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Ein aussagenlogischer Aspekt der aristotelischen Syllogistik

Date post: 18-Dec-2016
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Ein aussagenlogischer Aspekt der aristotelischen Syllogistik von Rainer Enskat (Heidelberg) I Aristoteles beginnt den Aufbau seiner Theorie des Syllogismus im Buch A der Ersten Analytiken mit der Definition des Syllogismus (24b 18/20). Fast genau dieselbe Definition formuliert er bekanntlich auch am Anfang der Topik (lOOa 25/7). Und eine dritte Variante findet sich in der Rhetorik (1356b 16/17). Die verschiedenen Ansätze und Vorschläge des Aristoteles zu einer Definition des Syllogismus haben im Zusammenhang mit der Erklärung und Beurteilung seiner wissen- schaftlichen Leistung in der Geschichte der formalen Logik immer wieder eine besondere Rolle gespielt. Denn die verschiedenen sach- lichen, methodischen und polemischen Kontexte, in denen Aristoteles eine Definition vorschlägt und benutzt, informieren seinen Leser ja auch immer wieder mehr oder weniger direkt über die Verschiedenartig- keit der Umstände, unter denen Aristoteles die genauen formalen Bedingungen, die ein sprachliches Gebilde zu einem Syllogismus qualifi- zieren, entweder noch nicht oder aber schon entdeckt hatte. Das damit verbundene wissenschaftsgeschichtliche Erklärungs- und Beurteilungs- problem macht aber die zutreffende relative Chronologie insbesondere von Topik, Sophistischen Widerlegungen und Ersten Analytiken zu einer ebenso wichtigen wie aufschlußreichen logischen und philologi- schen Aufgabe. Seit Chr. Aug. Brandis' Arbeit „Über die Reihenfolge der Bücher des aristoteli- schen Organons" (1833) hat sich schließlich mit dem Buch von Ernst Kapp „Der Ursprung der Logik bei den Griechen" (engl. 1942, dtsch. 1965) die Auffassung bewährt, daß die Ersten Analytiken die späteste Probe von Aristoteles' formallogisch orientierten Untersuchungen enthalten. l Kapps Kriterium für diese relative Chrono- Vgl. hierzu den knappen historischen Überblick, den Kapp im Hinblick auf diese Auffassung bei den Gelehrten der Generationen von Brandis bis Solmsen gibt, in: E. Kapp, Syllogistik (1931), wieder abgedruckt in: ders., Ausgewählte Schriften, Berlin 1968, S. 254/77, bes. S. 255/56. Brought to you by | Heinrich Heine Universität Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/1/13 11:22 PM
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Ein aussagenlogischer Aspekt der aristotelischenSyllogistik

von Rainer E n s k a t (Heidelberg)

I

Aristoteles beginnt den Aufbau seiner Theorie des Syllogismus imBuch A der Ersten Analytiken mit der Definition des Syllogismus (24b18/20). Fast genau dieselbe Definition formuliert er bekanntlich aucham Anfang der Topik (lOOa 25/7). Und eine dritte Variante findetsich in der Rhetorik (1356b 16/17). Die verschiedenen Ansätze undVorschläge des Aristoteles zu einer Definition des Syllogismus habenim Zusammenhang mit der Erklärung und Beurteilung seiner wissen-schaftlichen Leistung in der Geschichte der formalen Logik immerwieder eine besondere Rolle gespielt. Denn die verschiedenen sach-lichen, methodischen und polemischen Kontexte, in denen Aristoteleseine Definition vorschlägt und benutzt, informieren seinen Leser jaauch immer wieder mehr oder weniger direkt über die Verschiedenartig-keit der Umstände, unter denen Aristoteles die genauen formalenBedingungen, die ein sprachliches Gebilde zu einem Syllogismus qualifi-zieren, entweder noch nicht oder aber schon entdeckt hatte. Das damitverbundene wissenschaftsgeschichtliche Erklärungs- und Beurteilungs-problem macht aber die zutreffende relative Chronologie insbesonderevon Topik, Sophistischen Widerlegungen und Ersten Analytiken zueiner ebenso wichtigen wie aufschlußreichen logischen und philologi-schen Aufgabe.

Seit Chr. Aug. Brandis' Arbeit „Über die Reihenfolge der Bücher des aristoteli-schen Organons" (1833) hat sich schließlich mit dem Buch von Ernst Kapp „DerUrsprung der Logik bei den Griechen" (engl. 1942, dtsch. 1965) die Auffassungbewährt, daß die Ersten Analytiken die späteste Probe von Aristoteles' formallogischorientierten Untersuchungen enthalten.l Kapps Kriterium für diese relative Chrono-

Vgl. hierzu den knappen historischen Überblick, den Kapp im Hinblick auf dieseAuffassung bei den Gelehrten der Generationen von Brandis bis Solmsen gibt,in: E. Kapp, Syllogistik (1931), wieder abgedruckt in: ders., Ausgewählte Schriften,Berlin 1968, S. 254/77, bes. S. 255/56.

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logie ist teilweise systematischer und teilweise entwicklungspsychologischer Art. Insystematischer Hinsicht war Aristoteles der wichtigste Schritt erst gelungen, alser seine Ansätze zu einer Definition des Syllogismus durch die Definition desvollkommenen Syllogismus (vgl. An. Pr. 25b 32/37) ergänzt hatte.2 Denn erst mitHilfe der Definition des vollkommenen Syllogismus konnte Aristoteles mit Erfolgdaran gehen, verschiedene Klassen („Figuren") von syllogistischen Gebilden nichtnur fast erschöpfend zu entwerfen, ebenso die Elemente („Modi") dieser Klassennicht nur erschöpfend zu charakterisieren3, sondern erstmals auch die logischenOperationen (,Reduktionen') durchzuführen, die die logischen Beziehungen zwischenElementen zweier dieser Klassen (2. und 3. Figur) und Elementen der Restklasse (1.Figur) durchschaubar machen.4

Der entwicklungspsychologische Teil von Kapps Kriterium zielt darauf ab, daßdie größere innere Kompliziertheit und Eleganz sowie die erstmalige, umfassendelogische Leistungsfähigkeit der Theorie des Syllogismus der Ersten Analytiken einzuverlässiges Indiz für das mit der wissenschaftlichen Reife erheblich fortgeschritteneAlter eines Autors abgibt, der die methodisch hilfloseren und systematisch schwäche-ren Untersuchungen der Topik und der Sophistischen Widerlegungen daher auchnur früher angestellt haben kann.

II

Angesichts der vergleichsweise großen Differenziertheit, mit der dieDefinition des vollkommenen Syllogismus formale Anforderungen imHinblick auf einen gültigen Syllogismus präzisiert, scheint eine undiffe-renzierte Definition des Syllogismus, wie Aristoteles sie zuletzt (An. Pr.24b 18/20) versucht hat, überflüssig zu werden. Denn die wenigstenvon den Bedingungen, die ein vollkommener Syllogismus erfüllt, wer-den von der undifferenzierten Definition erfaßt. Aber alle Bedingungen,die diese Definition erfaßt, erfaßt auch die Definition des vollkomme-nen Syllogismus. Und in der Tat benötigt man den undifferenziertenBegriff des Syllogismus weder aus sachlichen noch aus methodischenGründen an irgendeiner systematischen Stelle der Syllogistik.

Doch damit, daß dieser weitere Syllogismusbegriff innersystematischfunktionslos geworden ist, ist noch nicht ausgemacht, daß er ganz undgar funktionslos geworden ist oder logisch gehaltlos oder belanglosist. Vielmehr kann man zeigen, daß und warum die entsprechendeundifferenzierte Syllogismusdefinition im Lichte der vollentwickeltenSyllogistik eine Tragweite gewinnt, die man sowohl als solche wie in

2 Vgl. Kapp (1965), S. 79/84.1 Vgl. G. Patzig, Die aristotelische SyHtw'siik ( 959), Göttingen M969, Kap. IV.* Vgl. Patzig, a.a.O. Kap. V.

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ihren Einzelheiten auch nur erkennen kann, wenn man das innereGef ge der Syllogistik schon einigerma en durchschaut. Die undiffe-renzierte Syllogismusdefinition bernimmt n mlich eine wichtige syste-matische Abgrenzungsfunktion.

Im Kontext der Syllogistik gewinnt beispielsweise der Umstand anlogischem Gewicht, da das, was folgt (εξ ανάγκης συμβαίνει), etwasAnderes (έτερον τι) ist als das, wodurch (δια των κειμένων, Top.lOOa 26/7) es folgt. Nimmt man diese Andersheit der Conclusio einesSyllogismus logisch ganz ernst, dann sind durch diese definitorischeBedingung alle logisch g ltigen Gebilde ausgeschlossen, deren einfach-ste Musterbeispiele aussagenlogische Gesetze wie

p -> p, p Λ q · -> · q

sind. Durch die undifferenzierte Syllogismusdefinition sind mithin allelogischen Gesetze als Syllogismen disqualifiziert, deren Konklusionentweder ganz oder teilweise von einem Element der Pr missenmengegebildet wird.5

Andererseits gewinnt das grammatikalische Indiz an logischem Ge-wicht, da Aristoteles im Rahmen der allgemeinen Syllogismusdefini-tion ber die Pr missenmenge im Plural spricht (τεθέντων τινών).Denn schon alleine dadurch sind die von ihm anerkannten Konver-sionsgesetze (vgl. 25a 14/22)

AeB -+ BeAAaB -> BiAAiB -> BiA

als Syllogismen disqualifiziert, weil jedes nur eine einzige Pr misse hat.Durch dieselbe definitorische Syllogismusbedingung sind aber ersicht-lich auch alle aussagenlogischen Gesetze mit nur einer einzigen Pr -misse als Syllogismen disqualifiziert, f r die ein einfaches Musterbei-spiel

q· -> - p - > qabgibt.

5 Das ist dann offenbar der systematische Grund, weswegen Aristoteles Tautologienignoriert, die solche aussagenlogischen Schemata erf llen, und nicht nur, wieCorcoran betont hat, Tautologien wie AaA u. ., vgl. J. Corcoran, A Mathemati-cal Model of Aristotle's Syllogistic, in: Ar eh. f. Geschichte d. Philosophie 55(1973), S. 191/217, bes. S. 205/6, 216 f.

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Schließlich wird unter demselben logischen Aspekt der Singularwichtig, mit dem Aristoteles über die Conclusio ( ) des Syllo-gismus spricht. Denn da der Numerus offensichtlich das grammatikali-sche Indiz für die Vielzahligkeit bzw. die Einzahligkeit der Satzmengeabgibt, von der Aristoteles jeweils spricht, sind durch die Einzahligkeits-bedingung im Hinblick auf die Conclusio offenbar alle logischen Ge-setze als Syllogismen disqualifiziert, für die das Kontrapositionsgesetz

p -> q · -* - q -> p

ein einfaches Musterbeispiel ist: die Conclusio eines syllogistischenGebildes muß im strikten Sinne aussagenlogisch atomar sein.

Unter diesen Voraussetzungen muß die logische Form eines (gülti-gen) Syllogismus offenbar die folgenden drei Bedingungen erfüllen:(1) Prämissen und Conclusio haben keinen Satz gemeinsam; (2) derPrämissen sind wenigstens zwei; (3) die Conclusio ist aussagenlogischatomar. Es liegt aber auf der Hand, daß an diesen syllogistischenQualifikationsbedingungen jedes aussagenlogische Gesetz scheitert.6

6 Einen atypischen Sonderfall bildet in diesem Zusammenhang das aussagenlogi-sche Gesetz, das man durch die Wenn-dann-Verknüpfung einer kontradiktori-schen Konjunktion mit einem beliebigen von den Elementen der Konjunktionverschiedenen atomaren Satz nach dem Schema

p p · -» - qerhält. Einen Sonderfall bildet dieses Gesetz deswegen, weil es einerseits genaudie aussagenlogische Oberflächensyntax hat, die Aristoteles' undifferenzierte Syl-logismusdefinition von einem Syllogismus verlangt. Atypisch ist es gleichwohlaus einem anderen Grund. Denn auf der Basis seiner semantischen Auffassungvom Satz in De int. 16b 26/17a 7 (Kap. 4) und deren Anwendung in Met.1006a 18 ff. kann Aristoteles einem durch Konjunktion kontradiktorischer Sätzegewonnenen Gebilde von vornherein den Satzcharakter absprechen. Das schließtaber andererseits nicht aus, daß er auf Grund seiner syntaktischen Auffassung inDe int. 17a 9/22 (Kap. 5) von dem durch Verbindung mehrerer Sätze gewonneneneinheitlichen Satz und unter der kontrafaktischen Annahme, daß ein durchKonjunktion kontradiktorischer Sätze gewonnenes Gebilde ein Satz sei, gleich-wohl Betrachtungen über die formalen Beziehungen zwischen den Gliedern eineskontradiktorischen Konjunktums anstellen kann, wie er es in De int. ja auchausführlich getan hat. Weil also ein kontradiktorisches Gebilde für Aristotelesschon aus semantischen Gründen kein Satz ist, kann ein aussagen logisch es Gesetzmit kontradiktorischem Anteccdens für ihn noch nicht einmal als Kandidat fürdie Rolle eines syllogistischen in Frage kommen. Die scmantischcKomponente und die syntaktische Komponente des Satzes sind für Aristotelesnotwendige Bedingungen seines Satzcharakters. Aber keine von beiden ist allcinchinreichend dafür.

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Unter diesen Voraussetzungen gewinnt Aristoteles' undifferenzierteSyllogismusdefinition ihre systematische Abgrenzungsfunktion. Beach-tet man sie gebührend, dann kann man besser als auf andere Weiseden geschichtlichen Stellenwert der Entdeckung beurteilen, die Aristo-teles mit seiner Syllogistik gelungen ist. Dabei ist es durchaus bedeut-sam, daß man diese Abgrenzungsfunktion so gut mit Hilfe von Beispie-len für aussagenlogische Gesetze erläutern kann. Denn gerade mit demHinweis auf die Tatsache, daß Aristoteles über die im Vergleich mitder Syllogistik angeblich fundamentalere Aussagenlogik noch nichtverfügt hat, hat J. Lukasiewicz7 der Entdeckung der Syllogistik durchAristoteles den wissenschaftlichen Charakter absprechen zu könnengeglaubt.8

An sich ist Lukasiewicz' Kriterium plausibel: wenn Aristoteles die Mittel garnicht in der Hand hatte, mit denen man entscheiden kann, ob ein Versuch inbeweiskräftiger logischer Form durchgeführt worden ist oder nicht, einen unvollkom-menen Syllogismus auf einen vollkommenen Syllogismus zu reduzieren, dann kannsein Umgang mit den von ihm entdeckten syllogistischen und nichtsyllogistischenlogischen Elementen deswegen keinen wissenschaftlichen Charakter haben, weil erseinen Umgang mit diesen Elementen gar nicht durch das einzige dafür tauglicheund zuverlässige Instrument, eben durch die aussagenlogischen Gesetze und Regeln,kontrollieren kann. Er kann sich lediglich auf seine für ihn selber gar nicht durch-schaubare, instinktive deduktive Treffsicherheit verlassen. Eben deswegen kann manin Aristoteles auch nicht gut, so Lukasiewicz, den Entdecker der formalen Logikals Wissenschaft sehen.

Man kann nicht gut bestreiten, daß Aristoteles und seine Syllogistik unter demvon Lukasiewicz benutzten methodologischen Gesichtspunkt eher schlecht abschnei-den. Aristoteles ist es insofern nicht gelungen, seine Reduktionen unvollkommenerSyllogismen auf vollkommene Syllogismen als vollkommene Beweise ihrer Gültigkeitzu gestalten.

Allerdings sind sowohl Lukasiewicz' methodologisches Beurteilungskriterium wieauch die Art und Weise seiner Anwendung kritisiert worden. In der Tat ist esja auch von vornherein implausibel, daß der wissenschaftliche Charakter einerEntdeckung ausschließlich von der Reife und Leistungsfähigkeit der Methoden

J. Lukasiewicz, Aristotle's Syllogistic i11951), Oxford 21957.Das ergibt sich indirekt aus folgenden Bemerkungen von Lukasiewicz: "... thereexists besides the Aristotelian System another System of logic more fundamentalthan the theory of syllogistic" (43); die "functorial propositions are the mainstock of every scientific theory" (131). Offenbar arbeitet ein Logiker in seinenAugen erst dann wissenschaftlich, wenn er die aussagenlogischen Fundamenteder Wissenschaftlichkeit jeder von der Aussagenlogik verschiedenen Logik mitformallogischen Mitteln, eben mit aussagenlogischen Mitteln, durchschaut.

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abhängen sollte, mit denen der Urheber dieser Entdeckung die von ihm entdecktenSachvcrhulte und deren Elemente behandelt, nachdem er sie entdeckt hat. Einekognitive Leistung wie die Entdeckung der Syllogistik ist viel zu komplex, als daßman ihr einen wissenschaftlichen Charakter alleine schon wegen eines einzigenMangels absprechen könnte. Richtig an Lukasiewicz' Urteil bleibt lediglich dieBewertung, daß die logischen Entdeckungen des Aristoteles insofern das Optimuman Wissenschaftlichkeit verfehlen, als er nicht auch noch die Aussagenlogik zurmethodischen Kontrolle seines Umgangs mit Syllogismen und nichtsyllogistischenlogischen Gesetzen wie den Konversionsgesetzen entdeckt hat. Es liegt aber auchauf der Hand, daß im Lichte dieser anspruchsvollsten methodologischen Norm derWissenschaftlichkeit wohl niemals irgend jemand eine wissenschaftliche Entdeckungzuwege gebracht hat oder zuwege bringen wird.9

In der Auseinandersetzung mit Lukasiewicz' wissenschaftsgeschichtlichem Wert-urteil sind denn auch zunehmend die realgeschichtlichen heuristischen Möglichkeitendes Aristoteles hervorgehoben worden. So hat G. Patzig10 betont, daß die vonAristoteles in seiner Syllogistik behandelten logischen Sachverhalte elementarer sindals die logischen Sachverhalte, die in der Aussagenlogik behandelt werden. Denndie Begriffe, deren syllogistisch vermittelte Relationen Aristoteles untersucht, sindelementarer als die Aussagen, die man mit ihrer Hilfe bilden und die man dannallerdings wegen ihrer Wahrheitsdefinitheit auch mit den Mitteln der Aussagenlogikuntersuchen kann. Aristoteles hat die Syllogistik entdeckt, bevor die Aussagenlogik(in der Stoa) entdeckt werden konnte, weil er den ersten, elementarsten Schritt vordem zweiten getan hat.

W. Wieland11 hat ein zusätzliches Licht auf die geschichtliche methodische Situa-tion des Aristoteles geworfen. Er erklärt den heuristischen Vorrang, den die Syllogi-stik bei Aristoteles gegenüber der Aussagenlogik hat, unter Rückgriff auf die eri-stische Ursprungsgeschichte der Syllogistik damit, daß die Untersuchung aussagen-logischer Sachverhalte eine größere Abstraktionsleistung verlangt als die Untersu-chung syllogistischer Sachverhalte. Angesichts der eristischen Disputationstechnikenkonnte es Aristoteles ganz einfach leichter fallen, mit seinen Untersuchungen mög-lichst konkret bei den formalen Beziehungen zwischen den elementarsten Teilenanzusetzen, mit deren Hilfe die Gegner im agonalen Dialog ihre einzelnen Aussagenbilden, und nicht so abstrakt wie möglich bei den Wahrheitswerten dieser Aussagen.

Unter diesem anspruchsvollsten Gesichtspunkt könnte man dann allerdings auchz. B. noch Freges Ausarbeitung der Aussagenlogik die Wissenschafllichkeit mitder Begründung abzusprechen versuchen, daß er noch nicht an die Möglichkeitder Vollständigkeit der Menge der zweistelligen bivalenten Aussagefunktionengedacht zu haben scheint. Aber solche Mangelerscheinungen gehören nun einmalsowohl bei Frege wie bei Aristoteles zu den normalen rcalgeschichtlichcn Bedin-gungen der Möglichkeit des Fortschritts auch in der Wisscnschaftlichkcit derWissenschaft.Vgl. Patzig, a.a.O. S. 1391.Vgl. W. Wieland, Zur Deutung der aristotelischen Logik, in: Phil. Rusch.. Holt 1(1966), S. 1/27, bes. S. 21/22.

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Der erste, logisch elementarste Schritt war für Aristoteles auch der kognitiv leichtereSchritt.

Hs ist offenkundig, daß Lukasiewicz' ungünstiges wissenschaftsgeschichtlichesUrteil hier indirekt revidiert wird, indem gezeigt wird, daß und inwiefern seinBcurtcilungskriterium im Grunde völlig ahistorisch ist und daß seine Benutzungdurch Lukasiewicz daher von vornherein dazu verurteilt ist, anachronistisch auszu-fallen.

IV

Nun kann man der methodischen Situation des Aristoteles meinesErachtens allerdings noch näher kommen, wenn man seine undifferen-zierte Syllogismusdefinition in dem erläuterten Sinne logisch ernstnimmt. Denn so abwegig Lukasiewicz' ungünstiges Urteil auch seinmag und so produktiv Patzigs und Wielands Teilerklärungen einanderauch ergänzen mögen — die Wahrheit liegt auch hier, wie so oft, inder Mitte.

Den Schlüssel zum besseren Verständnis von Aristoteles' methodi-scher Situation bildet nämlich die Tatsache, daß seine undifferenzierteSyllogismusdefinition ganz genau das syntaktische Abstraktionsniveauder Aussagenlogik hat. Das wird indirekt ja schon dadurch gezeigt, daßman diese Definition, wie oben vorgeführt, im Rahmen eines Verfahrensproduktiv benutzen kann, durch das man verschiedenartige Musterbei-spiele aussagenlogischer Gesetze ermitteln kann, die von vornhereinkeine syllogistischen Kandidaten sind. Und durch jedes dieser Muster-beispiele ist wiederum in eindeutiger Weise eine bestimmte Klasseaussagenlogischer Gesetze exemplifiziert. Aber durch die exemplifizier-ten Klassen sind wiederum alle überhaupt möglichen aussagenlogischenGesetze erschöpft. Aristoteles' undifferenzierte Syllogismusdefinitiongrenzt daher eindeutig und erschöpfend die gültigen Syllogismen gegendie aussagenlogischen Gesetze ab. Dabei ist es an sich gar nicht schwie-rig, Aristoteles' undifferenzierte Syllogismusdefinition mit seinen eige-nen Mitteln so zu modifizieren, daß sich auch noch aussagenlogischeGesetze als Syllogismen qualifizieren können: ,Ein Syllogismus ist einsprachliches Gebilde, in dem, wenn Mehreres oder Eines gesetzt ist,entweder dasselbe oder teilweise dasselbe und teilweise Anderes mitNotwendigkeit folgt oder dieselben oder teilweise dieselben und teilweiseAndere mit Notwendigkeit folgen'.

Das aussagenlogische Abstraktionsniveau von Aristoteles' undiffe-renzierter Syllogismusdefinition macht diese aber nicht nur für einenegative systematische Abgrenzungsfunktion zwischen gültigen Syllo-

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gismen und aussagenlogischen Gesetzen tauglich. Für Aristoteles selberwar eine andere Funktion dieser Definition noch unvergleichlich vielwichtiger, einmal ganz abgesehen davon, daß er mangels Bekanntschaftmit einer Aussagenlogik, die diesen Namen verdient, auf die systema-tische Abgrenzungsfunktion seiner Definition auch gar nicht angewie-sen war. Aristoteles' undifferenzierte Syllogismusdefmition konnte fürihren Urheber nämlich im positiven Sinne so gut wie ausschließlicheine unübertreffliche heuristische Funktion ausüben. Das kann schla-gartig klar werden, wenn man den minimalen aussagenlogischen Gehaltdieser Definition einmal dazu benutzt, eine Frage explizit zu formulie-ren, von der sich ein Logiker leiten lassen kann, wenn die von ihmgefundenen gültigen Syllogismen gerade diejenigen sind, nach denen erauch gesucht hat. Diese Frage kann man nämlich wie folgt formulieren:,Welche formalen Eigenschaften müssen die Einsetzungsinstanzen deratomaren Aussagenschemata in dem (komplexen) Aussagenschema

(p q ...) -> r

(mit zwei oder mehr, aber endlich vielen Vordergliedern) haben, damitjedes Aussagenschema, das man durch eine entsprechende Einsetzungerhält, aus logischen Gründen wahr ist?4

Man braucht gar nicht zu unterstellen, daß sich Aristoteles einesolche Frage gestellt habe. Die ausformulierte Frage macht die heuri-stische Funktion nur deutlich, die Aristoteles' undifferenzierte Syllogis-musdefinition für ihren Urheber auch dann ausüben konnte, wenn ersie sich nicht durch eine entsprechende Frage explizit klar gemacht hat.Denn für Aristoteles' Suche nach geeigneten syllogistischen Kandidatengenügte eine heuristische Faustformel, die seine logischen Intentionenzum einen ganz gezielt auf die internen formalen Eigenschaften jederatomaren Aussage lenkte, die zu den Elementen eines Syllogismusgehört, und die seine logischen Intentionen andererseits ebenso gezieltauf das Merkmal der Notwendigkeit lenkte, mit der sich eine aussagen-logisch atomare Aussage der gesuchten Form aus wenigstens zweianderen atomaren Aussagen mit verwandten Formen ergibt. Die einzigepositive quasi-aussagenlogische Einsicht, auf die Aristoteles in diesemRahmen angewiesen war, ist dann offenbar die Einsicht, daß Aussagender Form

(p q ...) -> r,

wenn r nicht unter den Prämissen vorkommt, nicht zu den aus logischenGründen wahren Aussagen, also nicht zu den , gehören. In

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den syntaktischen und scmantischen Präliminarien seiner undifferen-/icrten Syllogisniusdefmition, also An. Pr. 24a 15/19 und 28/30, zeigtAristoteles sodann durch seine gezielte Besprechung der logischenQualitäten und Quantitäten, von welchen internen logischen Eigen-schaften der aussagenlogischen Atome eines Syllogismus die gesuchteNotwendigkeit abhängt. Und durch seine Definition des vollkommenenSyllogismus (25b 32/35) zeigt er schließlich, von welchen nichtkonven-tionellen formalen Eigenschaften und von welchen konventionellen,,schematischenfc Eigenschaften von genau drei Aussagen es abhängt,daß eine Notwendigkeit des gesuchten Typs so vollkommen wie möglichevident ist.

Unter diesen Voraussetzungen zeigt sich daher, daß Aristoteles nichtnur genau die Syllogismen entdeckt hat, nach denen er auch nur imLichte seiner undifferenzierten Syllogismusdefinition von Anfang anganz gezielt suchen konnte. Darüber hinaus konnte er im Lichte dieserDefinition aussagenlogische Gesetze deswegen nicht finden, weil er inihrem Lichte nur etwas ganz anderes suchen konnte. Das Undifferen-zierte von Aristoteles' undifferenzierter Syllogismusdefinition betrifftja ausschließlich die formalen Eigenschaften, die den aussagenlogischenAtomen gültiger Syllogismen zukommen. Dagegen ist ihr ebenso un-scheinbarer wie minimaler aussagenlogischer Gehalt, man kann nursagen: verblüffenderweise, so hochdifferenziert, daß man mit seinerHilfe Exemplifizierungen von drei Klassen aussagenlogischer Gesetzeso vornehmen kann, daß sich dadurch alle überhaupt möglichen aussa-genlogischen Gesetze erschöpfen lassen. Sie erlaubt, die gültigen Syllo-gismen als eine spezielle Restklasse der aussagenlogisch kontingentenGebilde zu entwerfen.12

12 E. Kapp hat in dem schon herangezogenen Artikel „Syllogistik" die Sachlageganz anders beurteilt, vgl. bes. S. 263 ff. Denn nach Kapps Auffassung sollAristoteles' undifferenzierte Syllogismusdefinition nicht das logische Funktions-gefüge eines wohlformulierten Syllogismus beschreiben, sondern das pragmatischeFunktionsgefüge eines argumentativen Streitgesprächs um Aussagen, die aller-dings zu Funktionselementen eines Syllogismus taugen. Zu den , die dieDefinition berücksichtigt, gehört danach gerade die Conclusio des Syllogismus.Denn sie ist diejenige Aussage im Streit, die sich der Opponent auf Grund ihresInhalts nicht zu eigen machen will oder kann. Das der Definition istnach Kapp indessen der Prämissenteil des Syllogismus. Denn dialogstrategischbetrachtet, soll der Opponent vom Proponenten durch geschicktes Fragen dafürgewonnen werden, sich Aussagen zu eigen zu machen, aus denen dann mitden Mitteln irgendeines gültigen Modus gerade die vom Opponenten zunächstabgelehnte Aussage syllogistisch gefolgert werden kann, so daß es scheint (!), alswenn der Opponent aus logischen Gründen genötigt wäre, sich eine Aussage zu

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Aristoteles konnte die Syllogistik daher nicht schon deswegen entdek-ken, weil sie elementarer und konkreter als die Aussagenlogik ist. Erkonnte die Syllogistik nur deswegen entdecken, bevor die Aussagenlo-gik entdeckt wurde, weil es ihm gelungen war, auf dem Abstraktionsni-veau der Aussagenlogik eine heuristische Faustformel zu entwerfen,durch die er in jedem konkreten Einzelfall eindeutig entscheidenkonnte, ob eine Aussage ein syllogistischer Kandidat ist oder nicht.Die heuristische Ingeniosität dieser Faustformel besteht darin, daß sieAristoteles erlaubt, jedes aussagenlogische Gesetz, das ihm einfallenmochte, an der syllogistischen Kandidatur scheitern zu lassen, ohne esirrigerweise für kontingent halten zu müssen und ohne überhaupt seinelogische Valenz beurteilen können zu müssen. Aristoteles konnte dieSyllogistik nur deswegen entdecken, bevor die Aussagenlogik entdecktwurde, weil die Aussagenlogik geradezu die einzige Logik ist, die er imLicht seiner undifferenzierten Syllogismusdefinition nicht nur nichtfinden, sondern noch nicht einmal suchen konnte.

Man kann daher auch nicht zutreffend davon sprechen, daß Aristote-les' Entdeckung gültiger Syllogismen unwissenschaftlich wäre, weil ihmzum logisch einsichtig kontrollierten Umgang mit ihnen die Aussagen-logik gefehlt hat. Denn das Wissenschaftliche an seiner Entdeckungder Syllogistik ist die formallogisch unübertreffliche Zielsicherheit, mitder er fast von Anfang an und inmitten aller Mißerfolge, wie sie dieTopik und die Sophistischen Widerlegungen dokumentieren, nachnichts anderem als gültigen Syllogismen des am Ende gefundenen Typssuchen konnte.

eigen zu machen, die er sich unabhängig von der Anwendung eines Modus undaus sachlichen Gründen nicht meint zu eigen machen zu können. Ich findeallerdings, daß Kapp Aristoteles' undiflerenzierte Syllogismusdefinition unnöti-gerweise und irreführenderweise mit der Aufgabe belastet, in so hochverschlüssel-ter Form seine (Kapps) aufschlußreichen Einsichten in die gleichsam konversenVerhältnisse zu enthalten, in denen einerseits die syllogistische NotwendigkeitPrämissen und Conclusio verknüpft und in denen andererseits die pragmatischeNotwendigkeit vom Opponenten abgelehnte Thesen mit geschickt abgerungenenZugeständnissen des Opponenten verknüpft. Kapps Rekonstruktion des gleich-sam rückwärtsgewandten Dialog-Syllogismus verliert nicht das geringste an Originalität und Plausibilität, wenn Aristoteles' undifferenzierte Syllogismusdefinitionist, was sie auf den ersten Blick ist: eine Definition des logisch wohlformuliertenSyllogismus. Man gewinnt dafür aber zusätzlich einen unbefangenen Blick fürdie ingeniöse systematische Abgrenzungsfunktion und für die ebenso ingeniöseheuristische Rolle, die diese Definition auf Grund ihres minimalen aussagenlogi-schen Gehaltes spielt.

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