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DIPLOMARBEIT Titel der Diplomarbeit „Die Inszenierung des Künstlerdaseins durch die Autobiografie. Vergleichende Analyse von Thomas Bernhards „Ein Kind“ und Elias Canettis „Die gerettete Zunge“ “ Verfasserin Mag. a rer. nat. Kerstin Hackl angestrebter akademischer Grad Magistra der Philosophie (Mag.phil.) Wien, 2013 Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 190 299 333 Studienrichtung lt. Studienblatt: UF Psychologie und Philosophie UF Deutsch Betreuer: Univ.- Prof. Mag. Dr.phil. Werner Michler
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DIPLOMARBEIT

Titel der Diplomarbeit

„Die Inszenierung des Künstlerdaseins durch die

Autobiografie. Vergleichende Analyse von Thomas

Bernhards „Ein Kind“ und Elias Canettis „Die gerettete

Zunge“ “

Verfasserin

Mag.a rer. nat. Kerstin Hackl

angestrebter akademischer Grad

Magistra der Philosophie (Mag.phil.)

Wien, 2013

Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 190 299 333

Studienrichtung lt. Studienblatt: UF Psychologie und Philosophie UF Deutsch

Betreuer: Univ.- Prof. Mag. Dr.phil. Werner Michler

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„Keine Schuld ist dringender, als die, Dank zu sagen.“ (Marcus Tullius Cicero)

Ich bedanke mich vor allem bei Herrn Univ.-Prof. Mag. Dr. Werner Michler für die

gute Betreuung und die wertvollen Anregungen, Tipps, Verbesserungsvorschläge

und Hilfestellungen.

Mein besonderer Dank gilt schließlich auch meiner Familie und meinen Freunden,

die mich bei der Verwirklichung meiner Diplomarbeit unterstützt haben. Sei es durch

aufmunternde motivierende Worte, sei es auch durch hilfreiche Tipps.

Besonders hervorheben und bedanken möchte ich mich bei meinen Eltern für ihre

uneingeschränkte motivierende, sowohl emotionale als auch finanzielle

Unterstützung, ohne die diese Arbeit nicht denkbar erscheint.

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Inhaltsverzeichnis

1) EINLEITUNG................................................................................................................. 5

2) THEORIE DER AUTOBIOGRAFIE ............................................................................... 9

2.1) Historische Skizze zur Gattung Autobiografie ..................................................... 11

2.2) Künstlerbiografien im 20. Jahrhundert ................................................................ 16

2.3) Spannungsfeld Fiktion und Wirklichkeit/ Autobiografie-Autofiktion ................. 20

2.4) Forschungsrichtungen zur Autobiografie ........................................................... 26

3) DIE INSZENIERUNG DES KÜNSTLERDASEINS: Künstlerkonzeptionen und

Künstlerbilder ................................................................................................................... 31

4) ANALYSEN ................................................................................................................ 37

4.1) Analysegrundlagen:Primärliteratur ...................................................................... 37

4.1.1) Thomas Bernhards „Ein Kind“: Einführung und Inhalt .................................... 37

4.1.1.1) Der Autor Thomas Bernhard .................................................................... 40

4.1.1.2) Zur Stellung der autobiografischen Erzählung „Ein Kind“ im

Gesamtwerk Bernhards ......................................................................................... 41

4.1.1.3) Forschungsbericht zu Bernhards autobiografischer Erzählung „Ein

Kind“ ....................................................................................................................... 44

4.1.2) Elias Canettis „Die gerettete Zunge“: Einführung und Inhalt ......................... 48

4.1.2.1) Der Autor Elias Canetti ............................................................................. 51

4.1.2.2) Zur Stellung der autobiografischen Erzählung „Die gerettete Zunge“ im

Gesamtwerk Canettis ............................................................................................ 52

4.1.2.3) Forschungsbericht zu Canettis autobiografischer Erzählung „Die

gerettete Zunge“ .................................................................................................... 53

4.2) Erzähltheoretische Analyse .................................................................................. 58

4.2.1) Erzähltheoretische Analyse von Bernhards „Ein Kind“ ................................... 59

4.2.2) Erzähltheoretische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“ .................. 65

4.2.3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und

Canettis „Die gerettete Zunge“ aus der erzähltheoretischen Analyse .................... 74

4.3) Hermeneutische Analyse: Die Inszenierung des Künstlerdaseins ..................... 77

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4.3.1) Hermeneutische Analyse von Bernhards „Ein Kind“ ........................................ 79

4.3.2) Hermeneutische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“ ...................... 89

4.3.3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und

Canettis „Die gerettete Zunge“ aus der hermeneutischen Analyse ....................... 100

5) CONCLUSIO ............................................................................................................. 107

6) ZUSAMMENFASSUNG ............................................................................................ 110

7) LITERATURVERZEICHNIS ...................................................................................... 113

8) ANHANG (Lebenslauf) ............................................................................................ 120

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1) EINLEITUNG

Da der Mensch ein großes Interesse am Menschen hat und dieses durch

autobiografische Erzählungen bedient wird1, erfreuen sich autobiografische Texte

großer Beliebtheit. Die Attraktivität und auch der Geltungsanspruch werden durch

die scheinbare Verarbeitung von authentischem Material erhöht.

Mit dem Begriff der Biografie, der sich aus dem spätantiken Kompositum aus „bíos

(Leben) und gráphein (für einritzen, zeichnen oder schreiben)“2 zusammensetzt und

auch mit dem damit verwandten Begriff der Autobiografie, der zusätzlich aus dem

griechischen Bestandteil „autós“ (selbst) besteht, geht ein reichhaltiges

Formenspektrum einher. Aufgrund von Besonderheiten der modernen literarischen

Autobiografie des 20. Jahrhunderts setzt sich diese Arbeit das Ziel, zwei

Autobiografien auf kursierende Künstlerbilder bzw. hinsichtlich Inszenierungen von

Schriftstellern zu analysieren und zu vergleichen. Die Analyse der beiden Werke

widmet sich auch den Autorenkonzeptionen in Autobiografien und den

gattungsspezifischen Merkmalen. Dadurch soll ein Beitrag geleistet werden, das

Verständnis der Autobiografien von Bernhard und Canetti zu vertiefen.

Die Biografie bzw. die Autobiografie steht an einer Schnittstelle zwischen „Literatur-,

Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie literarischen Lebenserzählungen.“3 Es

geht meist um die zentrale Frage, „wie sich individuelle Lebensläufe und

Erfahrungsaufschichtungen zu biographischen Repräsentationen verdichten.“4 Die

verdichteten biografischen Repräsentationen zweier Autobiografien, die ungefähr

zur selben Zeit – in einem Abstand von drei Jahren erschienen sind – und dem

österreichischen Raum entstammen, stellen den Untersuchungsgegenstand dieser

Arbeit dar. Hierbei handelt es sich um das autobiografische Werk von Thomas

Bernhard (1931-1989) mit dem Titel „Ein Kind“, das im Jahr 1982 erschienen ist,

und das Werk von Elias Canetti (1905-1994) mit dem Titel „Die gerettete Zunge.

Geschichte einer Jugend“, das 1979 erstmals veröffentlicht wurde. Bei beiden

Werken handelt es sich um die frühesten Kindheits- bzw. Jugenderinnerungen der

1 Vgl. Christian Klein: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar:

Metzler 2009, S. 12. 2 Ebd. (Anm. 1), S. 3.

3 Bernhard Fetz: Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie. Die vielen Leben der Biographie.

Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2009, S. 8. 4 Ebd. (Anm. 3), S. 8.

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Autoren, die in einer Reihe von anderen autobiografischen Bänden dieser Autoren

stehen, wobei für Bernhard wie für Canetti, wenn auch unter anderen Umständen,

Österreich erst zu einer zweiten Heimat geworden ist.5 Die oftmals als traditionelle

Form angesehene Autobiografie weist sowohl bei Bernhard als auch bei Canetti

Besonderheiten auf, mit denen die Theorieforschung zu kämpfen hat. Studien zu

Bernhards Autobiografie attestieren „dem Autor den Vollzug der Selbstfindung“6.

Diesen Vollzug könnte man auch Canetti unterstellen. Die Lebensgeschichte

Canettis, als drei Bände umfassendes autobiografisches Werk, als dessen erster

Teil „Die gerettete Zunge“ zu nennen ist, die mit den darauffolgenden „Die Fackel im

Ohr“ (1980) und „Das Augenspiel“ (1985) fortgesetzt wird, wird folgendermaßen

umschrieben:

Sie ist das Zeugnis eines Altgewordenen, der eine Summe von Erinnerungen vorlegt, die, ausgelöst durch ein Wort, einen Farbklang, eine Geste oder ein Bild, sich zu einer `Lebensgeschichte´ kristallisieren.7

In diesem Sinn könnte man auch die fünfbändige Autobiografie („Die Ursache. Eine

Andeutung“ 1975; „Der Keller. Eine Entziehung“ 1976; „Der Atem. Eine

Entscheidung“ 1978; „Die Kälte. Eine Isolation“ 1981 und „Ein Kind“ 1982) von

Thomas Bernhard beschreiben. Bei „Ein Kind“ handelt es sich um den fünften Band

seiner Autobiografie, der „offenkundig Motive der vorangehenden Bände

miteinander verknüpft, aber in der Chronologie eindeutig vor diesen platziert wird“8.

Bernhard wird nicht müde zu betonen, dass es ihm bei der Gattung Autobiografie

nicht um Objektivität gehe, sondern um seine heutige Sicht.9 Es handelt sich somit

ebenfalls um eine Selbststilisierung eines älteren Mannes, der über seine Kindheit

bzw. Jugend nachdenkt und diese in Form einer autobiografischen Erzählung

verschriftlicht. Aus den autobiografischen Bänden dieser Autoren wird jeweils nur

ein Band für die Analyse herangezogen, wodurch sich zwar eine Verengung der

5 Vgl. Wolfgang Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache. Autobiographisches Schreiben in der

deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 184. 6 Wendelin Schmidt-Dengler: Auf dem Boden der Sicherheit und der Gleichgültigkeit. Zu Thomas

Bernhards Autobiografie `Der Keller`. In: Klaus Amann und Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard. Innsbruck, Wien: Studienverlag 1998, S. 219. 7 Alfred Doppler: Gestalten und Figuren als Elemente der Zeit- und Lebensgeschichte. Canettis

autobiografische Bücher. In: Klaus Amann und Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard. Innsbruck, Wien: Studienverlag 1998, S. 123. 8 Schmidt-Dengler: Auf dem Boden der Sicherheit und der Gleichgültigkeit (Anm. 6), S. 223.

9 Vgl. ebd. (Anm. 6), S. 229.

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Perspektive ergibt, doch so können die verwendeten Analyseverfahren genauer zur

Anwendung kommen, wodurch sich detailliertere Analyseergebnisse ergeben

sollten.

Nach einschlägiger Fachliteratur wird angenommen, dass die Entwicklung der

Künstlerautobiografie deutlich von zwei Parametern geleitet wird, die sich

gegenseitig beeinflussen und ihr textuell und kulturell Kontur geben. Dadurch erhält

die Analyse dieser Arbeit auch einen ordnenden Rahmen:

Zum einen sind es die kursierenden Künstlerbilder, wie sie sich in der individuellen künstlerischen Selbststilisierung und in kulturell vorgegebenen Künstlerrollen manifestieren, zum anderen sind es die Erzählmuster der Gattung Biographie.10

Deshalb stellt sich diese Arbeit die Frage, inwiefern diese Parameter die

Autobiografien „Ein Kind“ von Thomas Bernhard und „Die gerettete Zunge“ von

Elias Canetti leiten. Es wird neben einer erzähltheoretischen Analyse der

Primärliteratur, auch eine hermeneutische (textinterpretative) Analyse angestellt.

Die erzähltheoretische Analyse bedient sich der Erzähltheorie von Martin Scheffel

und Matías Martínez11, die vor allem das „Wie?“, die Ebene der Darstellung von

Erzählungen umfasst, wobei zentrale Komponenten des literarischen Erzählens aus

dem Phänomen der Fiktionalität abgeleitet werden. Bei der hermeneutischen bzw.

textinterpretativen Analyse geht es um das „Was?“, um die Handlung der Erzählung.

Es stellen sich die Fragen, wie sich Bernhard und Canetti durch ihre Kindheits- und

Jugenderlebnisse in diesen Bänden darstellen bzw. repräsentieren und welche

Faktoren aus dieser erzählten Zeit als bedeutend für das spätere künstlerische

Schaffen als Schriftsteller erscheinen und in der Folge: welche Künstlerbilder sich

daraus ergeben. Durch die vergleichende erzähltheoretische und hermeneutische

Analyse der Primärliteratur soll herausgefunden werden, ob man exemplarisch

aufgrund von Auffälligkeiten bzw. Besonderheiten dieser Autobiografien von einer

bestimmten Autorenkonzeption bzw. Künstlerkonzeption dieser Zeit sprechen kann.

Ein Ziel der Analyse ist die Darstellung von Merkmalen der beschriebenen Kindheit

und Jugend, wobei es sich um kulturell geprägte Vorstellungen einer sich

anbahnenden Künstler- bzw. Autorenlaufbahn handle, bzw. um

10

Christopher Laferl und Anja Tippner: Leben als Kunstwerk. Künstlerbiografien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard und Madonna. Bielefeld: Transcript 2011, S. 7. 11

Martin Scheffel und Matiìas Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck9 2012.

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lebensentscheidende prägende Fundamente für die weitere Entwicklung,

hinsichtlich der Berufung Autor zu werden, denn „kulturell geprägte Vorstellungen

von Entwicklung, Ganzheit und Chronologie motivieren biographische

Erzählungen“12.

Die für die Analyse notwendigen theoretischen Grundlagen werden im zweiten

Kapitel eingehend erläutert. Es wird die Theorie der Autobiografie historisch

skizziert und es wird das Autobiografieverständnis, das der Analyse zugrunde liegt,

genauer dargestellt. Den prototypischen Künstlerbiografien des 20. Jahrhunderts

wird anschließend ein eigener Platz eingeräumt. Für den forschenden Teil werden

die Begriffe der Autobiografie bzw. in Abgrenzung dazu der Begriff der Autofiktion

behandelt und dem Spannungsfeld von Fiktion und Wirklichkeit in dieser Gattung

wird Bedeutung geschenkt. Autobiografen beanspruchen nicht die ganze Wahrheit

bzw. die vergangenen Geschehnisse realitätsgetreu zu berichten, denn sie dürfen

sich durchaus auch irren bzw. Tatsachen verschweigen und Fehler machen,

entscheidend dabei ist vor allem die Vermittlung von Glaubwürdigkeit.13 Weil es sich

bei der autobiografischen Wahrheit um ein schwer herzustellendes bzw.

problematisches Konzept handelt, „empfiehlt sich ein Blick auf jene Modalitäten, mit

denen Autoren (im Pakt mit den Lesern) ihre Wahrheit herzustellen und

durchzusetzen versucht haben“14, der im zweiten Kapitel gewährt wird.

Anschließend werden die unterschiedlichen Formen der Autobiografieforschung

behandelt. Vor allem für die hermeneutische Analyse wird der aktuelle

Forschungsstand zu Künstlerkonzeptionen und Künstlerbilder aufgearbeitet.

Der Analyseteil ist nach einer kurzen Darstellung der Analysegrundlagen in die

erzähltheoretische und die hermeneutische Analyse geteilt. Die Primärliteratur wird

zuerst getrennt, je Werk analysiert und danach wird der Versuch unternommen,

vergleichend Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und

Canettis „Die gerettete Zunge“ herauszufinden und darzustellen. Abgerundet wird

die Arbeit mit einer Konklusion.

12

Fetz: Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie (Anm. 3), S. 11. 13

Vgl. Hermann Schlösser: Dichtung oder Wahrheit. Literaturtheoretische Probleme mit der Autobiographie. In: Klaus Amann und Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Innsbruck, Wien: Studienverlag 1998, S. 19. 14

Klaus Amann und Karl Wagner: Vorwort. In: ders.(Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Innsbruck, Wien: Studienverlag 1998, S. 7.

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2) THEORIE DER AUTOBIOGRAFIE

Bei Autobiografien handelt es sich um die beschriebene historische Entwicklung der

Selbsterfahrung und der Selbstfindung. Sie können als subjektive

Ausformulierungen des Lebens umschrieben werden, zeigen die soziale

Strukturiertheit des Lebenslaufes und erscheinen als narrative

Geschichtserzählungen.15

Die Biografie und die Autobiografie sind vom Lebenslauf abzugrenzen. Der

Lebenslauf umfasst die Gesamtheit der Erfahrungen, Empfindungen und Ereignisse

mit einer Vielzahl an Elementen. Die Biografien bzw. die Autobiografien sind

hingegen „selektive Vergegenwärtigungen“16, die abhängig sind von der Tradition,

den kulturspezifischen Erinnerungstechniken und dem kulturellen Zusammenhang.

Zur Beschreibung des eigenen Lebens in Form einer Autobiografie gehören die

Bedürfnislage, die Haltung und die Einstellung des Subjekts, die leiblich seelische

Verfassung, die Erfahrungen, die Gesamtsituation und alles, was gelernt, geübt,

neu erfahren oder eingesehen wurde.17 Durch eine Autobiografie bzw. durch eine

autobiografische Erzählung wird das eigene Leben öffentlich gemacht und somit

zum Kunstwerk erhoben.18 Die Autobiografie wie auch die Biografie rekurriert immer

auf eine reale Person. Der Autobiograf/die Autobiografin ist gleichzeitig der

Verfasser/die Verfasserin und die Hauptfigur des Erzählten. Bei einer Biografie

erzählt eine andere Person das Leben einer wichtigen, historisch beglaubigten

Person nach und stellt es dar und somit sind bei dieser Form die Hauptfigur der

Erzählung und der Autor nicht ein- und dieselbe Person. Bei der Gattung der

Autobiografie handelt es sich somit um die eigene Lebensbeschreibung, da der

Autobiograf/die Autobiografin sowohl die Stellung des Subjekts als auch des

Objekts der Lebensgeschichte einnimmt. Subjekt ist er/sie, da er als Autor/als

Autorin die Autobiografie verfasst und Objekt, da er/sie gleichzeitig sich selbst, das

15

Vgl. Horst Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane von Bernhard Vesper, Christa Wolf und Thomas Bernhard. Unter dem Gesichtspunkt der Wechselbeziehung zwischen Identitätsentwicklung und der Entwicklung der Moralstufen des Lawrence Kohlberg. Frankfurt am Main: Lang 2000, S. 21. 16

Fetz: Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie (Anm. 3), S. 52. 17

Wolfgang Voges: Methoden der Biographie und Lebenslaufforschung. Opladen: Leske + Budrich 1987, S. 103. 18

Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 7.

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10

eigene Leben und damit auch den Protagonisten/die Protagonistin der Handlung

beschreibt.19

Jeder Autobiograf/jede Autobiografin wird beeinflusst von den sozialen,

sozioökonomischen und historischen Rahmenbedingungen seiner Zeit und ist somit

„Objekt sozialer und psychischer Zwänge“20. Canetti beschreibt in „Die gerettete

Zunge“ primär die Zeit seines Lebens von 1905 bis 1921 und Bernhard in „Ein Kind“

Erlebnisse aus den Jahren 1931 bis 1944. Biografien und Autobiografien stehen, ob

bewusst oder auch unbewusst, in Verbindung mit den theoretischen Konzepten, die

zu ihrer Zeit ein bestimmtes Menschenbild bzw. die Vorstellung von einer

Künstlergenese ausmachen. Handle es sich zum Beispiel um die theoretischen

Konzepte hinsichtlich einer vorbildlichen Lebensführung oder bezüglich der

Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft.21

Sowohl bei Bernhard als auch bei Canetti kann von einem autobiografischen

Roman gesprochen werden. Diese Untergattung bildet innerhalb der Vielfalt von

Autobiografien aus der zweiten Jahrhunderthälfte eine eigene Gruppe.22

Autoren/Autorinnen dieser Gruppe fühlten sich in ihrer Selbstthematisierung einer

ästhetischen Gesetzmäßigkeit verpflichtet.23 Sie bemühten sich nicht so sehr um

formale Strukturen der Gattung Autobiografie, sondern eher um den Gebrauch ihrer

Sprache, wobei das autobiografische Schreiben aus einer inneren Notwendigkeit

heraus entstand.24 Canetti schrieb seine Autobiografie aus epischer Distanz, indem

er „Erlebtes ver-dichtet, komprimiert, um es aus dem Innersten eines Erlebnisses

heraus wiedererstehen zu lassen“25 und machte somit aus seiner

Lebensbeschreibung einen autobiografischen Roman. Aus Bernhards

autobiografischen Schriften kann man schlussfolgern, dass er sich aus der

Trostlosigkeit seiner Kindheit und Jugend in die Sprache gerettet hat, die

unverwechselbar ist und der Selbstbestätigung dient. Seine unverwechselbare

19

Vgl. Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt: Athenäum 1970, S. 1. 20

Ebd. (Anm. 19), S. 1. 21

Vgl. Christian Klein: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 5. 22

Vgl. Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache (Anm. 5), S. 161. 23

Vgl. ebd. (Anm. 5), S. 161. 24

Vgl. ebd. (Anm. 5), S. 161. 25

Ebd. (Anm. 5), S. 165.

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11

Sprachverwendung und Stilisierung auf eine gewünschte Entwicklung, führen dazu,

dass auch in der Bernhard-Forschung von autobiografischen Erzählungen

gesprochen wird.26

2.1) Historische Skizze zur Gattung Autobiografie

Im Verlauf der Forschungsgeschichte über die Autobiografie haben sich in Hinblick

auf Eigenschaften und Probleme der Gattung unterschiedlichste Ansätze ergeben.

Eine Reihe der diskutierten Aspekte umfasst die folgende Kurzdarstellung der

Autobiografie aus einem Standardwerk der deutschen Literaturwissenschaften:

Ein nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text im Umfang eines Buches, dessen Gegenstand innere und äußere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit des Autors sind. Diese werden im Rahmen einer das Ganze überschauenden und zusammenfassenden Schreibsituation sprachlich so artikuliert, daß sich der Autobiograph sprachlich handelnd in ein je nach Typus verschiedenes (rechtfertigendes, informierendes, unterhaltendes u. a.) Verhältnis zu seiner Umwelt setzt.27

Die angesprochenen Blickrichtungen, die in der Forschungsliteratur eine wichtige

Rolle spielen, wären damit zum Beispiel die Innerlichkeit, die retrospektive

Erzählhaltung, das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, die Ausrichtung auf

Kohärenz und Ganzheitlichkeit, der Status des Autors/der Autorin und die

verschiedenen Motivationen zum autobiografischen Schreiben.

Nach Manfred Mittermayer28 wird der Anfang der neueren Forschungsgeschichte

zur Autobiografie mit dem 1956 publizierten Aufsatz „Voraussetzungen und

Grenzen der Autobiographie“29 von Georges Gusdorf angesetzt. Eine wesentliche

Festlegung von Georges Gusdorf bezieht sich auf den Kohärenzanspruch bzw. den

Totalitätsanspruch der Lebensbeschreibung. Demnach bemühe sich der Autor/die

Autorin, die Elemente, die sein/ihr Leben ausmachen, zu ordnen, um sie in einer

Gesamtskizze darzustellen, damit ein möglichst ganzheitliches Bild vom eigenen

26

Vgl. Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 94. 27

Jürgen Lehmann: Autobiografie. In: Klaus Weimar und Harald Fricke u. a.: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 1. Berlin, New York: de Gruyters 2007, S. 169. 28

Vgl. Manfred Mittermayer: Die Autobiographie im Kontext der ,Life- Writing´- Genres. In: Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie-Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2009, S. 73. 29

Georges Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie. In: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989.

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Leben gegeben werden kann. Als Motive für das autobiografische Schreiben nennt

er die Rechenschaftsablegung für das bisherige Leben, die Gewissenserforschung

und das Bedürfnis, die eigene Individualität auszudrücken, wobei dem Anspruch der

Aufrichtigkeit eine tragende Rolle zukommt.30 Diesbezüglich spricht Gusdorf auch

die Problematik des Wahrheitsanspruches an, wobei er die Autobiografie als „Mittel

der Selbsterkenntnis“31 ansieht und er geht davon aus, dass der Autobiografie

besondere Authentizität zukommt, da der Erzähler/die Erzählerin von sich selbst

erzähle. Somit kann niemand besser wissen, wie die einzelnen Elemente des

Lebens abgelaufen sind bzw. wie man sich gefühlt, was man gewollt oder warum

und wie man etwas getan hat. Gusdorf vertritt auch die Annahme, dass

Autoren/Autorinnen oftmals das Schreiben ihrer eigenen Autobiografie in Angriff

nehmen, um eine unvollständige oder entstellte Wahrheit, die sich über ihr Leben

verbreitet hat, richtigstellen zu können.32

Eine weitere bahnbrechende Arbeit im Bereich der Theorieforschung zur

Autobiografie folgt mit Roy Pascals umfangreicher Studie mit dem englischen

Originaltitel „Design and Truth in Autobiography“.33 Seine Darstellung der

Autobiografie entspricht in weiten Teilen den Auffassungen von Georges Gusdorf.

Nach Roy Pascal handelt es sich bei der Autobiografie um eine narrative

Lebensbeschreibung, wobei auch der Zusammenhang bzw. die Zusammenstellung

der Ereignisse eine große Rolle spielen. Dabei nehme der Schreibende/die

Schreibende auch einen bestimmten Standpunkt ein, von dem aus das Geschehene

interpretativ dargestellt wird. Durch die Schreibarbeit kann es gelingen, Ordnung

und sinnstiftende Einheiten im eigenen Lebensverlauf zu entdecken. Pascal betont

stärker als Gusdorf, dass der Autobiograf/die Autobiografin auch stark das eigene

Leben formt. Er/sie gebe dem Leben einen ordnenden Rahmen und stelle auch

Konsequenzen aus der Beziehung zwischen dem Ich und der Umwelt heraus.

Autobiografien unterliegen vor allem auch der Selektion des Schreibenden. Denn es

wird keinem gelingen, sein ganzes Leben in allen Einzelheiten zu verschriftlichen.

Da eine Auswahl der Lebensereignisse getroffen werden muss und die

Lebensbeschreibung aus der Sicht eines Individuums erfolgt, kann diese Gattung

30

Vgl. ebd. (Anm. 29), S. 127-129. 31

Vgl. ebd. (Anm. 29), S. 133. 32

Vgl. ebd. (Anm. 29), S. 131. 33

Vgl. Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart, Berlin u.a.: Kohlhammer 1965.

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13

keinen Anspruch auf Objektivität erheben. Pascal formuliert diesen Sachverhalt

folgendermaßen:

Der Autobiograph berichtet nicht Tatsachen, sondern Erfahrungen, d. h. die Wechselwirkung zwischen Mensch und Tatsachen oder Ereignissen.34

Für die theoretische Diskussion über diese Gattung sind auch die Denkansätze von

Wilhelm Dilthey von Bedeutung. In seiner Konzeption ist das „Verstehen“ als

zentrale Kategorie des menschlichen Zugangs zum Leben anzusehen. Demnach ist

die Autobiografie im Vergleich zur Biografie die „höchste und am meisten instruktive

Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt“35. Für Dilthey ist sie

die „zu schriftlichem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über

seinen Lebenslauf“36. Die Biografie wäre dementsprechend „die literarische Form

des Verstehens von fremdem Leben“37. Die Kategorie der Kohärenz, die als

repräsentatives Element der traditionellen Theorie der Autobiografie anzusehen ist

und auch schon bei Gusdorf Behandlung findet, wird auch von Dilthey

angesprochen. Nach Dilthey findet der Mensch in allem Geistigen eine Einheit, da

wir das Vermögen besitzen, Ordnung in unser Bewusstsein zu bringen.38 Wichtig für

das Verständnis sei auch die Kategorie der Identität. Durch das Bewusstsein werde

der Lebenslauf „in seiner Abfolge zusammengehalten“ wobei „alle Momente des

Lebens“ ihren Platz finden und „das Diskrete […] zur Kontinuität verbunden“39 wird.

Aufgrund der ständigen Auseinandersetzung mit den besonderen Bedingungen des

eigenen Lebens entwickeln wir ein Bild unserer Identität und wir können uns als

unverwechselbare Wesen wahrnehmen. Die verschiedenen Rollen, die wir im Laufe

eines sozialen Lebens einnehmen, verändern unsere Identität oder bewahren sie.

Die Autobiografie erzählt von vielen Erlebnissen, in denen eine reale Person,

dessen Leben erzählt wird, verstrickt ist oder die sie selbst produziert. Diese

34

Roy Pascal: Die Autobiographie (Anm. 33), S. 22. 35

Wilhelm Dilthey: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft. Erster Teil: Erleben, Ausdruck und Verstehen. In: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 199. 36

Dilthey: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Anm. 35) S. 246-247. 37

Wilhelm Dilthey: Die Biographie. In: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 305. 38

Vgl. Dilthey: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Anm. 35), S. 240. 39

Dilthey: Die Biographie (Anm. 37), S. 305.

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Erlebnisse berichten demnach jeweils verschiedene spezifische Identitäten, die

diese Person im Laufe des Lebens annimmt bzw. angenommen hat.40

Im englischsprachigen Raum hat sich mit dem Konzept der „New Biography“, rund

eine Generation nach Dilthey, das Verhältnis von Autobiografie und Biografie

verändert. Es kam zu einer Annäherung, da nun auch der Biograf/die Biografin den

Status eines aktiven Erzählers/einer aktiven Erzählerin erhält, der/die nicht nur

passiv die Lebensgeschichte eines Menschen wiedergibt, sondern eine aktive

Beziehung zum biografischen Objekt innehat und somit erscheint auch die Biografie

als autobiografisches Projekt. Man sah den Biografieschreibenden/die

Biografieschreibende nicht mehr als einen passiven Chronisten/eine passive

Chronistin, sondern als Künstler/Künstlerin.41

In einem vergleichenden Artikel hält Neva Šlibar fest, dass die Autobiografie

üblicherweise die Selbstbesinnung des menschlichen Bewusstseins darstelle,

wohingegen man bei einer Biografie von einer ganzheitlichen Darstellung der

Persönlichkeitsentfaltung ausgehe.42 Die Ähnlichkeiten von Biografie und

Autobiografie liegen nach Neva Šlibar in den Sinnbildungsprozessen, in den

Mechanismen der Identitätsbildung und der Erfahrungsorganisation. Als eindeutige

Differenz zwischen Autobiografie und Biografie sei die Erzählinstanz erwähnt. Bei

der Autobiografie ist der Autor/die Autorin sogleich Referenz- und Aussagesubjekt,

wobei es sich um eine doppelte Ichform handle. Bei der Biografie schreibe jedoch

eine außenstehende Person über das Leben eines biografischen Objektes.43 An

dieser Stelle seien die Kriterien der traditionellen Autobiografieforschung erwähnt,

die zwischen Biografie und Autobiografie unterschieden. Darunter falle die

Perspektive „die sich in der Biographie von außen nach innen, in der Autobiographie

hingegen von innen nach außen richte“44. Ein bedeutender Unterschied bestehe

auch in der Faktenpräsentation bzw. in der Gestaltung der Autobiografie, die vom

Autobiografen/der Autobiografin subjektiv intendiert sei und vom Biografen/von der

40

Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm.15), S. 17. 41

Vgl. Mittermayer: Die Autobiographie im Kontext der ,Life- Writing´- Genres (Anm. 28), S. 77. 42

Vgl. Neva Šlibar: Biographie, Autobiografie- Annäherungen, Abgrenzungen. In: Michaela Holdenried (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin: Erich Schmidt 1995, S. 391. 43

Vgl. Šlibar: Biographie, Autobiographie- Annäherungen, Abgrenzungen (Anm. 42), S. 392-394. 44

Mittermayer: Die Autobiographie im Kontext der ,Life- Writing´- Genres (Anm. 28), S. 78.

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Biografin als objektiv anzusehen ist.45 Denn in der Autobiografie könnten auch

Lebensentwürfe und Lebensmöglichkeiten enthalten sein, wohingegen sich die

Biografie an die historischen Fakten zu halten habe. Jesse formuliert diesen

Sachverhalt bezogen auf die Autobiografie folgendermaßen: „Der autobiografische

Erzählstil beansprucht für sich eine subjektive Authentizität“46. Doch die neuere

Theorie zur Autobiografie und Biografie hält diese strikte Trennung nicht aufrecht.

Denn auch Biografen stilisieren ihre Werke und somit kann nicht von einer reinen

Faktenpräsentation ausgegangen werden. Es kann angenommen werden, dass die

Werke von den Biografen/Biografinnen subjektiv geprägt werden. Nünning spricht

diesbezüglich von einer neuen eigenen Gattung, die als „biografische Metafiktion“

bzw. als „fiktionale Metabiografie“ bezeichnet wird. Diese Biografien lenken den

Blick „von der Darstellung des Lebenslaufes eines Dichters auf die Probleme des

Biographen bei der Rekonstruktion von dessen Lebensgeschichte“47.

Ein wichtiger hermeneutischer Ansatz, der auch für das Autobiografieverständnis

der Analyse von Bedeutung ist, der eine enge Wechselwirkung zwischen

Autobiografen/Autobiografin und dem Leser/der Leserin hervorhebt, ist das Konzept

des „autobiographischen Paktes“ von Philippe Lejeune.48 Demnach versuchen

Autoren/Autorinnen im „Pakt“ mit den Lesern/Leserinnen, Wahrheit herzustellen und

durchzusetzen. Denn gerade der Leser

[…] begutachtet kritisch die historische Treue und den Erweis des Autobiographen als eines nichtfiktiven Erzählers.49

Lejeune formuliert diesen „Pakt“ folgendermaßen aus:

Von der Situation des Lesers ausgehend […] gelingt es mir möglicherweise, das Funktionieren der Texte […] klarer zu erfassen, denn sie sind ja für uns, die Leser

45

Vgl. ebd. (Anm. 28), S. 78. 46

Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 18. 47

Ansgar Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion. Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres. In: Christian v. Zimmermann (Hg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionaler biographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Tübingen: Gunter Narr 2000, S. 19. 48

Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 22. 49

Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 22.

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16

geschrieben worden, und indem wir sie lesen, sind wir es, die sie zum Funktionieren bringen. 50

Dieser „Pakt“ zwischen Leser/Leserin und dem Autor/der Autorin ergibt sich aus der

Identität von Autor/Autorin und Erzähler/Erzählerin, denn dadurch kann der

Autor/die Autorin auf außertextuelle Wirklichkeit Bezug nehmen und der Leser/die

Leserin kann das Geschilderte auf die Wirklichkeit rekurrieren.51 Aus diesem

wirkungsmächtigen Pakt resultiert, dass der Leser/die Leserin vorerst nicht davon

ausgeht, dass in einer Autobiografie falsche Angaben enthalten sein könnten. Da

man der Annahme ist, dass der Autobiograf/die Autobiografin nicht bewusst gegen

den Vertrag verstoßen werde, gehe man eher davon aus, dass dem Autor/der

Autorin, bei gegebenen unglaubwürdigen Stellen, Fehler unterlaufen seien.

Autobiografien wie Biografien entwickeln ihren Sinn als narrative Konstruktionen

erst durch die Variation verschiedener Aspekte. Für die Analyse biografischer

Erzählungen sind somit verschiedene Dimensionen zu berücksichtigen. Darunter

fallen die Ebene der kontextuellen Rahmenbedingungen, die Ebene der Handlung

und somit das „Was?“ der Erzählung und die Ebene der Darstellung, das „Wie?“ der

Erzählung.52

2.2) Künstlerbiografien im 20. Jahrhundert

Dieses Kapitel widmet sich prototypischen Kennzeichen und Merkmalen von

Künstlerbiografien des 20. Jahrhunderts. Dabei werden vor allem theoretische

Neuerungen des 20. Jahrhunderts behandelt.

Im 19. Jahrhundert etablierte sich die Autobiografie als universitär-

wissenschaftliche Darstellungsform, die sich im 20. Jahrhundert zu einer

wissenschaftlich-künstlerischen Gattung avancierte.53 Die Basis für eine

Künstlerbiografie des 20. Jahrhunderts bildet eine Vorstellung vom Leben als

Kunstwerk, wobei sowohl die Lebensgeschichte als auch das Werk des Autors/der

50

Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 215. 51

Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 199. 52

Vgl. ebd. 53

Vgl: Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 273.

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Autorin Ausdruck des Künstlertums seien bzw. das Material des künstlerischen

Ausdrucks darstellen. Schon seit dem 19. Jahrhundert gewinnt die „Starqualität“

zunehmend an Bedeutung. Zur Starqualität zählen Persönlichkeitseigenschaften

bzw. lebensgeschichtliche Besonderheiten der sogenannten

Künstlerpersönlichkeiten und weniger Qualitäten, die mit dem Werk des Künstlers

bzw. der Künstlerin verbunden sind.54 Somit bilden das Werk und die Starqualität

die narrative Grundlage für eine Künstlerbiografie bzw. Künstlerautobiografie. Im 20.

Jahrhundert geht es immer deutlicher um die Erzeugung von Kohärenz zwischen

dem Privatleben und der künstlerischen Produktion.55 Das Starphänomen der

populären Kultur der verschiedensten Kunstrichtungen wirkt sich damit auf das

Genre der Künstlerbiografie bzw. Künstlerautobiografie aus.56

Die Diskussion um den erkenntnistheoretischen Stellenwert der Biografie als auch

der Autobiografie lebte in den 1960er Jahren auf, wohingegen in den 1970er und

1980er Jahren eine Wechselbeziehung von Kunst und Wissenschaft begann.

Aufgrund dieser Wechselbeziehung wurden die Möglichkeitsbedingungen der

Gattung Autobiografie als auch Biografie Gegenstand der Reflexion und daraus

resultierte der Ansatz von Pierre Bourdieu.57 Unter dem Titel „die biographische

Illusion“58 hat Pierre Bourdieu festgestellt, dass man das Leben nicht mehr „im

Medium einer Geschichte mit Anfang, Höhepunkt und Schluss erzählen“59 kann:

Den Versuch zu unternehmen, ein Leben als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu beschreiben, ohne andere Bindung als die an ein Subjekt, dessen Konstanz zweifellos lediglich in der des Eigennamens besteht, ist beinahe so absurd wie es zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu stellen.60

Es sei somit eine triviale Vorstellung von der Existenz, das Leben als kohärente

Geschichte mit einer gerichteten Abfolge von Erlebnissen zu sehen. Aufgrund

dieser Annahme unterwerfen wir uns bei einer Autobiografie bzw. einer Biografie

54

Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 9. 55

Vgl. Richard Dyer: Stars. London: British Film Institute 1979, S. 14. 56

Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 9. 57

Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 273. 58

Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 1/1990, S. 75-81. 59

Schlösser: Dichtung oder Wahrheit (Anm. 13), S. 23. 60

Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion (Anm. 58), S. 80.

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einer rhetorischen Illusion.61 Es lässt sich schlussfolgern, dass Biografien bzw.

Autobiografien zur Reduzierung der Komplexität des Lebens beitragen, denn selbst

das ereignisärmste Leben wäre zu komplex, um es in allen Einzelheiten

darzustellen. Es sei nach Bourdieu auch absurd, lediglich die einzelnen

Lebensstationen in der Zeitfolge darzustellen, denn es müssten auch die

Beziehungen zwischen diesen Stationen beschrieben werden.62 Erst durch die

Auswahl und die Kombination der Stationen des Lebens gewinne die Biografie bzw.

die Autobiografie ihre kohärente Gestalt. Zur Auswahl der Ereignisse bzw. zu den

selektiven Vergegenwärtigungen einzelner Lebensstationen würden auch die

Leistungen eines Menschen zählen. Denn ein Mensch ohne Leistungen wäre nicht

biografiewürdig.63 Da es sich neueren Theoriedefinitionen zufolge bei der Gattung

Biografie bzw. Autobiografie um eine Gattung mit zwei Bereichszugehörigkeiten

handelt, den Bereichen der Kunst und der Wissenschaft, werde für eine genaue

Gattungskonzeption von den Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen verhandelt,

was diese Gattung zu leisten und zu unterlassen habe. Bei einer Zugehörigkeit zum

Bereich der Wissenschaft müsse alles weggelassen werden, was nicht unmittelbar

oder mittelbar mit der Wirkung oder der Entwicklung des Beschriebenen

zusammenhängt. Im Bereich der Kunst müsse hingegen alles unterlassen werden

„was nicht authentisch ist und sich nicht dokumentarisch beweisen läßt.“64 Im

„Individuellen zugleich das Allgemeine zu sehen“65 sei die Aufgabe der Biografie

bzw. der Autobiografie und daraus bestehe die wahre Kunst und Wissenschaft der

Gattung. Es gehe somit nach Rüdiger Zymner auch um reale Ereignisse, jedoch

werden diese in symbolisierender bzw. stilisierender Form vermittelt.66 Aufgrund der

Form wird in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts von autobiografischen

Romanen und nicht von Autobiografien gesprochen.67 Durch die neuen Aspekte des

Gattungskonzeptes kommt es zu einer Psychologisierung bzw. Soziologisierung der

historiografischen Gattung. Denn es werden sowohl innere Vorgänge als auch die

61

Vgl. Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion (Anm. 58), S. 76. 62

Ebd. (Anm. 58), S. 80. 63

Rüdiger Zymner: Biographie als Gattung? In: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 8. 64

Olaf Hähner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main u. a.: Lang 1999, S. 9. 65

Ebd. (Anm. 64), S. 9. 66

Zymner: Biographie als Gattung? (Anm. 63), S. 8. 67

Vgl. Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache (Anm. 5), S. 161.

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gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen dargestellt. Ein

gattungsimmanentes Merkmal ist die Fokussierung auf das Außergewöhnliche,

Überdurchschnittliche bzw. Exzentrische einer Person.68 Doch diesbezüglich gibt es

in Hinblick auf die verschiedenen Biografieforschungsrichtungen Unterschiede. Die

sozialwissenschaftliche Forschungsrichtung fokussiert eher das Besondere einer

bestimmten Gruppe von Personen, wobei die Lebensläufe nicht herausragend,

sondern exemplarisch für die Gruppe stehen sollen.69 In der deutschen Literatur des

20. Jahrhunderts wird durchwegs der dialektischen These zugestimmt, dass

Biografien bzw. Autobiografien sowohl als konstruiert als auch als real gelten.70 Bei

der Konstruktion der Lebensgeschichte handelt es sich oftmals um ein Spiel mit

vielen Möglichkeiten. Durch verschiedene literarische Mittel, wie zum Beispiel durch

Doppelungen, Widersprüchlichkeiten oder durch die Auflösung von Linearität und

Chronologie, kann es zu einer Vieldeutigkeit der Autobiografie bzw. Biografie

kommen.71 Meistens wird bei literarischen Biografien bzw. Autobiografien auf

nachweisbare Quellen zurückgegriffen, aber die Auswahl und Anordnung ist

künstlerischen Zwecken untergeordnet. Die Auswahl der beschriebenen Erlebnisse

in autobiografischen Erzählungen kann als Nachweis dafür gelten, was dem

Autor/der Autorin in seinem/ihrem Leben wichtig erscheint bzw. erschien und wie

er/sie sich selbst darstellen wollte.72

Zur Kennzeichnung der Gattung Künstlerbiografie bzw. Künstlerautobiografie gibt es

keine verbindlichen Merkmale und es kann somit von Gattungsheterogenität

gesprochen werden. Es existiert nach wie vor „keine systematische Darstellung der

Erzähltypen und Erscheinungsformen der neueren literarischen Biographik“73.

68

Vgl. Hannes Schweiger: Biographiewürdigkeit. In: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 32. 69

Vgl. ebd. (Anm. 68), S. 32. 70

Vgl. Klein: Grundlagen der Biographik (Anm. 21), S. 14. 71

Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 108. 72

Vgl. Dieter Kühn: Werkreflexion, Stichwort: literarische Biographie. In: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 186-187. 73

Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 110.

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2.3) Spannungsfeld Fiktion und Wirklichkeit/ Autobiografie-Autofiktion

Ein Thema, das in Bezug auf die Gattung der Autobiografie immer wieder

angesprochen wird, ist das Spannungsfeld von Fiktion und Wirklichkeit. In keiner

anderen Gattung wird so oft über die „Realität“ bzw. über die Nachweisbarkeit des

Geschriebenen verhandelt.

Der Wahrheitsanspruch bildet nach der traditionellen Auffassung der Biografie ein

wesentliches Charakteristikum, das immer wieder in Zweifel gezogen wird.74 Der

Autor/die Autorin zeige nach Ingrid Aichinger meistens den „Willen zur

Aufrichtigkeit“75, wobei man davon ausgehe, dass er/sie seine/ihre Persönlichkeit in

einer Selbstdarstellung, der Wahrheit entsprechend, zeige. Schon in der Frühzeit

der Autobiografieforschung ging man auf die Frage ein, ob die Autobiografie der

Wahrheit entspreche bzw. dieser sehr nahe komme. Ein bedeutendes Frühwerk in

der autobiografischen Forschung stellt das vierbändige Werk von Georg Misch zur

Geschichte der Autobiografie dar, das erstmals 1907 erschien. Dieser ging davon

aus, dass der Realitätsanspruch der Autobiografie „nicht so sehr in den Teilen zu

suchen ist, als in dem Ganzen, das mehr ist als die Summe der Teile“76. So könnten

zwar einzelne Teile der Lebensgeschichte erfunden sein, aber dennoch könnte man

aus dem Ganzen auf die Persönlichkeit bzw. auf den Charakter des

Autobiografen/der Autobiografin schließen. Man könnte sogar so weit gehen und

sagen, dass man sogar aus den Lügen den Geist bzw. den Charakter erkennen

kann. Pascal hingegen sieht die Verfälschungen in der Lebensgeschichte als

grundlegendes Merkmal der Gattung Biografie. Denn er geht davon aus, dass die

Autobiografen/die Autobiografinnen das Erlebte so darstellen, wie sie es in

Erinnerung haben bzw. „wie es [ihrem] Geist erscheint“77, ohne Wahrheitsanspruch.

Auch die Abfassungszeit und der seelische Gesamtzustand können Einfluss auf die

Wiedergabe und Schilderung von persönlichen Erlebnissen haben. Die Tatsache,

dass das Gedächtnis nicht das Erlebte selbst abspeichert, sondern die Vorstellung

74

Vgl. Mittermayer: Die Autobiographie im Kontext der ,Life- Writing´- Genres (Anm. 28), S. 87. 75

Ingrid Aichinger: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 183. 76

Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 45. 77

Pascal: Die Autobiographie (Anm. 33), S. 90.

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davon, wobei selektiv vorgegangen wird und es durch die Einbettung in

verschiedene Sinnzusammenhänge zu Akzentverschiebungen kommen kann, hat

Auswirkungen auf das Konzept des autobiografischen Wahrheitsbegriffes.78 Hayden

White vertritt die These der Fiktionalität des Faktischen und geht davon aus, dass

alle Texte, die erlebte Erfahrung in Sinnzusammenhänge bringen, Strategien der

Fiktion anwenden. Darunter fallen nach seiner Meinung vor allem die Metapher, die

Metonymie, die Synekdoche und die Ironie.79

Faktische Zuverlässigkeit ist nur ein Element unter vielen, das für die Gattung

Autobiografie von Bedeutung erscheint. Viel wichtiger sei, dass das Erlebte so

vermittelt wird, dass man es auch glauben kann und somit kann die Glaubwürdigkeit

als wichtiges Kriterium angesehen werden.80 Unglaubwürdige Darstellungen werden

nach diesem Kriterium nicht als falsch, sondern als unplausibel bezeichnet. Die

Gattung Autobiografie kann keinen Anspruch auf objektive Realitätswiedergabe

geben, sondern sie gibt „Einsichten in die Art und Weise, wie Vergangenes gesehen

werden kann“81. Die Inszenierung von Authentizität erzeugt somit erst den

autobiografischen Effekt.

Bernhard Fetz verdeutlicht, dass die Autobiografie verschiedene Wahrheitsbegriffe

evoziert, die mit dem Begriff der Wahrheit im herkömmlichen Sinn wenig zu tun

haben:

Zur biographischen Wahrheit gehört die Wahrheit der Verdrängung, zum Beispiel als Handlung leitende Lebenslüge, ebenso wie die diskursive Formierung von Aussagen in bestimmten Formaten und Genres.82

Das eigene Leben ist in der Erinnerung gespeichert und seine Verschriftlichung ist

für den Leser/die Leserin bestimmt. Es werden nur Erinnerungen verschriftlicht, die

der Autor/die Autorin preisgeben will bzw. die zu seiner/ihrer gewünschten

Darstellungsform des Lebens passen. Die verschriftlichten Erinnerungen sind somit

78

Vgl. Ingrid Aichinger: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk (Anm. 75), S. 181. 79

Vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett 1986, S. 22. 80

Vgl. Schlösser: Dichtung oder Wahrheit (Anm. 13), S. 19. 81

Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Stuttgart: Reclam 2001, S. 38. 82

Bernhard Fetz: Biographisches Erzählen zwischen Wahrheit und Lüge, Inszenierung und Authentizität. In: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 60.

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meist nicht deckungsgleich mit der objektiven Wahrheit, sofern diese überhaupt

beschrieben werden kann. Menschen verdrängen auch bestimmte Inhalte aus ihrem

Leben, die ihnen unangenehm sind bzw. die sie für sich behalten wollen, wobei

Inhalte sowohl bewusst als auch unbewusst verdrängt werden können. Den

„wahrhaftigen Eindruck des Erlebten“ könne man somit anstelle von „Wahrheit“ zum

verbindlichen Kriterium für die Gattung der Autobiografie erheben. Eine objektive

Beschreibung kann in der Autobiografie auch aufgrund der Verschmelzung von

Erzählsubjekt und Erzählobjekt nicht geleistet werden. Die Schilderung des eigenen

Lebens ist aufgrund dieser erzähltechnischen Konstellation immer subjektiv

eingefärbt.83 In der Gattung Autobiografie verbinden sich somit literarische mit

historischen Elementen. Zunehmend geht man in der neueren

Autobiografieforschung davon aus, dass Leben nicht nur gelebt und in der Folge

niedergeschrieben wird, sondern dass das Leben selbst immer auch etwas

Konstruiertes und Gestaltetes darstellt:

Begriffe wie »unmittelbar« und »authentisch« müssen ergänzt werden durch »konstruiert« und »inszeniert«, wobei kaum Kriterien zu finden sind, nach denen etwas als »noch authentisch« oder »schon inszeniert« zu gelten hat […].84

Diese Unterscheidung authentisch vs. konstruiert zeigt, dass die Aufgabe der

Autobiografie nicht nur in der Nacherzählung der Lebensgeschichte besteht,

sondern auch in der sowohl unbewussten als auch bewussten Inszenierung bzw.

Konstruktion des eigenen Lebens. Da sich Versuche, die zwischen Inszenierung

und Authentizität klar unterscheiden wollen, als obsolet erweisen, macht es keinen

Sinn zu untersuchen, welche beschriebenen Lebensereignisse tatsächlich auch

objektiv so stattgefunden haben und welche durch die Verschriftlichung in einem

bestimmten Licht erscheinen, das für einen objektiven Beobachter/für eine objektive

Beobachterin so nicht zugänglich gewesen wäre. Die Ununterscheidbarkeit von

Fiktion und Wirklichkeit kann als Kennzeichen der modernen Autobiografie

83

Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 128. 84

Klein: Grundlagen der Biographik (Anm. 21), S. 14.

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23

angesehen werden. Eine wichtige Aufgabe der Autobiografie ist nach Peter-André

Alt die Erfassung der Schriftstellerexistenz als eigenes Kunstwerk.85

In dieser Arbeit werden Kunstwerke der eigenen Existenz anhand der frühesten

Kindheitserinnerungen von Elias Canetti und Thomas Bernhard untersucht. Durch

den Vergleich der beiden Werke soll Charakteristisches der Lebenskunstwerke der

Autoren herausgestellt werden. Die hermeneutische Entschlüsselung soll

sicherstellen, dass das Leben und das Werk keine unabhängigen Teile bleiben,

sondern dass zwischen ihnen auch Interdependenzen aufgezeigt werden können.

Der Begriff der Autofiktion leistet einen wichtigen Beitrag, um das schwierige

Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit in der Autobiografie näher zu beleuchten und

deshalb wird im Folgenden dieser näher beschrieben.

Der Begriff der Autofiktion stammt vom französischen Kritiker und Autor Serge

Doubrovsky:

Ich komme noch einmal auf das zurück, was ich bereits den ,monströsen´ Charakter meiner Bücher genannt habe, nicht Autobiographien, nicht ganz Romane, gefangen im Drehkreuz, im Zwischenraum der Gattungen, die gleichzeitig und somit widersprüchlich den autobiographischen und den romanesken Pakt geschlossen haben, vielleicht um dessen Grenzen und Beschränkungen außer Kraft zu setzen.86

Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten, wenn man so will, ist Autofiktion: die Sprache über das Abenteuer zu einem Abenteuer der Sprache machen, jenseits von Konvention und Syntax des Roman, sei es neu oder traditionell.87

Die Autofiktion impliziert für ihn sowohl den bewussten Einsatz von fiktionalen

Momenten als auch eine schonungslose Offenheit, wobei das autobiografische Ich

keinen Selbstimaginationen unterliegen sollte.88 Das von Doubrovsky entwickelte

Paradigma der Autofiktion wird synonym verwendet zum englischen Begriff

85

Vgl. Peter-André Alt: Mode ohne Methode? Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik. In: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biografischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 33. 86

Serge Doubrovsky: Nah am Text/ Textes en main. In: Alfonso de Toro und Claudia Gronemann (Hg.): Autobiographie revisited. Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur. Hildesheim: Olms 2004, S. 119. 87

Ebd. (Anm. 86), S. 117. 88

Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe- Barthes- Özdamar. In: Ulrich Breuer und Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Iudicium 2006, S. 356.

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„postmodern autobiography“.89 Dies legt nahe, dass die Termini „Postmoderne“ und

„Autofiktion“ verwandt sind und „dass Autofiktion als eine spezifisch nachmoderne

Form autobiografischen Schreibens zu gelten hat“90. Von einem autobiografischen

Text wird erwartet, dass die Lebensgeschichte so dargestellt wird, dass man ihr

auch Glauben schenken kann, wobei fiktionale Elemente nicht ausgeschlossen

werden. Es gibt lediglich die Hoffnung bzw. den Pakt mit dem Autor/der Autorin,

dass dieser/diese nicht absichtlich etwas Unplausibles erzählt und bemüht ist, seine

Biografie möglichst realitätsgetreu darzustellen. Die Unmöglichkeit der

Realitätswiedergabe ist bei nachmodernen Formen der Autobiografie ein Thema:

Der autobiographische Text reflektiert die Unmöglichkeit, gelebtes Leben ,so wie es tatsächlich war´ wiederzugeben und inszeniert seinen eigenen Konstruktionscharakter.91

Es kann festgehalten werden, dass die autobiografische Lesart eine Option ist, die

im Pakt mit dem Autor/der Autorin (nach Bourdieu) gewählt wird. Doch die Texte

funktionieren auch ohne autobiografischen Pakt. Der Begriff Autofiktion impliziert,

dass die Autobiografie nicht um der Biografie willen erzählt wird, sondern um einen

literarischen Text zu gestalten, wobei der Leser/die Leserin zwar einzelne

Ereignisse als Raum-Zeit-Geschichtliches erkennen kann, das jedoch nicht

intendiert wird. Ungeachtet des Ausmaßes von Realitätsreferenz wird kein Anspruch

erhoben, dass die Erlebnisse tatsächlich so in der Realität stattgefunden haben. Die

Figuren, der Ort und das Ereignis, das beschrieben wird, stimmen zum Beispiel mit

realen Figuren, Orten und Ereignissen des Autorenlebens überein, doch der

Zeitrahmen, in dem dies geschieht, der dem Ganzen eine ordnende Struktur gibt,

kann erfunden sein. Die autobiografische Lektüre ist somit lediglich eine Option, die

vom Autor/von der Autorin nicht explizit angestrebt wird, wobei zusätzlich andere

Leseoptionen eröffnet werden.92 Der Autobiografie wird vorgeworfen, dass sie

immer im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Wirklichkeit steht. Das Paradigma

der Autofiktion verdeutlicht, dass es die Sprache ist, die das Leben konstituiert,

89

Vgl. Frank Reiser: Autobiografie an der Grenze postmoderner Praxis: Serge Doubrovsky. In: Susanne Kollmann und Kathrin Schödel (Hg.): PostModerne De/Konstruktionen. Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche. Münster: Lit-Verlag 2004, S. 215. 90

Frank Reiser: Autobiografie an der Grenze postmoderner Praxis: Serge Doubrovsky (Anm. 89), S. 215. 91

Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie (Anm. 88), S. 360. 92

Vgl. ebd. (Anm. 88), S. 364.

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wodurch man das eigene Leben als Anlass für einen Roman nehmen kann.93 Sie ist

eine bewusste Kombination von Autobiografie und Roman. Mit dem Begriff der

Autofiktion wird auch die innere und äußere Zensur übergangen. Als innere Zensur

könnte man Erlebnisse bezeichnen, die man in einer Autobiografie einfach

aussparen bzw. weglassen oder anders darstellen möchte und die äußere Zensur

spricht andere beteiligten Personen an, die sich durch ihre Darstellung in der

autobiografischen Erzählung angegriffen oder ins falsche Licht gerückt fühlen

könnten.94 Es besteht somit kein Anspruch darauf, dass reale Personen dargestellt

werden und der Autor/die Autorin hütet sich sogleich vor peinlichen Geständnissen,

indem er/sie sich das Recht vorbehält, einzelne Elemente des eigenen Lebens

auszusparen, auszuschmücken oder gänzlich zu verändern. Denn durch die

Begriffe Autofiktion oder autobiografische Erzählungen wird darauf hingewiesen,

dass Fakt und Fiktion eng miteinander verschränkt sind, wodurch weder persönliche

noch rechtliche Konsequenzen wie zum Beispiel die Verletzung von

Persönlichkeitsrechten zu erwarten seien.95 Der Begriff der Autofiktion impliziert das

Bemühen des Autors/der Autorin, die Geschichte möglichst plausibel darzustellen,

mit Referenzpunkten zum tatsächlichen Leben, wobei der Leser/die Leserin die

Option erhält, die autobiografische Erzählung nach dem referentiellen oder dem

fiktiven Gesichtspunkt zu lesen oder den Text auch gänzlich ohne Pakt

aufzulösen.96 Doch es scheint schwierig zu sein, eine autobiografische Erzählung

ganz nach einem bestimmten Pakt zu lesen.

Sowohl bei Thomas Bernhards autobiografischem Roman „Ein Kind“ als auch bei

Elias Canettis „Die gerettete Zunge“ handelt es sich um eine Kombination von

Autobiografie und Roman97, wobei es dem Leser/der Leserin frei steht, sie nach

dem referentiellen, fiktiven oder gänzlich ohne Pakt zu lesen. Doch auch hier macht

es wahrscheinlich keinen Sinn, sich auf einen Pakt zu beschränken, wobei bei der

Analyse der Werke immer beachtet werden muss, dass mit Fiktivem und Faktualem

gespielt wird; wobei es unmöglich erscheint, diese Verschachtelung gänzlich

93

Vgl. ebd. (Anm. 88), S. 368. 94

Vgl. Simone Winko, Fotis Annidis und Gerhard Lauer: Grenzen der Literatur: Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin: De Gruyter 2009, S. 301. 95

Vgl. ebd. (Anm. 94), S. 301. 96

Vgl. Winko, Annidis und Lauer: Grenzen der Literatur (Anm. 94), S. 305 97

Vgl. Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache (Anm. 5), S. 161.

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aufzulösen. Es kann lediglich festgehalten werden, dass aus dieser Verschränkung

die Darstellung des Autors/der Autorin entsteht, die er/sie auf diese Art und Weise

selbst für sich wünscht. Daraus kann jedoch die gewünschte Inszenierung des

eigenen Künstlerdaseins abgelesen werden. Die Primärliteratur wird hinsichtlich der

bewussten Inszenierungen der Schriftsteller analysiert, um die Leitfrage der Arbeit

zu beantworten, ob sich ein bestimmtes Künstlerbild dieser Zeit durch die

Herausfilterung von konstanten und spezifischen Autobiografiemerkmalen ergibt.

2.4) Forschungsrichtungen zur Autobiografie

Es gibt unterschiedliche Forschungsrichtungen zur Autobiografie, die im Zuge der

Analyse auf verschiedene Art und Weise zum Tragen kommen. Deshalb werden im

Folgenden die soziologische und literarische Biografieforschung und die

Forschungsrichtung, die die Biografie als „Mitteilungsgeschehen“ betrachtet,

behandelt, die im Analyseteil der Arbeit ihre Anwendung finden.

Die soziologische Biografieanalyse untersucht die Biografie bzw. auch

Autobiografie:

[...] als soziale Tatsache im Sinne Emile Durkheims nach typischen Verlaufsmustern, Institutionalisierungsformen und deren sozialen Determinanten.98

Dadurch werden alle psychischen und sozialen Veränderungen des

Protagonisten/der Protagonistin Gegenstand der Untersuchung, wodurch die

Autobiografie als komplexer Prozess erscheint.99 Der/die Heranwachsende zeichnet

sich durch Spannungen aus, die sich sowohl im Denken, im Inneren abzeichnen als

auch durch das Äußere, durch andere Menschen und Ereignisse, die auf den

Einzelnen einwirken und die er/sie durch das Erlernen der Selbstregulierung

bewältigen muss. Dadurch eignet sich der Mensch einen „sozialen Habitus“ an und

entwickelt eine „soziale Persönlichkeitsstruktur“100. Der soziale Habitus befindet sich

im Spannungsfeld zwischen Individuellem und Kollektivem, und auch wenn es dem

98

Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 89. 99

Vgl. Werner Brettschneider: Kindheitsmuster. Kindheit als Thema autobiographischer Dichtung. Berlin: Erich Schmidt 1982, S. 11. 100

Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S.90.

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Autobiografen/der Autobiografin nicht bewusst ist, steht das beschriebene Leben

immer unter dem Einfluss des sozialen und kulturellen Umfelds. Denn es steht fest,

dass sich kein Mensch in seinem Leben in einem leeren Raum bewegt und dass der

sozialen Umgebung eine tragende mehr oder weniger bestimmende Rolle zukommt.

Bei einer soziologischen Biografieanalyse wird somit auch der prägende Einfluss

der Umgebung, der sich in verschiedene soziale Gruppen bzw. Personen

aufschlüsseln lässt, analysiert.

Die Regulierung des Heranwachsenden durch die umgebende Erwachsenenwelt

spielt für die Integration in die Gesellschaft bzw. zur Ausbildung einer sozialen

Persönlichkeit eine tragende Rolle. Die gesellschaftlichen Begegnungen in Zeit und

Raum oder zum Beispiel die Rolle der Familie (wie zum Beispiel die Rolle der

Mutter, des Vaters, Großvaters etc.) sind Gegenstände der soziologischen

Biografieanalyse. Soziale Gruppen wie die Familie, Schulkollegen/Schulkolleginnen,

Lehrer/Lehrerinnen, Freunde aus der Umgebung bzw. bekannte Leute aus der

Nachbarschaft üben Zwänge auf das individuelle Leben aus und prägen es.101 Der

Einzelne nimmt im Laufe seines Lebens bestimmte Rollen ein, die die

Lebensgeschichte bestimmen. Deshalb werden die eingenommenen beschriebenen

Rollen des Autobiografen und die umgebenden sozialen Gruppen bzw. Personen

genau herausgearbeitet, da diese zur Herausbildung einer eigenen Identität eine

wichtige Rolle spielen. Aus solchen autobiografischen Konstellationen sollte bzw.

kann man jedoch keine eindeutigen Ursache-Wirkungsbedingungen ableiten, doch

das sozial prägende Gefüge kann interpretiert werden.102 In der soziologischen

Biografieanalyse steht die Frage im Mittelpunkt, „wie die Sozialstruktur auf das

Individuum wirkt und wie dieses reagiert“103. Interessant dabei ist, welche

moralische Normen bzw. Lebensprinzipien vom Autobiografen/von der Autobiografin

aus der Beziehung zu einzelnen Menschen übernommen werden und welche man

als bestimmend und prägend für den weiteren Lebensweg betrachten könnte. Denn

sogar subjektive Einstellungen können nicht abgesondert vom sozialen Kontext

erfasst werden. Bezogen auf die Wahrheitsproblematik könnte man nach der

101

Vgl. ebd. (Anm. 15), S. 91. 102

Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 90. 103

Ebd. (Anm. 15), S. 91.

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Annahme der biografischen Illusion schlussfolgern, dass es keinen Sinn macht, das

Leben des Autobiografen/der Autobiografin rekonstruieren zu wollen, ohne zuerst

über die gewählte Konstruktion (auch soziale Konstellation und Konstruktion) der

Autobiografie zu reflektieren.104 Die Autobiografie hat eine soziale Funktion, da sie

exemplarisch die Verlaufsstruktur einer individuellen Lebensführung vorzeigt.105

Als Grundlage der literarischen Biografieforschung kann die Einsicht in die

Mischung von Fiktivem und Realem angesehen werden. Die Mittel der

Fiktionalisierung und Ästhetisierung stellen somit den Untersuchungsfokus des

literarischen Forschungsgebietes dar. Die literarische Biografie ermöglicht es im

Gegensatz zur wissenschaftlichen Biografie, Subjektives zu artikulieren. Die

Autobiografie erscheint dadurch als ein „Produkt der Suche nach Lebensspuren“

des Autobiografen/der Autobiografin, wodurch seine/ihre Identitätsentwicklung

dargestellt wird.106 Diese Lebensspurensuche wird ästhetisiert und mit fiktiven

Elementen angereichert, wobei die autobiografischen Texte dennoch mit dem

„sprachlogischen Feld der Wirklichkeitsaussage“107 verbunden sind. Ein klarer Beleg

dafür ist, dass der Autobiograf/die Autobiografin, der/die dem Leser auch als

Protagonist/Protagonistin entgegentritt, eine historisch beglaubigte Person ist. Die

subjektiven Perspektive des Autobiografen/der Autobiografin auf objektive Daten

formt die Lebensbeschreibung. Damit die Vergangenheit des Autobiografen/der

Autobiografin die Form der gewünschten Autobiografie annimmt, unterliegt die

Lebensgeschichte auch einem Prozess der Gestaltung und Bearbeitung. In diesem

Zusammenhang spricht Martin Stern von den sieben „A“s der Autobiografie

„Anordnung, Auswahl, Anfangspunkt, Akzentuierung, Außenmaterial, Ausdehnung

und Autorpräsenz“108. Diese sieben Gestaltungselemente der Autobiografie werden

in der vorliegenden Arbeit exemplarisch als Anhaltspunkte für die literarische

Biografieanalyse herangezogen. Die Autobiografie erscheint literarisch gesehen als

104

Vgl. Klein: Grundlagen der Biographik (Anm. 21), S. 85. 105

Vgl. Friedhelm Kröll: Biographieforschung. In: Gerd Reinhold (Hg.): Soziologie-Lexikon. München: Oldenburg 1991, S. 63. 106

Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 92. 107

Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 93. 108

Martin Stern: Autobiographie und Identität. In: Gaetano Benedetti und Louis Wiesmann (Hg.): Ein Inuk sein. Interdisziplinäre Vorlesungen zum Problem der Identität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 261.

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Gebrauchsform des Autobiografen/der Autobiografin, um die eigene

Identitätsentwicklung zu konstruieren. Aus Sicht des Autobiografen/der

Autobiografin kann auch der Zweck, mit sich selbst ins Reine zu kommen

festgehalten werden, wobei der „Aussagemodus ,So bin ich gewesen!´ bzw. ,So bin

ich geworden?´“109 treffend erscheint. Die Autobiografie wird in der literarischen

Biografieforschung als literarisches Produkt angesehen, als Text, der wie andere

literarische Texte erzähltechnisch analysiert werden kann. Literarische Biografien

können als narrative Konstruktionen angesehen werden, die „ihren kommunikativen

Sinn erst im Zusammenspiel verschiedener Aspekte entfalten“110. Die Dimensionen,

die für eine Autobiografieanalyse von Bedeutung sind, sind die Ebene der

Handlung, das „Was?“ der Erzählung bzw. die „histoire“ und die Ebene der

Darstellung, das „Wie?“ der Erzählung bzw. der „discours“.111 Bei der Ebene der

Handlung stellt sich die Frage, welche Elemente des Lebens erzählt werden und

wie diese in einen sinnvollen Ablauf gebracht werden. Damit die Autobiografie ihren

vollen kommunikativen Sinn erhält, ist auch die zweite Ebene, die Ebene der

Darstellung von Bedeutung. Bei dieser stellt sich zum Beispiel die Frage nach dem

Einsatz von erzähltechnischen Elementen.

In der neueren Biografieforschung wird die Autobiografie oft auch als

„Mitteilungsgeschehen“ betrachtet. Das „Mitteilungsgeschehen“ ist ein Begriff der

Hermeneutik und umschreibt die „Solidarität der Mitteilung“.112 Dies impliziert, dass

historisch und sozial geprägte Individuen, die durch den Einsatz von sprachlichen

Mitteln Ereignisse ihres Lebens vor ihrem Motivationshintergrund verschriftlichen,

etwas bewirken möchten.113 Durch den Text wird eine bestimmte Mitteilung über

das Leben des Autors/der Autorin transferiert, die durch den Leser/die Leserin zur

Entfaltung kommen sollte. Dabei liegt wiederum die Betonung auf der allgemein

anerkannten Tatsache, dass eine Autobiografie immer auch Elemente der Fiktion

enthält und dass es sich keinesfalls um reine objektive Realitätsbeschreibungen

handeln kann. Im Sinne einer Rechenschaftsablegung wird die

109

Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 97. 110

Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 199. 111

Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11). 112

Radegundis Stolze: Hermeneutik und Translation. Gunter Narr: Tübingen 2003, S. 174. 113

Vgl. ebd. (Anm. 112)

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Entwicklungsgeschichte eines Individuums verhandelt.114 Thomas Bernhard greift in

seinen autobiografischen Romanen auf Michel de Montaigne zurück:

Montaigne schreibt […] es gibt nichts Schwierigeres, aber auch nichts Nützlicheres, als die Selbstbeschreibung. Man muß sich prüfen, muß sich selber befehlen und an den richtigen Platz stellen. Dazu bin ich immer bereit, denn ich beschreibe mich immer und ich beschreibe nicht meine Taten, sondern mein Wesen […]. Und weiter: wenn ich mich

kennenlerne, wie ich wirklich bin, mache ich eine Bestandsaufnahme von mir.115

Durch die Anwendung dieser Erkenntnismethode gibt Bernhard an, dass er sein

eigenes Selbstverständnis, das seiner subjektiv erlebten Realität bzw. seinem

subjektiven Wesen entspricht, beschreibt. Das beschriebene Leben wird jedoch

nicht immer zum vorbildlichen Entwicklungsroman. Es wird in der Retrospektive die

Entfaltung und das Werden des Individuums verdeutlicht und das entwickelte

Selbstbewusstsein kann zum Beispiel das Erleben von Leid in „Leidensstolz“116

verwandeln. Die Theorie der Autobiografie als „Mitteilungsgeschehen“ verdeutlicht,

dass es sich immer um die gewünschte Selbstdarstellung des Autobiografen/der

Autobiografin handelt, wobei Elemente der eigenen Biografie verwandelt, verdrängt

oder ausgeschmückt werden. In der Auseinandersetzung mit der Umwelt wird auch

auf vorherrschende schicht-, gruppen- oder zeittypische Elemente zurückgegriffen.

Die Analyse soll durch den Vergleich der beiden Autobiografien zeigen, ob sich

Elemente der Kindheit- und Jugend finden lassen, die sich als typisch für eine

spätere Autorenlaufbahn erweisen. Die typischen und auch die variierenden

Elemente von Künstlerkonzeptionen werden im folgenden Kapitel behandelt. Die

Theorieforschungsrichtung der Biografie als „Mitteilungsgeschehen“ wirkt sich auf

die Analyse unter anderem durch die Annahme aus, dass jede Autobiografie

„sowohl durch Tradition als auch durch individuellen Stil geprägt“117 ist. Deshalb ist

ein erklärtes Ziel der Analyse auch, traditionelle als auch individuelle Elemente der

Künstlerautobiografie bzw. der Inszenierung des Künstlerlebens herauszufiltern, um

zu einem genaueren Verständnis der Autobiografien dieser Zeit zu gelangen.

114

Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 79. 115

Thomas Bernhard: Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg: Residenz 1975, S. 82-84. 116

Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 81. 117

Ebd. (Anm. 15), S. 81.

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3) DIE INSZENIERUNG DES KÜNSTLERDASEINS:

Künstlerkonzeptionen und Künstlerbilder

Die deutschsprachige Künstlerbiografie wird, wie die Biografie im angelsächsischen

Raum, als eine lebendige kulturelle Praxis betrachtet.118 Autobiografien bieten

Lebensentwürfe, die in einer Kultur zum Ideal avancieren können:

Biographien bieten die Möglichkeit, vorbildhafte Lebensentwürfe zu gestalten, erlauben auf diese Weise, sich des eigenen Selbst zu vergewissern und spiegeln so stets herrschende Individualitätsauffassungen und -ideale. Diese Ideale werden dabei in einer spezifischen Form und zu einem bestimmten Zeitpunkt […] vermittelt.119

Wenn es sich beim Autobiografen/bei der Autobiografin um einen Künstler/eine

Künstlerin handelt, egal welcher Kunstsparte wie z. B. um einen Literaten/eine

Literatin, einen Musiker/eine Musikerin oder eine/n bildende Künstlerin/bildenden

Künstler, dann werden diese herrschenden Individualitätsauffassungen und -ideale

zu Künstlerbildern bzw. Künstlerkonzeptionen. Diese Künstlerbilder und

Künstlerkonzeptionen ändern sich jedoch mit der Zeit. Man kann auch von einem

„Rätsel des Künstlerdaseins“ sprechen, wobei davon ausgegangen wird, dass

bestimmte Fähigkeiten und Veranlagungen beim Künstler/bei der Künstlerin

vorhanden sein müssen und dass auch die Umwelt einen gewissen Einfluss

ausübe, dass aber diese Fähigkeiten und dieser Einfluss nicht genau ein für alle Mal

festgelegt werden können. Bezogen auf die Umwelt besteht die Annahme, dass der

Künstler/die Künstlerin einen Einfluss auf die Umwelt habe, aber auch dass die

Umwelt sich auf das Künstlerleben auswirke.120 Es bestehe somit zwischen dem

Künstler/der Künstlerin und der umgebenden Umwelt eine wechselseitige

Abhängigkeit. Die Summe der Eigenschaften, die einem Talent zugesprochen

werden, sind mannigfachen Anpassungen unterworfen und teilweise lediglich aus

der geschichtlichen Situation zu verstehen.121 Da in dieser Arbeit die Autobiografien

von Bernhard und Canetti zur Analyse herangezogen werden, die die frühesten

118

Vgl. Lukas Werner: Regionale Entwicklungen. Deutschsprachige Biographik. In: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 265. 119

Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 265. 120

Vgl. Ernst Kris und Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 21. 121

Vgl. ebd. (Anm. 120), S. 21.

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Kindheits- und Jugenderinnerungen behandeln, stellt sich die Frage, warum gerade

dieser Zeitabschnitt des Lebens herangezogen wird und ob nicht die Lebenszeit der

Autoren, in denen sie schon aktiv als Autor tätig gewesen sind, für die

Herausbildung einer Künstlerkonzeption bedeutender wäre. Zur Legitimation dieser

Vorgangsweise kann festgehalten werden, dass gerade dieser Zeitabschnitt als

besonders aussagekräftig angesehen wird.122 Diesbezüglich kann man sich auf

zwei Anschauungen berufen. Die erste Anschauung behandelt diesen Zeitabschnitt

als Vorgeschichte im Sinne einer kausalen Abhängigkeit für das spätere Autoren-

bzw. Künstlerleben. Sie:

[…] besagt, daß gerade die Ereignisse der Kindheit für die zukünftige Entwicklung des Menschen von entscheidender Bedeutung seien; sie hat darum frühzeitig das Walten des Schicksals im Leben großer Gestalten der Menschheitsgeschichte nachzuweisen versucht.123

Die zweite Anschauung betrachtet die Zeit des Heranwachsenden nicht als

Vorgeschichte, sondern einzelne Elemente der Geschichte werden als Vorzeichen

angesehen:

[…] sie sucht schon den Erlebnissen des Kindes den Hinweis auf seine künftigen Leistungen zu entnehmen und ist bereit, sie als Zeugen seiner früh vollendeten Eigenart zu betrachten.124

Deshalb ist es ein Ziel dieser Arbeit, in der Analyse bestimmte Vorzeichen im Text

für das spätere Schaffen als Künstler bzw. als Autor herauszufinden. Die zweite

Anschauung ist umfassender und auch unproblematischer als die erste, denn

retrospektiv nach kausalen Abhängigkeiten zu suchen ist zwar typisch, um

bestimmten Ereignissen nachträglich Sinn zu verleihen, doch es ist auf jeden Fall

schwieriger, Elemente des Lebens in eine kausale Abhängigkeit zu bringen, als sie

lediglich als Vorzeichen zu behandeln. Es muss aber in Bezug auf diese beiden

Anschauungen festgehalten werden, dass sie einander gegenseitig berühren und

ineinander übergehen und sie somit nicht leicht zu trennen sind. In

Künstlerbiografien der Antike ringt die Begabung des Kindes meist schon sehr früh

nach Ausdruck und sie kommt meist schnell an das Licht und zieht die

122

Vgl. ebd. (Anm. 120), S. 21. 123

Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 37. 124

Ebd. (Anm. 120), S. 37.

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Aufmerksamkeit anderer auf sich.125 Dieser Sachverhalt ist in vielen modernen

Autobiografien auch noch zu finden, doch er tritt nur teilweise und in zahlreichen

Abwandlungen wieder in den Vordergrund. Wichtig ist anzumerken, dass die

Inszenierungen des Künstlerlebens wiederum von kulturellen und somit auch von

historischen Faktoren abhängen, die sich ebenfalls auf das Selbstverständnis des

Künstlers/der Künstlerin auswirken.126 In der Antike und im frühen Mittelalter habe

es im Vergleich zu heutigen Künstlerbiografien noch größere Unterschiede

zwischen den Kunstdisziplinen gegeben. Denn zu dieser Zeit habe man die

Schriftstellerei noch nicht als manuelle Kunstfertigkeit angesehen, sondern als eine

würdige Tätigkeit, der jeder angesehene freie Mann nachgehe.127 In modernen

Künstlerbiografien werden selbstverständlich Schriftsteller/Schriftstellerinnen

ebenfalls als Künstler/Künstlerinnen angesehen. Die Vorzeichen in den Texten für

das spätere Schaffen als Künstler/Künstlerin unterscheiden sich hinsichtlich der

Zugehörigkeit zu den verschiedenen Kunstdisziplinen. Im späten 18. Jahrhundert

bzw. im frühen 19. Jahrhundert habe sich im Gegensatz zu früheren Zeiten die

Vorstellung vom „ganzen Künstler“/von der „ganzen Künstlerin“ durchgesetzt. Das

bedeutet, dass es sich um besondere Menschen handle, die aufgrund ihres Talents

und ihren Gaben in jeder Hinsicht dem Bild eines Künstlers/einer Künstlerin

entsprächen. Dadurch sei auch ihr Leben und damit auch die Lebensbeschreibung

von der Aufgabe bzw. Sendung, künstlerisch zu wirken, voll und ganz

durchdrungen.128 Zu dieser Zeit habe es noch die herrschende Auffassung

gegeben, dass das Leben selbst nicht als Kunstwerk anzusehen ist und dass das

Leben des Künstlers/der Künstlerin lediglich dem Kunstwerk diene. Mit der

Romantik setze sich dann nach und nach die noch heute prägende Vorstellung

durch, dass das Leben und das Werk des Künstlers/der Künstlerin untrennbar

miteinander verbunden seien. Daraus folge, dass das Leben des Künstlers/der

Künstlerin selbst als Kunstwerk betrachtet werden kann.129 Über den klassischen

Bereich der Autobiografie hinaus gehe der zunehmend öffentliche Blick auf die

Persönlichkeit des Künstlers/der Künstlerin. Der künstlerische Ausdruck werde

125

Vgl. ebd. (Anm. 120), S. 51. 126

Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 14. 127

Vgl. Günther Binding: Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als ,sapiens architectus´. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 160-177. 128

Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 17. 129

Vgl. ebd. (Anm. 10), S. 8.

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sowohl im Leben als auch im Werk gesucht bzw. gefunden und das Leben sehe

man gleichberechtigt mit dem Werk als Medium des Künstlertums. Bei

Künstlerkonzeptionen sei der künstlerische Ausdruck im Lebensverlauf als ebenso

bedeutend anzusehen wie das Werk. Neben dem Leben und dem Werk des

Künstlers/der Künstlerin gebe es noch eine dritte Dimension, die für die

Künstlerkonzeption von Bedeutung erscheint. Diese ist das für die Öffentlichkeit

inszenierte Leben, das eben nicht das gesamte Leben umfassen könne.130 An

dieser Stelle stellt sich die Frage, was man in diesem Zusammenhang unter

Inszenierung verstehen kann. Nach einem Text von Wolfgang Iser wird die

Inszenierung als der „unablässige […] Versuch des Menschen, sich selbst zu

stellen“131 bzw. als die „Institution menschlicher Selbstauslegung“132 bestimmt. Bei

der Inszenierung gibt sich der betreffende Mensch gegenüber der Öffentlichkeit so,

wie er/sie denkt, dass er/sie ist bzw. wie er/sie gesehen werden möchte.

Inszenierungen werden oftmals gar nicht als solche wahrgenommen, sondern als

ungestellte Lebensvorgänge. Erika Fischer-Lichte verdeutlicht mit der folgenden

Ausführung recht treffend, was man genau unter einer Inszenierung außerhalb der

Theaterwahrnehmung verstehen kann:

Der Mensch tritt sich selbst – oder einem anderen – gegenüber, um ein Bild von sich als einem anderen zu entwerfen und zur Erscheinung zu bringen, das er mit den Augen eines anderen wahrnimmt bzw. in den Augen eines anderen reflektiert sieht.133

So könnte man eine Autobiografie und auch die öffentlichen Auftritte von

Autoren/Autorinnen oder anderen Künstler/Künstlerinnen als bewusste wie auch als

unbewusste Inszenierungen des eigenen Lebens ansehen. Daraus ergibt sich die

Lebensbeschreibung bzw. das Auftreten, das der Künstler/die Künstlerin intendiert.

Dabei gilt das Verhältnis von der eigentlichen Privatheit zur öffentlich zur Schau

gestellten bzw. inszenierten Privatheit als Problem der Gattung Autobiografie. Es

kann aber als Funktion der Autobiografie angesehen werden, hinter das öffentliche

Bild des Künstlers/der Künstlerin zu schauen, indem man durch die erzählten

130

Vgl. ebd. (Anm. 10), S. 10. 131

Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 525. 132

Ebd. (Anm. 131), S. 512. 133

Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung. In: dies. & Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen/Basel: Francke 2000, S. 21.

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Ereignisse beispielsweise aus der Kindheit und Jugend, die man durch die

Rezeption der Autobiografie erhält, die Persönlichkeit bzw. das Bild des

Künstlers/der Künstlerin, das dadurch vermittelt wird, kritisch hinterfragen kann.

Eine Autobiografie begünstigt zusätzlich zum öffentlich inszenierten Leben eines

Künstlers/einer Künstlerin die Schaffung einer biografischen Legende.134

Bei einer Künstlerkonzeption ist die Trennung von öffentlichem und privatem Leben

bzw. Selbst nicht möglich bzw. nicht erlaubt. Die Darstellung des Künstlerhabitus

setzt sich sowohl aus relativ konstanten als auch aus von Epoche zu Epoche

variierenden Elementen zusammen. In der Analysetätigkeit dieser Arbeit werden die

Texte auf konstante und auch auf variierende Künstlerelemente untersucht. Ernst

Kris und Otto Kurz haben in ihrem Werk über „die Legende vom Künstler“

festgestellt, dass sich die Topoi: „das frühe Talent“, „die Virtuosität“ als auch „die

Überlegenheit und die Außergewöhnlichkeit der Künstlerpersönlichkeit“ gegenüber

anderen Menschen als erstaunlich konstant erweisen.135 Die spezifischen,

gesellschaftlich geprägten Erwartungsmuster bzw. der Künstlerhabitus sind nach

Christopher Laferl und Anja Tippner durch die konstanten Elemente der „Virtuosität“,

der „Genialität“, der „tiefer gehenden Weltsicht“ und auch durch „Extravaganz“

geprägt.136 Die Künstlerschaft ist somit mit bestimmten kulturell vorgeprägten

Elementen verbunden, die die Gesellschaft projiziert, wovon auch die

Autoren/Autorinnen einer Autobiografie nicht unbeeinflusst bleiben können, da kein

Mensch kulturlos ist und somit immer bewusst als auch unbewusst geprägt wird von

den Vorstellungen einer Gesellschaft. Neben diesen erwähnten grundlegenden

Elementen, die meist konstant sind, gibt es eben auch Elemente, die variieren.

Um die spezifischen variierenden Elemente der zwei Autobiografien in der

Analysearbeit herauszufinden, werden diese Werke nach vier Kriterien analysiert,

die nach John Clausen137 der Entwicklung des Lebenslaufes zugrunde liegen. Die

vier Komponenten bestehen aus den „persönlichen Ressourcen“ wie zum Beispiel

„Intelligenz“, „Aussehen“, „Stärke“, „Gesundheit“ und „Temperament“, aus den

Ressourcen an „Unterstützung und Anleitung“, aus dem „Zugang zu

134 Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 10. 135

Vgl. Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 123-124, S. 131. 136

Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 7. 137

John A. Clausen: Die gesellschaftliche Konstitution individueller Lebensläufe. In: Klaus Hurrelmann: Sozialisation und Lebenslauf. Hamburg: Rowohlt 1980, S. 207.

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36

Lebenschancen“ und aus den „persönlichen Bemühungen und Anstrengungen“.138

Denn gerade die Autobiografie verdeutlicht, dass die Entwicklung des Menschen

geprägt ist von persönlichen Entscheidungen, von der Willenskraft, vom Ehrgeiz

und von den Bemühungen des Einzelnen.139 Im Weiteren wird in Bezug auf die

soziologische Biografieforschung als variierende Elemente des Künstlertums die

soziale Umgebung genauer untersucht wie z. B. die Stellung der Familie, die

Hauptbezugspersonen und damit auch das Ausmaß an Unterstützung und

Anleitung bzw. den dadurch in gewissen Umfang gegebenen Zugang zu

bestimmten Lebenschancen.

138

Vgl. ebd. (Anm. 137), S. 207. 139

Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 17.

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37

4) ANALYSEN Der Analyseteil der vorliegenden Arbeit ist in drei Abschnitte geteilt.

Im ersten Abschnitt finden sich grundlegende Darstellungen zur Primärliteratur. Zu

beiden Werken, die analysiert werden, gibt es eine kurze Einführung, eine

Inhaltsangabe und Informationen zum Leben des Autors. Dann wird zu jedem Werk

die Stellung dieser autobiografischen Schrift im Gesamtwerk des Autors behandelt;

abschließend wird ein Überblick über die Forschungsliteratur mit einem

Forschungsbericht zur autobiografischen Erzählung „Ein Kind“ bzw. zum Werk „Die

gerettete Zunge“ gegeben.

Der zweite Abschnitt enthält die erzähltheoretische Analyse, diese ist wiederum in

drei Abschnitte geteilt. Zuerst werden die Werke einzeln analysiert; danach werden

erzähltheoretische Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Thomas Bernhards

„Ein Kind“ und Elias Canettis „Die gerettete Zunge“ herausgearbeitet.

Im dritten Abschnitt werden die Werke hermeneutisch-interpretativ analysiert, mit

Blick auf die konstanten und auch auf die variierenden Elemente der Inszenierung

des Künstlerdaseins. Dieser Abschnitt beinhaltet dieselbe Aufteilung, indem vorerst

die Werke getrennt voneinander behandelt und untersucht und abschließend sie

verglichen werden.

4.1) Analysegrundlagen:Primärliteratur

4.1.1) Thomas Bernhards „Ein Kind“: Einführung und Inhalt

Das Werk „Ein Kind“ von Thomas Bernhard ist eine autobiografische Erzählung, die

zusammen mit vier anderen autobiografischen Bänden die gesamte Kindheits- und

Jugendautobiografie von Thomas Bernhard ergibt.

Es handelt sich dabei um die frühesten Kindheitserinnerungen des Autors und es

stellt ein wichtiges Werk im Bezug auf die Inszenierung seines Künstlerdaseins dar.

Nach Mittermayer greifen vor allem bei Bernhard Leben und Werk auf komplizierte

Weise ineinander.140 Da einige Hauptfiguren bei Thomas Bernhard auch in seinen

Romanen, die nicht explizit als autobiografisch gekennzeichnet sind, seinem

eigenen Lebensstil eigentümlich nahe kommen und auch aufgrund der Nähe vieler

140

Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S. 8.

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seiner Texte zu realen Personen und Ereignissen, ist der Vergleich zwischen

Wirklichkeit und Fiktion äußerst reizvoll aber auch schwierig.141 Dieser Vergleich,

den durch die vorangehende Lektüre der autobiografischen Erzählungen viele

Leser/Leserinnen auch bei anderen Werken des Autors anstellen, macht die

Autobiografie besonders interessant, wobei man lediglich feststellen kann, dass es

sich dabei um die inszenierte Künstlerschaft handelt. Wir erhalten lediglich ein Bild,

das er den Lesern/den Leserinnen vermitteln wollte. Bernhards Bücher sind somit

keineswegs reine Selbstbeschreibungen und auch seine Auftritte in der

Öffentlichkeit waren nicht gänzlich frei von Stilisierung und Ironie:

So erweist sich Bernhard als virtuoser Theatermacher, sein Werk als Vexierspiel

zwischen existenzieller Betroffenheit und Ironie.142

Ein Autorenkollege, Wieland Schmied, der entscheidend war für Thomas Bernhards

Durchbruch, später unter anderem Professor für Kunstgeschichte ist und zu den

wichtigsten Persönlichkeiten des deutschen Kunstbetriebs gezählt werden kann,

formuliert die Beziehung zwischen Bernhards Leben und seinem Werk

folgendermaßen:

Sein Leben ist sein Werk, und sein Werk ist sein Leben. Manchmal sind Masken eingeführt in seiner Prosa, aber die sind ja fast transparent. […] Wenn es Orte sind oder andere Personen, die auftauchen, ist es manchmal so, daß die Erfahrungen von zwei oder drei Orten in einem zusammengefaßt sind. Zwei oder drei Menschen sind in einer Figur zusammengefaßt. Aber er war kein Phantast und er war kein großer Erfinder.143

Diese Aussage entspricht auch der Feststellung, dass das Leben und die Werke

untrennbar miteinander verknüpft sind und insgesamt kann die Verstrickung und

somit das Leben und auch die Werke des Künstlers in der Gesamtheit und im

Einzelnen als Kunstwerk angesehen werden. Der autobiografische Band „Ein Kind“

stellt den Analysegegenstand dar und deshalb wird im Folgenden kurz der Inhalt

zusammengefasst.

Das Werk „Ein Kind“ beginnt mit der Beschreibung eines Abenteuers des

achtjährigen Thomas, der erstmals mit einem Steyr-Waffenrad fährt und gleich

voller Ehrgeiz von der Wohnung am Taubenmarkt in Traunstein bis nach Salzburg

141

Vgl. ebd. (Anm. 26), S. 8. 142

Ebd. (Anm. 26), S. 8 143

Zitiert nach: Krista Fleischmann: Thomas Bernhard- Eine Erinnerung. Interviews zur Person. Wien: Edition 1992, S. 14. und 16.

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zu seiner Tante Fanny fahren will, wobei er aber stürzt und seine Fahrt nicht

fortsetzen kann. Als er mitten in der Nacht nachhause kommt, traut er sich nicht zu

seiner Mutter und geht stattdessen zu seinem innig geliebten Großvater

mütterlicherseits. Zwischen dieser Erzählung und der anschließenden Rettung aus

dieser misslichen Lage durch den Großvater werden viele Gedanken und

Meinungen des Großvaters und Beschimpfungen der Mutter, wiedergegeben. Durch

die Beschimpfungen zeigt sich die Überforderung der Mutter. Es wird auch eine

Beschreibung der Wohnumgebung abgegeben. Die Großeltern wohnen in dieser

Zeit in einem Haus von Bauersleuten, die einen Enkel in seinem Alter haben. Dieser

Schorschi ist ein guter Freund von Thomas. Anschließend wird vorausblickend das

letzte Treffen des Erzählers mit Schorschi als Erwachsener beschrieben. Darauf

folgt ein Rückblick auf die Kindheit mit Schorschi und ein Schwenk zurück auf die

Waffenradgeschichte. Es wird auch auf das schlechte Verhältnis der Mutter zu

seinem Vater, den er nicht kennt, eingegangen. Von tiefgehenden Verletzungen des

Ichs durch verletzende Worte der Mutter wird ausführlich berichtet. Er wird als

schlechter Schüler dargestellt, der sich in der Schule langweilt, wobei der Großvater

immer von der Überdurchschnittlichkeit des Enkels überzeugt ist. Auf viele

Kindheitserlebnisse folgt ein Ausblick auf die Zukunft des Protagonisten. Es wird

somit oft zwischen den Zeitebenen hin- und hergewechselt. Verwandte werden

einzeln vorgestellt bzw. charakterisiert und die Familienkonstellation wird im Laufe

der Erzählung erläutert. Etwas später in der Erzählung folgt der Rückblick auf seine

Geburt und auf seine ersten Lebenswochen, die er als Pflegekind auf einem

Fischhafen in Rotterdam verbringt, da seine Mutter arbeiten muss. Nach den

Erzählungen von einzelnen Kindheitserinnerungen und Erlebnissen wird jeweils

verdeutlicht, wie diese seine Lebensgeschichte in weiterer Folge prägen. Dem

ersten Hollandjahr folgen zwei Jahre in Wien und von seinem dritten bis zum

siebenten Lebensjahr lebt er in Bayern und in Salzburg. Oftmals handelt die

Erzählung von gemeinsamen Spaziergängen mit dem Großvater und von der

Beschreibung von dessen schriftstellerischen Tätigkeiten. Als kleines Kind stirbt ein

guter Freund des Erzählers vierjährig an einer unerklärlichen Krankheit. In dem

darauffolgenden Zeitabschnitt am „Hippingerhof“ wird er bereits mit fünf Jahren

eingeschult. Im ersten Schuljahr ist er ein Musterschüler, das sich in den folgenden

Jahren durch Desinteresse und ungeeignetem Lehrpersonal ändert. Der

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anschließende Umzug nach Traunstein (Bayern) fällt ihm schwer. In dieser Zeit

prägen ihn Selbstmordgedanken und er wird zum Bettnässer. Dies hat eine

Einweisung in ein Erholungsheim in Saalfeld, das sich als Erziehungsheim für

Schwererziehbare entpuppt, zur Folge. Die historischen Rahmenbedingungen der

Nazizeit bzw. des angehenden Zweiten Weltkrieges finden auch ihre Behandlung.

Der Großvater ist ständig auf der Suche nach einer Kunstbeschäftigung für Thomas,

wobei zuerst durch eine Staffelei die Malkunst und auch später durch

Geigenunterricht die Musikkunst sein großes Talent entfalten soll. Er brilliert als

Sportler bzw. als Läufer im „Jungvolk“ und lässt sich gern als Held feiern. Dadurch

bessert sich auch seine psychische Konstitution. Aufgrund der angespannten

finanziellen Situation arbeitet er als Schüler bei einem Bäcker und er läutet die

Kirchenglocke für einen Pfarrer. Die Erzählung endet mit der Schulsuche für die

fortlaufende Schullaufbahn, wobei er einen Aufnahmetest für die Handelsakademie

in Passau absolviert. Diesen besteht er mit Auszeichnung, doch dem Großvater

gefällt die Schulanstalt nicht und bestimmt für ihn als Schulstadt Salzburg.

4.1.1.1) Der Autor Thomas Bernhard

Der lebensgeschichtliche Hintergrund des österreichischen Autors, der am 9.

Februar 1931 in Heerlen (Holland) geboren ist, ist für diese Zeit nicht ungewöhnlich.

Bernhards Kindheit als uneheliches Kind wird kurzgefasst als traumatisierend bzw.

als schwierig dargestellt.

Seinen leiblichen Vater lernt Bernhard nicht kennen, er wächst bei seiner Mutter und

seinen Großeltern mütterlicherseits auf. Seine Großeltern sind für ihn wichtige

Bezugspersonen, vor allem sein Großvater mütterlicherseits Johannes

Freumbichler, der auch Schriftsteller ist, wird für seinen Lebensweg als bedeutend

und prägend beschrieben.144 Der junge Bernhard durchläuft zunächst die

staatlichen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen in der Zeit des autoritären

österreichischen Ständestaats und ab der Übersiedlung nach Deutschland zum

Jahreswechsel 1937/38 macht er Erfahrungen mit Heimen und Schulen des NS-

Staats.145 In seinen autobiografischen Schriften scheut er sich auch nicht, die

144

Vgl. Hans Höller: Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 34-35. 145

Vgl. ebd. (Anm. 144), S. 18.

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Schrecken des Krieges und des Nationalsozialismus durch eigene Erfahrungen

darzustellen. Von 1951 bis 1954 studierte er Musik in Salzburg und Wien und ab

1957 lebte er als freier Schriftsteller. Thomas Bernhard war zeitlebens lungenkrank

und diese Krankheit spiegelt sich in vielen seiner Werke wider.146 Er starb am 12.

Februar 1989 in Gmunden. Er verbrachte den Großteil seines Lebens in seiner

Heimat und so wird bei Bernhard von einem österreichischen Autor und von

österreichischer Literatur gesprochen.147

Seine Kindheits- und Jugendbiografie ist zwar im Faktischen nicht sehr zuverlässig,

doch die literarische Sprache vermittelt indirekt über die Bilder, worauf es ihm

ankommt, nämlich die Vermittlung „[der] tiefgehende[n] Verletzung eines Ich durch

die staatlichen Institutionen.“148 Nach Judex ist ein zentraler Aspekt dieser

autobiografischer Schriften die:

[...] Selbstgewinnung des Ichs durch die Arbeit an der Sprache, die durch das Schreiben ermöglichte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.149

4.1.1.2) Zur Stellung der autobiografischen Erzählung „Ein Kind“ im Gesamtwerk Bernhards

Die autobiografischen Schriften wirken sich auf die Rezeption seiner anderen Werke

aus, da viele Protagonisten den Personen in seinen autobiografischen Texten sehr

ähnlich sind. Nach Judex führt die Erinnerungsarbeit, also die Arbeit an seinen

autobiografischen Schriften, zu einer veränderten Erzählperspektive und zu einem

neuen Stil in Bernhards genuin fiktionalen Texten.150 Somit wirken sich diese Texte

nicht nur allein durch die veränderte Rezeptionsmöglichkeit der Leser/der

Leserinnen auf die anderen genuin fiktiven Texte aus, sondern die Arbeit an den

Werken selbst veränderte seinen Schreibstil, „der hinter dem sprechenden Ich dem

Autor zum Vorschein bringt und den Erzähler zugunsten der Hauptfigur verdrängt

146

Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S. 9-11. 147

Vgl. Guoquing Feng: Kreisel für Erwachsene: zur Kürzestprosa in der Gegenwartsliteratur in Österreich: Thomas Bernhard, Elias Canetti und Erich Fried. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang 1993, S. 22. 148

Höller: Thomas Bernhard (Anm. 144), S. 18. 149

Bernhard Judex: Thomas Bernhard. Epoche, Werk, Wirkung. München: C.H. Beck 2010, S. 96. 150

Vgl. Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 96.

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bzw. beide miteinander verschmilzt.“151 Bei Thomas Bernhard nimmt, der

Forschungsliteratur zufolge, das Thema der Erforschung der eigenen

Herkunftsbedingungen, somit die Arbeit an der eigenen Geschichte, bereits in den

späten 1960er Jahren eine Schlüsselstellung ein.152 Seit dieser Zeit spielen Themen

wie die Beschäftigung mit der Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit oder

Existenzforschung bzw. die Aufarbeitung des Herkunftskomplexes eine bedeutende

Rolle. Dabei sollte man aber vor allem in Hinblick auf die autobiografischen

Erzählungen, Begriffe wie authentisch oder unmittelbar, durch konstruiert oder

inszeniert ersetzen.153 Vor allem deshalb, da die aufgezeichneten Lebensdaten des

Autors zeigen, dass vieles nicht authentisch nacherzählt wurde, sondern fiktiv

konstruiert bzw. inszeniert wurde. Der Erzähler in Thomas Bernhards Autobiografie

weist im Schlussteil des zweiten autobiografischen Werks „der Keller“ mit

Interpretationsspielraum auf die fiktiven Inszenierungen hin:

Ich darf nicht leugnen, daß ich auch immer zwei Existenzen geführt habe, eine, die der Wahrheit am nächsten kommt und die als Wirklichkeit zu bezeichnen ich tatsächlich ein Recht habe, und eine gespielte, beide zusammen haben mit der Zeit eine mich am Leben haltende Existenz ergeben.154

Diese Passage verdeutlicht, wie Thomas Bernhard mit der Fiktion in seinen

autobiografischen Erzählungen gespielt hat. Diese Haltung könnte man als

Schutzmechanismus interpretieren, damit nicht Elemente der Lebensgeschichte an

die Öffentlichkeit kommen, die ihm unangenehm sind. Dass die fiktive literarische

Wahrheit und die empirische Wahrheit eine ihm am Leben erhaltende Existenz

ergeben haben, könnte ein Grund sein, warum diese autobiografischen Züge bei

den fiktiven Personen seiner Texte immer wieder vorkommen. Es handelt sich also

um eine konstruierte Inszenierung seiner Lebensgeschichte, die natürlich einerseits

Einfluss hat auf die Rezeption seiner Texte und andererseits, wie schon

angesprochen, Auswirkungen auf den Schreibstil und auf die Themenkomplexe in

151

Ebd. (Anm. 149), S. 96. 152

Vgl. Manfred Mittermayer: „Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ - Ausgangspunkte einer Biographie über Thomas Bernhard. In: Christopher Laferl und Anja Tippner (Hg.): Leben als Kunstwerk. Künstlerbiografien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard. Bielefeld: transcript 2011, S. 86. 153

Vgl. Christian Klein: Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: ders. (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart/Weimer: Metzler 2002, S. 1-22. 154

Thomas Bernhard: Der Keller. In: Martin Huber und Manfred Mittermayer (Hg.): Thomas Bernhard. Werkausgabe. Die Autobiografie (Bd.10). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 203-204.

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seinen anderen Werken zeigen. So könnte man sagen, dass Thomas Bernhard in

der Öffentlichkeit lediglich als Kunstfigur bekannt ist, die er selbst durch seine

Schriften und durch seine Aussagen in der Öffentlichkeit erschaffen hat. Deshalb

kann man bei Bernhards Leben von einem konstruierten Leben, das in der

Gesamtheit zum Kunstwerk erhoben wird, sprechen. Von Jochen Jung, Bernhards

Salzburger Verleger, ist eine Anekdote überliefert, die zeigt, wie er mit diesen

bewusst eingesetzten Identitäten gespielt hat. Nach dieser hat Bernhard ihm bei

einem seiner Besuche im Hinblick auf seine autobiografischen Erzählungen

angekündigt, dass er vielleicht noch erzähle, wie es damals wirklich gewesen sei.155

Durch den bewussten Einsatz erzählerischer Mittel ist die Erinnerungsarbeit somit

von einer „kunstvollen Stilisierungs- und Literarisierungstendenz“156 geprägt, der

vielfache Bezüge zur realen Lebensgeschichte zugrunde liegen, aber wodurch

dennoch vieles verschleiert und auf andere Art und Weise dargestellt wird. Nach

Christian Klug spielen autobiografische Ereignisse auch in seinen anderen genuin

fiktionalen Werken eine Rolle:

Die meisten Texte Bernhards handeln von einem biografischen Ereignis, das für das weitere Leben eines Protagonisten entscheidend gewesen ist.157

Dabei erscheinen vor allem „Fragen nach dem Sinn des gelebten Lebens und nach

der Zufälligkeit oder Zwangsläufigkeit, mit der es abgelaufen ist“158 vordergründig.

Mit der These Christian Kleins könnte man bei der Aufarbeitung von biografischen

Erlebnissen und Ereignissen von einer Bewältigungsarbeit bzw. Erinnerungsarbeit

der eigenen Existenz sprechen. Diese Verflechtung von Werk und der inszenierten

Lebensgeschichte des Autors macht die Rezeption und die Interpretation von

Bernhards Werken für den Leser/die Leserin äußerst schwierig, aber auch

interessant. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass den autobiografischen

Schriften ein bedeutender Stellenwert zugewiesen werden kann, da diese Werke

die Rezeption der anderen Werke maßgeblich beeinflussen.

155

Vgl. Manfred Mittermayer: Der Wahrheitsgehalt der Lüge. Thomas Bernhards autobiographische Inszenierungen. In: Bernhard Fetz und Hannes Schweiger (Hg.): Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Wien: Zsolnay 2006, S. 83. 156

Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 105. 157

Christian Klug: Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart: Metzler 1991, S. 112. 158

Ebd. (Anm. 157), S. 112

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4.1.1.3) Forschungsbericht zu Bernhards autobiografischer Erzählung „Ein Kind“

Das autobiografische Werk „Ein Kind“, das im Jahr 1982 erscheinen ist, ist

Gegenstand von unzähliger Forschungsliteratur zu Thomas Bernhard. Da der Autor

die Lebensgeschichte „literarisch formt und auf eine bestimmte Entwicklung hin

stilisiert“159, spricht die Forschung nicht von der Kindheits- und Jugendbiografie

Bernhards, sondern von autobiografischen Erzählungen zu diesem

Lebensabschnitt. Das dichterische Spiel mit der Wahrheit in seinen

autobiografischen Werken ist für Bernhard signifikant.160 Dieses Erzählwerk ist unter

„dem Aspekt der Poetizität“161 zu verstehen. Bei Bernhard bestimmt nicht so sehr

die mimetische Beschreibung oder Nacherzählung des Erlebten das Werk, sondern

vielmehr seine unverwechselbare Sprachverwendung, dessen äußere Struktur an

musikalische Stilmittel erinnert.162 Bernhard hat laut den Beschreibungen in „Ein

Kind“ schon früh die Macht des Wortes durch die Beschimpfungen bzw. verbalen

Verletzungen seiner Mutter erfahren.163 Einige Autoren haben darauf hingewiesen,

dass im Zentrum von Bernhards Schaffen die "virtuose […] Anstrengung mit der

Sprache“164 steht.

Das Werk beginnt mit der Erzählung des missglückten Fahrradausfluges. Bei dieser

eingangs erzählten Anekdote wird oftmals von einer Urszene seiner dichterischen

Existenz165 gesprochen. Denn sprachlich dichtet er das Scheitern in eine Heldentat

um und zeigt gleichzeitig, indem er sich sprachlich wehrt, die tiefgreifende Angst vor

Verletzungen durch seine Mutter und die Bedeutung des Großvaters als Beschützer

und Unterstützer. Dabei fällt auf, dass in allen fünf Bänden der autobiografischen

Werke, Vorgänge oftmals ähnlich ablaufen, wie die so eben kurz beschriebene

Eingangszene aus „Ein Kind“:

159

Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S. 94 160

Vgl. Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 13. 161

Ebd. (Anm. 149), S. 105. 162

Vgl. ebd. (Anm. 149), S. 9. 163

Vgl. ebd. (Anm. 149), S. 107. 164

Burghard Damerau: Selbstbehauptungen und Grenzen. Zu Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 427. 165

Vgl. ebd. (Anm. 164), S. 96.

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Der Ausbruchsversuch zu Beginn von Ein Kind mit einem Fahrrad ist die symptomatische Vorwegnahme aller späteren Versuche, in die »entgegengesetzte Richtung« zu gehen.166

Bei diesen nach ähnlichem Muster ablaufenden Vorgängen handelt es sich immer

um problematische Entscheidungen.

In der Forschungsliteratur findet man den Hinweis, dass in Bernhards

autobiografischen Schriften der Fokus des Autors auf Krisen und Grenzsituationen

liege.167 Grenzsituationen und Krisen bleiben in Erinnerung und werden

anschließend zur autobiografischen Erzählung der Kindheit und Jugend verdichtet.

Bernhard erzählt im Band „Ein Kind“ die Geschichte von seiner Geburt bis zu

seinem 13. Lebensjahr. Er liefere aber keine Entwicklungsgeschichte im Sinn eines

Bildungsromans des 19. Jahrhunderts, sondern er schmücke tief prägende

Ereignisse aus und verpacke sie zu einer zusammenhängenden Erzählung.168 Es

wird auch auf die Ähnlichkeit bzw. auf die Nähe dieses Textes zu Initationsriten169

oder auch zu bekannten Schemata von Passionsgeschichten170 hingewiesen.

Zu seinen autobiografischen Erzählungen sind Entwürfe erhalten, die sehr gut seine

Arbeitsweise aufzeigen. So legte er großen Wert auf die Anfangsszene, um in einen

Schreibfluss zu kommen. Seine Aufzeichnungen bzw. Notizen zeigen, dass er

vorerst zentrale Szenen bzw. Erinnerungen vermerkt hat, die dann ausgebaut und

ausgeschmückt wurden. Zum Teil entfaltete er daraus Szenarios, in denen er sich

selbst sprachlich ausführlich gegen die als feindlich dargestellte Umwelt wehrt.171

Bernhards Lebenserzählung wird auch als „Biografie eines kulturellen Produktes“172

betrachtet. Diese Ansicht ergibt sich aus der Berücksichtigung der gesellschaftlich

historischen Rahmenbedingungen und des literarischen Kontextes. Es wird

angenommen, dass sich Bernhard nicht so sehr um Authentizität seiner

autobiografischen Schriften bemüht hat. Durch die bewussten Veränderungen und

166

Schmidt-Dengler: Auf dem Boden der Sicherheit und der Gleichgültigkeit (Anm. 6), S. 231. 167

Vgl. ebd. (Anm. 6) 168

Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 107. 169

Vgl. Reinhard Tschapke: Hölle und zurück. Das Initationsthema in den Jugenderinnerungen Thomas Bernhards. Hildesheim, Zürich, New York: G. Olms 1984, S. 94. 170

Vgl. Gerhard vom Hofe: Ecce Lazarus. Autor-Existenz und »Privat«- Metaphysik in Thomas Bernhards autobiographischen Schriften. In: duitse kroniek (Den Haag) 32. 1982, Heft 4, S. 18-36. 171

Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S. 95. 172

Gita Honegger: Thomas Bernhard. »Was ist das für ein Narr?« München: Propyläen 2003, S. 17.

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die Fiktionalisierung der Erlebnisse werden die Erzählungen vielmehr „zu einer

komplexen Auseinandersetzung des Ichs mit seinen historischen und sozialen

Lebensbedingungen“173. Mit dem Blick auf die Vergangenheit zeigt Bernhard ein

individuelles Schicksal auf und verarbeitet damit zugleich ein Stück

Zeitgeschichte.174 Die Bedingungen des Krieges und des NS-Terrors zeigen ihre

Auswirkungen bis in die Familienstrukturen und dies offenbart sich in der

deutschsprachigen Literatur bzw. in den deutschsprachigen Autobiografien der

1970er und 1980er Jahre. Die Verarbeitung der zeitgeschichtlichen Bedingungen

lässt sich in den autobiografischen Werken bei Bernhard und auch bei Canetti

ablesen. Auch die Vaterlosigkeit, die sich bei Bernhard und Canetti zeigt, ist ein

typisches Phänomen dieser Kriegsgenerationen.175

Das Werk „Ein Kind“ ist eigentlich der letzte Band der Pentalogie und führt somit

nachträglich an seine Ursprünge heran. Bernhard hat in seinen autobiografischen

Erzählungen den Großvater als das große „Ideal-Ich seiner Kindheit“176 dargestellt.

In „Ein Kind“ zeigt sich, dass der Großvater ihn früh, wie in einem klassischen

Bildungsroman, in den verschiedensten Künstlerspaten sieht und ihn auf eine

Künstlerlaufbahn vorbereitet.177 Es wird vermutet, dass der Großvater Johannes

Freumbichler, der selbst Schriftsteller war, alles auf den Enkel projiziert hat, dass

ihm selbst versagt geblieben war.178

Bernhard Judex nimmt an, dass Bernhard bewusst mit der Wirklichkeit gespielt hat

und im Weiteren muss die „Verfälschung der Wahrheit durch den Akt der

erinnernden Erzählung“179 anerkannt werden, damit die vorherrschende Ansicht der

Forschung Platz findet, dass es sich nicht einfach um Bernhards Rekonstruktion

seiner Vergangenheit handelt, sondern vielmehr um seine Interpretation.180

173

Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 105. 174

Vgl. ebd. (Anm. 149), S. 27. 175

Vgl. z. B. Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München: Piper 1963. Oder: Alois Brandstetter: Prosaische Annäherung an die Väter. Zu einem Motivboom in der österreichischen Gegenwartsliteratur. In: Friedrich Aspetsberger und Hubert Lengauer (Hg.): Zeit ohne Manifeste? Zur Literatur der 70er Jahre in Österreich. Wien: 1987, S. 191-198. 176

Höller: Thomas Bernhard (Anm. 144), S. 40. 177

Vgl. ebd. (Anm. 144), S. 40.

178 Vgl. Höller: Thomas Bernhard (Anm. 144), S. 40.

179 Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 106.

180 Vgl. z. B. Pascal: Die Autobiographie (Anm. 33), S. 32.

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Interpretationen zu Thomas Bernhards Werken erweisen sich als besonders

schwierig, denn durch „formal-ästhetische Verfahren wie Wiederholungen,

Übertreibungen und Widersprüche“181 verweigern sie sich einer eindeutigen

Interpretation. So wird in der Thomas Bernhard-Forschungsliteratur vor biografisch

verkürzten Deutungen gewarnt und stattdessen wendet man sich vermehrt dem

sprachlich-literarischen Inszenierungscharakter zu.182 Bernhard unterscheidet sich

durch die Methode „die Vergangenheit in der Gegenwart mitzudenken“ 183 von einer

klassischen Autobiografie. Er verbindet somit zwei Zeitebenen:

Vor ein paar Jahren habe ich ihn zum letzenmal gesehen, wir waren beide gerade fünfundvierzig, er war verrückt geworden und hatte das Haus seiner Großeltern, das

sie ihm vererbt hatte, zwei Jahre nicht mehr verlassen gehabt. (EK, S.32)

Zusätzlich unterläuft er auch ständig die Chronologie.184 Durch das Schreiben setzt

sich der Autor mit der Identitätsproblematik der Moderne auseinander und es führt

auch dazu, dass er über sich selbst im Rollenspiel reflektiert.185 Alfred Pfabigan

konstatiert auch, dass die autobiografischen Erzählungen seine Schreibhaltung

verändert haben.186 Seine autobiografischen Werke werden auch als individueller

„Bewältigungsversuch des Daseins durch das Schreiben“187 betrachtet. Andere

Forschungsrichtungen zur Autobiografie Thomas Bernhards sehen sie

differenzierter als „Prozess einer Ich-Werdung durch die sprachliche

Selbstermächtigung und Distanzierung von der Gesellschaft“188 oder als

„Widerstandskunst“189 bzw. als „Selbstbehauptung“190. Hermann Burger hat

Bernhards Methode seine autobiografischen Werke zu verfassen, folgendermaßen

prägnant formuliert:

181

Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 133. 182

Vgl. ebd.(Anm. 149), S. 109.

183 Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand

autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 103. 184

Vgl. Schmidt-Dengler: Auf dem Boden der Sicherheit und der Gleichgültigkeit (Anm. 6), S. 225.

185 Vgl. Willi Huntemann: Artistik und Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard. Würzburg:

Königshausen & Neumann 1990, S.14. 186

Vgl. Alfred Pfabigan: Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment. Wien: Zsolnay 1999. 187

Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 109. 188

Ebd. (Anm. 149), S. 109. 189

Hyun-Chon Cho: Wege zu einer Widerstandskunst im autobiographischen Werk von Thomas Bernhard. Frankfurt am Main: Lang 1995. 190

Damerau: Selbstbehauptungen und Grenzen (Anm. 164).

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Der Schriftsteller als Erfinder, Konstrukteur, nicht als »Stimmenimitator« von Realität. Um erfinderisch produktiv sein zu können, muß man das Seiende und das Gewesene zunächst einmal hartnäckig leugnen: Kindheit? Nie gehabt! Erst dann wird die Fiktion möglich, die präziser ist als die Chronologie zufälliger Ereignisse. Man erinnert sich sozusagen an das, was man geworden ist.191

4.1.2) Elias Canettis „Die gerettete Zunge“: Einführung und Inhalt

Elias Canettis Werk „Die gerettete Zunge“ stellt den Auftakt seiner dreiteiligen

Kinder- und Jugendbiografie dar, die mit „Die Fackel im Ohr“ und „Das Augenspiel“

fortgesetzt wird. Die frühen Jahre Elias Canettis, die durch seine dreiteilige

Autobiografie dargestellt werden, werden als fundamental für sein späteres Werk

angesehen.192 Es kann auch festgehalten werden, dass in den Erzählungen seiner

Kindheit und Jugend schon viele Ansichten wie z. B. zur Kunst enthalten sind, die

auch den späteren Canetti prägen.193 Als wichtiges Leitmotiv in Canettis Leben und

somit auch in seiner dreiteiligen Autobiografie kann sein Freiheitsdrang angesehen

werden. Dieser äußert sich unter anderem in einer Systemlosigkeit. Damit versteht

man die grundsätzliche Haltung Canettis, die sich in der Ablehnung einer

vollkommenen Befolgung bzw. Zuerkennung eines Glaubenssystems, einer

Institution oder einer geistigen Strömung äußert. Göbel formuliert diesen

Sachverhalt prägnant auf folgende Art und Weise aus:

Bei Canetti regiert stets der Zweifel mit und im Geistigen ebenso eine Mobilität, die sich nicht gerne bindet.194

Bei Elias Canetti zeigt sich eine ausgeprägte Individualität, die sich unter anderem

aus dem Zweifel an verschiedenen Institutionen ergibt. Seiner abwechslungsreichen

Kindheit und Jugend verdankt er es, dass er sich zu mehreren „Heimaten“

zugehörig fühlte, wobei bei Canetti auch der frühe Kontakt zu verschiedenen

Kulturen von Bedeutung erscheint.195 Eine weitere prägende Komponente in

Canettis Leben stellt der frühe Verlust von seinem Vater dar. Als Anstoß für die

191

Hermann Burger: Thomas Bernhards Kindheitsmuster. Tages-Anzeiger vom 12.6.1982. Zitiert nach: Jens Diettmar (Hg.): Thomas Bernhard. Werkgeschichte. Aktualisierte Neuausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 241. 192

Vgl. Helmuth Göbel: Elias Canetti. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005, S. 9. 193

Vgl. ebd.(Anm. 192), S. 9 194

Ebd. (Anm. 192), S. 9. 195

Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 9.

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autobiografischen Schriften werden die eigene Herkunftsfamilie und die zur

Erzählzeit eben neu gegründete Familie angesehen.196 Das Buch ist seinem Bruder

Georges gewidmet, wobei eine Anfangsmotivation auch in dessen Krankheit

gesehen werden kann, der in weiterer Folge im Jahr 1971, ein Jahr vor dem

Erscheinen seines ersten autobiografischen Werkes in Paris verstorben ist. Im

selben Jahr heiratete Elias Canetti seine zweite Frau Hera Buschor in London und

ein Jahr danach kam seine Tochter Johanna zur Welt. Diese neu gegründete

Familie und der daraus resultierende Wunsch der Tochter seine erlebte Welt

nachzuerzählen, wie er sie empfunden hat, wird oftmals als weiterer Anstoß für das

Schreiben seiner Autobiografie angesehen.197

Der Titel „Die gerettete Zunge“ stammt von seinem ersten Kindheitserlebnis, an das

er sich in seiner Autobiografie erinnert und dabei geht es um die Drohung ihm

würde die Zunge abgeschnitten werden, wenn er eine zufällig beobachtete

Liebesaffäre eines Kindermädchens verraten würde. In übertragener Bedeutung

könnte man den Titel auch als „gerettete Sprache“ verstehen und dieses Erlebnis

kann als Schlüsselerlebnis für seine spätere schriftstellerische Tätigkeit angesehen

werden. Dadurch ist bereits der Grundstein gelegt für die weitere intensive

Beschäftigung mit der Sprache in seinem Leben.198

Dieses autobiografische Werk ist in fünf Teile gegliedert. Der erste Teil umfasst die

Zeitspanne von 1905 bis 1911 und somit die ersten sechs Jahre seiner Kindheit in

Rustschuk. Dieser Zeitraum stellt sich als der längste heraus, in der er in seiner

gesamten Kindheit und Jugend am selben Ort bleibt.199 Dieser Teil beginnt mit

seiner frühesten Erinnerungsepisode „der geretteten Zunge“. In diesem werden die

Familienverhältnisse und das kulturelle Umfeld klar beschrieben. Vor allem seine

beiden Großväter werden hier genau dargestellt. Eine Schlüsselepisode stellt auch

das aggressive Losgehen des kleinen Elias auf die Kusine Laurica dar. Er verfolgt

sie mit einer Axt, da diese durch ein paar Jahre Vorsprung bereits Schulhefte mit

enthaltenen Buchstaben hat, die sie Elias vorenthält. Denn zu dieser Zeit empfindet

er schon eine große Faszination für Buchstaben. Die Kusine wirft ihn später als

196

Vgl. ebd. (Anm. 192), S. 128. 197

Vgl. ebd. (Anm. 192), S. 124. 198

Vgl. ebd. (Anm. 192), S. 16. 199

Vgl. ebd. (Anm. 192), S. 19.

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Rache in einen brühend heißen Heißwasserkessel. Tante Sophie rettet ihn daraus,

aber er muss dennoch danach einige Zeit sterbenskrank im Bett liegen. Der Vater,

der zu dieser Zeit nicht zuhause war, wird bei seiner Rückkehr als Erlöser von den

schweren Verletzungen beschrieben. In die Zeit von Rustschuk fällt auch die Geburt

der Brüder Nissim und George. 1911 entschließen sich die Eltern nach London,

Manchester zu ziehen, womit sich der Großvater väterlicherseits nicht abfinden

kann und somit verflucht der Großvater seinen Vater. Das Verfluchen wird als eine

der schlimmsten Taten beschrieben, die ein Vater an seinem jüdischen Sohn

begehen kann. Damit beginnt der zweite Teil, die Zeit in Manchester von 1911 bis

1913. Das prägendste Ereignis in dieser Zeit ist der unerwartete Tod des Vaters.

Elias wird auch eingeschult und da die Mutter nach Wien ziehen will, muss Elias mit

einer gewissen Strenge sehr schnell Deutsch erlernen. Somit folgt im dritten Teil die

Zeit in Wien von 1913 bis 1916. In dieser Zeit kommt er in der Schule zum ersten

Mal mit antisemitischen Beschimpfungen und Beleidigungen in Berührung. Die

Begeisterung für Bücher, die sein Vater in ihm geweckt hat, bleibt bestehen und er

liest sogar manche Bücher, die ihm sehr gut gefallen, mehr als vierzig Mal. Die

historischen Rahmenbedingungen, wie der Ausbruch des Ersten Weltkrieges

werden ebenfalls aus der Sicht des zehnjährigen Elias beschrieben. In die Riten und

Praktiken des Judentums wird er einerseits durch den Religionsunterricht und

andererseits durch den Großvater, der dazu oftmals nach Wien kommt, um den

Enkel einzuschulen, eingeführt. Dabei stellt der Großvater den Bewahrer der

Traditionen dar und die Mutter vertritt eher eine modernere Position. Dieser

Wienaufenthalt der Familie Canetti erstreckt sich nur über drei Jahre, denn die

Auswirkungen des Ersten Weltkrieges vertreiben sie in die neutrale Schweiz. Damit

beginnt der vierte Teil dieses autobiografischen Werkes, die Zeit in Zürich in der

Scheuchzerstraße von 1916 bis 1919. Zunächst besucht er noch die Grundschule in

Oberstrass und danach wechselt er 1917 in die Kantonsschule. Vor allem die

Gespräche mit der Mutter über Lektüren setzen sich in dieser Zeit fort und werden

von ihm als äußerst bedeutend und prägend für sein weiteres Leben beschrieben.

Die Mutter erkrankt in dieser Zeit und sie fühlt sich so ausgelaugt, sodass sie nicht

einmal mehr für ihre Lieblingslektüren, wie zum Beispiel Strindberg zu begeistern

ist. Sie geht, um sich auszukurieren nach Arosa und anschließend nach Wien. Elias

bleibt in dieser Zeit in Zürich, das den fünften und letzen Teil dieser

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autobiografischen Schrift ausmacht. Es ist die Zeit von 1919 bis 1921, in der er auf

sich allein gestellt ist und in ein Dachzimmer in die Villa Yalta, ein ehemaliges

Mädchenpensionat im südlichen Ortsteil Tiefenbrunnen zieht. Er fühlt sich hier sehr

wohl und wird von den Betreuerinnen verwöhnt. Diese Züricherjahre umfassen

Canettis eigentliche Schulzeit. Der Erzähler geht auch intensiv darauf ein, welche

Autoren/Autorinnen und welche Künstler/Künstlerinnen oder geistige Strömungen

dem Protagonisten in bestimmten Phasen seiner Schulzeit beschäftigt haben. Elias

beginnt zu dieser Zeit erstmals zu dichten und schriftstellerisch tätig zu sein. Das

Werk endet damit, dass die Mütter bösartig über sein angenehmes Leben in der

Villa Yalta herzieht und ihm ihren Entschluss ankündigt, dass er und seine Brüder

ein härteres Umfeld nach dem Krieg kennenlernen sollen und sie somit nach

Deutschland umziehen werden.

4.1.2.1) Der Autor Elias Canetti

Elias Canetti wurde am 25. Juli 1905 als Erstgeborener in Rustschuk am

bulgarischen Unterlauf der Donau geboren. Im Jahr 1911 übersiedelte er mit seinen

Eltern nach England. Zwei Jahre später starb sein Vater und danach zog er 1913

mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern nach Wien. In der Zeit von 1916 bis 1924

besuchte er Schulen in Zürich und in Frankfurt am Main. Daran anschließend

studierte er in Wien Naturwissenschaften und er promovierte zum Doktor der

Philosophie. Dann brach die Zeit seiner hauptsächlichen Tätigkeit und Arbeit als

Schriftsteller an. Vierzehn Jahre später im Jahr 1938 ließ er Österreich hinter sich

und kehrte über Paris nach London zurück. In seinen letzten Lebensjahren lebte er

in London und Zürich, wo er am 14. August 1994 starb.

Elias Canetti erhielt viele Auszeichnungen für seine Werke. Zu erwähnen ist der

Georg Büchner Preis im Jahr 1972, der Nelly-Sachs Preis im Jahr 1975, der

Gottfried-Keller Preis im Jahr 1977 und der Nobelpreis für Literatur im Jahr 1981.200

Man kann Elias Canettis Werke zur österreichischen Literatur zählen. Im Gegensatz

zu Bernhard zeigt sich bei Canetti aus literarischer Sicht eine tiefe Zuneigung und

200

Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 142-145.

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Liebe zu Österreich.201 Natürlich muss angemerkt werden, dass Canetti weder in

Österreich geboren ist, noch Eltern hatte, die österreichischer Abstammung waren

und er verbrachte auch nicht den Großteil seines Lebens in Österreich. Doch seine

Werke sind in Deutsch geschrieben, obwohl dies nicht seine Muttersprache war. Die

enge Verbundenheit zur deutschen Sprache sei aus der Liebe der Mutter zum

Wiener Burgtheater entsprungen.202 In weiterer Folge lebte er siebzehn Jahre in

Wien, wobei er diesen Aufenthalt für sein Schriftstellertum als bedeutend und

entscheidend ansah und in einem Interview sagte er sogar „[…] von Karl Kraus

habe ich lesen gelernt, wie er und Nestroy bin ich ein Wiener Schriftsteller“203.

Obwohl Canetti kein österreichischer Staatsbürger war, führt seine tiefe

Verbundenheit zu Österreich dazu, dass sein Werk als Bestandteil der

österreichischen Literatur angesehen wird.204

Der Vergleich mit Bernhards Werk „Ein Kind“ ist vor allem durch das feindliche

Verhältnis zwischen Bernhard und Canetti interessant. Es wird oftmals berichtet,

dass Bernhard und Canetti sich als Feinde betrachtet haben. Die intellektuelle

Gegnerschaft wird vor allem bekannt, als sich Thomas Bernhard in einem Leserbrief

in der „Zeit“ zu Canettis Rede „Der Beruf des Dichters“ bissig äußerte, da er sich

durch die Haltung des Dichters, die von Canetti beschrieben wurde, provoziert

fühlte.205

4.1.2.2) Zur Stellung der autobiografischen Erzählung „Die gerettete Zunge“ im Gesamtwerk Canettis

„Die gerettete Zunge“ und seine anderen autobiografischen Werke sind von großer

Bedeutung für das Schriftsteller- und Künstlerverständnis von Canetti. Als im Herbst

1981 bekannt wird, dass er den Nobelpreis für Literatur erhalten wird, zieht er sich

aus der Öffentlichkeit zurück und an seiner Wohnungstüre finden Journalisten die

folgenden Worte: „Alles, was Sie von mir wissen wollen, steht in meinen

201

Vgl. Feng: Kreisel für Erwachsene: zur Kürzestprosa in der Gegenwartsliteratur in Österreich (Anm. 147), S. 22. 202

Vgl. ebd. (Anm. 147), S. 22. 203

Gotthard Böhm: Der optimistische Elias Canetti. „Presse“-Gespräch über die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur. In: Die Presse. Unabhängige Zeitung für Österreich. 24./25./26. Dezember 1971, S. 7. 204

Vgl. Feng: Kreisel für Erwachsene: zur Kürzestprosa in der Gegenwartsliteratur in Österreich (Anm. 147), S. 22. 205

Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 122.

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Büchern“206. Diese Worte zeigen, dass ihn die autobiografischen Werke genau so

beschreiben, wie er von anderen Leuten gesehen werden möchte und sie stellen

somit einen wichtigen Beitrag zur bewussten Inszenierung des Künstlerdaseins dar.

Die autobiografischen Erzählungen können als Spätwerk des Autors betrachtet

werden, da er sie erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt fertiggestellt hat. Laut

eigenen Beschreibungen nehmen die Jahre der Kindheit und Jugend für seine

späteren Ansichten und seine Weltorientierung einen hohen Stellenwert ein.

Deshalb sei seine Autobiografie auch für seine vorherigen Werke bedeutend, da

man durch sie nachvollziehen kann, wie er manche Ansichten erworben hat und wie

er nach seiner Interpretation zu dem geworden ist, was er verkörpert. Deshalb

können nachträglich Ansichten in seinen früheren Werken gefunden werden, die

sich durch die Lektüre seiner Autobiografie scheinbar erklären lassen. Jedoch muss

angemerkt werden, dass es sich dabei nur um die gewünschte Inszenierung des

Autors handelt.

Die Autobiografie gilt als Zeugnis des alt gewordenen Canetti über sein Leben, der

seine Erinnerungen schriftlich zu seiner Lebensgeschichte geformt, vorlegt.

4.1.2.3) Forschungsbericht zu Canettis autobiografischer Erzählung „Die

gerettete Zunge“

Die literaturwissenschaftliche Rezeption der autobiografischen Werke beschränkt

sich oftmals auf die Absicherung der Deutungen von anderen Texten, wie Canettis

essayistischen, literarischen, kulturphilosophischen oder aphoristischen Schriften.

Die autobiografischen Erzählungen werden eher selten Gegenstand einer

eigenständigen Analyse und deshalb herrscht ein „Mangel an theoretischer

Reflexion“207. Friederike Eigler hat in diesem Zusammenhang konstatiert, dass es

sich bei der Mehrheit der Arbeiten zu Canettis Autobiografie um eine Auflistung

seiner Selbstdarstellung handelt, wobei die Gestaltungsprozesse selten analysiert

werden.208 Canettis Autobiografie kann keine realitätsgetreue Abbildung seiner

206

Claudio Magris: Der Schriftsteller, der sich versteckt. In: Stefan S. Kaszynski (Hg.): Elias Canettis Anthropologie und Poetik. München: C. Hanser 1984, S. 21-23. 207

Friederike Eigler: Das autobiographische Werk von Elias Canetti. Identität - Verwandlung - Machtausübung Tübingen: Stauffenburg 1988, S. 22. 208

Vgl. ebd. (Anm. 207), S. 23.

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Vergangenheit sein, da sich bei einer Berichterstattung über weit zurückliegende

Zeitabschnitte aufgrund der Zeitdifferenz ein Filter vorschiebt. Durch diesen treten

nur Erlebnisse in Erinnerung, über die man berichten möchte und die für eine

adäquate Selbstdarstellung benötigt werden. Martin Bollacher stellt diesen

Sachverhalt in seinem Beitrag über Canettis Autobiografie folgendermaßen klar:

Die Organik der Kunstform Autobiographie beruht auf der Vermittlung von Erzähler-Gegenwart und erzählter Vergangenheit, und die in der Autobiographie dargestellte Wahrheit ist die Wahrheit des sich erinnernden Menschen, der sich des Vergangenem zu seinem Zweck bedient.209

Alfred Doppler stellt fest, dass sich aufgrund der Fülle an Erinnerungen und Bildern

aus Canettis autobiografischen Erzählungen ein Selbstbildnis ergibt, „das sich nicht

festlegen“ lasse.210 Claudio Magris hat zudem konstatiert, dass es sich beim

konventionellen Erzählhabitus, der eine auffällige Geschlossenheit suggeriert, um

eine Fassade handelt, die eine problematische Identitätsfindung transparent mache:

Die Autobiographie erscheint als die Verdrängung der Substanz des Lebens, von der sie berichtet, vielleicht weil die Substanz außergewöhnlich und unsagbar `anders` ist. Mittelpunkt des Buchs ist eine Leere, jener Strudel, jene Implosion, die das Innere aufzusaugen und das geordnete Material der Erzählung zu zerstören scheint. Am Rande dieses Strudels des Nichtgesagten häuft der Schriftsteller eifrig und geduldig, zuweilen mit genialer Evidenz, Erinnerungen und Anekdoten, Betrachtungen und sonderbare Episoden, Orte und Figuren.211

Nach dieser These stellt sich die Frage, was der Autor unausgesprochen lässt und

wie „unsagbar anders“ seine Existenz tatsächlich gewesen sei. Aus diesen

Aufzeichnungen über Canettis Schreib- und Erinnerungsprozess geht

zusammengefasst die Ansicht hervor, dass „der Begriff der Ganzheit an die

Vorstellung des Fragmentarischen und Dissonanten gekoppelt wird“212.

Zu Beginn der „Geretteten Zunge“ gibt es in der Beschreibung der frühen Jahre in

Rustschuk einen Satz, den kaum ein Interpret nicht zitiert hat:

209

Martin Bollacher: „Ich verneige mich vor der Erinnerung“. Elias Canettis autobiographische Schriften. In: Beda Allemann, John Bayley und Martin Bollacher (Hg.): Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti. Hanser: München 1985, S. 246. 210

Alfred Doppler: Der Tod der Mutter. In: Arbitrium 4, De Gruyter 1986, S. 106. 211

Magris: Der Schriftsteller, der sich versteckt (Anm. 206), S. 33. 212

Axel Gunther Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis: Subjekt- Sprache- Identität. Würzburg: Königshausen und Neumann 1994, S. 272.

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Alles was ich später erlebt habe, war in Rustschuk schon einmal geschehen. (GZ, S. 11)

Dieser Satz wird mehrheitlich als Hinweis gedeutet, dass seinem autobiografischen

Entwurf ein entelechisches Gestaltungsprinzip zugrunde liege.213 Nach diesem

Prinzip müsste der Autor für die Autobiografie sowohl jedes Erlebnis der frühen

Kindheit als auch die kindlichen Anlagen in Hinblick auf die Gesamtperspektive des

Lebens rekonstruieren. Diese Methode kann auch als Strategie gesehen werden mit

den Erinnerungen sprachlich zu spielen. Rustschuk wird zwar als „Summe des

Lebens“ angesehen, wobei jedoch die einzelnen Erinnerungsbilder in einem Akt der

Verschiebung und der Stellvertretung eingebunden werden. Dadurch kann auch die

angesprochene Totalität von Rustschuk in Zweifel gezogen werden und Canettis

Identität entzieht sich einer einheitlichen Konturierung. Rustschuk kennzeichnet

somit in seinen autobiografischen Werken ein Erzählspiel Canettis.214 Zur

Entschlüsselung des Erzählspiels werden in der Forschungsliteratur zwei Thesen

angeführt. Einerseits findet sich die These, dass die Autobiografie durch

intertextuelle Relationen verstanden werden kann, da frühere theoretische und

literarische Entwürfe verdichtet worden sind. Dafür spricht auch das folgende

Canetti Zitat: „In meiner Lebensgeschichte geht es gar nicht um mich. Aber wer wird

das glauben?“215. Andererseits kann man die autobiografischen Werke intratextuell

entschlüsseln:

[…] Ich-Begriff und Text-Begriff [werden] im Spannungsfeld von Ganzheits- und Fragmentierungsdenken, endlosen Fortschreibungen und einheitskonstituierenden Akten verknüpft.216

Es kann festgestellt werden, dass die Farbe Rot den ganzen ersten Teil der

„Geretteten Zunge“ prägt.217 Denn nicht nur die Eingangsepisode, in der er vor dem

Liebhaber des Kindermädchens um seine Zunge fürchtet, ist in Rot getaucht,

sondern auch die Kleidung der Zigeuner, die Zunge der Wolfsmaske des Vaters,

das Blut, das bei der Beschneidung des Bruders Nissim vergossen wird, der Komet

am Himmel, das Feuer in der Nachbarschaft, der Eifersuchtsmord eines Türken und

213

Vgl. ebd. (Anm. 212), S. 273. 214

Vgl. Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (Anm. 212), S. 274. 215

Elias Canetti: Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985. Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 104. 216

Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (Anm. 212), S.275. 217

Vgl. Sven Hanuschek: Elias Canetti. Wien: Hanser 2005, S. 32.

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56

auch die Szene, in der er seine Kusine Laurica mit der Axt erschlagen möchte, da

sie ihn bis aufs Blut ärgert und er sie in ihrem Blut sehen möchte.

Der Text erhält durch die aufsteigende Erinnerung seine Form und es handelt sich

nicht um eine traditionelle Form der Autobiografie, durch die die Laufbahn eines

Menschen referiert oder nacherzählt wird. Im literarischen Prozess spielen das

schreibende Ich und das beschreibende Ich eine gleichberechtigte Rolle.218 Bereits

das erste Kapitel zeige deutlich, dass die autobiografische Erzählung auf das

Prinzip der Erinnerung festgelegt sei. Die Erinnerungen formieren sich im Prozess

des Schreibens und sie werden von zentralen Themen geleitet. Schon im ersten

Band „Die gerettete Zunge“ zeigt sich der Mutter-Sohn-Konflikt, der sich durch alle

Bände bis zum Tod der Mutter zieht.219

Ein wichtiges Gestaltungs- und Strukturprinzip erfüllt die Metapher der sich

wiederholenden Geburt.220 Ein Beispiel für eine „wiederholende Geburt“ ist die

Textstelle, in der der Protagonist schwer verletzt mit Brandwunden im Bett liegt und

große Sehnsucht nach seinem Vater zeigt, der zu dieser Zeit in England ist:

Die Mutter, der Arzt, alle anderen, die sich um mich bemühten, waren mir gleichgültig, […] ich hatte einen einzigen Gedanken, es war mehr als ein Gedanke, es war die Wunde, in der alles einging: der Vater. (GZ, S. 43)

Dann hörte ich seine Stimme, er trat von hinten an mich heran, ich lag auf dem Bauch, er rief leiste meinen Namen, er ging ums Bett herum, ich sah ihn, er legte mir leicht die Hand aufs Haar, er war es, und ich hatte keine Schmerzen. (GZ, S. 43)

Der Arzt war der Überzeugung, daß ich ohne sein Erscheinen und seine weitere Gegenwart gestorben wäre. […] Es war der Arzt, der uns alle drei zur Welt gebracht hatte, und er pflegte später zu sagen, daß von allen Geburten, die er erlebt habe, diese Wiedergeburt die schwerste gewesen sei. (GZ, S. 44)

Es gibt neben dieser Textstelle noch einige andere, die nach der Metapher der sich

wiederholenden Geburt gestaltet bzw. strukturiert sind wie z. B. die Wiedergeburt

durch das Lesen von Büchern, durch das Erlernen der deutschen Sprache und

durch die Leseabende mit seiner Mutter. Die „sich wiederholenden Geburten“ sind

meist auch mit Ängsten verbunden und begleiten den Lebens- und

218

Vgl. Doppler: Gestalten und Figuren als Elemente der Zeit- und Lebensgeschichte (Anm. 7), S. 115. 219

Vgl. ebd. (Anm. 7), S. 115. 220

Vgl. ebd. (Anm. 7), S. 116.

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Entwicklungsgang des Ich-Erzählers. Meist stehen sie auch in Verbindung mit

verschiedenen Personen oder Gestalten, die die Entwicklung prägen:

Diese Figuren, die den Anschein erwecken könnten, es handle sich um eine Galerie literarischer Portraits, sind in zweifacher Weise in die Autobiographie integriert. Einerseits sind sie alle auf die Zentralachse der Mutter-Sohn-Konstellation bezogen, noch die entferntesten Figuren haben Anteil an dem großen Konflikt, und zwar im Verhältnis des Kontrastes, der Ergänzung und der Variation; andererseits sind sie aber Bauelemente zur Darstellung der Zeitsituation.221

Die Zeitsituation wird nicht nur durch die Wiedergabe von Ereignissen, sondern

auch durch das sprachliche Spiel mit den Figuren verdeutlicht, indem das geistige

Klima und die Lebensatmosphäre vermittelt werden.

In den autobiografischen Erzählungen Canettis herrschen zwei grundsätzlich

verschiedene, aber miteinander verwobene Erzählweisen vor. Es handelt sich dabei

um die karikierende Übertreibung und die Ironie. Die Ironie wird jedoch begleitet von

Selbstkritik, Kritik, Sorge und Enttäuschung und hat nichts Besserwisserisches an

sich.222 Der Erzählduktus wird bestimmt von einem in Gegenbildern und

Widersprüchen gekleideten Geschehen:

Die Spannung, die von diesen Textpartien ausgeht, wird durch eine Sehweise bewirkt, die auch verehrte und bewunderte Menschen nie zu glatten Vorbildern stilisiert, sondern ihnen die schon angedeutete Gegenbildlichkeit einschreibt, in der die Gefahren ihrer Mächtigkeit und ihres bannenden Einflusses sichtbar werden.223

Die drei Bände seiner Autobiografie sind nach der Titelgebung „auf die Erweiterung

der Sensitivität und Aufnahmefähigkeit“224 angelegt, von der Sprache „Die gerettete

Zunge“- über das Hören- „Die Fackel im Ohr“ zum Sehen- „Das Augenspiel“.

Bei Canettis Autobiografie handelt es sich zusammengefasst um eine Sammlung

von Erinnerungen, die sich zu seiner Lebensgeschichte verdichtet, die bei

genauerer Betrachtung den Charakter einer üblichen Bildungsgeschichte verliert.

221

Ebd. (Anm. 7), S. 118. 222

Vgl. ebd. (Anm. 7), S. 121. 223

Ebd. (Anm. 7), S. 121. 224

Ebd. (Anm. 7), S. 122.

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4.2) Erzähltheoretische Analyse Die erzähltheoretische Analyse ist angelehnt an die Erzähltheorie von Matías

Martínez und Martin Scheffel und teilt sich in die Ebene der Darstellung, dem „Wie?“

der Erzählung und in die Ebene der Handlung, dem „Was?“ der erzählten Welt.225

Die Ebene der Handlung wird in der vorliegenden Arbeit erst durch die

hermeneutische Analyse abgedeckt.

Die Ebene der Darstellung wird nach Martin Scheffel und Matías Martínez

systematisch durch ein Beschreibungsmodell nach drei Analysekategorien

geordnet. Dabei werden Fragen zum Einsatz von narrativen Techniken behandelt.

Dieses Beschreibungsmodell umfasst die Zeit, den Modus und die Stimme.226

Wichtig zu erwähnen ist, dass in der Analyse auch zwischen der Erzählung, dem

Schriftstück durch das die Erzählung vermittelt wird und dem Erzählen an sich, dem

Akt der zur Erzählung führt, unterschieden wird.227

Die Kategorie „Zeit“ behandelt das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit

und die dazugehörenden leitenden Analysefragen ergeben sich durch die

Schlagwörter „Ordnung“ zur Frage nach der Reihenfolge, „Dauer“ zur Frage: wie

lange einzelne Erzählepisoden andauern, und „Frequenz“ zur Frage nach der

Häufigkeit von bestimmten Erzählmomenten.

Die Analysekategorie „Modus“ umfasst den Grad der Perspektivierung und der

Mittelbarkeit des Erzählten und die beiden Schlagwörter „Distanz“ zur Frage: wie

unmittelbar das Erzählte präsentiert wird und die „Fokalisierung“ zur Frage: aus

welcher Sicht erzählt wird, beschreiben die dazugehörigen Analysefragen. Gérald

Genette führt zum „Modus“ das neue Begriffspaar „dramatischer Modus“ vs.

„narrativer Modus“ ein.228 Der dramatische Modus bezeichnet die rein distanzlose

mimesis, wohningegen der narrative Modus ein distanzierendes Erzählverhalten

darstellt. Nach Genette differenziert man zwischen drei Typen der Fokalisierung: der

Nullfokalisierung (der Übersicht), der Internen Fokalisierung (der Mitsicht) und der

Externen Fokalisierung (der Außensicht).229

225

Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11). 226

Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 32-92. 227

Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 32. 228

Vgl. Gérald Genette: Die Erzählung. München: UTB 1994, S. 116-117. 229

Vgl. ebd. (Anm. 228), S. 115-120.

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Die „Stimme“ summiert die Analysefragen zum Akt des Erzählens: wie zum Beispiel

das Verhältnis von erzählendem Subjekt und dem Erzählten beschaffen ist oder das

Verhältnis von Leser und erzählendem Subjekt. Zur genaueren Beschreibung dieser

Analysekategorie gehören die Schlagwörter „Zeitpunkt des Erzählens“ zur Frage:

wann erzählt wird, der „Ort des Erzählens“ zur Frage: auf welcher Ebene erzählt

wird und die „Stellung des Erzählers zum Geschehen“ zur Frage: in welchem

Ausmaß der Erzähler am Geschehen beteiligt ist.

Unter die Ebene der Darstellung fällt auch die Behandlung von Martin Sterns

propagierten sieben „A“s der Autobiografie der „Anordnung, Auswahl,

Anfangspunkt, Akzentuierung, Außenmaterial, Ausdehnung und Autorpräsenz“230.

Die erzähltheoretische Analyse erfolgt je Werk und anschließend werden in einem

eigenen Kapitel Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden untersuchten

Autobiografien in Hinblick auf die narrativen Strukturen ausgearbeitet.

4.2.1) Erzähltheoretische Analyse von Bernhards „Ein Kind“

Das erzähltheoretische Analysemodell von Martin Scheffel und Matías Martínez

führt zuerst zur Analysekategorie „Zeit“, die bezüglich „Ordnung“, „Dauer“ und

„Frequenz“ untergliedert ist. Grundsätzlich wird in „Ein Kind“ die Zeit von Bernhards

Geburt bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr behandelt.

Die Autobiografie beginnt mit einem Erlebnis, bei dem der Erzähler acht Jahre alt ist

und erst anschließend folgt rückblickend die Erzählung seiner Geburt und seiner

ersten Lebensmonate. Somit ist dieses Werk bezogen auf die Ordnung ein Fall

einer narrativen Anachronie, wobei es sich um die „Umstellung der chronologischen

Ordnung einer Ereignisfolge“231 handelt. Denn die Analepse bzw. die Rückwendung

auf seine Geburt und auf seine ersten Lebensmonate kommt in der Erzählung erst

ab Seite 56. In diesem Text finden sich auch zwischendurch einige proleptische als

auch analeptische Erzählelemente. Im Zeitabschnitt der anfangs geschilderten

Waffenradgeschichte verbringt er viel Zeit mit Schorschi, dem Sohn der

230

Stern: Autobiographie und Identität (Anm. 108), S. 261. 231

Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 35.

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Bauersleute, in dessen Haus seine Großeltern mütterlicherseits wohnen. Nach der

Beschreibung von Schorschi, dem der Protagonist die Waffenradgeschichte als

Achtjähriger zuerst erzählt, folgt eine Textstelle, die aus Sicht der erzählten Zeit als

Prolepse zu bezeichnen ist, die auch die Erzählzeit anspricht:

Vor ein paar Jahren habe ich ihn zum letztenmal gesehen, wir waren beide fünfundvierzig, er war verrückt geworden und hatte das Haus seiner Großeltern, das sie ihm vererbt hatten, zwei Jahre nicht mehr verlassen gehabt […]. (EK, S. 32)

Diese Vorausschau verdeutlicht, was aus dem achtjährigen Schorschi geworden ist

und es werden auch biografische Einschnitte im Leben des Schorschis genannt, wie

er zu dem Erwachsenen geworden ist, den der Erzähler zuletzt vor ein paar Jahren

getroffen hat. Es können einige Textstellen gefunden werden, die eine Prolepse

darstellen; auf eine Beschreibung der Familienkonstellation folgt zum Beispiel:

Noch heute ist ein […] von meinem Urgroßvater […] gebautes Atelier zu bewundern […]. (EK, S. 47)

Immer wieder gibt der Erzähler eine Vorausschau auf die Lebensgeschichte bzw.

auf Vorlieben oder Lebensdaten einzelner Persönlichkeiten, die über die erzählte

Zeit hinausgehen und die Erzählzeit bzw. Ereignisse, die zeitlich weit nach der

erzählten Zeit anzusiedeln sind, ansprechen. Beispiele dafür sind:

Heute weiß ich, daß man erst im Alter Rindfleisch liebt, nicht als Kind. (EK, S. 54)

Meine Mutter musste schon neunzehnhundertdreißig […] eine Zeitlang bei ihrer Tante Rosina gelebt haben, in jenem Hendorf […] wo sie [Rosina] seit dem Jahr fünfzig begraben ist auf ihren Wunsch. (EK, S. 57)

Nach der Beschreibung seiner ersten Lebensmonate mit der anschließenden

Argumentation bzw. Vorausschau, wie diese Ereignisse ihn geprägt haben, folgt

eine Prolepse aus Sicht der erzählten Zeit bzw. eine Analepse aus der Sicht der

Erzählzeit, auf wichtige Orte in seiner Kindheit:

Ideal ist für mich das Alpenvorland, wo ich den Großteil meiner Kindheit verbrachte, im bayerischen in der Nähe des Chiemsees und im salzburgerischen, aber diese Zeit liegt weit zurück, sie reicht von meinem dritten bis zu meinem siebenten Lebensjahr. Vorher war ich, nach dem ersten, dem Hollandjahr, zwei Jahre in Wien gewesen. (EK, S. 60f)

Chronologisch folgen Beschreibungen seiner Zeit in Wien, Salzburg und im

bayerischen Alpenvorland, die eingebettet sind in Lebensbeschreibungen von

Familienmitgliedern, die wieder proleptische Erzählelemente enthalten:

Er hatte geirrt, Hansi hatte schließlich den Hof übernehmen und seine Ambitionen auf den Geist begraben müssen. (EK, S. 82)

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An geeigneten Stellen finden sich im Erzählfluss immer wieder Vorausdeutungen

auf Zeitabschnitte, die in der Erzählung erst später behandelt werden, wie zum

Beispiel in der Zeit am „Hippingerhof“ spricht der Erzähler bereits die Zeit in

Traunstein an:

Dieses Radio sollte ein paar Jahre später eine große Rolle spielen, es war letzenendes daran schuld, daß mein Großvater in Traunstein in Verwahrung genommen und in ein zu einem nationalsozialistischem Parteibüro umfunktionierten Kloster dienstverpflichtet wurde. (EK, S. 77)

Die chronologische Abfolge wird somit immer wieder durchbrochen und es kommen

auch analeptische Erzählelemente vor, wie zum Beispiel:

Das Mädel aus dem Maurerhaus war jene Tante Fanny, die ich am Anfang dieses Berichts mit dem Steyr-Waffenrad besuchen wollte, deren Adresse ich aber gar nicht wußte. (EK, S. 105)

Eindeutig proleptische Erzählelemente, die weit über den erzählten Zeitrahmen

hinausgehen, werden auch zeitlich gekennzeichnet:

Meinem Großvater waren diese kurz aufeinanderfolgenden Katastrophen erspart geblieben, denn sie ereigneten sich erst nach seinem Tode und stehen also hier nicht zur Debatte. (EK, S. 105)

Die Zeitdifferenz der Gegebenheiten zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit

wird dem Leser/der Leserin immer wieder vor Augen geführt, wie zum Beispiel bei

folgender Prolepse, die im Erzählfluss in der Zeit des Erholungsheimes in Saalfeld

steht, wobei die Erzählzeit als Ankerzeitpunkt genommen wird:

Vor drei Jahren habe ich auf dem Weg nach Weimar und Leipzig die Stätte meiner höchsten Verzweiflung aufgesucht. (EK, S. 146)

Durch Prolepsen erhalten manche Erinnerungen den Eindruck von Lebhaftigkeit

und Allgegenwärtigkeit:

Heute sehe ich mich noch so deutlich, als wäre es gestern gewesen und nicht vor über vierzig Jahren, durch den Thüringer Wald marschieren, singend. (EK, S. 150)

Manche Prolepsen übernehmen auch die die Funktion einer Beweisführung:

Heute erinnern noch die beiden großen Knienarben an diesen Höhepunkt. (EK, S. 156)

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Charakteristisch für dieses Werk ist der oftmalige Ausblick auf die Persönlichkeit

bzw. auf die Vorlieben des Erzählers in der Erzählzeit, die sich aus der erzählten

Zeit ergeben:

Ich liebte das Geigenspiel der anderen, mein eigenes haßte ich, und es blieb dabei. (EK, S. 159)

Die erzählte Zeit endet mit seinem dreizehnten Lebensjahr, in dem er sich mit

seinem Großvater auf den Weg macht, eine weiterführende Schule auszuwählen.

Die zweite Analysekategorie ist die „Dauer“. Die ersten fünfzig Seiten umfassen die

Zeit in Traunstein (~1939), es folgen vier Seiten zu seinem ersten Lebensjahr

(1931), acht Seiten zu seinen drei Jahren in Wien (1931/32-1934/35), 39 Seiten zu

seinen drei Jahren in Seekirchen am Wallersee (1935-1937), 25 Seiten zu seiner

Zeit in Traunstein, 16 Seiten zu seiner Zeit im nationalsozialistischen Heim für

schwererziehbare Kinder in Saalfeld in Thüringen und abgerundet wird die

Erzählung mit abschließenden 16 Seiten zu seiner Zeit in Traunstein in Bayern

(1938-1944).

Den größten Teil der Erzählung macht mit einer Seitenanzahl von ungefähr 90 die

Zeit in Traunstein aus, wobei diese proportional auch tatsächlich die längste in

diesen Kindheitsjahren war, denn sie erstreckte sich über sechs Jahre, von 1938 bis

1944. Dem ersten Lebensjahr in Holland werden die wenigsten Seiten geschenkt,

wobei dies wohl auch damit zu tun hat, dass man als Autobiograf keine eigenen

Erinnerungen von dieser Zeitspanne hat, wodurch man sich auf die Erzählungen

anderer Personen, wie zum Beispiel von Angehörigen stützen muss. Die

darauffolgenden Jahre in Wien werden ebenfalls sehr schnell abgehandelt, wobei

wiederum das Alter des Autobiografen in der erzählten Zeit eine Rolle spielt. Es

handelt sich somit bei diesen Teilen um zeitraffendes bzw. summarisches Erzählen.

Mit dem Älterwerden des Protagonisten werden auch die Ausführungen genauer

und somit werden den folgenden drei Jahren in Seekirchen am Wallersee rund 39

Seiten zugebilligt. In diese Zeit fallen auch wichtige Entwicklungsschritte wie zum

Beispiel die Einschulung mit bereits fünf Jahren. Die Zeit in Saalfeld wird

proportional zu seiner tatsächlichen Dauer (von 1941-1942) sehr umfangreich mit

16 Seiten behandelt. Durch schlechte Erfahrungen kann ein Zeitraum subjektiv

länger andauern und dies spiegelt sich in der Genauigkeit der geschilderten

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Erinnerungen wider. Dabei handelt es sich um zeitdehnendes Erzählen. Dies zeigt

sich auch in dem Fakt, dass auf Seite 150 nach der Rückkehr vom

nationalsozialistischen Erziehungsheim für schwer erziehbare Kinder in Saalfeld

berichtet wird: „Als ich nachhause kam, hatte ich einen Bruder, der von allen geliebt

wurde“ (EK, S.150). Doch aus seinen autobiografischen Daten bzw. Fakten ist zu

schließen, dass er den Zeitraum von 1941-1942 im Erziehungsheim verbrachte,

doch sein Halbbruder Peter Fabjan ist am 15. April 1938 geboren.232 Die

tatsächlichen Zeiten stimmen somit mit der erzählten Zeit nicht überein.

Die nächste Analysekategorie, die „Frequenz“, die zur großen Kategorie der „Zeit“

gehört, umfasst die Frage nach der Häufigkeit von bestimmten Erzählmomenten.

Eindeutig am frequentiertesten finden sind Erzählungen und Beschreibungen über

seinen Großvater mütterlicherseits. Denn sein Großvater wird in mehr als einem

Drittel aller Seiten erwähnt bzw. kommt er in der beschriebenen Handlung vor. Am

zweithäufigsten kommen Erzählmomente vor, in denen seine Mutter eine Rolle

spielt. Es erscheint typisch für eine Kindheits- und Jugendbiografie, dass die

Hauptbezugspersonen, in diesem Fall die Mutter und der Großvater

mütterlicherseits, durch stark frequente Erzählelemente abgebildet werden.

Die meisten erzählten Ereignisse stellen singulative Erzählungen dar, denn sie

werden nur einmal erzählt, da sie sich auch nur einmal ereignet haben.

Zum „Modus“ kann gesagt werden, dass eine Nullfokalisierung festzustellen ist, da

der Erzähler mehr weiß als die Figuren. Dies ist deshalb der Fall, da der Erzähler im

Gegensatz zu den beschriebenen Figuren auch immer auf Zukünftiges Bezug

nehmen kann.

Zur „Distanz“ bzw. zur „Unmittelbarkeit“ ist festzuhalten, dass mittelbare

Erzählungen von Worten, Gesprächen und Ereignissen vorkommen, die nicht in

einem dramatischen Modus übermittelt werden, da immer wieder Kommentare und

Reflexionen auf der Ebene des Erzählers vorkommen. Die immer anwesende

vermittelnde narrative Instanz spricht gegen den dramatischen Modus. Der Erzähler

fasst in der Form einer summarischen Erzählung die Gedanken und Meinungen von

anderen Figuren zusammen und kommentiert sie. Die Vermittlungsinstanz des

Erzählers ist immer anwesend und dadurch kann bei diesem Werk von

Unmittelbarkeit bzw. von einer mimetischen Illusion keine Rede sein.

232

Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S.139-143.

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Die Analysefragen zum Akt des Erzählens sind unter „Stimme“ subsumiert. Der

Zeitrahmen der erzählten Welt ist in diesem autobiografischen Roman genau

festgelegt. Bei der erzählten Zeit handelt sich grob um die Zeit von seiner Geburt bis

zu seinem dreizehnten Lebensjahr. Die Verwendung des epischen Präteritums setzt

den Akt des Erzählens in ein Vergangenheitsverhältnis zur erzählten Zeit. Durch die

Vorausschau auf ein Erlebnis des erwachsenen Erzählers, der Schorschi trifft, kann

man die Zeit, indem der Akt des Erzählens vollzogen wird, berechnen:

Vor ein paar Jahren habe ich ihn zum letztenmal gesehen, wir waren beide gerade fünfundvierzig, er war verrückt geworden und hatte das Haus seiner Großeltern, das sie ihm vererbt hatten, zwei Jahre nicht mehr verlassen gehabt. (EK, S. 32)

Deshalb muss der Erzähler um die fünfzig Jahre alt sein und die Figuren der

erzählten Zeit sind in der Erzählepisode, in der von seinem Freund Schorschi die

Rede ist, acht Jahre alt (vgl. EK, S. 7).

In weiten Teilen des Werkes handelt es sich um eine extradiegetische Narration. Es

kommen aber durchaus auch intradiegetische Elemente vor. Bei der

intradiegetischen Ebene handelt es sich um erzähltes Erzählen und bei der

extradiegetischen um reines Erzählen. So wäre ein Beispiel für eine Textstelle, die

auf der extradiegetischen Ebene angesiedelt ist, folgende:

Ich war in den Straßengraben katapultiert worden. Ohne Zweifel, das war mein Ende. Ich stand auf und blickte mich um […]. (EK, S. 11)

Die Textstelle, in der der Protagonist als Erwachsener zwei Männer nach seinem

Kindheitsfreund Schorschi fragt, kann als extradiegetisch bezeichnet werden und

die Erzählung dessen, was ihm die Männer berichten, kann als Beispiel für eine

intradiegetische Narration angesehen werden, da es eine Form des erzählten

Erzählens darstellt:

Zwei Jahre habe er den ersten Stock nicht verlassen. Sie versorgten ihn mit Lebensmitteln, dürften aber nicht zu ihm hinauf. Er besitze das Haus noch, obwohl er längst entmündigt gehöre. (EK, S. 34)

Zur Stellung des Erzählers zum Geschehen kann festgehalten werden, dass es sich

um einen homodiegetischen Erzähler handelt. Dieser umfasst zwei unterschiedliche

Rollen, die Rolle als Figur, das erzählte Ich und die Rolle als Erzähler, das

erzählende Ich.

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Aus den beschriebenen Erzählebenen lassen sich zwei Erzähltypen differenzieren.

Der erste vorkommende Erzähltyp ist der extradiegetisch-homodiegetische

Erzähler, der auf der ersten Ebene seine eigene Geschichte erzählt. Das

Textbeispiel, das auf der intradiegetischen Ebene angesiedelt ist, zeigt den

intradiegetisch-heterodiegetischen Typen, der sich auf der zweiten Erzählstufe

befindet, da es sich um eine Binnenerzählung handelt, in der der Erzähler nicht als

Figur beteiligt ist. Dieser zweite Typ ist jedoch kaum in diesem Werk zu finden.

Hauptsächlich handelt es sich um einen extradiegetisch-homodiegetischen

Erzähler.

Da es sich bei der ersten Person um die Hauptfigur der erzählten Welt handelt,

kann der Protagonist sogleich als homo- als auch als autodiegetischer Erzähler

bezeichnet werden, der seine eigene Geschichte erzählt. Eine Autobiografie wie

diese lässt sich meistens durch einen homo- und autodiegetischen Erzähler

kennzeichnen.233 Nach Franz K. Stanzels Typologie von Erzählsituationen kann

man den Erzähler auch als auktorial bezeichnen.234 Bei einer auktorialen

Erzählsituation bringt der Erzähler auch Kommentare und Anmerkungen zum

erzählten Geschehen ein, wobei er an der Schwelle zwischen der Wirklichkeit des

Autors und der Fiktion in autobiografischen Romanen steht.

4.2.2) Erzähltheoretische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“

Die erzähltheoretische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“ fängt bei der

Ebene der Darstellung, dem „Wie?“ der Erzählung, auch „Discours“ an.

Die erste Frage, die bezüglich der ersten Analysekategorie „Zeit“ behandelt wird, ist,

wie es mit der „Ordnung“, der Reihenfolge des Erzählten aussieht. Die Erzählung ist

chronologisch in vier Teile geteilt. Der erste Teil umfasst die Zeit in Rustschuk von

1905 bis 1911, der zweite Teil die Zeit in Manchester von 1911 bis 1913, der dritte

Teil die Zeit in Wien von 1913 bis 1916, der vierte Teil die Zeit in Zürich in der

Scheuchzerstraße von 1916 bis 1919 und der fünfte und letzte Teil die Zeit in

Zürich, Tiefenbrunnen von 1919 bis 1921.

233

Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 87. 234

Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 93.

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Das Werk erzählt die Geschichte des Autors von 1905, seiner Geburt an, die jedoch

nicht explizit angesprochen wird, da die Erzählung mit seiner ersten bewussten

Erinnerung vom Sommer 1907 beginnt, bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr. Die

Grundstruktur der Erzählung ist durch die Aufteilung in die vier Zeitabschnitte

chronologisch gegliedert, doch auch in diesem Werk kommen innerhalb der

verschiedenen Zeitspannen auch Elemente einer Anachronie vor. Die Anachronie

tritt in den zwei Formen der Analepse, der nachträglichen Darstellung eines

Ereignisses bzw. der Rückwendung und der Prolepse, der Vorausdeutung, indem

ein in der Zukunft liegendes Ereignis vorwegnehmend erzählt wird, auf.235

Ein Beispiel für eine Analepse ist die folgende Textstelle, in der rückblickend in der

Zeit in Zürich in Tiefenbrunnen auf die Bedeutung des Vaters hingewiesen wird:

Der Vater stand als guter Geist am Anfang meines Lebens, und das Gefühl für die Mutter, der ich so ungefähr alles schuldete, schien noch unerschütterlich. (GZ, S. 251)

Ein weiteres Beispiel für eine Analepse stellt das Ereignis mit seiner Kusine Laurica

dar. Im ersten Teil der Erzählung wird von Elias Mordandrohung an seine Kusine

Laurica berichtet. Er verfolgt seine Kusine mit einem Beil, da sie ihm ihre Schulhefte

vorenthalten hat. Im fünften Teil der Erzählung, in der von der Zeit in Zürich in

Tiefenbrunnen erzählt wird, wird rückblickend – rund zehn Jahre später in der

Erzählung – noch einmal dieses Ereignis angesprochen:

[…] der Großvater hielt mir noch Wochen danach vor, wie tot – wäre mir mein Vorhaben gelungen – Laurica gewesen wäre […]. (GZ, S. 265)

Das daraus ergebende Tötungsverbot wird noch einmal in der Geschichte

rückblickend erwähnt, wobei auch andere Tabus angeführt werden, die ihm früher

auferlegt wurden und die für die aktuell erzählte Zeit relevant erscheinen:

Ich war zehn, als sie mir das zweite, große Tabu auferlegte, nach jenem viel früheren gegen das Töten, das vom Großvater ausging. Dieses richtet sich gegen alles, was mit geschlechtlicher Liebe zusammenhing: Sie wollte es möglichst lange vor mir verborgen halten und überzeugte mich davon, daß ich nicht daran interessiert sei. Ich war es damals wirklich nicht, aber ihr Tabu behielt seine Kraft während der ganzen Züricher Zeit, ich war beinahe 16 und hörte noch immer weg, wenn die Kameraden über die Dinge sprachen, die sie am meisten beschäftigten. (GZ, S. 269)

235

Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 35.

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Eine weitere Analepse ist der Rückblick in der Züricher Zeit in Tiefenbrunnen auf

seine ersten Lebensjahre in Manchester:

In Manchester führte mich der Vater in den Tiergarten. […] Dank dem Vater hatten jene Erfahrungen begonnen, ohne die eine Kindheit es nicht wert ist, gelebt zu werden. (GZ, S. 279)

Natürlich lassen sich noch andere Beispiele für Analepsen in der Erzählung finden,

doch diese Auswahl soll lediglich das Vorhandensein belegen. Die grobe

Grundstruktur des Werkes ist durch die Einteilung in die vier Teile chronologisch,

doch vor allem innerhalb dieser Teile gibt es immer wieder Elemente des Rückblicks

und der Vorausschau, für die nun im Folgenden Beispiele angeführt werden.

Ein Beispiel für eine Prolepse findet man im Wiener Zeitabschnitt, indem er über

seinen Großvater berichtet, der den Protagonisten in Wien oftmals am Wochenende

besucht:

Er war schon lange gestorben, als ich seinesgleichen unter den Geschichtenerzählern in Marakesch wiederfand, und obwohl ich von ihrer Sprache kein Wort verstand, waren sie mir durch die Erinnerung an diesen Großvater vertrauter als alle die unzähligen anderen Menschen, denen ich dort begegnete. (GZ, S. 110)

Dieses Textbeispiel zeigt eine Vorausschau auf die Erzählzeit. Vorausdeutungen

auf die Erzählzeit und auf andere Zeitepisoden, die weit über die erzählte Zeit

hinausgehen, finden sich einige. Durch diese wird meistens verdeutlicht, welche

Auswirkungen einzelne Ereignisse hatten:

[…] dafür erlebte ich etwas, was wichtiger war, wenn auch seine Bedeutung mir erst später bewußt werden sollte. (GZ, S. 169)

Aber noch ahnte ich nicht, mit welchem Entzücken ich eines Tages den »Grünen Heinrich« lesen würde, und als ich, Student und wieder in Wien, Gogol mit Haut und Haaren verfiel, schien mir in der deutschen Literatur, soweit ich sie damals kannte, eine einzige Geschichte wie von ihm: »Die drei gerechten Kammmacher«. (GZ, S. 208)

Auch Vorausdeutungen auf Zeitereignisse, die später im Werk noch eingehend

behandelt werden, sind enthalten. Ein Beispiel dafür findet man im Text bei der

Übersiedelung bzw. Reise nach Wien, die sie für einige Stunden in Zürich

unterbrechen:

[…] die Erinnerung an diesen ersten Blick auf Zürich, das später zum Paradies meiner Jugend werden sollte, hat mich nie verlassen. (GZ, S. 95)

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Das Kommentar des Erzählers zum Bericht über die Freundin seiner Mutter Alice

Astriel ist ebenfalls als Prolepse zu bezeichnen:

Sie hat eine Rolle in meinem Leben gespielt, und was ich über sie gesagt habe, entspringt eigentlich späterer Erfahrung. (GZ, S. 138)

So werden manche Zeitsprünge in der Erzählung kommentiert, indem deutlich

hervorgehoben wird, wenn die berichteten Ereignisse eigentlich nicht exakt der

erzählten Zeit entstammen. Die chronologische Reihenfolge wird immer wieder

durchbrochen, wobei die Nichteinhaltung der Ordnung und der Dauer oftmals im

Text erklärend vermerkt wird. Die folgende Textstelle, in der der Erzähler angibt,

zum Teil Erlebnisse aus unterschiedlichen Zeiten zusammenzuziehen und an

geeigneter Stelle wiederzugeben, belegt das Vorhandensein von Kommentierungen

und Erklärungen:

In dieser Schilderung des Großvater habe ich manches zusammengezogen, auch was ich erst in späteren Jahren erlebt oder erfahren habe. So nimmt er hier, in dieser ersten Wiener Periode, mehr Raum ein, als ihm eigentlich zukommt.“ (GZ, S. 111)

Zur Analysekategorie „Dauer“, die der Frage nachgeht: inwiefern sich die Erzählung

an die zeitliche Dauer hält, kann festgehalten werden, dass sich die Erzählung

ebenso wenig durchgängig an die chronologische Ordnung hält als auch an seine

zeitliche Dauer. Kommentierungen die darauf hinweisen, dass Erlebnisse

zusammengezogen wurden, verdeutlichen, dass es sich hier um zeitraffendes bzw.

summarisches Erzählen handelt. Ein Beispiel für summarisches Erzählen ist die

folgende Textstelle, in der ein gesamter Winter kurz zusammengefasst dargestellt

wird:

Alles in alles war es ein tief einschneidender Winter gewesen: das Einleben in die Yalta ohne ein einziges männliches Wesen, wo ich tat, was ich wollte, von blinder Zuneigung, ja eine Art von Verhimmelung durch weibliche Wesen jeden Alters getragen; die scharfe Attacke durch den Onkel, der mich in seinen Geschäften ersticken wollte; die täglich fortgesetzte Kampagne in der Klasse. (GZ, S. 263)

Der erste Teil des Werkes, der mit der Zeitspanne von 1905 bis 1911, die ersten

sechs Jahre des Protagonisten behandelt, bildet hinsichtlich der Analysekategorie

„Dauer“ eine Ausnahme. Denn die Erzählungen der restlichen vier Teile umfassen

jeweils drei Lebensjahre. Doch der erste Teil beginnt erst mit seiner ersten

Erinnerung von 1907 und deshalb ist dieser, mit zeitlich umfassenden vier Jahren

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als ungefähr gleich lang anzusehen. Nach dem Seitenumfang ist die Zeit in Zürich

Tiefenbrunnen (Teil 4) mit 108 Seiten die umfangreichste, gefolgt von der Zeit in

Wien mit 62 Seiten. Die Zeit in Manchester mit 46 Seiten und die Zeit in Zürich in

der Scheuchzerstraße mit 52 Seiten nehmen ungefähr denselben Seitenumfang ein.

Die ersten Lebensjahre, die eigentlich den längsten Zeitabschnitt darstellen, finden

mit 36 Seiten die wenigste Behandlung. Dies hat auch mit dem Lebensalter des

Protagonisten zu tun, da man von den allerersten Lebensjahren selbst nur sehr

wenige Erinnerungen behält. Deshalb kann der erste Teil dem zeitraffenden

Erzählen zugeordnet werden.

Zur Analysekategorie „Frequenz“ ist festzuhalten, dass in den stärksten

frequentierten Erzählmomenten die Hauptbezugspersonen eine tragende Rolle

spielen. Diese Tatsache kann man als typisch für eine Kindheits- und

Jugendbiografie bezeichnen. In Canettis Fall handelt es sich dabei zuerst um seine

Eltern und anschließend nur um seine Mutter, da sein Vater sehr früh stirbt (als

Elias Canetti gerade einmal sieben Jahre alt ist und sein Vater noch nicht einmal

einunddreißig [vgl. GZ, S. 74]). Dennoch wird auch in späteren Zeitabschnitten in

der Erzählung auf die Bedeutsamkeit und Wichtigkeit des verstorbenen Vaters

hingewiesen:

Da gab es nicht Zweifel noch Zögern, da stimmte sie begeistert ein. »Einen Menschen, der so gut ist, wie er es war, wirst du nie auf der Welt finden, niemals, nie!« (GZ, S. 127) Mein eigener Vater war noch in mir, der mit mir über so vieles gesprochen, den ich singen gehört hatte. Jung, wie er gewesen war, blieb auch sein Bild, er blieb der einzige Vater. (GZ, S. 136)

Hoch frequente Erzählmomente stellen die Abende mit seiner Mutter dar, in der sie

über Literatur sprechen. Rückblickend kommentiert der Erzähler diese Leseabende:

Ich glaube nicht, daß ich damals die Stücke verstand, die wir zusammen lasen. Gewiß ging vieles davon in mich ein, aber in meiner Erinnerung blieb sie die einzige Figur, es war eigentlich alles ein einziges Stück, das wir zusammen spielten. (GZ, S. 104)

Die Beschreibungen von bestimmten Lehren in den unterschiedlichen

Lebensphasen, die vom Erzähler als bedeutend eingeschätzt werden, sind ebenfalls

hoch frequent. Seien es Lehren, die sich aus dem Unterricht von Personen ergeben

oder vor allem durch selbst gewählte oder auch von anderen Personen empfohlene

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Lektüren. Das Werk ist auch geprägt von der Hochschätzung des Lesens durch den

Protagonisten und von Darstellungen der Erkenntnisse und Prägungen, die er aus

den Lektüren gewinnen kann. Die den Lektüren geschenkte Liebe und die

Hochschätzung der Bücher durch den Protagonisten verdeutlicht diese Textstelle:

Denn wenn ich damals etwas wie Sorge um die Zukunft überhaupt kannte, so galt sie ausschließlich dem Bücherbestand der Welt? Gewiß, ich las am liebsten wieder und wieder, was ich mochte, aber zur Freude daran gehörte die Gewissheit, daß mehr und mehr nachkommen würde. (GZ, S. 194)

Es können auch Beispiele für iteratives Erzählen gefunden werden. Beim iterativen

Erzählen werden Ereignisse einmal erzählt, die sich jedoch wiederholt ereignet

haben:

Sie merkte nicht, daß ich heimlich wachte, so sehr war sie mit ihrem Schmerz beschäftigt, und wenn sie ganz still aufstand und sich ans Fenster schlich, war sie sicher, daß ich fest schliefe. Jahre später, wenn wir über diese Zeit sprachen, gestand sie, daß sie jedesmal überrascht war, als ich gleich neben ihr stand und sie mit meinen Armen umschlang. (GZ, S. 49)

Diese Textstelle für iteratives Erzählen stellt gleichzeitig eine Prolepse dar, denn

erst 25 Seiten später wird vom Tod des Vaters berichtet und es wird schon vorweg

auf die Zeit danach hingewiesen. Diese Nächte werden auch ein zweites Mal

erwähnt, wobei der Erzähler verdeutlicht, dass er durch diese Umstände große

Angst hatte, in kürzester Zeit einen zweiten geliebten Menschen zu verlieren (vgl.

GZ, S. 78). Eine weitere Textstelle, bei der es sich um iteratives Erzählen handelt,

findet man in der Züricher Zeit in Tiefenbrunnen:

Ich war mit der Großmutter und der Tante Ernestine verabredet, die noch in Zürich wohnten und die ich einmal wöchentlich besuchte. (GZ, S. 244)

Bestimmte Abläufe in der Familie, die sich immer wieder ereignet haben, finden

zwar ihren indirekten Niederschlag an vielen Stellen, doch die grundsätzliche

Struktur wird einmal iterativ erzählt. Beispiele dafür stellen routinierte Abläufe dar,

so endet am Anfang des Werkes jeder Tag mit der Heimkehr des Vaters und jede

Woche mit den Sonntagsvormittagen im Bett der Eltern mit Spielen und Gesprächen

(vgl. GZ, S. 69). Doch beim Großteil der erzählten Erlebnisse kann von singulativen

Erzählungen gesprochen werden. Das heißt Ereignisse, die sich einmal ereignet

haben, werden auch einmal dargestellt, wodurch sich ein Abbildungsverhältnis von

eins zu eins ergibt.

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Zur Analysekategorie „Modus“, der den Grad der Perspektivierung und der

Mittelbarkeit des Erzählten umfasst, gehören die „Distanz“ und die „Fokalisierung“.

Zur „Distanz“, die der Frage nachgeht, wie mittelbar bzw. unmittelbar das Erzählte

präsentiert wird, ist zu erwähnen, dass es sich hauptsächlich um keine Erzählung im

dramatischen Modus handelt. Bei diesem Werk kann nicht von Unmittelbarkeit oder

mimetischer Illusion gesprochen werden, da die Instanz des Erzählers in der

Nacherzählung der Kindheits- und Jugendepisoden meistens anwesend ist. Die

zum Teil vorkommende, vorher erwähnte, narrative bzw. summarische

Erzählhaltung ermöglicht den Eindruck einer zunehmenden Distanz zu den

erzählten Ereignissen. Durch Kommentare und Reflexionen auf der Erzählebene

und der ständigen Anwesenheit der vermittelnden narrativen Instanz entsteht der

Eindruck einer Distanz vom Geschehen, der sich vor allem aus dem zeitlichen

Abstand und auch aus der Perspektivierung heraus ergibt. Doch es lassen sich

auch Textstellen wie die folgende finden, bei denen der Detailreichtum der

Erzählung kombiniert mit einem scheinbar zeitdeckenden, langsamen Erzähltempo

zum Eindruck der Gegenwart des Erzählten beitragen:

Ich pflegte auf den Augenblick zu warten, da sie am Hoftor vorn zuerst erschienen, und lief, kaum hatte ich den blinden Alten erblickt, unter gellenden Rufen >Zinganas! Zinganas!< durch das lange Wohnzimmer und den noch längeren Korridor, der es mit der Küche verband, nach hinten. Da stand die Mutter und gab ihre Anweisungen für die Sabbatgerichte, manche besondere Leckerbissen bereitete sie selbst. Die kleinen Mädchen, die ich oft auf dem Wege traf, beachtete ich nicht, ich schrie gellend immer weiter, bis ich neben der Mutter stand, die etwas Beruhigendes zu mir sagte. (GZ, S. 21)

Die Erzählweise vermittelt zwar beim Großteil des Erzählten eine gewisse Distanz

zum Geschehen, doch es sind auch Erzählelemente zu finden, bei der die Illusion

einer unmittelbar greifbaren Wirklichkeit durch eine detailreiche und sehr genaue

Darstellung der Sachverhalte bzw. Ereignisse aufrechterhalten wird. An manchen

Stellen scheint durch die Präsentation der Figurenrede die Distanz zum Erzählten

sehr reduziert. Ein Beispiel für eine Figurenrede im dramatischen Modus ist die

folgende Textstelle, in der gegen Ende des Werkes der junge Elias mit seiner Mutter

diskutiert bzw. sich gegen deren Anschuldigungen verteidigt:

»Nichts hast du gelernt! Sonst wüßtest du, daß man daran nicht mehr denkt, wenn die Leute ins Unglück geraten sind. Ich hab`s in Wien gesehen, und ich kann`s nicht vergessen, ich hab`s immer vor Augen.« »Warum willst du, daß ich es sehe? Ich kann`s mir doch vorstellen.« »Wie aus einem Buch, nicht wahr! Du denkst, es genügt, daß man von etwas liest, um zu wissen, wie es ist. Es genügt aber nicht. Die

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Wirklichkeit ist etwas für sich. Die Wirklichkeit ist alles. Wer sich vor der Wirklichkeit drückt, verdient es nicht zu leben.« (GZ, S. 326)

Denn hier fehlen jegliche Kommentare des Erzählers und die Figurenrede wird auch

ohne „verba dicendi“236 präsentiert, daher ohne „sagte ich“ oder „antwortete sie“

etc.. In diesem Fall distanzieren lediglich die Anführungszeichen den Leser/die

Leserin von der unmittelbaren Rede und durch diese unmittelbare Darstellung

erscheinen tatsächlich nur die erlebten Inhalte des Gesprächs vordergründig und

die Illusion der gegenwärtigen Rede wird hervorgerufen.

Zur Perspektivierung bzw. zur Fokalisierung kann festgestellt werden, dass es sich

um eine Nullfokalisierung handelt, die auch als auktoriale Erzählhaltung

umschrieben werden kann, da der Erzähler mehr weiß als die Figuren.237 Dies zeigt

sich vor allem, indem der Erzähler auf Zukünftiges bzw. auf Ereignisse der

Erzählzeit Bezug nimmt, die die Figuren in der erzählten Welt noch nicht wissen

können:

Heute weiß ich sehr wohl, daß er mir über etwas hinweghelfen wollte, über das hinwegzukommen mir nicht erlaubt war. (GZ, S. 283)

Ich bin nie wieder in diesem Tal gewesen, es wird sich in einem halben Jahrhundert, besonders diesem letzten, wohl sehr verändert haben. (GZ, S. 311)

Bei den nächsten Analysefragen, die sich unter der Kategorie „Stimme“

subsumieren, handelt es sich um den „Zeitpunkt des Erzählens“, den „Ort“ bzw. die

„Ebene der Erzählung“ und die „Stellung des Erzählers zum Geschehen“. Zum

„Zeitpunkt des Erzählens“ kann durch die Verwendung des Präteritums eindeutig

festgestellt werden, dass es sich um ein späteres Erzählen handelt. Doch bei den

Erlebnissen, die im dramatischen Modus unmittelbar dargestellt werden, wird

stattdessen das Präsens verwendet. Der Erzähler erzählt von der Kindheit des

Protagonisten und an manchen Stellen findet man auch Angaben, wie lange diese

Ereignisse ungefähr zurückliegen. Bei der Erzählung vom Sommer 1920, den er mit

seiner Mutter und seinen Brüdern in Kadersteg bzw. im Lötschental verbrachte,

findet sich die Anmerkung, dass er bis zur Erzählzeit nicht mehr dort gewesen sei

und, dass sich in einem halben Jahrhundert viel verändert wird haben (vgl. GZ, S.

311). Somit kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Erzählzeit

236

Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 53. 237

Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 67.

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ungefähr um das Jahr 1970 handelt. Da das Werk 1979 erstmals verlegt und

herausgegeben worden ist, stimmt diese Angabe auch ungefähr mit der Zeit

überein, in der das Werk erstmals erschienen ist. Eine weitere Zeitangabe, die auf

die Erzählzeit verweist, findet sich, indem er seine Hochschätzung in Bezug auf den

Naturgeschichtelehrer Karl Fenner ausdrückt:

Falls er, ein Neunzig-, ein Hundertjähriger, noch auf der Welt sein sollte, so möge er wissen, daß ich mich vor ihm verneige. (GZ, S. 283)

Bei diesem Werk handelt es sich hauptsächlich um eine Erzählung auf der

extradiegetischen Ebene. Dies ist die erste Ebene, in der es sich um reines

Erzählen handelt, denn der Rahmenerzähler erzählt seine Geschichte aus seinem

eigenen Gedächtnis:

Aber obwohl ich jedem Wort und jeder Bewegung des Großvaters folgte, freute ich mich während der ganzen Dauer der Vorlesung auf das Ende. (GZ, S. 33)

Ein Beispiel für eine intradiegetische Erzählung in diesem Werk ist die

Binnenerzählung der Mutter, die Canetti Auskunft gibt über seine erste Erinnerung,

die er sich alleine nicht erklären kann:

Am Rot überall erkennt sie die Pension in Karlsbad, wo sie mit dem Vater und mir den Sommer 1907 verbracht hatte. Für den Zweijährigen haben sie ein Kindermädchen aus Bulgarien mitgenommen, selbst keine fünfzehn Jahre alt. […] Die Drohung mit dem Messer hat ihre Wirkung getan, das Kind hat zehn Jahre darüber geschwiegen. (GZ, S. 9-10)

Wiedergegebene erzählte Erzählungen sind jedoch im Gegensatz zur Erzählung auf

der extradiegetischen Ebene selten in diesem Werk. Da der Erzähler gleichzeitig

auch der Protagonist der Erzählung ist und somit zwei Rollen umfasst, das

erzählende Ich und das erzählte Ich, kann bei der Stellung des Erzählers zur

Erzählung von einem homodiegetischen Erzähler gesprochen werden. Da es sich

beim Erzähler auch um die Hauptfigur handelt, kann die Stellung auch als

autodiegetisch bezeichnet werden.238 Die daraus ergebenden Erzählertypen sind

der extradiegetisch-homodiegetische Typ, der Erzähler erster Stufe, der seine

eigene Geschichte erzählt und der intradiegetisch-homodiegetische Typ, der

Erzähler zweiter Stufe, der aus zweiter Hand seine eigene Geschichte erzählt bzw.

ergänzt.

238

Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 85.

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4.2.3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und Canettis „Die gerettete Zunge“ aus der erzähltheoretischen Analyse

Aufgrund der intellektuellen Feindschaft zwischen Bernhard und Canetti erweist sich

das Herausarbeiten von auf erzähltheoretischem Weg gefundenen

Gemeinsamkeiten und Unterschieden als besonders interessant.239 Es kann

festgehalten werden, dass sich die beiden Werke erzähltheoretisch sehr ähnlich

sind.

In beiden Werken gibt es Elemente einer narrativen Anachronie, wobei sowohl

Prolepsen als auch Analepsen zu finden sind. Grundsätzlich wird in „Ein Kind“ die

Zeit des Protagonisten von der Geburt bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr

behandelt und in „Die gerettete Zunge“ die Zeit von der Geburt bis zu seinem

sechzehnten Lebensjahr. Beide Erzählungen beginnen nicht chronologisch mit der

Geburt ihrer Helden. Bei Bernhard wird rückwendend erst ab Seite 56 von seiner

Geburt berichtet und bei Canetti wird das Jahr 1905 seiner Geburt zwar im Untertitel

des ersten Teils „Rustschuk 1905-1911“ angeführt, doch die Erzählung beginnt bei

seiner ersten bewussten Erinnerung im Jahr 1907. In beiden Werken gibt der

Erzähler immer wieder kommentierend eine Vorausschau auf die gesamte ihm

bekannte Lebensgeschichte bzw. auf Lebensdaten bzw. Ereignisse, die weit über

die erzählte Zeit hinausgehen. Die Differenzen zwischen Erzählzeit und erzählter

Zeit werden immer wieder verdeutlicht. Charakteristisch für die Gattung

Autobiografie werden sowohl bei Canetti als auch bei Bernhard die Ereignisse in

Hinblick auf ihre Bedeutung für das weitere Leben durch den Erzähler kommentiert.

Die ersten Lebensjahre können in beiden autobiografischen Erzählungen dem

zeitraffenden Erzählen zugeordnet werden. Die oberflächliche Behandlung der

ersten Lebensjahre hängt damit zusammen, dass ein Erwachsener nur sehr wenige

Erinnerungen von seinen ersten Lebensjahren behält. Diese Tatsache trägt auch

zur Glaubwürdigkeit der Erzählungen bei, denn ein Autor kann schlecht aufrichtig

von seinen eigenen Erinnerungen über seine Geburt oder seinen ersten

Lebensmonaten berichten, da diese meist nicht vorhanden sind und somit müsste

er sich auf die Nacherzählungen anderer Personen verlassen. Zeitsprünge finden

239

Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 121.

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sich in beiden Erzählungen, doch nur der Erzähler in Canettis Werk kommentiert

diese in der überwiegenden Anzahl der Fälle. Zur Analysekategorie „Zeit“ ist noch

festzustellen, dass das Werk von Canetti durch die Aufteilung in fünf Teile, wodurch

die Ereignisse den einzelnen Zeitabschnitten und dem jeweiligen Ort zugeteilt sind,

sichtlich chronologisch gegliedert ist. Bei Bernhard gibt es keine offensichtliche

Gliederung in Kapitel oder Teile. Die Chronologie wird somit bei Bernhard öfters

grob durchbrochen. Auch bei Canetti gibt es Elemente der narrativen Anachronie,

doch im Kontrast zu Bernhard nur innerhalb eines Teiles bzw. eines vorgegebenen

Zeitabschnittes. Aufgrund dessen und der Tatsache, das Canetti im Gegensatz zu

Bernhard Zeitbrüche kommentiert, kann konstatiert werden, dass Canetti zeitlich

genauer bzw. behutsamer mit der Erzählung seiner Kindheits- und

Jugenderlebnisse umgeht. Dadurch vermittelt Canetti dem Leser/der Leserin das

Gefühl, das er aufrichtig versucht hat, den Eindruck eine realitätsgetreue Abbildung

seiner Kindheit und Jugend verfasst zu haben, aufrechtzuerhalten. Vor allem durch

die Gliederung in die fünf Zeitabschnitte weist die Autobiografie Ähnlichkeiten mit

einem historischen Geschichtsbuch auf. Bernhard ist bezüglich der Kategorie „Zeit“

freier mit seinen Erlebnissen aus der Kindheit und Jugend umgegangen, wodurch

es zum Beispiel Zeitsprünge gibt, die nicht vom Erzähler kommentiert werden.

Wie es für Kindheits- und Jugendautobiografien zu erwarten ist, spielen bei beiden

Werken die Hauptbezugspersonen in den frequentiertesten Erzählmomenten eine

tragende Rolle. Bei Bernhard handelt es sich um Ereignisse oder um verbrachte

Zeit mit seinem Großvater mütterlicherseits und/oder mit seiner Mutter und bei

Canetti hauptsächlich um die prägenden Einflüsse seiner Mutter und seines Vaters,

der schon sehr früh verstorben ist. Bei Canetti findet man auch hoch frequent

Textstellen, durch die der Erzähler betont, wie sehr der Protagonist schon immer die

Sprache und das Lesen geschätzt hat. Solche Erzählmomente findet man bei

Bernhard kaum, doch stattdessen werden oftmals die Gedanken und Aussagen des

Großvaters mütterlicherseits nacherzählt, die bei Canetti einen nicht so hohen

Stellenwert einnehmen. Grundsätzlich kann angenommen werden, dass

Erzählmomente, die hoch frequent vorkommen, dem Autor besonders wichtig

erscheinen bzw. dass sie als prägend für die weitere Entwicklung eingeschätzt

werden. Die meisten schriftlich festgehaltenen Ereignisse stellen singulative

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Erzählungen dar. Doch auch iterative Erzählmomente finden in beiden Werken ihren

Niederschlag.

Sowohl bei Canettis als auch bei Bernhards Werk kann in Bezug auf den „Modus“

eine Nullfokalisierung festgestellt werden. Denn die Erzähler wissen mehr als die

Figuren, da sie auf Zukünftiges verweisen können und sie schon wissen, welche

Auswirkungen bestimmte Ereignisse nach sich ziehen.

Hinsichtlich der „Unmittelbarkeit“ bzw. der „Distanz“ ist in Bernhards Werk der

Erzähler immer als vermittelnde narrative Instanz anwesend und er fasst in

summarischer Form die Gedanken, Meinungen und Erlebnisse der Figuren

zusammen und stellt sie kommentierend dar. In Canettis „Die gerettete Zunge“ gibt

es hingegen Textstellen, in denen die vermittelnde narrative Instanz ganz

ausgeschaltet wird und bei denen man das Gefühl hat, man sei als Leser

unmittelbar beim Geschehen dabei. Dieses Gefühl wird durch eine besonders

detailgetreue Erzählung, gepaart mit einem langsamen, scheinbar deckenden

Erzähltempo erreicht. Zum Teil werden in Diskussionen die „verba dicendi“ ganz

weggelassen, wodurch die Distanz zum Geschehen auf ein Minimum reduziert wird.

Doch diese Erzählmomente überwiegen auch nicht in Canettis Werk und im Großteil

der Erzählung ist die vermittelnde narrative Instanz des Erzählers anwesend und

kommentiert das Geschehene wie bei Bernhard. Verbunden mit dem Eindruck der

Unmittelbarkeit ist auch die Verwendung der Zeitform. Die Verwendung des

epischen Präteritums in der gesamten Autobiografie Bernhards erzeugt eine

gewisse Distanz zum Geschehen. Bei Canetti wird nicht durchgängig dieselbe

Zeitform verwendet. Textstellen, die im dramatischen Modus dargestellt sind, stehen

in Präsens und Ereignisse, die vom Erzähler kommentiert werden, sind im epischen

Präteritum verfasst. Ganzheitlich betrachtet zeigt die erzähltheoretische Analyse,

dass Bernhard im Gegensatz zu Canetti eine größere Distanz zum Geschehen

aufbaut. Die Lebhaftigkeit von Erinnerungen wird bei Bernhard stattdessen durch

Prolepsen verdeutlicht, wie zum Beispiel, indem kommentierend verdeutlicht wird,

wie einprägend ein bestimmtes Ereignis war und wie detailgetreu man es dadurch

noch heute, zur Erzählzeit in Erinnerung behalten hat (vgl. EK, S. 150).

Beide Autoren erzählen großteils auf extradiegetischer Ebene, wodurch die

Glaubwürdigkeit des Erzählten erhöht wird. Denn von Ereignissen zu berichten, die

man selbst erlebt hat, ist authentischer und glaubwürdiger, als etwas aus zweiter

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Hand wiederzugeben. Dennoch finden sich auch intradiegetische Elemente, da man

bei manchen Sachverhalten auf die Erinnerungen anderer Personen zurückgreifen

muss, um ein umfassenderes Bild zu erhalten. Der intradiegetische Ort des

Erzählens wird vor allem dann gewählt, wenn die eigene Person diesbezüglich nicht

verlässlich Auskunft geben kann. Beispiele dafür wären die Wiedergabe von

Lebensdaten anderer Figuren oder Ereignisse, bei denen man selbst nicht dabei

oder man noch zu jung war, sodass man sie nicht aktiv wahrnehmen konnte, um sie

später verlässlich in Erinnerung zu rufen.

Zur Stellung des Erzählers zum Geschehen kann gesagt werden, dass es sich

sowohl bei Bernhard, als auch bei Canetti um einen homodiegetischen Erzähler

handelt, da er jeweils zwei Rollen einnimmt, die Rolle des Erzählers und der Figur

im erzählten Geschehen. Somit ist der extradiegetisch-homodiegetische Typ in

beiden Werken der am häufigsten vorkommende Erzähltyp. Da es sich um

Autobiografien handelt, kann sowohl vom homo- als auch vom autodiegetischen

Erzähler gesprochen werden. Die Erzählsituationen können als auktorial klassifiziert

werden. Denn der Erzähler zeigt sich allwissend und bringt somit Kommentare und

Anmerkungen an, die Informationen über das Geschehene hinaus geben und auf

zukünftige Geschehnisse und Auswirkungen hinweisen.

4.3) Hermeneutische Analyse: Die Inszenierung des Künstlerdaseins

Bei der hermeneutischen Analyse wird die Frage behandelt, wie einzelne

Handlungselemente in einen überzeugenden Zusammenhang gebracht werden. Die

analysierte Handlungsebene wird im Ordnungsschema in die großen Bereiche

„Handlung“, „erzählte Welt“, „Figur“ und „Raum“ aufgeteilt.240 Bezüglich der

Analysekategorie „Handlung“ wird untersucht, wie die biografische Erzählung in

einzelne Handlungselemente bzw. biografische Episoden zerlegt werden kann,

wobei nicht weiter zerlegbare Einheiten als Motiv bezeichnet werden.241 Bei der

Frage nach der Motivierung wird analysiert, wie die einzelnen Motive in einen

240

Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 111-160. 241

Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 204-219.

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sinnstiftenden Zusammenhang gebracht werden können. Dieser Analysepunkt

umfasst die „erzählte Welt“, wobei die Motivierung des Erzählten im Text meist

unausgesprochen bleibt und somit Freiraum gelassen wird für Interpretationen.242

Doch es kann festgehalten werden, dass Biografien nie wertfrei ein Leben

darstellen, sondern dass die Handlungen für die Autobiografen von besonderer

Bedeutung zu sein scheinen, weil sie zum Beispiel typisch für einen historischen

Zeitraum sind oder weil sich der Autobiograf dadurch auf bestimmte Art und Weise

ins Licht rückt. Zu dieser Analyseebene gehören auch die Fragen nach der

Figurenkonstellation und den Figurenbeziehungen. Denn biografische Handlungen

bestehen vor allem aus Figurenhandlungen. Durch den letzten Analyseunterpunkt

„Raum“ wird klar, dass es in Autobiografien oft bedeutende Raumwechsel gibt, die

zum Teil veränderungsbetont angelegt sind.243 Es wird untersucht, welche Raum-

bzw. Ortswechsel vorkommen und ob diese mit einem bestimmten

Entwicklungsschritt verbunden werden können. Denn Orte und Räume strukturieren

Biografien zusätzlich und können ebenfalls als sinntragende Elmente angesehen

werden.

Im Weiteren wird Ausschau gehalten nach bestimmten Vorzeichen für das spätere

Schaffen als Künstler bzw. Autor, die sich bereits aus den Kindheits- und

Jugenderinnerungen ergeben. Da die Künstlerkonzeptionen von kulturellen als auch

zeitlichen Faktoren abhängen und die beiden Autobiografien ungefähr um dieselbe

Zeit erschienen sind, stellt sich die Frage, welche Parameter aus der Kindheit bzw.

Jugend man aus den beiden Autobiografien dieser Zeit, als Vorboten für das

spätere Autoren- bzw. Künstlerleben ermitteln kann. Die Autobiografien werden

nach den konstanten und den variierenden Elementen des Künstlerhabitus

analysiert. Die konstanten Elemente stellen nach Ernst Kris und Otto Kurz das

„frühe Talent“, die „Virtuosität“ als auch die „Außergewöhnlichkeit bzw.

Überlegenheit der Künstlerpersönlichkeit“ gegenüber anderen Personen dar.244

Nach Christopher Laferl und Anja Tippner können die konstanten Elemente durch

„Genialität“, „tiefer gehende Weltsicht“ und „Extravaganz“ ergänzt werden.245 Die

variierenden vier Komponenten, die nach John Clausen aus den „persönlichen

242

Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 132. 243

Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 211. 244

Vgl. Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 123-124, S. 131. 245

Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 10.

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Ressourcen“, wie zum Beispiel „Aussehen“, „Intelligenz“, „Stärke“, „Gesundheit“ und

„Temperament“, aus den Ressourcen an „intellektueller Unterstützung und

Anleitung“, aus dem „Zugang zu Lebenschancen“ und aus den „persönlichen

Anstrengungen und Bemühungen“ bestehen, stellen den weiteren Analyserahmen

dieser Arbeit dar.246

4.3.1) Hermeneutische Analyse von Bernhards „Ein Kind“

Die Analyse beginnt mit der Frage, wie die einzelnen Handlungselemente zu einem

sinnstiftenden Zusammenhang verknüpft sind. Dazu wird zuerst im Bereich der

Handlung bzw. der erzählten Welt die biografische Erzählung in biografische

Episoden bzw. in Motive zerlegt.

Als erste biografische Episode ist die Waffenradgeschichte zu nennen. Anhand

dieser wird sein außerordentlicher Ehrgeiz betont:

Es wäre ganz gegen meine Natur gewesen, nach einigen Runden wieder abzusteigen; wie in allem trieb ich das nun einmal begonnene Unternehmen bis zum Äußersten. (EK, S. 8)

Dieser Ehrgeiz geht auch mit besonderem Stolz und dem unbändigen Wunsch nach

Ankerkennung und Bewunderung einher:

Sie müßten einsehen, daß ich mich doch immer, gegen die größten Hemmnisse und Widerstände, durchsetzte und Sieger sei! […] Vor allem wünschte ich, […] mein wie nichts auf der Welt geliebter Großvater könnte mich auf dem Fahrrad sehen. (EK, S. 9)

Das Misslingen des Vorhabens durch den Sturz führt zur Angst des Protagonisten

vor den Konsequenzen und damit einhergehend werden zwei wichtige Motive, die

das gesamte Werk durchziehen, gut in die Erzählung eingegliedert. Die beiden

angesprochenen Motive sind das schwierige Verhältnis zur alleinstehenden Mutter

mit dem damit verbundenen Wunsch nach Anerkennung und die unbändige Liebe

zum Großvater, der eine Ankerfunktion für den jungen Thomas, der bei der

überforderten Mutter nicht richtig Halt finde, erfüllt. Immer wieder werden bei diesem

biografischen Moment die Außergewöhnlichkeit des jungen Thomas und das damit

verknüpfte, schwierige Verhältnis zur Mutter angesprochen:

Ich liebte meine Mutter, aber ich war ihr kein lieber Sohn, nichts war einfach mit mir, alles Komplizierte meinerseits überstieg ihre Kräfte. (EK, S. 14)

246

Vgl. Clausen: Die gesellschaftliche Konstitution individueller Lebensläufe (Anm. 137), S. 207.

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Der Protagonist wird durch die ausgereiften Kommentare und Reflexionen als

außergewöhnlich erwachsen dargestellt. Wenn jedoch trotz allem ein typisch

kindhaftes Verhalten in der Erzählung abgebildet wird, wird diese Tatsache auch

vom Erzähler thematisiert. So weint er in der Wirtsstube, nachdem ihm das

Abenteuer mit dem Waffenrad durch einen Sturz missglückt ist und dies wird

folgendermaßen kommentiert: „Das Kind fiel aufeinmal wider kopfüber in seine

Kindheit hinein“ (EK, S. 16). Eingegliedert in die Waffenradgeschichte wird auch

von psychischen Verletzungen durch die Mutter und von sogenannten

Gewohnheitssätzen des Großvaters, die als prägend dargestellt werden, berichtet:

Da mich die körperliche Züchtigung letztenendes immer unbeeindruckt gelassen hat, was ihr niemals entgangen war, versuchte sie, mich mit den fürchterlichen Sätzen in die Knie zu zwingen, sie verletzte jedes Mal meine Seele zutiefst, wenn sie Du hast mir noch gefehlt oder Du bist mein ganzes Unglück, Dich soll der Teufel holen! Du hast mein Leben zerstört! Du bist ein Nichts, ich schäme mich Deiner! Du bist so ein Nichtsnutz wie Dein Vater! Du bist nichts wert! Du Unfrieden-Stifter! Du Lügner! sagte. Das ist nur eine Auswahl ihrer von Fall zu Fall gegen mich ausgestoßenen Verfluchungen, die nichts als ihre Hilflosigkeit mir gegenüber bewiesen. (EK, S. 38)

Die Hochschätzung der Denkkraft und die damit verbundene Außergewöhnlichkeit

des jungen Thomas werden oft zur Sprache gebracht. Es wird zum Beispiel

berichtet, dass er durch das Legen von Steinen auf Gleisen, Züge entgleisen sehen

will:

Zur Vollendung unser anarchistischen Absichten fehlte es uns an Körperkraft, nicht an den geistigen Fähigkeiten. (EK, S. 21)

Der Großvater habe ihn auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Denkfähigkeit

lebensnotwendig sei (vgl. EK, S. 23). Ein wichtiges Motiv ist auch die Darstellung

der Bedeutsamkeit von einzelnen Ansichten bzw. Sätzen seines Großvaters für sein

weiteres Leben:

Wir müssen nur tätig sein, niemals untätig, dieses großväterliche Wort hatte ich immer im Ohr, auch heute noch bestimmt es meinen Tagesablauf. (EK, S. 25-26)

Als Gründe für das schwierige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn wird einerseits

die Kompliziertheit des Jungen angegeben und andererseits wird auch die

Aussehensähnlichkeit zum Vater dafür verantwortlich gemacht. Es wird

beschrieben, dass der Hass gegen den Vater, der dem Protagonisten verblüffend

ähnlich sieht, der Liebe seiner Mutter im Weg steht (vgl. EK, S. 38-39).

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Kontrastierend werden oftmals die Verletzungen durch die Mutter den erlösenden

Worten des Großvaters gegenübergestellt:

Ich sei ein Versager, wenn ich es zum Maurerpolier brächte, das wäre schon von allen weiteren Zielen das höchste. Immer drohte sie mir mit dem Wort Maurerpolier, es war einer ihrer geschliffensten Waffen. Tatsächlich stach sie mir mit diesem Wort direkt ins Herz. (EK, S. 41)

Wohingegen der Großvater die erlösende Ansicht vertritt:

Ich sei überdurchschnittlich intelligent, die Lehrer kapieren das nicht, sie seien die Stumpfsinnigen, nicht ich, ich sei der Aufgeweckte, sie seien die Banausen. (EK, S. 42)

Es wird somit oft dialektisch von der Anerkennung durch den Großvater und von

den (psychischen) Verletzungen bzw. dem fehlenden Verständnis der Mutter

berichtet. Auch die biografische Episode des Waffenradabenteuers wird durch eine

„Erlösung“ vom Großvater beendet. Die Großeltern bringen ihn zum Essen zur

Mutter mit und der Großvater verteidigt ihn vor der Mutter, wobei er immer wieder

die Außergewöhnlichkeit des Protagonisten zum Ausdruck bringt:

Wenn wir es den Eltern schwer machen, wird etwas aus uns, sagte er. Gerade diese sogenannten schwierigen Kinder werden etwas. Und gerade sie lieben ihre Eltern über alles, mehr als alle anderen. Aber das verstehen die Eltern nicht. (EK, S. 54)

Auf die erste große biografische Episode der Waffenradgeschichte folgt der

Rückblick auf seine Geburt und auf seine ersten Lebensmonate. Dabei werden die

schwierigen Verhältnisse der Mutter mit einem unehelichen Kind und der damit

einhergehende, außergewöhnliche Aufenthaltsort des Säuglings beschrieben. Die

Geburt findet in einem Kloster in Heerlen statt, das auf sogenannte „gefallene

Mädchen“ spezialisiert ist (vgl. EK, S. 58). Da die Mutter arbeiten muss, bringt sie

ihn als Pflegekind bei einer Fischerin unter, die die Neugeborenen in Hängematten

auf dem Fischkutter unterbringt. Im Anschluss auf diese biografische Episode wird

ein Motiv der Berichterstattung verdeutlicht, indem der Erzähler auf die prägenden

Auswirkungen dieser Zeit auf das gesamte bisherige Leben des Protagonisten

eingeht:

Natürlich sind aus dieser Zeit keinerlei Eindrücke zurückgeblieben, allerdings, denke ich, prägt mein damaliger Meeraufenthalt meine ganze Geschichte. Manchmal kommt es mir vor, wenn ich den Geruch des Meeres einatme, als wäre dieser Geruch meine erste Erinnerung. Nicht ohne Stolz denke ich oft, bin ich ein Kind des Meeres, nicht der Berge. (EK, S. 60)

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Anschließend wird die Zeit in Wien behandelt, wobei wiederum die

Außergewöhnlichkeit des Protagonisten betont wird:

Die Landschaft um den Wilhelminenberg ist mild überstrahlt von der Nachmittagssonne, mein Ich, auf welches sich alles übrige konzentriert, fordert die totale Bewunderung. (EK, S. 65)

Es kann auf jeden Fall festgestellt werden, dass die Raum- und Zeitwechsel den

biografischen Roman strukturieren und die biografischen Episoden sehr stark daran

angelegt sind. Die gebotene intellektuelle Umgebung und die damit verbundene

Hochschätzung der Bildung durch den Großvater zeigen sich auch ganz deutlich in

dieser Episode:

Wir hatten aus Wien außer Tausenden von Büchern, die aber erst nachkommen sollten, nichts mitgenommen, weder Möbel noch sonst etwas, nur zwei Koffer und unsere Kleidung. (EK, S. 67)

Der biografische Abschnitt in Wien wird sehr kurz abgehandelt und darauf folgt die

Zeit am Wallersee in Salzburg.

Die erste wichtige biografische Episode an diesem Wohnort, wo sie vorerst in der

Ortsmitte wohnen, ist der erste erlebte Verlust von einem Freund. Der junge

Thomas durchlebt somit schon sehr früh sehr einprägende Erlebnisse und

Lebenserfahrungen. Er findet als Vierjähriger einen guten Freund, mit dem er sich

gut versteht und viel Zeit verbringt. Dieser Freund ist der einzige Sohn des

Käsereibesitzers Wöhrle, der zu dieser Zeit der wohlhabendste Mann der Region ist

(vgl. EK, S. 72):

Als ich mich mit meinem Freund für immer verschworen hatte, starb er, vierjährig, an einer unerklärlichen Krankheit. (EK, S. 72)

Die darauffolgende biografische Episode ist von einer gewissen Bodenständigkeit

geprägt, die durch die Spaziergänge mit dem Großvater aufgebrochen wird. Es ist

die Zeit auf dem Hippinggut, in der er die Bauernarbeit kennenlernen darf:

Manchmal war ich wochenlang in Hipping, ich schlief neben den Pferdeknechten mit meinem neuen Freund, dem sogenannten Hippinger Hansi, dem älteren von zwei Söhnen, zusammen. (EK, S. 79)

Die Spaziergänge mit seinem Großvater stehen der bodenständigen Umgebung

dialektisch gegenüber und sichern auch eine intellektuelle Prägung, die er sehr

schätzt:

Die Spaziergänge mit ihm waren fortwährend nichts anderes als Naturgeschichte, Philosophie, Mathematik, Geometrie, Belehrung, die glücklich machte. (EK, S. 82)

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Diese Zeit ist geprägt durch die innige Freundschaft mit dem Hippinger Hansi, der

im selben Alter ist wie der Protagonist und sehr strenge Eltern hat:

Die Strenge seiner Eltern galt auch für mich, auf dem Hippingerhof herrschten Zucht und Ordnung, die Menschen behandelten sich selbst oft nicht so gut wie das Vieh. (EK, S. 83)

Das nächste wichtige biografische Motiv fällt auch in diese Zeit und behandelt den

wichtigen Entwicklungsschritt der Einschulung. Gemäß seiner beschriebenen

Außergewöhnlichkeit wird er schon mit fünf Jahren eingeschult, da der Direktor der

Volksschule auch Buben in der Klasse möchte, da eine beinahe reine

Mädchenklasse für den Direktor langweilig sei. Auch der Hippinger Hansi darf mit

ihm gemeinsam ein Jahr früher mit der Schule beginnen. Die Besonderheit bzw.

Außergewöhnlichkeit und das frühe vielseitige Talent des Protagonisten werden an

dieser Stelle besonders hervorgehoben:

Aber ich sah doch immer anders aus als die andern [sic!], eleganter, wie mir schien, ich fiel sofort auf. (EK, S. 89)

Ich war ein guter Zeichner. Aber ich habe diese Möglichkeit nicht weiter verfolgt, sie verkümmerte wie so viele andere. Ich war der Lieblingsschüler der Lehrerin. (EK, S. 90)

In diesem ersten Schuljahr bekommt er auch ohne besondere Anstrengung lauter

Einser, wobei kommentiert wird, dass ihm die gelernten Inhalte schon vorweg

bekannt gewesen sind:

Dieses erste Jahr brachte mir, was das Wissen betraf, nichts Neues, aber ich kostete es zum erstenmal in meinem Leben aus, in einer Gemeinschaft der Erste zu sein. Es war ein Hochgefühl. Ich genoß es. (EK, S. 92)

Mit den folgenden beiden Schuljahren bricht eine neue biografische Episode an, in

der er nicht mehr als hervorragender Schüler brilliert. Für die Verschlechterung

seiner Noten wird das neue Lehrpersonal verantwortlich gemacht. Dies wird

kommentierend verdeutlicht durch Aussagen wie „Die Klasse staunte, wie dumm ich

aufeinmal war, über Nacht“ (EK, S. 92). In der dritten Klasse droht sogar das

Sitzenbleiben. Doch die Familie findet in Österreich keine Verdienstmöglichkeit und

es steht ein Umzug nach Traunstein, nach Bayern bevor. Denn dort hat sein

Vormund, der neue Mann seiner Mutter eine Anstellung gefunden und somit ist er

„dieser Schande […] entkommen“ (EK, S. 95).

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Doch der Abschluss dieser biografischen Episode fällt ihm schwer:

Die Katastrophe bedeutete, Abschied zu nehmen von allem, das zusammen tatsächlich mein Paradies gewesen war. (EK, S. 96)

Bevor die Zeit in Traunstein anfängt, kann im Werk noch eine biografische Episode

ausgemacht werden, die unabhängig von seiner Schulzeit ist. Diese widmet sich

dem ersten Erfolg seines Großvaters als Schriftsteller mit sechsundfünfzig Jahren.

Darauf folgt ein Besuch bei einem berühmten Schriftsteller und seinen beiden

Töchtern. Die Welt der Berühmtheit übt Faszination auf den jungen Thomas aus

und er und sein Großvater finden sich gut in dieser Welt zurecht (vgl. EK, S. 102):

Wir waren arm, aber man sah es uns nicht an. Wir hatten alle eine herrschaftliche Haltung. (EK, S. 104)

Die nächste abgrenzbare Episode ist die Zeit in Traunstein, in der er nun wieder bei

seinen Eltern wohnt. In die neue Umgebung kann er sich nicht gut einfinden und

somit wird es zu einer Zeit, in der er erstmals Selbstmordgedanken hat:

Als Esterreicher hatte ich es schwer, mich zu behaupten. Ich war dem Spott meiner Mitschüler vollkommen ausgeliefert. Die Bürgersöhne in ihren teuren Kleidern straften mich, ohne daß ich wußte, wofür, mit Verachtung. Die Lehrer halfen mir nicht, im Gegenteil, sie nahmen mich gleich zum Anlaß für ihre Wutausbrüche. Ich war so hilflos, wie ich niemals vorher gewesen war. Zitternd ging ich in die Schule hinein, weinend trat ich wieder heraus. (EK, S. 113)

Wenn ich nur sterben könnte! war mein ununterbrochener Gedanke. (EK, S. 114)

Auch in dieser verzweifelten Lage wünscht er sich seinen Großvater, der als

„Erlöser“ des jungen Thomas dargestellt wird:

Ich wünschte nur noch eines auf der Welt: daß mein Großvater kommt und mich rettet, bevor es zu spät ist. Ich hatte keine Zeit mehr. Ich war am Ende. Statt dem Ende kam die Erlösung. (EK, S. 115)

Sein Großvater erhält somit ein paar Mal in diesem autobiografischen Roman die

Stellung als Messias und Retter.

Seine Leistungen in der Schule verbessern sich jedoch auch in Traunstein nicht. Die

Außergewöhnlichkeit bzw. das vielseitige Talent und die krankhafte Abneigung des

Protagonisten gegen die Schule, die ihm von seinem Großvater eingetrichtert wird

(vgl. EK, S. 124), werden für den Misserfolg in der Schule verantwortlich gemacht:

Ich war der Talentierteste, gleichzeitig der Unfähigste, was die Schule betrifft. Meine Talente waren nicht, wie man glauben möchte, meinem Schulfortschritt förderlich, sie behinderten alles in höchstem Maße. (EK, S. 124)

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Historisch gesehen gehört Österreich in dieser Episode nun zu Deutschland und

aufgrund des herrschenden Nationalsozialismus muss er nun auch zum „Jungvolk“

gehen, einer Vorstufe zur sogenannten „Hitlerjugend“, die für ihn noch entsetzlicher

als die Schule ist (vgl. EK, S. 127).

Die nächste biografische Episode wird eingeleitet mit den Besuchen der Frau Dr.

Popp, die im Auftrag der Fürsorge arbeitet, um die als arm registrierte Familie zu

unterstützen. Frau Dr. Popp schickt den Protagonisten auf Erholung nach Saalfeld,

das sich als nationalsozialistisches Heim für schwer erziehbare Kinder entpuppt.

Aufgrund der psychischen Belastungen in der Schule und in der Umgebung wird er

nämlich zusätzlich zum „Unruhestifter“ auch noch zum „Bettnässer“ (vgl. EK, S.

137). Deswegen wird er von seiner Mutter gedemütigt, die als erzieherische

Maßnahme seine nassen Leintücher aus dem Fenster hängt, damit sie alle sehen

können. In Saalfeld gehen die Demütigungen aufgrund des Bettnässens weiter. Dort

findet er einen Leidensgenossen namens Quehenberger, der die sogenannte

„Englische Krankheit“ hat und der sein Leintuch oftmals mit Kot beschmutzt (vgl.

EK, S. 145). Es ist eine Episode seiner Kindheit, die durch Verzweiflung geprägt ist

und in der Demütigungen an der Tagesordnung sind. In dieser Zeit muss er einmal

bei einem Theaterstück einen Engel spielen. Er hat Probleme mit dem

Auswendiglernen, mit denen er auch noch zur Erzählzeit zu kämpfen hat und somit

versagt er in dieser Rolle, da ihm der Text entfällt (vgl. EK, S. 149). Diese

Theaterblamage erweist sich als äußerst einprägendes, negatives

Kindheitsereignis, das ihn an seinen Fähigkeiten zweifeln lässt.

In der darauffolgenden biografischen Episode ist er wieder zurück in Traunstein.

Historisch gesehen ist es die Zeit der sogenannten Terrorangriffe (vgl. EK, S. 152).

Diese Episode kann für Bernhard als Zeit des Aufschwungs bzw. der psychischen

Besserung gesehen werden und auch sein Großvater verdient zum ersten Mal

Geld, da zwei Bücher von ihm gedruckt werden (vgl. EK, S. 153). Der Großvater

sucht für den Enkel zur Entfaltung seiner Talente eine Kunstbeschäftigung. Somit

wird eine Staffelei für die Malkunst angeschafft und auch Geigenunterricht darf er

besuchen. In dieser Zeit brilliert er im „Jungvolk“ als Läufer und durch die vielen

errungenen Siegernadeln wird er zum Helden der Schule (vgl. EK, S. 154). Durch

die Erfolge stellt sich eine psychische Stabilisierung ein und damit auch sein

Bettnässen.

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Er findet einen Weg aus der Verzweiflung, indem er durch die gewonnenen

Laufdisziplinen Bewunderung und Anerkennung erntet:

Bei der Siegerehrung […] machte ich dem Helden, der ich jetzt war, alle Ehre. Ich entsprach dem Bild seiner Vollkommenheit. (EK, S. 156)

Um die finanzielle Situation der Familie aufzubessern, arbeitet er sogar als Schüler

für einen Pfarrer, indem er die Totenglocke läutet und für einen Bäcker, indem er

Brot austrägt. Dabei wird auch sein überaus großer Ehrgeiz betont, wodurch er

auch seine physischen Schwächen als Schüler kompensiert. Im Werk kommentiert

er diesen Sachverhalt folgendermaßen „[…] aber mein Ehrgeiz war immer größer

als meine Kräfte“ (EK, S. 160). Er wird als armes Kind beschrieben, denn er muss

sich im Gegensatz zu den anderen Kindern das Geld für den Jahrmarkt selbst

verdienen.

Der Elfjährige findet mit Inge Winter eine neue Freundin. In dieser Zeit streicht er

das eingangs bereits erwähnte Steyr-Waffenrad öfters mit silberner Farbe und

durchradelt damit die ganze weite Umgebung von Traunstein. Somit endet das

Werk beinahe mit derselben Zeitepisode, wie es beginnt. Er ist zwar am Ende der

biografischen Erzählung schon dreizehn Jahre alt, doch am selben Ort wie zu

Beginn der Handlung. Die erneute Erwähnung des Waffenrades schließt an den

Anfang an.

Die letzte Erzählepisode umfasst die Schulsuche für die weiterführende

Schullaufbahn. Nach der Aufnahmeprüfung in Passau, die er mit besonderer

Auszeichnung absolviert, bestimmt sein Großvater Salzburg für ihn als Schulstadt,

da er diese Stadt als besser geeignet für seinen Enkel betrachtet (vgl. EK, S. 167).

Durch die Aufgliederung in einzelne Erzählepisoden bzw. in biografisch

sinntragende Elemente zeigt sich, dass mit den unterschiedlichen

Wohnumgebungen, die mit bestimmten Entwicklungsschritten verbunden sind, auch

die unterschiedlichen Figurenkonstellationen einhergehen. Damit sind vor allem die

unterschiedlichen Freunde in den biografischen Episoden gemeint. Bei diesen

Beziehungen ist das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter und das äußerst gute

Verhältnis zu seinem Großvater mütterlicherseits hervorragend. Die beiden Figuren

erweisen sich als Hauptbezugspersonen und die Beziehung zu ihnen wird im

gesamten Werk thematisiert. Sie können als Konstante trotz der häufigen

Ortswechsel wahrgenommen werden. Die Figurenkonstellationen strukturieren die

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Autobiografie zusätzlich und sind verknüpft mit den verschiedenen Orten, in denen

der junge Bernhard gelebt hat.

Alle konstanten Elemente wie „frühes Talent“, „Überlegenheit und

Außergewöhnlichkeit“ gegenüber anderen Menschen, „tiefer gehende Weltsicht“,

„Genialität“ und „Extravaganz“ 247 finden sich in diesem Werk. Das frühe Talent zeigt

sich einerseits anhand der frühen Einschulung, aber auch in anderen Textstellen, in

denen betont wird, dass er außergewöhnlich ehrgeizig und begabt ist:

In den ersten Schultagen, erinnere ich mich, hatten wir eine Petroleumlampe zu zeichnen, von allen abgelieferten Zeichnungen war meine am besten gelungen, die Lehrerin hob sie, vor der Klasse stehend, in die Luft und sagte, das sei die beste Zeichnung. Ich war ein guter Zeichner. Aber ich habe diese Möglichkeit nicht weiter verfolgt, sie verkümmerte wie so viele andere. (EK, S. 89-90)

Die geistigen Fähigkeiten werden schon sehr früh als stark ausgeprägt beschrieben

und dadurch wird er auch als „schwieriges Kind“ bezeichnet, das seine Mutter

überfordert (vgl. EK, S. 14).

Die Überlegenheit und Außergewöhnlichkeit des Kindes gegenüber anderen

Menschen finden in vielen Beschreibungen ihren Ausdruck. Ein Beispiel unter vielen

ist, dass er angibt, als kleines Kind bereits die Hilflosigkeit der Mutter bemerkt und

ausgenützt zu haben (vgl. EK, S. 49). Auch den damit verbundenen

Erkundungsdrang bzw. die frühe tiefer gehende Weltsicht findet man eindeutig in

diesem Werk:

Ich war drei Jahre alt, ich war überzeugt, daß wir, meine Großeltern und ich, ganz und gar außerordentliche Leute waren. Mit diesem Anspruch stand ich jeden Tag auf in einer Welt, von deren Ungeheuerlichkeit ich nur eine Ahnung hatte, ich war gewillt, sie zu erforschen, sie mir klarzumachen, aufzuschlüsseln. Ich war drei Jahre alt und hatte mehr gesehen als andere Kinder meines Alters […]. (EK, S. 70)

Durch seinen Erkundungsdrang zeigt er auch eine gewisse Virtuosität bzw. ein

außerordentliches Perfektionsstreben, die Welt aufzuschlüsseln bzw. so viel wie

möglich davon zu verstehen. Bereits mit drei Jahren denkt er an seinem

bevorzugten Platz, dem Friedhof in Seekirchen, über das Leben tiefer gehend nach:

Stundenlang saß ich auf irgendeiner Grabeinfassung und grübelte über Sein und sein Gegenteil nach. (EK, S. 70)

247

Vgl. Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 123-124, S. 131 und Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 10.

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Intellektuell wird er vor allem durch seinen Großvater unterstützt. Diese

Unterstützung erfolgt durch die lehrenden Spaziergänge und die ausführliche

Beantwortung seiner vielen Fragen:

Während mein Großvater und ich weite Spaziergänge machten, […] während ich an der Seite des Philosophen schon einen gewissen Reifegrad erreicht hatte und tatsächlich für mein Alter überdurchschnittlich gebildet war, ohne darüber kopfüber in einen lebensbedrohenden Größenwahn zu verfallen […]. (EK, S. 105) Immer, wenn mir etwas spanisch vorgekommen war, wenn ich in meiner Aufklärungsbemühung scheiterte, lief ich, gleich von wo, zu meinem Großvater. […] Die Fragen häuften sich, die Antworten waren immer mehr Mosaiksteine des großen Weltbildes. (EK, S. 71)

Er wird als überdurchschnittlich intelligent beschrieben und zum variierenden

Element der „persönlichen Bemühungen und Anstrengungen“ kann angemerkt

werden, dass er sich ehrgeizig Wissen über die Welt aneignet. Die Extravaganz, die

auch als konstantes Element der Künstlerautobiografie angesehen wird, könnte

man mit der Außergewöhnlichkeit gleichsetzen. Ein Beispiel für Extravaganz, die

auch mit Außergewöhnlichkeit umschrieben werden kann, ist die angegebene

„krankhafte […] Sucht nach Sensationen“ (EK, S. 50), wodurch er die Mutter

überfordert. Die Genialität des Kindes zeigt sich in der Verkleidung der

Schwierigkeit:

Wenn wir es den Eltern schwer machen, wird etwas aus uns, sagte er. Gerade diese sogenannten schwierigen Kinder werden etwas. Und gerade sie lieben ihre Eltern über alles, mehr als alle anderen. Aber das verstehen die Eltern nicht. (EK, S. 54)

Sowohl der „Zugang zu Lebenschancen“, der sich aus den „Ressourcen an

Unterstützung und Anleitung“ durch den Großvater ergibt, als auch die persönlichen

Ressourcen, wie zum Beispiel die Intelligenz, das Aussehen oder die intellektuelle

Stärke, sind auf vielfältige Art und Weise in positiv ausgeprägter Form vorhanden

und deuten eine spätere intellektuelle Tätigkeit bzw. eine Künstlerlaufbahn an.

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4.3.2) Hermeneutische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“

Seine Liebe zu Sprachen und sein intellektueller Ehrgeiz finden sich im gesamten

Werk mit mehr oder weniger hervorstechenden Motiven. Seine erste Erinnerung

und der damit einhergehende Titel „Die gerettete Zunge“ weisen schon auf diesen

Sachverhalt hin. In seiner ersten Erinnerung wird ihm gedroht, dass ihm die Zunge

abgeschnitten werde, wenn er etwas vom Verhältnis des Kindermädchens zu einem

jungen Herrn verraten würde. Diese „gerettete Zunge“ leitet die Erzählung seiner

Kindheit ein, in der die Sprache bzw. Sprachen immer eine große Rolle spielen. Die

Mutter als eine der Hauptbezugspersonen wird als äußerst intellektuell beschrieben

und dies zeigt unter anderem die gebotene intellektuelle Unterstützung für den

Heranwachsenden:

Ihr Verstand war durchdringend, ihre Menschenkenntnis an den großen Werken der Weltliteratur geschult, aber auch an den Erfahrungen ihres eigenen Lebens. […] Spät habe ich erkannt, daß ich, auf die größeren Verhältnisse der Menschheit übertragen, genau wie sie bin. […] mein Stolz auf sie ist noch immer so groß, daß ich nur eines wirklich hasse: ihren Feind, den Tod. (GZ, S. 13)

Die deutsche Sprache nimmt schon sehr früh in seinem Leben einen hohen

Stellenwert ein und die Liebe zur Sprache übernimmt er von seinen Eltern. In der

Zeit in Rustschuk sprechen die Eltern oftmals untereinander Deutsch, das er nicht

verstehen kann und so wird sie für ihn zu einer Zaubersprache (vgl. GZ, S. 34). Er

versucht sich heimlich aufgeschnappte Phrasen einzuprägen, um etwas von der

Zaubersprache zu beherrschen. Dies ist unter anderem ein Indiz für die bereits im

Kindesalter gezeigte Virtuosität:

Wenn der Vater vom Geschäft nach Hause kam, sprach er gleich mit der Mutter. Sie liebten sich sehr in dieser Zeit und hatten eine eigene Sprache unter sich, die ich nicht verstand, sie sprachen Deutsch, die Sprache ihrer glücklichen Schulzeit in Wien. (GZ, S. 33) […] unter den vielen heftigen Wünschen dieser Zeit blieb es für mich der heftigste, ihre geheime Sprache zu verstehen. (GZ, S. 35)

Sein Vater liest täglich in der Früh die „Neue Freie Presse“ und der kleine Elias will

schon sehr früh herausbekommen, was den Vater dabei so fesselt. Vorerst vermutet

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er, es könnte der Geruch sein, doch dann löst der Vater das Rätsel auf, was in ihm

die Sehnsucht weckt, lesen zu lernen:

Da sprach er zu mir, […], und erklärte mir, daß es auf die Buchstaben ankomme, viele kleine Buchstaben, auf die er mit dem Finger klopfte. Bald würde ich sie selber lernen, sagte er, und weckte in mir eine unstillbare Sehnsucht nach Buchstaben. (GZ, S. 38)

Der Mordanschlag des Protagonisten an seine Kusine Laurica, die ihm Schulhefte

mit Buchstaben vorenthält, verdeutlicht, dass ihn Buchstaben besonders faszinieren

(vgl. GZ, S. 39-42). Er zeigt somit ein äußerst temperamentvolles Handeln in Bezug

auf seine geliebte Sprache. Rustschuk als Ort seiner frühesten Kindheit trägt zu

seiner Liebe zur Sprache bzw. zu den Sprachen bei, da hier die Mehrsprachigkeit

zum guten Ton gehört:

Es war oft von Sprachen die Rede, sieben oder acht verschiedene wurden allein in unserer Stadt gesprochen, etwas davon verstand jeder, nur die kleinen Mädchen, die von den Dörfern kamen, konnten Bulgarisch allein und galten deshalb als dumm. Jeder zählte die Sprachen auf, die er kannte, es war wichtig, viele von ihnen zu beherrschen, man konnte durch ihre Kenntnis sich selbst oder anderen Menschen das Leben retten. (GZ, S. 38)

Als kleiner Junge wird er beim Fangenspielen von seiner Kusine Laurica in einen

brühend heißen Wasserkessel geschubst. Durch diesen Unfall liegt er sehr viele

Wochen unter starken Schmerzen im Bett. Der Arzt und alle Angehörigen fürchten

um sein Leben. Zu dieser Zeit ist sein Vater in England und Elias hat große

Sehnsucht nach ihm, denn er hat Angst, dass er ihn nicht wiedersehe, wenn er

sterben würde. Die anschließend beschriebene Erlösungsszene durch den Vater

verdeutlicht die Schlüsselposition bzw. die Bedeutsamkeit des Vaters für den

Jungen. Durch die wiedergewonnene Stärke des Jungen erhält der Vater die

Stellung eines Erlösers bzw. eines Heiligen:

Dann hörte ich seine Stimme, er trat von hinten an mich heran, ich lag auf dem Bauch, er rief leise meinen Namen, er ging ums Bett herum, ich sah ihn, er legte mir leicht die Hand aufs Haar, er war es, und ich hatte keine Schmerzen. […] Die Wunde verwandelte sich in ein Wunder, die Heilung setzte ein, er versprach, nicht mehr fortzugehen, und blieb während der nächsten Wochen. Der Arzt war der Überzeugung, daß ich ohne sein Erscheinen und seine weitere Gegenwart gestorben wäre. (GZ, S. 43-44)

Als wichtiges Motiv erweist sich die Herausstellung der Außergewöhnlichkeit des

Jungen. So zeigt er sich unter anderem als sehr kreativ. Ein Beispiel für die

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außergewöhnliche Kreativität ist die Erfindung der Geschichten über die

„Tapetenleute“ (vgl. GZ, S. 51). Wenn er alleine im Kinderzimmer ist, erscheinen

ihm die vielen Kreise im Tapetenmuster als Personen und zu diesen erfindet er sehr

viele Geschichten. Dies könnte man als ersten Vorboten für seine spätere

schriftstellerische Tätigkeit ansehen. Es zeigt sich, dass er ausreichende

intellektuelle Unterstützung vonseiten seiner Eltern erfährt. So gibt zum Beispiel

seine Mutter zusätzliche Französischstunden in Auftrag (vgl. GZ, S. 67) und sein

Vater versorgt ihn mit ausreichender, für sein Alter durchaus anspruchsvolle

Lektüre. Diese Bücher finden auch ihren Niederschlag im Alltag:

Ich brachte alles, was ich damals erlebte, in Zusammenhang mit den Büchern, die ich las. (GZ, S. 69)

Zur Kreativität gesellt sich ein außergewöhnlicher Perfektionsdrang. So übt er zum

Beispiel eine Geschichte aus dem Französischunterricht immer wieder für sich, um

ja keinen Fehler zu machen bzw. um ja nicht zu stocken beim Vortrag (vgl. GZ, S.

68)

Als äußerst einprägendes Ereignis erweist sich klarerweise der Verlust seines

geliebten Vaters, der plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt:

Alle Fassungen dieses Berichts [vom Tod des Vaters] hat meine Erinnerung bewahrt, ich wüßte nicht, was ich mir verläßlicher gemerkt hätte. (GZ, S. 75)

In dem Bericht über die schlaflosen Nächte, in der der siebenjährige Elias seine

Mutter nach dem Tod des Vaters vor dem Suizid aus Verzweiflung bewahrt, der in

der Erzählung schon vor dem eigentlichen Tod des Vaters steht, zeigt sich, dass der

Junge sich als außergewöhnlich reif und verantwortungsbewusst für sein Alter

zeigen muss:

Nach der Aufregung schliefen wir beide erschöpft ein. Allmählich bekam sie eine Art von Respekt für mich, und sie begann mich in vielem wie einen Erwachsenen zu behandeln. (GZ, S. 49)

Es finden sich in der Erzählung immer wieder genaue Datierungen, so gibt es bei

allen Ortswechseln bzw. bei einschneidenden Übergängen genaue Orts- und

Datumsangaben. Der Übergang zur Zeit in Wien wird mit historischen Daten

gespickt. So sehen sie das Land bei der Fahrt durch Österreich am 18. August 1913

beflaggt, da Kaiser Franz Josephs Geburtstag ist (vgl. GZ, S. 95). Durch solche

Anmerkungen und Details werden die beschriebenen Kindheitserinnerungen

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historisch eingebettet. Ein weiteres Beispiel für ein historisches Ereignis in der

Wiener Zeit ist die Ermordung des Thronfolgers im ersten Jahr in Wien (vgl. GZ, S.

102). Historische Ereignisse werden in der Erzählung verknüpft mit den damit

verbundenen Kindheitserinnerungen. So singen sie in der Schule nach der

Verkündigung des Todes des Thronfolgers das Kaiserlied und danach bekommen

sie schulfrei. Das Kind erfreut sich natürlich am schulfreien Tag (vgl. GZ, S. 102). In

der Wiener Zeit macht er erste antisemitische Erfahrungen als Jude, denn er wird

gemeinsam mit seinem Freund Kornfeld als Jude beschimpft (vgl. GZ, S. 102).

Die Mutter zeigt in der gesamten Erzählung außergewöhnlichen Ehrgeiz in Bezug

auf die pädagogisch intellektuelle Unterstützung des Sohnes, der sich durch den

Deutschlernprozess gut verdeutlichen lässt. Kurz vor der Übersiedelung nach Wien

im Jahr 1913 beschließt sie, dass der achtjährige Elias innerhalb kürzester Zeit

Deutsch lernen muss, da es für sie ein unerträglicher Gedanke sei, dass er

aufgrund der Unkenntnis der Sprache nicht in die altersgemäße dritte Schulstufe

aufgenommen werden könnte. Sie unterrichtet ihn privat und fordert von ihm die

allergrößte Motivation und den allerhöchsten Fleiß (vgl. GZ, S. 86-90). Durch die

ehrgeizige intellektuelle Unterstützung des Sohnes eröffnet sie ihm den Zugang zu

Lebenschancen, wie in diesem Fall den Einstieg in die altersadäquate Klasse trotz

einer neuen Sprachumgebung. Anfangs versucht sie hartnäckig ihm rein mündlich

die Sprache bei- bzw. näherzubringen, doch die rein verbale Lernmethode fällt dem

Jungen sichtlich schwer und er leidet darunter:

Sie achtete nicht darauf, daß ich vor Kummer wenig aß. Den Terror, in dem ich lebte, hielt sie für pädagogisch. (GZ, S. 88)

Er versucht sich die Sätze mit außergewöhnlichem Eifer und voller Besessenheit

einzuprägen, doch er hat keine schriftlichen Aufzeichnungen dazu und so kommt es

auch vor, dass er sich Fehler einprägt. Doch die Mutter duldet keine Fehler und

zeigt sich erbarmungslos streng:

[…] das Höchste, wozu ich es brachte, war, daß sie mich nicht verhöhnte. An anderen Tagen ging es weniger gut, und dann zitterte ich in Erwartung des Idioten, den sie zur Welt gebrachte hatte, der traf mich am schwersten. (GZ, S. 88)

Die Demütigungen der Mutter spornen jedoch seinen Eifer an, die Sprache korrekt

zu erlernen (vgl. GZ, S. 88-89). Aus dieser misslichen Lage rettet ihn das

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Kindermädchen Miss Bray, die der Mutter verdeutlicht, dass er auch gerne die

deutsche Schrift lernen möchte. Dadurch erhält er ein Grammatik-Buch und kann

fortan aus dem Lehrwerk, von der Schrift lernen, wodurch er sehr schnell enorme

Fortschritte erzielt:

Es war eine erhabene Zeit, die jetzt begann. Die Mutter begann mit mir Deutsch zu sprechen, auch außerhalb der Stunden. […] Erst später begriff ich, daß es nicht nur um meinetwillen geschah, als sie mir Deutsch unter Hohn und Qualen beibrachte. Sie selbst hatte ein tiefes Bedürfnis danach, mit mir deutsch zu sprechen, es war die Sprache ihres Vertrauens. (GZ, S. 90)

Es ist die Sprache ihres Vertrauens, da es auch die Sprache ihrer Ehe gewesen ist,

denn sie hat sich mit dem Vater großteils in Deutsch unterhalten. Dadurch wird der

junge Elias sprachlich an die Stelle des verstorbenen Vaters bzw. aus Sicht der

Mutter an die des verlorenen Ehemannes gesetzt. Die Verwurzelung der deutschen

Sprache mit dem Andenken an seinen geliebten Vater trägt dazu bei, dass sie für

ihn große Bedeutung erhält. Der schnelle Lernfortschritt verbunden mit

außergewöhnlichem Eifer beim Erlernen der deutschen Sprache anhand der Schrift

zeigt ebenfalls die Außergewöhnlichkeit des Jungen:

Sie erwartete sich sehr viel davon und ertrug es schwer, als ich zu Anfang ihres Unternehmens zu versagen drohte. So zwang sie mich in kürzester Zeit zu einer Leistung, die über die Kräfte jedes Kindes ging, und daß es ihr gelang, hat die tiefere Natur meines Deutsch bestimmt, es war eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache. (GZ, S. 90)

Dieser Lernprozess, der durch die Vorenthaltung der Schrift anfangs sehr schwierig

ist, kann als ein Vorbote für seine spätere schriftstellerische Tätigkeit in deutscher

Sprache angesehen werden:

Es muß auch den Hang zum Schreiben früh in mir genährt haben, denn um das Erlernen des Schreibens willen hatte ich ihr das Buch abgewonnen, und die plötzliche Wendung zum Besseren begann eben damit, daß ich deutsche Buchstaben schreiben lernte. (GZ, S. 90)

Die Hochschätzung der Sprachen und insbesondere der deutschen Sprache lebt die

Mutter vor und diesbezüglich verlangt sie großen Ehrgeiz von ihrem ältesten Sohn

Elias. Besonders im Bereich der Sprachen wird die frühe intellektuelle

Unterstützung durch die Mutter als sehr ausgeprägt und intensiv dargestellt:

Sie duldete keineswegs, daß ich die anderen Sprachen aufgab, Bildung bestand für sie in den Literaturen aller Sprachen, die sie kannte, aber die Sprache unserer Liebe- und was war es für eine Liebe!- wurde Deutsch. (GZ, S. 90)

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Die Liebe zu den Sprachen und damit auch verbunden zu Büchern zeigt sich, wie

zum Teil schon durch Textstellen belegt, als wichtiges Motiv in der Darstellung

seiner Kindheitserinnerungen. Die außerordentliche Begabung des Kindes, die

angetrieben und unterstützt wird durch den Ehrgeiz der Mutter, kann als roter Faden

gesehen werden, der das gesamte Geschehen zusammenhält.

So ist es für die Mutter auch klar, welchen Bildungsweg der Protagonist einmal

anzustreben habe und sie stellt hohe Ansprüche an die Entwicklung des Sohnes:

Die Volksschule hatte fünf Klassen, sie fand bald heraus, daß man die fünfte überspringen könne, wenn man gute Zeugnisse hatte, und sagte: »Nach der vierten Klasse, das ist in zwei Jahren, kommst du ins Gymnasium, da lernt man Latein, das wird nicht mehr so langweilig für dich sein«.(GZ, S. 102)

»Was möchtest du, daß ich werde?« fragte ich einmal, in großer Angst, als wüßte ich, was für eine schreckliche Antwort kommen würde. »Am besten ist Dichter und Arzt zusammen«, sagte sie. (GZ, S. 152)

Das Motiv der außergewöhnlichen Begabung bzw. des frühen Talents unterstützt

durch den Ehrgeiz und Perfektionsdrang der Mutter durchdringt viele

Kindheitsereignisse und es kann angenommen werden, dass die intellektuellen

Prägungen aus der Kindheit Auswirkungen auf den späteren Lebenslauf haben.

Somit könnte man diese Erzählmomente, wie vorher schon bei einem konkreten

Textbeispiel angesprochen, als Vorboten für seine späteren schriftstellerischen

Tätigkeiten ansehen. Ein weiterer Beleg für die Außergewöhnlichkeit, die Virtuosität

und die intellektuelle Unterstützung ist unter anderem auch die Tatsache, dass er

manche Bücher mehr als vierzig Mal liest und er immer wieder neues Lesematerial

von der Mutter zur Verfügung gestellt bekommt (vgl. GZ, S. 104). Der Großvater

väterlicherseits kümmert sich um die religiöse Erziehung des Jungen und besucht

ihn dafür in Wien (vgl. GZ, S. 106-109). Obwohl es zwischen seiner Mutter und den

Großvater Canetti Differenzen gibt, da er ihr vorwirft den Vater von Bulgarien

weggelockt zu haben, schätzt er dennoch die Erziehungsart der Mutter:

Er hatte, obwohl es eine für ihm völlig fremde Welt war, in der sich ihr Geist bewegte, großen Respekt vor der Bildung der Mutter und besonders dafür, daß sie mit uns streng war und sehr viel von uns verlangte. (GZ, S. 109)

Zur intellektuellen Unterstützung und Förderung zählen auch die Abende, in der er

mit der Mutter über die derzeitigen Lektüren sprechen kann und an denen sie auch

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gemeinsam lesen. Diese werden als sehr prägend für seine Entwicklung

beschrieben:

Denn das unvergleichlich Wichtigste, das Aufregende und Besondere dieser Zeit waren die Leseabende mit der Mutter und die Gespräche, die sich an jede Lektüre knüpften. Ich kann diese Gespräche nicht mehr im einzelnen wiedergeben, denn ich bestehe zum guten Teil aus ihnen. Wenn es eine geistige Substanz gibt, die man in früheren Jahren empfängt, auf die man sich immer bezieht, von der man nie loskommt, so war es diese. (GZ, S. 111)

Aufgrund dieser Leseabende kann er viele Personen aus Büchern kennenlernen

und durch die oftmaligen Ortswechsel macht er auch Bekanntschaft mit vielen

verschiedenen Personen, wobei einige davon zu seinen Freunden werden. Doch

die vielen verschiedenen Personen, mit denen er in Kontakt tritt, sei es über Bücher

oder im realen Leben, hinterlassen ihre Wirkung und diese Tatsache wird ihm früh

bewusst:

Seit dieser Zeit, also seit meinem zehnten Lebensjahr, ist es eine Art Glaubenssatz von mir, daß ich aus vielen Personen bestehe, deren ich mir keineswegs bewußt bin. (GZ, S. 112)

Der Erzähler verdeutlicht, dass er davon überzeugt ist, dass der Protagonist von

vielen verschiedenen Menschen geprägt wird. Mit seinem Übertritt ins Gymnasium

im Jahr 1915 kann er viele neue Persönlichkeiten kennenlernen und es treten viele

neue Figuren in die Erzählung ein wie zum Beispiel Lehrpersonen, neue

Kindermädchen und auch Mitschüler. Dieser Sachverhalt belegt, dass der

Protagonist ständig neue Kontakte gewinnen kann, die ihn in weiterer Folge zum

Teil prägen. Als bedeutender Freund kann unter anderem Hans genannt werden,

mit dem er in Zitaten schwelgt und Dichterquartett spielt (vgl. GZ, S. 141).

Da er seinen Vater so früh verliert und dadurch sehr früh Verantwortung

übernehmen und Reife zeigen muss, um seine Mutter vor der Verzweiflung zu

retten, bildet er einen außergewöhnlichen Beschützerinstinkt für seine Mutter aus.

Dieser äußert sich in extravaganter Eifersucht:

Damals setze die Eifersucht ein, die mich mein Leben lang gequält hat, und die Gewalt, mit der sie mich überkam, hat mich für immer geprägt. Sie wurde zu meiner eigentlichen Leidenschaft, die sich um Überzeugungen und besseres Wissen nicht im geringsten scherte. (GZ, S. 149)

So erträgt er es nicht, wenn Männer seiner Mutter zu nahe kommen. Dies trifft zum

Beispiel auf den Herrn Dozenten zu, der ihnen bei der Übersiedelung in die Schweiz

zur Seite steht und ihnen hilft. Zu dieser Zeit lebt der erstgeborene Elias alleine mit

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seiner Mutter, da seine Brüder ab dem Ausbruch der Krankheit der Mutter bei den

Großeltern sind. Als die Übersiedelung in die Schweiz ansteht, ist die Mutter noch

erholungsbedürftig. Der Herr Dozent macht ihm vor allem große Angst, da er sie auf

die Lektüre neuer Autoren bringt und die neuen Werke fürchtet er (vgl. GZ, S. 154).

Da man sich in der Schweiz bei der Schulaufnahme streng an das Alter hält, kommt

er in die sechste Klasse der Primarschule in Oberstrass, obwohl er eigentlich in die

zweite Klasse der höheren Schule gehört hätte. Die Mutter versucht dies ehrgeizig

zu verhindern, doch sie muss diesbezüglich ihren Stolz schlucken (vgl. GZ, S. 168-

169). Zu dieser Zeit leben sie nun auch bescheidener ohne Kindermädchen. Die

bescheidene Lebensweise kann zwar zum Teil auf die Wiener Kriegsjahre

zurückgeführt werden, doch sie ist auch ein Erziehungsprinzip:

Sie wollte uns allen dreien eine gute Erziehung geben und zu dieser Zeit gehörte es, daß wir uns nicht an das Vorhandensein von Geld gewöhnten. (GZ, S. 173)

Ab dem Frühjahr 1917 besucht er die Kantonsschule an der Rämisstraße und auf

dem zwanzigminütigen Schulweg zeigt sich wiederum seine außerordentliche

Kreativität. Denn er erfindet lange Geschichten, die von Tag zu Tag fortgesetzt

werden und die sich sogar teilweise über Wochen hinziehen (vgl. GZ, S. 178). Diese

Schulzeit wird als intellektuell gewinnbringend eingeschätzt und auch die

Lehrpersonen werden als sehr einprägende Persönlichkeiten beschrieben:

In dieser Zeit ging durch die Schule so viel in mich ein wie sonst nur durch Bücher. Was ich lebendig aus dem Mund von Lehrern erlernte, behielt die Gestalt dessen, der es aussprach, und blieb ihm in der Erinnerung immer zugehörig. (GZ, S. 183)

Die Vielfalt der Lehrer war erstaunlich, es ist die erste bewußte Vielfalt in meinem Leben. (GZ, S. 185)

Diese bewusste Vielfalt von Menschen wird auch als „die erste bewusste Schule der

Menschenkenntnis“ (GZ, S. 185) beschrieben und somit zeigen sich diese Figuren,

die zum Teil sehr genau dargestellt werden, als wichtige Motive in der

Entwicklungsgeschichte des jungen Schriftstellers. Er hält auch Ausschau nach den

Klassenkameraden, von denen er etwas lernen kann und darin zeigt sich der

Wunsch nach tiefer gehender Weltsicht bzw. nach Perfektion:

Wenn sie gar etwas beherrschten, was mir fehlte, faßte ich Bewunderung für sie und ließ sie nicht aus den Augen. (GZ, S. 179)

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Als wichtiger Schulfreund dieser Zeit kann Walter Wreschner genannt werden, mit

dem er eine literarische Freundschaft schließt (vgl. GZ, S. 205). Die Beschreibung

der literarischen Freundschaft zeigt die Genialität des jungen Elias auf.

Die Zeit der gemeinsamen Leseabende mit der Mutter ist vorüber, doch die

Schulzeit füllt ihn so aus, sodass der Erzähler kommentiert, dass ein anderer

Reichtum an diese Stelle getreten ist (vgl. GZ, S. 197). Das Lernen erscheint ihm

nicht als Belastung und er fühlt sich intellektuell gut gefördert:

Was immer auf mich zukam, schlug feste Wurzeln, es war Platz für alles, ich hatte nie das Gefühl, daß mir etwas vorenthalten wurde, im Gegenteil, mir schien, als werde mir alles dargeboten, und ich hätte es nur aufzufassen. (GZ, S. 203)

Im Winter 1918/1919 kommt eine große Grippe-Epidemie. Alle werden von der

Krankheit erfasst, doch die Mutter kann sich nur sehr schwer davon erholen. Ihre

Schwächezustände kehren immer wieder zurück und sie sehnt sich zurück nach

Wien. Sie beraten lange, wie es nun weitergehen werde und da Elias auf keinem

Fall die Schule wechseln will, darf er alleine in Zürich zurückbleiben und die kleinen

Brüder kommen wieder nach Lausanne ins Pensionat, wo sie ihr Französisch

verbessern sollen (vgl. GZ, S. 208-209).

Mit dem neuen Wohnort der Pension Villa Yalta in Zürich beginnt ein neuer

Entwicklungs- und Lebensabschnitt für den jungen Elias. Da in dieser Pension fast

nur Mädchen beheimatet sind und es auch nur Betreiberinnen gibt, ist er dort als

Junge etwas Besonderes. Er fühlt sich zu dieser Zeit sehr frei und kann auch lesen,

was er will:

Ich tat im Grunde, was ich wollte, ich las und lernte, wozu ich Lust hatte. Dazu betrat ich auch abends das Wohnzimmer der Damen: Es enthielt einen Bücherschrank, in dem ich nach Herzenslust wählen durfte. (GZ, S. 232)

Die Mutter verbringt den Großteil der beiden Jahre in Arosa in einem

Waldsanatorium zur Erholung und auch sie lebt unter vielen neuen Menschen, die

sie geistig beeinflussen (vgl. GZ, S. 235). Kontakt hält er mit der Mutter, indem sie

Briefe wechseln, doch für die täglichen Regeln des Alltags sind die vier Damen, die

Betreiberinnen der Pension, verantwortlich:

Ich war viel freier als früher, sie kannten die Art meiner Wünsche und versagten mir nichts. (GZ, S. 236) So war auch sie [Mutter] frei von uns, wie ich von ihr und den Brüdern, und beider Kräfte entwickelten sich auf unabhängige Weise. (GZ, S. 237)

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Durch die Schule entwickelt er einen akademischen Ehrgeiz und „Wissenschaft“

und „wissenschaftlich“ werden für ihn zu neuen Zauberwörtern (vgl. GZ, S. 236). Da

er zu dieser Zeit die Mutter nicht mehr beschützen muss, werden Kräfte in ihm frei,

die lange nur für die Bewachung der Mutter reserviert gewesen sind (vgl. GZ, S.

237):

Damals entstanden die ersten Keime der späteren Entfremdung zwischen uns. Als die Wißbegier, die sie auf jede Weise gefördert hatte, eine Richtung nahm, die ihr fremd war, begann sie an der Wahrhaftigkeit und an meinem Charakter zu zweifeln und fürchtete, ich könnte dem Großvater nachgeraten, den sie für einen abgefeimten Komödianten hielt: ihr unversöhnlichster Feind. (GZ, S. 238)

So ist dieser Entwicklungsabschnitt eine Phase der Entfremdung von der Mutter und

er kann sich dadurch geistig in neue Richtungen entwickeln.

Zu dieser Zeit nimmt er sein erstes schriftstellerische Werk in Angriff. Er schreibt

monatelang konsequent an jedem Abend an einem Drama namens „Junius Brutus“,

das er seiner Mutter widmet. Der Erzähler zeigt sich rückblickend diesbezüglich

sehr selbstkritisch:

Es mag junge Dichter gegeben haben, die mit 14 Jahren Talent verrieten. Ich gehörte bestimmt nicht zu ihnen. Das Drama war erbärmlich schlecht, in Jamben geschrieben, die jeder Beschreibung spotten, ungeschickt, holprig und aufgeblasen, von Schiller nicht eben beeinflußt, sondern in jeder Einzelheit bestimmt, aber so, daß alles lächerlich wurde, von Moral und Edelmut triefend, geschwätzig und seicht […]. (GZ, S. 240)

Im Herbst 1919 wird die antisemitische Ausgrenzung der Juden immer schlimmer

und so treffen sich alle siebzehn Juden der dritten Klasse, um eine Petition zu

entwerfen und zu beschließen, damit das Rektorat auf den aufkommenden

Antisemitismus aufmerksam gemacht wird (vgl. GZ, S. 258). Doch die Petition wird

von den Empfängern zerrissen und bewirkt nichts. Diese feindliche Umgebung hat

auch Auswirkungen auf seine sonst gezeigte Schulfreude. Aufgrund eines

Zwischenfalls beim Aufzeigen, wo er sehr schnell aufzeigt und der Lateinprofessor

meint, dass der Junge, den er drangenommen hat, ruhig nachdenken soll, denn

„Wir lassen uns nicht alles von einem Wiener Juden wegnehmen“ (GZ, S. 252) und

eines Kommentars des Usteri „Du streckst zuviel auf“ (GZ, S. 260) verliert er die

Freude an der Schule und zeigt nicht mehr auf, um mitzuarbeiten:

Ich war auch unlustig geworden, die Schule freute mich nicht mehr. (GZ, S. 260)

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Vier Monate nach dem Beginn der Kampagne hören die Sticheleien auf, doch sein

Aufzeigen bleibt dennoch auf ein Minimum reduziert (vgl. GZ, S. 261). Intellektuell

ist er aber dennoch gut eingebettet, denn er ist zum Beispiel auch in einem Art

Schachclub, der sich bildet (vgl. GZ, S. 262).

Im Mai 1921 besucht ihn seine Mutter und wirft ihm vor, dass er hier verblöde und

deshalb weg von hier müsse (vgl. GZ, S. 319):

Es war eine jener Szenen, in denen sie alles niederzureißen versuchte, was sie in jahrelanger, geduldiger Bemühung in mir aufgerichtet hatte. Auf ihre Weise war sie ein revolutionärer Mensch. Sie glaubte an Plötzlichkeiten, die einbrechen und sämtliche Konstellationen auch im Menschen erbarmungslos verändern. (GZ, S. 321)

Die Mutter will ihn unbedingt zum Umzug nach Deutschland bewegen und die

Gegenargumente des Protagonisten verlaufen im Sand. Sie beleidigt ihn zutiefst

und da er nur mehr aus Trümmern besteht, gibt er sich verloren (vgl. GZ, S. 329).

Doch im Nachhinein gesehen kann der Erzähler dieser Wendung, die das Ende des

Werkes ausmacht, auch etwas Gutes abgewinnen:

Es ist wahr, daß ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand. (GZ, S. 330)

Im Werk verdeutlicht der Erzähler, wie ihm einzelne Figuren aber auch Orte und

Ereignisse prägen. Ein wichtiges Motiv, das die gesamte Erzählung zusammenhält,

ist zusammengefasst der Perfektionsdrang der Mutter, der den ehrgeizigen Elias zu

Höchstleistungen antreibt. Die Mutter bietet ihm somit eine gut ausgeprägte

intellektuelle Unterstützung.

Das gesamte Werk ist durchzogen von Beschreibungen, die verdeutlichen, dass der

junge Elias seinem Alter weit voraus ist und dass er durch seinen intellektuellen

Ehrgeiz schon früh Attitüden eines Schriftstellers aufweist. Abschließend zeigt sich

auch hier, dass alle als konstant beschriebenen Elemente einer

Künstlerautobiografie im Werk enthalten sind. Auch die vier variierenden

Komponenten (persönliche Ressourcen, Ressourcen an Unterstützung und

Anleitung, Zugang zu Lebenschancen, persönliche Bemühungen und

Anstrengungen) sind alle auf unterschiedliche Art und Weise positiv ausgeprägt, wie

sie in diesem Kapitel herausgearbeitet zu finden sind.

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4.3.3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und Canettis „Die gerettete Zunge“ aus der hermeneutischen Analyse

Dieses Kapitel stellt die auf hermeneutischem Weg gefundenen Gemeinsamkeiten

und Unterschiede der Autobiografien dar. Bei den Inhalten kann lediglich von

Inszenierungen der Künstlerjugend bzw. Kindheit gesprochen werden. Es kann

natürlich kein Anspruch erhoben werden, dass sich die dargestellten Ereignisse

bzw. Gegebenheiten im tatsächlichen Leben so abgespielt haben.

Sowohl Canetti als auch Bernhard werden in ihrer Kindheit intellektuell gut

gefördert. Bei Canetti übernimmt die intellektuelle Unterstützung und Anleitung

vorerst sein Vater, dann vor allem seine Mutter und auch die Lehrer in der Schule

werden als intellektuell prägend und gewinnbringend dargestellt. Der junge Elias

erfährt somit eine breite intellektuelle Unterstützung, die hauptsächlich von der

Mutter angeleitet wird, bei der jedoch auch einige andere Personen eine Rolle

spielen. So übernimmt zum Beispiel der Großvater die Rolle des Religionslehrers,

da auf diesen Erziehungsbereich die Mutter keinen Wert legt.

Bei Bernhard hingegen erscheint der Großvater als der einzige Lehrer, der ihn als

überdurchschnittlich intelligent hält und der die Lehrer als stumpfsinnige Banausen

bezeichnet (vgl. EK, S. 42). Dies hat zur Folge, dass der junge Thomas die

Lehrer/Lehrerinnen auch nicht als gute Lehrende schätzen kann. Der Großvater

belehrt ihn vor allem bei den gemeinsamen Spaziergängen, doch auch sonst hat er

immer ein offenes Ohr für den Enkel (vgl. EK, S. 71):

Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die anderen fortwährend zuziehen. Wir sehen, sind wir mit ihnen zusammen, was wirklich ist, nicht nur den Zuschauerraum, wir sehen die Bühne und alles hinter der Bühne. […] Er machte mich, früh genug, aber tatsächlich als einziger, darauf aufmerksam, daß der Mensch einen Kopf hat und was das bedeutet. Daß zur Gehfähigkeit auch die Denkfähigkeit so bald als möglich einzusetzen habe. (EK, S. 23-24)

Da die hauptsächliche intellektuelle Unterstützung bei Canetti die Mutter bietet und

bei Bernhard der Großvater, zeigen sich Parallelen zwischen diesen beiden

Hauptbezugspersonen. Sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie privaten

Unterricht erteilen, der weit über den schulischen Lehrstoff hinausgeht. Es kann

konstatiert werden, dass beide hohe Anforderungen an die Entwicklung des Kindes

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bzw. des Jugendlichen stellen und sie ihnen Bildungsinhalte nahebringen, die weit

über dem altersgemäßen Niveau anzusiedeln sind. Vergleichend kann der

hauptsächliche Ort der Belehrung herausgestellt werden. Dabei handelt es sich bei

Bernhard um die Spaziergänge mit dem Großvater und bei Canetti um die

Leseabende mit der Mutter. Diese privaten Belehrungen bzw. die privaten

Unterrichtsstunden unterscheiden sich nach ihren Beschreibungen in ihrer

Vorgehensweise. So werden bei Canetti hauptsächlich Bücher gemeinsam gelesen

und dialogisch besprochen und bei Bernhard handelt es sich hingegen um

Monologe des Großvaters über Naturgeschichte, Philosophie, Mathematik oder

Geometrie (vgl. EK, S. 82).

Bernhards Großvater ist auf der Suche nach der passenden Kunstbeschäftigung für

den Enkel. Die Anschaffung einer Staffelei bzw. die Bezahlung von Geigenunterricht

zeigen die Versuche des Großvaters, das vermutete Talent durch eine

Kunstbeschäftigung zur Entfaltung zu bringen. Bei Canetti hingegen wird gezielter

eine literarische Künstlerlaufbahn angestrebt. Auf die Frage des jungen Canetti, was

er einmal werden solle, antwortet die Mutter, dass sie es am besten finden würde,

wenn er Dichter und Arzt werde (vgl. GZ, S. 152). Die anbahnende Autorenlaufbahn

zeigt sich bei Canetti durch verschiedene Vorboten wie z. B. durch die beschriebene

frühe Faszination, die für ihn von Buchstaben ausgeht (vgl. GZ, S. 38) bzw. unter

anderem ganz eindeutig durch seinen ersten Versuch als Schriftsteller mit dem

Werk "Junius Brutus", das er mit vierzehn Jahren verfasst (vgl. GZ, S. 240).

Bernhards Großvater ist sich sicher, dass der Enkel eine Künstlerlaufbahn

einschlagen werde, doch die Disziplin müsse erst gefunden werden, damit sein

Talent voll zur Entfaltung kommen könne. Die große Bewunderung des Großvaters

kann aber als Vorzeichen gesehen werden, welche Kunstrichtung der junge

Bernhard einschlagen wird. Da der innig geliebte und geschätzte Großvater, der ihm

als Vorbild gilt, Schriftsteller ist, liegt die Vermutung für den Leser nahe, dass sich

dadurch die spätere Autorenlaufbahn des Autobiografen ankündigt. Bei Canetti wird

hingegen die Autorenlaufbahn durch die intellektuelle Unterstützung im Elternhaus,

vor allem durch die gemeinsamen Lektüreabende mit der Mutter konkreter

angestrebt. Ein Vorzeichen für die spätere Autorenlaufbahn, das bei beiden

vorhanden ist, ist die Versorgung mit Büchern. So wird in beiden Autobiografien

beschrieben, dass sie über einen großen Bücherbestand im Eltern- bzw.

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Großelternhaus verfügen können (vgl. z. B. GZ, S. 232 und EK, S. 67). Die

Hochschätzung von Büchern, bzw. davon über eine ausreichende Ressource

verfügen zu können, könnte man der „intellektuellen Unterstützung“ unterordnen.

Die „ausreichende Ressourcen an Büchern" kann als ein Element von

Künstlerautobiografien gesehen werden, wodurch sich nach der vorliegenden

Analyse eine Schriftstellerlaufbahn anbahnt.

Der früh verstorbene Vater von Canetti wird ähnlich Bernhards Großvater

dargestellt. Der innig geliebte Vater von Canetti und der zutiefst bewunderte

Großvater von Bernhard erhalten bei manchen Textstellen die Stellung eines

Heiligen bzw. eines Erlösers. So erzählen die Autoren in ihren Büchern, dass sie

aus ernsten Lebenslagen in ihrer Kindheit bzw. frühen Jugend lediglich vom

geliebten Großvater bzw. Vater gerettet bzw. erlöst werden können (vgl. z. B. GZ, S.

43-44 und EK, S. 115). Die Parallele besteht in der Darstellung von jeweils einer

Figur (Vater bzw. Großvater), die eine Erlöser- bzw. Retterfunktion bekleidet.

Als deutlicher Unterschied zwischen den beiden Lebensverläufen kann die

sozioökonomische Stellung der Familie genannt werden. Canetti stammt aus einer

sehr wohlhabenden Familie, in der viele Familienmitglieder Geschäfts- bzw.

Kaufmänner sind, Bernhard stammt hingegen aus ärmlichen Familienverhältnissen.

Dies zeigt jedoch, dass es nicht auf die sozioökonomische Stellung der Familie

ankommt, sondern auf die intellektuelle Unterstützung, um die Wahrscheinlichkeit

zu erhöhen, dass jemand eine erfolgreiche Künstler- bzw. Autorenlaufbahn

einschlagen wird.

Der Vergleich der Autobiografien zeigt auch, dass beide in ihrer Kindheit bzw.

Jugend sehr viel gereist sind. So sind es bei Bernhard mit Holland, Wien,

Seekirchen am Wallersee, Saalfeld und Traunstein in Bayern fünf Wohnorte, in der

Zeit von seiner Geburt bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr. Bei Canetti sind es in

seinen ersten sechzehn Jahren mit Rustschuk, Manchester, Wien und Zürich

Scheuchzerstraße und Zürich Tiefenbrunnen ebenfalls fünf Wohnorte. Aufgrund der

vielfältigen dadurch gesammelten Erfahrungen gilt demnach ein häufiger

Wohnumgebungswechsel und das Kennenlernen von verschiedensten Menschen

und Umgebungen als intellektuell bereichernd. So könnte man nach diesen beiden

Autobiografien „wechselnde Wohnumgebungen“ als variierendes Element einer

Künstlerautobiografie ansehen.

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Manche Wohnumgebungswechsel sind auch aufgrund historischer

Rahmenbedingungen notwendig. Dadurch können wechselnde Wohnumgebungen

als typisches Element einer Künstlerautobiografie in der erzählten Zeit des Ersten

oder Zweiten Weltkrieges eingeordnet werden. Durch die historische Einbettung

erklären sich die Ausgrenzungen bzw. Verspottungen, die beide auf

unterschiedliche Art und Weise miterleben müssen. So wird Bernhard in der Zeit

des Zweiten Weltkrieges in Deutschland als „Esterreicher“ beschimpft und

ausgegrenzt und Canetti erfährt in Zürich in der Zeit des anbahnenden Zweiten

Weltkrieges antisemitische Beschimpfungen aufgrund seiner jüdischen Herkunft.

Beide Autoren erleben somit in ihrer Kindheit bzw. Jugend Ablehnung aufgrund

einer nationalen oder religiösen Zugehörigkeit. Dies könnte ein Grund dafür sein,

dass Canetti sich als Erwachsener nicht vollkommen zu einer Religion bekennt. Er

wird als außerordentlich freiheitsliebend beschrieben, der sich nicht gerne an ein

bestimmtes Glaubenssystem oder generell an Institutionen bindet.248 Vage kann

man diesbezüglich bei Bernhard interpretieren, dass die Beschimpfungen als

„Esterreicher“ und die dadurch erfahrenen Stigmatisierungen und Ausgrenzungen

mit seinen späteren „Hassreden“ bzw. übertriebenen Schelten auf Österreich zu tun

haben könnten. Man kann Bernhard aber auf jeden Fall unterstellen, dass er sich

als äußerst freiheitsliebend inszeniert und präsentiert, denn er bekennt sich als

Erwachsener weder zu einer religiösen Institution noch zu einer Nation oder

irgendeiner bestimmten Institution. Die in den Autobiografien dargestellten

Kindheits- und Jugenderlebnisse zeigen, dass sie aufgrund der historischen

Rahmenbedingungen mit manchen Institutionen äußerst schlechte Erfahrungen

machen müssen und diese lassen sich als Vorboten für die ausgeprägte

Freiheitsliebe im Erwachsenenalter interpretieren. Bei beiden Autoren kann

aufgrund der Autobiografien festgehalten werden, dass die erfahrenen einengenden

historischen Rahmenbedingungen, gekoppelt mit gut geförderten intellektuellen

Entfaltungsmöglichkeiten in der Kindheit bzw. in der Jugend zu einer geistigen

Freiheit im Erwachsenenalter führen, die sich nicht gerne festlegt.

Durch die häufigen Wohnumgebungswechsel müssen die Autoren ihr „Paradies der

Kindheit“ verlassen. So wird von Bernhard die Zeit in Seekirchen am Wallersee (in

248

Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 9.

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Österreich) nachträglich, in Anbetracht der bevorstehenden Übersiedelung nach

Bayern, da sein Stiefvater dort eine Arbeit findet, als Paradies bezeichnet:

Die Katastrophe bedeutete, Abschied zu nehmen von allem, das zusammen tatsächlich mein Paradies gewesen war. (EK, S. 96)

Auch bei Canetti findet sich die Bezeichnung des „Paradieses der Kindheit“ als er

Abschied nehmen muss von seiner Wohnumgebung in Zürich Tiefenbrunnen:

Es ist wahr, daß ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand. (GZ, S. 330)

Die Vertreibung aus dem Angenehmen, dem Gewohnten müssen beide

Heranwachsende erleben und es kann somit als weiteres variierendes Element der

Künstlerautobiografien aufgenommen werden. Nach der zitierten Textpassage aus

„Die gerettete Zunge“ kann angenommen werden, dass ein Umzug aus dem

Paradies der Kindheit dazu führt, dass man sich anschließend durch schwierige

Lebensphasen bzw. Rahmenbedingungen durchkämpfen muss. Durch schwierige

Rahmenbedingungen können sie sich weiterentwickeln und nur durch das

Verlassen des Bequemen, des Angenehmen können sie zu den Erwachsenen

werden, die sie darstellen. Denn das Stehenbleiben im Angenehmen bringt keinen

Entwicklungsfortschritt und somit kann die Vertreibung aus dem Paradies ebenfalls

als bedeutendes typisches Element dieser Künstlerautobiografien angesehen

werden.

Hervorstechende Merkmale dieser Künstlerautobiografien sind auch die Betonung

der persönlichen Ressourcen, des besonderen Ehrgeizes, des frühen Talents bzw.

der Außergewöhnlichkeit der frühen Künstlerpersönlichkeit gegenüber anderen

Menschen, der Virtuosität, der Genialität bzw. der tiefer gehenden Weltsicht, die

jedoch alle in die Reihe der konstanten Elemente einer Künstlerautobiografie

eingeordnet werden können.

Im Vergleich dieser beiden Autobiografien kann als typisches Element das

„Durchleben von frühen Verlusten“ mit aufgenommen werden. Denn Bernhard

durchlebt erstmals mit vier Jahren Trauer um seinen an einer plötzlichen Krankheit

verstorbenen Freund in Seekirchen und Canetti muss mit sieben Jahren bereits den

Tod des eigenen Vaters verkraften (vgl. EK, S. 72 und GZ, S. 72).

Als typisch für beide Werke erweist sich der psychische Terror, der von den Müttern

ausgeht, die als überfordert mit bestimmten Lebenssituationen bzw. mit ihren

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Söhnen beschrieben werden. So macht zum Beispiel Canettis Mutter dem

Heranwachsenden Vorwürfe, dass er spielt, obwohl sein Vater tot ist (vgl. GZ, S. 73)

oder er wird von ihr verhöhnt, wenn er nicht die außergewöhnliche Leistung erbringt,

die sie von ihm erwartet (vgl. GZ, S. 87). Hinter dem erlebten Terror wird

kommentierend aus erwachsener Sicht eine pädagogische Intention vermutet (vgl.

GZ, S. 88). Beide Mütter fordern von ihnen sehr früh, reifes Verhalten an den Tag

zu legen. Die Mutter von Bernhard verletzt den Heranwachsenden oft durch Worte

zutiefst, wohingegen ihm die körperliche Züchtigung unbeeindruckt lässt (vgl. EK, S.

38). Bei Bernhard ist das Verhältnis zur Mutter besonders schwierig, wofür er die

physische Ähnlichkeit zu seinem Vater verantwortlich macht, der seine Mutter mit

ihm als ungeborenes Kind stehen gelassen hat (vgl. EK, S. 38-39):

Ich fühlte naturgemäß ihre Liebe zu mir, gleichzeitig aber immer auch den Hass gegen meinen Vater, der dieser Liebe meiner Mutter zu mir im Weg stand. (EK, S. 39)

Beide Autoren durchleben somit schwierige Lebensumstände und auch psychische

Gewalt, die vor allem von den Müttern ausgeht. Trotz widriger Umstände in der

Kindheit bzw. Jugend können sie sich dennoch behaupten und avancieren zu

Künstlerpersönlichkeiten, die in ihrer weiteren Laufbahn große Erfolge als

Schriftsteller ernten. Daraus resultieren zwei Thesen bezüglich der späteren

Künstlerpersönlichkeit. Einerseits kann angenommen werden, dass sich durch die

Tatsache der Bewältigung der schwierigen Bedingungen schon die bereits im

Kindesalter vorhandenen großen Persönlichkeiten bzw. die vorhandenen

persönlichen Ressourcen widerspiegeln. Nach der zweiten daraus resultierenden

These können die Autoren gerade aufgrund der Bewältigung der schwierigen

Lebensbedingungen und Phasen ausgereifte Künstlerpersönlichkeiten entwickeln.

Doch diese beiden Thesen können auch vereint werden, wodurch beide auf

gewisse Weise ihre Gültigkeit bewahren. Nach den vereinten Thesen sind bei

beiden Autobiografien die schwierigen Lebensumstände und deren Bewältigung

dafür verantwortlich zu machen, dass sie persönliche Ressourcen entwickeln und

bereits vorhandene erst entfalten, wodurch sie zu den Künstlern bzw. großen

Persönlichkeiten werden, die sie zur Erzählzeit sind.

Zusammengefasst kann bezüglich dieser Autobiografien die Schlussfolgerung

gezogen werden, dass Künstlerpersönlichkeiten bzw. große Persönlichkeiten aus

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der Bewältigung von zum Teil sehr schwieriger Kindheit bzw. Jugend entstehen und

dass es nicht die idealen Bedingungen sind, die eine Künstlerlaufbahn ankündigen.

Die Bewältigung von schwierigen Kindheits- bzw. Jugenderlebnissen kann somit als

typisches Element dieser beiden Künstlerautobiografien angesehen werden.

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5) CONCLUSIO

Durch die hermeneutische und die erzähltheoretische Analyse konnten

Besonderheiten bzw. auch viele Ähnlichkeiten der Autobiografien „Ein Kind“ von

Thomas Bernhard und „Die gerettete Zunge“ von Elias Canetti herausgefunden

werden.

Der Fokus auf den konstanten Elementen der Künstlerbiografie, dem

Überdurchschnittlichen, dem Außergewöhnlichen bzw. dem Exzentrischen oder

dem Genialen der Person kann als gattungsimmanentes Merkmal bezeichnet

werden. Exemplarisch für die Gruppe der Autoren, deren Kindheit bzw. Jugend in

der Zeit des Ersten bzw. des Zweiten Weltkrieges liegt, zeigen Canettis und

Bernhards Autobiografien durchaus fordernde und schwierige Kindheits- und

Jugendphasen, die sie zu bewältigen haben, wodurch sie früh Reife zeigen müssen

bzw. ihre persönlichen Ressourcen entfalten bzw. entwickeln können. Die

Erzählungen über schwierigen Phasen ihrer Kindheit und Jugend können zum Teil

durch die beschriebenen historischen Rahmenbedingungen begründet werden. Die

textuelle Konstruktion der erfahrenen Ablehnung aufgrund der nationalen bzw.

religiösen Zugehörigkeit kann durch die historische Einbettung erklärt werden, die

durch die persönliche Bewältigung Einfluss hat auf die erzählte Entwicklung ihrer

ausgereiften bzw. außergewöhnlichen Persönlichkeit.

Typisch und prägend für diese beiden Autobiografien sind inhaltlich die häufigen

Wohnumgebungswechsel. Diese erscheinen durch das Kennenlernen von

unterschiedlichsten Persönlichkeiten und die Überwindung von Schwierigkeiten, die

mit einem Umzug einhergehen, als intellektuell bereichernd für die Künstler- bzw.

Autorenlaufbahn. Diese häufigen Umzüge in der Erzählung sind ebenfalls in den

historischen Rahmenbedingungen begründet und können somit ausgehend von den

Darstellungen in diesen beiden Werken als typisch für diese erzählte Zeit

bezeichnet werden.

Aus den erwähnten typischen Elementen dieser Künstlerbiografien kann man auch

implizit auf kulturell geprägte Vorstellungen einer Künstler- bzw. Autorenlaufbahn

schließen, durch die die Autoren in der Erzählzeit geprägt waren. Denn die

Autobiografien sind sich in vielen Punkten sehr ähnlich, obwohl sie sich gegenseitig

wahrscheinlich nicht zum Vorbild genommen haben, da das Verhältnis zwischen

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den Autoren von einer intellektuellen Feindschaft geprägt war.249 Gerade aus den

frühesten Kindheits- bzw. Jugenderlebnissen lassen sich schon viele Vorboten

ausmachen, die als lebensentscheidende Fundamente für die Berufung Autor zu

werden gelten können. Als einer der wichtigsten lebensentscheidenden

Fundamente muss die erzählte intellektuelle Unterstützung und Anleitung durch

Hauptbezugspersonen genannt werden. Durch die Analyse dieser beiden Werke

kann gesagt werden, dass nach konstruierten autobiografischen Erzählungen die

intellektuell bereichernde Unterstützung unabhängig ist von der sozioökonomischen

Stellung der Familie.

Die Autoren konstruieren ihre Kindheit und Jugend auf eine Weise, indem sie

gerade schwierige Lebensumstände, wie zum Beispiel das Ausgesetzsein von

psychischer Gewalt durch verbale Attacken durch nahe Bezugspersonen zu den

lebensgeschichtlichen Besonderheiten einer Künstlerpersönlichkeit zählen. Zu einer

Künstlerqualität gehören nach den Inszenierungen des Künstlerdaseins somit

Persönlichkeitseigenschaften, die es dem Heranwachsenden ermöglichen trotz

widriger Umstände und psychischer Verletzungen Strategien zu finden das

Vergangene zu bewältigen, um in der Arbeit als Autor emporzusteigen. Daraus

ergibt sich eine Künstlerkonzeption, in der man erst zu einem Künstler werden kann,

wenn das Leben nicht nur aus Annehmlichkeiten besteht, sondern auch

Schwierigkeiten bereithält, die man bewältigen muss, wodurch sich die Möglichkeit

ergibt, dass man sich selbst weiterentwickeln kann.

Erzähltheoretisch sind einander die beiden Autobiografien auch sehr ähnlich.

Anzumerken ist, dass Canetti im Unterschied zu Bernhard behutsamer mit der Zeit

umgeht und sein Werk deutlicher gliedert. Denn bei Bernhard gibt es keine solche

offensichtliche chronologische Ordnung und die Chronologie wird öfters grob

durchbrochen. So kommentiert Bernhard nicht alle Zeitsprünge wie Canetti,

wodurch Canettis Autobiografie im Vergleich wie ein historisches Geschichtsbuch

erscheint. Bezogen auf die Distanz bzw. Unmittelbarkeit muss konstatiert werden,

dass bei Canetti im Gegensatz zu Bernhard oftmals die narrative Distanz

vollkommen ausgeschaltet ist, wodurch der Eindruck entsteht, dass das erzählte

Erlebnis möglichst unmittelbar wiedergegeben wird. Durch diesen Vergleich erhält

249

Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 121.

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man als Leser/Leserin den Eindruck, dass Canetti mehr Bemühungen setzt, um die

Glaubwürdigkeit seiner eigenen Autobiografie, durch detailgetreue Erzählungen und

Kommentierungen bei Abweichungen, zu erhöhen. Es kann somit festgestellt

werden, dass Bernhard durch erzählerische Mittel größere Distanz zu seiner

eigenen Lebensgeschichte erzeugt, wohingegen Canetti den Versuch unternimmt,

möglichst unmittelbar alles Erlebte rekonstruiert wiederzugeben. Die Elemente der

Selbststilisierung sind in diesen Autobiografien bezüglich der beschriebenen

Persönlichkeitseigenschaften und der Vorboten für eine Künstlerlaufbahn sehr

ähnlich, wohingegen sich die eingesetzten erzähltheoretischen Mittel stärker

voneinander unterscheiden.

Diese beiden Autobiografien stellen eine einander ähnliche Erscheinungsform der

neuen literarischen Biografik dar. Einschränkend muss angemerkt werden, dass der

Vergleich jedoch aufgrund der Begrenztheit auf die zwei analysierten Werke keine

systematische Darstellung der Erzähltypen und der Erscheinungsformen der

Autobiografien dieser Zeit bieten kann.

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6) ZUSAMMENFASSUNG Die vorliegende Arbeit trägt den Titel „Die Inszenierung des Künstlerdaseins durch

die Autobiografie. Vergleichende Analyse von Thomas Bernhards ,Ein Kind´ und

Elias Canettis ,Die gerettete Zunge´“ und beschäftigt sich exemplarisch mit

Besonderheiten der modernen literarischen Autobiografie des 20. Jahrhunderts.

Die Analyse wird von den Fragen geleitet, welche Künstlerbilder sich aus den

individuellen künstlerischen Selbststilisierungen der Autoren Thomas Bernhard in

„Ein Kind“ und Elias Canetti in „Die gerettete Zunge“ ergeben und welche

erzähltheoretischen Auffälligkeiten sich auf der Ebene der Darstellung zeigen.

Zur Gattung der Autobiografie gehört es in dem „Individuellen zugleich das

Allgemeine zu sehen“250 und deshalb wird in dieser Analyse der Versuch

unternommen, sowohl auf erzähltheoretischem als auch auf hermeneutischem Weg,

Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Künstlerautobiografien

herauszuarbeiten. Der Vergleich zwischen Bernhard und Canetti ist vor allem

interessant, da sie sich intellektuell als Gegner bezeichneten251 und dadurch kann

eher ausgeschlossen werden, dass sie einander als Vorbilder genommen haben.

Deshalb sprechen Gemeinsamkeiten dieser Werke für eine kulturelle Komponente,

von denen Künstlerautobiografien geprägt sind.

Jedes der beiden analysierten Werke ist natürlich sowohl durch Tradition als auch

durch einen ausgeprägten individuellen Stil geprägt. Es kann konstatiert werden,

dass sich neben anderen Elementen auch die historischen Rahmenbedingungen

bzw. die Umwelt auf das frühe Künstlerleben auswirken. Die konstanten Elemente

der Künstlerautobiografie nach Ernst Kris und Otto Kurz252 als auch nach

Christopher Laferl und Anja Tippner253 sind das frühe Talent, die Virtuosität, die

Außergewöhnlichkeit bzw. die Überlegenheit der Künstlerpersönlichkeit gegenüber

anderen Personen, die Genialität, die tiefer gehende Weltsicht und die Extravaganz

und diese erwiesen sich als gattungsimmanente Merkmale der beiden Werke. Die

beiden Autobiografien wurden auch hinsichtlich variierender Elemente von

Künstlerautobiografien untersucht, anhand der vier Komponenten nach John

250

Hähner: Historische Biographik (Anm. 64), S. 9. 251

Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 121. 252

Vgl. Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 123-124, S. 131. 253

Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 10.

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Clausen254, den persönlichen Ressourcen, die Ressourcen an Unterstützung und

Anleitung, dem Zugang zu Lebenschancen und den persönlichen Bemühungen und

Anstrengungen. Für alle vier variierenden Elemente konnten Entsprechungen in den

Werken gefunden werden. Bei diesen Werken erwiesen sich auch die schwierigen

Lebensumstände aufgrund der historischen und familiären Rahmenbedingungen als

entscheidend für die Ausbildung wichtiger Künstlerqualitäten. Die intellektuelle

Unterstützung erscheint auch von Bedeutung zu sein, die nach der Analyse dieser

beiden Werke unabhängig ist von der sozioökonomischen Stellung der Familie.

Erzähltheoretisch wurden diese Werke hinsichtlich eines Beschreibungsmodells

nach drei Kategorien aus der Erzähltheorie von Martin Scheffel und Matías

Martìnez255 untersucht.

Thomas Bernhard unterscheidet sich unter anderem durch seine „Methode, die

Vergangenheit in der Gegenwart mitzudenken“256 von einer klassischen

Autobiografie. Die Analyse zeigt, dass sich Canetti ebenfalls dieser Methode

bedient.

Die moderne Autobiografie erweist sich sowohl bei Canetti als auch bei Bernhard

als Konstrukt, in dem Orientierungsleistungen beschrieben und erklärt werden, die

sich aus individuellen und aus sozialisierten individuellen

Wahrnehmungsprozessen, die auch aus Emotionen bestehen, ergeben. Natürlich

hängen die Autobiografien auch von der kultur- und zeitspezifischen

Betrachtungsweise des Lebens ab. Bei diesen modernen Autobiografen fallen die

Wahrnehmung, die Erkenntnis und die Interpretation des Erlebten zusammen und

diese ergeben die autobiografische Wirklichkeit, die natürlich keiner

realitätsgetreuen Abbildung entsprechen kann. Vom Bild eines klassischen

Bildungsromans entfernen sich diese Autoren bewusst, denn das Ziel der

Lebensdarstellung liege nach der Analyse eher in der Selbstfindung und in der

Inszenierung des Lebens auf eine gewünschte Darstellungsform und nicht auf die

Nacherzählung eines idealen Lebensentwurfes. Die zwei Erzählweisen der Ironie

und der karikierenden Übertreibung kann man bei beiden Autobiografien finden und

diese zeigen wiederum, dass Canetti und Bernhard gerne mit der Sprache gespielt

254

Vgl. Clausen: Die gesellschaftliche Konstitution individueller Lebensläufe (Anm. 137), S. 207. 255

Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11). 256

Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 102.

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haben. Die Autobiografien wirken sich auch auf die Rezeption der anderen Werke

dieser Autoren aus. Die literaturwissenschaftliche Rezeption der autobiografischen

Erzählungen führt oftmals zum Versuch der Belegung von Deutungen anderer

Werke. Doch diese Vorgehensweise unterliegt dem Fehlschluss, dass andere

Werke durch den autobiografischen Hintergrund aus den autobiografischen

Erzählungen erklärt werden können. Die Analyse dieser Arbeit zeigt jedoch auf,

dass die Autoren deutlich mit ihren Erinnerungen gespielt, sie inszeniert und

interpretiert dargestellt haben. Deshalb sollten sich Interpretationen anderer Werke

nicht auf die Angaben der autobiografischen Erzählungen stützen, denn die

autobiografischen Erzählungen können nicht als Beleg für den realitätsgetreuen

lebensgeschichtlichen Hintergrund der Autoren gelten.

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8) ANHANG (Lebenslauf)

PERSÖNLICHE DATEN

Name Kerstin Hackl

Titel Mag. rer. nat.

Geburtsort Zwettl, NÖ

Geburtsdatum 20.12.1989

Staatsbürgerschaft Österreich

Religion römisch-katholisch

AUSBILDUNG/BERUFLICHER WERDEGANG

1996 – 2000 Musikvolksschule Ottenschlag

2000- 2008 Bundesrealgymnasium Zwettl

2006 Absolvierung des europäischen Computerführerscheins (ECDL)

12. Februar 2008 Erwerb des Führerscheins der Klasse B

5. Juni 2008 Abschluss der 12. Schulstufe mit ausgezeichnetem Erfolg und

Absolvierung der Matura

Ab Oktober 2008 Diplomstudium der Psychologie an der Universität Wien

Seit Oktober 2009 Zweitstudium: Lehramt UF Psychologie/Philosophie und UF Deutsch

an der Universität Wien

Juni 2010 Abschluss des 1. Studienabschnittes des Diplomstudiums

Psychologie

August 2010 Zweiwöchiges freiwilliges Praktikum im Psychosomatischen Zentrum

Waldviertel Eggenburg

Juni 2011 Abschluss des 1. Studienabschnittes des Lehramtsstudiums (UF PP /

UF Deutsch)

Juli-August 2011 Psychologie-Pflichtpraktikum (240h) beim NÖ Hilfswerk-Zentrum für

Beratung und Begleitung in Zwettl

Sommer/Herbst 2011 Ausbildung und Arbeit als Student Advisor (Mentorin für

StudienanfängerInnen) an der Fakultät für Psychologie

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Oktober 2012 Fachbezogenes Schulpraktikum am BG und BRG Bertha v. Suttner-

Schulschiff (1210 Wien, Donauinselplatz)

Februar 2013 Fachbezogenes Schulpraktikum am BG, BRG und BORG

Brigittenauergymnasium (1220 Wien, Karajangasse 14)

Laufend Nachhilfebetreuerin über das niederösterreichische Hilfswerk in den

Fächern Mathematik und Deutsch

25. April 2013 Erfolgreiche Diplomprüfung und Abschluss des Diplomstudiums

Psychologie mit der Verleihung des akademischen Grades „Magistra

der Naturwissenschaften“ (Titel der Diplomarbeit: Wissen und

Einstellungen von Lehramtsstudierenden zu internationalen

Schulleistungsstudien)

Ab 3. Juni 2013 Arbeit im BBRZ (berufliches Bildungs- und Rehabilitationszentrum)

als Mitarbeiterin für Maßnahmen in der beruflichen Rehabilitation in

3910 Zwettl


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