? Im März 1864 ernannte Lincoln abermals einen neuen Oberbefehlshaber. Er holte sich nun den Mann, an dem das Glück zu kleben schien, der am Mississippi die Forts der Konföderierten aufgerollt hatte: Ulysses Grant. Er wurde Lincolns Marschall Foch, mit dessen starrer, verschlossener Physiognomie er auch Ähnlichkeit hat. Seine Premiere an der Ostküste war zunächst ein Desaster: In einer Schlacht bei Gold Harbor Anfang Juni wurde sein Heer um ein Haar von Lee vernichtet. Hier endlich entschloß sich Grant zur Strategie Fochs: zum Stellungskrieg. Hundert Kilometer südöstlich von Richmond, also fast mit verkehrten Fronten, lagen sich

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Lee und Grant ein halbes Jahr lang gegenüber. Grant hatte nichts weiter zu tun, als seinen unerschöpflichen Vorrat an Kanonenkugeln Tag und Nacht hinüberzuballern und frische Truppen in Empfang zu nehmen. Es ließ sich aushaken. Grant hatte schließlich hundertfünfzehntausend Mann, Lee vierundfünfzigtausend. Militärisch war der Krieg entschieden. Lee machte es seiner Regierung klar, aber der konföderierte Kongreß lehnte eine Kapitulation ab. Und damit begann der letzte Akt der Tragödie. Lincoln, zum zweitenmal zum Präsidenten gewählt, ließ Sherman von der Leine.

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XI

Im amerikanischen Sinne ist Sherman zweifellos einer der smartesten Burschen, die die USA hervorgebracht haben. Erst im Zweiten Weltkrieg sind einige hinzugekommen, die sich mit ihm messen können. William Sherman, der mit zweitem Vornamen sinnigerweise Tecumseh hieß, war knapp über Vierzig, als er zur Erfüllung seines Lebens berufen wurde. Sein Werdegang ist der amerikanischste, der sich denken läßt. Er ging zunächst zum Militär und wurde mit zwanzig Jahren Leutnant, und zwar bei der Artillerie. Er machte den sogenannten »Mexikanischen Krieg« mit, setzte sich dann nach Kalifornien ab und »gründete 1853 in San Francisco ein Bankhaus«, wie es in Meyers Lexikon heißt. Sofern ich mich nicht verrechne, war der Bankhausbesitzer also damals dreiunddreißig Jahre alt - bis dahin bereits, wie Sie sehen, eine der schönsten und heute bewundertsten Karrieren eines Amerikaners. Im Bürgerkrieg wurde er mit Freuden wieder in die Armee aufgenommen, und zwar als Oberst - vergleichsweise wenig, wenn man an so manche US-Journalisten denkt, die 1944 aus dem Nichts kühn gleich in den Majorsrang sprangen, oder wenn man sich der jungen Damen erinnert, die uns als hohe Offiziere erstarren ließen. Sherman legte einen kurzen Zwischenspurt ein und war ein Jahr später schon General. Das Lexikon versichert, daß er als »der tüchtigste Feldherr der Union im Bürgerkrieg« gilt. Er hinterließ zwei Bände Memoiren, worin er sich bescheinigt, wie tüchtig und daneben auch

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noch gut er war. Lincoln stellte ihm die Aufgabe, in die südlichsten Gebiete der Konföderierten einzubrechen und dann nach Norden durchzustoßen. Grant sollte inzwischen Lee bei Richmond festnageln. Man könnte auf den naheliegenden Gedanken kommen, der Süden sollte, mit allem, was drin war, in die Zange genommen werden. Doch außer friedlichen Ortschaften und Zivilbevölkerung war nichts drin. Also sollte es wohl keine Beißzange, sondern eine Flachzange werden - falls Sie diesen Unterschied kennen. Sherman hatte die ganz präzise Order: Kill and destroy, die Parole des jungen Washington im Unabhängigkeitskrieg. Sie war wörtlich gemeint, und der »tüchtigste Feldherr der Union« nahm sie auch wörtlich. Er begann einen mörderischen Verwüstungszug durch die unschuldigen Städte und Dörfer, der später unter dem Namen »Anakonda« eine erbärmliche Berühmtheit erlangte. Wo die Heeresschlange erschien, ließ sie in einer Breite von hundert Kilometern alles in Schutt und Asche zurück. Es wurde vernichtet, was man fand, Häuser, Fabriken, Maschinen, Farmen, Tiere, Pflanzungen, Getreide, Baumwolle, Zuckerrohr, Straßen und Brücken. Wenn die Anakonda, die Riesenschlange, abgezogen war, brannte das Land, und die Viehherden verfaulten auf den Weiden. Zum erstenmal in der modernen Geschichte praktizierte Amerika den totalen Vernichtungswillen. Ganz gescheite Historiker erklären es mit der Notwendigkeit, dem Feind die Versorgungsquellen zu nehmen. Freilich, freilich. »Das Plündern von Privathäusern«, schreibt eine blinde Henne von Historiker, »war streng verboten, ist jedoch vorgekommen...« Man möchte solche Geschichtsschreibung nicht für möglich halten. Sherman

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berichtet in seinen Memoiren: »Ehe wir South Carolina verließen, hatten sich meine Soldaten schon derart daran gewöhnt, alles auf der Marschroute zu zerstören, daß das Haus, in dem sich mein Hauptquartier befand, oft schon brannte, ehe ich es verlassen hatte.« Und sein unterstellter General Sheridan meldete nach Washington: »Ich habe zweitausend Scheunen voll Getreide und siebzig Mühlen verbrennen und dreitausend Schafe abschlachten können. In einem Gebiet von fünf Meilen ließ ich sämtliche Häuser niederbrennen.« Moltke, der es ja von Europa aus mit ansah, hatte recht (obwohl er ein Deutscher ist), wenn er sagte: Das sind keine Soldaten mehr, das ist eine Bande von entfesselten Marodeuren. Ich habe mir früher nie erklären können, wie es zur »Anakonda« kommen konnte. Sie war unnötig, der Krieg war ja praktisch entschieden. Ich glaube, seit 1945 weiß ich es: Die »Anakonda« war ihr erstes Hiroshima. Am 9. April 1865 hißte General Lee die weiße Fahne. In dem kleinen Dorf Appomattox unterzeichnete er vor Grant die bedingungslose Kapitulation. Richmond war niedergebrannt. Die Schlachtfelder bedeckten eine halbe Million Tote. Beispielhaft war die Versöhnlichkeit der Sieger. Sie ließen Lee nicht hängen und stellten auch keine Kriegsverbrecherlisten auf. Herr Professor Felix Salomon schließt seine Geschichte des Sezessionskrieges mit den zu Herzen gehenden Worten: »Das Werk, für das Lincoln sich eingesetzt hatte, war vollbracht, die Reinheit der Union (Reinheit, kein Druckfehler), wie er sie sich wünschte, war gesichert.« Ich muß noch viel lernen (Dieser Satz eignet sich gut zum Zitieren in negativen Kritiken des Buches, ich empfehle ihn.).

*

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Was wäre geschehen, wenn der Süden gewonnen hätte? Die ganze Welt wäre einen anderen Weg gegangen? Es hätte geteilte Vereinigte Staaten von Amerika gegeben (was die Welt nicht als Unglück ansieht, wie wir aus unserem eigenen Schicksal wissen)? Glauben Sie das? Ich will Ihnen sagen, was ich glaube: Spätestens 1914 hätten sich beide Teile wieder vereint. Die Toten sind ganz sicher unnütz geopfert worden. An weniger als fünf Fingern läßt sich abzählen, wann einmal in der Geschichte die Gefallenen einen Sinn hatten, und noch seltener, wann sie einmal den Überlebenden einen Aufschwung der Seele gegeben haben, der Kraft für hundert Jahre verlieh. Hellas hat lange von den Toten der Thermopylen gelebt. - Lincoln war guten Mutes. Die Toten waren feierlicher Reden wert, selbstverständlich; bevölkerungspolitisch konnte man unbesorgt sein, denn in den letzten vier Jahren allein waren achthunderttausend Menschen aus Europa in die Nordstaaten eingewandert, hauptsächlich in den Westen. Kansas zum Beispiel wuchs von hunderttausend auf drei-hundertfünfzigtausend Einwohner. Die Zahl der geschlachteten Schweine verdoppelte sich, die Schafswolle stieg auf das Dreifache. In Pennsylvania war Petroleum, in Colorado Gold gefunden worden. Das alles war sehr, sehr zufriedenstellend. Daß der Süden verwüstet war, war zwar beabsichtigt und wäre für die Sieger durchaus zu verschmerzen gewesen, wenn es nicht ein ganz ekliges Problem aufgeworfen hätte: Wohin mit den befreiten Millionen von Negern? Man wußte nur zu gut, wie der Süden die Sklaven-Befreiung über kurz oder lang gelöst hätte. Im Leben der Neger hätte sich wenig geändert, sie wären freie Landarbeiter geworden. Nun gab es die reichen Farmen und blühenden Felder nicht mehr. Die einstigen Sklaven

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standen vor den vernichteten Plantagen und fühlten sich nichts als unglücklich. Sie nahmen ihr Weib an die Hand, schnallten sich das Baby auf den Rücken und wanderten nach Norden, zu ihren Befreiern. Die wenigen, die bleiben konnten, begannen wieder zu ackern. Hier hätte Washington die letzte Möglichkeit gehabt, das Dynamit aus der Welt zu schaffen, indem es den Schwarzen ein eigenes Territorium, sagen wir einen Teil Alabamas, gab. Heute, rückblickend, wissen wir, daß es möglich gewesen wäre. Statt dessen stieß man sie, die schwimmen nicht gelernt hatten, in das reißende Wasser, in den Wildbach des amerikanischen Lebenskampfes. Sie sanken; sie sanken tiefer, als sie je vorher gestanden hatten, sie wurden verachtete Parias, vor denen man sich im Norden die Nase zuhielt. Es gibt ein altes amerikanisches Sprichwort: Im Süden sagt man »Du bist nicht meinesgleichen, aber setze dich ruhig zu mir«, im Norden sagt man »Du bist meinesgleichen, aber bleibe mir vom Leibe«. Die Tragödie der schwarzen Rasse nahm ihren Fortgang, sie wurde hundert Jahre später zum Zündstoff in der ganzen Welt. Heute sieht es Unheimlicherweise fast so aus, als hätte sie sich zur Tragödie der weißen Rasse umgekehrt. Beginnen wir nicht schon die Peitsche in der Hand der Farbigen zu spüren? Unsinn, sagen Sie? Weil der Mercedes vor der Tür und der Pomery auf dem Tisch stehen? Gott segne Sie, Madame! Gott mit Ihnen, mein Herr.

*

Am 9. April 1865, wie Sie sich erinnern werden, endete der Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation des Südens. Am 14. April, fünf Tage später, befand sich Lincoln schon in der Stimmung, sich das Lustspiel »Our

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American Cousin« im Theater von Washington anzusehen. Warum auch nicht, nicht wahr? Es war übrigens Karfreitag. Seine Loge war mit Fahnen und einem Bild George Washingtons festlich geschmückt. Das Parkett, voll von Würdenträgern und Mengen von überlebenden Generälen, starrte zu Lincoln hinauf wie »Kinder zu ihrem Vater« . Auf der Bühne war gerade eine Szene zu Ende gegangen. Der Vorhang fiel. Sekunden später brach einer der Schauspieler, John Booth, in die Präsidentenloge ein, zog eine Pistole, schrie, dramatisch vorgebildet wie er war: Sic semper tyrannis, und jagte Lincoln eine Kugel in den Kopf. Dann sprang er auf die Bühne und verschwand in den Kulissen, ehe überhaupt jemand erfaßt hatte, was geschehen war. Das Ganze hatte fünfzehn Sekunden gedauert.* Lincoln war nicht tot. Man trug ihn über die Straße in eine Privatwohnung, um ihn zunächst provisorisch zu betten, und rief Ärzte herbei. Sie konnten nichts tun, die Kugel saß hinter dem linken Ohr im Kopf. Der sehnige Körper des Sterbenden wehrte sich verzweifelt gegen den Tod. Das Herz arbeitete regelmäßig, als ginge die mörderische Kugel es nichts an. Erst um sieben Uhr morgens war Abraham Lincoln tot. »Nach dem Frühstück«, schreibt sein Freund und Minister Welles, »ging ich zum Regierungsgebäude, und alles schien trübe.« Na ja, jeder Mensch muß schließlich mal frühstücken.

* Der Mörder aus den Südstaaten - heute würde man, sofern er ideologisch richtig läge (aber er lag nicht), sagen: Der Patriot und Partisan wurde auf der Flucht erschossen. Er war der Bruder des damals berühmten Schauspielers Edwin Booth.

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XII

In einer Fernsehsendung der BBC wurden über Lincoln einmal die Worte ausgesprochen: »Was Lincolns Nachruhm unauslöschlich gemacht hat für alle Zeit, das ist die Tatsache, daß er ermordet wurde. Dadurch wurde er >kanonisiert<. Alle ermordeten Präsidenten umgibt ein Heiligenschein.« Goldene Erkenntnis. Mit einem Hauch von Zynismus. Ich erinnere mich, daß 1944, nach dem mißlungenen Attentat auf Hitler, auch kluge und überzeugte Nationalsozialisten sagten: »Schade, daß er nicht tot ist! Dann würde die Historie ewig im Zweifel sein, ob er nicht doch noch ein Augustus geworden wäre.« Ja, das trifft genau auch auf Lincoln zu. Er hatte Amerika wieder einigen, er hatte den Süden wieder aufbauen wollen, er hatte allen die Hand reichen und die Neger zu Bauern machen wollen. Das alles hätte er mit Leichtigkeit getan. Nun aber war er tot und aller Pflichten ledig. Und so kommt es, daß Lincolns Bild heute alle anderen überstrahlt, beinahe sogar das George Washingtons. Er ist wirklich »kanonisiert«, und würde man den Amerikanern das Bild zerstören, so wären sie wütender als die Franzosen, wenn man ihnen sagt, Karl der Große sei ein Germane gewesen. Das Unglück Amerikas war, daß Lincolns offizieller Stellvertreter jetzt automatisch Präsident wurde. Der Mann hieß Andrew Johnson, war einst von Beruf Dorfschneider gewesen und hatte Lesen und Schreiben erst von seiner Frau Gemahlin, der jetzigen First Lady, gelernt. Ich weiß,

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dieses Pedigrée läßt die Augen jedes braven Sozialisten aufleuchten, und tatsächlich hat ein Präsidentenamt noch ganz andere Leute verkraftet. Aber Johnson war darüber hinaus zu allem Unglück auch noch zum Verzweifeln instinktlos. Mit einem Mut, wie man ihn den Schneidern nachsagt (ich denke nur an Herrn Kreidein), machte er sich alle zu Feinden, angefangen von seiner eigenen Republikanischen Partei und seinen Ministern bis hinauf zur Hochfinanz. Ein erstaunlicher Mann. Was da nach dem glorreichen Sieg auf ihn zukam, war auch durchaus dazu angetan, Magenkrämpfe zu verursachen. Die Neger, die mit Sack und Pack nach Norden wanderten, waren noch das wenigste. Ein Teil von ihnen wurde von den Fabriken geschluckt (auf einem zeitgenössischen Foto sieht Pittsburg aus wie heute Dortmund, wenn »Hoesch abbläst«); der andere, größere Teil bildete jetzt Slums. Man hätte sie am liebsten mit der Peitsche wieder fortgejagt. Die Neger, die im Süden geblieben waren, standen ratlos vor ihrem Schicksal. Ihre Herren waren verarmt, und sie mit ihnen. Hunger ging um, Epidemien griffen um sich; die Farbigen starben wie die Fliegen. Der amerikanische Historiker Flemming hat die Toten des Jahres 1865 auf zweihunderttausend geschätzt. Als Sklaven hatten sie gelebt. Als Freie starben sie. Kein großer Trost Im April 1866 beschloß der Kongreß, durch einen Zusatzartikel zur Verfassung den Negern auch das Bürgerrecht zu verleihen. Die weißen Südstaatler, über Trümmer und zerstörte Straßen unverzagt wieder zu ihren lädierten Regierungsgebäuden stampfend und beratend, verweigerten die verfassungsmäßig notwendige Zustimmung. Ihnen schwante Böses für die

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Zukunft. Wie ich überall lese, waren es die Generäle, die das Bürgerrecht der Farbigen um jeden Preis durchbringen wollten. Mir ist offen gestanden unklar, wieso gerade die Militärs plötzlich die Heilsbotschaft in sich entdeckten. Dachten sie an morgen, wollten sie die Schwarzen als nunmehr »Bürger« unter ihren Einziehungsbefehl kriegen? Sie machten mit Hilfe des Kongresses kurzen Prozeß: Die Südstaaten wurden aus den Vereinigten Staaten von Amerika ausgestoßen und ihre »Regierungen« (es gab sowieso nichts zu regieren) abgesetzt. An ihre Stelle traten diktatorische Militärregierungen unter Nord-Generälen. Sie stutzen? Ich auch. Aber nicht über Worte wie »diktatorisch«, »abgesetzt« und »Militärregierungen«. Was soll man da groß stutzen. Stutzen muß man über die Tatsache, daß der Norden hier bestätigte, was der Süden immer behauptet hatte: daß die USA ein Staatenbund seien, den man jederzeit verlassen könne. Mit der Ausstoßung, also Entlassung der Südstaaten aus der Union, schuf der Norden haargenau den Status, um den die Konföderierten vor Kriegsausbruch gebeten hatten. Wenn die moralische Situation des Nordens vorher schon miserabel war, so wurde sie nun, 1867, abscheulich. Fast ist das Wort zu schwach für das, was geschah. Die Generäle schlössen zunächst einmal mit einem Federstrich einige hunderttausend Weiße, die »belastet« waren (na, endlich!), vom Wahlrecht aus. Die Neger wurden selbstredend alle wahlfähig. Bei der ersten durchgeführten Wahl eines Parlaments schritten sechshunderttausend Weiße und siebenhunderttausend Schwarze zur Urne. In einigen Südstaaten sah das Verhältnis noch schlimmer aus. Keineswegs waren alle Neger so lieb wie in »Onkel Toms Hütte«. Wie in jeder Rasse gab es Choleriker,

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Melancholiker, Fanatiker, Gewalttäter und geborene Agitatoren. Und alle, zumindest die meisten, hatten eines gemeinsam: Sie waren Analphabeten, gänzlich unorientiert und ohne jeden Vorausblick. Sie, und zwar die dubiosesten unter ihnen, führten nun das große Wort. Blitzschnell lernten sie, die Struktur der Ordnung, die Pyramide der Gesellschaft auf den Kopf zu stellen. Ein New Yorker, der in South Carolina eine Sitzung des neuen Repräsentantenhauses besuchte, berichtete, daß er sich die Augen wischen mußte, weil er glaubte, nicht recht zu sehen: Der Portier war schwarz und frech, der Sekretär war schwarz und frech, der Speaker war schwarz, der Geistliche war schwarz, einhundertein Abgeordnete waren schwarz, und in einer Ecke saßen dreiundzwanzig Weiße. Es wurde gebrüllt und Radau gemacht »wie auf einem Seeräuberschiff«. So also sah die Welt jetzt aus. Lebte Frau Beecher-Stowe noch? Sehr gut sogar. Der Kongreß in Washington bewilligte Mittel und schickte Leute, die die sogenannten Freilassungsbüros einrichten, das Geld verteilen, Boden erwerben und an die Neger vergeben sollten. Boden aufzukaufen war leicht: Die Farmer wurden mit enormen Steuern belegt, die sie nicht aufbringen konnten, ohne Land abzustoßen. So einfach geht das. Und wenn es gar nicht anders ging, beschlagnahmte der General. Für die schwarzen Neubürger, die sich entschlossen, kleine Schrebergärtner und Hühnerhalter zu werden, war also notdürftig gesorgt. Versorgt waren auch die wenigen Glücklichen, die auf den noch funktionierenden Farmen weiter arbeiten konnten. Aber es fehlte überall an Geld, an Saatgut, an Geräten, an Maschinen. Die Hilfsgelder flössen in die falschen Taschen. In den Büros, die die Fonds verwalteten, sammelten sich Scharen von Betrügern aus dem Norden, politisch blütenweiß,

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Gelichter, das sich in den rechtlosen Staaten äußerst wohl fühlte. »Carpetbaggers«, Taschenfüller, war ein geflügeltes Wort. »Though this be madness, yet there is method in it.« Shakespeare, wenn ich mich nicht irre. Wahnwitzige Zustände, die man schweigend duldete. War es der Versuch des Nordens, in einem »eroberten Feindland« eine Revolution sich selbst garkochen zu lassen? Ich glaube nicht, daß man in Washington so gewagte Ideen hatte. Ich glaube auch nicht (was manche Historiker schreiben), daß der Kongreß, von extremen Republikanern beherrscht, die Neger als Republikaner gewinnen wollte, indem er sie gegen die demokratischen früheren Herren aufstachelte und die Republikanische Partei zur Befreierin stempelte. Wie kompliziert! Die Amerikaner sind nicht kompliziert. Sie vereinfachen gern. Die Besiegten sind böse, und alle, die von diesen bösen Besiegten niedergehalten wurden, sind gut. War es nicht auch 1945 überall so, wohin sie kamen? Ihr Bild von der Welt ist schwarz-weiß, da wird nicht lange gefackelt. Sie lieben es auch, zu »delegieren«. Sie richten gern »Stellen« ein, Büros, Fonds, Organisationen, die ihnen die Verantwortung abnehmen; sie sind sie los. Und sie wollen partout nicht glauben, daß es sich wie mit einem schlechten Wechsel verhält: Er läuft zum Aussteller zurück. Auch in der Geschichte. Die Nation hatte doch gewiß keine Schuld, daß ihr guter Wille von den »Delegierten« mißbraucht wurde? Daß das Geld in den Taschen derer »mit der politisch weißen Weste« verschwand? Daß der Gouverneur von Louisiana von seinem Achttausend-Dollar-Gehalt in einem einzigen Jahr hunderttausend Dollar »sparte«? Daß sich Negerbanden bildeten, die raubten und mordeten? Daß kein Richter eingriff, als sie einen Geistlichen, der gegen den Norden sprach, von der Kanzel zerrten und schlugen?

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So sah es aus. Im Staate Mississippi waren für die Weißen die Steuern auf das Vierzehnfache, in Louisiana auf das Zehnfache erhöht worden. Es gab ehemalige Großfarmer, die sich in der wartenden Schlange anstellten, um Nahrungsmittel und Unterstützung zu empfangen - wenn sie sie empfingen. In dieser Situation griffen die Weißen zur Selbsthilfe. Sie gründeten einen Geheimbund zum Schutz gegen die schwarzen Banden und gegen die »carpetbaggers«: den Ku-Klux-Klan. Der Name hat in der Welt einen bösen Klang bekommen. Ku-Klux-Klan, das wurde zum Synonym für Rassenhaß, für Lynchjustiz. Die Onkel-Toms-Hüttler begannen sofort, ihre Propagandamaschine in Bewegung zu setzen. Sie hatten Erfolg; heute noch spuckt Amerika vor den Ku-Klux-Klanern aus. Auch Karl May, der Kronzeuge für das superdeutsche Herz, hat ihnen in »Winnetou II« ein Schandmal gesetzt. Der Ku-Klux-Klan löste sich 1877 auf, als die letzten Besatzungstruppen und mit ihnen schleunigst auch die carpetbaggers den Süden verließen. Johnson hat diese ganze Entwicklung der Dinge nie gewollt. Er fühlte sich als Testamentsvollstrecker Lincolns, nicht Shermans. Er mag beschränkt gewesen sein, aber er war niemals böse. Der Kongreß war es, der ihm, Schritt für Schritt, die Hände band. Als er einen der Extremisten unter seinen Ministern feuern wollte, erließ der Kongreß in Eile ein Gesetz, das dem Präsidenten die Macht absprach, seine Beamten zu entlassen. Johnson ignorierte es. Er war im Recht, das Gesetz war verfassungswidrig. Der entlassene Minister schämte sich nicht, sich in seinem Amtszimmer zu verschanzen, und das Repräsentantenhaus setzte dem trostlosen Schauspiel die Krone auf, indem es beschloß, beim Senat die Klage auf Absetzung des Präsidenten einzureichen.

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Ganz Amerika hielt den Atem an. Es war das erste Impeachment seiner Geschichte. Mit einer einzigen Stimme Mehrheit wurde Johnson freigesprochen. Der Senator, der die entscheidende Stimme abgegeben hatte, wurde gesellschaftlich verfemt und finanziell systematisch ruiniert. »Das Impeachment war«, schrieben später, zu spät, amerikanische Historiker, »eines der widerwärtigsten und übelsten Ereignisse in der Geschichte der USA.« Johnsons Macht war gebrochen, er war am Ende nur noch ein mittelmäßiger Verwaltungsbeamter der Republikanischen Berg-Partei. 1869 trat er ab. 1875 starb er. Na, war es nun so schön gewesen, Präsident zu sein? Hatte es sich gelohnt, Lesen und Schreiben zu lernen?

*

Machen wir uns eigentlich klar, von welcher Zeit wir sprechen? Haftet nicht - vor unserem geistigen Auge - allem noch die Eierschale der Pionierzeit an? War es nicht erst gestern, daß Indianer durch die Wälder von Pennsylvania schlichen? Daß die fünf bezopften Weisen in dem verqualmten Zimmer saßen und die Unabhängigkeitserklärung ausbrüteten? Daß Jefferson das Geschäftchen mit Napoleon machte? Rauchen tatsächlich die Schlote und Hochöfen über Pittsburg, und rast der Pacific Express quer durch Amerika? Ging Johnson so angezogen wie Bismarck? Ist es wirklich wahr, daß man schon im Schlafwagen reiste und im Speisewagen frühstückte? Ist es wahr, daß es Salons gab, die auch in Paris Furore gemacht hätten, mit sechzehn Meter breiten Landschaftstapeten in einem Feuerwerk von Farben aus tausend Druckstöcken? Die berühmte

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Firma Jean Zuber aus dem Elsaß bekam von ihrem Juniorchef einen Eilbrief, in dem es hieß: »Cher Papa, ich sehe es kommen, daß wir unsere große Panorama-Tapete >L'Amerique du Nord< ganz rasch nochmals herstellen müssen, von der wir für das Frühjahr nichts mehr vorrätig haben.« War es die Zeit, als Remington die ersten Schreibmaschinen baute und in Chicago das erste Fließband lief? Ja, diese Zeit war es. Aber Europa sah das Bild nicht scharf, es hielt das Fernglas verkehrt herum. Amerika war weit, weit weg, war »im Kommen« (Komplementärwort für »noch zurück«), war das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« (Komplementärwort zu »Land ohne Standesordnung und Kultur«), war eine Ansichtspostkarte mit bunten Medaillonfotos von Buffalo Bill, den Niagarafällen und dem Capitol. Wenn man an »drüben« dachte, so hatte man das Gefühl, Rothschild brauchte nur hinüberzugehen, um ganz Amerika aufkaufen zu können, Moltke, um alle miteinander zu besiegen, und Bismarck, um dort Kaiser zu werden. Ich habe mir eingebildet, von solcher Sicht aus der Proszeniumsloge der Weltgeschichte in weitem Maße frei zu sein. Mein Herz ist doch sonst ein recht guter Theodolit. Aber mir wurde doch ganz anders, als ich auf die Namen stieß, die in jener Epoche die Herren Amerikas zu werden sich anschickten. J. D. Rockefeller gründete gerade sein Ölimperium, er wurde in den nächsten Jahren der reichste Mann der Welt (Verdi schrieb die »Aida«). Andrew Carnegie war hier schon der Beherrscher der Stahlindustrie, vielfacher Milliardär. (Wagner komponierte den »Tannhäuser«). Cornelius Vanderbilt hielt die Schiffahrt in der Faust, er und E. H. Harriman besaßen die größten Eisenbahnlinien. (Manet malte die »Olympia«). John Pierpont Morgan erbte die Bank seines Vaters und machte sie zur beherrschenden

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des ganzen Kontinents und hätte jederzeit einen doppelt so hohen Scheck wie der deutsche Kaiser ausschreiben können. (Tolstoj dichtete »Krieg und Frieden«). Meyer Guggenheim beutete die Erzgruben, Blei und Silber, aus und wurde unvorstellbar reich. (Menzel malte das »Balkonzimmer«). Und ein Armour legte den Grundstein zur Methode der Massenabfütterung der Menschheit mit Konservenfleisch. (Schopenhauer schrieb »Die Welt als Wille und Vorstellung«). Was für Namen! Ich meine natürlich nicht die in Klammern! Jeder von ihnen strahlt heute über den ganzen Erdball. Jeder von ihnen ein Gessler-Hut für Milliarden bewundernder Menschen. Wenn ich nicht eine Klage ihrer Nachkommen fürchten müßte, die ich bei der heutigen Justiz nicht überleben könnte, würde ich Ihnen sagen, daß diese Männer, alle, wie sie da stehen, eine Bande von Haifischen, ein Rudel erbarmungsloser Hyänen waren, die sich nur auf diese Weise und als rücksichtslose Börsenjobber von Söhnen ärmster Einwanderer zu Beherrschern des Lebens heraufarbeiten konnten. Also: Sie waren alle sehr ehrbar und untadelig; sie sind lediglich wagemutig in »Marktlücken« gestoßen. Kennen Sie dieses verfluchte Wort aus der Haifisch-Sprache?

*

Nicht wahr, ich brauche nicht zu wiederholen, daß die Wallstreet den Krieg geführt, gesiegt und den Süden zerstört hat? In den Augen New Yorks war Johnson ein bedauerlicher Irrtum gewesen, ein kleines Malheurchen. Nun war er weg, und der nächste kam. Folgerichtig ein General: Grant. Wie schön, daß er nebenher auch mal Geschäftsmann gewesen war.

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Der damalige deutsche Gesandte in Washington, Kurd von Schlözer, schrieb über die Regierungsjahre Grants nach Hause: »Unter einer Republik dachte ich mir als Schüler, wenn uns die Tugenden des antiken Republikaners vorgetragen wurden, doch etwas anderes als das, was man hier erlebt. Schwindel über Schwindel; in der Regierung Bestechung, Betrügereien, Diebstahl von seiten der höchsten Beamten. Die Parteimaschine arbeitet mit Hochdruck; das Wohl des Landes steht im Hintergrund. L'Union c'est la république tempérée par la corruption.«* Grant war nicht korrupt; er wird als gutgläubig geschildert, was Säufer ja oft sind. Aber schon sein Vizepräsident Schuyler Colfax war in lauter Skandale verwickelt. Es kam zu vielen Prozessen. Cornelius Vanderbilt, dessen Standbild heute feierlich vor der Central Station steht, verhinderte einmal sogar eine Untersuchung des höchsten Gremiums, des Kongresses, indem er alle führenden Männer bestach. Schlözer hatte recht. Es war so weit, daß die Regierung des Regierens überhoben war. (»Wir haben nicht mehr eine Regierung durch und für das Volk, sondern eine Regierung durch Unternehmen für Unternehmen.« US-Außenminister Hay). Die Wallstreet hatte ganz offen die USA übernommen. Amerika führte damals der Alten Welt eine ganz neue Oligarchie vor, den Kapitalismus. Denn Kapitalismus in des Wortes wahrer Bedeutung ist nicht, wie man Schwachköpfen einpaukt, die Ansammlung von Reichtum bei wenigen oder die

* Der amerikanische Gelehrte Noah Webster sah die Sache etwas anders an: »Die Prinzipien der Alten Welt für das zarte Amerika zu adoptieren, wäre dasselbe, wie die Runzeln der Altersschwäche auf die Blüte der Jugend zu meißeln und das Korn der Dekadenz in einen kräftigen Körper zu pflanzen.«

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Ausnutzung der Armen durch die Reichen oder die Trennung von Unternehmen und Arbeit. Das sind verwaschene Ideen, die aus dem Bauch kommen. Es gibt nur eine gültige Definition von Kapitalismus: Kapitalismus ist keine Wirtschafts- oder Gesellschaftsstruktur, Kapitalismus ist die Übernahme der Regierung durch die Hochfinanz. Er ist zugleich immer das Ende der reinen Politik. Superreiche und Bettelarme hat es stets gegeben. Das kann an der Charakterschwäche der Menschheit liegen, an mangelndem Rechtsempfinden, eventuell auch an zu rapidem Gefalle der Intelligenz. Den Reichen »Kapitalismus« vorzuwerfen, ist der landläufige Irrtum. Reichtum, der in Form von Brillanten im Safe liegt, ist harmlos, wenn auch vielleicht verächtlich. Ist aber der Superreichtum im Sozialprodukt verankert, das heißt, ist das Volk in die Zwangslage manövriert worden, für den Superreichtum in einem Circulus vitiosus zu arbeiten, so ist das Stadium erreicht, in dem der Superreichtum aus Selbsterhaltungstrieb die Staatssouveränität selbst verkörpern und das Regieren übernehmen muß, um die Politik mit seinen Interessen gleichzuschalten. Dann werden Kabinette zu Schattenkabinetten und die Wirtschaftspolitik zur alleinigen Politik. Im Kapitalismus ist das Geld nicht mehr Gutschein, sondern Schuldschein der Masse an den Superreichtum. Die (auf der Straße nicht kursierende) Währung des Superreichen dagegen ist die Aktie. Es wird Sie nun nicht mehr verwundern, daß die beiden amerikanischen Parteien in Wahrheit kein Gesicht und nur Scheinprogramme hatten. Grant blieb wenig Spielraum. Was er Anständiges tat, war die stufenweise Rehabilitierung des Südens, die

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Normalisierung des Lebens in den geplagten Staaten, die Wiederaufnahme in die Union und die Abberufung der Besatzungstruppen. Eine Woge von Soldaten, verwöhnten, faulenzenden Soldaten, traf im Norden ein. Neues Problem: Wohin mit ihnen? Der Kongreß wußte es: Sie bekamen den Befehl, das Indianerproblem endlich biologisch zu lösen, weil man nun auch das letzte Fleckchen Erde »brauchte«. Theodore Roosevelt hat später einmal das grausame Wort gesprochen: »Den Indianern ihre Jagdgründe zu lassen, hätte bedeutet, unseren Kontinent zottigen Wilden zur Verfügung zu stellen; es blieb nur die Alternative, sie auszumerzen.« Teddy Roosevelt erhielt 1906 den Friedensnobelpreis. Ach ja, die Indianer sind ja auch noch da, wenn auch nicht mehr sehr zahlreich. Wie geht es ihnen denn? Gut. Sie haben bald ausgelitten. Seufzen Sie nicht, meine Freunde, ich spreche zum letztenmal über sie. Wenn Sie ein Lineal nehmen, es auf der Landkarte senkrecht auf die Atlantikküste Amerikas legen und es dann nach links, nach Westen, bis fast zu den Rocky Mountains., schieben - noch besser, wenn Sie das Lineal vorher an der Unterseite rot wie Blut eingefärbt haben - dann wissen Sie, was mit den Indianern seither geschehen war und wo sie jetzt leben. Die Indianer haben schon keine Erinnerung mehr an den Osten, der ihre Heimat gewesen war, keine Erinnerung mehr an die Weißen, die einst demütig um Nahrung bittend zu ihnen gekommen waren. Nur in Sagen und Gesängen leben die alten Zeiten noch. Es sind traurige Lieder, die an den Singsang der ersten Sklaven erinnern, sie erzählen von großen Wäldern, den Quellen und dunklen Flüssen, vom Wild in Überfluß, von den wandernden Büffeln, unter deren Hufen der Boden dröhnte.

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Als die Wallstreet beschlossen hatte, den Kontinent mit Eisenschienen zu »erschließen«, als sie Zehntausende von Quadratkilometern Land an sich riß, gleichgültig, wem es gehört hatte, da war das Todesurteil über die letzten Büffelherden gefällt. Man lockte die Siedler an, die den Schutz der Schienenstränge bilden konnten, man trieb mit Waffengewalt die Indianer weiter, immer weiter zurück bis in die steinigen toten Plains. Die Büffel, die ihr Alles gewesen waren, ihre Nahrung, ihre Kleidung, zogen nicht mit, sie verbluteten in den Prärien. Dreieinhalbmillionen schössen die Weißen mit ihren Repetiergewehren zusammen. Was sie brauchen konnten, nahmen sie mit, verkauften die Häute in den Osten, der Rest verfaulte. Bald hörte man keinen Laut mehr auf den Prärien außer dem Heulen der fetten Coyoten. Der »Große Vater« in Washington gab den Resten der Rothäute »Indianer-Territorien«. Das war nett von ihm. General Carleton, Chef im Gebiet der Komantschen und Navajos, versicherte dem Präsidenten, das Reservat sei für die Indianer ein Paradies. Die Wahrheit war, daß sie am Verhungern waren und ernährt werden mußten. »Die Vertreibung eines ganzen Volkes«, schrieb derselbe Carleton (Ich zitiere hier und an späterer Stelle Dee Browns erschütternden Indianerbericht »Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses«.), »aus dem Land seiner Vorfahren ist nicht nur ein interessantes, sondern auch ein ergreifendes Schauspiel. Viele Jahre haben sie tapfer gegen uns gekämpft, um schließlich doch dem unaufhaltsamen Fortschritt unserer Rasse zu weichen. Sie warfen die Waffen fort und ergaben sich als tapfere Männer, die unsere Bewunderung und unseren Respekt verdienen, im Vertrauen auf unseren Großmut und in der Überzeugung, daß wir ein zu

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redliches Volk sind, um dieses Vertrauen mit Schlechtigkeit zu vergelten . . . Diese sechstausend Münder müssen essen und diese sechstausend Körper bekleidet werden. Wenn man bedenkt, welch herrliches Land voller Weiden und Bodenschätze sie uns überlassen haben, so ist der Umstand, daß wir im Moment für sie sorgen müssen, völlig unbedeutend.« »Manuelito«, der Häuptling der Navajos, flüchtete mit einem Teil seines Stammes aus dem mörderischen Ghetto, in dem sogar das Wasser modrig und nicht zu trinken war. Als ihn das Militär zu hetzen begann, verkroch er sich mit den Seinen im Gebirge. Sie wollten frei sein, ernährten sich von Wurzeln und Beeren und kapitulierten erst, als durch Hunger und Kälte ihre Schar auf dreiundzwanzig zusammengeschrumpft, zusammengestorben war. Great Warrior Chief war Sherman. Von ihm, dem Höchstkommandierenden, stammt das Wort: »Je mehr ich diese Roten kennenlerne, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, daß sie alle umgebracht werden müssen.« Ein Erlaß von 1862 gegen die Apachen, die ihr Ghetto verlassen wollten, lautete wörtlich: »Alle Krieger der Apachen sind zu töten, wo immer sie angetroffen werden.« An den Häuserwänden in Denver klebten Aufrufe: »Veterans! Men wanted! A premium for scalps!« Was, um alles in der Welt, war in die Amerikaner gefahren? Es war wie ein Fieber, das umging. Am erbittersten wütete man gegen die Sioux, auch sie am Verhungern. Man trieb sie vor sich her wie eine Herde jagdbares Wild, gegen alle Vernunft, gegen alle Menschlichkeit und ohne Grund. Man erschoß ihre Frauen und Kinder beim banalsten Anlaß, man hängte die Häuptlinge und stellte die abgeschnittenen Köpfe in den Städten aus. Der Mann, der den Häuptling »Little Crow« tötete, erhielt eine Geldprämie. Der »berühmte« Pfadfinder Buffalo Bill zeigte den eine Zeitlang

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gefangengehaltenen großen Sioux-Häuptling »Sitting Bull« für Geld in einem Circus. Was wollten die Weißen? Was war es nur, was sie trieb? Kommt es immer so, wenn man die Menschen losläßt und sie keinen Richter mehr zu fürchten haben? Dann kehren sie auch noch die schlimmste Seite heraus, die der menschliche Geist hervorgebracht hat, den Hohn. Man verfolgte die Sioux bis nach Canada, überschritt die Grenze, schleppte sie zurück und hängte sie. Man hängte auch »aus Versehen«, man hängte auch welche, die Weiße gerettet hatten. In dieser letzten großen Not erstanden den Indianern noch einmal Führer, deren Namen unvergessen sind wie einst Tecumseh. Fast alle starben einen elenden Tod: »Sitting Bull«, den ein Verräter für einen Judaslohn erschoß, »Big Snake«, den man bei einer »friedlichen Unterhandlung« mit Gewehrkolben erschlug, »Big Foot«, der bei einem sinnlosen Gemetzel seiner unbewaffneten Krieger, Frauen und Kinder verwundet im Schnee liegengelassen wurde und erfror, »Little Wolf«, den man in einem Fort gefangenhielt und durch Whisky ruinierte, »Chief Joseph«, der in einem Konzentrationslager starb, »Captain Jack«, Häuptling des friedlichsten aller Stämme, den man hängte. In vier Schlachten erhielten die Indianer den Todesstoß. 1864 wurden die Cheyennes zusammengeschlagen. 1876 überfiel der Abenteurer-General Güster bei Little Bighorn ein Meeting der Sioux und befreundeter Stämme. Die Schlacht wurde für Amerika ein Volkstrauertag, denn sie ging aus, wie Schlachten für Amerikaner nicht auszugehen haben: Güsters Reiterei wurde im Mann-gegen-Mann-Kampf aufgerieben; ein einziger, der Trommler, entkam. Güster selbst gab sich, wie man heute weiß, aus Angst selbst den Tod. 1877 wurden die Nez-Perce-Indianer, die am Ende nichts mehr besaßen als ein paar Fetzen am Leibe,

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auf der Flucht nach Canada vernichtet, und 1890 fand die Schlacht am »Wounded Knee« statt, die darin bestand, daß die berüchtigten 7. Dragoner das Lager der Minne-conjou-Sioux überfielen. Die Indianer ergaben sich ohne Gegenwehr und ließen sich entwaffnen. Aus einem der berühmten »bedauerlichen Mißverständnisse« mähte man dann mit Gewehren und Kanonen Männer, Frauen und Kinder nieder. Hierbei starb »Big Foot«. Dee Brown berichtet, daß man - es war der vierte Weihnachtstag - die schwerverwundeten überlebenden, vier Krieger und siebenundvierzig Frauen und Kinder, in einer Kirche auf den Boden bettete. »Über den Altar, mit Tannenzweigen geschmückt, war ein Tuch gespannt, auf dem die Worte standen: >Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.<«

*

Sag mir, singt Marlene Dietrich, die Bewunderin Amerikas, sag mir, wo die Männer sind, wo sind sie geblieben? Ja, Frau Dietrich, wo? Aber die meinten Sie ja wohl nicht. Wo sind sie geblieben? Es gab Verzweifelte, sie waren Helden und sind daher tot. Es gab Naive, die (historisch) die Lokomotiven mit einem Lasso einfangen wollten; sie sind auch tot. Und es gab Schlaue; sie haben überlebt. Auf einer Fotografie aus dem Jahre 1903 kann man den fast achtzigjährigen, ehemals gefürchteten Apachenhäuptling »Geromino« sehen; er trägt einen Zylinderhut und sitzt am Steuer eines Autos. Sieht das nicht so aus, als ob die Indianer wie die Neger überlebt haben würden, wenn sie gleich die Stiefel der Mächtigen geleckt und bekannt hätten, daß sie Ungeziefer sind? Dürfen wir heute aus dieser Erkenntnis die frohe Hoffnung schöpfen, auch zu überleben?

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*

Vor diesem Kapitel hatte ich große Scheu. Ich habe Tage gebraucht, um mich zu überwinden und es in Angriff zu nehmen. Es steht Ihnen, meine Freunde und Feinde, frei, darüber zu lächeln. Vor zwei Stellen in diesem Buch hatte ich Angst; die eine ist der Schluß, die andere habe ich nun also hinter mich gebracht. Ich kann nicht einmal sagen, was mich so lahmte. Ich berichte doch von längst vergangenen Dingen, von Dingen, die sich in der Geschichte der Menschen so viele Male wiederholt haben und immer wiederholen. Vom Sterben, vom Töten, vom Demütigen und Verkommenlassen. Doch es sind, glaube ich, nicht die Leidenden, die diesmal meinem Herzen zusetzen, sondern die Triumphierenden, deren Jüngstes Gericht noch aussteht. Ich kann mir zur Not Pizarro und Cortez erklären, aber nicht jene Menschen, die ohne Grund, ohne Haß, ja nicht einmal mit dem Hauch eines Wahns ein Volk von der Erde vertilgten. Inkas und Azteken sind überfallen worden wie von einer Naturkatastrophe, wie von einem Vulkanausbruch. Die Indianer aber wurden von Gehirnen ausgelöscht, die schon einer mutierten Menschenrasse angehörten. Ich weiß, was in Hellas an Furchterregendem geschah, in Rom, im Mittelalter, in der Inquisition, in der Französischen Revolution, in den Lagern der Engländer, der Russen, der Deutschen, in China, in Spanien, in Abessinien - ich weiß, daß die Menschen mißlungene Geschöpfe des Universums sind, daß der Geist der Widersacher der Seele ist, daß wir erbärmliche Töter und Vernichter sind, schlimmer als ein Raubtier. Aber endgültig unheimlich wird der Mensch erst dann, wenn er die Taten ohne Wahn, ohne Rausch, ohne Fahne, ohne Glauben, sogar ohne Haß begeht. Nicht einmal Haß haben

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sie gefühlt, gar nichts. Sie haben mit der stummen Frage Gottes Auge in Auge gelebt, ohne daß ihr Atem auch nur einmal stockte; ohne überhaupt zu verstehen, was Gott meinte. Keine anderen Völker haben sich Millionen geraubte Neger gekauft und versklavt und in zwei Jahrhunderten eine Million Indianer abgeschlachtet. Wenn es doch wenigstens im Wahn gewesen wäre! Walt Whitman, one of the greatest poets of America, jubelte: »Unsere Vereinigten Staaten sind wie das vollkommenste Gedicht.«

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XIII

Damals erstand den Amerikanern der Philosoph, den sie brauchten. Sie brauchten keinen Aristoteles, keinen Spinosa, keinen Goethe, keinen Hegel, keinen Kant, keinen Schopenhauer, keinen Tocqueville; sie brauchten einen Philosophen, der ihnen bestätigte, daß der neue Mensch -und die Amerikaner merkten bei Betrachtung der übrigen Welt, daß sie wirklich eine neue Art im Sinne der Darwinschen und Haeckelschen Deszendenz-Theorie waren - ich sagte: der ihren bestätigte, daß der neue Mensch eine von Gott und Calvin verbesserte Konstruktion war, der sich keine Gedanken zu machen brauchte. Der Philosoph hieß William James. Er begründete den sogenannten Pragmatismus in der Lebensphilosophie. Der Pragmatismus von James lehrt, daß nicht das Denken oder die Ethik für die Frage nach der Wahrheit oder dem Wahrheitswert entscheidend sind, sondern allein die Tat, die Handlung (Pragma) und ihr Erfolg. Diese Philosophie lehnt alle Maßstäbe der überkommenen Moralbegriffe oder Bezüge auf Seelisches ab und beruft sich auf den Individualismus des Menschen, »der sich selbst seine Erfahrungen organisiert«. Nun hatten sie es also von einem gelernten Professor schwarz auf weiß, und es gab auch den gebildeten Kreisen das unbegrenzte Selbstvertrauen, das der Mann auf der Straße schon lange hatte. Sie konnten nun alle guten Mutes loslegen mit der amerikanischen Tüchtigkeit und abends nach kurzem Dankgebet, oder auch ohne, sich die Bettdecke ans Kinn ziehen und pennen. So ist es bis heute

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geblieben. Seitdem ist »Erfolg« für sie gleich »Glück«. Erfolg ersetzt ihnen alles. Das Glücksgefühl des Abendlandes ist ihnen nicht mehr verständlich. Wie Sie bemerkt haben werden, ist die schillerndste Blüte an dem Jamesschen Pragmatismus die »Freiheit«. Denn die Lossage von der alten Ethik, die Lossage von der idealistischen Gesellschaftsverpflichtung, die Lossage von den Kategorien des Denkens (Kant: Quantität, Qualität, Relation, Modalität), die Lossage vom seelischen Bereich- das alles ist ja nur die bunte Verpackung für das Wort »frei«. Los besagt ja nichts Geringeres als frei werden. James war es, der leugnete, daß »los« auch Verlust bedeuten kann. Für ihn nie. Und das ist ein krankhafter Zug. Man kann, um ein drastisches Beispiel zu geben, auch Geld los werden, also vom Gelde frei werden. Verstehen Sie, daß ich das Wort »frei« schillernd nannte? Das Wort hat nicht, wie die Ideologen lehren, a priori einen Heiligenschein. Es kommt einem der schwere Verdacht, daß der Mensch durchaus nicht immer von allem »frei« sein will, sondern nur von Dingen, die ihm nicht in den Kram passen. Daraus ergibt sich eine Erkenntnis, die von allen Hirnlosen mit großem Bedauern vernommen werden wird, nämlich die Erkenntnis, daß das Wort »Freiheit« zwar etwas aussagt, aber verschweigt, wovon. Es ist ein Wort wie »Wetter«. Gefällt Ihnen Wetter? Das kommt darauf an, nicht wahr? Eben. Die Benutzung des Wortes Freiheit geschieht fast immer in Form einer Parole, einer Fanfare. Sie hat eine gefährliche Faszination. Es sind meistens Verführer, die sie benutzen, und Dummköpfe, die sie inhalieren. William James war natürlich kein Dummkopf, er schluckte die Pille ja auch nicht, sondern er drehte sie. Für den neuen Menschentyp, den Amerika repräsentierte,

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war das Wort Freiheit Opium. Natürlich, der Amerikaner hätte durchaus sagen können, worin er zum Beispiel freier war als ein Preuße, aber dies oder ähnliches war es nicht, womit er den Begriff Freiheit füllte; nein, »Freiheit« wurde für den Amerikaner die Geliebte, auch wenn sie ihn fortgesetzt betrog und zum lächerlichen »Professor Unrat« machte. 1886 stellten die Amerikaner dieser Hure zu Ehren vor der Hafeneinfahrt von New York eine Riesenstatue auf, die ihnen Frankreich geschenkt hatte und die, da die Franzosen Scherzbolde sind, innen hohl ist.

*

So ausgerüstet, spuckte Amerika in die Hände und sagte, jetzt wollen wir mal zeigen, was eine Harke ist. Damals entstand der Mythos von dem armen Jungen vom Lande, der in die große fremde Stadt kam, als Tellerwäscher und Schuhputzer begann und als Millionär endete. Dann holte er sein altes Mütterchen im Cadillac zu sich und zeigte ihm den Rinnstein, worin er die erste kalte Nacht verbracht hatte. Der Mythos wurde von der einen Seite eifrig gepflegt und von der anderen Seite eifrig geglaubt, er verkörperte sozusagen - und das war das einmalig Schöne, Amerikanische - die Gleichheit der Chancen; er war eigentlich direkt religiös. Europa hatte die Märchen von Dornröschen und Hans im Glück, Amerika hatte das Märchen vom Tellerwäscher. Wenn die Herzen vertrocknen, wenn die Seele nicht mehr in ein Märchenland fliegen will, dann sind die Rosen, die Burg, die böse Patin mit der vergifteten Nadel, der tausendjährige Schlaf und der Prinz machtlos geworden. Die taubgewordenen Herzen, die vom amerikanischen Pragmatismus ganz besetzten Herzen, mögen die Worte

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noch wahrnehmen, aber Dornröschen und Hans im Glück sind unwirklich und damit unbrauchbar für das Leben. Wie sagen wir heute: Sie lehren nichts, da nicht gesellschaftsbezogen! Der Tellerwäscher ist das Märchen, das verheißt! Ich möchte nicht wissen, wie viele Mütter in den Slums ihre kleinen Kinder mit diesem Märchen in den Schlaf gesungen haben. Ich sage das ohne Ironie. Für viele, für Millionen, wurde das Märchen schon fast Wirklichkeit, wenn sie sich tausend Dollar erspart hatten. Tausend Dollar! Sie lebten weiter im Hinterhof und schufteten; das Geld mußte, wie Rockefeller und Vanderbilt es mit den ersten Tausendern getan hatten, »angelegt« werden. Auch der Gemüsehändler träumte und schuftete, der Schmied, der Buchhalter; Scheinchen auf Scheinchen wurde auf die Bank getragen, es wurden fünftausend oder vielleicht schon zehntausend - bald war es so weit, »einzusteigen«. Herrlich, wie alles blühte und gedieh! Eines Tages, am 20. September 1873, war der Traum ausgeträumt. Ein Börsenkrach, so groß wie der von 1929, hatte sich die »Freiheit« genommen, alles zu verschlingen. Was war passiert? Gewackelt hatten die Finanzen schon oft, ohne daß das Volk viel gemerkt hätte. Jedesmal war der Grund leicht zu erkennen gewesen: mal Fehlspekulationen der Landwirtschaft, mal falsche Zollpolitik, mal Krieg. Was war es diesmal? Am 17. September krachte aus heiterem Himmel eine der angesehensten Banken Philadelphias, Cooke & Co. Drei Tage später schloß die New Yorker Börse die Tore. Es bedeutete für alle Geldinstitute nichts Geringeres, als Farbe zu bekennen. Sechstausend bekannten, daß sie bankrott waren. Wenig später stieg die Zahl schon auf achttausend. Die gesamte Wirtschaft schien zusammenzukrachen. Die Industrie legte eine Reihe von

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Hochöfen still, stellte den Eisenbahnbau ein, stoppte alle Aufträge und nahm keine Schuldabtragungen mehr an. Die kleinen Unternehmer zogen die Gitter herunter. Arbeiter und Angestellte wurden in Massen arbeitslos und fluteten ratlos und verängstigt die Straßen auf und ab, auf Nachrichten wartend. Ich will Ihnen von den Hintergründen berichten, soweit sie zu rekonstruieren sind. Der Sezessionskrieg hatte viel Geld gekostet. Der Staat war seinen Zahlungsverpflichtungen an die Lieferanten des Kriegsmaterials, an die Industrie, an die Verpflegungswirtschaft und an die Soldaten mit Papiergeld nachgekommen, das natürlich nicht gedeckt war. Es waren Dollarnoten, die wegen ihrer Farbe unter dem Namen »Greenbacks« berüchtigt wurden. Vielleicht sollte ich statt »berüchtigt« besser »populär« sagen, denn noch ahnte das Volk nichts Böses. Bei Kriegsende, 1865, waren vierhundert Millionen davon im Umlauf. Der kleine Bürger, der Angestellte, der kleine Händler, der Arbeiter, der Sparer wartete auf die Einlösung in klingende Münze. Lange konnte die Lage nicht mehr verborgen bleiben, als die Banken die Greenbacks schließlich nur noch zum halben Nennwert notierten. 1871, also zwei Jahre vor dem Zusammenbruch, hatte das Oberste Bundesgericht eine Entscheidung gefällt, die wenigstens einen Teil des Problems lösen sollte. Es verfügte, daß alte, noch auf Goldrechnung basierende Schulden nicht mit Papiergeld bezahlt werden dürften. Eine logische Entscheidung. Aber jetzt kommt etwas Unheimliches. Präsident Grant lancierte bei der Neubesetzung von zwei Bundesrichterstellen Männer, die ihm willfährig waren und den Spruch wieder umstießen. Der Bund erhielt nun die Ermächtigung, weiter

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Papiergeld zu drucken und als vollwertiges Zahlungsmittel auszugeben. Welcher Hai hatte Grant an der Leine? Lassen wir diese Frage zunächst beiseite. Anfang 1873 beschloß der Kongreß, eine Staatsanleihe von dreihundert Millionen Dollar auszugeben. Cooke bemühte sich darum, die Zuteilung zu bekommen. John Pierpont Morgan »sorgte dafür«, daß das Bankhaus in Philadelphia diesmal nur die Hälfte erhielt, Morgan die andere. Morgan haßte Jay Cooke. Er jagte ihm also verständlicherweise die Hälfte der Obligationen ab, verständlicherweise nur, falls die Übernahme ein Geschäft war. War sie es? Ja, wenn der Absatz klappte. Cooke warb, um an die kleinen Zeichner heranzukommen, mehrere tausend Vertreter an und steckte viel Geld in die Werbung. Jay Cooke wuchsen die Kosten über den Kopf, er konnte nicht, wie Morgan, durchhalten, er machte bankrott. Aus diesem Zusammenbruch, der sogar den Rockefellers, Vanderbilts und Carnegies einen Moment lang den Atem nahm, ging John Pierpont Morgan doppelt so stark und doppelt so reich hervor. Der lange Atem hatte gesiegt. In schöner Chancengleichheit - allerdings wie die Halme einer frisch gemähten Wiese - konnten nun die Hinterbliebenen alle wieder von vorn anfangen und abends das Märchen vom Tellerwäscher träumen.

*

Die Amtszeit Grants ging zu Ende. Er, der als Beauftragter des Volkes begonnen und als Beauftragter der Hochfinanz seine Laufbahn schloß, ließ sich im Alter noch in Geschäfte ein, wurde betrogen und endete mit fünfzehn Millionen Dollar Schulden. Ein trauriges Ende. Und unverzeihlich für ein amerikanisches Idol.

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Erfolglos sein bedeutet nach dem amerikanischen Katechismus wertlos sein. Wer fällt, fällt tief. Neuer Präsident der Vereinigten Staaten wurde 1877 der fünfundfünfzigjährige Ex-Gouverneur von Ohio, Rutherford Hayes. Zwei Eigenschaften hielten sich bei ihm die Waage: Anständigkeit und Belanglosigkeit. Natürlich war auch Mister Hayes mal General gewesen. Es muß ungeheure Mengen von Feldherren gegeben haben. Das erklärt vielleicht, warum seit jener Zeit ein General in Amerika weit unter dem Einkäufer von Woolworth oder Revlon steht. Der Republikaner Hayes wurde nicht eigentlich gewählt, er wurde auf den Präsidentenstuhl gehoben. Die Hochfinanz wünschte eine Marionette und erreichte, als sein demokratischer Gegner gesiegt hatte, die Annullierung von Tausenden von demokratischen Stimmen aus den Südstaaten, so daß nun plötzlich ganz andere Wahlmänner anmarschierten. Die skandalöse Manipulation kam vor den Kongreß, der als alleinigen Ringrichter einen Mister Bradley einsetzte. Mister Bradley legte den Finger an die Nase und das Ohr an den Telegraphen und erklärte Hayes zum Präsidenten. Guten Glaubens, gewählt zu sein, wenn auch nicht besonders guten Mutes, zog Hayes ins Weiße Haus ein. Er hatte offenbar keine Ahnung, wozu er benutzt werden sollte, sonst hätte er nicht sofort etwas getan, was der Hochfinanz ganz und gar nicht gefiel und Hayes bedeutendste Tat bleiben sollte: Er berief Carl Schurz zum Innenminister. Carl Schurz war ein Deutscher. Das ist nicht gerade eine Empfehlung, doch man kann es hingehen lassen; Steuben war ja auch einer gewesen. Während Steuben aber nie ganz das Air eines Cagliostro

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ablegen konnte, machte Schurz einen strengen Eindruck. Während Steuben immer so aussah, als würde er gleich das Jagdhorn vom Gürtel haken und zum Frühstück blasen, erweckte Carl Schurz mit dem dunklen Vollbart und dem Kneifer auf der Nase die Vorstellung eines Mathematiklehrers, Realschule, Oberstufe, der sich gleich die Finger von der Kreide abputzen würde. Wir wissen, daß der leichtfertige Anschein bei Steuben täuschte, und ebenso täuschte auch der äußere Eindruck von Schurz. Er hatte ein Leben hinter sich, das alles andere als schulmeisterlich war. Er stammte aus Liblar bei Köln, studierte in Bonn, schloß sich 1848 als Neunzehnjähriger der demokratischen Bewegung an, beteiligte sich mit seinem Freund Kinkel am badischen Aufstand 1849, floh in die Schweiz, kehrte im nächsten Jahre heimlich nach Deutschland zurück und begann, seinen verhafteten Freund zu suchen. Als er hörte, daß Kinkel in der Spandauer Festung saß, schlich er sich nach Berlin, erkundete beharrlich die Möglichkeiten, in das Gefängnis zu gelangen, befreite tatsächlich den Freund und ging mit ihm, ohne daß man ihn erwischte, nach Amerika. Er fing als kleiner Farmer an, sattelte dann zum Advokaten um, stieß als Gegner der Sklaverei zur Republikanischen Partei und machte rasch Karriere. Lincoln lernte ihn kennen und schätzen. Im Sezessionskrieg befehligte er eine Miliz-Division (schon wieder ein General!), bekam bei Bull Run von Lee eins auf die Nase (was Steuben nicht passiert wäre), kehrte nach Kriegsende ins Privatleben zurück und wurde als hervorragender Redner in politischen Kreisen sehr populär. Als Innenminister trat er für Versöhnung mit dem Süden ein, bekämpfte die Ämter-Korruption und geißelte die kriminelle Indianer-Politik. Als er mit Ablauf der Amtszeit Hayes flog (denn selbstverständlich

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flog er noch zur selben Stunde), führte er seinen Kampf für Demokratie und Sauberkeit als Journalist weiter, bis er sich 1906 von dieser Erde verabschiedete. Die Amerikaner nannten einen Ort nach ihm »Schurz«. Falls Sie auch zufällig General sind und eine Generalstabskarte von Amerika besitzen, können Sie mit dem Vergrößerungsglas diesen Flecken am Walker-River in Nevada entdecken. Nach alldem kann man sich vorstellen, wie unbeliebt sich Schurz sehr schnell machte. Seine versöhnliche Südpolitik fiel nicht ins Gewicht, weil die Zeit sowieso dazu reif war. Seine Einstellung zu den Indianern interessierte die Hochfinanz wenig, weil sich das Indianerproblem bereits so gut wie erledigt hatte. Aber seine Säuberung in den hohen Ämtern wurde als äußerst unverschämt empfunden. Schurz führte Prüfungen ein, siebte die Kandidaten nach Fachkenntnissen und Unbescholtenheit und brachte jede Verfehlung unnachgiebig vor den Richter. Als besonders stinkendes Nest erwies sich die New Yorker Zollbehörde. Als er da hineinstach, fiel die ganze Republikanische Partei von ihm ab, und Hayes mußte im letzten Amtsjahr praktisch gegen alle, gegen den gesamten Kongreß regieren. Sonst ist aus dieser Zeit nichts Besonderes zu vermelden. Als die Neuwahl näherrückte, entblödete sich die Hochfinanz nicht, lieber den alten Grant (der damals noch nicht bankrott war) noch einmal aufzustellen als Hayes wieder zu nominieren. Was waren das für herrliche Zeiten unter Grant gewesen! Ach, man durfte gar nicht daran denken. Oh, alte Burschenherrlichkeit! Als Vanderbilt für jeden Kilometer Schienenstrang rechts und links zehn Meilen Land geschenkt bekam! Als Philip Armour bei seinen Fleischlieferungen an die Armee in drei Monaten eine Million Dollar verdiente, wobei aus den Tonnen schon die Maden krochen. Als Jay Gould noch sein

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Gaunergeschäft mit Gold ungestört in Szene setzen konnte - herrliche Erinnerungen. Aber leider nur Erinnerungen, denn Grant fiel schon bei der Vorwahl durch. Die Hochfinanz einigte sich daraufhin auf einen Mann, von dem man annehmen konnte, daß er Befehle entgegenzunehmen gewohnt war: auf James Garfield. Er war (entschuldigen Sie, ich kann's nicht ändern) General gewesen. Er war aber nicht nur General gewesen, sondern auch Tagelöhner, Kutscher und Lehrer. In diesem Sinne ein volkstümlicher Mann. James Abraham Garfield wurde 1881 der Jubiläumspräsident, der zwanzigste Präsident der USA. Er war gering dotiert, aber brav. Abermals hatte sich die Hochfinanz verspekuliert. Garfield war entschlossen, den ihm von Hayes und Schurz hinterlassenen Besen zu ergreifen und ebenfalls zu fegen. Zuerst ganz bescheiden, natürlich. Er fegte vier Monate lang. Am 2. Juli kam ein Mann namens Guiteau und schoß ihn tot. Aus Rache, weil ihm ein Posten verweigert worden war. Eine traurige Geschichte. Ein trauriger Tod. Ihm haftet so gar nichts von geschichtlicher Tragik an wie bei Lincoln; es ging nicht um Vaterland, nicht um Krieg und Frieden, nicht um eine Idee, nicht einmal um eine fixe. Das War schon ein übler Streich vom Schicksal. Ehe Garfield starb (er war, wie Lincoln, nicht gleich tot, die Kerle schössen auch noch schlecht), sprach er noch ein paar Worte. Sie werden sie nie erraten. Er fragte: »Werde ich einen Platz in der Geschichte einnehmen?« Was für Geschöpfe sind doch die Menschen! In der zwanzigbändigen neuen Enzyklopädie von Brockhaus, in der sogar ich mit sieben prallen Zeilen stehe, ist er überhaupt nicht erwähnt.

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Garfield war tot, eine Wahl war nicht nötig, die Wallstreet brauchte sich nicht zu bemühen. Den Vizepräsidenten, der jetzt aufrückte, empfand die Hochfinanz als sehr genehm, ehester Arthur, der neue Präsident, einundfünfzig Jahre alt, stammte aus New York. Er war Rechtsanwalt. Nicht nur das; ich beeile mich, hinzuzufügen, daß er auch General war. 1878 hatte Hayes ihn wegen Amtsmißbrauchs aus seiner hohen Stellung im Zollwesen hinausgeworfen. Als »Verfolgter« der Säuberungen genoß er das volle Vertrauen der Hochfinanz. Auch er enttäuschte es bitter. Weiß der Teufel, was in diese Würstchen von Präsidenten fuhr! Ausgerechnet Arthur war es, der Hayes und Schurz, die ihn einst gefeuert hatten, seligsprechen sollte! Er drückte mit List und Tücke ein Gesetz durch, das Zwölftausend Bundesdienststellen unter die direkte Kontrolle eines unabhängigen Fachausschusses stellte. Die leitenden Beamten mußten jetzt Examina bestehen. So weit war es mit der Freiheit gekommen! Chester Arthur hatte für die Hochfinanz aber auch seine akzeptablen Seiten. Zum Beispiel hat er - soll ich Ihnen mal was sagen: Hier ödet mich die amerikanische Geschichte. Ich hoffe sehr, daß es Ihnen auch so geht. Diese Präsidenten machen mich gähnen, und ihre Gesetze kommen mir vor wie Bekanntmachungen vom Hausverwalter betreffend des Teppichklopfens in der Schweiz. Wo ist der große politische Zug, wo ist das Tempo, wo ist der Wind geblieben, der dem Europäer den Hut vom Kopf riß, wenn er in New York landete? »Er drückte ein Gesetz durch . . .« Herr Arthur, Sie öden mich.

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XIV

Es sind die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. So nahe schon unserem Leben! Damit Sie erschrecken, wie nahe: Churchill, Franklin Roosevelt, Hitler und Stalin sind schon geboren. Das alte Europa leuchtet. Die Champs Elysées sehen aus wie heute; das Foyer der Großen Oper erstrahlt abends in elektrischem Licht, bei Durand-Ruel drängen sich die Pariser, um die Bilder von Degas, Sisley und Turner zu sehen; auf den Boulevards wogt es auf und ab, Droschken, Zeitungsjungen, die kleinen Midinetten, die Cafe-Hocker und Bummler; man spricht über Zolas »Germinal« und Maupassants »Bel ami«. »Unter den Linden« in Berlin zieht die Wache auf; der greise deutsche Kaiser blickt aus dem Fenster des Palais und grüßt mit der Hand. Schusterjungen laufen neben der Musik her; auf dem Balkon des Cafes »Kranzler« erheben sich engtaillierte Leutnants, um zuzuschauen; die bärtigen Professoren, die zur nahen Universität stelzen, bleiben stehen und legen das Kinn patriotisch an das Plastron; die Sonne über den jungen, blühenden Bäumen lacht; die Studenten auch. Gleich um die Ecke, in den Museen am grünen Lustgarten, ziehen Gruppen, heiliggestimmt und klopfenden Herzens, durch die Säle und betrachten die Werke Griechenlands, Roms, Ägyptens, die man entdeckt und ausgegraben hat. Aus der Oper hört man Bruchstücke von Musik, man probt Wagners letzte Schöpfung, den »Parsifal«; in den Programmkästen der Singakademie ist

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Richard Strauss’ »Don Juan« angekündigt. Schöne Jahre. Man kann sie so leicht vor sich sehen. Es sind Jahre (Ich weiß, ich weiß. Sparen Sie bitte Ihren Atem. Alles hat eine Rückseite!) - ganz voll gehorsamer Andacht und kindlichem Augenaufschlag, voll Genie und zugleich Albernheit, voll Missa solemnis und Pulswärmer; die Luft voll Kunst, voll Horchen und voll von dem schönen »Hang zum Höheren«, der zwar noch nicht die erste Stufe der Himmelstreppe ist, wohl aber die Fußmatte. Ist das Leuchten? Jawohl. Auch wenn es wenig ist. Denn es ist noch die Zeit, »wo der Mensch den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinausschießt und die Sehne seines Bogens noch nicht verlernt hat, zu schwirren«. (Nietzsche) Man sieht Europa ganz deutlich vor sich - mit der Nelke im Knopfloch, mit dem Eton-Zylinder, mit dem Monokel, mit dem Diplom für treue Dienste. Ich kann auch Amerika sehen. Ich sehe das riesige Land, die großen Wälder mit den Baumriesen, die endlosen Prärien, die wogenden Baumwollplantagen und Kornfelder, so groß wie ganz Preußen, die gigantischen Canions, die rotglühenden Berge, den majestätischen Mississippi und die reißenden Wasserfälle des Niagara, die grünen Eilande von New England. Ein Wunderland. Ich sehe die stampfenden Maschinen, die Ameisenarbeiter in den stählernen Fabrikhallen, die qualmenden Schornsteine, die Städte, konstruiert und in Windeseile gewachsen, in denen es von Menschen wimmelt. Aber, sosehr ich auch meine Augen anstrenge, ich sehe keinen Einzelnen; ich sehe nur Masse. Sie scheinen nur Bevölkerung zu sein. Sie bevölkern. Sie rennen nicht mehr nach Westen, sie rennen nur noch im Kreise, sie haben es geschafft, sie sind überall. Sie sausen im Pullmanwagen von einem Ozean zum anderen, um zu kaufen und zu verkaufen, sie

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strömen in Massen in die Fabriken der Städte, sitzen in Reihen zu Hunderten wie einst die Sklaven an Nähmaschinen und trampeln. Die ersten Wolkenkratzer steigen in den diesigen Himmel, in den Waben nisten Büros, Kontore, Büros, Kontore, Büros. Überall hin spielen die Drähte. Es gibt ein Bild vom New Yorker Broadway zur Bürozeit, aus dem Jahre 1889: Es sind nicht viele Menschen zu sehen, fast nur Männer: sie eilen. Sie sitzen nicht im Cafe, sie stehen nicht beieinander, sie sprechen gewiß nicht über Germinal und Bel Ami, sie eilen. Pferde-Straßenbahnen rumpeln auf dem leeren Pflaster dahin. Das Fremdartigste an dem Bild ist dies: Über den Köpfen spannt sich kreuz und quer ein enges Netz von Telefon- und Telegraphendrähten. Und so, wie in der Zirkuskuppel die Artisten über dem Netz arbeiten, so sieht man die Menschen hier unter ihm. Das eine schützt vor der Erde, das andere schützt offenbar vor dem Himmel. Das Netz auf dem Broadway ist so dicht, daß es jede Handbreit Himmel hundertfach durchschneidet. An einem einzigen der vielen hölzernen Masten kann man zweihundert Drähte erkennen. Gegen Abend entläßt die Arbeit ihre Menschen. Sie kehren in ihre Unterkünfte zurück. Auf Bildern sieht man schon die traurigen Canions der Millionen Neger und des ersten Bodensatzes von zehn Millionen heimatloser Einwanderer. Sie dürfen nicht zurückblicken, sie haben ja abgeschworen. Sie haben die Vergangenheit eingetauscht gegen irgendeine Zukunft. Sie erzählen sich das Märchen vom Tellerwäscher. Sie klammern sich an das Neue. Dies hier ist das Neue, der Hinterhof, die Feuerleitern, die Straßen ohne Namen nur mit toten Zahlen, die Riesenstädte mit ihren monotonen Würfeln, die Masse Mensch. Tocqueville ist durch diese amerikanischen Großstädte gewandert: »Ich lasse

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meinen Blick über diese unzählige Menge aus gleichen Einzelnen schweifen. Diese Leute mögen physisch frei sein, psychisch sind sie versklavt. Das Schauspiel dieser Verwandlung zur Gleichheit macht mich traurig und zu Eis.« Auch die Mächtigen, die immer unsichtbarer gewordenen Mächtigen, sind von der »Arbeit« heimgekehrt in ihre Landhäuser. Sie machen sich fertig für die »Metropolitan«, die neue Oper, die sie sich als Visitenkarte geleistet haben, und sitzen im »goldenen Hufeisen« des ersten Ranges. Oder sie sind zu Hause, unter sich. Sie sprechen von morgen und übermorgen. Nach dem Dinner trägt man eine gewaltige Pastete auf, aus der mit einem Tusch des engagierten Orchesters eine Balletteuse springt. Oder der schwarze Diener (frei) stellt eine Silberschüssel voll Erbsen auf, aus der die Damen mit kleinen Löffelchen die Rubine und Smaragde herauszufischen versuchen, die der Herr des Hauses ihnen als Gutenachtgruß zugedacht hat. War es so? Ich lese es. Ich lese auch, daß es in New York schon viertausend registrierte Verbrecher und jeden Tag drei Morde gab. Ich lese auch Tom Sawayer und Huckleberry Finn. Da leben sie in kleinen Städtchen beinahe wie in Stade und Göttingen; die Kinder spielen in der Stube mit Zinnsoldaten oder werfen sich das Gewehr über und schießen am Fluß die wilden Kaninchen. In den Küchen wird gekocht, und in den Schlafzimmern wird geliebt. Am Old man river, am Mississippi, ziehen die Neger nach des Tages Last in ihre Quartiere und machen sie für ein paar Stunden wieder zum Kral. Sie tanzen zuckend, singen, trommeln und trompeten. Die Zeitungen nennen es zum erstenmal »Jazz«. Verlassenheit. Einsamkeit. Zweitausend Kilometer höher, im Norden, auf einem

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geliehenen Fleck Erde in den Rocky Mountains, hocken die elenden Gestalten der letzten Indianer um ein Feuer und erheben ihren »Nachtgesang« - die Erinnerung an Wovoka, den roten Messias, und den Geistertanz. Im Saloon der nahen Western-Stadt singen die Jungen den Yankee Doodle »A Yankee boy is trim and tall . . .« und pfeifen auf ehester Arthur oder wie immer der Mann heißen mag.

*

1885 stellten zum erstenmal seit dem Bürgerkrieg überraschend wieder die Demokraten den Präsidenten: Grover Cleveland. Der Gemeinte war ein anderer gewesen, der Republikaner Gillespie Blaine, den die Lexika gern einen »Staatsmann« nennen, während er tatsächlich nichts weiter als ein bornierter, geschwätziger Berufspolitiker war, gänzlich skrupellos und daher ein vorzügliches Werkzeug der Hochfinanz. Er unterlag aus zwei Gründen: Erstens quatschte er sich selbst tot, und zweitens quatschte ihn ein protestantischer Geistlicher, der damals sehr populär war, mit seinen frommen Lobreden tot. Alle Katholiken wählten daraufhin Cleveland. Cleveland hatte es nie zum General gebracht, aber er erfüllte wenigstens die Ersatzbedingung, er war Rechtsanwalt gewesen, ehe er in die Politik ging. Warum ging er überhaupt in die Politik? Ich vermute, daß er kein Perry Mason und sein Wartezimmer nie überfüllt war. Er wurde zunächst Sheriff, dann ein vernünftiger Bürgermeister (in Buffalo) und ein fleißiger, unnachgiebiger Gouverneur von New York. Falls ihm einstmals als Sheriff und Bürgermeister das Machtgefüge der Hochfinanz noch als Buch mit sieben Siegeln

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erschienen war - als Gouverneur bestimmt nicht mehr. In New York hat er den Diktatoren schon Auge in Auge gegenübergesessen. Oderint dum metuant - nein, beides traf nicht zu; sie haßten ihn nicht, und sie fürchteten ihn nicht. Sie fürchteten überhaupt niemanden mehr. Er war ihnen nur lästig. Cleveland stand mit seinen achtundvierzig Jahren in der Fülle des Lebens. Auch nach Kilogramm gemessen. Er war ein sogenannter stattlicher Herr. Stattlichkeit entsprach jetzt, auch in Europa, dem Zeitgeist (Zeitgeist zu besitzen, ist überhaupt sehr beliebt: Es ist der einzige Geist, der nicht weh tut). Ein Hering wie Joseph Kainz hatte nichts zu bestellen gegen Matkowsky, Oberbürgermeister Lueger galt als schönster Mann Wiens, und der spätere Reichskanzler von Bülow war überhaupt einsame Spitze. Über ihren Leibern spannten sich die Jacketts, und an der Weste schaukelte die goldene Uhrkette. So sah Cleveland aus. Vorbei die Ära der rauhen Typen, überhaupt der unverwechselbaren Gestalten; die Ikonographie wurde von dem soliden, Vertrauen erweckenden Aussehen John Pierpont Morgans bestimmt. Cleveland riß als Präsident nicht gerade Bäume aus, erreichte jedoch sehr Beachtliches. Er sicherte den letzten Indianern ihren letzten kümmerlichen Lebensraum. Er verhinderte ein hinterhältiges, unter der Maske der patriotischen Dankbarkeit eingebrachtes Gesetz, allen Invaliden eine kräftige Pension zu verschaffen, unbesehen ob Kriegsversehrten oder privaten Raufbolden, die sich die Nase abgeschossen hatten; das Budget wäre in die Milliarden gegangen. Er wünschte eine Senkung der Zölle, um die Wirtschaft, dieses Schoßkind, zu zwingen, sich selbst international auszubalancieren. Das war schon etwas, was der

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Schwerindustrie übel roch. Als Cleveland furchtlos nun auch noch den ganzen stinkenden Komplex der Gaunereien mit dem Staatsland aufrollte und von den Eisenbahngesellschaften die Rückgabe von Millionen acres »geschenkten« Landes durchsetzte, wurde es bitterernst. Wer hätte das von diesem jovialen Mann vermutet, und wie konnte man ahnen, daß alle Bestechungsversuche im Kongreß zu spät kamen! Millionen von acres, das ging den Vanderbilt, Gould und Harriman an den Nerv. Der Verlust war zu groß, das Exempel zu gefährlich. Das Volk wußte überhaupt schon viel zu viel von diesen Dingen (J. P. Morgan: »Öffentlichkeit? Ich schulde der Öffentlichkeit überhaupt nichts!«) - Cleveland mußte verschwinden. Die Neuwahlen standen vor der Tür. Was tat das dankbare Volk 1888? Fragen Sie im Ernst?

*

Der neue Präsident, Benjamin Harrison (Enkel des von mir unterschlagenen Präsidenten William Harrison), war wieder Republikaner. Mit erstklassigem Fragebogen: Virginia-Familie, Rechtsanwalt, General. Diesmal hatten sich die Morgans und Vanderbilts vorgesehen, er war wirklich unbedeutend, also kein Reinfall. Staatssekretär wurde Blaine, jener verschwätzte James Gillespie Blaine. Noch sicherer ging es nicht. Harrisons Taten sind folgende: Erhöhung der Zölle zugunsten der Industrie, Vergabe von öffentlichen Arbeiten an die Industrie, Invalidenpensionen, Umbesetzung der Beamtenposten nach Parteigesichtspunkten, Neuvergebung von dreißigtausend Postmeisterstellen an Republikaner, Unterstützung der Industrie bei Ausweitung und Neugründung. Budget für 1890: eine Milliarde Dollar.

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Dazu kam noch etwas ganz Wunderbares, wunderbar, weil es auf lange Sicht die Dividenden und den Rauch der Schornsteine gen Himmel steigen ließ. Schon vor Jahren hatte »die Öffentlichkeit« entdeckt, daß Amerika seit Gedenken keine Flotte besaß; das heißt, es besaß etwas, was sich auf dem Papier so nannte, aber es waren Klapperkisten. Hier bot sich also für die Industrie »ein weites Feld«, wie Fontäne zu sagen pflegte, ein Feld, das sich unter Harrison bestens beackern ließ. Man ackerte fleißig, und eine prächtige Flottenparade zeigte alsbald dem Volk, wo die öffentlichen Gelder geblieben waren. Sie schwammen dahin. Und dann geschah es - es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht, genau wie der nüchterne Cleveland vorausgesehen hatte. Die Kredite waren erschöpft, die Wirtschaft blieb mit einem Ruck mitten in den Spekulationen stecken. Ich höre Sie erschreckt rufen: Himmel, es wird doch nicht schon wieder eine Wirtschaftskrise kommen! Leider, mein Herr, leider, und ich kann nichts dafür. Sie sind kein Wirtschaftler, und es langweilt Sie? Mich auch. Aber wir müssen hindurch, da hilft nichts. Zünden Sie sich eine neue Zigarre an, John Pierpont Morgan tat's auch. Ja, es ist erstaunlich, wie oft ein so blühender Kontinent, ein so mächtiger Staat, eine so reiche Nation von Krisen geschüttelt wurde. Es gibt, wenn ich mich nicht irre, ein Märchen von einem Baum, der geschüttelt wird und goldene Äpfel abwirft. Gibt es nicht so ein Märchen? Jedenfalls so müssen Sie sich die Krise, von der der Mammutbaum Amerika geschüttelt wurde, vorstellen. Unter dem Baum stand ein kleines Grüppchen von Männern und hielt die Schürzen auf. Der Anfang war ganz verständlich. Zwei vorausgegangene Jahre waren für die Landwirtschaft verhängnisvoll gewesen. Sommerliche Dürre hatte die Felder

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vertrocknen lassen, und in den beiden folgenden Wintern mit ungewöhnlich tiefem Schnee und eisigen Stürmen kamen Tausende von Rinderherden um. Die Farmer brachten die fälligen Abtragungen oder Kreditzinsen nicht mehr auf; die ländlichen Banken brauchten das Geld aber dringend, um ihren eigenen Verpflichtungen gegenüber den Großbanken nachzukommen. Sie gerieten in Schwierigkeiten. Sobald das durchsickerte, stürmten die Einleger die Kassen - der Bankrott war da. Hundertundachtundfünfzig Banken krachten und rissen fünfzehntausend Kleinbetriebe mit. Bisher ist alles klar. Es geht mit rechten Dingen zu, wenn es auch bodenlos ist, daß die Großbanken keinen Finger rührten. Nun schob sich die Misere wie ein Gletscher ostwärts und erreichte die Wirtschaft an der Atlantikküste. Wenn bisher die Güterzüge mit Getreide und Vieh Tag und Nacht durch das Land gerollt waren, so fuhren die Waggons jetzt halbleer, und an den Lokomotiven hingen nicht mehr dreißig Wagen, sondern zehn. Die Eisenbahngesellschaften schränkten den Verkehr drastisch ein, die ersten Arbeiter und Angestellten flogen auf die Straße. Auch alle Unternehmer, die in der Spekulation steckten, entließen oder machten zu. Die Sparer griffen auf ihre Notgroschen zurück oder hoben aus Angst ihr Geld ab. Größere Banken begannen zu wackeln. Wie gelähmt sah Präsident Harrison der sausenden Talfahrt zu. Er ersehnte das Ende seiner Amtszeit. Sie war 1893 da, als die Zahl der Arbeitslosen gerade die vier Millionen überschritt. Das verängstigte Volk rief nach Cleveland und wählte ihn zum zweitenmal zum Präsidenten. Der Hochfinanz war es egal, denn der große Coup war nicht mehr zu bremsen. Das Feld, auf dem er gelandet werden sollte, waren die Eisenbahnen. Sie waren schon seit ihrem Entstehen ein

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ganz finsteres Kapitel. Soll ich Ihnen einmal sagen, wie die Transkontinentalstrecke zwischen Atlantik und Stillem Ozean entstanden ist? Es ist ein Kriminalroman. Der Bau war ein Staatsprojekt gewesen, aber die Regierung wollte sich nicht die Last aufbürden, selbst Bauherr zu sein, sondern stellte Kredite und Land zur Verfügung. Wie die Hyänen stürzten sich die Unternehmer auf dieses herrliche Projekt. Man gründete zwei Gesellschaften: Die »Central Pacific« sollte den Bau von Kalifornien aus nach Osten treiben, die »Union Pacific« sollte vom Atlantik nach Westen vorstoßen. Die Regierung gab den beiden Gesellschaften, die sich blitzartig gebildet hatten, zwanzig Millionen acres Land und eine Garantie von fünfzehntausend bis fünfzigtausend Dollar für jede fertiggestellte Bahnmeile. An eigenem Kapital sollte die »Central« zehn Millionen, die »Union« hundert Millionen Dollar besitzen. Sie besaßen es nicht. Sie dachten auch gar nicht daran, selbst Kapital aufzubringen. Schwindelfrei, wie sie waren, gaben sie ihrerseits Aktien und Schuldverschreibungen aus - in verständlichem Deutsch heißt das, sie verpfändeten etwas nicht Existierendes, das der Staat jedoch, solange er von der Nichtexistenz nichts wußte, garantierte. Verstehen Sie? Nein? Das macht nichts. Die Wallstreet verstand es. Ferner verschafften die Gesellschaften sich Geld für den Beginn der Arbeiten, indem sie die Städte, die auf eine Berührung mit der Bahnlinie hofften, regelrecht zu Abgaben erpreßten; sie konnten die Strecken ja führen, wie sie wollten. Sie gründeten auch eigene Baufirmen, die ihnen zur Vorlage in Washington doppelt hohe Rechnungen stellten. Es lief alles bestens. Eines Tages war die Atlantik-Pazifik-Strecke geboren und mit ihr die ersten Eisenbahnkrösusse. Der Krimi ist

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aber noch nicht beendet. Plötzlich tauchte ein ganz großer Hai auf, der aus anderem Gewässer kam - wörtlich, er kam aus der Schiffahrt und war wohlbekannt: Vanderbilt. Er tauchte genau in dem Augenblick auf, als vier Eisenbahngesellschaften Bankrott machten, und damit sind wir also wieder zur gegenwärtigen Krise zurückgekehrt. Daß die große »Union« in den Strudel hineingezogen wurde, lag natürlich nicht daran, daß die Waggons leer fuhren; so etwas war zu verkraften. Sie war mutwillig ruiniert worden. Der Hauptaktionär, Jay Gould, hatte sie bis auf den letzten flüssigen Pfennig ausgeplündert, er hatte sich achtunddreißig Prozent Dividende gezahlt und die Bilanzen frisiert. Dann stieg er aus und ließ sie sitzen. Jay Gould besaß, zusammen mit zwei Partnern, noch die große Erie-Bahn, ebenfalls ein Unternehmen mit undurchsichtigen Machenschaften. Zunächst schaltete Gould seinen Partner Drew, einen ehemaligen Viehgroßhändler, aus; dann wurde sein zweiter Kompagnon, der zwielichtige Fisk, ermordet - ja, und nun, wo er Alleinherrscher war, kam Vanderbilt, der viel stärkere Hai. Ehe der Kampf entschieden war, starb Gould und vermehrte mit seinen Hunderten von verworrenen Geschäften, Konten, verwässerten Aktien und faulen Obligationen das Tohuwabohu vollends. Es herrschte ein unbeschreiblicher Wirrwarr. Die Aktien stürzten ins Bodenlose, die Schuldverschreibungen waren ein Fetzen Papier, mit dem man sich die Zigarette anzünden konnte. Und wann kamen die »Retter«? Es war ja substantiell gar nichts passiert: Die Züge fuhren immer noch, die Schienen lagen, die Millionen Morgen Land waren ja nicht verschwunden. Die Retter kamen. Aber selbstverständlich erst, als keine Gefahr mehr bestand, für die Verpflichtungen der bankrotten

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Gesellschaften geradestehen zu müssen. Erst als der kleine Mann alles verloren und keinen Anspruch mehr hatte. Jetzt war es soweit. J. P. Morgan »reorganisierte« die Erie- und einige andere Bahnen. Harriman (mit den ganz großen Banken an der Schulter) »opferte sich« für den größten Fisch, die Union Pacific. Vanderbilt sanierte die Bahnen im Osten. Auch Rockefeller war mit von der Partie. Ja, sie waren wie Stehaufmännchen alle wieder da. So eine Wirtschaftskrise ist die reinste Katharsis für die Hochfinanz. Wo, schrien die Bürger, sind unsere Millionen geblieben? In den traurigen Bankrotten, liebe Leute! Wir alle haben sie Gleicherweise getragen; sie haben niemanden verschont - so ist das Leben!

*

War Amerika immer noch das reiche, das schöne, das freie Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Aber ja! Es war nur kurz erschrocken gewesen. Auf diesen Schreck, so fanden die Mächtigen der USA, sollte das Volk sich nun mal einen genehmigen, wie die Schnapsler zu sagen pflegen. Ein schöner Anlaß bot sich 1893: Vor vierhundert Jahren war Amerika entdeckt worden! Ich habe zwar bisher geglaubt, dieses Ereignis sei 1492 passiert - aber bitte sehr. Man feierte heftig und freute sich, daß es Amerika gab. Europa schlug den goldenen Mittelweg ein, es feierte nicht mit, legte aber auch keinen Volkstrauertag ein. In Chicago inszenierte die Industrie eine pompöse Weltausstellung in Form eines riesigen Volksspektakels. Merkwürdig - auch die erste Messe auf amerikanischem Boden, die 1876 in Philadelphia stattgefunden hatte, lag kurz nach einer

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schweren Wirtschaftskrise. Sollte mein Bild von den Schnapslern mehr als nur ein Scherz sein? Chicago wollte den Amerikanern, vor allem aber der alten Tante Europa zeigen, wie herrlich weit es die Neue Welt gebracht hatte, auch ohne tausend Jahre auf dem Buckel zu haben. Jung und alt machte sich auf die Socken, kam, sah und war, nachdem man vorher durch alle Belustigungen geschleust worden war, überwältigt. Diese Fülle von Erfindungen und Errungenschaften! Man staunte vor den zehn Meter hohen Dampfmaschinen, man stand vor den Turbinen, man ließ den Telegrafen spielen, man durfte telefonieren, man hörte Edisons Trichter-Grammophon krächzen, man trat zu Mergenthalers Setzmaschine und sah zu, wie eine Buchseite entstand, vor aller Augen arbeitete Hermann Holleriths Lochkartenapparat, mit dem die USA erst kürzlich eine Volkszählung durchgeführt hatten, es ratterten Maschinen, auf denen man wie gedruckt schreiben konnte, man erlebte zum erstenmal elektrische Schweißung und Sandstrahlgebläse, man bekam eine Bremse vorgeführt, die durch Luftdruck funktionierte, man sah den ersten »gerollten Film« von einem gewissen George Eastman, der noch als schüchterner Mann danebenstand, aber der Begründer eines der größten Trusts der Welt werden sollte. Es war, um den Hut in die Luft zu werfen vor Vergnügen und Stolz. Ich weiß nicht, mit welchen Gefühlen die Europäer nach Hause fuhren. Ich weiß nicht, ob sie ein Menetekel sahen, wahrscheinlich nicht; vielleicht hatten sie Minderwertigkeitsgefühle? Es gab in Wahrheit keinen Grund. Das Telefon hatte nicht Bell erfunden, sondern Philipp Reis; fünfzehn Jahre, bevor Edison seine erste Glühlampe aufleuchten ließ, brannte in der Werkstatt des Mechanikers Heinrich Goebel bereits elektrisches Licht; ein halbes Jahrhundert, ehe die

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Amerikaner die Schreibmaschine konstruierten, klapperte schon eine im Hause von Mr. Mill in England. Der Schreibtelegraf, den Morse der erstaunten Welt vorführte, existierte längst, Gaus und Weber waren die Erfinder der Telegrafie; der Trommelrevolver wurde schon im Dreißigjährigen Kriege benutzt, ehe Colt ihn sich patentieren ließ. Die Niederdruckdampfmaschine, die Fulton in sein Boot einbaute, erfand der Engländer Watt, und ein »Dampfer« fuhr schon 1775 auf der Seine. Der Erfinder war Perrier. Nein, das war es nicht, was bedrücken konnte. Die Wiege der großen geistigen Schöpfungen lag im alten Kulturland Europa. Der Schöpfungsakt fand fast immer fernab dem amerikanischen Trubel statt und ebenso fast immer unbeachtet. Europa gebar die Gedanken, legte das faustisch Geschaffene achtlos beiseite und wandte sich neuen Gedanken zu. Das war stets der Augenblick, in dem Amerika kam, es an sich nahm, es sich holte, es kaufte oder lieh oder raubte. Mit dem ganzen Instinkt eines Verbrauchers begann es, sein Talent und seine unerschöpflichen Mittel zur Auswertung einzusetzen. Im Sinne Amerikas bekam die geistige Schöpfung erst jetzt Leben. Was war sie vorher gewesen? Nichts. Eine Sache ist nur das, was sie in Dollars wert ist. (Das bewundernswerteste Gemälde in einem Museum ist das, für das man den höchsten Preis bezahlt hat.) Was Europa damals in Chicago erschrecken mußte, war Amerikas beängstigende Fähigkeit, eine blasse Idee zum »Lebensmittel« zu machen, die Fähigkeit, etwas in gigantischem Maße auszunutzen. Niemand sah die Dampfwalze auf sich zukommen. Daguerre, Diesel, Roentgen, Curie, Planck, Hahn - sie alle sollten einmal nur noch die tolpatschigen Zubringer für das clevere Amerika werden. In Chicago 1893 war es zum erstenmal deutlich zu

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erkennen.

*

Ihr seid mir doch nicht mehr böse, fragte John Pierpont Morgan die Amerikaner und bewies gleich, wie nett er war, indem er dem Staat unter die Arme griff und, ohne lang hinzuschauen, Anleihen in Bausch und Bogen übernahm. Er hatte nur eine winzige Bedingung daran geknüpft: auf das Gold des Schatzamtes seine Hand legen zu können. Er war zu diesem Zeitpunkt praktisch die Staatsbank. Nicht nur ihr Gouverneur, sondern ihr persönlicher Eigentümer. Dem Volk war es egal, denn es wußte nicht, was Meyer Amschel Rothschild wußte und einmal ausgesprochen hat: »Wenn wir die Währung eines Volkes herausgeben und kontrollieren können, kümmert es uns nicht, wer dessen Gesetze macht.« Es ging den einfachen Mann ja auch wirklich nichts an; das Geld rollte wieder, die Arbeit lief wieder, die Straßenbahn fuhr, die Milch stand morgens vor der Tür, und das Jahr 96 brachte eine Rekordernte, an der alle schön profitierten. Man war gesund, es herrschte Friede, man konnte neue Pläne machen - das war die Wirklichkeit, das zählte. Vorwärts! Präsident Cleveland quälte sich mit den Problemen hinter den Kulissen ab. Senat und Abgeordnetenhaus stritten und keiften über das alte Gold-Silber-Problem der Währung. Cleveland war müde, er fühlte sich krank. Gegen Ende seiner Amtszeit mußte er sich einer schweren Operation unterziehen. Er ertrug alles schweigend, die meisten wußten nicht, wie krank er war. Als die Wahlen herankamen, stellte seine Partei ihn in die Ecke. Weil er so vieles recht gemacht hatte, hatte er es so vielen nicht recht gemacht. Gibt es das? Das gibt es nicht nur, das ist der Lauf der Welt.

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1897 zog als neuer Präsident der Vereinigten Staaten wieder ein Republikaner ins Weiße Haus ein: der vierundfünfzigjährige William McKinley.

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XV

McKinley soll ein kurzer, stämmiger Mann gewesen sein mit dem Kopf eines Mimen, sozusagen der Typ des Advokaten, der vor Gericht Eindruck macht. Er war natürlich auch Rechtsanwalt. Und er stammte aus Ohio. Ohio hat viele Prominente geliefert, es scheint das Land der hellen und ehrgeizigen Leute gewesen zu sein, Amerikas Sachsen. Sogar Rex Stout läßt seinen unübertroffenen Archie Goodwin aus Ohio sein. McKinley war »helle« und ehrgeizig. Er hatte die Wahl, richtiger gesagt, er hatte die Hochfinanz mit zwei Argumenten gewonnen, er war für die Währung auf Gold- statt Silberbasis, und er war, im Gegensatz zum besonnenen und müden Cleveland, für ein militärisches Eingreifen auf Cuba, wo gerade blutige Aufstände der Eingeborenen gegen die Spanier tobten. Lauter schöne Aspekte. Nun ging Cuba die Amerikaner eigentlich nichts an. Aber - so lese ich bei mehreren Historikern - ein Volk muß, »wenn es sich nicht untreu werden will, die Straße weitergehen, die es beschritten hat«. In diesem Falle heißt das: Amerika mußte Pionier bleiben und seine Segnungen in andere Länder bringen. Das sei - so höre ich - weder ein kriegerischer Instinkt noch Kolonisation. Nun wissen Sie es. McKinley bot sich erst einmal als Vermittler zwischen Spanien und den Cubanern an, aber Madrid lehnte die Einmischung ab. Jetzt war guter Rat teuer. Und zwar kostete er ein Schiff und zweihundertsechzig Tote. Das amerikanische Kriegsschiff »Maine« flog eines Tages im Hafen von

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Havanna in die Luft und mit ihm die ganze Besatzung. Amerika war empört über dieses »Attentat« - der Kongreß beschloß den Krieg. Wir wollen rekapitulieren. Im Hafen von Havanna, das bekanntlich die Hauptstadt des unter spanischer Hoheit stehenden Cubas ist, liegt ein amerikanisches Schiff. Nicht ein beliebiges Schiffchen, sondern ein Kriegsschiff. Es fliegt aus ungeklärten Gründen in die Luft. Ein Schiff kann aus drei Ursachen in die Luft fliegen; es kann durch ein Geschoß oder eine Mine explodieren (das war die von der amerikanischen Presse verbreitete Version), es kann sich die eigene Munition durch einen Zufall entzünden (das vermutete man, als der Krieg und die Erregung vorüber waren), und das Schiff kann absichtlich in die Luft gejagt worden sein, um, ohne Rücksicht auf die Toten, den Kriegsgrund zu schaffen. (Und das glaube nach dem 7. Mai 1915 ich). Sind Sie empört? Über? Über meinen Verdacht? Dann tut es mir leid, Sie in Ihrem Mittagsschlaf gestört zu haben. Die Befriedung Cubas ging rasch vor sich. Wie angenehm, daß Benjamin Harrison mit einer modernen Flotte vorgesorgt hatte. Jetzt zeigte sich noch deutlicher als damals beim Manöver, wie gewinnbringend das Geld angelegt war. Die Spanier hatten nichts entgegenzusetzen. Die befreiten Cubaner allerdings auch nicht. Madrid beschloß, Cuba aufzugeben und sich mit allen Truppen und Schiffen abzusetzen. Das hätte ihnen so gepaßt! Der amerikanische Admiral machte einen gehörigen Strich durch diese Rechnung, er schoß die auslaufende spanische Flotte samt ihrer vollgepfropften Ladung Soldaten zusammen. Spanien, der alte, böse Löwe, unterließ es, die Zähne zu zeigen aus dem einfachen Grunde, weil er keine mehr hatte. Überall in

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seinem zusammengeraubten Kolonialreich ging es los; Amerika konnte sich, geradezu wie auf einer Speisekarte, das nächste Gericht aussuchen, auf das es Appetit hatte. Man war begeistert. Verwechseln Sie das bitte nicht mit Kriegsbegeisterung, wie es bei uns der Fall gewesen wäre. Amerikaner sind von Grund auf friedlich. Nein, es war einfach Freude. Die Freude hat ja so viele Gesichter. Es war sogar Platz für die Freude der Rüstungsindustrie. Als Fischgericht sozusagen kamen die Philippinen dran, wo ebenfalls ein Aufstand gegen die spanischen »Unterdrücker« ausbrach. Die Philippinen liegen ziemlich weit weg von den USA, aber für ein schnelles Schiff ist das kein Problem. Die Flotte rauschte ab. In der Bucht von Manila stieß sie auf die spanischen Kriegsschiffe, griff sie sofort an und versenkte sie. Das Land zu befrieden - beinahe hätte ich »erobern« gesagt - war bedeutend schwieriger. Ach, die Eingeborenen sind ja so uneinsichtig, für sie war Weißer Mann Weißer Mann und der eine so lästig wie der andere. Wie kränkend für Amerika! Da mußte man schon manchmal energisch durchgreifen. Im August 1898 bat Madrid, nachdem es noch Puerto Rico und Guam draufgelegt hatte, um Frieden. Es bat nicht vergebens. In einem Aufwaschen schufen die Vereinigten Staaten auch noch auf Hawaii Ordnung. Die Inseln, schöne, reiche Inseln, wurden von Königen regiert, im Augenblick gerade von einer Dame namens Liliukalani. Gegen sie empörten sich rein zufällig ebenfalls die Untertanen. Da nicht ganz klar war, wer von den beiden Seiten die Unterstützung der Amerikaner verdiente, entschieden sie sich dafür, gegen beide vorzugehen und Hawaii zu annektieren. Nicht etwa, daß sie Hawaii zur Kolonie gemacht hätten (McKinley: »Nach amerikanischer Moralauffassung käme es einer

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verbrecherischen Aggression gleich«), nein, sie nahmen Hawaii sozusagen an Kindes Statt liebevoll in ihr Haus auf und gaben ihm einen Stern im Sternenbanner. In puncto Philippinen und Puerto Rico waren die Verhältnisse leider stärker als die amerikanische Moralauffassung; sie mußten in dem Schwebezustand eines »Besitzes« bleiben. * Waren das schöne Jahre gewesen? Das waren verdammt schöne Jahre gewesen! Man besaß jetzt schon allerhand in der weiten Welt, und das war verdammt richtig so. Als die Wahl für 1901 herankam, hatte der demokratische Kandidat Bryan mit seinem verdammten Geschwätz von Imperialismus keine Chance gegen McKinley. Mark Twain schrieb damals, die USA sollten statt der Sterne jetzt Totenköpfe in die Flagge setzen. So was schreibt man nicht! Das ist einfach nicht fair. McKinley brauchte aus dem Weißen Haus nicht auszuziehen, er wurde zum zweitenmal gewählt. In der Wirtschaft herrschte Hochkonjunktur, es gab Arbeit in Hülle und Fülle, mehr Arbeit als Hände. Die Schwerindustrie lief auf Hochtouren, um die Lücken, die die »Engagements« erfreulicherweise in Munition und Waffen gerissen hatten, aufzufüllen. Die Ernten waren gut, die Exporte stiegen, die Goldfunde in Alaska (das man 1867 für sieben Millionen Dollar von Rußland gekauft hatte) stiegen ins Märchenhafte - ja, ja, es war wirklich God's own country.

* Cuba erhielt 1902 die Selbständigkeit, nachdem es den USA garantiert hatte, »zum Schütze der Freiheit« jederzeit militärisch eingreifen zu können. Für die Philippinen gestand man Spanien sogar eine Entschädigung von zwanzig Millionen Dollar zu. Das war nobel.

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Am 14. September 1901 schoß ein eingewanderter Pole den Präsidenten William McKinley bei der Eröffnung einer Ausstellung in Buffalo nieder. Die Verwundung war tödlich. Der Mörder hieß Leon Czolgosz. Sein Motiv hat man nie herausgefunden. In manchen Berichten heißt es, er sei Anarchist, in anderen, er sei geistesgestört gewesen. Das dürfte ein Pleonasmus sein. Das Betonenswerte ist wahrscheinlich etwas ganz anderes: daß er ein Einwanderer war. Darin steckt nicht das Motiv, sicher aber das auslösende Moment. Ich glaube, wir müssen die Einwanderung des Jahrzehnts von 1890 bis 1900 mit neuen Augen sehen; sie hatte eine ganz andere Voraussetzung als alle früheren. Ich möchte es Ihnen in einem einzigen Satz sagen, obwohl mir klar ist, daß ich Sie erschrecken werde: Ich halte diese Einwanderung, die in seltsamem Stil vor sich ging, für eine zweite Welle von Sklaven-Import. Bevor ich mich genauer mit diesem Komplex befaßte, hätte auch ich nicht im Traum daran gedacht, einen solchen Ausdruck zu benutzen. Ich meine ihn jedoch ernst und bitter. Es gibt keine andere Parallele als die zu jenen weißen »Sklaven auf Zeit«, die sich Amerika im 18. Jahrhundert aus England als »White trash« kommen ließ.* Die weißen Einwanderer früherer Jahrzehnte waren, sofern sie nicht white trash darstellten, alles irgendwie Pioniere gewesen. Sie waren, sozial aus ihrem Vaterland herausgedrückt oder verlockt, innerlich bereits als Heimatlose gekommen: Unglückliche, Flüchtige,

* White trash: »Weißer Müll«, »Weißer Abfall«, ein recht ungewöhnlicher Ausdruck für die, die einmal die Vorfahren von Millionen Amerikanern werden sollten.

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politisch Verfolgte, religiös Verfolgte, Bedrückte, Rebellen, Empörer, Phantasten, Sektierer, Abenteurer. Der Lieferant war Mitteleuropa mit seinen bedrückenden Feudalstaaten. Hier, noch über die Mitte des Jahrhunderts hinaus, müssen Sie auch das Bild der endlosen Trecks nach dem »Wilden Westen« sehen, die Planwagen, die Ochsengespanne, die über die Prärie zogen, begleitet von rauhen Männern mit dem Gewehr schußbereit vor sich im Sattel, Frauen und Kinder auf den wenigen ärmlichen Habseligkeiten thronend. Die Räder der Karren knirschten in Spuren, die schon Hunderte vor ihnen ausgemahlen hatten. Am Horizont damals noch die wilden Büffelherden; Indianer hinter Felsen und Büschen. Sie waren Pioniere, im heldischsten Sinn, ohne die der Kontinent nicht erschlossen worden wäre; deren europäische Begriffe, inklusive der Ethik, bald flötengingen. Von diesen Einwanderern spreche ich nicht. Danach ließ der Schub stark nach; die Krisen, von denen Amerika geschüttelt wurde, schreckten ab, und in Europa lebte es sich jetzt auch besser. Aber nun war die Krise vorbei, nun explodierten die USA wirtschaftlich. Die gigantisch gewordene Industrie brauchte Hände! Es war nicht mehr der Westen, es war der Osten, dem nun die Einwanderer fehlten. Das war die völlig andere Situation. Es gab Hände in den Slums, aber sie waren nicht mehr willig. Gewerkschaften rumorten und schürten, Streiks brachen aus, Bundestruppen mußten Werke schützen, Kavallerie Transporte begleiten. Man brauchte nicht nur willige Hände, man brauchte willenlose Hände; wie einst im Mai. Schade, daß man 1890 und nicht 1690 schrieb. Jedoch dramaturgisch vollzog sich der Gang der Handlung nach altem Muster.

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Man schickte Werber nach Europa! In den zehn Jahren von 1890 bis 1900 holten sie acht Millionen Neueinwanderer für die Industrie heran. Der Erfinder dieser Methode war Mr. Villards, ein Eisenbahnkönig, gewesen. Er hatte dringend Menschen zur Besiedlung und zum Schutz seiner Bahnstrecke gebraucht. Der Schwärm seiner Agenten war nicht mehr in die klassischen Auswandererländer Europas gegangen, sondern in die (nennen wir es einmal aus amerikanischer Sicht so) zurückgebliebenen, nach Rußland, Polen, Italien, Norwegen. Mit bunten Bildern und blühender Phantasie bewaffnet, hatten sie die Einwanderer in die fast unbewohnbaren mörderischen Öden gelockt. Villards Methode machte nun Schule. Die Werber arbeiteten gut, sie stiegen in den Arme-Leute-Vierteln treppauf, treppab, bis nach Neapel und Sizilien hinunter und bis tief nach Rußland hinein. Sie redeten mit glühenden Zungen, sie streckten die zehn Dollar für die Überfahrt im »Zwischendeck«, das heißt auf dem blanken Schiffsboden, vor, und gaben auch, sobald die Fracht an Bord war, die fünfundzwanzig Dollar, die jeder Einwanderer vorzuweisen hatte; er mußte sie laut Gesetz vorzeigen, sein Eigentum brauchten sie nicht zu sein. Vor allem arme Russen und Ostjuden ließen sich fangen. Die Werber brachten es fertig, in Rußland ganze Eisenbahnzüge (Viehwagen natürlich) zusammenzustellen. Niemand hatte einen Vertrag in der Tasche, im Gegenteil, man schärfte den Einwanderern ein, bei der Kontrollprozedur stets jede Verpflichtung zu leugnen, weil das Gesetz verlangte, daß die Einwanderer »frei« zu sein hatten. Armseliges Gesetz. Es wollte verhindern, daß sich die Einwanderer im voraus zu vielleicht verzweifelten Bedingungen fesseln ließen. Es schlug ins Gegenteil um. Sobald »die Ware« gelandet

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war, geriet sie in die Finger von »Komitees«, die die Betreuung übernahmen, sie mit guter Provision in die Fabriken weiterschleuste oder- auf eigene Faust als Streikbrecher vermietete. Die Betreuungsagenturen kamen alsbald auf die Idee, ihre Macht auch politisch auszunutzen. Die Einwanderer wurden ja wahlberechtigte amerikanische Bürger, sobald sie den Einwanderungsschein besaßen, die flüchtige Prüfung ihrer Kenntnis der Verfassung bestanden und den Eid abgelegt hatten. Die Komitees erpreßten von den armen Teufeln nun Wahlstimmen für ihre Bosse -erpressen ist ein nicht ganz gerechtes Urteil, denn die verschüchterten und hilflosen Einwanderer versprachen meistens freiwillig den zu wählen, der sie auch tatsächlich in hundert widrigen Fällen unterstützte. Um diese Zeit waren von fünfundzwanzigtausend Stahlarbeitern im Pittsburger Distrikt bereits fünfzehntausend Eingewanderte. Die Kinder landeten meistens in den Webereien. Wir haben rührende Fotografien, die die Zehnjährigen in den Maschinensälen zeigen. Es gab zwei Millionen Kinder, die in der Industrie arbeiteten. Sie sehen, Amerika gab auch dem Kleinsten Arbeit und Brot. Es ließ sich also alles ganz ausgezeichnet an. Die Lösung war konkurrenzlos. Diese Menschen arbeiteten zwölf Stunden am Tag und erhielten zwischen sechs und zwölf Cents pro Stunde. Wenn man es sich recht überlegte, hatte einstmals ein Negersklave mit Kaufpreis und Unterhalt fast ebensoviel gekostet. Sie waren die Ärmsten der Armen. Aber sie standen in Brot und Lohn. Und sie hatten Zukunft. Dafür mußten sie Amerika dankbar sein, das ist wohl klar. Man konnte nur hoffen, daß dieser paradiesische Zustand anhalten würde und daß sie nie dazulernen möchten. Aber das kann man leider nicht verhindern, nicht wahr? Es gibt immer wieder

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törichte Altruisten, die für solcher Leute Kinder Schulen einrichten, Lehrstellen beschaffen, Geld sammeln. Schon die Bibel lehrt, daß ein Paradies nicht beständig ist. Und die Bibel hat doch recht?

*

Ich kenne das Leben des Leon Czolgosz, der McKinley erschoß, nicht. Er gehörte zu den weißen Sklaven auf Zeit; vielleicht brannte ganz einfach seine Sicherung durch. Der Schuß machte den Weg frei für den Vizepräsidenten. Er wurde eine der interessantesten Gestalten in der amerikanischen Geschichte: Teddy Roosevelt.

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Äußerlich setzte er den Typ Clevelands fort, er war füllig, groß, hatte ein rundliches Gesicht mit einem Schnauzbart und trug eine Drahtbrille. Wenn er breit lachte, und vor den Fotografen lacht er gern, hat man den Eindruck, daß er nicht wie andere Menschen zweiunddreißig, sondern fünfhundert Zähne besaß. Lauter kleine Fischschuppen, und alle echt. Er war überhaupt sehr echt. Da er nie heuchelte, braucht man über sein Wesen keine Rätsel zu lösen, es liegt deutlich vor einem, aber es ist nicht mit einem Wort zu umschreiben. Teddy Roosevelt war mit neununddreißig Jahren als Unterstaatssekretär immer noch ein ausgesprochen phantastischer Pulverkopf, der viel Pennälerhaftes und Studentisches an sich hatte. Das »Räuber und Gendarm«-Spielen begleitete eigentlich sein ganzes Leben. Zur Zeit der »Bostoner Tea Party« von 1773 wäre er nicht aufgefallen, jetzt tat er es. Die Roosevelts, sicherlich alle miteinander verwandt, kamen aus den Niederlanden. Ihr Stammvater, sofern es nur einer war, landete also in Neu-Amsterdam. Aus Neu-Amsterdam wurde New York, die Roosevelts blieben. Teddys Familie war gut betucht, wenn auch nicht superreich. Immerhin war alles da, um aus dem Kind einen verhätschelten, dünnen Prinzen zu machen. Dem Prinzchen ging eines Tages von selbst ein Licht auf, daß sein Leben auf recht zerbrechlichen Beinen stand, und er beschloß, body building zu treiben. Er brauchte sich dazu nicht zu überwinden, sein Temperament neigte eher

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dazu, ein Old Shatterhand als ein Muttersöhnchen zu sein. Er wurde groß, fast herkulisch, was ihm bei seiner Neigung zur Exzentrik sehr zustatten kam. Auf der elterlichen Ranch in Dakota konnte er sich austoben. Die nächste Station bildete Harvard, die feine. Natürlich Jura. Ihm selbst war es schnuppe, womit man ihn fütterte, er schriftstellerte zunächst einmal, und zwar in Historie. Schriftsteller-Kollege Roosevelt war damals Ende Zwanzig. Dann schob die Familie ihn vorsichtig in den öffentlichen Dienst. 1895 war er bereits Polizeipräsident von New York, zwei Jahre später Unterstaatssekretär unter McKinley, der ihn da kennen- und schätzenlernte. Theodore Roosevelt war Republikaner, was bei seinem Charakter gar nichts garantierte. Aber eines war er gewiß: kriegerisch - körperlich wie geistig. Selbstverständlich begeisterte er sich, als der Konflikt mit Spanien vom Zaun gebrochen wurde, sofort dafür, Cuba, die Philippinen und was sich sonst noch so bot, zu kassieren. Er ließ sich von seinem Amt beurlauben, stellte ein Freiwilligenregiment auf die Beine und setzte sich als »Oberst« an die Spitze. Er nannte seinen Haufen (wie könnte es bei Teddy ohne Namen abgehen!) die »Rauh-Reiter«. Das klingt wunderschön, geheimnisvoller noch als unser »das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.« Im Gegensatz zu Theodor Körner kam er gesund heim. Amerika sprach noch lange von dieser romantischen Freischar. Gedanken über Recht und Unrecht sind dem Juristen Roosevelt nicht gekommen. Für ihn waren die Amerikaner ein auserwähltes Volk, das einfach unfähig war, unrecht zu tun. Wo gehobelt wird, fallen Späne, sagt ein leider wenig tröstliches Sprichwort. Theodore Roosevelt war immer für schneidiges Hobeln. Seine

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strotzende Männlichkeit (er starb dennoch schon mit einundsechzig Jahren) bewies er wie später Hemingway als Großwildjäger in allen Kontinenten. Und wie andere, weniger strotzende Menschen einen Cezanne oder einen Bouguereau an der Wand haben, so waren die Wände seines Hauses mit Eberköpfen und Elefantenzähnen vollgepflastert. Als McKinley ihn zum Stellvertreter machte, waren die Republikaner nicht weniger zufrieden als die Demokraten; auf diese Weise war der unberechenbare und damit unbequeme Mann von der aktiven Politik weg. Zum Schrecken fast aller und zur Freude sehr weniger bestieg er nun 1901 den Thron. Er war mit dreiundvierzig Jahren der jüngste Präsident, den die USA bisher hatten. Roosevelt haßte nicht das Großkapital, aber er haßte den Kapitalismus, wie wir ihn als Regierungsmacht definiert haben. Er kannte aus eigener Erfahrung während seiner Zeit als Polizeipräsident, wie hemmungslos die Hochfinanz ihre absolute Macht ausübte. Sie dirigierte Wahlen, sie beherrschte Präsidenten, sie drückte durch, wer die Ministerien übernehmen sollte, sie erpreßte die Politik, sie hob und senkte autoritär die Preise, hob oder senkte die Kaufkraft des Geldes, ließ verhungern oder ließ reich werden. Ein Redner, der ihr nicht paßte, erhielt nicht einmal mehr einen Saal für eine Versammlung; die Presse gehörte zum größten Teil ihr, die Redakteure gehörten ihr und die wichtigsten Abgeordneten. Alle Welt kannte oder ahnte zumindest dieses Gemälde, nahm es als »modernen Staat« und zuckte nur zusammen, wenn sich die Faust seinem eigenen Nacken näherte. Teddy war in den ersten Jahren vorsichtig, leitete aber bereits Untersuchungen gegen ungesetzliche Trustbildungen ein. Der Generalbundesanwalt Knox war sein Mann. Auf Roosevelts Geheiß begann er systematisch die Munition

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für eine Anklage zu sammeln. Er mußte sehr viel Munition haben, sonst würde es wieder wie so oft ein Hornberger Schießen werden. Es eilte nicht; Teddy wollte 1905 noch einmal gewählt werden, dann sollte es losgehen. Inzwischen entflammte sich seine Phantasie an einem großen außenpolitischen Projekt, dem Bau des Panama-Kanals. Es war einmal ein französisches Projekt gewesen. Frankreich hatte zweihundertsechzig Millionen Dollar zum Fenster hinausgeworfen, als - der Kanal war erst zu einem Drittel fertig - die französische Gesellschaft Bankrott machte. Skandalprozesse hatten damals ganz Paris erschüttert, Politiker waren gestürzt, auch Frankreichs Stolz, Lesseps, war in dem Bestechungssumpf verschwunden, und alle waren froh, als man 1888 die ganze Akte stillschweigend zu Grabe getragen hatte. Roosevelt fand das Projekt hinreißend. Er hatte selbst erlebt, wie höllisch der Weg der amerikanischen Flotte um Kap Horn zu den Philippinen und Hawaii gewesen war, und er war entschlossen, den Kongreß herumzukriegen. Es gelang ihm. Genauer gesagt: Die Hochfinanz erwärmte sich für die Idee und nickte. 1902 übernahm Amerika gegen eine Abfindung von vierzig Millionen Dollar alle Rechte der französischen Gesellschaft. Jedoch, man hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht; der Wirt war Kolumbien. Zwei kleine Paragraphchen hatte Teddy, der Harvard-Jurist, übersehen: Frankreich war nicht berechtigt gewesen, die Rechte weiterzugeben. Und der Vertrag lief überdies in einem Jahr aus. Na gut, Teddy Roosevelt hatte geschlafen, aber wie konnte John Pierpont Morgan das übersehen? In der Wallstreet wurde seit langem nicht mehr so geflucht.

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Hier zeigte sich der Präsident nun als wahrer Rauh-Reiter. Er sattelte im Geiste sein Streitroß, und die Wallstreet schnallte ihm noch Sporen an, damit die Sache Schwung bekam. Er beschloß, das Gebiet dem »Zwerg« Kolumbien vollständig zu entreißen. Nun ist »entreißen« für so gute Menschen wie die Amerikaner ein Ding der Unmöglichkeit. Befreien, ja, oder befrieden, das ist etwas anderes; das ist geradezu eine amerikanische Mission. Der Geniestreich Teddy Roosevelts bestand nun darin, das Kanalgebiet reif für eine Befreiung zu machen. Sie sehen, welch moderner Geist er war. Er entfachte in der Provinz Panama eine »Revolution«, entsandte zu ihrer Unterstützung ein paar dicke Brummer der Flotte und ließ die Unabhängigkeit der Provinz ausrufen. Schon zwei Wochen später anerkannte man die »Republik Panama« und kaufte ihr für zehn Millionen Dollar die Zone von fünfzehnhundert Quadratkilometern als amerikanisches Hoheitsgebiet ab. Mir scheint, Sie haben ein paar böse Worte auf der Zunge? Nicht doch! Das steht uns nicht zu. Quod licet Jovi, non licet bovi. 1905 wurde Theodore Roosevelt wiedergewählt. In seiner zweiten Amtsperiode konnte er sich nun auf seine innenpolitischen Pläne stürzen. Ach ja, ehe ich es vergesse: In der Republik Santo Domingo herrschten Inflation und Hunger. Die Vereinigten Staaten waren so freundlich, sie hilfreich zu befrieden. Teddy scheute wirklich keine Mühe, auch die unwürdigsten Länder glücklich zu machen. Leider gab es in Südamerika immer noch einige Bockbeinige, die ihr Glück nicht einsehen wollten, sondern behaupteten, die USA schicke sich an, der größte Raubvogel der Erde zu werden. So sind die Menschen. Nun aber zu Roosevelts Fehdehandschuh gegen das Kapital. Es ist viel darüber geschrieben

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worden. Sein erster Schlag war, nach zweijährigem Prozeß, die Entflechtung der Northern Security Company. Dann kamen ein Lebensmitteltrust, ein Tabak- und ein Chemietrust an die Reihe. Weitere folgten. Die Zeitungen hatten Schlagzeilen, die sehr schön klangen, und die kleinen Leute freuten sich. Er war schon ein guter Mann, dieser Roosevelt! Die Prozesse hatten leider mehr theoretischen als praktischen Wert. Die meisten Trusts gründeten sich an anderem Ort und unter anderem Namen neu. Ja, sogar das war überflüssig, denn, ob entflochten oder nicht, Morgan, Rockefeller und wenige andere hielten die Aktien fest in der Hand. Und Aktien sind ja kein Trust. Holding war unangreifbar, das war das Neue. Holding war ein Panzerschrank, gefüllt mit Aktien. Ich möchte es Ihnen an einem drastischen Beispiel deutlich machen: Ein Mann besitzt tausend Häuser, ein Gesetz verpflichtet ihn, die Hälfte davon abzustoßen. Wen das Gesetz nicht erfaßt, ist der Mann mit dem Panzerschrank, der auf jedem der Häuser einundfünfzig Prozent Hypotheken hat - und behält. So einfach ist das; nur würde es kein Finanzexperte so formulieren. Auch der Chemiker sagt nicht »Wasser«, sondern H2O, damit Sie's nicht so schnell verstehen. Eigentlich hat Teddy Roosevelt nur dazu beigetragen, die Unverwundbarkeit des Holding zu beweisen. Aber er war zufrieden, denn eines hatte er tatsächlich erreicht: daß der Staat die Kontrolle der Preise auf den lebensnotwendigen Sektoren in die Hand bekam. Und er hat einmal bei einem Kohlenstreik hart durchgegriffen, indem er nicht die Bergarbeiter zur Unterwerfung, sondern die Grubenherren zur Lohnerhöhung zwang. So ein doller Kerl war er! Wenn er auch nicht die Welt aus den Angeln hob, so hatte er die

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Welt zumindest Mores gelehrt. Als zwei so alte, ehrwürdige Reiche wie Rußland und Japan den berühmten »Tshushima«-Krieg führten, übernahm der Nouveau Riche Amerika die Schlichterrolle. Die USA waren in den Kreis der Weltmächte vorgestoßen. Das Wahljahr 1908 nahte. In der Wallstreet war man sich einig, daß Teddy Roosevelt ein bißchen zu populär und ein bißchen zu selbständig geworden war. Man fand, er sollte in Pension gehen. Weisungsgemäß stellte die Partei ihn nicht mehr auf, obwohl eine dritte Amtsperiode damals noch nicht verboten war. Teddys Popularität genügte jedoch, einen Mann seiner Gunst auf den Präsidentenstuhl zu heben; er mochte ihn, er hatte ihn jahrelang als Staatssekretär für die Verteidigung um sich gehabt: William Taft. Wieder ein Cleveland-Typ, ebenso massig, nur behäbiger. Laßt dicke Männer um mich sein, sagte mit Shakespeare die Hochfinanz und akzeptierte ihn. Er erweckte Vertrauen, so, wie Fürst Bülow Vertrauen erweckte, obwohl nicht viel dahintersteckte. Im großen und ganzen machte er seine Sache recht brav; er löste auf dem Papier noch wacker ein paar Trusts auf, setzte die Direktwahl der Senatoren durch und führte die progressive Einkommensteuer ein, die es bisher nicht gegeben hatte. Sonst jedoch zerschlug er kein Porzellan und eroberte auch nichts. Die vier Jahre strichen friedlich dahin. Taft gedachte, noch einmal zu kandidieren, weil es so schön glattgegangen war. Da geschah etwas höchst Merkwürdiges. Teddy Roosevelt kam im Galopp aus Afrika und vom Kaisermanöver Wilhelms II. angebraust, gründete in Eile eine dritte Partei, die er »Progressive Party« nannte, und präsentierte sich als Kandidat. Er beschimpfte alle, Taft eingeschlossen, und führte sich wieder mal als Rauh-

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Reiter auf. Ehrlich gesagt, ich glaube doch, er hatte einen Klaps. Was er perfekt erreichte, war die Spaltung der Konservativen. Lachender Dritter: der demokratische Kandidat. Er hieß Woodrow Wilson und lachte natürlich nicht, denn er war Universitätsprofessor. Zum ersten und seitdem letzten Male zog also ein Vertreter jener Gattung Mensch ins Weiße Haus, die die Amerikaner Egghead zu titulieren pflegen, Eierkopp; auch highbrow, was soviel heißt wie Intelligenzbestie. Wilson war in Wirklichkeit weder das eine noch das andere, sein akademischer Grad täuschte, wie so oft. Wilson hat Theodore Roosevelt einmal einen »Wirrkopf« genannt; wie umgekehrt Roosevelt Wilson bezeichnet hat, möchte ich nicht wissen.

*

Wilson war das krasse Gegenstück. Er war groß und dürr. Ein Stubenhocker mit langem, glattrasiertem Gesicht, bebrillt und ausdruckslos. Er sieht auf den Fotos stets aus wie ein Oberlehrer bei einer Klassenaufnahme. Zweifellos war er eitel. Seine Familie stammte aus Virginia. Traditionsgemäß neigte er zu den Demokraten. Erst 1910, also kurz vor seiner Wahl, begann er sich mit Politik zu beschäftigen. Tatsächlich hatte er auf den meisten Gebieten keinen Schimmer. Aber als systematischer Denker würde er das schon hinkriegen. Sein neuer Staatssekretär und Freund Bryan besaß außenpolitisch ebenfalls keine Erfahrung, sie vertrauten sich gegenseitig. Gott wird helfen; Wilson war strenger Calvinist aus Pfarrershaus. Ich frage mich heute, warum er eigentlich gewählt wurde. In der kurzen Zeit als Gouverneur von New Jersey (nachdem er Princeton verärgert verlassen hatte) konnte er nicht populär

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geworden sein. Mehr geholfen haben ihm in maßgeblichen Kreisen wohl seine rechts- und staatswissenschaftlichen Bücher, aus denen man herauslesen konnte, daß er im englischen Sinne liberal dachte, daß er die Wirtschaft für eine Säule der Welt, das amerikanische Volk für prachtvoll, den einfachen Mann für moralisch und jede Bevormundung durch den Staat für falsch hielt. Unerschütterlich (erschütternd unerschütterlich) war seine Überzeugung, der Mensch sei in Wahrheit ein verhinderter Engel und bedarf nur Wilsons Ideen, um vollkommen zu werden. Amerika hat viele Käuze gehabt - er war einer der gefährlichsten, weil er seine Glaubenssätze mit der unbelehrbaren Hartnäckigkeit von Professoren durchzusetzen versuchte. Ich höre immer, er sei aber besten Willens und reinen Herzens gewesen. Ich pfeife auf reine, beste Herzen, die so labil und weltfremd sind, daß sie ein Spielball robuster Schufte werden. Und das wurde er. Es war - je nachdem, wie man es sieht - eine schwere oder eine leichte Aufgabe, die er vorfand. Eine leichte, weil er, wie mancher Präsident vor ihm und mancher nach ihm, hätte weiterwursteln können, denn das Leben lief unter der Leitung der Hochfinanz wie geschmiert. Eine schwere, wenn er wirklich vorhatte, den Staat zu lenken. Er war wie jemand, der bisher nur Moped gefahren und nun an das Steuer eines Fünftonners gesetzt worden war. Amerika lief, um es stilgerecht auszudrücken, auf siebentausend Umdrehungen. Es war schon halb automatisiert, die Elektrifizierung marschierte, Autoschlangen schoben sich auf den Straßen, unter den Hochhäusern New Yorks sauste eine Untergrundbahn, Flugzeuge brummten hoch in der Luft, Warenhäuser drängten sich in den Hauptstraßen der Städte, schon mußten die Parks und Grünanlagen die Rolle der Lungen

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übernehmen, Dunstglocken lagen über den Industriezentren, die Wallstreet wuchs immer höher und wurde immer düsterer. Der Puls New Yorks, Bostons, Philadelphias, Chicagos, Detroits, San Franciscos pochte so laut, daß man ihn auch in Europa dröhnend in den Ohren hatte. John Pierpont Morgan lieh Großbritannien fünfzig Millionen Dollar mit der linken Hand, sichtbarstes Zeichen der Macht Amerikas. Die Industrie, vor allem sie, wucherte - und hier lag der Punkt für die Verwundbarkeit des Riesen. Präsident Professor Wilson machte sich Sorgen. Selbstverständlich war ihm schleierhaft, wie der komplizierte Apparat funktionierte und wie man versorgen müßte. Die Hochfinanz hätte es ihm sagen können, aber sie sparte sich die Mühe. Denn während der Professor noch an den Nägeln kaute, spürte sie bereits deutlich ein warmes Lüftchen. Wenn man anfangs noch im Zweifel sein konnte, so bekam man im Sommer 1912 die Gewißheit, als beim Abschiedsbankett der französischen Manöver der russische Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch als Ehrengast unter dem Beifallsklatschen der Generäle den Trinkspruch ausbrachte: »Auf unsere künftigen Siege - Auf Wiedersehen in Berlin, messieurs!« Ein Geschenk des Himmels! Auch Wilson hatte natürlich die Nachrichten aus Europa studiert, nur las er den Text anders. Was braute sich um Gottes Willen da zusammen? Wurde der alte Kontinent denn nie vernünftig? Warum im zwanzigsten Jahrhundert noch diese kannibalischen Gelüste, diese Angst voreinander, dieses Revanchegeschrei Frankreichs, dieses ermüdende Säbelgerassel Deutschlands, dieses Knurren Rußlands? Die Welt konnte doch so schön sein (sofern man nicht gerade in Pittsburg wohnte). Hatten die USA nicht die Macht, einen drohenden Krieg zu verhindern, ja einfach

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zu verbieten? Bei diesem Gedanken fuhr der Wallstreet der Schreck in die Glieder. Der Präsident mußte sofort in Arbeit genommen werden. Zunächst wurde ihm klargemacht, daß es Deutschland war, das zum Kriege drängte. Die Entente wünschte den Frieden. Das sah Wilson ein. Er sah auch ein, daß der sicherste Weg zur Erhaltung des Friedens die kräftige Unterstützung der Westmächte war. Vom Geschäft wurde nicht gesprochen, das hätte Wilson erschreckt. Im Gegenteil, man sprach von Opfern, die der amerikanische Staat bringen müßte. Das klang gut. Wilson liebte den Frieden aufrichtig. Was sich da in Europa zusammenbraute, rüttelte an den Grundfesten seines Glaubens an die Menschheit. Nun gut, dann mußte Amerika eben Opfer bringen. England und Frankreich sollten wissen, daß sie sich darauf verlassen könnten. Eine Flut von Rüstungsaufträgen lief ein. Die amerikanische Schwerindustrie stellte sich auf Waffen um. 1913 gingen bereits siebzig Prozent des gesamten Exports als Rüstungslieferungen nach Frankreich und England. Der Wert steigerte sich von achthundert Millionen innerhalb der nächsten zwei Jahre auf drei Milliarden Dollar. Noch nie hatten die Schornsteine so lustig geraucht. Und wie beruhigend, daß für den gigantischen Pump, den England und Frankreich machten, Washington einstand. Der Präsident hatte nun Muße, seiner Lieblingsidee nachzugehen. Es war die alte Frage: Zentralbank oder nicht? Hatte Old Hickory Jackson einst recht getan, als er die Bundesbank auflöste? Wilson fand, Amerika brauchte wieder eine Zentralbank. Nun kann man angesichts des Jahres 1913 über die Dringlichkeit dieses Vorhabens geteilter Meinung sein; Wilson fand es hochaktuell, er hatte mal

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volkswirtschaftliche Vorlesungen gehalten. Inzwischen rollten Kanone auf Kanone und Granate auf Granate nach Europa. Dann ging Wilson daran, die Zölle zu senken. Er fand auch das hochaktuell. Man schrieb inzwischen 1914. Als er noch an diesen Kinkerlitzchen bosselte, fiel der Schuß in Sarajewo. Am 28. Juni wurden der österreichische Thronfolger und seine Gemahlin von einem serbischen Nationalisten oder gedungenen Mörder erschossen. Die Dinge rollten nun blitzschnell ab. Wien rüstete eine Strafexpedition, Rußland stellte sich aus Berechnung hinter Serbien und verfügte noch im Juli die Generalmobilmachung. Der englische Außenminister Grey bekräftigte seine Treue zur Allianz, Kaiser Wilhelm versuchte zu schlichten, Wien lehnte im Vertrauen auf das Bündnis mit Deutschland ab, alle rannten kopflos zu den Waffen. Nikolaj Nikolajewitsch und Poincaré hatten ihr Ziel erreicht, der Weltkrieg war da, und Deutschland war der Tor, der ihn offiziell erklärt hatte. Es ist historisch, daß Wilson, als der Krieg vier Jahre später zu Ende war, nachts an seinem Schreibtisch saß und weinte. Hat er in jener Nacht vom 2. August 1914 auch eine Träne vergossen? Ich glaube nicht. Zu dieser Zeit wußte er noch gar nicht, was ein Weltkrieg ist. Wir übrigens auch nicht. Unsere letzte Erinnerung waren Kürassiere und Dragoner, Biwaks, der Trompeter von Mars-la-Tour und wehende Fahnen über Pickelhelmen. Jetzt aber hatte Amerika die Ausstattung in die Hand genommen, und unter den Lieferungen waren keine Trompeten. Es galt nun, sich mit diesem abscheulichen Krieg zu befassen. Die Zeitungen, die Berichte der Botschafter, die Notizen des Außenministeriums stapelten sich jeden Morgen zu Bergen auf dem Tisch des Präsidenten. Die

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Russen sprachen ganz offen davon, die Donaumonarchie zu zerstückeln, um ans Mittelmeer zu kommen, die Pariser Zeitungen schrieben, der Rhein müsse Frankreichs Grenze werden, die Briten wollten - Wilson stützte den Kopf in die Hände, er schmerzte ihn, und dann liefen ihm die Gedanken davon. Es geschah jetzt oft, wenn er angestrengt nachdachte. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Alles, was er las, war böse. Jeder wollte etwas, der eine dies, der andere das. Aber sicher war, daß dieser schreckliche deutsche Kaiser die Weltherrschaft wollte. Wilson nahm sich noch einmal die Akte vor, die ihm der amerikanische Gesandte in Konstantinopel, Morgenthau, geschickt hatte. Er berichtete »aus sicherer Quelle«, daß bereits am 5. Juli, also im »tiefsten Frieden«, in Potsdam ein geheimer Kronrat von deutschen und österreichischen Diplomaten, Generälen und Rüstungsindustriellen unter Vorsitz von Wilhelm II. definitiv den Krieg beschlossen habe. (Diese von der Entente zum Beweis der deutschen Kriegsschuld ausgenutzte Meldung war (inzwischen erwiesen) eine bewußte Lüge. Es gab eine Potsdamer Konferenz, sie beriet die politische Lage, nichts weiter. Anschließend trat der Kaiser sogar eine Nordlandreise an. Dieser Morgenthau ist übrigens körperlich nicht identisch mit dem Henry Morgenthau von 1945). Auch der sozialdemokratische deutsche Reichstagsabgeordnete Cohn habe es »bestätigt«. Wilson seufzte. Er wollte Friedens-, nicht Scharfrichter sein. So trat er vor das Volk und verkündete die Neutralität der USA. Ja, war der Mann denn wahnsinnig geworden? Ein neutrales Amerika, das die Lieferungen für die Alliierten einzustellen hatte, mußte an den Rand des Ruins kommen! Das ganze Land produzierte bereits für den Krieg! Wenn der Präsident das nicht sah - die Hochfinanz

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sah es. Es gab nur die Alternative: entgegen dem Völkerrecht weiter zu liefern oder in den Krieg einzutreten. Eine nüchterne Überlegung. Aber Wilson war nicht nüchtern. Also mußte er es werden. Dazu würde eine Roßkur nötig sein. Während man in der Wallstreet noch beriet, trat ein Ereignis ein (Februar 1915), das schnellstes Handeln erforderte: Die Deutschen setzten ihre Unterseebootflotte ein und ließen kein amerikanisches Transportschiff mehr durch. Die Kriegspartei (nennen wir die mächtige Gruppe von Politik und Hochfinanz einmal so) entschloß sich, den Präsidenten mit einem verzweifelten Mittel zu belehren. Ein riskanter Plan, aber solide, denn vorsichtshalber war auch der Erste Lord der britischen Admiralität, Mr. Winston Churchill, verständigt. Die Gelegenheit war da. Als der britische Passagierdampfer »Lusitania« mit tausend Reisenden (darunter hundertachtundzwanzig Amerikanern) an Bord von New York auslief, hatte man ihn mit Kanonen gespickt und bis unter die Kabinen voll Munition gepfropft. Sobald das Schiff auf hoher See war, ließ man dem deutschen Geheimdienst die Nachricht von dem Waffentransport »verraten«. Es klappte. Ein deutsches U-Boot torpedierte am 7. Mai 1915 das Schiff in den englischen Gewässern. Die Lusitania flog mit allen Opfern in die Luft. Der ahnungslose Wilson war entsetzt. Er war es auch noch, als ihm eine Note aus Berlin die Augen öffnete. Ja, öffnete sie ihm die Augen? Konnte er den Hunnen überhaupt noch ein Wort glauben? Schnitten sie nicht den belgischen Kindern die Hände ab? Hatten sie in Frankreich nicht Gift in die Brunnen geschüttet? Er antwortete der deutschen Heeresleitung, er würde einen Wiederholungsfall als »unfreundlichen Akt« betrachten. Man wird nicht schlau aus diesem Mann. Auch das

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amerikanische Volk ahnte die Wahrheit über die »Lusitania« nicht. Es war hin- und hergerissen zwischen Empörung und Furcht, in den Krieg verwickelt zu werden. Es glaubte sich noch im tiefen Frieden und war Wilson dankbar. So wurde Professor Wilson 1916 zum zweitenmal zum Präsidenten gewählt. In Deutschland glaubte der Reichstag die Amerikaner ebenfalls noch im tiefsten Frieden und forderte die Einstellung des U-Bootkrieges. Die Admirale sahen klar und forderten die Verstärkung. Sie setzten sich durch. Im März 1916 versenkten deutsche U-Boote abermals einen Passagierdampfer, den sie irrtümlich für ein Kriegsschiff gehalten hatten: die französische »Sussex«. Wieder waren Amerikaner an Bord gewesen. Wilson hieb mit der asthenischen, mageren Faust auf den Tisch: Schluß jetzt! Die Industrie atmete auf, aber zu früh. Der Präsident ließ nur ein Ultimatum los, Deutschland dürfe künftig kein Passagierschiff mehr ohne Untersuchung angreifen. Denn - das war die neueste Erkenntnis Wilsons - man mußte scharf trennen zwischen einem Volk und seinen verderbten Machthabern. Vielleicht hatten die Deutschen doch keine Kinderhände abgeschnitten? Er wollte so gern daran glauben. Das deutsche Volk konnte so vielleicht einigermaßen gut bleiben und mußte lediglich von seiner Führung befreit werden. Befreier - Kreuzritter - Erlöser -selbstlos - es ist die amerikanische Autosuggestion, die sich durch die ganze Geschichte der USA zieht. Worauf wartete Wilson noch? Die Hochfinanz wünschte kurzen Prozeß zu machen. Auf den Kriegsschauplätzen standen die Dinge nicht gut. Die Soldaten waren müde, die Toten gingen in die Millionen. Die Somme-Schlacht hatte nichts gebracht, Rußland stand vor dem Zusammenbruch. Man hatte nun schon

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fünfunddreißig Milliarden in die Rüstung der Alliierten gesteckt, was stellte Wilson sich eigentlich vor, war er blind? J. P. Morgan jr. (die Kredite und Schuldverschreibungen liefen über sein Haus) beschloß die Kriegserklärung. Der Kongreß war reif gemacht. Am 6. April 1917 trat Amerika an die Seite seiner Freunde, um seine Milliarden zu retten. Der Krieg war zum Weltkrieg geworden.

*

In Gottes Namen also! Die Industrie drehte den Hahn voll auf. Kriegs- und Handelsschiffe liefen nun im Konvoi aus und karrten über den Ozean, was die Fabriken hergaben. Im September warfen die Vereinigten Staaten die erste halbe Million frischer Truppen an die Westfront. Sie waren wunderbar ausgerüstet, wunderbar genährt und wunderbar ahnungslos. Natürlich kamen sie mit eigenem Oberbefehlshaber. Der General hieß John Pershing und genoß das uneingeschränkte Vertrauen Wilsons, denn er war ein erprobter Militär. Er hatte, wie es offiziell heißt, »an Indianerkämpfen teilgenommen« (1860 geboren!), dann an den Eingeborenenkämpfen auf den Philippinen, und schließlich hatte er die Truppen befehligt, die den mexikanischen Bandenführer Sancho Pansa - pardon, ich meine Pancho Villa - erfolglos bekriegt hatten. Der geborene Feldherr also. Nach dem Kriege kletterte er die Leiter noch eine Sprosse höher und wurde Bankdirektor. Das ist der Ritterschlag der Wallstreet. Brillant verstanden die Amerikaner, zunächst nur ihre Feuerwalze einzusetzen. Südlich von Verdun bei Saint Mihiel erfochten die Kanonen und Panzer einen schönen

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Sieg gegen die bereits im Rückzug begriffenen deutschen Truppen. Er wurde sehr gefeiert. Dann verlangte die alliierte Heeresleitung endlich den massierten Menscheneinsatz. Pershing war bester Stimmung. Eine Million Mann, unterstützt von achthundert Flugzeugen und dreihundert Tanks, griffen im Argonnerwald an. Innerhalb von wenigen Tagen waren hundert-zwanzigtausend Amerikaner gefallen. Weitere Leiden blieben ihnen erspart. Den Franzosen und Engländern war ein Zentner Corned beef lieber als alle Generäle Amerikas. Es ging auf den Herbst 1918 zu. Das Ende war abzusehen. Granaten, Panzer und Butter sollten den Krieg zu Ende führen. So geschah es dann auch. Es konnte sich nur noch um Wochen handeln, und die Hölle war vorüber. Am 3. Oktober 1918 bat Reichskanzler Max von Baden den amerikanischen Präsidenten, den Frieden auf der Basis jener Bedingungen zu vermitteln, die Wilson im September in einer Kongreßrede der Welt verkündet hatte. Es sind die berühmten »vierzehn Punkte«, in denen er einen Frieden verlangte, der keinen Unterworfenen und keinen Triumphator kennen sollte; nur eines verlangte er: die Abdankung des deutschen Kaisers. Diese Bedingung erfüllten die Deutschen von selbst; am 9. November stürzte eine Revolution das Hohenzollernhaus. Wilson klammerte sich mit aller Macht an diesen Frieden der Aussöhnung. Die Völker waren doch gut! Er war der einzige, der in diesem Augenblick noch an die »vierzehn Punkte« glaubte. England und Frankreich hatten in Geheimverträgen bereits die totale Ausbeutung und Erniedrigung Deutschlands beschlossen. Bei der Kapitulation, die ganz offen »bedingungslos« genannt wurde, wischte man die Ideen des alten Narren in Washington mit einer

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Handbewegung vom Tisch. Marschall Foch packte seine pralle Aktentasche aus, und siehe da, es war nichts vergessen: von Landabtretungen und Gebietszerstückelungen über generationenlange Reparationszahlungen und dem Ausschluß aus der Gemeinschaft der Völker bis zu den lächerlichsten Dingen. Wer noch einen Wunsch hatte, brauchte ihm nur ein Zettelchen zuzustecken, und es kam in den Versailler Vertrag. Das amerikanische Volk hatte volles Verständnis. Die Propagandamaschine hatte gut gearbeitet. Es kam bei den Amerikanern noch ein anderer Instinkt auf: die politische Fahrerflucht. Der Mann auf der Straße wünschte, sich mit dem überfahrenen Deutschland nicht mehr zu beschäftigen. Ein Amerikaner sagte mir einmal in den dreißiger Jahren: »Was wollen Sie! Wir haben uns doch nach 1918 nicht mehr um Sie gekümmert, sondern Sie machen lassen, was Sie wollten!« Wie wahr! Siehe Lucas 10, Vers 30 bis 32.* Die USA hätten den Frieden diktieren können, aber sie begingen Fahrerflucht. Mit dem armen Wilson fühlte niemand Mitleid. Er ist eine fast tragische Figur. Die Erbitterung, die die Deutschen gegen ihn empfanden, war unberechtigt und zeugt von unserer kindlichen Gläubigkeit an den Weihnachtsmann. 1919 erhielt der Weihnachtsmann den Friedensnobelpreis. 1920 wurde der »Friedenspräsident« abgewählt, »weil er sich vom Kriege nicht trennen konnte« und die USA ‚

* »Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus, schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. Es begab sich aber, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog, und da er ihn sah, ließ er ihn liegen. Derselbigen gleichen auch ein Levit, da er kam zu der Stätte, und sah ihn, ging er vorüber.«

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nicht mit dem ganzen europäischen Kram in Ruhe lassen wollte. Quae mutatio rerum! Wirklich? Kennen Sie die Welt immer noch nicht?

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XVII

Man war nun wieder unter sich. Zweierlei hatte sich erwiesen, und das war so erfreulich, daß sich auch der kleinste Mann die Hände reiben konnte: Die USA waren die mächtigste Nation der Erde. »Wir möchten bescheiden darauf hinweisen, daß wir der Gipfel sind. Vor uns ist niemand, nur weiterer Fortschritt; und auf unseren Spuren folgt die übrige Welt - sofern sie begreift, was gut für sie ist« (Aus einer Publicity-Schrift). Und sie waren die moralischste Nation der Welt, denn sie hatten diese Welt wieder in Ordnung gebracht; Opfer genug hatte es gekostet, Gott weiß es. Nun sollten sich die anderen aber mal zusammenreißen und auch gut werden. Dieser Satz klingt kindlich? Dieser Satz klingt amerikanisch. Die Politiker der USA sind niemals große Leuchten gewesen, aber solch blinde Hennen wie nach dem Ersten Weltkrieg waren sie selten. Sie brüteten drei für die Welt fürchterliche Kuckuckseier aus, ohne es auch nur zu ahnen. Das scheint ihr Schicksal nach jedem Krieg zu sein. Das erste Kuckucksei war das Abladen der französischen und englischen Rüstungsschulden auf Deutschland, auf ein Deutschland, das inzwischen demontiert, der Kolonien beraubt, zerstückelt und besetzt war und das sichtbar völlig außerstande sein würde, das Versailler Diktat zu erfüllen. Die Reparationssumme war irrsinnig, und zwar absichtlich. Die amerikanische Hochfinanz wußte in unseren Taschen sehr wohl Bescheid, der Betrag war so astronomisch hoch angesetzt,

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damit er nicht abgetragen werden sollte. Ein Beweis dafür ist auch die Klausel, daß die Schuld weder in Lieferungen noch in Mark, sondern in Golddollar zu bezahlen war, wovon in Deutschland nicht so viele existierten wie das Schwarze unter dem Nagel. Nein, das Aufbringevermögen Deutschlands sollte nicht die Schulden abtragen, sondern mit Mühe und Not für die Zinsen reichen, die Zinsen jener gigantischen Summe, die sich nie verringern würde. Das Perpetuum mobile schien erfunden. Die Saat zu einer Empörung, zu einem verzweifelten Aufbäumen Deutschlands war gelegt. John Pierpont Morgan sah es nicht, oder es war ihm egal. Der »Völkerbund«, auch eine von Wilsons grandiosen Ideen, erreichte wenigstens im Lauf der Jahre, in denen über Deutschland die apokalyptischen Geißeln der Inflation, Arbeitslosigkeit, Hungersnot und Selbstmordepidemien hinweggegangen waren, daß die Zahlungen Schritt für Schritt gesenkt wurden. Wir wollen dem Debattierklub in Genf nicht zu viel Verdienst zuschreiben; er würde nichts erreicht haben, wenn die USA nicht inzwischen eingesehen hätten, daß ein lebendes Deutschland immer noch zahlungskräftiger ist als ein totes. Das zweite, von den Amerikanern völlig verkannte und bagatellisierte Fazit des Krieges war die Geburt des ersten kommunistischen Staates der Welt. Die deutsche Heeresleitung hatte 1917 in der Not Lenin aus der Schweiz herausgeholt und als Verkäsungsbakterie in das zaristische Rußland geschleust. Ihre Rechnung, eine bolschewistische Revolution würde unsere Ostfront entlasten, ging auf. Es ging aber noch etwas anderes auf: eine rote Sonne von riesigem Ausmaß. Amerika, für das es eine Kleinigkeit gewesen wäre, 1918 das bolschewistische Regime wieder verschwinden zu

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lassen, begriff nicht, was passiert war. Kommunismus schien ihnen nach ihrer Erfahrung Unzufriedenheit mit der Arbeitszeit und Forderung nach Lohnerhöhung. Der Kommunismus war aber schon damals etwas ganz anderes. Er hatte bereits die Stufe des Sozialismus hinter sich gelassen und die Form eines fanatischen Bekenntnisses, die Form einer schwärmerischen Menschheits-Erlösung, angenommen. Wer sah es? Das dritte Kuckucksei legten sie in das eigene Nest, aber es hatte fürchterliche Auswirkungen für die ganze Welt: die Prohibition. Es war noch Woodrow Wilson, dieser Unglückswurm, der das Alkoholverbot in der Verfassung verankerte. Er ist nicht schuld - wann war er je schuld? Die Idee war aus dem Volk gekommen, aus puritanischschwärmerischen Kreisen und aus den Frauenvereinigungen. Die einen werkelten immer noch am idealen amerikanischen Menschen als Gottes Ebenbild, das natürlich nicht ständig betrunken sein konnte; die anderen, die Frauen, waren teils Blaustrümpfe, teils wirklich verzweifelt über die Männer, die mit der Flasche täglich so oft verkehrten wie mit ihnen im Monat. Nun gibt es in der Welt keine tatkräftigeren und kürzer entschlossenen Menschen als die Amerikaner, wenn's um die Moral geht. Wären sie damals im Paradies zuständig gewesen, so hätten sie das Verspeisen von Äpfeln nicht verboten, sondern einfach alle Apfelbäume umgehauen und damit den Teufel zu einem schwunghaften Schwarzimport von Äpfeln eingeladen. Genau das geschah 1919 - ein Jahr, das man rückblickend zur Hölle wünschen möchte, denn es gebar in Amerika eine neue Geißel unseres Jahrhunderts: das organisierte Verbrechen. Es wurde eine Wirtschaftsmacht. Die Idee,

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die da geboren wurde, war gültig für alle Zeiten wie eine mathematische Formel. Viren und Bazillen sterben ab, wenn man ihnen den Nährboden entzieht; der aus der Prohibition geborene neue Verbrechenstyp steigt auf anderen Boden um. Von nun an sollte Amerika, und bald die ganze Welt, mit dieser Geißel leben.* Es ließ sich harmlos an. Man schmuggelte ein bißchen, man panschte als Apotheker ein bißchen, man verlegte das Geburtstagsfestchen auf ein Schiffchen unter fremder Flagge. So ging das, bis sich eine Gruppe von Männern, die von Haus aus ein besonderes Talent für verbrecherische Verschwörung mitbrachte, der Sache annahm: die sizilianischen Einwanderer. Geschult in der schon seit hundert Jahren bestehenden Mafia, wußten sie, wie man so etwas organisiert. Sie sammelten - was nicht schwer war -ehemalige Mafiosi um sich, schweißten sie zu »gangs« zusammen, versorgten sich mit schweren Waffen, verteilten systematisch die Aufgaben und gingen an die Arbeit. Die Bosse sorgten für Verbindungen mit der Justiz, mit der Polizei, mit dem Zoll, und den Rest besorgte der Terror. Unter dem Schutz der Bestechung und dem Schutz der Maschinenpistolen begann nun der Alkoholschmuggel in großem Stile. Wenn Amerika bisher noch keine Säufernation gewesen wäre, jetzt, mit dem Reiz des Verbotenen, wurde sie es. Abends, in einer der dreißigtausend New Yorker Flüsterkneipen hockend oder zu Hause vor der Zeitung sitzend und den Fusel saufend, verfolgten die Amerikaner mit größtem Interesse und leichtem Gruseln die Kriege der rivalisierenden Banden und die Straßenschlachten, die bald zum täglichen Brot wurden. Die Justiz veränderte

* »Das organisierte Verbrechen ist fester Bestandteil des american way of life« (Der Anthropologe Frank Janni).

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sich von Grund auf. Wenn sie nicht bestochen war, war sie terrorisiert. Es ging Schritt für Schritt bergab, sie verriet ihre Würde und die Humanitas und stellte sich auf die Stufe eines Komplizen. Ihre Hilflosigkeit verdiente langsam Verachtung. So kläglich die Rolle war, so strahlend erstanden auf der Seite des Verbrechens die Killer, die Unüberwindlichen, die Superbosse, die »berühmt« wurden. Es dauerte nicht lange, dann empfand das gelangweilte Großstadtvolk die »ganz Großen« als Heldenersatz. Namen wie Bugs Moran, Lucky Luciano, der spätere Heroinkönig, und AI Capone traten ebenbürtig neben Vanderbilt. AI Capone! Was für ein Mann! Nicht nur, daß sein Trust ebenso fest gefügt war: seine Macht war größer. Er hätte jederzeit am hellen Tage einen x-beliebigen Menschen niederschießen können, ohne daß viel davon gekommen wäre. Das konnte Vanderbilt nicht. Als die Verbrechersyndikate fest wie ein Betonblock standen, begannen sie, auch die ergiebigsten anderen Arten von Kriminalität in die Hand zu bekommen. Sie unterwarfen sich die Tausende von Einzelgängern und organisierten den Kinderraub, den Autodiebstahl, die illegalen Rennwetten, die Spielhöllen, die Prostitution, den »Schutz« der kleinen Geschäftsleute, den Einwandererschmuggel sowie auch systematisch den Mord-Service. Das Wort »die amerikanische Unterwelt« wurde ein Begriff. Bald sah man auch in Europa deutlich die ersten Metastasen. Abgesehen von diesen Kleinigkeiten, lebte es sich in diesen »goldenen zwanziger Jahren« herrlich in Amerika, Der neue Präsident Warren Harding (wieder einer der bekannt tüchtigen Ohio-Männer) brauchte nicht zu verheimlichen, daß er ein gehorsamer Diener des Geldes war; die Bevölkerung war es auch.

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»Es ist eine Lust, zu leben«, konnte jetzt Hutton, wie einst Hütten, sagen. Aus den Zehn-Cents-Drugstores wurden Warenhausketten, wie sie Europa sich nicht träumen ließ; aus Zapfstellen wurden Benzinstationen. Der Maurer mit seinen zwei Gesellen wuchs sich zum Baulöwen mit Lastwagen, Kränen, Baggern und hundert Angestellten aus. Zehn Millionen Amerikaner besaßen schon ein eigenes Haus. Täglich verließen über fünftausend Autos das Fließband der Ford-Werke. In allen Räumen plärrten die Radioapparate. Caruso sang in der »Met« und bekam zehntausend Dollar für einen Abend. Der Klinkenputzer, der mit Zeitschriften oder Staubsaugern treffauf treppab lief, und der Schuhputzer, der in der Halle der Bürohäuser saß, verdienten gut. Sogar Klosettmann war ein höchst begehrter »Job«. So verstand Amerika zum Beispiel die menschliche Tragik in dem alten Emil-Jannings-Film »Der letzte Mann« (eben der Klosettwärter) überhaupt nicht. Es hielt Deutschland für arrogant, ja, eigentlich für unverschämt in seinem Naserümpfen über einen Job.* Ja, es war wirklich arrogant nach einem verlorenen Kriege, mit seinen Schulden, mit den Straßen voller Kriegskrüppel und mit einer Inflation, die Hunderttausende bettelarm werden ließ und jährlich Tausende in den Selbstmord trieb. Amerika sah das apokalyptische Schauspiel zwar nur von weitem, aber es erbitterte eher, als daß es rührte. Das also war übriggeblieben von der erträumten Weltherrschaft des

* »Job« ist nicht »Beruf«, »Job« steht höher als Beruf. Jemand, der auf seinen Beruf angewiesen ist, Zahnarzt, Landmesser, Schornsteinfeger, hat noch nicht bewiesen, daß er tüchtig in allen Lebenslagen ist. Nur das alberne Europa dachte anders, weiß der Himmel, warum.

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Kaisers, der nun in Doorn Holz hackte, statt einen Job zu übernehmen! Die Amerikaner fingen an, Ferientrips in den alten Kontinent zu unternehmen. Es gab ein gönnerhaftes Gefühl: Der ehrbare, reiche Onkel besucht seine armen Verwandten. Auch der Einkäufer von Woolworth und der Versicherungsvertreter aus dem Mittelwesten wollten sich dieses Europa einmal ansehen. Sie konnten es sich leisten. Sie brauchten sich nur einen Dollar als Monokel ins Auge zu klemmen und galten als König. Beim ersten tiefen Bückling eines »Herrn von« oder »Monsieur de . . .« verschwand ihre Befangenheit. Sie verstauten ihre Minderwertigkeitskomplexe schleunigst wieder in den Überseekoffer. Sie nahmen nicht »ein Zimmer«, sondern sie »stiegen ab«, in Paris im Claridge, in Berlin im Adlon, in Wien im Sacher. Und ihr Taxifahrer war ein russischer Fürst im Exil. Beautiful! Abends gingen sie ins »Folies Bergeres«, tranken, hörten die heimatlichen Klänge des Jazz und sahen sich, kaugummikauend, die schönen, fast nackten Frauen auf der Bühne an. Die blauhaarige Mrs. Versicherungsvertreter besuchte inzwischen die Modenschau der Haute couture, um anschließend mit geschwollenen Füßen ins Himmelbett zu steigen, während der Gemahl noch einen Sprung ins und im »One two two« machte und die Damen mit seiner finanziellen Potenz begeisterte. Was war eigentlich dieses alte Europa? Ein Drittel Museum, ein Drittel Elendsviertel, ein Drittel Schweinerei, isn't it? It is. Amerika war rein und sauber. Die Sittenwächter achteten darauf, daß Hollywood keinen entblößten Busen zeigte und kein Filmkuß länger als eine bestimmte Anzahl von Sekunden dauerte. Alle Stars waren zu süßen

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Porzellanpuppen geschminkt, sie trugen viel Seelenleben und hatten geradezu überirdische Kräfte, die Männer zu veredeln. So überschwemmte der anbetungswürdige Frauentyp aus der verklärten Pionierzeit auch Europa. Das ländliche Amerika betrachtete die erbaulichen Stars mit Andacht und hielt sie für das typische Amerika. In einem Sinne waren sie es. Ihr Privatleben hütete man ängstlich. Und das war notwendig. Denn hinter den Kulissen sah es anders aus. In einer puritanischen Überfluß-Gesellschaft toben sich die gehobenen Stände der Großstädte in ihren vier Wänden aus. Die »parties« blühten jetzt, man soff buchstäblich bis zum Umfallen den geschmuggelten, mit Blut und Dollars bezahlten Alkohol, man nahm Opium, man starb an Morphium, man legte sich reihum in die Betten, Voyeur war schick, Homo war schick, Lesbos war das Allerschickste. Brach der Tag an, ging die Sonne auf, so war es obligatorisch, daß der ganze Spuk verflogen sein mußte. Die Heuchelei wurde zur zweiten Natur. Präsident Harding, der biedere, honorige Mann, hatte zwei Geliebte und ein uneheliches Kind. Niemand durfte es erfahren. 1925 veröffentlichte Theodore Dreiser seinen berühmt gewordenen Roman »Amerikanische Tragödie«. Er schildert, wie ein Mann aus Angst vor Verfemung seine junge Geliebte, die ein Kind erwartet, ertränkt. Dreiser wollte seinen Landsleuten die Augen öffnen. Wem? Die einen wußten es nur zu gut, die anderen, jene Millionen, die keinen Schimmer von der Nachtseite des Lebens hatten, hielten es für eine Ausnahme. Sie waren bereits völlig verspießt und lebten von vorfabrizierten Vorstellungen und Automatismen. Sinclair Lewis hat sie in seinem »Babbitt« beschrieben. Der Name wurde ein Begriff für den gutmütigen, ahnungslosen, leidenschaftslosen, ewig strebsamen »glücklichen«

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Amerikaner. Die Babbitts bezogen ihre Lebensansichten aus Hollywood und der »Times«. Freilich hatte die »Times« auch weniger schöne Dinge zu berichten. Politische und Wirtschaftsskandale blühten. Minister flogen. Streiks waren an der Tagesordnung. Der Bürgermeister von Seattle erhielt eine Bombe in die Wohnung geschickt. Das Haus des Generalstaatsanwalts wurde in die Luft gesprengt. Es stimmte auch, daß man nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr durch den Centralpark gehen konnte, ohne sein Leben zu gefährden. Aber man braucht ja auch nicht, nicht wahr? In unserer Zeit hat der Münchner Polizeipräsident einmal sehr richtig gesagt: Man muß lernen, mit dem Verbrechen zu leben. Im Süden der Staaten lebte der Ku-Klux-Klan wieder auf. In Livermore band man einen des Mordes beschuldigten Schwarzen auf der Theaterbühne an einen Pfahl und ließ ihn von den Zuschauern erschießen. Die Herrschaften auf den teuren Parkettplätzen hatten sechs Schüsse, die auf den Rängen nur einen. Man lynchte Juden und Neger. Die Neger wehrten sich. In allen Großstädten herrschte zwischen Schwarzen und Weißen ein permanent schwelender Bürgerkrieg. Es gab Viertel, in die sich kein Weißer mehr wagen durfte. In Chicago endete eine wochenlange Schlacht mit einem halben Hundert Toten und einem halben Tausend Verletzten. Der Anlaß war der Mord an einem Schwarzen gewesen: Der junge Neger hatte im See gebadet, war zu weit hinausgeschwommen und hatte sich mit letzter Kraft an einen Balken geklammert, der langsam dem Ufer zutrieb - leider an das für Weiße reservierte. Er wurde mit Steinen bombardiert und ging unter. Man sollte solche Sachen nicht unnütz breittreten - gebot nicht die Heilige Schrift, Sünden einfach zu vergeben? In Wahrheit war die Welt in Ordnung, nicht

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wahr? Es ging vorwärts, Wohlstand und Handel wuchsen. Die Herren des großen Geldes streckten ihre »hilfreiche Hand« nach Südamerika aus, wo noch viel Armut herrschte, und taten manches Gute, indem sie die Kupferminen übernahmen. Sie zerschnitten auch endlich die unfaire Wirtschaftsverbindung England-Japan und stiegen ihrerseits in das Geschäft mit China ein. Das nannten sie »eine Tür aufstoßen«. Offene Türen stieß man auch im wracken Europa auf, das geradezu dankbar für jeden Aufstoßer war. Ford ging nach Köln, um den armen Deutschen Autos zu bauen, General Motors kaufte sich bei Opel ein. Alle waren zufrieden, Morgan, Rockefeller, Harding, Samuel Goldwyn, Louis Mayer, AI Capone und Mister Babbitt.

*

Als Harding 1923 unerwartet starb, wurde sein Schützling Calvin Coolidge dreißigster Präsident. Coolidge, einst ein unauffälliger Rechtsanwalt aus Massachusetts, war ein redlicher und kluger Mann. Äußerlich ähnelte er seinem Vorgänger nicht. Er war mager; tiefe Falten und Wellen durchzogen sein Gesicht, etwa wie das, was man heute »Knautschleder« nennt. Mir gefiel er, ich war damals ein Kind, und sein Kopf war das erste Porträt, das zu zeichnen mir gelang. Deshalb. Er war keineswegs das Idealbild für das Volk. Er strahlte weder die vertrauenweckende Behäbigkeit Hardings aus noch die leicht irre Dynamik Teddy Roosevelts, noch den Blockhüttengeruch Old Hickory Jacksons. Er roch nach nichts; nicht einmal nach Geld. Er hielt, was sein Vorname versprach. Er redete wenig, doch was er sagte, hatte Hand und Fuß, zum Beispiel: »In den letzten hundertfünfzig

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Jahren hat unser Land mehr Fortschritte gemacht als die ganze Welt von Cäsar bis Washington.« Natürlich dachte er dabei mehr an das Grammophon als an Johann Sebastian Bach. Collidge administrierte die USA von 1923 bis 1929. Er administrierte; regieren oblag anderen. Das wußte er. Daran war nichts mehr zu ändern. Die Verbrechersyndikate waren ein Staat im Staate. Das wußte er auch. Das Leben war überall und zu jedem Zeitpunkt in Gefahr, auch ohne Krieg. So weit war es gekommen. Er sah auch das. Wenn er so in die Runde schaute - er konnte nichts Paradiesisches entdecken. Ich halte ihn für so hellsichtig, daß er das nahe Erwachen ahnte und es nicht aus dem Fenster des Weißen Hauses mit ansehen wollte. Er beschloß, nicht mehr zu kandidieren. Wenn Mellon im Havelock und Zylinder abends noch auf einen Sprung ins Weiße Haus kam, sah er den Präsidenten resigniert und so wenig »zu Hause«, als sei er schon beim Kofferpacken. Mellon, Coolidges Schatzminister und nebenbei Bankier und Aluminium-Milliardär, gehörte zu den wirklich »Regierenden.« »Ich komme gerade aus dem Konzert des Philadelphia Orchestra, Mr. President. Sie sollten sich nicht so vergraben. Ein großartiger Abend. Ich habe zum ersten Male Toscanini gehört. Er wird in der Met auch Verdi dirigieren. Anschließend kommt die ganze Wiener Staatsoper nach Boston.« »Ich sehe, wir kaufen in Europa fleißig Kultur ein.« »Jeder, wie er kann, Mr. President. Ich kann mir einen Dürer kaufen, während Dürer sich keinen Mellonschen Aluminiumtopf kaufen konnte. Ich sehe nicht ein, warum man mich, wäre ich Europäer, als einen legitimen Bewunderer Dürers bezeichnen würde, und nun, als Amerikaner, bin ich ein Mann, der sich Kultur kauft.

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Kauft sich Krupp nicht ebenso Kultur?« «Schon möglich. Ist das interessant, Mellon?« »Sehr, Calvin. Und Sie sollen als erster eine Neuigkeit erfahren: Ich werde die einundzwanzig alten Meister, die die Leningrader Eremitage abstoßen muß, en bloc kaufen. Ich zahle die sieben Millionen Dollar.« - »Für alte Bilder.« »Für van Eyck, Raffael, Tizian, Rembrandt, für . . . Ich tausche Aluminiumpfannen gegen unsterbliche Werke. Und ich werde sie dem Staat schenken und . . .« »Aus Steuergründen.« »Richtig. Und aus Eitelkeit, Calvin. Ich werde ihnen ein Haus bauen, das ihrer würdig ist, eine Nationalgalerie in Washington.« »Das ist generös, Mellon. Ich merke, daß wir doch wohl in einer schönen Zeit leben. Ich werde versuchen, heute noch ein bißchen daran zu denken. Haben Sie gehört, was Herbert Hoover heute in einer Wahlkampfrede gesagt hat?« »Nein. Hat er wirklich etwas gesagt und nicht nur gesprochen?« »Er hat gesagt, die USA seien im Begriff, die Armut endgültig abzuschaffen. Stellen Sie sich vor, er sagte tatsächlich >abschaffen<!« Mellon lachte. »Hurra! Das wird unser nächster Präsident! Der dritte.« »Der dritte?« »Der dritte, der unter mir regiert.* Habe ich Sie geärgert, Calvin?« »Nicht im mindesten, alter Freund.«

* Der Ausspruch, drei Präsidenten hätten unter Mellon regiert, ist von Senator Norris überliefert. Nur sagte er statt »regiert« gedient!

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*

Hoover wurde es. Es ist nicht schwer zu erraten, wie der neue Präsident aussah: vertrauenerweckend natürlich, behäbig, strahlend. Er hatte eine Kegelkugel als Kopf, einen Teint wie Milch und Blut, so rosigfrisch, und kleine Schweinsäuglein. Er sah nett aus. Summa summarum war er ein »honoriger Mann«, wie man in Bonn sagen würde. Er war auch tatkräftig (was hauptsächlich darin bestand, daß er die regierende Hochfinanz unermüdlich, wenn auch wenig erfolgreich, bekniete), und er war ein guter Organisator. Seine Worte von 1928 aber zeigen, daß er dem verblödenden Berufsoptimismus erlegen war, dem alle diejenigen so leicht zum Opfer fallen, die sich mit Sack und Pack in der Nähe der Kommandobrücke eines »modernen« Staatsschiffes niedergelassen haben und mit einem Finger mitdrehen dürfen. Während sich Coolidge, damals erst siebenundfünfzig Jahre alt, in seinem Hause in Cambridge im Rohrstuhl schaukelte, kam auf Hoover der ganze Kladderadatsch einer übersteigerten Wirtschaft zu. Anfangs schien diese Krise keine der ernstesten zu sein, dennoch empfand man sofort Grauen. Hätschelkinder werden schneller nervös als Robinson Crusoes. Rückblickend ist sie ganz deutlich als Beginn der Krebserkrankung der amerikanischen Wirtschaft zu erkennen. Ja, eigentlich konnte man sogar schon das ferne Donnergrollen eines Krieges hören. Wir werden sehen, daß auch die Hochfinanz die Krise zum ersten Male erst spät in die Gewalt bekam. Aber natürlich bekam sie. Das amerikanische Produktionsvolumen überstieg seit langem die Bedürfnisse. Darin lag der Keim der Krise. Man hatte daher als neue revolutionäre Erkenntnis die Maxime aufgestellt, daß nicht die Nachfrage das Angebot

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zu regeln hat, sondern das Angebot die Nachfrage. Auf gut deutsch: Die Wirtschaft hatte nicht nur Waren zu produzieren, sondern auch Käufer. Die Bürger, diese Hammelherde, mußten verführt werden, ihr Geld für Dinge auszugeben, deren sie nicht bedurften. Der verführte Professor Unrat im »Blauen Engel« hat wenigstens die Entschuldigung der Natur; der Konsumsklave hat gar keine. Natürlich sagte man das nicht offen, es hätte stutzig gemacht. Man sagte es kurz und zugleich nebulös-bedeutend: Geld muß umlaufen. Das ist ein Satz, der alle flotten, modernen Menschen besticht. Würde er stimmen, so wäre das Perpetuum mobile erfunden. Würde er stimmen, so müßte es möglich sein, nach einer Suppe einen Fisch, nach einem Fisch ein Täubchen, nach einem Täubchen einen Schweinebraten, nach einem Schweinebraten einen zweiten, nach einem zweiten einen Rehrücken, nach einem Rehrücken ein Kompott, nach einem Kompott einen Kuchen, nach einem Kuchen -(Werden Sie nicht ungeduldig, für die Wirtschaft ist das Musik!) - einen Schokoladenpudding, nach einem Pudding ein Fürst-Pückler-Eis, nach dem Eis noch Cartersche Erdnüsse zu verkraften, während die Küche immer weiter auf Hochtouren läuft und dampft. Der undelikate Schluß: Der Zeitpunkt, sich zu übergeben, ist gekommen. Ist das so schwer einzusehen? Sind Wirtschaftler dumm? Im echten Sinne nicht unbedingt. Es gibt die liebe, naive Dummheit (die echte) und eine von ihrer Klugheit überzeugte, immer »gut informierte« kämpferische Dummheit. Um zu wissen, um welche es sich handelt, brauchen Sie einen Dummen nur geistig zu provozieren: Der echte schweigt, der andre legt los. Sind Wirtschaftler dumm? Auf jeden Fall sind Vollblut-Wirtschaftler »high«. Sie

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ähneln Trunkenen, die in jedem Nüchternen einen trübseligen Armleuchter sehen.

*

Die amerikanische Wirtschaft wäre schon früher in Krise geraten, wenn sie nicht als dankbarstes Absatzgebiet Europa gehabt hätte. Aber Europa hatte sich nun, zehn Jahre nach dem Kriege, etwas erholt, war fleißig, weitaus genügsamer und produzierte selbst. Die amerikanische Getreide- und Fleischausfuhr sank rapide. Amerika blieb auf seiner hypertrophen Produktion sitzen. Die Farmer waren verzweifelt. Zehn Jahre zuvor hatte der Scheffel Weizen noch fast zwei Dollar gebracht, jetzt brachte er nur noch vierzig Cents. Das russische Getreide begann, den europäischen Markt zu beliefern. Es war spottbillig. Die amerikanische Baumwolle fiel von sechzehn Cents pro Einheit auf sechs Cents. Die Landwirte, die im Vertrauen auf das immerwährende Paradies große Investitionen gemacht hatten, konnten nicht mehr abzahlen, rissen Kreditanstalten mit, die ihrerseits ohne Rückversicherung waren, bei Großbanken betteln gingen und abgewiesen wurden. Vierzehnhundert Banken krachten. Handwerker gingen bankrott, Firmen, die Verpflichtungen hatten, machten die Tore zu. Sofort griff die Krankheit auf andere Gebiete über. Die alte Leier. Am schnellsten starb der Immobilienmarkt, der von Provision auf der einen Seite und Abzahlung auf der anderen gelebt hatte. Das Schlimmste war, daß die Großbanken jetzt den Vierundzwanzig-Stunden-Abrufkredit der Tausenden von Maklern einzog, die darauf Aktien verschleudern mußten. Sie fielen ins Bodenlose. Eisenbahnpapiere sanken innerhalb von drei Jahren von sechshundert auf

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dreißig, Industrieaktien von zweihundert auf sechzig. Da so gut wie jedes Unternehmen und jedermann durch Kredit und Abzahlungsgeschäfte verschuldet war, wechselte das Volksvermögen in unvorstellbarem Maße seine Besitzer, man schätzt auf hundert-fünfzig Milliarden Dollar, die (in Noten oder auf dem Papier) von einem zum andren herumtorkelten. Wo sie zum Schluß landeten, muß ich Ihnen doch nicht sagen? 1930 lagen bereits drei Millionen Arbeitslose auf der Straße. Drei Jahre später sollten es schon fünfzehn Millionen sein. Amerikas Krise hatte den ganzen Welthandel durcheinandergebracht. Die Ausläufer des Erdbebens erreichten auch Europa. Alles geriet ins Stocken. Jeder bremste, daß es knirschte. Zuerst wurden die Löhne gesenkt, dann wurde entlassen. Ende 1930 waren in Deutschland vier Millionen Menschen arbeitslos. Die Amerikaner, immer nervöser, zogen private Investitionen aus Europa ab. Die Krise hatte nun gigantische Ausmaße erreicht. Mitte des Jahres 1931 versuchte Hoover, den europäischen Absatzmarkt zu sanieren, indem er einen Zahlungsaufschub der Reparationszinsen für Deutschland und aller Kreditzinsen für sämtliche Staaten Europas verkündete. Wie? Amerika verzichtete auf den Geldzufluß? Auf den ersten Blick hat das Hooversche Moratorium etwas für Europa sehr Hilfreiches an sich. Wenn man aber das amerikanische Wirtschaftsprinzip und den amerikanischen Lebensanspruch im Auge behält, bekommt es ein anderes, fast groteskes Gesicht: Was Amerika hier tat, war, einem Blutenden blutstillende Watte auf die Wunde zu legen, um ihn sich als baldigen literweisen Blutspender zu erhalten. Das Gesetz, unter dem Amerika im zwanzigsten Jahrhundert angetreten war, zwang den hypertrophen Koloß zu diesem Teufelskreis. Alle Welt

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soll arbeiten und Geld verdienen, um in Amerika kaufen zu können, und sie soll zugleich nicht arbeiten, sonst wird Amerika arbeitslos. So ist es in Wahrheit bis heute geblieben, und so wird es bleiben, solange die USA existieren. Es gibt eine einzige Sache, die ihr Stegosaurier-Schicksal kurz aufhalten und die Uhr immer wieder zurückdrehen kann: Kriege. Wer das heute noch nicht sieht, ist ein Narr. Wer es auszusprechen wagt, wahrscheinlich auch. Amerika ist, wie wir gesehen haben, eine durch und durch friedliebende Nation und verdammt den Krieg. Aber es muß in jeden einsteigen.

*

Coolidge hatte, als er abtrat, einen seltsamen Satz fallenlassen: Man werde ihn in der Not zurückrufen, doch er werde nicht kommen. Die Not war da. Hoover schüttete Arbeitslosen-Unterstützung mit vollen Händen aus, errichtete Volksküchen, vor denen die Verarmten Schlange standen, er organisierte Wärmehallen im Winter, er kaufte Weizen, Mais und Baumwolle auf Vorrat, bis die Magazine überquollen. Es half über die nächste Runde, weiter nicht. Besser war, daß Rußlands Viehbestand auf die Hälfte zurückging, seit die Kolchosen eingeführt waren. Dazu mißrieten ihm Ernten, wieder ein Hoffnungsschimmer. Ein schwacher. Tatsächlich war Hoover mit seiner Weisheit am Ende. Er konnte nur hoffen, daß diese Krise, wie eine Epidemie, von selbst absterben würde. So war die Lage, als Amerika Ende 1932 zur Wahl schritt. In einem Punkte hatte Coolidge sich geirrt: Man

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rief ihn nicht zurück. Hoover, im Vertrauen auf seine Integrität und seine bewiesene Tatkraft, hoffte Präsident zu bleiben. Er hoffte vergeblich. Die Wähler hatten kein Vertrauen mehr. Sie hatten auch zu dem Kandidaten der Demokratischen Partei kein Vertrauen, aber er war wenigstens ein neuer Mann. Wenn er auch noch nichts Besonderes geleistet hatte, so hatte er auch noch nichts verpfuscht. Und er schien einen eisernen, echt amerikanischen Willen zu haben, denn er war gelähmt gewesen und hatte seinen Körper gezwungen, ihm wieder zu gehorchen. Auf Begleiter gestützt, war er vor dem Volk erschienen, das lange Kinn energisch vorgeschoben, wie es Siegern über Krankheit und Tod eigen ist. Der neue Präsident, der im März 1933 sein Amt antrat, hieß Franklin Delano Roosevelt.

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XVIII

Franklin D. Roosevelt erweckt zwei Assoziationen: Er war ein Verwandter des phantastischen Teddy, und er war Demokrat wie der »Friedens«-Präsident Wilson. Wenn es eine Hypothek war, so fiel es zumindest niemand auf. Franklin Roosevelt wurde 1882 auf dem Familienbesitz Hyde Park im Staate New York geboren. Er war also einundfünfzig Jahre alt, als er ins Weiße Haus einzog, in seinem Gefolge ein »Brain Trust«, eine Gehirnmannschaft, etwas, was man noch nie erlebt hatte. Bisher war es immer so gewesen, daß die Präsidenten sich eingebildet hatten, selbst genug Gehirn für ihr Amt zu besitzen. Auch Franklin D. Roosevelt wollte keineswegs das Gegenteil demonstrieren, als er sich den »Brain Trust« zulegte. Diese Berufsdenker hatten lediglich die Funktion, die in einer Oper eine Ballett-Einlage hat. Das Singen besorgte er allein. Den Brain Trust hatte er aus seiner Zeit als Gouverneur aus New York mitgebracht. Was er noch aus New York mitbrachte, war ein Schlagwort. Da auch er, wie alle anderen, kein Rezept zur Beendigung der Wirtschaftskrise hatte, ritt er auf Anraten seines Gehirntrusts auf diesem Schlagwort herum. Es lautete: New Deal. Das heißt wörtlich »neues Kartenausgeben« und bedeutete: Schmeißt die alten Karten weg und laßt euch von Franklin Roosevelt neue geben, vielleicht sind ein paar Joker darunter. In der Welt bekam »New Deal« bald den Klang von »Neuer Aufschwung«, »Neuer Wohlstand«, was also ganz und gar nicht drinsteckte.

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Der New Deal Roosevelts hatte so konfuse, widersprüchliche Ideen, daß er sofort scheiterte. Man kann nicht Produktion drosseln und zugleich Arbeitsplätze schaffen, und man kann nicht einen »freiwilligen Arbeitsdienst« (mit tatsächlich mehreren Millionen Jugendlichen) zwecks Kultivierung von Land ins Leben rufen und gleichzeitig den Farmern Prämien für brach gelassene Felder zahlen. Dieser erste New Deal (es folgte bald ein zweiter, besserer) war angesichts einer solchen Ansammlung von »Gehirnen« ein erstaunlich taubes Ei. Wo diese Genies nur so viel Unsinn hernehmen! Eine andere Tat Roosevelts des Jahres 1933 hatte eine weit größere Wirkung: Die Prohibition wurde ad acta gelegt. Jetzt also floß der Schnaps wieder, und damit war es aus mit AI Capone und seinen Erben. Oder? Die Hoffnung war genauso naiv wie der New Deal. Wenn man den Gärtnern die Rosenzucht wegnimmt, steigen sie auf Nelken um. Keiner geht in Pension. Die Überlegung für die großen Gangsterbosse war nur: Auf welchem Feld konnte man weiterarbeiten? Und hier erwies sich nun der »Brain Trust« der Verbrecher als bedeutend erfindungsreicher als der von Roosevelt. Man entschloß sich, ein ganz neues Feld künstlich zu schaffen. Es war ein fürchterlicher Entschluß: Man stieg auf Rauschgift um. Marihuana und ein bißchen Morphium - das war nichts Neues. Nein, man dachte an das Stärkste, das Teuerste, das Beste, das Versklavendste, das es gab: an Heroin. Und es mußte ein Kundenkreis geschaffen werden, der alle Vorstellungen überstieg. Es sollten Millionen abhängig werden, denn nun war man nicht mehr auf die USA allein angewiesen, jetzt war das Schlachtfeld die ganze Welt. Sie mußte erobert werden. Nach dem amerikanischen Way of

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life sollte nun der amerikanische Way of death kommen. Sah es Roosevelt? Dumme Frage. Für solche Kleinigkeiten war er zu groß. Sauerbruchs schneiden keine Hühneraugen.

*

Wir müssen nun sehr vorsichtig und unvoreingenommen die Entwicklung der nächsten Jahre untersuchen. Es seid ja jene Jahre, die die Welt umstülpen sollten - was freilich noch niemand ahnte. Einen allerdings gab es, der schon alles kommen sah - was kein Kunststück war, denn er veranstaltete es selbst: Roosevelt. Er »ahnte« bereits die Auseinandersetzung mit Hitler. Die Enzyklopädie von Brockhaus setzt seinem Weitblick ein schönes Denkmal, indem sie schreibt: »Den Aufstieg aggressiver totalitärer Mächte beobachtete Roosevelt schon früh mit Sorge, sah sich aber nicht in der Lage, der neutralistischen Haltung der Öffentlichkeit . . . entgegenzutreten. 1935 reagierte Roosevelt mit einem >Ruck nach links<, der seine Anziehungskraft auf die bisher benachteiligten Gruppen (Immigranten, Neger, Intellektuelle . . .) noch erhöhte.« Auch in England, das für Amerika politisch stets eine erhebliche Rolle spielte, gab es bereits einen weitblickenden Mann, den Regierungsberater Lord Vansittart, der noch früher als Roosevelt und lange vor Hitlers Machtantritt die abscheuliche Rolle, die Deutschland im Völkerleben spielte, erkannt hatte und aufrichtig haßte.* So ist es nicht verwunderlich, daß

* »Würde Deutschland morgen zerstört, gäbe es übermorgen keinen Engländer, der dadurch nicht reicher geworden wäre.« (Saturday Review).

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Roosevelt bereits im Oktober 1937, als wir in unserer bekannten Verblendung noch ahnungslos waren, den Krieg voraus- und sogar auf Amerika zukommen sah. Er sprach es offen aus.* Das Volk hörte seinen Präsidenten mit großer Verwunderung und ebenso großem Ärger, denn erst ein Jahr zuvor hatte der Kongreß zur Beruhigung aller ein Gesetz verabschiedet, das die USA in Kriegsfällen zu unbedingter und durch keine Allianzen zu ändernder Neutralität verpflichtete. Die Wirtschaft aber begriff, und die Hochöfen stießen bei diesen Tönen erregt heftige Rauchwolken aus wie die Pfeife Kommissar Maigrets vor der Lösung eines schwierigen Falles. Tatsächlich kündigte sich hier aufs wunderbarste aus dem Munde des energischen Präsidenten die Lösung des schwierigen Falles »Krise« an. Die Staats schulden waren inzwischen von sechzehn auf sechsunddreißig Milliarden Dollar gestiegen, die Arbeitslosenzahl betrug immer noch elf Millionen. So standen die Dinge. Und nun prophezeite der Präsident einen großen Krieg! Konnte man da nicht verwundert die Hände zusammenschlagen? Wie sich alles fügte! Nun bilden Sie sich, meine Freunde, aber bitte kein unfreundliches Urteil. Der Krieg fand in Amerika einstimmige Verdammung! Die Lösung der amerikanischen Wirtschaftsprobleme würde nur eine Begleiterscheinung werden, ein Nebenprodukt sozusagen. Der, der den Krieg vorbereitete, war einwandfrei Hitler. Er hatte schon die Maske fallen lassen, Österreich okkupiert

* Er sprach überhaupt gern zum Volk. Das Radio war bereits eine Macht. Sein Schwiegersohn, C. Dali, berichtet, daß Roosevelt die »politische Munition« seiner Reden sorgfältig aufbereitet von der C.F.R.-Finanzgruppe bekam.

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und die Tschechoslowakei überfallen (Ja, ja, ich weiß. Sie brauchen mir nicht zu schreiben). Dazu seine gefährlichen Autarkiepläne, die Loslösung vom Dollar, sein Schlußstrich unter Versailles, sein Judenhaß - hier war ein Mann am Werk, der das Wasser des ruhigen Sees aufpeitschte. Im gleichen Jahr noch, 1937, begann die Aufrüstung Amerikas. Auf Antrag Roosevelts bewilligte der Kongreß eine Milliarde Dollar für das Heer und ebensoviel für die Kriegsflotte. Es war höchste Zeit, das »bedrohte amerikanische Leben«, wie Roosevelt sagte, zu schützen. Das Volk war hin- und hergerissen. War Amerikas Leben wirklich bedroht? Europa lag so weit weg. Aber Roosevelt sang seine Arien aus dem Lautsprecher, und die Zeitungen schrieben dasselbe, und das waren Boys, die die Welt kannten! Das waren Männer, deren Meinung gedruckt wurde und in Millionen Exemplaren in die Welt ging! Denen konnte dieser Mensch in Berlin kein X für ein U vormachen. Ein ausgeprägter Infantilismus ließ die Amerikaner in einem Maße mediengläubig sein, daß alles nur noch eine Frage der Zeit war. Und so können wir im Vertrauen auf die Entwicklung das Kapitel der amerikanischen Wirtschaftskrise schließen. Die Karten waren in der Tat neu gemischt und ausgeteilt. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin, das Märchen von 1914, das kommt mir nicht aus dem Sinn.«

*

Die Industrie war startbereit, es hätte losgehen können. Zur Enttäuschung Roosevelts gab es eine Verzögerung. In England hatte Neville Chamberlain die Regierung übernommen und mit Hitler konferiert, um den Frieden

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zu erhalten. Und jetzt möchte ich Ihnen etwas sagen: Die verbohrten englischen Historiker haben bis heute nicht begriffen, daß Chamberlain ihnen den Krieg gewonnen hat. Der Aufschub, die Verzögerung, war damals nicht das Unnützeste, sondern das Wertvollste, was die Alliierten sich wünschen konnten. Es ist geschichtlich erwiesen, daß 1937 das Rüstungspotential und die Vorbereitung Englands, Frankreichs und Polens noch so hoffnungslos zurücklagen, daß Hitler einen schnellen Krieg, der dann kein »Welt«-Krieg geworden wäre, wahrscheinlich gewonnen hätte. Trotz Amerikas Bereitschaft. Nun begreift man auch, wie seherisch und zugleich uneigennützig es gewesen war, daß die amerikanische Industrie beständig gepredigt hatte: Rüstet! Kauft! Bestellt bei uns!

*

Der gordische Knoten wurde durchhauen, als Hitler am 1. September 1939, nachdem Polen das Ultimatum nicht beantwortet hatte, seine Panzer in Richtung Warschau in Bewegung setzte und die Alliierten drei Tage später Deutschland den Krieg erklärten. Roosevelt begab sich ans Mikrophon und versicherte dem Volk, er könne jetzt beim besten Willen von keinem Amerikaner mehr verlangen, innerlich neutral zu bleiben, wie das Gesetz es eigentlich befahl. Die Amerikaner staunten über diese seltsame Absolution und verfluchten trotz bester Medien-Bearbeitung weiter den Krieg. Volk ist kurzsichtig. Alte Geschichte. Mister Babbitt war vielleicht eben erst zum Abteilungsleiter der großen Versicherung im 36. Stock des Broadway-

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Wolkenkratzers ernannt worden; er saß jetzt in einem Glasverschlag, etwas erhöht über dem langen Saal, und sah auf sechsundachtzig Stenotypistinnen an ihren Schreibmaschinen hinab. Er bezog jetzt sechshundert Dollar Gehalt im Monat und war vom Chevrolet auf einen Studebaker umgestiegen. Seine Frau war ein Jahr lang beim Psychiater gewesen; jetzt ist alles okay, und sie erwartet das zweite Kind, hoffen wir, daß es ein echter ,Junior" wurde, ein ganzer Kerl und vor allem ein ganzer Amerikaner. Mister Babbitt hatte keine sonderlich interessante politische Konzeption, offen gestanden keine andere als: Amerika ist das beste und freieste Land, und die Amerikaner sind in Ordnung. Was er aber hatte, das war jetzt als Abteilungsleiter einen reservierten Parkplatz. Er liebte das Gewühl, den Verkehr, das Pulsen der Millionenstadt, aber man mußte einen Parkplatz haben, das heißt, man mußte es geschafft haben. Man brauchte nicht mehr lauwarmen Kaffee aus dem Pappbecher und lauwarme »Hamburger« in sich hineinzuschütten, man konnte im Drugstore zu Mittag futtern, dabei die Baseballberichte lesen und aus der Musikbox »Ol' Man River« bestellen. Das Leben war schön, Roosevelt sollte bloß seine Finger von dem damned Polen lassen! Es war Sonntagmorgen, und Harry Smith aus Canville bei Jacksonbridge im Staate Wyoming kehrte mit seiner Frau und seinem Sohn aus der Kirche zurück. Die Sonne schien, das Leben war schön. Nicht um viel Geld hätte Harry Smith mit einem Mann in dem stinkenden, lärmenden und verbrecherischen New York getauscht. Amerika war nicht dort, das wahre Amerika war hier. Die Smith's grüßten nach rechts und nach links, jedermann kannte sich in Canville, na, sagen wir, fast jedermann. Die Gemeinde zählte schon

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neunhundertsechsunddreißig Seelen, und ich will verdammt sein, pflegte Sheriff McGordon immer zu prophezeien, wenn wir nicht bis X-mas die tausend erreicht haben, sofern uns das verdammte Europa nicht wieder in so ein verdammtes Schlamassel zieht wie 1916. Harry Smith war der gleichen Meinung. Er selbst war ja aus dem Schneider heraus mit seinen dreiundvierzig, aber sein Jimmy mit seinen zwanzig Jahren würde dran sein. Und das Vieh, was sollte aus dem Vieh werden? Und die Zapfstelle, die er noch nebenbei betrieb, konnte er dann gleich zumachen. Alles, was er aufgebaut hatte, angefangen mit einer Wellblechhütte bis heute zu dem Haus und den Stallungen - ihm war der Tag verdorben, wenn er sich vorstellte, Roosevelt könnte loslegen wie damals Wilson. Das nannten sie in Washington Politik. Sheriff McGordon sagte immer, Hitler sei ein Kriegsverbrecher, aber lieber ein neuer Napoleon in Europa als Jimmy tot in Frankreich. Smith wünschte nichts sehnlicher, als in Ruhe gelassen zu werden. Mam Jane hatte den Truthahnbraten im Rohr; vorher würde Harry sich noch einen eisigen Whisky eingießen, den man ja nun endlich wieder trinken durfte, und das Radio andrehen, um Musik zu hören. Er drehte das Radio an, aber er hörte keine Musik, sondern Roosevelts Stimme, und sie klang verdammt, ausgesprochen verdammt beängstigend, aber, das mußte man ihm lassen, sehr patriotisch. Der Mann war okay.

*

Im November 1939 beschloß der Kongreß auf Antrag des Präsidenten, die im Gesetz verankerte Neutralität so weit zu umgehen, daß die USA mit voller Kraft die

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europäischen Alliierten mit Kriegsmaterial und notfalls mit Lebensmitteln aus der amerikanischen Landwirtschaft versorgen konnten. Allerdings ging die Liebe nicht gar zu weit: Die Lieferungen mußten selbst abgeholt und vorher bezahlt werden. Falls dies über Kredit geschah, dann aber bitte nicht über Kredite des amerikanischen Staates. Ausgeschlossen. Ein halbes Jahr später stand fest, daß die Hilfe nichts nützte. Hitler hatte nach Polen auch Holland und Belgien überrannt, Frankreich besiegt und zur Kapitulation gezwungen. Churchill, der soeben Chamberlain abgelöst hatte, schrie um Hilfe, England befürchtete täglich die Invasion. Das half. Der Kongreß ging von seinem »Ausgeschlossen« ab und bewilligte siebenunddreißig Milliarden Dollar, um England mit Kriegsmaterial zu unterstützen. Er »lieh« auch in Form einer Verpachtung fünfzig Kriegsschiffe; und dann tat er etwas Unglaubliches: Er gab an die Flotte den Befehl, alle deutschen U-Boote und Kriegsschiffe zu versenken, sobald sie in Gewässern auftauchen sollten, die man als »Schutzgürtel für die Verteidigung Amerikas« betrachten müsse. Im Klartext hieß das »den Wasserweg zur Versorgung Englands«. Die vierte Überrumpelung des Volkes war die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Es lag Roosevelt daran, alles möglichst schnell durchzupauken, um ein Zurück kaum noch möglich zu machen. Und so stellte er sich, im Winter 1940, zum drittenmal zur Wahl. Das war in der Geschichte der USA unerhört. Seit einst der Patriarch Washington eine dritte Präsidentschaft abgelehnt hatte, hatte niemand mehr gewagt, diese Überlieferung zu verletzen oder auch nur zu versuchen, Kongreß und Volk umzustimmen. Die Opposition gegen Roosevelt war stark. Ihre Führer trugen prominente

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Namen: Senator Taft aus Ohio, Senator Vandenberg aus Michigan und Gouverneur Dewey aus New York. Sie führten nicht nur die geheiligte Tradition ins Feld, sie sprachen auch in einer Deutlichkeit, wie man sie noch nie gehört hatte, aus, was sie von dem Menschen Roosevelt hielten. Sie warfen ihm eine Menge unschöner Eigenschaften vor, Wortbrüchigkeit, krankhaften Starrsinn, unglaubliche Vorurteile, totale Geschichtsunkenntnis, Anfälligkeit für Einflüsterungen und Freundchen-Wirtschaft (Henry Morgenthau, ein Verbandsfunktionär, avancierte zum Schatzminister etc.); man warf ihm vor, sofort nach Amtsantritt und ohne jede Prüfung das bolschewistische Sowjetrußland diplomatisch anerkannt und als „Beschützer der Unterdrückten" bezeichnet zu haben, obwohl jedermann von den Schauprozessen, den tausendfachen Morden und den sibirischen Lagern gehört hatte; man warf ihm vor, von den Verhältnissen in Europa keinen blassen Schimmer zu haben und auch keinen haben zu wollen. Es stand also sehr vieles gegen eine dritte Wahl. Man erkannte auch, daß er mit Vorbedacht alles getan hatte, um das Land auf die Straße des Krieges zu dirigieren, er zusammen mit der Wallstreet, die er angeblich so verachtete. Eine Erhebung ergab, daß zu diesem Zeitpunkt fast achtzig Prozent der Amerikaner gegen jede Beteiligung am Kriege waren. Aus einem einzigen Grunde wählte das Volk Franklin D. Roosevelt abermals zum Präsidenten. Den Grund umschreibt auf das einfachste ein amerikanisches Sprichwort: »Man darf das Pferd nicht mitten im Rennen wechseln.« Das Rennen aber - und das hatte Roosevelt gewollt - lief bereits. Es ist müßig, nach tieferen psychologischen Ursachen zu

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schürfen. Im November 1940 kam Molotow nach Berlin, um Hitler ein Bündnis anzubieten. Er kam mit dem Air eines Komplicen, der dem anderen anbietet, halbehalbe zu machen. Was er als Preis für die wohlwollende Neutralität an Beute nach dem deutschen Siege forderte (quasi den halben Balkan), ließ Hitler die Zornesröte ins Gesicht steigen. Er ahnte nicht, daß Roosevelt später einen weit höheren Preis für Rußlands Hilfe zu zahlen bereit war. Diese Stunde, meine Freunde, diese Stunde, in der Hitler nein sagte, war die Schicksalsstunde Deutschlands, die Schicksalsstunde Europas und wahrscheinlich der ganzen Welt. Hier verlor Deutschland den Krieg, der Osten seine Freiheit, England sein Weltreich. Die Antwort an Stalin war der Einmarsch der deutschen Truppen in Rußland am 22. Juni 1941. Roosevelt bebte. Sein Rußland! Der »Beschützer der Armen und Unterdrückten«! Die Nachricht setzte ihn in fieberhafte Tätigkeit. Sofort nahm er Rußland in den Leih- und Pachtvertrag auf und begann, ungeheure Mittel zur Kriegsführung nach Moskau zu pumpen. Vom Flugzeug und Jeep bis zur Konservenbüchse inklusive Öffner lebte bald die ganze russische Front von Roosevelt. Es störte ihn nicht, daß es dasselbe Rußland war, das sich bei der Zerstückelung des besiegten Polens bereits seinen Beuteanteil genommen und zehntausend polnische Offiziere erschossen hatte.* Nichts störte ihn, keine kommunistische Diktatur, keine Morde, kein Imperialismus, nichts - nur Deutschland.

* Sicher eine vorsichtige Schätzung, sonst hätte sie die Enzyklopädie von Brockhaus nicht genannt. Viertausend Opfer wurden allein bei Katyn verscharrt.

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Ich versuche, mir klarzuwerden, mit welchen Gefühlen ich das schreibe. Ich glaube, mit gar keinen. Sicher zur Enttäuschung meiner Freunde und zum Unglauben meiner Feinde. Aber es ist so. Meine Gefühle für diese Zeit sind erstorben. Gut so. Ich lebe nicht mehr in der Vergangenheit und auch nicht in der Zukunft. Dann lebe ich wohl in der schmalen Gegenwart? Ja, das stimmt. Mir ist, als lebte ich zwischen Euphrat und Tigris (nein, nein, ich meine nicht Skylla und Charybdis), ich schreibe mit dem Herzen des biblischen Hesekiel. Das ist alles.

*

Roosevelts Problem war, wie man in den Krieg eintreten konnte, ohne den ersten offenen Schritt zu tun. So etwas erfordert feinste Diplomatie. Das verlangt subtilste Staatskunst. Man hatte da schon eine Idee, aber es war zweifelhaft, ob Deutschland darauf hereinfallen würde. Der Plan war, nicht Deutschland selbst, sondern seinen Verbündeten Japan zu provozieren. Die Japaner hatten eben Korea und Mandschukuo besetzt. Weiß der Kuckuck, wo Mandschukuo lag, aber es war eine Möglichkeit, sich einzumischen und ein Ultimatum zu stellen. Ultimaten sind immer gut, sie zwingen den anderen, klein beizugeben oder mit den Fäusten loszugehen. Vielleicht gelang es, vielleicht ging Japan mit den Fäusten auf die USA los! Der Plan gelang - Japan, trotz der Warnung des erschrockenen Hitler, zog blank. Roosevelt war aller Sorgen enthoben. Der amerikanische Geheimdienst meldete die Absicht Japans, in den Morgenstunden des 7. Dezember, also in wenigen Tagen, einen vernichtenden Luftangriff auf die Pazifikflotte in Pearl Harbor zu unternehmen. Pearl

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Harbor auf Hawaii war vollgepfropft mit amerikanischen Kriegsschiffen, ein hochexplosiver Punkt auf der Landkarte. Immer präzisere Nachrichten liefen ein, und als der 7. Dezember anbrach, kannte man, das ist inzwischen belegt, den japanischen Angriffsplan bis ins Detail. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin, das Märchen von 1916, das kommt mir nicht aus dem Sinn.« Was tat Roosevelt? Nichts. Pearl Harbor sollte sein »Lusitania« werden; ein bißchen teurer allerdings. Alles lief wie am Schnürchen. Ohne Störung rasten die japanischen Flugzeuge heran, und ohne Gegenwehr zu finden, ließen sie die Todeslast auf die amerikanischen Schiffe fallen. Acht Schlachtkreuzer sanken mit Mann und Maus. Die »Lusitania« hatte einst hundertachtundzwanzig Amerikanern das Leben gekostet, Roosevelts Pearl Harbor kostete viertausend Tote. Nach dem Kriege hat es noch viele Jahre gedauert, bis die wahren Zusammenhänge herauskamen. Heute bestreiten sie nur noch hauptamtliche Geschichtskosmetiker. Amerika kochte vor Empörung. Von einer Stunde auf die andere verwandelte sich das herzensträge und geistesabwesende Volk in ein Volk von kurdischer Blutrache. Durch diesen unerhörten Angriff auf die friedlichen USA ergaben sich die nächsten Schritte von selbst, und jeder Amerikaner war mit ganzem Herzen dabei: Roosevelt erklärte Japan den Krieg. Hitler war im Zugzwang. Auch sein Schritt ergab sich von selbst, sofern er nicht den Verbündeten im Stich lassen wollte, was bei der deutschen »Nibelungentreue« ausgeschlossen war. So, wie Wien 1914 den Kaiser in den Krieg gerissen hatte, so riß nun der verhängnisvolle japanische Überfall Deutschland in den Krieg gegen die USA. Es war geschafft!

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Die Machtmittel, die die USA an die Fronten warfen, waren gigantisch: 290000 Flugzeuge, 25000 Panzer, 17 Millionen Gewehre, 300000 Kanonen, 40 Milliarden Schuß Munition und Tausende von Schiffen und Truppen, die mit allem ausgerüstet waren, was sich denken ließ. Der zweite Weltkrieg dauerte sechs Jahre. Ist das alles, was ich über diesen Krieg, der uns zur Schlachtbank geführt hat, zu sagen habe? Ja, das ist alles. Wovon sollte ich sprechen? Von den Schlachten? Von den Toten? Den Heldentaten? Den Ängsten? Den Tränen? Schmerzen und Tränen machen keine Geschichte. Vergessen Sie's. Die Göttin Clio ist kalt wie eine Hundeschnauze. Also, der zweite Weltkrieg dauerte sechs Jahre. Es siegten das amerikanische Kriegsmaterial und das Corned beef, der russische Winter und die unerschöpflichen Menschenmassen Moskaus, Lisa Meitner und Wilhelm Canaris (Nehmen Sie die Namen als pars pro toto). Seit Januar 43, als Churchill und Roosevelt sich nach der Entscheidungsschlacht von Stalingrad in Casablanca trafen und verkündeten, »bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands« zu kämpfen, befand sich ganz Amerika schon im Siegesrausch. Ende des Jahres 43 bekam Roosevelt zum erstenmal den mythenumwobenen Stalin zu sehen. In Teheran standen sie sich Auge in Auge gegenüber. Ich benutze diesen feierlichen Ausdruck, weil er Roosevelts Stimmung richtig wiedergibt. Das also war er, der »Beschützer der Entrechteten«, der Herrscher Rußlands! Welch ein Koloß, welch ein lebendes Denkmal! Das Denkmal befand sich in keiner freundlichen Stimmung. Es forderte endlich die Invasion, den Fangstoß für Deutschland. Warum zögerte Amerika noch? Nein, es zögerte nun nicht mehr. 1944 landeten die Alliierten in

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Italien und in der Normandie. Viele Amerikaner sahen dabei erstmals die Heimat ihrer Väter wieder. Mit welchen Gefühlen? Ja, das war eine verdammte Frage! Daran mußte man denken! Vor der Landung in Italien hielt US-General Patton daher eine Ansprache an seine Truppen: »Wenn wir jetzt landen, werden wir deutsche und italienische Soldaten vor uns haben, die anzugreifen und zu vernichten wir die Ehre und das Privileg haben. Viele unter uns haben in ihren Adern deutsches oder italienisches Blut; sie mögen sich erinnern, daß ihre Vorfahren die Freiheit so sehr liebten, daß sie ihr Heim und ihr Land verließen und den Ozean überquerten, in der Hoffnung, sie dort zu finden. Die Vorfahren der Leute, die wir nun töten werden, hatten nicht den Mut, ein solches Opfer zu bringen, und deshalb fuhren sie fort, wie Sklaven zu leben.« Von allen Ansprachen vor einer Schlacht, angefangen von Leonidas über Friedrich den Großen bis zu Dajan, gibt es in der Weltgeschichte keine, die so (Sie möchten sagen: gemein ist? ja, auch. Aber das ist uninteressant.), keine, die so erschreckend deutlich das böse Gewissen verrät.

*

Und nun alle Scheinwerfer auf zum Finale! Jalta, Februar 45. Der Krieg war gewiß eine Tragödie von antiker Größe, aber trotz allem Inferno noch erkennbar als Wutausbruch des Gottes Mars. Was in Jalta geschah, war ein grausiger Spuk. Dort, auf der sonnigen Krim, traf Roosevelt zum letztenmal Stalin. Wieder war es nur eine Dreierkonferenz; Frankreich, das die Last des Kriegs mitgetragen hatte und sich ebenfalls als Sieger fühlte, war ausgeschlossen. Daß Churchill dabeisein durfte,

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war das äußerste, was Roosevelt zugestand. Im Rausch der Allmacht, in der Stimmung eines Weltenrichters fand er, daß er und Stalin genügt hätten. Seine Begleitung war entsetzt. Jedermann sah, daß der Präsident nicht mehr ganz klar war. Er, »der nichts von der aktuellen Geschichte, nichts von Geographie, nichts von anderen Völkern verstand«, hörte sich schon lange keinen seiner Experten mehr an und ließ alle Akten, die man ihm für Jalta erarbeitet hatte, unbeachtet liegen. Auf der Überfahrt hatte er die Zeit vor Hollywoodfilmen oder an Deck liegend und dösend verbracht. Er träumte, wie Arthur Conte aus Äußerungen nachgewiesen hat, von einer gemeinsamen Weltherrschaft durch ihn und Stalin. Das Instrument sollte eine Organisation der Vereinten Nationen sein, der Garant des ewigen Friedens auf Erden. In solcher Trance trat Roosevelt dem russischen Diktator gegenüber. Augenzeugen berichten, daß er geradezu kindisch um die Liebe des bewunderten Stalin buhlte. »I like Uncle Joe and it seems he likes me too.« Man möchte es nicht glauben, daß dieses senile Betteln um Liebe und Ruhm die Grundstimmung des mächtigsten Mannes der Welt war, der im Begriff stand, diktatorisch und vollständig gefühllos über fremde Völker zu verfügen. Es gibt heute keinen Zweifel mehr: Er war, wie später eine französische Zeitung schrieb, »in einen sanften Irrsinn gerutscht« . Stalin hörte sich ein Weilchen sein Salbadern an, dann schritt er zur Tagesordnung. Sofort nahm auch Roosevelt die Pose des »harten Realisten« an. Für sein Leben gern wollte er dafür gehalten werden. Er überschlug sich also. Während sie noch das erste Glas hoben, präsentierte er aus dem Stegreif Stalin die Idee, fünfzigtausend deutsche Offiziere erschießen zu lassen, und brachte einen Toast darauf aus. Uncle Joe lächelte.

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Sie werden etwas vermissen. In der Tat. Hier vermißt man, daß Churchill, der doch der »alte britische Löwe« war, aufstand und nach Hause fuhr. Er tat es nicht, er protestierte ein bißchen (die englischen Historiker streichen ihn heute, obwohl das ganze Empire in Scherben ist, natürlich heraus), aber er blieb sitzen und wurde damit zum Komplizen. Von Polen, für dessen Unversehrtheit man gekämpft hatte - von all diesen Idealen war nicht mehr die Rede. Stalin diktierte. Für ein Linsengericht erwarb er die Herrschaft über Osteuropa, über den halben Balkan und über die Mongolei. Er verschob mit seiner starken Hand Polen nach Westen wie eine leblose Schachfigur und schnitt Deutschland mitten durchs Herz. Dann streckte er dem Amerikaner die Hand hin und versprach, bei der UNO mitzumachen und Japan pro forma noch den Krieg zu erklären. Das war der Topf voll Linsen, den Roosevelt nach Hause brachte. Er fuhr nach Amerika zurück in einem Zustand der Verzückung. Die Saat von Jalta würde der ewige Friede auf Erden sein und er selbst dereinst ein Mythos. Wenn ich mich nicht irre, hat Amerika schon einmal »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« gesungen. Wann war es nur gewesen? Roosevelt ist der Schöpfer des russischen Weltreichs. Ich wundere mich - in vollem Ernst gesprochen -, daß an der Kremlmauer noch immer nicht sein Denkmal steht. Er hat es verdient. Franklin Delano Roosevelt erlitt das Ende jenes anderen amerikanischen Kriegspräsidenten, Wilsons, der vor sich hin dämmernd verschied. Er starb am 12. April 1945. Achtzehn Tage später folgte ihm Adolf Hitler auf dem Weg zum ewigen Richter.

*

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Der dreißigjährige Krieg gegen Deutschland war aus. Die Amerikaner drüben haben wahrscheinlich nicht sehr viel von der europäischen Tragödie erfahren. Natürlich legten die Zeitungen jeden Morgen zum Frühstück die neuesten Nachrichten neben das Butterbrot, den Selbstmord Görings zum Beispiel, oder die Erhängung der Kriegsverbrecher. Recht so. Haben sie auch gewußt, daß amerikanische Soldaten den alten Ezra Pound, ihren großen Dichter, als Kollaborateur auf dem Marktplatz von Pisa in einem Käfig ausstellten? Nein? Recht so! Hätten sie dabei an »Sitting Bull« gedacht? Nein? Recht so. Sie wünschten die letzten fünf Jahre zum Teufel und machten sich auf die Socken, um nachzusehen, wie es mit ihrem Job stand. Und sie zerschlugen ihr Sparschwein, gingen zum nächsten Drugstore und ließen Carepakete nach Deutschland senden, teils weil sie dort Verwandte hatten, teils weil sie gute Menschen sein wollten. Von den makabren Plänen, die in der Schublade Henry Morgenthaus lagen, wurde keiner verwirklicht, denn inzwischen war ein neuer Mann, ein anderer, nüchternerer Typ, zur Regierung gekommen: Harry Truman, der Vizepräsident. Er konnte gut Klavier spielen und besaß eine singende Tochter, womit alle persönlichen Mitbringsel aufgezählt sind. Ich höre immer wieder, er sei kein übler Präsident gewesen; er habe sich von Rußland distanziert, er habe das Leben, auch in Europa, schnell normalisiert, er habe die Gründung Israels protegiert, und er habe Deutschland geschont, soweit er konnte, in der richtigen Erkenntnis, daß ein ruiniertes Deutschland ein sehr unbefriedigender Kunde sein würde. Truman war ein im bekannten Sinne »liberaler«, duldsamer Mensch. Er duldete, daß durch Waffengewalt und mit einigen Millionen Toten ein zweites kommunistisches Riesenreich entstand. Als General

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McArthur, hervorragender Flegel, aber realistisch, nach China gehen und Mao schlagen wollte, winkte er ab. Nein, nein, bitte nicht schlagen, nicht wir. Er stellte auch die Hilfe an Tschiankaischek ein, so sehr liebte er den Frieden. Und als der sprichwörtliche »böse Nachbar« ihn zwang, doch noch einmal Krieg in Korea zu führen, drang sein gutes Herz abermals durch: Nach drei Jahren einigte man sich mit dem kommunistischen Nordkorea halbehalbe. Hier kann man eine ganz merkwürdige Beobachtung machen: Von nun an traut Amerika, gleichgültig unter welchem Präsidenten, sich nicht mehr, einen Krieg, in den es sich einmischt, zu Ende zu führen. Es ist der Gefangene seiner eigenen Phrasen geworden. Es hat den deutlichen Anschein der Furcht. Furcht vor einer Niederlage wäre zu verstehen, aber es handelt sich ganz offensichtlich um die Furcht vor einem Sieg. Ein wahrhaft guter Staat hat weder zu verlieren noch zu siegen, er hat ganz einfach gut zu sein. Er vernichtet und siegt nicht mehr, wie er das im Weltkrieg getan hat. Warum? Ich verstehe es sehr gut. Ich glaube, daß Amerika an Vergangenheitsbewältigung leidet. Es gibt nur zwei Nationen in der Welt, die sich diese Verpflichtung einbilden und sich entsprechend idiotisch benehmen: wir und die USA. Wir, weil wir so schlecht sind, Amerika, weil es so gut ist. Der einfache Mann hat keinen Teil daran, weder im deutschen noch im amerikanischen Volk. Ich bezweifle, daß Mister Babbitt das, was in der Welt geschah, überhaupt realisierte und in wirklich deutliches Bewußtsein umsetzte. Ein von der Geschichte im Schnellverfahren galvanisiertes Volk wie das amerikanische ist gegen Weltschmerz und Weltfreude

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gefeit. Es sieht sein enges Leben in einer ganz anderen Dimension als das der »übrigen« Welt. Auch Lachen und Weinen werden Gebrauchsgüter. Es ist schier unfaßbar, was es alles hinter sich getrampelt hat in kürzester Zeit und in einem Tempo, daß man kaum nachkommt. Es gibt wohl Narben im Gesicht des einzelnen, aber keine im Gesicht des Volkes, das immer noch glatt wie ein Kinderpopo ist. Wie hatte Roosevelt am »Tag der Nationen« gesagt: »Gott der Freien, wir geloben unser Herz und unser Leben der Sache der gesamten freien Menschheit. Unsere Erde ist nur ein kleiner Stern im großen Universum, doch wir können, so wir wollen, aus ihr einen Planeten machen, der vom Kriege nie mehr heimgesucht und von Furcht verschont ist. . . In diesem Glauben laßt uns marschieren auf die saubere Welt zu. Amen.« Das ist schön. Direkt poetisch. (C.F.R.-Finanzgruppe?) Ach ja - beinahe hätte ich noch etwas vergessen: Es war Truman, der (entgegen dem Rat der Generäle) die ersten Atombomben auf ein Land werfen ließ, das bereits in Kapitulationsverhandlungen stand. Die Bombe von Hiroshima tötete zweiundneunzigtausend Menschen und verstümmelte siebenunddreißigtausend. Die Bombe auf Nagasaki tötete vierzigtausend und verstümmelte sechzigtausend. Truman starb 1972, achtundachtzig Jahre alt. Alle sind sie inzwischen da oben, alle, mit denen Gott noch einmal den Nürnberger Prozeß aufnehmen kann: Hitler, Stalin, Roosevelt, Truman, Churchill.

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XIX

Nun stehen wir bereits in unserer eigenen Zeit. Für die Amerikaner zerfällt die Welt heute in zwei Teile. Da gibt es die schlechten Völker, die erzogen werden müssen, und es gibt die anderen, die »so gut sein wollen wie wir« - um es wörtlich zu zitieren. Wir Deutsche haben es geschafft, wir sitzen im »guten« Zug; vor uns die D-Zug-Lokomotive USA, mit der es Volldampf voraus in den Fortschritt geht. Von allen europäischen Waggons ist unserer der vorderste. Wir sind Amerikas liebstes Kind, da darf uns nichts irremachen. Was wir sind und wie wir sind, das danken wir ihm. Wir inhalieren seinen Atem zu jeder Stunde und wo wir gehen und stehen, ja, wir leben geradezu wie von der Mund-zu-Mund-Atmung. Seit dreißig Jahren wachen wir mit Amerika auf und gehen mit Amerika zu Bett. Es liegt mit der Zeitung auf unserem Frühstückstisch und ist das letzte Bild, das vom Fernsehschirm strahlt. Es war zuerst unser Bezwinger, dann unser Richter und Henker, dann unser Umerzieher, unser Sittenpapst, unser Evangelist. Seit dreißig Jahren sehen wir Amerika: als Schlichter, als Gouvernante der Völker, als guten Hirten, als Verführer, als Anstifter und Kriegsächter, als Entspanner und größten Waffenlieferant der Welt, als Heilsapostel der Rassen und als Rassenhasser im eigenen Land, als Erfinder der »Lebensqualität« und als Erfinder der tödlichsten Waffen, als Erfinder des Salk-Serums und des Napalm, als Erfinder der Jeans als Gesinnung und der Sterbehilfe für sieben Dollar fünfzig pro Stunde, des Instant-Kaffees und der

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Instant-Historie, als Menschenrechtler mit erhobenem Zeigefinger und als Marschierer durch My Lay mit erhobener Maschinenpistole, als Kornkammer Rußlands und Verfechter von Sanktionen gegen Rhodesien, als lästigen Vater der Bürger und als verzeihende Mutter der Verbrecher, als Retter der Menschheit und als Ausplünderer der Erde. »Amerika ist zum Albtraum der Welt geworden« (Toynbee). Wir haben alles miterlebt, ausführlicher, als es die Geschichtsbücher einmal berichten werden. Schönes und Scheußliches, Kämpfe und Kriege irgendwo - wie viele waren es? Hundert? Ja, hundert Kriege werden es seitdem gewesen sein -, Konferenzen, die alle unnütz waren, Pläne und Vorsätze, die nie verwirklicht wurden, Verbrechen, Rauschgift, Menschenraub als tägliches Brot, und immer wieder Reden, Reden, Reden von einer besseren Zukunft, von Frieden und Gerechtigkeit, die längst gestorben ist. Und was wir vergessen haben, liegt in den Archiven auf Hunderttausenden von Seiten begraben - Staub. Womit waren die Jahrzehnte eigentlich gefüllt? Ging uns nicht in Wahrheit eines wie das andere hin? Ist das ein Zeichen von Friedensjahren? Denn es waren doch für uns Friedensjahre? Oder? Natürlich - da war die Invasion auf Cuba, weit weg, wann war das doch gleich, dann war Vietnam, weit weg, wann war das doch gleich, und da waren die Weltraumflüge und die Landung auf dem Mond. Eisenhower war eine Zeitlang da, dann Kennedy, es gab einen Johnson statt Marilyn Monroe, was viel stilvoller gewesen und auch besser im Gedächtnis geblieben wäre, dann kam ein Mann namens Nixon und einer namens Ford - sie machten, ja, was machten sie? Lauter Namen, scheinbar mit vielen »wichtigen« Ereignissen verknüpft, für die Nachwelt womit? Wir könnten Schluß machen, und ich

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täte es auch gerne. Hat nicht Amerika aufgehört, politische Geschichte zu machen? Hat Washington nicht aufgehört zu regieren, so wie »Senatus Populusque Romanus« aufgehört hatte, Weltgeschichte zu machen, als Spätrom vor Kraft und Macht zu strotzen schien? Gewiß, die Adresse für Staatsgeschäfte ist für die westliche Welt immer noch Washington, aber es ist eine Deckadresse für Provinzler. Eingeweihte richten ihre Briefe gleich nach New York.* Es wäre Blindheit, nicht zu sehen, daß jetzt alles von dort erledigt wird. Und das Gesetz der Wallstreet ist nicht politisch, es ist merkantil. So kommt es, daß man in keinem Schritt Amerikas mehr die Politik herausleuchten sieht. Die Parteien sind eine Farce für das Volk. Die Programme sind eine Farce, die Uno ist eine Farce, die Kriege Amerikas sind eine Farce. Amerika hat keine Überzeugung mehr. Diese Rasse Mensch wünscht nur noch, zum Ultimo von der Wallstreet die Versicherung zu erhalten, daß lieb' Vaterland ruhig sein kann, insbesondere, weil es vom Weltgetriebe durch zwei stattliche Ozeane getrennt ist. Denn was ist der Sinn des Lebens, boys? Ist es nicht die Ungestörtheit des Alltags, des Essens, Trinkens, Schlafens, des Vorwärts, des Erfolges? Immer sorgloser, immer besser, immer »freier«? Das ist doch die »Qualität des Lebens« . Oder? Dies alles würde das impotente Dahinfließen der Jahre nicht stören, wäre die ganze Erde auf dem gleichen Wege der politischen Vergreisung, wäre die Unpolitik der USA, ihre Trägheit, ihr Narzißmus und ihr perfider Geldrausch ohne weltanschaulichen, hochpolitischen Gegenspieler. Aber die Katastrophe ist: Dieser Gegenspieler ist da! Es ist

* »Dieses Land gehört der Wallstreet« (M. L. Lease).

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die kommunistische Welt. Sie steht auf ganz anderen Beinen: Der Kommunismus ist heute das einzige noch hochpolitisch-weltanschauliche Gefüge. Sehen Sie neben ihm noch weit und breit ein anderes? Ich nicht. Ich höre nur ein endloses Geschwätz von Schrebergärtnern, die nichts zu verkünden haben, und deren Stimme nur noch im Dorfumkreis gehört wird. In ihrer possierlichen Geschäftigkeit wissen sie nur noch nicht, daß sie für die Nemesis trostlose Don Quixotes sind. Der tiefere Grund, warum der Kommunismus das letzte politische Dynamit ist, liegt darin, daß der Kommunismus eben keine Partei ist, Parteien, die Weltpolitik machen, gibt es nicht mehr. Der Kommunismus ist ein religiöses Bekenntnis. Ich bitte Sie, verstehen Sie das wörtlich. Die Sorglosigkeit der Hochfinanz wird daher tödlich ausgehen, wie die Sorglosigkeit Roms vor der Lehre des Christentums tödlich ausging. Der Kommunismus ist eine echte, neue Religion; sie verkündet (das ist bei der erbärmlichen Ängstlichkeit der Menschheit obligatorisch) das Paradies, wie jede Glaubenslehre. Aber sie hätte keine Chance, würde sie die Verheißung wieder ins Jenseits legen. Die Novität ist, daß der Kommunismus sie ins Diesseits verlegte. Das verpflichtet ihn ebensowenig, wie der Jenseitsglaube das Christentum verpflichtete, sein Versprechen einzulösen. Und genau, wie alle anderen Religionen ein »Wenn« eingebaut haben (»Erst wenn wir tot sind, werden wir im Paradiese leben«), hat sich auch die kommunistische Lehre abgesichert (»Erst wenn die ganze Erde kommunistisch ist, werden wir im Paradiese leben«). Gläubige sind unbelehrbar. Die Leiden Unschuldiger in der Inquisition haben damals nicht den Glauben an einen gütigen Gott erschüttert, die Leiden in den bereits kommunistischen Staaten tun es

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auch nicht. Gerade darin liegt die Macht. Bis zu Roosevelt lebte die neue Religion in den Katakomben. Roosevelt befreite sie und übergab ihr halb Europa als »Kirchenstaat«. Damit war sie eine anerkannte Kirche geworden. So war die Situation in den fünfziger Jahren, als die USA einen Schritt taten, der sie für die nächsten hundert Jahre aller Sorgen beheben sollte. Selbstredend war der Schritt nicht politisch, obwohl er sich das Mäntelchen der Politik umhängte, sondern wirtschaftlicher Natur. Daß er eine Bombe zündete, deren Wirkung nicht abzuschätzen ist, scheint in der Wallstreet niemand gesehen zu haben. Ist die Hochfinanz dumm? Ich frage es noch einmal. Ich versichere Ihnen: Sie ist blind für den Gang der Welt. Industrie und Geldwirtschaft hatten in den Staaten gigantische Ausmaße angenommen. Eine Weiterentwicklung (die ja die Bibel der Wirtschaft lehrt) war einfach nicht denkbar. Man kann mit dem nötigen Druck jemandem ein fünftes Auto pro Jahr und eine zwanzigste Flasche Coca-Cola pro Tag aufzwingen, aber niemand wird sich privat ein Bombengeschwader oder einen Staudamm zulegen. Es ging nicht um Autos, es ging um das ganz große Geschäft. Die Hochfinanz sah sich noch einmal gründlich den Adas an. Was er zeigte, waren zahllose bunte Flecken auf den Karten Afrikas, Asiens und Polynesiens. Alle diese Länder dort besaßen noch keinen Staudamm und kein Bombengeschwader. Leider besagte die Buntheit der Flecken, daß diese Gebiete unter der Hoheit europäischer Staaten standen. Hier befand sich also kostbarstes Absatzgebiet in der Hand von Ländern, die nichts oder wenig abzusetzen hatten, schon allein

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deshalb, weil man bei armen Kolonialvölkern nichts »absetzen«, sondern nur verschenken kann. Aus dieser Erkenntnis leitete sich für die amerikanische Hochfinanz ab, daß die Lösung des Problems eine zweistufige sein müßte. Es galt als erstes die Schalmei zu blasen für die »Befreiung« der Kolonien. Die meisten fühlten sich keineswegs geknechtet, vor allem die ehemals deutschen und die niederländischen nicht; sie sahen sehr gut, was die Weißen ihnen gebracht hatten, die Straßen, die Städte, die Eisenbahn, die Krankenhäuser und Ärzte, die Schulen. Die Hand der weißen Herren war milde; die Faust der Stammeshäuptlinge war härter gewesen. Die ganze Schar der verschwiemelten Gesundbeter, Presse, Soziologie, Rundfunk und Kirche, stellte sich sofort in den Dienst dieser moralisierenden Idee. In Millionen von Funkstunden und mit Millionen Zeitungsseiten wurde die Welt tagaus, tagein berieselt. Bald schlug sich die westliche Hammelherde zerknirscht an die Brust. Es dauerte nur wenige Jahre, da gab es keine Kolonien mehr. (Mit Ausnahme der amerikanischen natürlich. Es wird Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, daß die amerikanischen, schamhaft »Territorien« genannten Kolonien oder etwa der »Staat« Hawaii streng ausgenommen waren.) Der Zustand, in den diese Dritte Welt (Name ist alles, Gefühl ist Schall und Rauch) durch die überstürzte »Abwerfung der Ketten« geriet, war s chlimm. Stammeskämpfe, Aufstände, Haß und Streit um die Macht ruinierten sie, machten sie ausgebrannt und hilflos. Für ganze Volksverbände kam im Gewand der Freiheit der Tod. Untereinander waren die Farbigen brutaler als jemals ihre weißen Herren. Der Wallstreet traten die Tränen in die Augen. Es galt, Teil

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zwei des großen Planes aus der Tasche zu ziehen. Er war von verblüffender Einfachheit: Alle Industriestaaten der Erde sollten auf lange Sicht und immer aufs neue den »unterentwickelten« Ländern Geld geben, um die armen befreiten Völker auf das Niveau der europäischen zu heben. Eine einmalige Idee. Selbst wenn Sie, meine Damen und Herren, das verrückteste Huhn auf Gottes Erdboden sein sollten, wären Sie kaum auf einen solchen Einfall gekommen, so hirnrissig ist er. Bis auf den heutigen Tag habe ich das Staunen nicht verwunden, wie Menschen so schwindelfrei sein können, ein derartiges Ansinnen an die Welt zu stellen. Vollends hilflos stehe ich der Tatsache gegenüber, daß Millionen von Weißen dazu mit dem Kopf nicken und sich gehorsam diesen Mühlstein um den Hals hängen lassen. Den Skorbut von Völkern heilen, gut. Ihren Hunger stillen, sehr gut. Ihr Leben sichern, hervorragend. Aber zu verlangen, daß die Supermärkte allen Kramläden der Welt das Geld geben, damit sie auch Supermarkt werden - das ist der Ruin. Die Idee der Entwicklungshilfe - den Europäern mit der weinerlichsten Nächstenliebe der Heiligen der letzten Tage vorgetragen - wurde ein (wie man in Bonn sagen würde) »Senkrechtstarter«. Ich erinnere mich noch deutlich des Tages, an dem aus heiterem Himmel und ohne Vorwarnung der damalige Bundespräsident Lübke das Wort »Entwicklungshilfe« wie eine Brandfackel in das Stroh der führenden Köpfe schleuderte. Wir sind verloren, glauben Sie mir, meine Freunde, der weiße Westen ist verloren. Wer eine so selbstmörderische Idee schluckt, ist reif zum Untergang. Es gibt eine hypnotische Anfälligkeit, vor der einem die Hände

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mutlos heruntersinken. Wie die Wallstreet befahl, verschenken wir nun Milliarden und Milliarden an die, die die erbitterten Feinde der Weißen und skrupellos rassistisch sind. Ich sage »schenken«, denn nur ein Phantast kann glauben, daß ein Idi Amin oder Angola ihre Schulden jemals zurückzahlen werden. Die Regierungen der zahlenden Länder rechtfertigen die verschleuderten Steuergelder damit, daß Entwicklungshilfe stets auch Arbeits- und Lieferaufträge bringe und damit Arbeit und Brot. Hier kapituliere ich endgültig. Wäre der Effekt nicht absolut der gleiche, wenn der Staat die Steuermilliarden sofort und ohne den Umweg über Afrika oder Indien direkt der heimatlichen Industrie gäbe? Aber etwas anderes ergibt scheinbar keinen Sinn: Warum hat die Wallstreet das ganze Unternehmen weltweit gestartet? Was hat sie davon, wenn zum Beispiel Deutschland Geld an Zaire gibt und Zaire es für deutsche Industrielieferungen wieder zurückgibt? In der Tat, davon hat sie gar nichts. Und es sollte auch nicht dabei bleiben. Zum drittenmal wurde die Propagandamaschine in Gang gesetzt. Wieder triefte die Begründung von Humanität: »Rein zweiseitige Abkommen seien aus politischen und ökonomischen Gründen zwar gut für das Geberland, entsprächen aber nicht den Interessen der Entwicklungsländer. Die Entwicklungsländer müssen unter konkurrierenden Angeboten das günstigste wählen können.« Muß ich Ihnen das noch kommentieren? Die Beschenkten müssen wählen können, ob sie unser Geld wieder an uns oder lieber Amerika zufließen lassen möchten!

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So ist es tatsächlich gekommen. Amerika gründete »Internationale Organisationen«, die jetzt die Verteilung übernehmen. Die USA schienen am Ziel. Das ist nun ihre Großtat unserer Tage! Aber es gab ein böses Erwachen. Die Komödie verwandelte sich in ein bitteres Schauspiel. Plötzlich flammten neue Revolutionen und Bürgerkriege in den befreiten Ländern auf. »Präsidenten« wurden gestürzt, flohen mit der Kasse in die Schweiz oder wurden abgeschlachtet. Nach blutigen Gemetzeln verwandelten sich quasi über Nacht die Staaten in rote Diktaturen. Rußland hatte angegriffen! Alles hatte Amerika geliefert, vom Bomber bis zum Kühlschrank, nur eines nicht: einen Inhalt, eine Fahne. Blechseelen können das entbehren, Naturkinder nicht. Es gab nur eine Macht, die im Besitz einer Fahne war: Rußland. Durch Missionare, wie einst die Christen (»Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker«) brachten sie, während Amerika hökerte, ihren Glauben zu den sehnsüchtigen Völkern, und wenn es nicht anders ging, durch das Schwert - auch wie einst die Christen. Mit dem Schwert durchhieben sie die Nabelschnur zur westlichen Welt. Asien und Afrika brennen an allen Ecken und Enden. Die Narren, die glaubten, Weltpolitik ohne Politik machen zu können, haben die Schlacht verloren. Wissen sie es? Ich kenne die Theorie, wonach die Wallstreet sich mit dem Kreml längst einig sei. Es ist die Theorie von der Verschwörung der Insider. Aber der Kreml ist kein »Insider«. Etwas anderes jedoch ist möglich: Vielleicht glaubt die Wallstreet wirklich, wieder wie damals 1945 die Hand über die Elbe reichen zu können. Was kostet es, den roten

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Gott zu kaufen?* Hören Sie, wie der Kreml lacht? »Ich komme bald, ihr goldenen Kinder!« (Goethe, mal anders).

* 44 Milliarden Dollar schuldet der Osten bereits dem Westen, davon 9 Milliarden uns. »Sie werden«, schrieb Lenin 1921, »uns genau jene Materialien und Technologien liefern, die uns fehlen. Und sie werden auch noch unsere Rüstungsindustrie aufbauen, die wir für unsere künftigen siegreichen Angriffe gegen unsere Lieferanten benötigen. Mit anderen Worten, sie werden hart arbeiten, um ihren Selbstmord einzuleiten.«

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XX

Die Geschichte der USA ist zu Ende. Was ist das, was ich noch schreibe? Mein Schwanengesang? Ach, Sie wissen nun wieder nicht, was das traurige Wort bedeutet. Ich lese es Ihnen aus Meyers Lexikon vor, und der Einfachheit halber nehmen Sie an, daß ich, wie Sie, dabei lächle: »Der Schwan hat eine laute, besonders aus der Ferne wohlklingende Stimme, die er auch im Flug und in der Not, wenn ihm das Eis den Zugang zu seiner Nahrung verschließt und er nicht mehr die Kraft zum Weiterziehen hat, anhaltend hören läßt, oft bis zu seinem Tode.« Wenn er wirklich sterbend noch singt, so schauerlich es ist, sei sein Tod gepriesen. Ich wünschte, ich könnte ihn haben. Wie aber, wenn wir seine Stimme nur nicht verstehen? Wenn er nicht singt, sondern schreit? Es ist traurig für ein Tier, die Welt verlassen zu müssen - seine Welt, den See, die Wiesen, die Wälder, die Gräser, die aufgehende Sonne, die Panstage, die lautlosen Nächte im Schilf- die ewig gleiche Welt, so klein, aber im Gleichklang mit dem Universum und gehorsam wie ein Echo. Und wir? Unsere Welt? Was ist in unseren Händen geblieben? Was können wir unseren Vätern antworten, wenn sie fragen, was wir mit dem Erbe des 19. Jahrhunderts, des perikleischen Zeitalters getan haben? Was halten wir in Händen? Wir haben alles vertan, was uns ein guter Gott, oder wie immer sein Name sein mag, gegeben hat. Heute haben wir

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nicht einmal mehr den Frieden der ärmsten Kreatur. Es ist alles kaputt in unserem Herzen. Es schlägt wie rasend, aber es ist leer. Die Sehnsucht nach Heimkehr an das Herz der Großen Mutter ist erloschen. Wir sind einsamer als der Schwan. Unsere Kehle ist zugeschnürt. Es ist alles kaputt. Verzeiht uns! Wer? Wer soll uns verzeihen? Der Glaube ist kaputt, niemand hat mehr die Inbrunst, die zu einem verzeihenden Gott, irgendeinem Gott will, und nirgends mehr ist ein Gott, der zu uns will. Haben Sie vergessen, was geschehen ist?, so schnell vergessen, daß sie unter dem Altar gelacht haben, daß sie geschrien, getobt und gehöhnt haben? Den Priester bespuckt und den Papst in die Gosse gezogen haben? Haben Sie vergessen, daß der Stellvertreter Gottes nicht mehr wagt, die Frevler zu exkommunizieren, weil niemand mehr gehorcht? Daß er in Eitelkeit und Pflichtvergessenheit die Massenmörder, wenn sie nur einen goldenen Stern an der Brust oder eine Leopardenkappe auf dem schwarzen Kopf tragen, empfängt und mit seinem Segen entläßt? Auf dem Petersplatz stehen die Reisenden, zücken die Kameras und klatschen dem weinerlichen Papst Paul VI. zu, wie einem Schauspieler in Amerikas Reißer »Jesus Christus Su-perstar«. Darüber weint er nicht; er weint, daß sich die Priester unter seinen Augen verheiraten, daß es Gefängnisse auf der Welt gibt, daß niemand mehr im Zeitalter der Weltraumflüge an die leibhaftige Himmelfahrt Maria in Kleidern und Schuhen glaubt, daß die Schulmädchen, die zu ihm hinauf fotografieren, die Pille kauen wie einen Bonbon und ihre Leibesfrucht töten. Sie tragen kurze »Jesus-Jeans«, die über den runden Backen mit dem Satz werben »Wer mich liebt, der folgt mir nach«. »Amerika?« hat schon Clemenceau gegiftet, »das ist die Entwicklung von der Barbarei zur Dekadenz ohne den Umweg über die Kultur.« Sieht das

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der Greis da oben? Fällt niemand mehr aus mystischem Schauer auf die Knie? Niemand. Seht! Er hat keinen Blitz mehr, er hat keinen Bann mehr in der Hand! Vielleicht ist schon der große Zerstörer, der Antichrist, gekommen, Von dem Paulus sagt, wir werden ihn erkennen »als den Gesetzlosen, den Lügenden, den, der den Gottesdienst umstoßen wird, den, der Großes zu sinnen vorgeben, aber Verderben bringen wird«? Na, come on! Was soll noch zerstört werden? Wir glauben nicht mehr, wir zahlen nur noch die Rückversicherungspolice. Wir haben den Antichrist überrundet! Wir haben ihn beschissen! Aber die Police bleibt, Freunde, ruhig Blut, die Police bleibt, solange wir nichts Besseres haben. Was halten wir in den Händen? Scherben. Es ist alles kaputt, was uns die Ewigkeit fühlen ließ, alles, was das Rasen der Uhr aufhielt und uns ahnen ließ, nicht verloren in der Vergänglichkeit zu sein. Die Stille in uns ist vernichtet; wir flüchten vor ihr, wir können sie nicht lange ertragen, wir werden krank in ihr, wir laufen und fahren und lärmen und fliehen. Unser Leben ist eine einzige große Angst und Besorgnis geworden wie ein immer noch einmal prolongierter Wechsel. Wie lange noch? Unser Leben ist vergiftet, unser Atmen ist vergiftet, in der Luft ist bereits der Tod, im Wasser ist der Tod, die Erde ist verseucht. Wir atmen den langsamen Tod, wir trinken ihn, wir essen ihn, während wir noch bei Tisch sitzen und delektiert schmatzen. Nicht davon sprechen, Freunde! Hört ihr, nicht davon sprechen! Seid brav! Sind die Türen verriegelt? Sind die Gitter vor den Fenstern? Ist der Alarm eingeschaltet? Die Banden sind wieder unterwegs, die Totmacher. Geht nicht mehr in der Dämmerung aus dem Hause! Geht nicht durch Bahnschächte, geht nicht durch einsame Straßen! Sie

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töten für ein Fünfmarkstück. Sie töten, weil sie sich langweilen, oder weil das gute Fressen sie drückt, oder weil die Hoden drücken. Sie töten schon, weil es ihnen Freude bereitet, uns fallen zu sehen. Wir müssen lernen, mit dem amerikanischen way of life zu leben. In den USA geschehen jährlich hunderttausend Morde. Fünf Millionen Amerikaner werden in jedem Jahr Opfer eines Verbrechens. So pulsen die Städte von modernem Leben. Geht hin, wohin ihr wollt. In Rio wird alle acht Stunden ein Mensch umgebracht, in einem Jahr über tausend. Geh hin, wohin du willst, aber geh schnell und nicht durch einsame Straßen. Sie überfallen die Alten und quälen die Jungen. Habe Angst um dein Kind! Sie überfallen Banken und nehmen Geiseln, sie ketten sie in Kellern an elektrische Leitungen oder fesseln sie in Kisten und lassen sie ersticken, täglich und zu jeder Stunde. Werft euch zu Boden, wenn die Maschinenpistolen auf der Straße losgehen, springt aus dem Wagen und rettet euch, wenn die Fluchtautos ankommen mit den Ungeheuern, mit den Söhnen von Pastoren am Steuer und den Kommunardenmädchen mit dem Revolver neben sich. Sie verhängen den Tod, aber über sie wird kein Tod verhängt. Der Staat tötet keinen mehr; Mörder müssen leben, auch wenn wir sterben müssen. Seht nicht hin, sprecht nicht darüber, denkt nicht daran, freut euch des Lebens. Ihr lebt doch noch? Natürlich. Ich spreche ja zu Lebenden. Kommen Sie, meine Dame, kommen Sie, mein Herr, zeigen Sie es unseren Vätern, daß das Leben lebenswert ist! Zeigen Sie ihnen, daß es für Sie kein Eis gibt, das Ihnen den Zugang zu Ihrer Nahrung verschließt! Es hat zu allen Zeiten Böses gegeben. Bravo! Gut geantwortet! Zeigt her eure Füßchen, zeigt her eure Schuh. Zeigt her euren prallen Hintern, zeigt her euer Auto, zeigt her euer

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Bankkonto. Was noch? Euch fällt nichts mehr ein? Vergeßt nicht Teneriffa und Bangkok. Was noch? Das Bundesverdienstkreuz! Was noch, ihr toten Seelen? Welche Töne, nicht wahr! Wie haßerfüllt ich spreche, wie? Ja, ich bin nicht euer Freund. Ich bin nicht aller Freund! Ich sagte, ich schriebe Geschichte mit dem Herzen Hesekiels. Wahr. Aber an der Gegenwart ersticke ich fast. Doch, was sollen wir tun? Ich sage »wir« - gehören Sie, mein Freund, überhaupt zu mir? Wann haben Sie zum letzten Male vor Entzücken und Andacht die Hände gefaltet? Als Kind unter dem Weihnachtsbaum? Und dann? Wann haben Sie seitdem im Geiste noch einmal den Lindenbaum am Brunnen vor dem Tore gesehen oder geglaubt, das Rauschen des Flügelschlages der Fünf Wilden Schwäne oder das Knarren des Mühlenrades in einem kühlen Grunde zu hören? Und dies: »Verschon uns Gott mit Strafen und laß uns ruhig schlafen, und unsern kranken Nachbarn auch«? Dringt es noch bis zu Ihrem Herzen? Sind Sie hundertmal in Ihrem Leben vor den Wundern der Schönheit fast erstorben, vor dem blühenden Mohn, vor dem Rufen der Amsel, vor der Matthäuspassion, vor dem Grünewald-Altar, vor der Pawlowa, vor dem Erechtheion, vor dem Sonnenaufgang? Dann, armer Freund, sind Sie ein Verlorener und Verratener wie ich. Und in Stunden der Besinnung ein Verzweifelter wie ich. Aber sagen Sie es niemand, Sie wären ein Gelächter. Denn Sie müssen wissen, daß wir unsere Väter und alles, was sie liebten, weit hinter uns gelassen haben und daß die heutige Welt dicht vor dem Paradies steht. Aber denken Sie an das Wort von Novalis: »Noch hat jeder, der vorgab, das Paradies auf Erden zu errichten, die Hölle geschaffen.« Fünftausend Jugendliche starben in einem Jahr in Amerika, indem sie sich mit Heroin zu Tode

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spritzten. Dreißig in einem Monat in Deutschland. Die größte Verbrecherorganisation der Welt, die Rauschgiftverkäufer sind fieberhaft an der Arbeit; sie gehen in die Schulen, in die Lehrlingsheime, in die verlotterten Universitäten. In einem Quartier in San Francisco vegetieren heute fünfunddreißigtausend Süchtige - menschlicher Müll, von den Dealern zum Tode verurteilt. Alle vierundzwanzig Stunden wird ein Mensch geraubt, jede sechzig Minuten ein Mensch getötet, in jedem Jahr stirbt in Deutschland eine Kleinstadt auf den Straßen. In den USA hat man Krankenhäuser errichtet, in denen die »fernsehgeschädigten« Kinder zu Hunderten gerettet werden sollen, jene modernen Wesen, die während ihrer Kinderjahre fünf-zehntausend Stunden vor dem strahlenden Apparat sitzen und gierig achtzehntausend Mord- und Grauenfilme aus zehn Kanälen in sich aufsaugen, Öltanker versinken im Meer und verjauchen das Wasser, Giftschiffe versinken im Meer und töten alles Leben. Das Todeskarussell dreht sich schneller und schneller. Atom-Reaktoren übersäen die Erde wie Pestpusteln. Es ist ein Wettrennen hinter dem Wahn geworden. Sie salbadern von »Unabhängigkeit« vom öl und rennen auch noch in die Abhängigkeit vom Uran. Sie machen aus Deutschland ein Minenfeld. Vor jedem Attentat auf diese Todesmeiler, vor jedem Zufall, vor jeder Bombe, vor jedem Überfall können wir jetzt zittern. Aber wir zittern nicht, nicht wahr? Immer vorne dran! Immer an der Spitze mit Amerika! Alles verdanken wir ja dem herrlichen B rüder. »Eine einzelne Nation«, hat Montherlant einmal prophetisch geschrieben, »der es gelingt, die Moral, die Qualität des Menschen auf fast der gesamten Erdoberfläche in die Tiefe stürzen zu lassen, das hat es nicht gegeben, seit der Globus existiert. Ich klage die

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Vereinigten Staaten an, im ständigen Zustand des Verbrechens gegen die Menschheit zu sein.« 194 5 waren wir Wachs in ihren Händen, heute sind wir ihr williger Schatten geworden. Die Zivilisation, sagen sie, kann man nicht zurückschrauben. Nein? Nun, dann seht zu, wir ihr mit ihr fertig werdet, aber fragt mich nicht. Bin ich ein Quacksalber, den man befragt, wenn die Ärzte versagen? Habt nur Vertrauen, ihr Martinsgänse; vertraut den Blinden, sie führen euch gut! Was sollen wir tun? Zu spät! Die Welt ist hypnotisiert, die Lemminge rennen auf das Ende zu, sie sind nicht aufzuhalten. Was wollen wir auch retten? Was denn? Was wollen wir bewahren? Unser Vaterland? Was ist das? Die Erde? Der Acker? Die Städte? Die Fabriken? Die Banken? Die Atommeiler? Die Supermärkte? Die Partei-Silos? Was ist des Deutschen Vaterland? Wo ist es hingekommen? Es war doch einmal da, wo ist es nur geblieben? Was war es denn? Ach, meine verratenen Freunde, ich glaube, es war unsere Seele. Die ist es, die sie zerstört haben. Die glücklichen anderen, die noch eine Seele haben dürfen. Wir nicht; denn Amerika hat keine. Wir sollen lachen, wenn jemand von Seele spricht. Die neue Generation lebt bereits ohne, jene Generation, die die Hände verächtlich in die Hosentaschen stößt, wenn sie unsere Schritte auch nur von ferne hört. Sie haben Grünewald und Caspar David Friedrich unter den Arm genommen, als wären es bewahrenswerte Unterkiefer des Cro-Magnon-Menschen, ins Mausoleum getragen und sagen: Seht, da hängt eure Scheiß-Seele. Sie treiben Schindluder. Sie setzen einen Mülleimer auf Räder und nennen es »Huldigung an Apoll«, sie spritzen mit einer Pistole Farbe auf die Leinwand und hängen sie in die

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Museen, sie nageln einen Holzspan an die Wand und schreiben »Selbstbildnis« darunter. Erinnern Sie sich, wie sich auf der Biennale die Menschen davor drängten? Vergessen Sie es nicht: Das ist das einst unglaubliche Märchen von des Kaisers Kleidern! Es ist Wirklichkeit geworden; die Wirklichkeit von Gehirnen, die unheilbar krank sind. Sie sind Bravos geworden, hassenswerte Bravos; sie kennen nichts mehr, keine Sehnsucht, keine Liebe. »Haben Sie Blumen, Mr. Neil Armstrong?« »Selbstverständlich. Aus Plastik. Das ist viel praktischer.« Sie nennen sich abgenabelt, ohne bei dem Wort zu erschrecken. Sie kennen nicht einmal Wehmut, jene Empfindung, die so kostbar zusammengesetzt ist aus Freude, Trauer, Resignation und unverlierbarer Erinnerung. Was sollen wir tun? Wird unser Atem nicht schon schwer? Was sollen wir tun? Ich weiß es nicht. Seit Odysseus hat sich niemand mehr zwischen Skylla und Charybdis gerettet. Ich weiß nur eines: Verbannt alles Mitleid mit jenen anderen. »Ich liebe die großen Verachtenden, weil sie die großen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht sind nach dem anderen Ufer«, hat Nietzsche bekannt, »ich liebe alle die, welche wie einzelne schwere Tropfen sind, fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: Sie verkünden, daß der Blitz kommt, und werden wohl als Verkünder zugrunde gehn.« Darum verliert kein Mitleid! Ich sage: Haßt! Haßt, was da über uns kommt! Wenn ich das sage, mache ich nicht in Wahrheit Platz für die Liebe? Kann nicht auch Gott nur annehmen, indem er zugleich verwirft? Verdammt er nicht um der Liebe willen? Ja, wer liebt, muß zugleich verwerfen.

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Deshalb, aus Liebe zu dem, wonach wir hungern und was man kaputtgemacht hat, deshalb sagte ich: Haßt! Die Liebe ist machtlos geworden. Dort drüben, jenseits des Ozeans, steht der Schuldige.

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XXI

Haben wir eine Zukunft? Na klar! Verzeihen Sie mir das burschikose Wort, es soll nur meine Bewegung verbergen. Zukunft ist uns sicher. Gewinnt der Amerikanismus, so wird er in 150 Jahren die Menschheit zugrunde richten, und die Erde wird als erstorbener Mars im Weltall weiterkreisen. Gewinnt die neue Religion, so wird die Menschheit 150 Jahre lang in großer Not leben, und dann wird wieder das Jahr Eins kommen und alles von vorne beginnen. So oder so. Halleluja!


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