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Freitag & Robinson

Date post: 02-Feb-2017
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Begleitmaterial Adrian Mitchell Freitag & Robinson
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Begleitmaterial

Adrian Mitchell

Freitag & Robinson

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Begleitmaterial: „Freitag & Robinson“von Adrian Mitchell

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INHALT

Vorwort

» EINFÜHRUNG

1. Die Autoren und die Stückgeschichte 05

1.1. Biographie 05 1.1.1. Daniel Defoe 05 1.1.2. Adrian Mitchell 06

1.2. Robinsonade Menschenbilder 07 1.2.1. Zusammenfassung 07 1.2.2. Die Robinsons 07 1.2.3. Der Wilde 08 1.2.4. Inhumane Gestalten 10 1.2.5. Schicksalhafte Naturverbundenheit 12 1.2.6. Ausgeprägte Charaktere 14

1.3. »Praxis I 15

2. Das Format 16

2.1. Erhöhte Aufmerksamkeit 16

2.2. Verstärkte Auseinandersetzung 16

2.3. Nachhaltige Wirkung 17

» VERTIEFUNG

3. Xenophobie 18

3.1. Das Fremde 18

3.2. Konstruktion des Schwarzen als Wilden 20

3.3. Macht und Machtmissbrauch 21 3.3.1. Aus psychologischer Sicht 21 3.3.2. Macht, um seelischer Abhängigkeit zu entgehen 24

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Begleitmaterial: „Freitag & Robinson“von Adrian Mitchell

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3.3.3. Die narzisstische Wut als politische Gefahr 24 3.3.4. Macht als Bestandteil sozialen Lebens 25 3.3.5. Pathologischer Narzissmus/Machtmissbrauch 25 3.3.6. Macht und narzisstische Persönlichkeitsstörung 26 3.3.7. Das Risiko: Verwundbarkeit oder gar Ohnmacht 27 3.3.8. Führer und Geführte aus pathologischer Sicht 28 3.3.9. Hat die Psychotherapie eine Chance? 29

3.5. »Praxis II 30

3.5. »Kopievorlage: Mythos Menschenfresser 31

3.5. »Praxis III 33

4. Besetzung 34

5. Quellen 35

6. Literaturhinweise 36

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Crusoe: Heute wollen wir in Sätzen sprechen,wir haben doch gelernt in Sätzen

zu sprechen, nicht wahr?

Freitag: Gut, wir wollen sprechen in Sätzen. Es ist ein schöner Tag.

Hier ist ein fetter Fisch. Mein Gesicht ist schwarz.

Wir wollen sprechen in Sätzen, gut.

- Adrian Mitchell

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Vorwort

Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich Ihnen das Begleitmaterial zu der Produktion „Freitag und Robinson“ vor-stellen zu dürfen. Die Figur des Robinson ist seit dem Erscheinen des Romans um 1719 in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Sofort erscheinen Bilder in unserer Phantasie von Palmen, Strand und einem Mann, der allen Widrigkeiten zum Trotze sein Leben meistert. Komplettiert wird das Bild durch die Figur des „edlen Wilden“ Freitag, der als Schüler von Robinson seiner Wildheit eine Absage erteilt und sich ganz westlichen Wert-vorstellungen verschreibt, also zivilisiert wird. Daniel Defoe stand damit ganz im Zeichen seiner Zeit, einer Zeit die geprägt war von Piraterie, Kolonialismus und Sklavenhaltung. Die ethnischen Säuberungen in Afrika, Amerika und den dazu gehörenden Inseln musste legitimiert werden. Wie in jedem Krieg konnte dies nur mit Lüge und Manipulation ge-schehen. Da lag es nahe, den „Wilden“ als Kannibalen zu diffamieren, ihm jegliches Ehrgefühl abzusprechen, ihn zu versklaven, sein Land zu erobern und ihn im Zweifels-falle abzuschlachten. Adrian Mitchell, der Autor der von uns gespielten Fassung, hat zu Recht Anstoß daran genommen und den Blickwinkel gewechselt. Er hat die Beziehung zwischen Robinson und Freitag ins Zentrum gestellt und lässt Freitag die Geschichte aus seiner Sicht erzählen. So werden die Zuschauer zu Freitags Stamm, dem er berichtet wie es ihm mit dem Menschen Robinson während der Zeit auf der Insel ergangen ist. Trotz des eingangs er-wähnten gewichtigen Aufhängers ist es Adrian Mitchell gelungen ein Stück zu schreiben, welches sich mit einer großen Leichtigkeit aktuellen Themen widmet:Das Fremde und die Angst vor dem Fremden, mangelnde Neugier und die daraus resul-tierende Intoleranz und nicht zuletzt westliche Wertvorstellungen, die Glaube, Liebe und Geld betreffen, werden durch diese. Inszenierung in die Waagschale der Diskussion geworfen. Die Fülle des recherchierten Materials ist Legion und würde den Rahmen dieses Begleit-materials sprengen. So hat sich das TheaterFABRIK Team auf verschiedene Eckpfeiler gestützt und gibt Ihnen Material an die Hand, um mit Ihren Schülern weiter zu arbeiten und am Thema zu forschen. So werden erst einmal Biographien des Autors des originalen „Robinson Crusoe“ und Adrian Mitchell vorangestellt, dann erhalten Sie Informationen über die unterschiedlichen Robinsonaden Menschenbilder in den Zeitläufen und zu guter-letzt einen Überblick über „das Fremde“ und Methoden der Macht. Ich wünsche Ihnen viel Freude mit dem von uns zusammengestellten Informationen und natürlich auch bei einer unserer Vorstellungen.

Ihr Peter Przetak

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» EINFÜHRUNG

1. Die Autoren und die Stückgeschichte

1.1. Biographien

1.1.1. Daniel DefoeAnfang 1660 wurde Daniel Defoe in London, als Sohn eines Fleischers und Protestanten, geboren. 1665 wütete die Pest in London. Sein Vater floh zu dieser Zeit wahrscheinlich mit der Familie aus der Stadt. Ende der 1670er Jahre wurde er in einer Protestantischen Akademie zum Geistlichen erzogen und Ausgebildet. Um 1683 begann Defoe eine Karriere als Kaufmann und handelte mit Tabak, Wein und anderen Gütern. Er war auch an einigen Speditionsgeschäften beteiligt, die es ihm ermöglichten, einige europäische Länder zu besichtigen. 1684 heiratete er Mary Tuffley, die ihm, durch ihre Mitgift von 3700 Pfund, einen beträchtlichen Vermögenszuwachs bescherte. 1685 nahm er an einem Aufstand, des Herzogs von Monmouth gegen König Jakob II., teil und war nach Monmouth’s Niederlage gezwungen ins Ausland zu fliehen. 1689 dankte König James II. ab und floh. Defoe kehrte nach England zurück und verehrte den neue König William III. sein Leben lang als Held. Ende der 1690er Jahre verfasste er verschiedene politische Broschüren als Unterstützung für die Maßnahmen von König William. Nachdem Defoe erstmalig Bankrott ging, wurde er Fabrikbesitzer. Anfang des 18. Jhdts. wurde er auf-grund seiner teils scharfen Kritik an der Kirche an den Pranger gestellt, jedoch erntete er statt Hohn den Jubel des Volkes. 1704 wurde er nach einem Jahr Gefängnis entlassen und etablierte eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift mit dem Namen „Review“ (Rund-schau), in der er zahlreiche eigene Texte veröffentlichte. Ab 1704 engagierte sich Defoe als Politiker und politischer Berater für die englische Regierung und das Königshaus. 1719 veröffentlichte er seinen Roman „Robinson Crusoe“. Ab etwa 1720 widmete er sich verstärkt dem Schreiben von (Abenteuer-)Romanen und anderen fiktiven Texten, ver-fasste aber weiterhin Texte, in denen er für die Verbesserung von Gerichts- und Gesund-heitswesen eintrat. 1731 starb Daniel Defoe mit über 70 Jahren in Not und Bitterkeit, da sein Sohn, dem er sein Vermögen überantwortete, ihm die vereinbarte Rente vorenthielt.

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1.1.2. Adrian Mitchell

Am 24. Oktober 1932 wird Adrian Mitchell in der nähe von Hampstead Heath als Sohn einer Erzieherin und eines Chemikers geboren. Adrian Mitchell ging in Bath und Wiltshire zur Schule. Sein erstes Stück schrieb er bereits 1941, im Alter von neun Jahren. Er wurde nach Abschuss der Schule in die Royal Air Force eingezogen. Nach einem Studium am Christ Church College in Oxford, entschied er sich gegen den Beruf des Grundschulleh-rers und arbeitete ab 1955 bzw. 1957 als Reporter und Journalist. Ab 1963 war er freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen, wo er v.a. Musikkritiken schrieb. Mitchells produktive literarische Karriere begann 1961, als er nach einer Erbschaft sein erstes Fern-sehspiel schreiben konnte. 1962 veröffentlichte er seinen ersten Roman „If You See Me Comin“. 1965 artikulierte er mit seinen eingängigen und bissigen Versen die Ablehnung einer ganzen Generation gegen den Vietnamkrieg. Er hatte mehr als Tausend Auftritte auf allen Kontinenten. Der unbedingte Einsatz seiner Lyrik für Frieden und Gerechtigkeit machte sie besonders im linken politischen Spektrum beliebt. In den 1960er-Jahren ver-öffentlichte er außerdem Gedichtbände, arbeitete für die Royal Shakespeare Company, schrieb ein neues Libretto für die Zauberflöte und adaptierte Peter Weiss’ Marat/Sade als Drehbuch, wofür er den PEN Translation Prize erhielt. Auch später adaptierte er bekannte Autoren für Theater, Musiktheater oder Film. In den 1970er-Jahren schrieb Mitchell drei weitere Romane, das Libretto für eine Oper Peter Schats und ein Stück über William Bla-ke.1975 schrieb er die Adaption „Man Friday“ welche auf der Geschichte von Daniel Defoe´s „Robinson Cusoe“ basiert. In den 1980er-Jahren begann er außerdem Gedichte und Geschichten für Kinder zu schreiben. Er war bis zu seinem Tod im Dezember 2008 schriftstellerisch aktiv. Aufgrund seiner überaus produktiven Karriere und seiner ständigen Appelle an das soziale Gewissen der Menschen wurde er in seinen letzten Jahren, einem Ausspruch der sozialistischen Zeitschrift Red Pepper folgend, oft als „Shadow Poet Laure-ate“ bezeichnet.

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1.2. Robinsonade Menschenbilder1

1.2.1. ZusammenfassungRobinsonaden sind seit dem Erscheinen des „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe ein beliebtes Thema der Weltliteratur. Aus der Fülle wurden zur Charakterisierung robinso-nader Menschenbilder Beispiele ausgewählt. Die Spannweite solcher Menschenbilder ist sehr breit. Sie zeigt in den einzelnen Robinsonaden edle Menschenzüge, aber auch inhumanes Verhalten bis zur Selbstaufgabe . Die Robinsonaden exemplifizieren so Grund-züge des menschlichen Daseins.

1.2.2. Die RobinsonsDie zunehmende Erforschung neuer Weltgegenden und die wachsenden Handelsbestre-bungen nach Übersee im 17. und 18. Jahrhundert beeinflussen Motiv- und Handlungsver-arbeitung in der Literatur. Neben Reiseberichten entstehen als eine bedeutende Variante der Romanliteratur die Robinsonaden. Der Ahnherr der Gattung, „Robinson Crusoe“, er-scheint 1719 in London. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der weltberühmte Seemann aus York, der sich auf der einsamen Insel vor der Mündung des Orinoko vom hilflos Gestrandeten zum kolonialen Regenten entwickelt. Für den Handlungsverlauf bedeutsam ist auch der Diener Freitag. Er ist in der Literatur als der edle Wilde bekannt. Defoes Roman löst eine Welle von Nachahmungen aus, die bis in die Gegenwart hineinrei-cht. Die Engländer besitzen damals mit Robinson Crusoe ihren Helden, da dürfen die Deutschen, Holländer, Schweden oder Russen nicht nachstehen. Kontinente, Nationen, Landschaften und Weltstädte sind mit einem Robinson vertreten. Es gibt den afrikanischen und australischen Robinson, den österreichischen Robinson, der die Lebensgeschichte des Dragonerwachtmeisters Johann Georg Peyers erzählt und der bisweilen auch als „Ein deutscher Robinson“ bezeichnet wird, es gibt den „Pfälzer Robinson“, der nie auf einer Insel gestrandet ist, sich also nur den Namen geliehen hat und auch den „Wiener Robin-son“, der mit dem Fräulein von Königsberg immer wieder auf einer Insel landet. Neben Neuauflagen des Robinson Crusoe und klassischer Robinsonaden wie der „Insel Felsenburg“, „des Schweizer Robinson“ oder des „Sigismund Rüstig“ sind im Laufe der Zeit zahlreiche Variationen des Themas in unterschiedlicher literarischer Form als Romane, Gedichte, Hörspiele, Bühnen- und Musikstücke entstanden. Die Zahl der Robinsons und Robinsoninnen ist Legion. Ihr Aktionsraum sind die Inseln, Felsen und Eisschollen aller Weltgegenden. Die Helden und Heldinnen entstammen den verschiedenen Rassen und Völkern. Auf den einsamen Inseln entstehen Bilder des Friedens und der Zwietracht, der verzwei-felnden Einsamkeit und der geborgenen All-Einheit. Es kommt zu Begegnungen und Ausei-nandersetzungen zwischen weißen und farbigen Menschen und zwischen Männern und Frauen, zu Ordnungs- und Arbeitsverhältnissen, Liebesgeschichten und Kampfszenen, ge-genseitiger Anerkennung und kultureller Verachtung. Trotz mancher Gemeinsamkeiten ist dennoch jedes robinsonade Schicksal ein anderes. Es ist geprägt durch die Individualität der Protagonisten, die geographische Lage der Inseln und ihre klimatischen Bedingungen,

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sowie durch das soziale und gesellschaftliche Umfeld als Traumbild oder Realität. Aus der Fülle robinsonader Gestalten muß zur Charakterisierung grundlegender Men-schenbilder ausgewählt werden. Exemplarisch ist neben Robinson Crusoe die Gestalt Freitags. Robinson und Freitag personifizieren das Verhältnis von Herr und Knecht, vom weißen und farbigen Menschen. Die dramatischen Verkettungen im menschlichen Zusam-menleben einer Gruppenrobinsonade sind dokumentiert in dem Bericht über die Meuterer der Bounty. Das robinsonade Schicksal einer einsamen Indianerin erzählt vom Leben mit der Natur, und ist ein Spiegel der wahren Größe menschlicher Existenz.

1.2.3. Der WildeDer Wilde in Defoes Robinson ist ein Indianer der Karibik. Seine äußere Gestalt wird eingehend beschrieben. Er ist ein stattlicher, hübscher Bursche, vollkommen ebenmäßig gewachsen, mit geraden, starken Gliedmaßen“. „Er ist schlank und gut gebaut“, besitzt ein gutmütiges Gesicht mit männlichem Ausdruck, der beim Lächeln die Sanftmut eines Europäers zeigt. Die Haare sind lang und schwarz und nicht gekräuselt, seine Stirn hoch und breit, und seine Augen funkelten von großer Lebhaftigkeit und Pfiffigkeit“. Seine Haut-farbe ist angenehm, „ein glänzendes Dunkelolivenbraun“, kein häßliches, widerwärtiges Gelb, „wie es die Brasilianer, die Eingebornen von Virginia und andere Stämme zeigen“. Die Nase ist nicht plattgedrückt, die Lippen sind gut geformt, und die Zähne „gut gestellt und weiß wie Elfenbein“ . Er ist ein junger Mann von schätzungsweise sechsundzwanzig Jahren. Auch die geistigen Fähigkeiten und sittlichen Eigenschaften werden von Defoe positiv eingeschätzt. Freitag besitzt eine schnelle Auffassungsgabe; denn er reagiert auf einfache Zeichen unmittelbar und richtig. Er ist lernfähig in bezug auf die alltäglich notwendigen Arbeiten zur Lebensführung. Sehr bald versteht er Robinsons Sprache und erfaßt dessen Belehrungen über Gott und die Welt. Immer wieder erkennt und lobt Robinson Freitags „einfache, ungeheuchelte Ehrlichkeit“ und kommt schließlich zu der Erkenntnis, daß Gott allen Menschen „die gleichen Kräfte, die gleiche Vernunft, dieselben Regungen, diesel-ben Gefühle der Güte und Dankbarkeit, dieselben Leidenschaften und Gefühle des Grolls bei erlittenem Unrecht, das gleiche Gefühl der Dankbarkeit, Aufrichtigkeit, Treue, und das gleiche Vermögen, Gutes zu tun und Gutes zu empfangen, genau wie uns, gegeben hat“. Versagt hat Gott diesen Geschöpfen allerdings den rechten Glauben, so daß sie in religiöser Unwissenheit dem Kannibalismus verfallen sind und dadurch die Würde des Menschen verletzen. Im Gegensatz zu Freitag ist Robinson keineswegs uneigennützig. Schon vor dessen Be-freiung hegt er den Plan, sich einen Wilden dienstbar zu machen. Er ergötzt sich sogar an dieser Absicht und lehrt Freitag als erstes, ihn mit „Herr“ anzureden. Er fragt ihn auch nicht nach seinem Namen, sondern gibt ihm einfach einen. Die gegenseitige Wertschät-zung beider erlaubt es jedoch nicht, bei diesem Unterordnungsprozeß von Sklaverei zu sprechen, aber eine deutliche Freiheitsbeschränkung ist in diesem Abhängigkeitsverhältnis schon gegeben. In den Grundzügen markiert Defoe den edlen Wilden im Verständnis der Aufklärung.

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Freitag ist vernunftbegabt und anerkennt für sein sittliches Handeln - vom Siegesritus des Kannibalismus abgesehen - den praktischen Imperativ. Er ist die exemplarische Gestalt mit „natürlichem Verstand“; „er macht keine Bewegung, keinen Schritt, ohne zuvor die Folge ins Auge gefaßt zu haben. Je mehr auf diese Weise sein Leib sich übt, desto mehr hellt sein Geist sich auf; seine Kraft wächst zugleich mit seiner Vernunft; die eine erweitert sich durch die andere“. Die Begegnung zwischen Robinson und Freitag ist eine idealty-pische; denn der Naturmensch trifft auf einen Europäer, der sich vom kulturellen Zwang befreit hat. Beide leben im „Stand des Friedens, wo Mensch und Mensch in Liebe sich verbindend ein freies bedürfnisloses Dasein führen“. Deshalb kann Rousseau sie auch beide zum Bildungsideal erklären. In der Jugendliteratur der Folgezeit wird die Gestalt des edlen Wilden noch stilisiert. In „Robinson der Jüngere“, einer Bearbeitung Defoes aus dem Jahre 1779, „hebt sich der gerettete Freitag positiv von seinen als wild und an-thropophagisch geschilderten Stammesgenossen ab“. Nachdrücklicher als Rousseau ist Campe aus pädagogischen Gründen an einer vorurteilslosen Darstellung überseeischer Kultur interessiert. Seine romantisierte Darstellung bestimmt die textliche Gestaltung im 19 . Jahrhundert.Auch die Revision der Jugendschriftenwarte um die Jahrhundertwende ändert durch den Rückgriff auf das defoesche Original am Bild des edlen Wilden nichts.Die erste Darstellung aus der Sicht Freitags erscheint 1943 mit dem Titel „Der wahre Robinson“. Die neugestaltete Erzählung beginnt mit der Rettung Freitags. Interkulturelle Gegensätze werden unmittelbar deutlich und couragiert vor- und ausgetragen . Der eth-nische Konflikt ist von Beginn an vorgezeichnet. Die Wilden, als Sammelbegriff für das fremde Volk, findet Freitag immer empörend, ohne daß Robinson das jemals erkannte.Robinson und Freitag empfinden die Insel als Ort der Verbannung. Jede Veränderung der Lebenssituation wird kritisch aus der eigenen Perspektive betrachtet. Die meisten Hand-lungen Robinsons erscheinen Freitag als kulturelle Verletzung und religiöse Beleidigung; denn Freitags Denkweise ist mythologisch fundiert. Aus der Tradition seines Glaubens lebt er im Einklang mit der Natur, eine Lebensweise, die Robinson nicht versteht. Im räum-lichen Miteinander entsteht so ein menschliches Gegeneinander.Diese veränderte Sichtweise setzt sich als literarischer Trend fort. „Im Schoß des Pazifik“ entzieht sich Freitag ebenfalls den Domestizierungsversuchen Robinsons. Der Konflikt löst sich und führt zu einem brüderlichen Verhältnis. Ironisiert wird das Verhältnis beider im Bühnenstück und Film „My Man Friday“.Das Abhängigkeitsverhältnis verkehrt sich. Freitag wird zum Lehrmeister Robinsons. Zur Persiflage entartet die Darstellung des Verhältnisses von Robinson und Freitag in Fabel und Fernsehfilm „Robinson Hase“ . Robinson ist ein kleiner, gewitzter Hase, Freitag verbirgt sich hinter einem starken, aber dümmlich-trotteligen Wolf. Vordergründig wirken dadurch die insularen Situationen humor-voll und witzig. Der Wolf erkennt die List des Hasen nicht. Seine eigene Blindheit verurteilt ihn zur Unfähigkeit und führt schließlich zu seiner Freiheitsberaubung. Im Darstellungsverhältnis von Robinson und Freitag im Verlauf der fast dreihundertjährigen Geschichte zeigt sich die Gestalt des „Wilden“ im wechselhaften Licht. Während er vom

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18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als gefügiger Diener eines kolonialen Herren oder als liebenswürdiger Bruder eines Menschen, der sich selbst gefunden hat, erscheint, wan-delt sich unter den veränderten politischen Gegebenheiten sowie den geistesgeschicht-lichen und anthropologischen Erkenntnissen auch die literarische Darstellung des Men-schenbildes. Aus dem Lehrling der Aufklärung ist ein Partner der Gegenwart geworden.

1.2.4 Inhumane GestaltenEine selbstgewählte, wirkliche Robinsonade durchleben die Meuterer der Bounty. Man schreibt das Jahr 1789. Die Bounty ist im Auftrag der britischen Admiralität in der Südsee. Auf der Rückreise kommt es gegen den unerbittlich harten Kapitän Bligh zu einer Meute-rei. Bligh wird mit achtzehn seiner Getreuen auf offener See in einer Barkasse ausgesetzt. Die Meuterer segeln unter Führung des Ersten Steuermannes Christian Fletcher nach Tahiti zurück. Die Mehrzahl der Matrosen geht hier von Bord, um in Tahiti zu bleiben. Die anderen machen sich mit einigen Eingeborenen unter Leitung Fletchers auf die Suche nach einem sicheren Asyl. An Bord sind fünfzehn Männer und zwölf Tahitierinnen. Die Gruppe der Männer ist ethnisch unterteilt in neun Weiße und sechs Eingeborene. Nach mühevoller Fahrt erreicht das Schiff 1790 die damals noch unbekannte Insel Pitcairn. Auf dieser entlegenen Insel versuchen 27 Menschen zweier ganz verschiedener Rassen ein demokratisch geordnetes Gemeinwesen aufzubauen, dem Fletcher weiterhin vorsteht. „Er regierte die kleine Kolonie mit absoluter Gerechtigkeit, wobei er den weißen und braunen Männern vollständige Freiheit in ihren persönlichen Angelegenheiten ließ, solange diese nicht den Frieden der Gemeinschaft störten. Die Arbeit wurde gleichmäßig verteilt“. Ob-gleich letztlich ein blühendes Gemeinwesen auf der Insel entstanden ist, sind die ersten zehn Jahre durch Mord und Totschlag geprägt. Von sechzehn Menschen finden fünfzehn einen gewaltsamen Tod. Die Kolonie besteht 1814, als die Kapitäne Staines und Pipon sie finden, nur noch aus einem Mann, zehn Frauen und zahlreichen Kindern. Sie bietet jetzt jedoch ein Bild des Glücks und Friedens.Der das blutige Jahrzehnt überlebende Mann ist der Matrose Alexander Smith, der sich auf der Insel John Adams nennt. „Er ist rauh und ungeschliffen, aber man kann sich auf ihn verlassen. Er hat keinen unehrlichen Knochen im Leibe“. Diese Einschätzung Fletchers am Beginn des insularen Daseins bewahrheitet sich ;denn Adams wird zum weisen Vater und Regent der Insel.Die rassischen und sozialen Unterschiede beeinflussen jedoch von Beginn an positiv wie negativ das insulare Zusammenleben. Die asoziale Einstellung zweier Matrosen McCoy und Mills provoziert durch Desinteresse, Streitsucht und Intrigen permanente Spannungen, denen die gutgesinnten Weißen und die duldsamen Tahitier zunächst machtlos ausgelie-fert sind. Schon beim Entladen des Schiffes kommt es zu einer eklatanten Missachtung religiösen Brauchtums. Die von den Tahitiern mitgeführten Maraesteine, die sie zum Tempelbau benötigen, werden, als die Eingeborenen gerade an Land gekommen sind, von den Ma-trosen achtlos über Bord geworfen. „Eine wilde Schlägerei wurde nur durch die Geistes-gegenwart Maimitis und das Taktgefühl Youngs vermieden,“ der bei den Eingeborenen

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wohl gelitten und geachtet war. Glücklicherweise konnte man die Steine noch gerade auf dem weißen Sand unter dem Schiff liegen sehen . Es war ein Werk einiger Minuten, zu tauchen, Stricke an den Steinen zu befestigen und sie hochzuziehen. So war der Friede wiederhergestellt und die Eingeborenen kehrten zu ihrer Arbeit am Strand zurück. „Maimiti und Young sind in der jungen Kolonie zwei zentrale Gestalten.“ Aus Liebe zu dem Seekadett Young folgt Maimiti ihm, um das ungewisse Schicksal des Exils mit ihm zu teilen. Sie ist ein junges Mädchen von 18 Jahren und von hoher Herkunft. „Ihre feinglied-rigen Hände und kleinen Füße, die zarte braune Haut, das rassige Gesicht unterschied sie von den anderen Frauen“. Zusammen mit dem erfahrenen und durch Stellung und Persönlichkeit angesehenen Minarii und dem Häuptlingssohn Tetahiti führt sie geistig und sozial die Gruppe der Eingeborenen an.Neben den kulturellen Missverständnissen erschweren auch sexuelle Übergriffe das Zu-sammenleben. Von vornherein beanspruchen die Weißen je eine Frau für sich, so dass drei Polynesier rechtlich gesehen allein leben müssen.Aus einer angeborenen Lebenslust heraus und der Freude an der rhythmisch zur Schau ge-stellten Körperlichkeit der jungen Frauen, sowie unter dem Einfluss übermäßigen Alkohol-genusses und der provozierten sexuellen Begierden auf Seiten der Matrosen entwickeln sich an Orgien grenzende Szenen, deren Ende brutale Auseinandersetzungen sind. Be-drückend wird auch die insulare Isolation. Zunehmend wächst durch sie das Gefühl der Einsamkeit. Sie greift um sich wie eine Krankheit, von der besonders die Frauen betroffen sind. Sie sehnten sich nach größerer Gesellschaft; nach ihrem fröhlichen Dorfleben in Tahiti; nach den stillen Lagunen, die in der Nacht von den Fackeln unzähliger Fischer er-leuchtet waren; nach den klaren Bergbächen, in denen sie abends badeten. Sie sehnten sich nach ihren Freunden und Verwandten, „die sie niemals wieder zu sehen bekommen würden ; nach den Kinderstimmen, nach der Autorität alter Gebräuche“. Obgleich Pitcairn einem fruchtbaren Paradies zu gleichen scheint, stören die felsigen Steilklippen schließlich ebenso sehr wie das herrische Gebaren der weißen Ehemänner. Dem resignierenden Fletcher gleitet das Ruder mehr und mehr aus der Hand. Ethnische Missverständnisse, moralische Indifferenz und sittliche Verrohung verursachen blutige Konflikte und lassen die robinsonaden Gestalten zu entmenschlichten Bösewichtern werden. „Sie sind wie Haie, durch Blutvergießen verrückt gemacht“. Von diesem Entwicklungsprozess sind auf Pitcairn die Männer mehr betroffen als die Frauen. Ihre vielfach auf Konfliktlösung und Versöhnung ausgerichtete Denk- und Handlungsweise sichert schließlich ihr Überleben und erlaubt den späteren friedlichen Ausbau der Kolonie. Die hier authentisch dokumentierte folgenschwere Verwahrlosung einzelner Individuen erscheint auch literarisch verarbeitet als Motiv in verschiedenen Gruppenrobinsonaden. Während auf Ballantynes Koralleninsel von 1857 die Konfliktsituationen einer gestran-deten Jugendgruppe nur vorgezeichnet werden und die Protagonisten noch Sendboten der weißen Rasse sind, finden die Auseinandersetzungen dreißig Jahre später, 1888, in Vernes Jugendbuch „Zwei Jahre Ferien“ eine grundlegende Entfaltung. Modernisiert und neu verarbeitet wird das Konfliktmotiv 1954 von William Golding. In „Herr der Fliegen“ zeigt Golding mit erschütternder Realistik, dass die gesellschaftliche Verwahrlosung des

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Gemeinwesens im Naturell und Charakter des einzelnen begründet liegt, und die Kon-ventionen des Zusammenlebens durch die inhumane Denk- und Handlungsweise von herrschsüchtigen und gewalttätigen Menschen zerstört werden.Durch Herrschsucht, Gewalt und Rücksichtslosigkeit entsteht auch der Herrenmensch als Entartungsform in Richard Armstrongs „Rebelleninsel“ aus dem Jahre 1968. Fünfzehn Jugendliche im Alter zwischen 16 und 18 Jahren landen nach einer eigentlich unbeab-sichtigten Meuterei auf einer einsamen Südseeinsel. Die Versorgungsfragen sind auch auf diesem paradiesischen Eiland sekundär. Sozialen Sprengstoff enthalten die sich notwen-dig entwickelnden Ordnungsformen. Der hebrische Herrschaftsanspruch des Wortführers Chick, selbst die Götter zu versuchen, führt die Mehrzahl der Jugendlichen schließlich in einen tragischen Tod; denn die zerstörten heidnischen Tempelbilder „rissen Chick, seine Gefolgsleute und seine Opfer gleichermaßen mit sich in die Tiefe“. Das Problem menschlicher Entartung unter den Ausnahmebedingungen insularer Abge-schiedenheit ist als Motiv nicht begrenzt auf die Gruppenrobinsonade, auch wenn es dort am häufigsten zutage tritt. In geradezu makaberer Weise schildert Stephen King die Selbstverstümmlung seines „Überlebenstyps“. Der Chirurg Richard Pine strandet mit zwei Kilogramm Heroin, Nähzeug und einer Erste-Hilfe-Ausstattung auf einer einsamen Insel. Die Nahrungsmittel sind knapp, die Überlebenschancen gering. Es ist die Ausweglosig-keit der Lage, die diesen Menschen langsam in den Sadismus, die Drogenabhängigkeit und den Kannibalismus am eigenen Leibe treibt. Die Paradoxie des Überlebenwollens mit allen Mitteln benutzt King, um ein Bild mensch-licher Entartung bis hin zur Selbstzerstörung zu zeichnen.

1.2.5. Schicksalhafte NaturverbundenheitMaßgebend für die individuelle Entwicklung im insularen Dasein ist das Verhältnis von Mensch und Natur. In weit größerem Umfang als normal, weil durch die Umstände erzwungen, müssen die Robinsons mit der Natur leben lernen. Schicksalhafte Natur-verbundenheit ist deshalb ein Grundzug robinsonader Menschen, auch wenn diese Le-bensmaxime sich unterschiedlich stark ausprägt. Solche sich im Menschen entwickelnde All-Einheit schildert Scott O‘Dell in dem Jugendroman „Insel der blauen Delphine“. Erzählt wird die Geschichte des Indianermädchens Karana, das als die Verschollene von San Ni-colas historische Berühmtheit erlangt hat. Das Robinson-Crusoe-Mädchen lebte tatsächlich von 1835 bis 1853 auf der kleinen aleutischen Insel San Nicolas. Karana ist die Tochter des Häuptlings, der mit seinem Stamm auf dieser Insel vor der Küste Kaliforniens lebt. Es sind indianische Fischer, deren Hauptnahrungsquelle, das Meer, von aleutischen Robbenfängern ausgebeutet wird. Im Kampf unterlegen, müssen die Indianer die Insel verlassen, auf der durch ein Mißgeschick Karana und ihr Bruder zurückbleiben. Ramo wird jedoch schon bald von einem Rudel wilder Hunde überfallen und getötet. Karana bleibt allein zurück. Die Hunde aber gehören von nun an zu Karanas Leben, be-stimmen ihr Tun und Denken. Aus dem Kampf mit ihnen entwickelt sich ein entscheidendes Ereignis. Karana verwundet den Anführer des Rudels, tötet ihn aber nicht, sondern pflegt ihn gesund; denn die Natur ist ihr mittlerweile „heilig“ geworden.

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Durch ihren Großmut gewinnt sie einen treuen Gefährten. Sie nennt ihn Rontu, d.h . Fuch-sauge. Beide bleiben unzertrennliche Freunde bis Rontu stirbt. Karana begräbt ihn und fängt einen jungen Hund, der Rontu sehr ähnelt und dem sie den Namen Rontu-Aru gibt, Sohn des Rontu. Zunächst versucht Karana noch die Tiere der Insel zu domestizieren, um der drückenden Einsamkeit zu entgehen. Sie nimmt Jungvögel aus dem Nest, beschneidet ihnen die Flügel und bindet sie so an den Lagerplatz. Sie baut Wasserbecken am Strand, um Seetieren den Weg ins offene Meer zu versperren.Durch Jagd und Hege lernt sie jedoch langsam die sie umgebende Natur zu verstehen; erkennt, daß die Zuneigung der Lebewesen zu Wasser und zu Lande ein Geschenk der Freiheit ist, das sie nur dankbar annehmen und liebevoll erwidern kann. „Nach jenem Sommer, nach meiner Freundschaft mit Won-a-nee (einem Otternweibchen) und ihren Jungen, brachte ich nie mehr einen Otter um. Ich besaß eine Kapuze aus Otternfell, und ich trug sie, bis sie alt und schäbig geworden war, doch danach nähte ich mir nie wieder eine neue. Ich tötete auch keine Kormorane mehr um ihrer schönen Federn willen, wenngleich sie lange, dünne Hälse haben und häßliche Laute von sich geben, wenn sie miteinander schwatzen. Ich tötete auch keine Robben wegen ihrer Sehnen, sondern benutzte Salzkraut, wenn ich etwas zusammenbinden mußte . Ich tötete auch keinen wilden Hund mehr und versuchte kein zweites Mal, einen See-Elefanten mit dem Speer zu erlegen... denn Tiere und Vögel sind wie Menschen, mögen sie auch nicht die gleiche Sprache sprechen oder die gleichen Dinge tun wie wir“. Immer inniger verbindet sich Ka-rana mit der Natur der Insel, wird selbst ein Stück Natur dieses Eilands. Die Beherrschung der Natur wird ihr fremd. Die wachsende Harmonie liegt für sie in der erkennbaren und erkannten Seinsgleichheit als Lebewesen und in dem daraus erwachsenden Streben nach Seinseinheit. Einen ähnlichen Wandlungsprozess, wenngleich weniger intensiv, erleben zwei andere Robinsoninnen. Auch das Indianermädchen Djiyin, das allerdings nur ein knappes Jahr allein auf einer Insel verbringt, erspürt und findet immer nachhaltiger den Einklang mit der Natur. Ihre erlebte Gegenwart umfaßt den Himmel mit seinem Leuchten, seinen Winden, umfasst das glitzernde, blauflackernde Meer bis an die Kimmung, umfasst die Insel mit all ihren Tieren und Vögeln, umfasst die ganze Welt, soweit Djiyin sie schon begreift“. Ein solches Naturerleben ist nicht rassisch oder kulturell gebunden, obgleich die indianische Herkunft beider Heldinnen sie für eine naturverbundene Lebensweise prädestiniert. Eine andere Ausgangslage stellt sich der Stewardess aus dem hochindustriellen Europa. Auch sie möchte „zur Natürlichkeit zurückfinden“. Freiwillig wählt sie die Ursprünglichkeit einer kleinen Insel der Malediven und erlebt dort einige Monate eine wirkliche Robin-sonade. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelingt es ihr, sich auf der Insel Wabinfuru einzuleben. Auch sie findet den Weg zurück zur Natur: „Ich fühle mich heimisch, ruhig, ohne die jauchzende Begeisterung der Anfangszeit. Die ungeduldige Spannung, mein Inselreich zu erforschen, ist heiterer Gelassenheit gewichen. Zufriedenheit erfüllt mich, die die Schönheit der Umgebung als ein Ganzes nimmt.Gewöhnung nicht nur für mich, sondern auch für andere. Längst schon bin ich von den Möwen akzeptiert, die anfangs eine feindliche Wabinfuru nicht auf der Erde, sondern auf einem anderen Planeten zu

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sein, wird immer stärker, je zahlreicher meine Erlebnisse hier werden, die alle Gedanken an frühere Zeiten verdrängen“.

1.2.6. Ausgeprägte CharaktereRobinsonaden schaffen menschliche Ausnahmesituationen mit ungewöhnlichen Anfor-derungen an den Einzelnen oder einzelne Gruppenmitglieder. Gewollt oder ungewollt sehen sich diese Menschen Herausforderungen gegenüber, die in ihrer Härte und Unbe-dingtheit jenseits der bisherigen Erfahrungen liegen. Da sind die realen Umweltfaktoren zu nennen, die mit der neuen Lebensführung gegeben sind aus der Sorge über den Unter-halt: Nahrungsbeschaffung, Kleidung, Hausbau, gegebenenfalls auch die Ordnung des Sozialgefüges durch Regulative und Verlaufsformen. Daneben und im Zusammenhang damit entstehen subjektive Befindlichkeiten wie Angst oder Einsamkeit, dumpfe Zeitlo-sigkeit oder zielgerichtete Planung, Mut oder Verzagtheit, Egoismus oder wachsende Sozialkompetenz. Robinsone müssen auf die sie herausfordernden neuen Lebensbedingungen unmittelbar und schnell reagieren durch kreative Denkvollzüge und verantwortbare Handlungsstrate-gien, die den begrenzten Lebensraum erhalten und verbessern. Dieses ständige Gefor-dertsein prägt grundlegende Charakterzüge zu negativen und positiven Wertsetzungen mit entsprechenden Willensentscheidungen und Taten. Die dargestellten robinsonaden Schicksale geben diese individuelle Entwicklung deutlich zu erkennen. Auf der einsamen Insel profilieren sich menschliche Verhaltensweisen zwi-schen Entartung und Vervollkommnung. Dadurch entstehen polare Menschenbilder. Sie spiegeln die Bannbreite menschlichen Versagens, aber auch die Größe humaner Existenz wieder. Die positive Entwicklung liegt zumeist in der Wiederentdeckung der Natur als ursprünglichen Lebensraum gegenüber einer durch die Jahrhunderte verkrusteten Kultur als Vermächtnis und Ballast. In der Entdeckung der Natur und einer natürlichen Lebens-weise liegt die bedeutende Chance robinsonader Menschen zu einer ontogenetischen Entwicklung, die phylogenetisch beispielhaft zu werden vermag. Die Pädagogen der letzten Jahrhunderte - allen voran Rousseau - haben immer wieder auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht. In Robinson Crusoe und vielen seiner Nachfolger und Nachfolge-rinnen verwirklichen sich exemplarisch die Grundzüge menschlichen Daseins überhaupt.

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1.3. »Praxis I

Titel: „Gestrandet“

Ziel: Sensibilisierung für das Thema

Gruppe: Klassenstärke

Voraussetzung: Improvisationserfahrung

Raum: Klassenraum/Turnhalle

Durchführung:1. Nach der Erwärmung (dies kann ein Klatschkreis oder ein Raumlauf sein) teilen Sie Ihre Schüler in 3er resp. 5er Gruppen ein.

2. In den Kleingruppen diskutieren die Schüler, was sie unbedingt auf eine einsame Insel mitnehmen würden (höchstens 3 Sachen)

3. Lassen Sie die drei Schüler auf einer einsamen Insel stranden. Legen Sie dazu den Raum fest, den die Spieler nicht verlassen dürfen. Jeder der Schüler hat eine andere Nationalität und sie können einander nicht verstehen. Die Aufgabe ist, jemanden zu bestimmen, der „das Sagen“ hat. Wer ist der Anführer, wer ist für was zuständig, was muss getan werden (Hausbau, Jagen etc.). Wie wird mit den mitgebrachten Materialien verfahren (Besitzverhältnisse klären). Wie wird kommuniziert, wer bringt wem seine Sprache bei. Die Schüler können ein Gromolo sprechen oder sich des Deutschen bedienen ohne einander zu verstehen.

4. Im Anschluss diskutieren Sie mit den Schülern, wie sie das Spiel empfunden haben. Warum haben sie sich unterdrücken lassen, wie haben sie die Kommunikation wahr-genommen. Haben sie die Situation als existentiell empfunden?

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2. Das Format2

2.1. Erhöhte Aufmerksamkeit

Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Schuljahr für Schuljahr erleben Schüler ihre Klassenzimmer auf ähnliche Weise. Wechsel in der Zusammensetzung der Klassen, Wechsel in der Gestaltung der Wände oder Wechsel bei den unterrichtenden Lehrern sind jeweils nichts grundsätzlich Neues. Jetzt erscheint ein Schauspieler. Ein vollständig Fremder. Er bestimmt in der neuen Situation die Regeln. Theaterregeln. Etwas Fremdes passiert in dem bekannten Raum. Etwas Neues passiert in der fest gefügten Klassenge-meinschaft. Es passiert Theater. Einer stellt eine Figur dar, die Klasse schaut zu. Der Alltag hat keine Gültigkeit mehr. Der Schauspieler, der Fremde, muss von den Schülern mit er-höhter Aufmerksamkeit wahrgenommen werden. Anders als bei dem eigenen Lehrer weiß niemand, ob dieser Fremde auf Disziplin achtet, Lieblinge hat, plötzliche Tests schreiben lässt oder sich auf der Nase herumtanzen lässt. Niemand hat ihnen, wie vielleicht bei einem neuen Lehrer, erzählt, er sei streng, lustig, super oder langweilig. Die Schüler müssen verstärkt auf den Fremden, den Schauspieler, achten, um seine Regeln kennen zu lernen, um sich in der neuen Situation verhalten zu können.Der Schauspieler benutzt einen Raum, den er nicht kennt, den die Schüler kennen. Die Schüler kennen ihr Klassenzimmer auswendig, denken sie. Doch gerade weil der Schau-spieler den Raum nicht kennt, benutzt er ihn auf eine Weise, die für die Schüler neu ist. Dass man aus dem Fenster das Meer sehen kann, oder Lava, dass man in den Wänden Geräusche hört, dass man sich neben den dicksten Jungen oder das hässlichste Mäd-chen setzen kann, dass man auf die Tische springen kann, dass man sich zum Weinen in eine Ecke hockt, dass man vor der Tafel tanzen kann, all das haben die Schüler nie zu probieren gewagt. Der Fremde tut es einfach. Und so erleben die Schüler das, was sie auswendig zu kennen glaubten, plötzlich ganz neu.Der Schauspieler und sein ungewohnter Umgang mit den Schülern und dem Raum er-fordert erhöhte Aufmerksamkeit. Diese Stunde wird anders wahrgenommen als die ge-wohnten Deutsch-, Englisch- oder Physikstunden. Alle Sinne sind wach und verstärken das Erleben.Und trotzdem ist „Theater im Klassenzimmer“ noch etwas anderes, als der positive Effekt auf die Aufmerksamkeit durch eine fremde Person, die vor den Schülern steht und anders mit ihnen umgeht als der Lehrer. Ein Mädchen aus dem Erzgebirge beschreibt ihr Gefühl nach der Aufführung so: „Wenn da vorne ein Polizist steht und erzählt, wie gefährlich Drogen sind, dann schaltet man nach einer Weile ab. Beim Theater muss man dabei bleiben. Sonst versteht man die Geschichte nicht.“ Es geht also nicht nur um Abwechslung hinter dem Lehrerpult. Es geht darum, welche Möglichkeiten dem Theater eigen sind, die Aufmerksamkeit auch inhaltlich zu bündeln.

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2.2. Verstärkte Auseinandersetzung

[...] Natürlich bedarf es bei allen Themen auch der verbalen Informationsvermittlung. Das Theaterstück ersetzt keinesfalls die vom Polizisten mitgeteilten Fakten über Drogenmiss-brauch. Doch der inhaltlichen Beschäftigung mit dem Thema wird eine andere Ebene hinzugefügt, die Ebene des Gefühls. Der durch das Theater einbezogene emotionale Aspekt ergänzt und vertieft das Thema. Die Auseinandersetzung wird durch das Mitfühlen verstärkt.

2.3. Nachhaltige Wirkung [...] Manchmal ergibt sich die problematische Situation, dass Schüler ohne anwesenden Lehrer ein schwieriges Thema offener angehen. Gleichzeitig bedarf es der Anwesenheit des Lehrers um bestimmte Aspekte dann später unter Umständen noch einmal wieder auf zu nehmen und die vom Theater ausgehenden Impulse in den Alltag einzubeziehen. Manchmal ergibt sich auch die Situation, dass Schüler emotional sehr berührt von dem Gesehenen sind und sich nicht direkt danach im Gespräch dazu äußern möchten. Um-gekehrt kann es passieren, dass in einem Gespräch mit mehr zeitlichem Abstand die Aufführung nicht mehr richtig präsent ist.In jedem Fall macht aber die Erfahrung deutlich, dass die Nachhaltigkeit der Wirkung des Theatererlebnisses durch Einbeziehung anderer Methoden, seien sie verbal-reflektie-rend, praktischhandelnd oder kreativ-spielerisch, in der Vor- oder Nachbereitung deutlich unterstützt wird.

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» VERTIEFUNG

3. Xenophobie

3.1. Das Fremde

„I don’t care what he calls me. I call him a savage” (Dickens 1920: 284)In der Natur des Menschen liegt eine Sehnsucht nach kollektiver Einheit, nach Grenzen, die seine Zugehörigkeit definieren und das ‚Eigene’ dem so genannten Fremden entge-gen setzen oder gegen ihn abgleichen. Ein reger Austausch zwischen den Kulturen hat dazu geführt, dass das jeweilige Frem-de aus der eigenen, kulturellen und wertbestimmten Perspektive beschrieben wurde und wird. Zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Fremdheit und einer „quantitative[n] Zunahme von Fremdheitskonzepten und –darstellungen“ (Barth 2008: 1) auch auf theatraler Ebene kam es besonders im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der technischen Errungenschaften und hegemonialen Ausbreitungen Europas nach Afrika, der Ära der Kolonialisierungen, Sklaverei, Ausstellungs- und Unterhaltungsspektakel sowie moderner Massenpresse. Aus der quantitativen Überlegenheit wissenschaftlicher Beiträge, die sich mit Fremdheit aus europäischer bzw. amerikanischer Perspektive beschäftigen und der Tatsache, dass die ‚Gegenseite’ relativ spärlich dokumentiert ist zu schlussfolgern, dass es aus der ‚ande-ren’ Perspektive weniger dokumentarische und theatrale Auseinandersetzungen mit Fremd-heit gab, wäre falsch (Vgl. Grinker 1997c: 680). Seit den ersten Kontakten mit Europä-ern haben die ehemaligen Kolonien, darunter insbesondere der afrikanische Kontinent, in ihren Mythen, Künsten, mündlich tradierten Geschichten und maßgeblich in ihren Ritualen theatrale Inszenierungs- und damit auch Assimilationsstrategien von Fremdheit entwickelt. Die jahrhundertelang währende Unterdrückung und Ausbeutung Afrikas durch Europa und die Versklavung von Afrikanern in Amerika spiegelt sich auch in der Unterschiedlichkeit dieser theatralen Inszenierungsstrategien wider. Dass besonders die Perspektive derer, die über Jahrhunderte als untertänige Fremde ent-worfen wurden, relevant für Analysen von Alteritätskonstruktionen ist, haben vor allem die Postcolonial Studies erkannt.„[…] unter dem Stichwort ‚The Empire strikes back’ […] [analysierten sie] nicht nur den Rückfluss der Fremdzuschreibungen in den Metropolen, sondern auch die spezifische Handlungsmacht […] von Gruppen, die über Jahrzehnte als willenlose Spielbälle in den Händen Europas angesehen und abgetan wurden.“ (Barth 2008: 12) Das Ihnen vorliegende Begleitmaterial bedient sich umstrittener Begriffe. Nicht nur ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, etwas bzw. jemanden als fremd darzustellen, das bzw. der sich nicht anhand benennbarer Merkmale oder Eigenschaften identifizieren und ge-gen das Eigene abgrenzen lässt (Vgl. Gottowik 1997: 136). Wir, und besonders wir als Weiße, die über Fremde schreiben, müssen uns bewusst sein, dass die Bezeichnungen ‚Schwarze’, ‚Afrikaner’ oder ‚Weiße’ kritisch sind. Allein deswegen, weil wir selbst eine

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(weiße) Perspektive einnehmen, wenn wir die Unterscheidung des anthropologisch Frem-den aufgrund der Hautfarbe treffen. Wenn von ‚Schwarzen’ oder ‚Afrikanern’ die Rede ist, sind damit in erster Linie sogenannte ‚Schwarzafrikaner’ in Afrika bzw. auf den Skla-venplantagen Amerikas gemeint, bei ‚Weißen’ wiederum Europäer bzw. Amerikaner weißer Hautfarbe. Neben dem Begriff des ‚Fremden’ taucht in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen, darunter Philosophie, Theologie, Sozialwissenschaften, Psychologie, Anthropologie, Eth-nologie und Sprachwissenschaften, der Begriff des ‚Anderen’ auf. Eine klare Unterschei-dung zwischen diesen beiden Termini ‚das Fremde’ und ‚das Andere’ ist kaum möglich und auch die theoretische Verwendung der Begriffe lässt, was ihre Differenzierung und Verwendung angeht, oft zu wünschen übrig. Volker Barth definiert das Fremde „als ein gänzlich unbekanntes Anderes“ (Barth 2003: 148), als etwas, das noch ungreifbar(er) scheint, noch bedrohlicher und weniger kontrollierbar auf das Eigene wirkt als das An-dere. Sowohl das Fremde als auch das Andere sind relationale, selbstreferentielle Konstrukte von Alterität, die sich erst in der Abgrenzung zum Eigenen konstituieren. Somit sind sie abhängig von der Perspektive, aus der man sie betrachtet. Das sich dem Fremden ge-genüber positionierende Eigene nimmt dabei die Stellung eines normativen, sich artikulie-renden Subjektes ein (Vgl. Stahr 2004: 13).Auf diese relationale Beziehung zwischen Eigenem und Fremden haben besonders die Critical Whiteness Studies in den USA seit den 1990er Jahren aufmerksam gemacht und zu einem Paradigmenwechsel geführt, indem sie den Fokus weg von der Peripherie mehr auf das Zentrum verschoben.Indem Fremdheit auf das Eigene verweist, verweist sie auch auf die darin ggf. verbor-genen Differenzen und Defizite, Begierden und Ängste, die das Eigene oftmals nur in der Differenz zum Fremden zu erkennen imstande ist (Vgl. Hirsch 2003: 111f). Das Eigene funktionalisiert das Fremde, um Diskurse mit sich selbst und der eigenen Kultur zu führen, in der es verankert ist. In seiner Phantasie konstruiert das Eigene ein Fremdes, das all dem entspricht, was es selbst nicht ist, aber in manchen Fällen gern wäre. Dieses gleicht einem, mit Freud, ‚inneren Ausland’, das als Substitut funktioniert und zur Projektionsfläche „heimlicher Sehnsüchte und uneingestandener Begieren“ (Hirsch 2003: 110) wird.Die Differenz zwischen Eigenem und Fremdem basiert demnach auf einer Ambivalenz, die das in sich selbst und dem Fremden gegenüber differente Eigene spaltet, weil es „zwischen den Polen der Abwehr und der Einverleibung“ (Stahr 2004: 13) schwankt. Die Ambivalenz der Gefühle aus Angst und Begehren, diese „exotische[n] Freuden wie Schreckgespenster“ (Jähner 1998: http://www.bbaw.de) führen dazu, dass das Fremde gleichzeitig faszinierend, irritierend, beängstigend und/oder provozierend wirkt.„Diese gespaltene Identität konstruiert - was Voraussetzung für die Herrschaft über die andere, fremde Person ist - eine vollkommene Alterität, in der sich die Spaltung des Eige-nen durch die Ambivalenz des Fremden wiederfindet. […] [Es] ist begehrt und verachtet zugleich.“ (Schubert 2001:21) De Certeau nennt diesen Prozess der Erkenntniserzeugung, die sich in Relation zum Frem-

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den herstellt, ‚Heterologie’. Von dem Ort, von dem sie das Fremde beschaut und der ihr eigener ist, benennt Heterologie das Fremde und kann es dadurch bannen. Wenn sie diesen Ort verlässt und in Bewegung gerät, bewegt sie sich, so de Certeau, „indem sie das verändert, was sie aus ihrem ‚Anderen’ - dem Wilden, der Vergangenheit, dem Volk, dem Wahnsinnigen, dem Kind, der Dritten Welt [sic] - macht.’“ (Regus 2009: 104, Anm. d. Verf.)

3.2. Konstruktion des Schwarzen als Wilden

Sich auf sozialdarwinistische Theorien berufend begannen die kolonialen Mächte in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts, Afrikaner abhängig vom jeweiligen zeit-lichen Kontext zu ‚wilden Negern’, Barbaren oder kindlichen Untertanen zu stilisieren. Die rassistischen, auf Stereotypen basierenden Projektionen variierten dabei analog zu den jeweiligen wirtschaftlichen Interessen und Lagen des eigenen Landes: Während der Weiße in der kolonialen Aneignungsphase Afrikaner als ‚wild’ beschrieb, tendierten die Beschreibungen während der Kolonialzeit zu einer Infantilisierung schwarzer Menschen, die angeblich zivilisierter Erziehungsmaßnahmen durch den weißen Mann bedurften (Vgl. Poenicke 1994: 41- 48). “Konfrontiert mit der vermeintlichen Unmöglichkeit, Schwarze als weiß zu konstruieren, wird Zuflucht gesucht in Fantasmen, die auf Prozessen des Exotismus aufbauen, der als Form der Alterisierung zu lesen ist.“ (Arndt 2006: 15) Da Alteritätsdiskurse auch immer der Stiftung eigener Identitäten und Gemeinschaften die-nen, fand das Vorgehen gegen den Fremden grundsätzlich allgemeine Zustimmung, was die „politische Handlungsfähigkeit“ (Barth 2008: 5) der Kolonisierenden erhöhte. Auf diesen kolonialen Fiktionen basierend stellte die koloniale Macht Schwarz-Sein sei-nem eigenen Weiß-Sein in Dichotomien gegenüber: weiß - schwarz, gut - böse, überle-gen - minderwertig, zivilisiert - wild, rational - emotional, aktiv - passiv, Subjekt - Objekt (Vgl. Hà Kiên 2004: 146). Da die „Darstellungsfähigkeit des Fremden […] immer auch Demonstration von Macht und damit Legitimation von Herrschaft“ (Barth 2008: 11) ist, rechtfertigten die Weißen mit dem Auftrag der Zivilisierung ihre barbarischen Vorgehens-weisen im Umgang mit den ihnen Fremden und legitimierten die zunehmende Ausbeutung und Zerstörung des Kontinents (Vgl. Gieseke 2006: 277f). Diese Zuschreibungen, für die Toni Morrison - in Anlehnung an Saids Orientalismus The-orien - den Begriff Afrikanismus verwendet (Vgl. Arndt 2006: 16), konstituierten den Schwarzen als Objekt, indem der Weiße seinen eigenen, ‚weißen’ Blick zum ‚objektiven Blick’ machte (Vgl. Jungwirth 2007: 215). Unter seinem Blick spaltet er die Haut des Schwarzen, „deplatziert zu Zeichen von Bestialität, Genitalien, Groteske, die den pho-bischen Mythos der indifferenzierten Ganzheit des weißen Körpers enthüllen.“ (Bhabha 2000: 136) Dieser angeblich objektive Blick war in Wirklichkeit ein bipolarer, der sich gleichzeitig aus Angst und Begierde konstituierte (Vgl. Bielefeld 1998: 98). Denn so sehr das Fremde als negatives Pendant zum Eigenen konstruiert wurde, so sehr war es auch eine heimliche

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Sehnsucht des Eigenen nach allem, was es in dem Fremden imaginierte und im Eigenen vermisste. In der Abgrenzung des Fremden wurde ihm gleichzeitig die Begrenztheit seiner Macht bewusst, was ihn in seinen diskriminierenden Beschreibungen nur bestärkte, gleichzeitig aber auch eine gewisse Ohnmacht auslöste, die zu „dem Zwang [führte], die imagi-nierte und begehrte koloniale Ordnung herzustellen“ (Michels 2009: 161). Völkerschau-en schienen dazu das geeignete Mittel zu sein.

3.3. Macht und Machtmissbrauch3

3.3.1. Aus psychologischer SichtWo die Macht ist, flieht der Geist; wo der Geist ist, fehlt die Macht. Wer kennt ihn nicht, diesen ironischen, aber auch bitteren Spruch aus Volkes Munde, der einem glatt herun-tergeht - auch wenn er so natürlich nicht stimmt. Allerdings dürfte den meisten dazu eine Reihe von traurigen Beispielen einfallen.Und dasselbe gilt für narzisstische Wesenszüge: unkritische Selbsteinschätzung, über-höhte Anspruchshaltung, ausnützerische und egoistische Einstellung, Neid und Überheb-lichkeit, ja selbstgefällig, aufgeblasen, großspurig, auf jeden Fall unrealistisch überzeugt von den eigenen Eigenschaften wie Erfolg, Scharfsinn, Schönheit und vor allem Macht. Von solchen Mitmenschen hört und liest man täglich und manche müssen sie sogar im eigenen Umfeld ertragen, unmittelbar und gnadenlos.Dabei denkt man zuerst an die Politik, aber die steht nur besonders im Scheinwerferlicht der Medien und damit der Allgemeinheit. Das Gleiche gilt natürlich auch für Wirtschaft, Kultur, Show-Business, Sport, Bürokratie, Religionen, Wissenschaft usw. Wir leben offen-bar im „Zeitalter des Narzissmus“ (Selbstverliebtheit - Selbstbezogenheit - Selbstbewun-derung - Egoismus). Und wenn dann noch Macht-Anspruch oder gar Macht-Missbrauch hinzukommen, dann ist das Problem perfekt.Selten ist es wohl nicht, aber glücklicherweise nur selten in jenen Macht-Etagen angesie-delt, in denen viel Schaden, Leid oder gar Unheil angerichtet werden könnte. Je weiter oben, desto eher auch unter Beobachtung (wenngleich nicht immer unter Kontrolle).Auf jeden Fall ist Macht ein schillerndes Phänomen, das höchst zwiespältige Gefühle, Phantasien und Wertungen auslöst, wie die Experten es ausdrücken. Und das, was sie dazu aus ihrer Sicht zu sagen haben, nämlich die Psychologen und Psychiater mit psycho-therapeutischen Aufgaben, das soll als Kurzfassung nachfolgend gestreift werden. Vieles hat man geahnt, manches ist bekannt, einiges ist neu und vor allem interessant, eröffnet es doch die psychologischen Hintergründe und damit vielleicht sogar ein entlastendes Verständnis den Mächtigen gegenüber.Bei dem Begriff Macht beschleicht uns ein ungutes Gefühl. Dabei wissen wir alle, dass Macht im konstruktiven Sinne erst einmal für die Grundlagen eines lebenswerten Mit-einanders, also für Recht und Ordnung sorgt. Doch wenn der Begriff Macht fällt, dann meist im negativen Zusammenhang. Macht hat ein schlechtes Image.„Macht ist offenbar ein schillerndes Phänomen, das höchst ambivalente Gefühle, Phan-

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tasien und Wertungen auslöst. Macht wird einerseits entwertet, verdammt, gar verteufelt, und andererseits gilt ihr unsere Faszination. Wir bewundern und beneiden diejenigen, die sie ausüben. Wir träumen heimlich davon, selbst über unendlich viel Macht zu ver-fügen und beschwichtigen die Schuldgefühle, die dieser Wunsch auslöst, mit der Vor-stellung, diese unendliche Macht natürlich zum Wohle der Menschheit einzusetzen“. Mit dieser Einführung, die praktisch jeder unterschreiben kann, der über eine ausreichend selbstkritische Einstellung verfügt, mit diesen einleitenden Sätzen beginnt Prof. Dr. H.-J. Wirth vom Psychosozial-Verlag in Gießen seinen Beitrag über den „pathologischen Nar-zissmus und den Machtmissbrauch in der Politik“ in dem empfehlenswerten Buch über Narzissmus […].Und er belegt diese Einschätzung mit Schlagzeilen, die jeder noch gut in Erinnerung hat: „Keine Macht für niemand!“, lautete einst der Slogan der 68er- Bewegung. Aber so ganz auf Macht konnten auch die Studenten nicht verzichten, denn sie formulierten: „Die Phantasie an die Macht!“ und „Alle Macht dem Volke!“Diese Zwiespältigkeit und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen, vor allem aber gesellschaftspolitischen Konsequenzen und Forderungen sieht auch die Allgemeinheit nicht wesentlich anders, beispielsweise ausgedrückt in lexikalischer Kürze […]:Macht, die Summe aller Einflussmöglichkeiten in politischer, wirtschaftlicher und so-zialer Hinsicht, aber auch die Chance, in einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durch zu setzen. Grundlagen von Macht können sein: physische oder psychische Überlegenheit, Wissensvorsprung, höhere Organisa-tionsfähigkeit, aber auch das Ausnutzen von Herrschaftsstrukturen und die Angst bei den Unterworfenen.In allen auf Demokratie und bestimmte Grundrechte der Menschen ausgerichteten Gesellschaften wird die politische Machtausübung durch Recht, Gesetz, Verfassung und öffentliche Kontrolle zu institutionalisierter und damit anerkannter und kalkulier-barer Herrschaft. Daneben findet man, vor allem in totalitären Systemen, Mechanis-men der Beeinflussung (politische Propaganda, Manipulation), die vom Einzelnen als Machtausübung nicht mehr durchschaut werden können. Kein Gesellschaftssystem mit komplexer Sozialorganisation verzichtet auf Machtmittel staatlicher Gewalt (Gerichte, Polizei, Militär, Strafanstalten), um die innere Ordnung und die äußere Sicherheit des politisch-sozialen Systems zu gewährleisten. Neben den politischen und ökonomischen Machtstrukturen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen Machtpositionen die zwischenmenschlichen Beziehungen in allen Lebensbereichen (in Ehe, Familie, Beruf, Kirche u.a.).

Zur Erklärung der Entstehung von Machtstrukturen im sozialen (politischen, kulturellen, religiösen) Leben wurde früher ein genereller Machttrieb angenommen. Heute diskutiert man komplexere Aspekte. Das Phänomen Macht in seiner strukturellen Vielfalt bleibt aber weiterhin den meisten Menschen schwer durchschaubar.[…]Interessanterweise[…] ergeht es dem Begriff des Narzissmus ähnlich. Auch ihm haftet eine höchst ambivalente Tönung an. Schon der Begründer der Psychoanalyse, Prof. Dr. Sigmund Freud brachte es letztlich mit einem Satz auf den Punkt: Wer in erster Linie an

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sich selbst denke, dem stünden für den Mitmenschen keine Liebesreserven mehr zur Ver-fügung.Der Narzissmus scheint mit dem Egoismus assoziiert und ist demnach eine antisoziale Eigenschaft. Wenn wir einen Menschen als narzisstisch bezeichnen, werten wir ihn ab und charakterisieren ihn als egoistisch, ich-bezogen und in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen beeinträchtigt. Ja, narzisstisch gestörte Persönlichkeiten gelten sogar als psychotherapeutisch schwer behandelbar (und werden von einer Adresse an die nächste „empfohlen“, so die Klage der Betroffenen). Da hilft es auch nicht, dass manche Experten eine Zunahme narzisstischer Störungen bis hin zum „Zeitalter des Narzissmus“ mit den Zeichen eines tiefgreifenden psychosozialen Verfalls festzustellen glauben.Wer diese Internet-Serie kennt, kann sich auch in Beiträgen verschiedener Länge dazu informieren. Nachfolgend […] eine Kurzfassung vor allem negativer Eigenschaften.NARZISSMUSSelbstverliebtheit - Selbstbezogenzeit - Selbstbewunderung - EgoismusNarzisstische Wesenszüge = überhöhte Anspruchshaltung, unkritische Selbsteinschät-zung, ausnützerische und egoistische Einstellung, Neid und Überheblichkeit nehmen offenbar zu.

Noch folgenschwerer wird es, wenn es sich um eine narzisstische Persönlichkeitsstörung handelt: selbstgefällig, dünkelhaft, aufgeblasen, wichtigtuerisch, großspurig. Dabei unre-alistisch überzeugt von eigenen Eigenschaften wie Erfolg, Macht, Scharfsinn, Schönheit oder gar idealer Liebe.Dazu weitere Belastungen wie Gier nach übermäßiger Bewunderung und unbegründete Erwartungen, als etwas Besonderes behandelt zu werden (wenn noch hysterische Züge dazu kommen). Außerdem die Neigung, andere auszubeuten, insbesondere was zwi-schenmenschliche Beziehungen (Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, aber auch Arbeits-platz), ja selbst Finanzen, Position u.a. anbelangt.Ggf. sogar ein unverständlicher Mangel an Mitleid, Zuwendung und Hilfsbereitschaft. Dafür neidisch und manchmal sogar bösartig (z.B. bösartig eifersüchtig). Kurz: eine Be-lastung besonderer Art.[…]Das „klassische“, d.h. frühere psychoanalytische Bild der Säuglingsentwicklung ist vor allem eine autistische (extrem selbstbezogene), symbiotische (auf enge zwischenmensch-liche Unterstützung angewiesene), passive und „primär-narzisstische“ Wesensart. Das ist natürlich keine gute Ausgangslage.Heute spricht man vom „kompetenten Säugling“, der von Anfang an in einem aktiven Austausch mit seiner Umwelt steht. Der von S. Freud in die Diskussion eingeführte „primäre Narzissmus“ beschreibt also nicht den normalen und gesunden seelischen Zustand des Neugeborenen, sondern die krankhafte Fehlentwicklung.Unter diesem Aspekt muss man auch alle anderen Schlussfolgerungen neu überdenken. Ja, man geht gerade umgekehrt davon aus, dass ein gesunder Narzissmus die inneren Voraussetzungen zur Aufnahme reifer zwischenmenschlicher Beziehungen darstellt. Denn im Grunde - so die modernen Überlegungen - ist der Mensch sein ganzes Leben lang auf die Anerkennung durch andere Menschen angewiesen, also nicht nur, wenn er als völlig

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hilfloser Säugling auf die Welt kommt. Damit man ein Gefühl seiner Identität entwickeln kann, bedarf es eines Gegenübers, der durch Liebe und Anerkennung das Selbstgefühl bestätigt bzw. überhaupt erst möglich macht. Niemand, so die heutigen Psychothera-peuten, kann sich der Abhängigkeit von anderen und dem Wunsch nach Anerkennung entziehen. Die Erfahrung, auf den oder die Anderen und sein/ihr Wohlwollen in grund-legender Weise angewiesen zu sein, gehört zwar zu den schmerzlichsten, aber auch beglückendsten Empfindungen.

3.3.2. Macht, um seelischer Abhängigkeit zu entgehenNun: Beglückend ist gut, schmerzlich nicht. Wenn es sich also um einen krankhaften Nar-zissmus handelt, dann ist die Ausübung von Macht eine Strategie, dieser Abhängigkeit zu entgehen. Natürlich, man kann sogar versuchen, den oder die Anderen zu beeinflussen, zu gängeln, gefügig zu machen, wenn nicht gar zu unterjochen oder zu versklaven. Der Andere kann gezwungen werden, seine Anerkennung auszudrücken, ohne selbst Aner-kennung zu ernten.Doch, so H.-J. Wirth, selbst die Anhäufung von noch so viel Macht kann das menschliche „Ur-Bedürfnis“ nach Liebe und Anerkennung nicht voll ersetzen, höchstens umformen oder eben ausnützen. Wer die Macht hat, kann sich zwar auch Liebe, Respekt, Anerkennung und Zuwendung erzwingen oder gar erkaufen, er verschleiert damit aber nur seine fun-damentale Abhängigkeit, ohne sie wirklich aufgeben zu können.Damit beginnt ein Teufelskreis: „Je mehr der Andere versklavt wird, desto weniger wird er als menschliches Subjekt erfahren, und desto mehr Distanz oder Gewalt muss das Selbst gegen ihn einsetzen“, schreibt die bekannte amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin in ihrem ins Deutsche übersetzten Buch: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht (1996). Da diese Strategie also keinen Erfolg hat und die Anerkennung (und vor allem Liebe) auch weiterhin fehlt, ggf. mehr denn je, gerät der Mächtige mit dieser narzisstischen Mangelerfahrung in „narzisstische Wut“. Und was tut er? Das Falsche: Er reagiert mit einer weiteren Steigerung seiner Macht.

3.3.3. Die narzisstische Wut als politische GefahrAus dieser Psychodynamik leitet sich der suchtartige Charakter von Macht-Entwicklung und -Fortbestand ab. Das sieht man sowohl in den privaten Beziehungen, als auch im beruflichen Bereich und nicht zuletzt in der Politik (wo die Betreffenden durch das scharfe Auge der Medien allerdings auch gleichsam auf dem Präsentierteller stehen, überwie-gend allerdings diejenigen „ganz oben“).Die narzisstische Wut ist jedoch weder erfolgreich noch gesundheitsfördernd. Im Extrem-fall kann sie sogar zur „chronischen narzisstischen Wut“ ausufern. Und das kann nicht nur das Seelenleben des einzelnen vergiften, sondern auch ganze Gruppen, ja weite Bevölkerungsanteile infizieren, z.B. durch Verletzung des Nationalstolzes, durch eine mili-tärische Niederlage, eine politische Demütigung, wirtschaftliche Unterdrückung, kulturelle oder gar religiöse Kränkung.Vor allem Letzteres wird inzwischen zum Problem, wie wir ständig erfahren müssen. Da-

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bei stehen die Auslöser in keinem Verhältnis zur bisweilen weltweiten Reaktion. Das wie-derum erzwingt die Erkenntnis, dass es wahrscheinlich die schleichende Zerstörung und Zersetzung von kulturellen und religiösen Wertsystemen ist, beispielsweise als Folge der Globalisierung, die als Erniedrigung empfunden wird und dann gleichsam in einer Art überschießenden Kipp-Reaktion in die chronische narzisstische Wut mündet.So etwas äußert sich oftmals anfänglich nur in einem „kurzlebigen Wutanfall“, kann aber im fortgeschrittenen Stadium in „wohl-organisierten Feldzügen“ oder gar endloser Rach-sucht enden, wie der berühmte Narzissmus-Forscher Prof. Dr. O. M. Kernberg formulierte. Die Psychotherapeuten erläutern dies sehr detailliert in ihrer eigenen Fachsprache, die leider für den nicht Eingeweihten ohne ausführliche Erklärung mitunter schwer verständlich ist. […]Ein bedrohliches Phänomen für unsere Zeit ist jedenfalls diese chronische narzisstische Wut, die derzeit an vielen Orten in der Welt aufflammt und leider eben auch vom Westen nur dann registriert wird, wenn sich etwas im wahrsten Sinne des Wortes „entflammt“; zuvor besteht da weder Interesse noch ausreichende Kenntnis, sehr zum Nachteil für die schließlich ebenfalls Betroffenen, die wir nebenbei alle sein können.

3.3.4. Macht als Bestandteil sozialen Lebens[…]Schon die früheren Soziologen, u.a. der berühmte Prof. Dr. Max Weber, definierten Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“.Das kann akzeptabel, das kann inakzeptabel sein (wie ein neues Modewort der Politiker lautet). Und, um bei diesem Berufsstand zu bleiben, so haben schon die früheren Exper-ten der Gesellschaftswissenschaften die negativen Aspekte der Macht mit einem banalen, ja alltäglichen „Feind der Menschheit“ erklärt, nämlich der „ganz gemeinen Eitelkeit“.Dabei dürfte sich in den letzten Jahrzehnten nicht viel an dieser Erkenntnis geändert ha-ben, vor allem jener, die die Eitelkeit als eine „Berufskrankheit“ der Politiker geißelt (wobei nicht verhehlt werden soll, dass es Kulturträgern, Wirtschaftsbossen, Medien-Vertretern, Sportlern, Funktionären u.a. nicht viel besser zu gehen scheint).Die Ausübung von Macht wird also dann problematisch, wenn die Leitungsfunktion vom pathologischen Narzissmus der Führungsperson bestimmt wird und wenn der politische Führer seine Macht dazu benützt, seine unbewussten narzisstischen Konflikte auszua-gieren oder abzuwehren, erklärt H.-J. Wirth den Kern des Problems in der Fachsprache seiner Disziplin als Psychologe und Psychotherapeut.[…]

3.3.5. Pathologischer Narzissmus/MachtmissbrauchAnders liegen die Dinge beim Machtmissbrauch, wenn der Betreffende seine Stellung dazu benutzt, Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen, die mit der sachlichen Aufgabe seiner sozialen Rolle nichts zu tun haben, die primär oder ausschließlich seiner „per-sönlichen Selbstbeweihräucherung“ seiner Eitelkeit, also letztlich seinem pathologischen Narzissmus dienen. Oder, um es auf eine einfache Schlussfolgerung zu bringen: Der pathologische Narzissmus ist im Unterschied zum gesunden dadurch gekennzeichnet,

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dass andere Menschen mit Hilfe von Macht funktionalisiert (also letztlich in eine fremde Aufgabe gezwängt) werden, um das eigene Selbstwertgefühl des Machtinhabers zu stabilisieren.Und weiter, so die Experten mit den Worten von H.-J. Wirth: Besonders problematisch wird der Machtmissbrauch dann, wenn sich die Gemeinschaft in einer existentiellen Krise befindet. Wenn jetzt ein narzisstisch gestörter politischer Führer die Macht erringt, nur weil ein großer Teil der Gemeinschaft sich subjektiv bedroht und ungerecht behandelt fühlt und ein gemeinsames „Trauma“ (also eine seelische Verwundung) dazu dienen soll, die gemütsmäßige Krise zu bewältigen, dann sind jene Probleme und Folgen programmiert, die wir aus der Geschichte reichlich zur Kenntnis nehmen müssen.Aber zurück zum narzisstisch gestörten Machtinhaber: Nicht zuletzt auf Grund der öf-fentlichen Beachtung durch die Medien und des dadurch errungenen gesellschaftlichen Ansehens (gefördert durch die üblichen Ranking-Skalen auch und vor allem für Politiker), ist es politischen Amtsträgern häufig möglich ihr übersteigertes Geltungsbedürfnis, ihre Großmannssucht und ihren Ehrgeiz funktional so einzusetzen, dass dies nicht nur den narzisstischen Gewinn bringt, den sie ersehnen, sondern durch die ungezügelte Selbst-bezogenheit auch die Voraussetzung für ein ständiges Gewinnen, Siegen, über andere Dominieren schafft. Oder kurz: Das Siegen wird zu einem Merkmal ihres Charakters.Solche Siegertypen erleben sich in ihrer Phantasie nicht nur als großartig, überdurch-schnittlich, erfolgreich und herausragend, sie sind es häufig auch in speziellen Sparten. Das macht die Situation noch komplizierter. Einerseits kann man ihnen Kenntnis, Durchset-zungswillen und schließlich Erfolg nicht absprechen. Andererseits spürt auch der „kleine Mann“ auf seine Weise, dass hier etwas fehlt, was eigentlich den Mensch als Menschen ausmachen sollte. Und das wird bei diesen, vor allem politischen, aber auch wirtschaft-lichen, kulturellen, sportlichen u. a. Karrieren oft schon in jungen Jahren unterdrückt und ist dann in Amt und Würden auch nicht mehr erweckbar.Solche Beispiele gesunder Wesenszüge, an denen es also dann mangelt, sind realis-tische Selbstzweifel, Sensibilität und Empathie (Zuwendung) für andere, ferner Introspekti-onsfähigkeit (die notwendige Innenschau, insbesondere was Schwachstellen anbelangt), schließlich keine Nachdenklichkeit (und damit gesunde Distanz zur Entscheidung) und schon gar keine Ängstlichkeit oder ratlose Depressivität.Und wenn sich das ein oder andere und vor allem Letzteres doch einmal einzustellen droht, dann wird dies nicht zum Nachdenken und zur Selbstbesinnung genutzt, sondern gilt als Unterhöhlung der bewusst gepflegten Siegermentalität - und damit auch gleich als drohender Verlust von Macht, Einfluss, Geld u. a.[…]

3.3.6. Macht und narzisstische PersönlichkeitsstörungWieder ist es vor allem der „Altmeister“ der Narzissmus-Forschung, der amerikanische Psychiater Prof. Dr. O. F. Kernberg, der die narzisstische Persönlichkeitsstörung wie folgt beschreibt: Extreme Idealisierung des Selbst, die soweit geht, dass die idealen Anteile anderer förmlich inkorporiert (in sich selber aufgenommen, in diesem Falle sich selber

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zugeschrieben) werden. Mit Hilfe dieser Selbst-Idealisierung vermeidet der Betreffende jegliche Abhängigkeit von anderen, hat er ja alles, was man braucht - scheinbar. Damit versucht er sich auch alle Frustrationen (vom lateinischen: frustra = vergebens) und Aggres-sionen vom Leib zu halten.Im Alltag fallen diese Personen durch ein übertriebenes Maß an Grandiosität („ich bin der Größte“) und Selbstzentriertheit auf („ich-ich-ich“). Das kann zwar gelegentlich von plötzlichen und dann durchaus heftigen Minderwertigkeitsgefühlen durchbrochen wer-den, doch das Krankhafte hat in dieser Hinsicht auch einen Lichtblick: Die Betreffenden fangen sich meist wieder und erreichen dann erneut den alten Gipfel selbstherrlicher und unantastbarer Größe, jedenfalls in ihrer eigenen Vorstellung.Diese abnorme Selbstidealisierung entwickelt aber auch konkrete belastende Konse-quenzen: Rücksichtslosigkeit, Anspruchsdenken, chronische Neigung zur Entwertung an-derer, parasitäres (Parasit = Schmarotzer) und ausbeuterisches Verhalten und das ständige Bedürfnis, von anderen bewundert und als Größter anerkannt zu werden und zumindest im Zentrum des permanenten Interesses zu stehen. Der Kampf um die Selbstidealisierung ist nicht einfach.Bei solchen Menschen fallen einem erst einmal einfach strukturierte Charaktere ein („aufge-stiegen aus dem Nichts...“). Doch das ist ein Irrtum. Narzisstisch gestörte Persönlichkeiten finden sich in allen Schichten, vom Verwahrlosten bis zum Erfolgreichsten. Gerade gesell-schaftliche Machtpositionen bieten natürlich seit jeher geradezu ideale Voraussetzungen, diese Seiten auszuleben. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen; manchmal fragt man sich sogar, ob man ohne zumindest grenzwertigen Narzissmus überhaupt etwas werden kann und wie die Geschichte ohne diese Beispiele ausgesehen haben mochte.

3.3.7. Das Risiko: Verwundbarkeit oder gar OhnmachtAllerdings ist die Position des Mächtigen auch dadurch gekennzeichnet, dass es eine rückwärtige Seite gibt, die der Ohnmacht, mahnt H.-J. Wirth. Einerseits machen es die Medien narzisstisch gestörten Aufsteigern leicht, nach oben durchzustoßen. Auch das kann man jeden Tag lesen, sehen, hören. Andererseits ist ein Medien-Begünstigter oder schließlich ein Star auch ständig in Gefahr, wieder gekippt zu werden. Die Journalisten geben das ganz offen zu, das sei das Risiko. Wer sich öffnet, ist offen, und zwar für alles und jedes. So fördern sie einerseits den Aufstieg und holen andererseits wieder runter (Journalistenkommentar: „Zuerst drängen sie sich uns auf und dann beklagen sie sich da-rüber, dass wir mehr wissen wollen!“). Das ist nicht neu, auch wenn im Medienzeitalter verstärkt, und muss beim Aufstieg einkalkuliert werden.Wer nun einen natürlichen und noch in tragbaren Grenzen liegenden Narzissmus hat, wird diese sozialen und innerpsychischen Bewegungseinschränkungen eher akzeptie-ren können. Wer aber unter einem gestörten Selbstwertgefühl leidet und das durch ein übersteigertes Selbstbild zu (über-)kompensieren versucht, der wird durch die Erlangung und Ausübung von Macht zwar gestärkt - aber auch verwundbarer, wenn diese Hilfen plötzlich nachgeben. Das beginnt im zwischenmenschlichen Bereich des Alltags, z.B. in Paarbeziehungen und endet „ganz oben“ - wie, wo und in welcher Form auch immer.

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Sind Narzissten von ständigen Selbstzweifeln geplagt, versuchen sie umso mehr die anderen zu dominieren und ihnen ihren Willen aufzuzwingen, um sich ständig selbst zu beweisen, dass sie der Wertvollere, Klügere, Überlegene sind. Das ist zwar unan-genehm, aber für sich genommen noch tragbar. Verhängnisvoller wird es, wenn solche Machtkämpfe nicht mehr inhaltlich geleitet sind, sondern nur noch das Selbstwertgefühl stabilisieren sollen (den eigenen Willen durchsetzen, gleichgültig in was, durch was und mit welchen Konsequenzen).Und natürlich wird selbst dem harmlosesten Betrachter klar: Ein Mensch, der extrem da-rauf angewiesen ist, sein labiles Selbstwertgefühl laufend durch demonstrative Beweise seiner Großartigkeit (und Position!) zu stabilisieren, wird sich an diese einmal erreichte Stellung klammern („klebt an seinem Stuhl“), denn nur die Ausübung dieser Macht garan-tiert auch das innerseelische Gleichgewicht.Nun ist nicht jeder Partner gegen eine solche Dominanz (z. B. in der Paar-Beziehung). Manchmal kommt dem anderen auch die geforderte Anpassung und Unterwerfung durch-aus entgegen. Die Psychoanalytiker, besonders der berühmte Prof. Dr. Wilhelm Reich, eine nebenbei schillernde Gestalt im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, unterschied zwei narzisstische Typen, die er mit einer hintergründigen Aufforderung charakterisierte:- Dem Narzissten mit übersteigerter und demonstrativ zur Schau getragenen Selbstsicherheit, der nur sein latentes (verborgenes) Minderwertigkeitsgefühl zu kom-pensieren versucht, riet er: Mach Dich nicht so groß, so klein bist Du doch gar nicht“.- Dem Narzissten, der unter einem offenen Minderwertigkeitsgefühl leidet, hinter dem sich aber auch verborgene Größenphantasien verbergen, empfiehlt er: „Mach Dich nicht so klein, so groß bist Du doch gar nicht“.

Heute spricht man in der psychoanalytischen Fachsprache einerseits vom phallischen Narzissten […] und vom Komplementärnarzissten. Letzteres wäre jemand, der im un-bewussten Zusammenspiel zweier solcher Persönlichkeitsstrukturen ergänzend und damit durchaus tragbar tätig wird. Man nennt dies auch eine Kollusion, also das unbewusste Zusammenspiel zweier sich gegenseitig ergänzender Partner.

3.3.8. Führer und Geführte aus pathologischer SichtDas alles ist natürlich auch in jeder anderen Konstellation möglich, einschließlich zwischen einem politischen Führer und „seiner Großgruppe“ („Masse“). So ist der geltungsbedürf-tige Fanatiker nur dann als politischer Führer erfolgreich, wenn er auf das entsprechende Publikum trifft. Hier gelten dann zwar die gleichen Regeln wie oben, nur gibt es da beim zweiten Pol ein Problem: Den einen, den geltungsbedürftigen Fanatiker wird man zwar leicht als krankhaft abtun; bei der anderen Seite, der „Masse“, vielleicht einem großen Bevölkerungsteil aber wird man seine argumentativen Schwierigkeiten haben. Sind die alle ebenfalls krankhaft, zumindest grenzwertig? Die Frage bleibt angesichts früherer und sogar aktueller politischer Geschehnisse offen...Pathologische Narzissten sind also vor allem dann erfolgreich, wenn ihnen die Ausübung ihrer Macht auch innere Stabilität verleiht. Dadurch sind sie allerdings - vordergründig pa-radoxerweise - auch von der von ihnen unterdrückten Bevölkerung abhängig. Denn wenn

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sie auf die narzisstische Zufuhr, auf die Liebe und Anerkennung durch die Beherrschten angewiesen sind, haben diese dann auch eine Menge Möglichkeiten, sie zu manipulie-ren und auszunutzen.Das starke Bedürfnis des Mächtigen, geliebt und bewundert zu werden, zwingt ihn also schließlich auch, den Wünschen der Gruppe nachzukommen und ihre Erwartungen zu erfüllen. Das gilt erst einmal für den Kontakt der Mächtigen zu ihren engsten Mitarbei-tern, dann mit den Mitgliedern ihrer Partei, mit den verschiedenen Lobbyisten bis hin zu den „verehrten Wählerinnen und Wählern“, wie es H.-J. Wirth trocken zusammenfasst. Eigentlich, so seine Schlussfolgerung, müsste der Betreffende die Ich-Stärke haben, sich abzugrenzen und seine Entscheidungen unter sachlichen Gesichtspunkten zu treffen, die das Wohl des Ganzen im Auge haben. Aber seine narzisstische Bedürftigkeit hindert ihn häufig daran, macht ihn manchmal sogar zum Sklaven der Beherrschten. Paradoxe Realität.Gesamthaft gesehen darf man also zusammenfassen: Der krankhafte Narzissmus in den Chefetagen von Politik, Wirtschaft, Finanzen, aber auch Kultur, Medien, Wissenschaft, Sport (Organisation), Militär u.a. und letztlich in jeder Ecke unserer Gesellschaft bis hin zu ihrer kleinsten Keimzelle, wenn zwei Menschen ein Paar bilden, dieser Narzissmus ist so alt wie die Menschheit, allgegenwärtig und wird uns begleiten bis ans Ende unserer Tage. Früher war seine explosible Gefahr allerdings größer. Man denke nur an die dama-ligen Gesellschaftsformen mit ihren Alleinherrschern. Deutschland hat zwei vernichtende Weltkriege hinter sich, in denen zwei entscheidende Persönlichkeiten mit ihren bekannten Defiziten unseligen Einfluss entwickelten: Wilhelm II. und Hitler. Andere Nationen kön-nen mit ähnlichem aufwarten, zu ihrer Zeit und unter den dortigen Bedingungen ähnlich furchtbar.Dabei ist der Narzissmus wir haben es mehrfach registriert -, eine Münze mit zwei Seiten: Ein Narziss ohne großes Gegenüber, ob ein einzelner Mensch oder eine Masse bis hin zu einem ganzen Land, ein solcher Narziss ohne ist nichts. Also gehen hier auch histo-rische Entwicklungen mit ein, von der Biographie eines einzelnen Menschen bis hin zur Geschichte einer Nation, eines Kontinents oder gar weltweit.Dass die Medien hier einen prägenden Einfluss haben, ist allgemein anerkannt. Das ließe hoffen, wenn man nicht wüsste, dass es noch immer Nationen gibt, in denen sie als auf-merksame Beobachter aus- (oder gleich-) geschaltet werden können (auch in gewissem Rahmen in den westlichen Demokratien?). Es gilt also aufmerksam zu sein - jeder.

3.3.9. Hat die Psychotherapie eine Chance?So drängt sich zum Schluss die Frage auf: Lässt sich ein pathologischer Narzissmus psy-chotherapeutisch behandeln? […] [E]s gibt schon Möglichkeiten, vor allem, wenn der Therapeut sich auf diese Klientel einzustellen vermag. Das ist allerdings eine Aufgabe besonderer Art, die nicht jedem liegt. Es wurde bereits angedeutet. Außerdem: Welcher Narziss geht freiwillig zum Therapeuten, um sich „gewaltsam umerziehen zu lassen, denn darauf läuft es doch wohl hinaus...“.In der Tat: Was die psychoanalytische Behandlung der Reichen und der Mächtigen

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anbelangt, so haben schon früher erfahrene und berühmte Psychotherapeuten wie bei-spielsweise Prof. Dr. J. Cremerius ihre Zweifel angemeldet. Denn es ist kein Geheimnis, dass „Patienten in hohen politischen und wirtschaftlichen Machtpositionen sich nur ganz ausnahmsweise einer psychoanalytischen Behandlung unterziehen“. […]Ein Buch für unsere Zeit?

3.4. »Praxis II

Titel: Lügen haben lange Weile

Ziel: Manipulations- und Propagandamechanismen erkennen

Voraussetzungen: Keine

Material: Zettel und Stifte

Raum: Klassenraum/Turnhalle

Durchführung:1. Klären Sie mit Ihren Schülern, welche Arten von Lügen sie kennen und wozu sie dienen. Dies wird auf Karteikarten notiert.

2. Beschränken Sie im zweiten Schritt die Lügen darauf, jemanden zu beeinflussen. Wie muss eine Lüge gestaltet sein, um jemanden zu etwas zu bringen (Angst machen, drohen, vermeintliche Bedürfnisse erzeugen etc.) Welche Sätze dienen dazu, wie müssen diese Sätze formuliert sein? Diese Sätze werden ebenfalls auf Karten notiert.

3. Teilen Sie Ihre Schüler in 3er oder 5er Gruppen ein und schicken Sie diese auf die Bühne. Bestimmen Sie, wer „das Opfer“, wer die Täter sind. Geben Sie jedem „Täter“ drei Leitsätze in die Hand, mit Hilfe derer diese versuchen, das „Opfer“ zu etwas zu bringen.

4. Werten Sie das Spiel aus und klären sie inwieweit die Politik sich ähnlicher Mecha-nismen bedient, um Kriege zu legitimieren oder Macht zu erhalten.

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Mythos Menschenfresser

Interview: Lena Jakat

Uralte Kulturen, die den Kannibalismus pflegen, treffen auf deutsche Missionare und Kolonialbeamte: Der Historiker Simon Haberberger hat den Kannibalismus und seine Folgen in Papua-Neuguinea erforscht. Ein Gespräch über Kolonialschuld und den Missionar im Kochtopf.

Was hat ein toter deutscher Weltumsegler mit Knochenfunden in Colorado zu tun? Simon Haberberger ist eigentlich Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Sozi-alkunde im bayerischen Illertissen. Er hat über Kannibalismus in den deutschen und britischen Südsee-Kolonien promoviert - ein vergleichsweise wenig „blutleeres Thema“, meint er. Auf der papua-neuguineischen Insel Nissan ließ er sich von den Einheimi-schen aus der Kolonialzeit erzählen. Da sich dort keine Schrift entwickelte, lebt die Geschichte bis heute in mündlichen Überlieferungen weiter.

sueddeutsche.de: Im Fall des kürzlich verschwundenen Deutschen wurde rasch über „Menschenfresserei“ gemutmaßt - inzwischen wurde dieser Verdacht allerdings entkräf-tet. Sind Fälle von Kannibalismus am Ende nur ein Mythos?

Simon Haberberger: Zu verschiedenen Zeiten hat es Kannibalismus mit Sicherheit fast überall auf der Welt gegeben, freilich aus ganz verschiedenen Motiven - auch in Eur-opa. Dort wurden zum Beispiel im Mittelalter Arzneien aus den Körpern Hingerichteter gewonnen. Ähnliche Praktiken gab es übrigens auch in China. Allerdings muss man immer sehr genau hinsehen, was Mythos ist, und was Realität. Diese Legenden haben im Übrigen auch dazu beigetragen, dass man zwischenzeitlich gar nicht mehr daran glaubte, dass Kannibalismus tatsächlich existierte.

sueddeutsche.de: Wie das?

Haberberger: In den achtziger Jahren herrschte eine Art Glaubensstreit unter Historikern und Ethnologen. Die Skeptiker hielten alle Berichte über Kannibalismus für bloße impe-rialistische Propaganda. Es gibt jedoch eine Vielzahl verlässlicher historischer Belege: Augenzeugen, Gerichtsverfahren, Menschen, die Kannibalismus zugegeben haben. Inzwischen haben sich auch naturwissenschaftliche Beweise gefunden. In Colorado wurden Exkremente aus dem 12. Jahrhundert entdeckt, die Myoglobin enthielten, wie es nur in menschlichem Muskelgewebe vorkommt.

sueddeutsche.de: Warum assoziiert man mit Kannibalismus aber vor allem einsame Inseln?

Haberberger: Der Kannibalismus-Vorwurf eignete sich gerade im 19. Jahrhundert her-vorragend, um Missionierung und Kolonialisierung zu rechtfertigen. In der Kolonialzeit wurden die Menschen so stigmatisiert, als „Wilde“ abgewertet. Schnell wurde aus

3.4. »Kopievorlage: Mythos Menschenfresser4

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einem Fund menschlicher Knochen ein Akt von Menschenfresserei. Aber tatsächlich hat sich gewohnheitsmäßiger Kannibalismus an jenen Stellen der Erde am längsten gehalten, die erst spät von der Außenwelt entdeckt wurden, wie zum Beispiel bei den Fore auf Neuguinea. Bei ihnen übertrug sich durch den Verzehr von menschlichen Gehirnen die Kuru-Krankheit, die ähnlich der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit ist.

sueddeutsche.de: Wie wird Kannibalismus zur Gewohnheit?

Haberberger: Für Kannibalismus, der sich als fester Bestandteil einer Kultur entwickelt, gibt es ganz unterschiedliche Motive. Wenn es uns bei dem Gedanken schaudert, liegt das wohl daran, dass unausgesprochen Normen und Werte vorausgesetzt wer-den, die in Europa gelten, die es aber deswegen noch lange nicht anderswo auch gibt. Oft hatte das Verspeisen von Menschenfleisch einen magischen Hintergrund, hatte mit Zauberei zu tun. Die Menschen glaubten zum Beispiel, dass die Eigen-schaften des Toten auf sie übergehen. [...]0

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Titel: Wünsch dir was

Ziel: Vertrauen- Toleranzentwicklung

Gruppe: Klassenstärke

Raum: Klassenraum/Turnhalle

Durchführung:1. Aufwärmen: Lassen Sie Ihre Schüler durch den Raum gehen. Möglichst zu Musik und im Takt. Wichtig: nicht im Kreis sondern immer kreuz und quer durch den Raum gehen. Rufen Sie „Stop“ bzw. „Freeze“. Lassen Sie Ihre Schüler zu Paaren zusammen gehen und sich Rücken an Rücken stellen. Nun sollen die Schüler sich gegenseitig beschreiben ohne zu werten (Kleidung, Haare, Gang etc.) und sich mindestens ein Kompliment machen. 2. Es muss nun geklärt werden, wer sich zuerst etwas wünschen darf. Die Paare bleiben zusammen und gehen gemeinsam durch den Raum. Bei „Stop“ schauen sich die Partner an. Der „Wünscher“ schaut seinen Partner an, dieser muss aus diesem Blick einen Wunsch lesen, den er auch erfüllt (Rücken massieren, sich lobend über den Partner äußern, Komplimente machen, ihm etwas vortanzen, einen Witz erzählen etc.). Dann wird gewechselt. Lassen Sie Ihre Schüler immer wieder durch den Raum gehen, um das Geschehene zu verarbeiten. Wichtig ist: unterbinden Sie jegliches Gespräch. Wenn Sie möchten, können Sie vor Beginn der Übung postulieren, dass im Anschluss ein Gespräch stattfindet, in dem geklärt wird, ob der Partner Recht hatte mit der Interpretation des Wunsches.

3. Auswertung: Lassen Sie die Paare sich austauschen. Es kann sinnvoll sein, Musik im Hintergrund laufen zu lassen, damit die Paare sich nicht gegenseitig hören. Dies ist eine Partnerübung des Vertrauens und damit keine Gruppendynamik entsteht, macht es Sinn, die Auswertung in den Paaren zu belassen.

3.6. »Praxis: III

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4. Besetzung

Freitag: Ouelgo Téné

Robinson: Ralph Jung

Regie/ Bühne: Nanna Przetak

Regieassistenz. Anne Hart

Dramaturgie: Peter Przetak

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5. Quellen1http://www.journals.zpid.de/index.php/PuG/article/download/125/164 (Stand: 04. April 2013, 12.40 Uhr)

2Rike, Reiniger: Die Künstlerische Umsetzung ist eine Lesart der Wirklichkeit.In: Wolfgang Schneider, Felicitas Loewe (Hrsg.): Theater im Klassenzimmer. Baltmannsweiler: Schnei-der Verlag Hohengehren 2006, S.19 ff

3http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychohygiene/pdf/faust3_macht.pdf (Stand: 04. April 2013, 12.54 Uhr)

4http://www.sueddeutsche.de/panorama/kannibalismus-in-der-suedsee-mythos-men-schenfresser-1.1169067 (Stand: 04. April 2013, 13.00 Uhr)

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6. Literaturhinweise

1. http://www.insel-lexikon.com/inseln-im-pazifik/robinson-crusoe-insel-mas-a-tierra.htm

2. http://danieldefoe.npage.de/robinson-crusoe/hintergruende.html

3. http://www.1989history.eu/geschichte-sport.html

4. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/die-geschichte-des-geldes-von-der-muschel-zum-papier-11066486.html

5. http://www2.hu-berlin.de/sexology/ATLAS_DE/html/sexualitaet_und_religion.html

6. http://www.urlaube.info/Chile/Bevoelkerung.html

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Theater macht Schule

Dieses Angebot richtet sich an Pädagogen und Erzieher.

Die Theaterpädagogen der Theater & Philharmonie Thüringen stehen Ihnen mit Rat und Tat für Ihren Unterricht zur Verfügung.

Wir bieten an:

PatenklassenSie begleiten mit Ihrer Klasse ein Stück, nehmen an Proben teil und können Schauspieler und das Regieteam kennen lernen. So lassen Sie Ihre Schüler an dem künstlerischen Pro-zess eines Theaterstückes aktiv teilhaben.

Spielerische Vor- und NachbereitungEngagierte Theaterpädagogen bereiten Ihre Schüler persönlich auf den Theaterbesuch vor. Im Rahmen der Vor und Nachbereitungen werden an Hand von themenbezogenen Übungen die Jugendlichen auf die Inszenierung vorbereitet und zur Thematik hingeführt.

Begleitmaterialien zum DownloadenZu ausgewählten Inszenierungen gibt es Begleitmaterialien, die Sie für Ihren Theater-besuch mit Ihren Schülern zur Vorbereitung bzw. Nachbereitung nutzen können. Diese Materialien bieten sowohl Hintergrundinformationen zur Inszenierung und zur Thematik als auch praktische Anregungen für Ihren Unterricht. Auf der Internetseite www.tpthueringen.de finden Sie in der Rubrik „Junge Bühne“ unter „Theater macht Schule“ die Begleitmateri-alien als pdf zum downloaden.

Begleitmaterial: „Freitag und Robinson“von Adrian Mitchell

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TheaterFABRIK Geravon Theater und Philharmonie ThüringenTheaterplatz 107548 Gera

Telefon: (0365) 214 78 59Fax: (0365) 214 78 61E-Mail: [email protected]: www.theaterfabrik-gera.de

Ansprechpartnerbei Fragen und für Informationen:Peter Przetak (Leiter der TheaterFABRIK)E-Mail: [email protected]

für Buchungen:Marco Schmidt (Jugendreferent)Telefon: (0365) 82 79 102E-Mail: [email protected]


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