DIPLOMARBEIT
Titel der Diplomarbeit
„Die Inszenierung des Künstlerdaseins durch die
Autobiografie. Vergleichende Analyse von Thomas
Bernhards „Ein Kind“ und Elias Canettis „Die gerettete
Zunge“ “
Verfasserin
Mag.a rer. nat. Kerstin Hackl
angestrebter akademischer Grad
Magistra der Philosophie (Mag.phil.)
Wien, 2013
Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 190 299 333
Studienrichtung lt. Studienblatt: UF Psychologie und Philosophie UF Deutsch
Betreuer: Univ.- Prof. Mag. Dr.phil. Werner Michler
2
„Keine Schuld ist dringender, als die, Dank zu sagen.“ (Marcus Tullius Cicero)
Ich bedanke mich vor allem bei Herrn Univ.-Prof. Mag. Dr. Werner Michler für die
gute Betreuung und die wertvollen Anregungen, Tipps, Verbesserungsvorschläge
und Hilfestellungen.
Mein besonderer Dank gilt schließlich auch meiner Familie und meinen Freunden,
die mich bei der Verwirklichung meiner Diplomarbeit unterstützt haben. Sei es durch
aufmunternde motivierende Worte, sei es auch durch hilfreiche Tipps.
Besonders hervorheben und bedanken möchte ich mich bei meinen Eltern für ihre
uneingeschränkte motivierende, sowohl emotionale als auch finanzielle
Unterstützung, ohne die diese Arbeit nicht denkbar erscheint.
3
Inhaltsverzeichnis
1) EINLEITUNG................................................................................................................. 5
2) THEORIE DER AUTOBIOGRAFIE ............................................................................... 9
2.1) Historische Skizze zur Gattung Autobiografie ..................................................... 11
2.2) Künstlerbiografien im 20. Jahrhundert ................................................................ 16
2.3) Spannungsfeld Fiktion und Wirklichkeit/ Autobiografie-Autofiktion ................. 20
2.4) Forschungsrichtungen zur Autobiografie ........................................................... 26
3) DIE INSZENIERUNG DES KÜNSTLERDASEINS: Künstlerkonzeptionen und
Künstlerbilder ................................................................................................................... 31
4) ANALYSEN ................................................................................................................ 37
4.1) Analysegrundlagen:Primärliteratur ...................................................................... 37
4.1.1) Thomas Bernhards „Ein Kind“: Einführung und Inhalt .................................... 37
4.1.1.1) Der Autor Thomas Bernhard .................................................................... 40
4.1.1.2) Zur Stellung der autobiografischen Erzählung „Ein Kind“ im
Gesamtwerk Bernhards ......................................................................................... 41
4.1.1.3) Forschungsbericht zu Bernhards autobiografischer Erzählung „Ein
Kind“ ....................................................................................................................... 44
4.1.2) Elias Canettis „Die gerettete Zunge“: Einführung und Inhalt ......................... 48
4.1.2.1) Der Autor Elias Canetti ............................................................................. 51
4.1.2.2) Zur Stellung der autobiografischen Erzählung „Die gerettete Zunge“ im
Gesamtwerk Canettis ............................................................................................ 52
4.1.2.3) Forschungsbericht zu Canettis autobiografischer Erzählung „Die
gerettete Zunge“ .................................................................................................... 53
4.2) Erzähltheoretische Analyse .................................................................................. 58
4.2.1) Erzähltheoretische Analyse von Bernhards „Ein Kind“ ................................... 59
4.2.2) Erzähltheoretische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“ .................. 65
4.2.3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und
Canettis „Die gerettete Zunge“ aus der erzähltheoretischen Analyse .................... 74
4.3) Hermeneutische Analyse: Die Inszenierung des Künstlerdaseins ..................... 77
4
4.3.1) Hermeneutische Analyse von Bernhards „Ein Kind“ ........................................ 79
4.3.2) Hermeneutische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“ ...................... 89
4.3.3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und
Canettis „Die gerettete Zunge“ aus der hermeneutischen Analyse ....................... 100
5) CONCLUSIO ............................................................................................................. 107
6) ZUSAMMENFASSUNG ............................................................................................ 110
7) LITERATURVERZEICHNIS ...................................................................................... 113
8) ANHANG (Lebenslauf) ............................................................................................ 120
5
1) EINLEITUNG
Da der Mensch ein großes Interesse am Menschen hat und dieses durch
autobiografische Erzählungen bedient wird1, erfreuen sich autobiografische Texte
großer Beliebtheit. Die Attraktivität und auch der Geltungsanspruch werden durch
die scheinbare Verarbeitung von authentischem Material erhöht.
Mit dem Begriff der Biografie, der sich aus dem spätantiken Kompositum aus „bíos
(Leben) und gráphein (für einritzen, zeichnen oder schreiben)“2 zusammensetzt und
auch mit dem damit verwandten Begriff der Autobiografie, der zusätzlich aus dem
griechischen Bestandteil „autós“ (selbst) besteht, geht ein reichhaltiges
Formenspektrum einher. Aufgrund von Besonderheiten der modernen literarischen
Autobiografie des 20. Jahrhunderts setzt sich diese Arbeit das Ziel, zwei
Autobiografien auf kursierende Künstlerbilder bzw. hinsichtlich Inszenierungen von
Schriftstellern zu analysieren und zu vergleichen. Die Analyse der beiden Werke
widmet sich auch den Autorenkonzeptionen in Autobiografien und den
gattungsspezifischen Merkmalen. Dadurch soll ein Beitrag geleistet werden, das
Verständnis der Autobiografien von Bernhard und Canetti zu vertiefen.
Die Biografie bzw. die Autobiografie steht an einer Schnittstelle zwischen „Literatur-,
Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie literarischen Lebenserzählungen.“3 Es
geht meist um die zentrale Frage, „wie sich individuelle Lebensläufe und
Erfahrungsaufschichtungen zu biographischen Repräsentationen verdichten.“4 Die
verdichteten biografischen Repräsentationen zweier Autobiografien, die ungefähr
zur selben Zeit – in einem Abstand von drei Jahren erschienen sind – und dem
österreichischen Raum entstammen, stellen den Untersuchungsgegenstand dieser
Arbeit dar. Hierbei handelt es sich um das autobiografische Werk von Thomas
Bernhard (1931-1989) mit dem Titel „Ein Kind“, das im Jahr 1982 erschienen ist,
und das Werk von Elias Canetti (1905-1994) mit dem Titel „Die gerettete Zunge.
Geschichte einer Jugend“, das 1979 erstmals veröffentlicht wurde. Bei beiden
Werken handelt es sich um die frühesten Kindheits- bzw. Jugenderinnerungen der
1 Vgl. Christian Klein: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar:
Metzler 2009, S. 12. 2 Ebd. (Anm. 1), S. 3.
3 Bernhard Fetz: Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie. Die vielen Leben der Biographie.
Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2009, S. 8. 4 Ebd. (Anm. 3), S. 8.
6
Autoren, die in einer Reihe von anderen autobiografischen Bänden dieser Autoren
stehen, wobei für Bernhard wie für Canetti, wenn auch unter anderen Umständen,
Österreich erst zu einer zweiten Heimat geworden ist.5 Die oftmals als traditionelle
Form angesehene Autobiografie weist sowohl bei Bernhard als auch bei Canetti
Besonderheiten auf, mit denen die Theorieforschung zu kämpfen hat. Studien zu
Bernhards Autobiografie attestieren „dem Autor den Vollzug der Selbstfindung“6.
Diesen Vollzug könnte man auch Canetti unterstellen. Die Lebensgeschichte
Canettis, als drei Bände umfassendes autobiografisches Werk, als dessen erster
Teil „Die gerettete Zunge“ zu nennen ist, die mit den darauffolgenden „Die Fackel im
Ohr“ (1980) und „Das Augenspiel“ (1985) fortgesetzt wird, wird folgendermaßen
umschrieben:
Sie ist das Zeugnis eines Altgewordenen, der eine Summe von Erinnerungen vorlegt, die, ausgelöst durch ein Wort, einen Farbklang, eine Geste oder ein Bild, sich zu einer `Lebensgeschichte´ kristallisieren.7
In diesem Sinn könnte man auch die fünfbändige Autobiografie („Die Ursache. Eine
Andeutung“ 1975; „Der Keller. Eine Entziehung“ 1976; „Der Atem. Eine
Entscheidung“ 1978; „Die Kälte. Eine Isolation“ 1981 und „Ein Kind“ 1982) von
Thomas Bernhard beschreiben. Bei „Ein Kind“ handelt es sich um den fünften Band
seiner Autobiografie, der „offenkundig Motive der vorangehenden Bände
miteinander verknüpft, aber in der Chronologie eindeutig vor diesen platziert wird“8.
Bernhard wird nicht müde zu betonen, dass es ihm bei der Gattung Autobiografie
nicht um Objektivität gehe, sondern um seine heutige Sicht.9 Es handelt sich somit
ebenfalls um eine Selbststilisierung eines älteren Mannes, der über seine Kindheit
bzw. Jugend nachdenkt und diese in Form einer autobiografischen Erzählung
verschriftlicht. Aus den autobiografischen Bänden dieser Autoren wird jeweils nur
ein Band für die Analyse herangezogen, wodurch sich zwar eine Verengung der
5 Vgl. Wolfgang Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache. Autobiographisches Schreiben in der
deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 184. 6 Wendelin Schmidt-Dengler: Auf dem Boden der Sicherheit und der Gleichgültigkeit. Zu Thomas
Bernhards Autobiografie `Der Keller`. In: Klaus Amann und Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard. Innsbruck, Wien: Studienverlag 1998, S. 219. 7 Alfred Doppler: Gestalten und Figuren als Elemente der Zeit- und Lebensgeschichte. Canettis
autobiografische Bücher. In: Klaus Amann und Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard. Innsbruck, Wien: Studienverlag 1998, S. 123. 8 Schmidt-Dengler: Auf dem Boden der Sicherheit und der Gleichgültigkeit (Anm. 6), S. 223.
9 Vgl. ebd. (Anm. 6), S. 229.
7
Perspektive ergibt, doch so können die verwendeten Analyseverfahren genauer zur
Anwendung kommen, wodurch sich detailliertere Analyseergebnisse ergeben
sollten.
Nach einschlägiger Fachliteratur wird angenommen, dass die Entwicklung der
Künstlerautobiografie deutlich von zwei Parametern geleitet wird, die sich
gegenseitig beeinflussen und ihr textuell und kulturell Kontur geben. Dadurch erhält
die Analyse dieser Arbeit auch einen ordnenden Rahmen:
Zum einen sind es die kursierenden Künstlerbilder, wie sie sich in der individuellen künstlerischen Selbststilisierung und in kulturell vorgegebenen Künstlerrollen manifestieren, zum anderen sind es die Erzählmuster der Gattung Biographie.10
Deshalb stellt sich diese Arbeit die Frage, inwiefern diese Parameter die
Autobiografien „Ein Kind“ von Thomas Bernhard und „Die gerettete Zunge“ von
Elias Canetti leiten. Es wird neben einer erzähltheoretischen Analyse der
Primärliteratur, auch eine hermeneutische (textinterpretative) Analyse angestellt.
Die erzähltheoretische Analyse bedient sich der Erzähltheorie von Martin Scheffel
und Matías Martínez11, die vor allem das „Wie?“, die Ebene der Darstellung von
Erzählungen umfasst, wobei zentrale Komponenten des literarischen Erzählens aus
dem Phänomen der Fiktionalität abgeleitet werden. Bei der hermeneutischen bzw.
textinterpretativen Analyse geht es um das „Was?“, um die Handlung der Erzählung.
Es stellen sich die Fragen, wie sich Bernhard und Canetti durch ihre Kindheits- und
Jugenderlebnisse in diesen Bänden darstellen bzw. repräsentieren und welche
Faktoren aus dieser erzählten Zeit als bedeutend für das spätere künstlerische
Schaffen als Schriftsteller erscheinen und in der Folge: welche Künstlerbilder sich
daraus ergeben. Durch die vergleichende erzähltheoretische und hermeneutische
Analyse der Primärliteratur soll herausgefunden werden, ob man exemplarisch
aufgrund von Auffälligkeiten bzw. Besonderheiten dieser Autobiografien von einer
bestimmten Autorenkonzeption bzw. Künstlerkonzeption dieser Zeit sprechen kann.
Ein Ziel der Analyse ist die Darstellung von Merkmalen der beschriebenen Kindheit
und Jugend, wobei es sich um kulturell geprägte Vorstellungen einer sich
anbahnenden Künstler- bzw. Autorenlaufbahn handle, bzw. um
10
Christopher Laferl und Anja Tippner: Leben als Kunstwerk. Künstlerbiografien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard und Madonna. Bielefeld: Transcript 2011, S. 7. 11
Martin Scheffel und Matiìas Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck9 2012.
8
lebensentscheidende prägende Fundamente für die weitere Entwicklung,
hinsichtlich der Berufung Autor zu werden, denn „kulturell geprägte Vorstellungen
von Entwicklung, Ganzheit und Chronologie motivieren biographische
Erzählungen“12.
Die für die Analyse notwendigen theoretischen Grundlagen werden im zweiten
Kapitel eingehend erläutert. Es wird die Theorie der Autobiografie historisch
skizziert und es wird das Autobiografieverständnis, das der Analyse zugrunde liegt,
genauer dargestellt. Den prototypischen Künstlerbiografien des 20. Jahrhunderts
wird anschließend ein eigener Platz eingeräumt. Für den forschenden Teil werden
die Begriffe der Autobiografie bzw. in Abgrenzung dazu der Begriff der Autofiktion
behandelt und dem Spannungsfeld von Fiktion und Wirklichkeit in dieser Gattung
wird Bedeutung geschenkt. Autobiografen beanspruchen nicht die ganze Wahrheit
bzw. die vergangenen Geschehnisse realitätsgetreu zu berichten, denn sie dürfen
sich durchaus auch irren bzw. Tatsachen verschweigen und Fehler machen,
entscheidend dabei ist vor allem die Vermittlung von Glaubwürdigkeit.13 Weil es sich
bei der autobiografischen Wahrheit um ein schwer herzustellendes bzw.
problematisches Konzept handelt, „empfiehlt sich ein Blick auf jene Modalitäten, mit
denen Autoren (im Pakt mit den Lesern) ihre Wahrheit herzustellen und
durchzusetzen versucht haben“14, der im zweiten Kapitel gewährt wird.
Anschließend werden die unterschiedlichen Formen der Autobiografieforschung
behandelt. Vor allem für die hermeneutische Analyse wird der aktuelle
Forschungsstand zu Künstlerkonzeptionen und Künstlerbilder aufgearbeitet.
Der Analyseteil ist nach einer kurzen Darstellung der Analysegrundlagen in die
erzähltheoretische und die hermeneutische Analyse geteilt. Die Primärliteratur wird
zuerst getrennt, je Werk analysiert und danach wird der Versuch unternommen,
vergleichend Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und
Canettis „Die gerettete Zunge“ herauszufinden und darzustellen. Abgerundet wird
die Arbeit mit einer Konklusion.
12
Fetz: Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie (Anm. 3), S. 11. 13
Vgl. Hermann Schlösser: Dichtung oder Wahrheit. Literaturtheoretische Probleme mit der Autobiographie. In: Klaus Amann und Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Innsbruck, Wien: Studienverlag 1998, S. 19. 14
Klaus Amann und Karl Wagner: Vorwort. In: ders.(Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Innsbruck, Wien: Studienverlag 1998, S. 7.
9
2) THEORIE DER AUTOBIOGRAFIE
Bei Autobiografien handelt es sich um die beschriebene historische Entwicklung der
Selbsterfahrung und der Selbstfindung. Sie können als subjektive
Ausformulierungen des Lebens umschrieben werden, zeigen die soziale
Strukturiertheit des Lebenslaufes und erscheinen als narrative
Geschichtserzählungen.15
Die Biografie und die Autobiografie sind vom Lebenslauf abzugrenzen. Der
Lebenslauf umfasst die Gesamtheit der Erfahrungen, Empfindungen und Ereignisse
mit einer Vielzahl an Elementen. Die Biografien bzw. die Autobiografien sind
hingegen „selektive Vergegenwärtigungen“16, die abhängig sind von der Tradition,
den kulturspezifischen Erinnerungstechniken und dem kulturellen Zusammenhang.
Zur Beschreibung des eigenen Lebens in Form einer Autobiografie gehören die
Bedürfnislage, die Haltung und die Einstellung des Subjekts, die leiblich seelische
Verfassung, die Erfahrungen, die Gesamtsituation und alles, was gelernt, geübt,
neu erfahren oder eingesehen wurde.17 Durch eine Autobiografie bzw. durch eine
autobiografische Erzählung wird das eigene Leben öffentlich gemacht und somit
zum Kunstwerk erhoben.18 Die Autobiografie wie auch die Biografie rekurriert immer
auf eine reale Person. Der Autobiograf/die Autobiografin ist gleichzeitig der
Verfasser/die Verfasserin und die Hauptfigur des Erzählten. Bei einer Biografie
erzählt eine andere Person das Leben einer wichtigen, historisch beglaubigten
Person nach und stellt es dar und somit sind bei dieser Form die Hauptfigur der
Erzählung und der Autor nicht ein- und dieselbe Person. Bei der Gattung der
Autobiografie handelt es sich somit um die eigene Lebensbeschreibung, da der
Autobiograf/die Autobiografin sowohl die Stellung des Subjekts als auch des
Objekts der Lebensgeschichte einnimmt. Subjekt ist er/sie, da er als Autor/als
Autorin die Autobiografie verfasst und Objekt, da er/sie gleichzeitig sich selbst, das
15
Vgl. Horst Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane von Bernhard Vesper, Christa Wolf und Thomas Bernhard. Unter dem Gesichtspunkt der Wechselbeziehung zwischen Identitätsentwicklung und der Entwicklung der Moralstufen des Lawrence Kohlberg. Frankfurt am Main: Lang 2000, S. 21. 16
Fetz: Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie (Anm. 3), S. 52. 17
Wolfgang Voges: Methoden der Biographie und Lebenslaufforschung. Opladen: Leske + Budrich 1987, S. 103. 18
Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 7.
10
eigene Leben und damit auch den Protagonisten/die Protagonistin der Handlung
beschreibt.19
Jeder Autobiograf/jede Autobiografin wird beeinflusst von den sozialen,
sozioökonomischen und historischen Rahmenbedingungen seiner Zeit und ist somit
„Objekt sozialer und psychischer Zwänge“20. Canetti beschreibt in „Die gerettete
Zunge“ primär die Zeit seines Lebens von 1905 bis 1921 und Bernhard in „Ein Kind“
Erlebnisse aus den Jahren 1931 bis 1944. Biografien und Autobiografien stehen, ob
bewusst oder auch unbewusst, in Verbindung mit den theoretischen Konzepten, die
zu ihrer Zeit ein bestimmtes Menschenbild bzw. die Vorstellung von einer
Künstlergenese ausmachen. Handle es sich zum Beispiel um die theoretischen
Konzepte hinsichtlich einer vorbildlichen Lebensführung oder bezüglich der
Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft.21
Sowohl bei Bernhard als auch bei Canetti kann von einem autobiografischen
Roman gesprochen werden. Diese Untergattung bildet innerhalb der Vielfalt von
Autobiografien aus der zweiten Jahrhunderthälfte eine eigene Gruppe.22
Autoren/Autorinnen dieser Gruppe fühlten sich in ihrer Selbstthematisierung einer
ästhetischen Gesetzmäßigkeit verpflichtet.23 Sie bemühten sich nicht so sehr um
formale Strukturen der Gattung Autobiografie, sondern eher um den Gebrauch ihrer
Sprache, wobei das autobiografische Schreiben aus einer inneren Notwendigkeit
heraus entstand.24 Canetti schrieb seine Autobiografie aus epischer Distanz, indem
er „Erlebtes ver-dichtet, komprimiert, um es aus dem Innersten eines Erlebnisses
heraus wiedererstehen zu lassen“25 und machte somit aus seiner
Lebensbeschreibung einen autobiografischen Roman. Aus Bernhards
autobiografischen Schriften kann man schlussfolgern, dass er sich aus der
Trostlosigkeit seiner Kindheit und Jugend in die Sprache gerettet hat, die
unverwechselbar ist und der Selbstbestätigung dient. Seine unverwechselbare
19
Vgl. Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt: Athenäum 1970, S. 1. 20
Ebd. (Anm. 19), S. 1. 21
Vgl. Christian Klein: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 5. 22
Vgl. Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache (Anm. 5), S. 161. 23
Vgl. ebd. (Anm. 5), S. 161. 24
Vgl. ebd. (Anm. 5), S. 161. 25
Ebd. (Anm. 5), S. 165.
11
Sprachverwendung und Stilisierung auf eine gewünschte Entwicklung, führen dazu,
dass auch in der Bernhard-Forschung von autobiografischen Erzählungen
gesprochen wird.26
2.1) Historische Skizze zur Gattung Autobiografie
Im Verlauf der Forschungsgeschichte über die Autobiografie haben sich in Hinblick
auf Eigenschaften und Probleme der Gattung unterschiedlichste Ansätze ergeben.
Eine Reihe der diskutierten Aspekte umfasst die folgende Kurzdarstellung der
Autobiografie aus einem Standardwerk der deutschen Literaturwissenschaften:
Ein nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text im Umfang eines Buches, dessen Gegenstand innere und äußere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit des Autors sind. Diese werden im Rahmen einer das Ganze überschauenden und zusammenfassenden Schreibsituation sprachlich so artikuliert, daß sich der Autobiograph sprachlich handelnd in ein je nach Typus verschiedenes (rechtfertigendes, informierendes, unterhaltendes u. a.) Verhältnis zu seiner Umwelt setzt.27
Die angesprochenen Blickrichtungen, die in der Forschungsliteratur eine wichtige
Rolle spielen, wären damit zum Beispiel die Innerlichkeit, die retrospektive
Erzählhaltung, das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, die Ausrichtung auf
Kohärenz und Ganzheitlichkeit, der Status des Autors/der Autorin und die
verschiedenen Motivationen zum autobiografischen Schreiben.
Nach Manfred Mittermayer28 wird der Anfang der neueren Forschungsgeschichte
zur Autobiografie mit dem 1956 publizierten Aufsatz „Voraussetzungen und
Grenzen der Autobiographie“29 von Georges Gusdorf angesetzt. Eine wesentliche
Festlegung von Georges Gusdorf bezieht sich auf den Kohärenzanspruch bzw. den
Totalitätsanspruch der Lebensbeschreibung. Demnach bemühe sich der Autor/die
Autorin, die Elemente, die sein/ihr Leben ausmachen, zu ordnen, um sie in einer
Gesamtskizze darzustellen, damit ein möglichst ganzheitliches Bild vom eigenen
26
Vgl. Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 94. 27
Jürgen Lehmann: Autobiografie. In: Klaus Weimar und Harald Fricke u. a.: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 1. Berlin, New York: de Gruyters 2007, S. 169. 28
Vgl. Manfred Mittermayer: Die Autobiographie im Kontext der ,Life- Writing´- Genres. In: Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie-Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2009, S. 73. 29
Georges Gusdorf: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie. In: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989.
12
Leben gegeben werden kann. Als Motive für das autobiografische Schreiben nennt
er die Rechenschaftsablegung für das bisherige Leben, die Gewissenserforschung
und das Bedürfnis, die eigene Individualität auszudrücken, wobei dem Anspruch der
Aufrichtigkeit eine tragende Rolle zukommt.30 Diesbezüglich spricht Gusdorf auch
die Problematik des Wahrheitsanspruches an, wobei er die Autobiografie als „Mittel
der Selbsterkenntnis“31 ansieht und er geht davon aus, dass der Autobiografie
besondere Authentizität zukommt, da der Erzähler/die Erzählerin von sich selbst
erzähle. Somit kann niemand besser wissen, wie die einzelnen Elemente des
Lebens abgelaufen sind bzw. wie man sich gefühlt, was man gewollt oder warum
und wie man etwas getan hat. Gusdorf vertritt auch die Annahme, dass
Autoren/Autorinnen oftmals das Schreiben ihrer eigenen Autobiografie in Angriff
nehmen, um eine unvollständige oder entstellte Wahrheit, die sich über ihr Leben
verbreitet hat, richtigstellen zu können.32
Eine weitere bahnbrechende Arbeit im Bereich der Theorieforschung zur
Autobiografie folgt mit Roy Pascals umfangreicher Studie mit dem englischen
Originaltitel „Design and Truth in Autobiography“.33 Seine Darstellung der
Autobiografie entspricht in weiten Teilen den Auffassungen von Georges Gusdorf.
Nach Roy Pascal handelt es sich bei der Autobiografie um eine narrative
Lebensbeschreibung, wobei auch der Zusammenhang bzw. die Zusammenstellung
der Ereignisse eine große Rolle spielen. Dabei nehme der Schreibende/die
Schreibende auch einen bestimmten Standpunkt ein, von dem aus das Geschehene
interpretativ dargestellt wird. Durch die Schreibarbeit kann es gelingen, Ordnung
und sinnstiftende Einheiten im eigenen Lebensverlauf zu entdecken. Pascal betont
stärker als Gusdorf, dass der Autobiograf/die Autobiografin auch stark das eigene
Leben formt. Er/sie gebe dem Leben einen ordnenden Rahmen und stelle auch
Konsequenzen aus der Beziehung zwischen dem Ich und der Umwelt heraus.
Autobiografien unterliegen vor allem auch der Selektion des Schreibenden. Denn es
wird keinem gelingen, sein ganzes Leben in allen Einzelheiten zu verschriftlichen.
Da eine Auswahl der Lebensereignisse getroffen werden muss und die
Lebensbeschreibung aus der Sicht eines Individuums erfolgt, kann diese Gattung
30
Vgl. ebd. (Anm. 29), S. 127-129. 31
Vgl. ebd. (Anm. 29), S. 133. 32
Vgl. ebd. (Anm. 29), S. 131. 33
Vgl. Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart, Berlin u.a.: Kohlhammer 1965.
13
keinen Anspruch auf Objektivität erheben. Pascal formuliert diesen Sachverhalt
folgendermaßen:
Der Autobiograph berichtet nicht Tatsachen, sondern Erfahrungen, d. h. die Wechselwirkung zwischen Mensch und Tatsachen oder Ereignissen.34
Für die theoretische Diskussion über diese Gattung sind auch die Denkansätze von
Wilhelm Dilthey von Bedeutung. In seiner Konzeption ist das „Verstehen“ als
zentrale Kategorie des menschlichen Zugangs zum Leben anzusehen. Demnach ist
die Autobiografie im Vergleich zur Biografie die „höchste und am meisten instruktive
Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt“35. Für Dilthey ist sie
die „zu schriftlichem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über
seinen Lebenslauf“36. Die Biografie wäre dementsprechend „die literarische Form
des Verstehens von fremdem Leben“37. Die Kategorie der Kohärenz, die als
repräsentatives Element der traditionellen Theorie der Autobiografie anzusehen ist
und auch schon bei Gusdorf Behandlung findet, wird auch von Dilthey
angesprochen. Nach Dilthey findet der Mensch in allem Geistigen eine Einheit, da
wir das Vermögen besitzen, Ordnung in unser Bewusstsein zu bringen.38 Wichtig für
das Verständnis sei auch die Kategorie der Identität. Durch das Bewusstsein werde
der Lebenslauf „in seiner Abfolge zusammengehalten“ wobei „alle Momente des
Lebens“ ihren Platz finden und „das Diskrete […] zur Kontinuität verbunden“39 wird.
Aufgrund der ständigen Auseinandersetzung mit den besonderen Bedingungen des
eigenen Lebens entwickeln wir ein Bild unserer Identität und wir können uns als
unverwechselbare Wesen wahrnehmen. Die verschiedenen Rollen, die wir im Laufe
eines sozialen Lebens einnehmen, verändern unsere Identität oder bewahren sie.
Die Autobiografie erzählt von vielen Erlebnissen, in denen eine reale Person,
dessen Leben erzählt wird, verstrickt ist oder die sie selbst produziert. Diese
34
Roy Pascal: Die Autobiographie (Anm. 33), S. 22. 35
Wilhelm Dilthey: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft. Erster Teil: Erleben, Ausdruck und Verstehen. In: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 199. 36
Dilthey: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Anm. 35) S. 246-247. 37
Wilhelm Dilthey: Die Biographie. In: ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 305. 38
Vgl. Dilthey: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Anm. 35), S. 240. 39
Dilthey: Die Biographie (Anm. 37), S. 305.
14
Erlebnisse berichten demnach jeweils verschiedene spezifische Identitäten, die
diese Person im Laufe des Lebens annimmt bzw. angenommen hat.40
Im englischsprachigen Raum hat sich mit dem Konzept der „New Biography“, rund
eine Generation nach Dilthey, das Verhältnis von Autobiografie und Biografie
verändert. Es kam zu einer Annäherung, da nun auch der Biograf/die Biografin den
Status eines aktiven Erzählers/einer aktiven Erzählerin erhält, der/die nicht nur
passiv die Lebensgeschichte eines Menschen wiedergibt, sondern eine aktive
Beziehung zum biografischen Objekt innehat und somit erscheint auch die Biografie
als autobiografisches Projekt. Man sah den Biografieschreibenden/die
Biografieschreibende nicht mehr als einen passiven Chronisten/eine passive
Chronistin, sondern als Künstler/Künstlerin.41
In einem vergleichenden Artikel hält Neva Šlibar fest, dass die Autobiografie
üblicherweise die Selbstbesinnung des menschlichen Bewusstseins darstelle,
wohingegen man bei einer Biografie von einer ganzheitlichen Darstellung der
Persönlichkeitsentfaltung ausgehe.42 Die Ähnlichkeiten von Biografie und
Autobiografie liegen nach Neva Šlibar in den Sinnbildungsprozessen, in den
Mechanismen der Identitätsbildung und der Erfahrungsorganisation. Als eindeutige
Differenz zwischen Autobiografie und Biografie sei die Erzählinstanz erwähnt. Bei
der Autobiografie ist der Autor/die Autorin sogleich Referenz- und Aussagesubjekt,
wobei es sich um eine doppelte Ichform handle. Bei der Biografie schreibe jedoch
eine außenstehende Person über das Leben eines biografischen Objektes.43 An
dieser Stelle seien die Kriterien der traditionellen Autobiografieforschung erwähnt,
die zwischen Biografie und Autobiografie unterschieden. Darunter falle die
Perspektive „die sich in der Biographie von außen nach innen, in der Autobiographie
hingegen von innen nach außen richte“44. Ein bedeutender Unterschied bestehe
auch in der Faktenpräsentation bzw. in der Gestaltung der Autobiografie, die vom
Autobiografen/der Autobiografin subjektiv intendiert sei und vom Biografen/von der
40
Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm.15), S. 17. 41
Vgl. Mittermayer: Die Autobiographie im Kontext der ,Life- Writing´- Genres (Anm. 28), S. 77. 42
Vgl. Neva Šlibar: Biographie, Autobiografie- Annäherungen, Abgrenzungen. In: Michaela Holdenried (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin: Erich Schmidt 1995, S. 391. 43
Vgl. Šlibar: Biographie, Autobiographie- Annäherungen, Abgrenzungen (Anm. 42), S. 392-394. 44
Mittermayer: Die Autobiographie im Kontext der ,Life- Writing´- Genres (Anm. 28), S. 78.
15
Biografin als objektiv anzusehen ist.45 Denn in der Autobiografie könnten auch
Lebensentwürfe und Lebensmöglichkeiten enthalten sein, wohingegen sich die
Biografie an die historischen Fakten zu halten habe. Jesse formuliert diesen
Sachverhalt bezogen auf die Autobiografie folgendermaßen: „Der autobiografische
Erzählstil beansprucht für sich eine subjektive Authentizität“46. Doch die neuere
Theorie zur Autobiografie und Biografie hält diese strikte Trennung nicht aufrecht.
Denn auch Biografen stilisieren ihre Werke und somit kann nicht von einer reinen
Faktenpräsentation ausgegangen werden. Es kann angenommen werden, dass die
Werke von den Biografen/Biografinnen subjektiv geprägt werden. Nünning spricht
diesbezüglich von einer neuen eigenen Gattung, die als „biografische Metafiktion“
bzw. als „fiktionale Metabiografie“ bezeichnet wird. Diese Biografien lenken den
Blick „von der Darstellung des Lebenslaufes eines Dichters auf die Probleme des
Biographen bei der Rekonstruktion von dessen Lebensgeschichte“47.
Ein wichtiger hermeneutischer Ansatz, der auch für das Autobiografieverständnis
der Analyse von Bedeutung ist, der eine enge Wechselwirkung zwischen
Autobiografen/Autobiografin und dem Leser/der Leserin hervorhebt, ist das Konzept
des „autobiographischen Paktes“ von Philippe Lejeune.48 Demnach versuchen
Autoren/Autorinnen im „Pakt“ mit den Lesern/Leserinnen, Wahrheit herzustellen und
durchzusetzen. Denn gerade der Leser
[…] begutachtet kritisch die historische Treue und den Erweis des Autobiographen als eines nichtfiktiven Erzählers.49
Lejeune formuliert diesen „Pakt“ folgendermaßen aus:
Von der Situation des Lesers ausgehend […] gelingt es mir möglicherweise, das Funktionieren der Texte […] klarer zu erfassen, denn sie sind ja für uns, die Leser
45
Vgl. ebd. (Anm. 28), S. 78. 46
Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 18. 47
Ansgar Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion. Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres. In: Christian v. Zimmermann (Hg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionaler biographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Tübingen: Gunter Narr 2000, S. 19. 48
Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 22. 49
Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 22.
16
geschrieben worden, und indem wir sie lesen, sind wir es, die sie zum Funktionieren bringen. 50
Dieser „Pakt“ zwischen Leser/Leserin und dem Autor/der Autorin ergibt sich aus der
Identität von Autor/Autorin und Erzähler/Erzählerin, denn dadurch kann der
Autor/die Autorin auf außertextuelle Wirklichkeit Bezug nehmen und der Leser/die
Leserin kann das Geschilderte auf die Wirklichkeit rekurrieren.51 Aus diesem
wirkungsmächtigen Pakt resultiert, dass der Leser/die Leserin vorerst nicht davon
ausgeht, dass in einer Autobiografie falsche Angaben enthalten sein könnten. Da
man der Annahme ist, dass der Autobiograf/die Autobiografin nicht bewusst gegen
den Vertrag verstoßen werde, gehe man eher davon aus, dass dem Autor/der
Autorin, bei gegebenen unglaubwürdigen Stellen, Fehler unterlaufen seien.
Autobiografien wie Biografien entwickeln ihren Sinn als narrative Konstruktionen
erst durch die Variation verschiedener Aspekte. Für die Analyse biografischer
Erzählungen sind somit verschiedene Dimensionen zu berücksichtigen. Darunter
fallen die Ebene der kontextuellen Rahmenbedingungen, die Ebene der Handlung
und somit das „Was?“ der Erzählung und die Ebene der Darstellung, das „Wie?“ der
Erzählung.52
2.2) Künstlerbiografien im 20. Jahrhundert
Dieses Kapitel widmet sich prototypischen Kennzeichen und Merkmalen von
Künstlerbiografien des 20. Jahrhunderts. Dabei werden vor allem theoretische
Neuerungen des 20. Jahrhunderts behandelt.
Im 19. Jahrhundert etablierte sich die Autobiografie als universitär-
wissenschaftliche Darstellungsform, die sich im 20. Jahrhundert zu einer
wissenschaftlich-künstlerischen Gattung avancierte.53 Die Basis für eine
Künstlerbiografie des 20. Jahrhunderts bildet eine Vorstellung vom Leben als
Kunstwerk, wobei sowohl die Lebensgeschichte als auch das Werk des Autors/der
50
Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. In: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 215. 51
Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 199. 52
Vgl. ebd. 53
Vgl: Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 273.
17
Autorin Ausdruck des Künstlertums seien bzw. das Material des künstlerischen
Ausdrucks darstellen. Schon seit dem 19. Jahrhundert gewinnt die „Starqualität“
zunehmend an Bedeutung. Zur Starqualität zählen Persönlichkeitseigenschaften
bzw. lebensgeschichtliche Besonderheiten der sogenannten
Künstlerpersönlichkeiten und weniger Qualitäten, die mit dem Werk des Künstlers
bzw. der Künstlerin verbunden sind.54 Somit bilden das Werk und die Starqualität
die narrative Grundlage für eine Künstlerbiografie bzw. Künstlerautobiografie. Im 20.
Jahrhundert geht es immer deutlicher um die Erzeugung von Kohärenz zwischen
dem Privatleben und der künstlerischen Produktion.55 Das Starphänomen der
populären Kultur der verschiedensten Kunstrichtungen wirkt sich damit auf das
Genre der Künstlerbiografie bzw. Künstlerautobiografie aus.56
Die Diskussion um den erkenntnistheoretischen Stellenwert der Biografie als auch
der Autobiografie lebte in den 1960er Jahren auf, wohingegen in den 1970er und
1980er Jahren eine Wechselbeziehung von Kunst und Wissenschaft begann.
Aufgrund dieser Wechselbeziehung wurden die Möglichkeitsbedingungen der
Gattung Autobiografie als auch Biografie Gegenstand der Reflexion und daraus
resultierte der Ansatz von Pierre Bourdieu.57 Unter dem Titel „die biographische
Illusion“58 hat Pierre Bourdieu festgestellt, dass man das Leben nicht mehr „im
Medium einer Geschichte mit Anfang, Höhepunkt und Schluss erzählen“59 kann:
Den Versuch zu unternehmen, ein Leben als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu beschreiben, ohne andere Bindung als die an ein Subjekt, dessen Konstanz zweifellos lediglich in der des Eigennamens besteht, ist beinahe so absurd wie es zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu stellen.60
Es sei somit eine triviale Vorstellung von der Existenz, das Leben als kohärente
Geschichte mit einer gerichteten Abfolge von Erlebnissen zu sehen. Aufgrund
dieser Annahme unterwerfen wir uns bei einer Autobiografie bzw. einer Biografie
54
Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 9. 55
Vgl. Richard Dyer: Stars. London: British Film Institute 1979, S. 14. 56
Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 9. 57
Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 273. 58
Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 1/1990, S. 75-81. 59
Schlösser: Dichtung oder Wahrheit (Anm. 13), S. 23. 60
Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion (Anm. 58), S. 80.
18
einer rhetorischen Illusion.61 Es lässt sich schlussfolgern, dass Biografien bzw.
Autobiografien zur Reduzierung der Komplexität des Lebens beitragen, denn selbst
das ereignisärmste Leben wäre zu komplex, um es in allen Einzelheiten
darzustellen. Es sei nach Bourdieu auch absurd, lediglich die einzelnen
Lebensstationen in der Zeitfolge darzustellen, denn es müssten auch die
Beziehungen zwischen diesen Stationen beschrieben werden.62 Erst durch die
Auswahl und die Kombination der Stationen des Lebens gewinne die Biografie bzw.
die Autobiografie ihre kohärente Gestalt. Zur Auswahl der Ereignisse bzw. zu den
selektiven Vergegenwärtigungen einzelner Lebensstationen würden auch die
Leistungen eines Menschen zählen. Denn ein Mensch ohne Leistungen wäre nicht
biografiewürdig.63 Da es sich neueren Theoriedefinitionen zufolge bei der Gattung
Biografie bzw. Autobiografie um eine Gattung mit zwei Bereichszugehörigkeiten
handelt, den Bereichen der Kunst und der Wissenschaft, werde für eine genaue
Gattungskonzeption von den Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen verhandelt,
was diese Gattung zu leisten und zu unterlassen habe. Bei einer Zugehörigkeit zum
Bereich der Wissenschaft müsse alles weggelassen werden, was nicht unmittelbar
oder mittelbar mit der Wirkung oder der Entwicklung des Beschriebenen
zusammenhängt. Im Bereich der Kunst müsse hingegen alles unterlassen werden
„was nicht authentisch ist und sich nicht dokumentarisch beweisen läßt.“64 Im
„Individuellen zugleich das Allgemeine zu sehen“65 sei die Aufgabe der Biografie
bzw. der Autobiografie und daraus bestehe die wahre Kunst und Wissenschaft der
Gattung. Es gehe somit nach Rüdiger Zymner auch um reale Ereignisse, jedoch
werden diese in symbolisierender bzw. stilisierender Form vermittelt.66 Aufgrund der
Form wird in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts von autobiografischen
Romanen und nicht von Autobiografien gesprochen.67 Durch die neuen Aspekte des
Gattungskonzeptes kommt es zu einer Psychologisierung bzw. Soziologisierung der
historiografischen Gattung. Denn es werden sowohl innere Vorgänge als auch die
61
Vgl. Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion (Anm. 58), S. 76. 62
Ebd. (Anm. 58), S. 80. 63
Rüdiger Zymner: Biographie als Gattung? In: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 8. 64
Olaf Hähner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main u. a.: Lang 1999, S. 9. 65
Ebd. (Anm. 64), S. 9. 66
Zymner: Biographie als Gattung? (Anm. 63), S. 8. 67
Vgl. Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache (Anm. 5), S. 161.
19
gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen dargestellt. Ein
gattungsimmanentes Merkmal ist die Fokussierung auf das Außergewöhnliche,
Überdurchschnittliche bzw. Exzentrische einer Person.68 Doch diesbezüglich gibt es
in Hinblick auf die verschiedenen Biografieforschungsrichtungen Unterschiede. Die
sozialwissenschaftliche Forschungsrichtung fokussiert eher das Besondere einer
bestimmten Gruppe von Personen, wobei die Lebensläufe nicht herausragend,
sondern exemplarisch für die Gruppe stehen sollen.69 In der deutschen Literatur des
20. Jahrhunderts wird durchwegs der dialektischen These zugestimmt, dass
Biografien bzw. Autobiografien sowohl als konstruiert als auch als real gelten.70 Bei
der Konstruktion der Lebensgeschichte handelt es sich oftmals um ein Spiel mit
vielen Möglichkeiten. Durch verschiedene literarische Mittel, wie zum Beispiel durch
Doppelungen, Widersprüchlichkeiten oder durch die Auflösung von Linearität und
Chronologie, kann es zu einer Vieldeutigkeit der Autobiografie bzw. Biografie
kommen.71 Meistens wird bei literarischen Biografien bzw. Autobiografien auf
nachweisbare Quellen zurückgegriffen, aber die Auswahl und Anordnung ist
künstlerischen Zwecken untergeordnet. Die Auswahl der beschriebenen Erlebnisse
in autobiografischen Erzählungen kann als Nachweis dafür gelten, was dem
Autor/der Autorin in seinem/ihrem Leben wichtig erscheint bzw. erschien und wie
er/sie sich selbst darstellen wollte.72
Zur Kennzeichnung der Gattung Künstlerbiografie bzw. Künstlerautobiografie gibt es
keine verbindlichen Merkmale und es kann somit von Gattungsheterogenität
gesprochen werden. Es existiert nach wie vor „keine systematische Darstellung der
Erzähltypen und Erscheinungsformen der neueren literarischen Biographik“73.
68
Vgl. Hannes Schweiger: Biographiewürdigkeit. In: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 32. 69
Vgl. ebd. (Anm. 68), S. 32. 70
Vgl. Klein: Grundlagen der Biographik (Anm. 21), S. 14. 71
Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 108. 72
Vgl. Dieter Kühn: Werkreflexion, Stichwort: literarische Biographie. In: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 186-187. 73
Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 110.
20
2.3) Spannungsfeld Fiktion und Wirklichkeit/ Autobiografie-Autofiktion
Ein Thema, das in Bezug auf die Gattung der Autobiografie immer wieder
angesprochen wird, ist das Spannungsfeld von Fiktion und Wirklichkeit. In keiner
anderen Gattung wird so oft über die „Realität“ bzw. über die Nachweisbarkeit des
Geschriebenen verhandelt.
Der Wahrheitsanspruch bildet nach der traditionellen Auffassung der Biografie ein
wesentliches Charakteristikum, das immer wieder in Zweifel gezogen wird.74 Der
Autor/die Autorin zeige nach Ingrid Aichinger meistens den „Willen zur
Aufrichtigkeit“75, wobei man davon ausgehe, dass er/sie seine/ihre Persönlichkeit in
einer Selbstdarstellung, der Wahrheit entsprechend, zeige. Schon in der Frühzeit
der Autobiografieforschung ging man auf die Frage ein, ob die Autobiografie der
Wahrheit entspreche bzw. dieser sehr nahe komme. Ein bedeutendes Frühwerk in
der autobiografischen Forschung stellt das vierbändige Werk von Georg Misch zur
Geschichte der Autobiografie dar, das erstmals 1907 erschien. Dieser ging davon
aus, dass der Realitätsanspruch der Autobiografie „nicht so sehr in den Teilen zu
suchen ist, als in dem Ganzen, das mehr ist als die Summe der Teile“76. So könnten
zwar einzelne Teile der Lebensgeschichte erfunden sein, aber dennoch könnte man
aus dem Ganzen auf die Persönlichkeit bzw. auf den Charakter des
Autobiografen/der Autobiografin schließen. Man könnte sogar so weit gehen und
sagen, dass man sogar aus den Lügen den Geist bzw. den Charakter erkennen
kann. Pascal hingegen sieht die Verfälschungen in der Lebensgeschichte als
grundlegendes Merkmal der Gattung Biografie. Denn er geht davon aus, dass die
Autobiografen/die Autobiografinnen das Erlebte so darstellen, wie sie es in
Erinnerung haben bzw. „wie es [ihrem] Geist erscheint“77, ohne Wahrheitsanspruch.
Auch die Abfassungszeit und der seelische Gesamtzustand können Einfluss auf die
Wiedergabe und Schilderung von persönlichen Erlebnissen haben. Die Tatsache,
dass das Gedächtnis nicht das Erlebte selbst abspeichert, sondern die Vorstellung
74
Vgl. Mittermayer: Die Autobiographie im Kontext der ,Life- Writing´- Genres (Anm. 28), S. 87. 75
Ingrid Aichinger: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 183. 76
Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 45. 77
Pascal: Die Autobiographie (Anm. 33), S. 90.
21
davon, wobei selektiv vorgegangen wird und es durch die Einbettung in
verschiedene Sinnzusammenhänge zu Akzentverschiebungen kommen kann, hat
Auswirkungen auf das Konzept des autobiografischen Wahrheitsbegriffes.78 Hayden
White vertritt die These der Fiktionalität des Faktischen und geht davon aus, dass
alle Texte, die erlebte Erfahrung in Sinnzusammenhänge bringen, Strategien der
Fiktion anwenden. Darunter fallen nach seiner Meinung vor allem die Metapher, die
Metonymie, die Synekdoche und die Ironie.79
Faktische Zuverlässigkeit ist nur ein Element unter vielen, das für die Gattung
Autobiografie von Bedeutung erscheint. Viel wichtiger sei, dass das Erlebte so
vermittelt wird, dass man es auch glauben kann und somit kann die Glaubwürdigkeit
als wichtiges Kriterium angesehen werden.80 Unglaubwürdige Darstellungen werden
nach diesem Kriterium nicht als falsch, sondern als unplausibel bezeichnet. Die
Gattung Autobiografie kann keinen Anspruch auf objektive Realitätswiedergabe
geben, sondern sie gibt „Einsichten in die Art und Weise, wie Vergangenes gesehen
werden kann“81. Die Inszenierung von Authentizität erzeugt somit erst den
autobiografischen Effekt.
Bernhard Fetz verdeutlicht, dass die Autobiografie verschiedene Wahrheitsbegriffe
evoziert, die mit dem Begriff der Wahrheit im herkömmlichen Sinn wenig zu tun
haben:
Zur biographischen Wahrheit gehört die Wahrheit der Verdrängung, zum Beispiel als Handlung leitende Lebenslüge, ebenso wie die diskursive Formierung von Aussagen in bestimmten Formaten und Genres.82
Das eigene Leben ist in der Erinnerung gespeichert und seine Verschriftlichung ist
für den Leser/die Leserin bestimmt. Es werden nur Erinnerungen verschriftlicht, die
der Autor/die Autorin preisgeben will bzw. die zu seiner/ihrer gewünschten
Darstellungsform des Lebens passen. Die verschriftlichten Erinnerungen sind somit
78
Vgl. Ingrid Aichinger: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk (Anm. 75), S. 181. 79
Vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett 1986, S. 22. 80
Vgl. Schlösser: Dichtung oder Wahrheit (Anm. 13), S. 19. 81
Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Stuttgart: Reclam 2001, S. 38. 82
Bernhard Fetz: Biographisches Erzählen zwischen Wahrheit und Lüge, Inszenierung und Authentizität. In: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 60.
22
meist nicht deckungsgleich mit der objektiven Wahrheit, sofern diese überhaupt
beschrieben werden kann. Menschen verdrängen auch bestimmte Inhalte aus ihrem
Leben, die ihnen unangenehm sind bzw. die sie für sich behalten wollen, wobei
Inhalte sowohl bewusst als auch unbewusst verdrängt werden können. Den
„wahrhaftigen Eindruck des Erlebten“ könne man somit anstelle von „Wahrheit“ zum
verbindlichen Kriterium für die Gattung der Autobiografie erheben. Eine objektive
Beschreibung kann in der Autobiografie auch aufgrund der Verschmelzung von
Erzählsubjekt und Erzählobjekt nicht geleistet werden. Die Schilderung des eigenen
Lebens ist aufgrund dieser erzähltechnischen Konstellation immer subjektiv
eingefärbt.83 In der Gattung Autobiografie verbinden sich somit literarische mit
historischen Elementen. Zunehmend geht man in der neueren
Autobiografieforschung davon aus, dass Leben nicht nur gelebt und in der Folge
niedergeschrieben wird, sondern dass das Leben selbst immer auch etwas
Konstruiertes und Gestaltetes darstellt:
Begriffe wie »unmittelbar« und »authentisch« müssen ergänzt werden durch »konstruiert« und »inszeniert«, wobei kaum Kriterien zu finden sind, nach denen etwas als »noch authentisch« oder »schon inszeniert« zu gelten hat […].84
Diese Unterscheidung authentisch vs. konstruiert zeigt, dass die Aufgabe der
Autobiografie nicht nur in der Nacherzählung der Lebensgeschichte besteht,
sondern auch in der sowohl unbewussten als auch bewussten Inszenierung bzw.
Konstruktion des eigenen Lebens. Da sich Versuche, die zwischen Inszenierung
und Authentizität klar unterscheiden wollen, als obsolet erweisen, macht es keinen
Sinn zu untersuchen, welche beschriebenen Lebensereignisse tatsächlich auch
objektiv so stattgefunden haben und welche durch die Verschriftlichung in einem
bestimmten Licht erscheinen, das für einen objektiven Beobachter/für eine objektive
Beobachterin so nicht zugänglich gewesen wäre. Die Ununterscheidbarkeit von
Fiktion und Wirklichkeit kann als Kennzeichen der modernen Autobiografie
83
Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 128. 84
Klein: Grundlagen der Biographik (Anm. 21), S. 14.
23
angesehen werden. Eine wichtige Aufgabe der Autobiografie ist nach Peter-André
Alt die Erfassung der Schriftstellerexistenz als eigenes Kunstwerk.85
In dieser Arbeit werden Kunstwerke der eigenen Existenz anhand der frühesten
Kindheitserinnerungen von Elias Canetti und Thomas Bernhard untersucht. Durch
den Vergleich der beiden Werke soll Charakteristisches der Lebenskunstwerke der
Autoren herausgestellt werden. Die hermeneutische Entschlüsselung soll
sicherstellen, dass das Leben und das Werk keine unabhängigen Teile bleiben,
sondern dass zwischen ihnen auch Interdependenzen aufgezeigt werden können.
Der Begriff der Autofiktion leistet einen wichtigen Beitrag, um das schwierige
Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit in der Autobiografie näher zu beleuchten und
deshalb wird im Folgenden dieser näher beschrieben.
Der Begriff der Autofiktion stammt vom französischen Kritiker und Autor Serge
Doubrovsky:
Ich komme noch einmal auf das zurück, was ich bereits den ,monströsen´ Charakter meiner Bücher genannt habe, nicht Autobiographien, nicht ganz Romane, gefangen im Drehkreuz, im Zwischenraum der Gattungen, die gleichzeitig und somit widersprüchlich den autobiographischen und den romanesken Pakt geschlossen haben, vielleicht um dessen Grenzen und Beschränkungen außer Kraft zu setzen.86
Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten, wenn man so will, ist Autofiktion: die Sprache über das Abenteuer zu einem Abenteuer der Sprache machen, jenseits von Konvention und Syntax des Roman, sei es neu oder traditionell.87
Die Autofiktion impliziert für ihn sowohl den bewussten Einsatz von fiktionalen
Momenten als auch eine schonungslose Offenheit, wobei das autobiografische Ich
keinen Selbstimaginationen unterliegen sollte.88 Das von Doubrovsky entwickelte
Paradigma der Autofiktion wird synonym verwendet zum englischen Begriff
85
Vgl. Peter-André Alt: Mode ohne Methode? Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik. In: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biografischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 33. 86
Serge Doubrovsky: Nah am Text/ Textes en main. In: Alfonso de Toro und Claudia Gronemann (Hg.): Autobiographie revisited. Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur. Hildesheim: Olms 2004, S. 119. 87
Ebd. (Anm. 86), S. 117. 88
Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe- Barthes- Özdamar. In: Ulrich Breuer und Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Iudicium 2006, S. 356.
24
„postmodern autobiography“.89 Dies legt nahe, dass die Termini „Postmoderne“ und
„Autofiktion“ verwandt sind und „dass Autofiktion als eine spezifisch nachmoderne
Form autobiografischen Schreibens zu gelten hat“90. Von einem autobiografischen
Text wird erwartet, dass die Lebensgeschichte so dargestellt wird, dass man ihr
auch Glauben schenken kann, wobei fiktionale Elemente nicht ausgeschlossen
werden. Es gibt lediglich die Hoffnung bzw. den Pakt mit dem Autor/der Autorin,
dass dieser/diese nicht absichtlich etwas Unplausibles erzählt und bemüht ist, seine
Biografie möglichst realitätsgetreu darzustellen. Die Unmöglichkeit der
Realitätswiedergabe ist bei nachmodernen Formen der Autobiografie ein Thema:
Der autobiographische Text reflektiert die Unmöglichkeit, gelebtes Leben ,so wie es tatsächlich war´ wiederzugeben und inszeniert seinen eigenen Konstruktionscharakter.91
Es kann festgehalten werden, dass die autobiografische Lesart eine Option ist, die
im Pakt mit dem Autor/der Autorin (nach Bourdieu) gewählt wird. Doch die Texte
funktionieren auch ohne autobiografischen Pakt. Der Begriff Autofiktion impliziert,
dass die Autobiografie nicht um der Biografie willen erzählt wird, sondern um einen
literarischen Text zu gestalten, wobei der Leser/die Leserin zwar einzelne
Ereignisse als Raum-Zeit-Geschichtliches erkennen kann, das jedoch nicht
intendiert wird. Ungeachtet des Ausmaßes von Realitätsreferenz wird kein Anspruch
erhoben, dass die Erlebnisse tatsächlich so in der Realität stattgefunden haben. Die
Figuren, der Ort und das Ereignis, das beschrieben wird, stimmen zum Beispiel mit
realen Figuren, Orten und Ereignissen des Autorenlebens überein, doch der
Zeitrahmen, in dem dies geschieht, der dem Ganzen eine ordnende Struktur gibt,
kann erfunden sein. Die autobiografische Lektüre ist somit lediglich eine Option, die
vom Autor/von der Autorin nicht explizit angestrebt wird, wobei zusätzlich andere
Leseoptionen eröffnet werden.92 Der Autobiografie wird vorgeworfen, dass sie
immer im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Wirklichkeit steht. Das Paradigma
der Autofiktion verdeutlicht, dass es die Sprache ist, die das Leben konstituiert,
89
Vgl. Frank Reiser: Autobiografie an der Grenze postmoderner Praxis: Serge Doubrovsky. In: Susanne Kollmann und Kathrin Schödel (Hg.): PostModerne De/Konstruktionen. Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche. Münster: Lit-Verlag 2004, S. 215. 90
Frank Reiser: Autobiografie an der Grenze postmoderner Praxis: Serge Doubrovsky (Anm. 89), S. 215. 91
Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie (Anm. 88), S. 360. 92
Vgl. ebd. (Anm. 88), S. 364.
25
wodurch man das eigene Leben als Anlass für einen Roman nehmen kann.93 Sie ist
eine bewusste Kombination von Autobiografie und Roman. Mit dem Begriff der
Autofiktion wird auch die innere und äußere Zensur übergangen. Als innere Zensur
könnte man Erlebnisse bezeichnen, die man in einer Autobiografie einfach
aussparen bzw. weglassen oder anders darstellen möchte und die äußere Zensur
spricht andere beteiligten Personen an, die sich durch ihre Darstellung in der
autobiografischen Erzählung angegriffen oder ins falsche Licht gerückt fühlen
könnten.94 Es besteht somit kein Anspruch darauf, dass reale Personen dargestellt
werden und der Autor/die Autorin hütet sich sogleich vor peinlichen Geständnissen,
indem er/sie sich das Recht vorbehält, einzelne Elemente des eigenen Lebens
auszusparen, auszuschmücken oder gänzlich zu verändern. Denn durch die
Begriffe Autofiktion oder autobiografische Erzählungen wird darauf hingewiesen,
dass Fakt und Fiktion eng miteinander verschränkt sind, wodurch weder persönliche
noch rechtliche Konsequenzen wie zum Beispiel die Verletzung von
Persönlichkeitsrechten zu erwarten seien.95 Der Begriff der Autofiktion impliziert das
Bemühen des Autors/der Autorin, die Geschichte möglichst plausibel darzustellen,
mit Referenzpunkten zum tatsächlichen Leben, wobei der Leser/die Leserin die
Option erhält, die autobiografische Erzählung nach dem referentiellen oder dem
fiktiven Gesichtspunkt zu lesen oder den Text auch gänzlich ohne Pakt
aufzulösen.96 Doch es scheint schwierig zu sein, eine autobiografische Erzählung
ganz nach einem bestimmten Pakt zu lesen.
Sowohl bei Thomas Bernhards autobiografischem Roman „Ein Kind“ als auch bei
Elias Canettis „Die gerettete Zunge“ handelt es sich um eine Kombination von
Autobiografie und Roman97, wobei es dem Leser/der Leserin frei steht, sie nach
dem referentiellen, fiktiven oder gänzlich ohne Pakt zu lesen. Doch auch hier macht
es wahrscheinlich keinen Sinn, sich auf einen Pakt zu beschränken, wobei bei der
Analyse der Werke immer beachtet werden muss, dass mit Fiktivem und Faktualem
gespielt wird; wobei es unmöglich erscheint, diese Verschachtelung gänzlich
93
Vgl. ebd. (Anm. 88), S. 368. 94
Vgl. Simone Winko, Fotis Annidis und Gerhard Lauer: Grenzen der Literatur: Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin: De Gruyter 2009, S. 301. 95
Vgl. ebd. (Anm. 94), S. 301. 96
Vgl. Winko, Annidis und Lauer: Grenzen der Literatur (Anm. 94), S. 305 97
Vgl. Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache (Anm. 5), S. 161.
26
aufzulösen. Es kann lediglich festgehalten werden, dass aus dieser Verschränkung
die Darstellung des Autors/der Autorin entsteht, die er/sie auf diese Art und Weise
selbst für sich wünscht. Daraus kann jedoch die gewünschte Inszenierung des
eigenen Künstlerdaseins abgelesen werden. Die Primärliteratur wird hinsichtlich der
bewussten Inszenierungen der Schriftsteller analysiert, um die Leitfrage der Arbeit
zu beantworten, ob sich ein bestimmtes Künstlerbild dieser Zeit durch die
Herausfilterung von konstanten und spezifischen Autobiografiemerkmalen ergibt.
2.4) Forschungsrichtungen zur Autobiografie
Es gibt unterschiedliche Forschungsrichtungen zur Autobiografie, die im Zuge der
Analyse auf verschiedene Art und Weise zum Tragen kommen. Deshalb werden im
Folgenden die soziologische und literarische Biografieforschung und die
Forschungsrichtung, die die Biografie als „Mitteilungsgeschehen“ betrachtet,
behandelt, die im Analyseteil der Arbeit ihre Anwendung finden.
Die soziologische Biografieanalyse untersucht die Biografie bzw. auch
Autobiografie:
[...] als soziale Tatsache im Sinne Emile Durkheims nach typischen Verlaufsmustern, Institutionalisierungsformen und deren sozialen Determinanten.98
Dadurch werden alle psychischen und sozialen Veränderungen des
Protagonisten/der Protagonistin Gegenstand der Untersuchung, wodurch die
Autobiografie als komplexer Prozess erscheint.99 Der/die Heranwachsende zeichnet
sich durch Spannungen aus, die sich sowohl im Denken, im Inneren abzeichnen als
auch durch das Äußere, durch andere Menschen und Ereignisse, die auf den
Einzelnen einwirken und die er/sie durch das Erlernen der Selbstregulierung
bewältigen muss. Dadurch eignet sich der Mensch einen „sozialen Habitus“ an und
entwickelt eine „soziale Persönlichkeitsstruktur“100. Der soziale Habitus befindet sich
im Spannungsfeld zwischen Individuellem und Kollektivem, und auch wenn es dem
98
Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 89. 99
Vgl. Werner Brettschneider: Kindheitsmuster. Kindheit als Thema autobiographischer Dichtung. Berlin: Erich Schmidt 1982, S. 11. 100
Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S.90.
27
Autobiografen/der Autobiografin nicht bewusst ist, steht das beschriebene Leben
immer unter dem Einfluss des sozialen und kulturellen Umfelds. Denn es steht fest,
dass sich kein Mensch in seinem Leben in einem leeren Raum bewegt und dass der
sozialen Umgebung eine tragende mehr oder weniger bestimmende Rolle zukommt.
Bei einer soziologischen Biografieanalyse wird somit auch der prägende Einfluss
der Umgebung, der sich in verschiedene soziale Gruppen bzw. Personen
aufschlüsseln lässt, analysiert.
Die Regulierung des Heranwachsenden durch die umgebende Erwachsenenwelt
spielt für die Integration in die Gesellschaft bzw. zur Ausbildung einer sozialen
Persönlichkeit eine tragende Rolle. Die gesellschaftlichen Begegnungen in Zeit und
Raum oder zum Beispiel die Rolle der Familie (wie zum Beispiel die Rolle der
Mutter, des Vaters, Großvaters etc.) sind Gegenstände der soziologischen
Biografieanalyse. Soziale Gruppen wie die Familie, Schulkollegen/Schulkolleginnen,
Lehrer/Lehrerinnen, Freunde aus der Umgebung bzw. bekannte Leute aus der
Nachbarschaft üben Zwänge auf das individuelle Leben aus und prägen es.101 Der
Einzelne nimmt im Laufe seines Lebens bestimmte Rollen ein, die die
Lebensgeschichte bestimmen. Deshalb werden die eingenommenen beschriebenen
Rollen des Autobiografen und die umgebenden sozialen Gruppen bzw. Personen
genau herausgearbeitet, da diese zur Herausbildung einer eigenen Identität eine
wichtige Rolle spielen. Aus solchen autobiografischen Konstellationen sollte bzw.
kann man jedoch keine eindeutigen Ursache-Wirkungsbedingungen ableiten, doch
das sozial prägende Gefüge kann interpretiert werden.102 In der soziologischen
Biografieanalyse steht die Frage im Mittelpunkt, „wie die Sozialstruktur auf das
Individuum wirkt und wie dieses reagiert“103. Interessant dabei ist, welche
moralische Normen bzw. Lebensprinzipien vom Autobiografen/von der Autobiografin
aus der Beziehung zu einzelnen Menschen übernommen werden und welche man
als bestimmend und prägend für den weiteren Lebensweg betrachten könnte. Denn
sogar subjektive Einstellungen können nicht abgesondert vom sozialen Kontext
erfasst werden. Bezogen auf die Wahrheitsproblematik könnte man nach der
101
Vgl. ebd. (Anm. 15), S. 91. 102
Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 90. 103
Ebd. (Anm. 15), S. 91.
28
Annahme der biografischen Illusion schlussfolgern, dass es keinen Sinn macht, das
Leben des Autobiografen/der Autobiografin rekonstruieren zu wollen, ohne zuerst
über die gewählte Konstruktion (auch soziale Konstellation und Konstruktion) der
Autobiografie zu reflektieren.104 Die Autobiografie hat eine soziale Funktion, da sie
exemplarisch die Verlaufsstruktur einer individuellen Lebensführung vorzeigt.105
Als Grundlage der literarischen Biografieforschung kann die Einsicht in die
Mischung von Fiktivem und Realem angesehen werden. Die Mittel der
Fiktionalisierung und Ästhetisierung stellen somit den Untersuchungsfokus des
literarischen Forschungsgebietes dar. Die literarische Biografie ermöglicht es im
Gegensatz zur wissenschaftlichen Biografie, Subjektives zu artikulieren. Die
Autobiografie erscheint dadurch als ein „Produkt der Suche nach Lebensspuren“
des Autobiografen/der Autobiografin, wodurch seine/ihre Identitätsentwicklung
dargestellt wird.106 Diese Lebensspurensuche wird ästhetisiert und mit fiktiven
Elementen angereichert, wobei die autobiografischen Texte dennoch mit dem
„sprachlogischen Feld der Wirklichkeitsaussage“107 verbunden sind. Ein klarer Beleg
dafür ist, dass der Autobiograf/die Autobiografin, der/die dem Leser auch als
Protagonist/Protagonistin entgegentritt, eine historisch beglaubigte Person ist. Die
subjektiven Perspektive des Autobiografen/der Autobiografin auf objektive Daten
formt die Lebensbeschreibung. Damit die Vergangenheit des Autobiografen/der
Autobiografin die Form der gewünschten Autobiografie annimmt, unterliegt die
Lebensgeschichte auch einem Prozess der Gestaltung und Bearbeitung. In diesem
Zusammenhang spricht Martin Stern von den sieben „A“s der Autobiografie
„Anordnung, Auswahl, Anfangspunkt, Akzentuierung, Außenmaterial, Ausdehnung
und Autorpräsenz“108. Diese sieben Gestaltungselemente der Autobiografie werden
in der vorliegenden Arbeit exemplarisch als Anhaltspunkte für die literarische
Biografieanalyse herangezogen. Die Autobiografie erscheint literarisch gesehen als
104
Vgl. Klein: Grundlagen der Biographik (Anm. 21), S. 85. 105
Vgl. Friedhelm Kröll: Biographieforschung. In: Gerd Reinhold (Hg.): Soziologie-Lexikon. München: Oldenburg 1991, S. 63. 106
Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 92. 107
Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 93. 108
Martin Stern: Autobiographie und Identität. In: Gaetano Benedetti und Louis Wiesmann (Hg.): Ein Inuk sein. Interdisziplinäre Vorlesungen zum Problem der Identität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 261.
29
Gebrauchsform des Autobiografen/der Autobiografin, um die eigene
Identitätsentwicklung zu konstruieren. Aus Sicht des Autobiografen/der
Autobiografin kann auch der Zweck, mit sich selbst ins Reine zu kommen
festgehalten werden, wobei der „Aussagemodus ,So bin ich gewesen!´ bzw. ,So bin
ich geworden?´“109 treffend erscheint. Die Autobiografie wird in der literarischen
Biografieforschung als literarisches Produkt angesehen, als Text, der wie andere
literarische Texte erzähltechnisch analysiert werden kann. Literarische Biografien
können als narrative Konstruktionen angesehen werden, die „ihren kommunikativen
Sinn erst im Zusammenspiel verschiedener Aspekte entfalten“110. Die Dimensionen,
die für eine Autobiografieanalyse von Bedeutung sind, sind die Ebene der
Handlung, das „Was?“ der Erzählung bzw. die „histoire“ und die Ebene der
Darstellung, das „Wie?“ der Erzählung bzw. der „discours“.111 Bei der Ebene der
Handlung stellt sich die Frage, welche Elemente des Lebens erzählt werden und
wie diese in einen sinnvollen Ablauf gebracht werden. Damit die Autobiografie ihren
vollen kommunikativen Sinn erhält, ist auch die zweite Ebene, die Ebene der
Darstellung von Bedeutung. Bei dieser stellt sich zum Beispiel die Frage nach dem
Einsatz von erzähltechnischen Elementen.
In der neueren Biografieforschung wird die Autobiografie oft auch als
„Mitteilungsgeschehen“ betrachtet. Das „Mitteilungsgeschehen“ ist ein Begriff der
Hermeneutik und umschreibt die „Solidarität der Mitteilung“.112 Dies impliziert, dass
historisch und sozial geprägte Individuen, die durch den Einsatz von sprachlichen
Mitteln Ereignisse ihres Lebens vor ihrem Motivationshintergrund verschriftlichen,
etwas bewirken möchten.113 Durch den Text wird eine bestimmte Mitteilung über
das Leben des Autors/der Autorin transferiert, die durch den Leser/die Leserin zur
Entfaltung kommen sollte. Dabei liegt wiederum die Betonung auf der allgemein
anerkannten Tatsache, dass eine Autobiografie immer auch Elemente der Fiktion
enthält und dass es sich keinesfalls um reine objektive Realitätsbeschreibungen
handeln kann. Im Sinne einer Rechenschaftsablegung wird die
109
Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 97. 110
Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 199. 111
Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11). 112
Radegundis Stolze: Hermeneutik und Translation. Gunter Narr: Tübingen 2003, S. 174. 113
Vgl. ebd. (Anm. 112)
30
Entwicklungsgeschichte eines Individuums verhandelt.114 Thomas Bernhard greift in
seinen autobiografischen Romanen auf Michel de Montaigne zurück:
Montaigne schreibt […] es gibt nichts Schwierigeres, aber auch nichts Nützlicheres, als die Selbstbeschreibung. Man muß sich prüfen, muß sich selber befehlen und an den richtigen Platz stellen. Dazu bin ich immer bereit, denn ich beschreibe mich immer und ich beschreibe nicht meine Taten, sondern mein Wesen […]. Und weiter: wenn ich mich
kennenlerne, wie ich wirklich bin, mache ich eine Bestandsaufnahme von mir.115
Durch die Anwendung dieser Erkenntnismethode gibt Bernhard an, dass er sein
eigenes Selbstverständnis, das seiner subjektiv erlebten Realität bzw. seinem
subjektiven Wesen entspricht, beschreibt. Das beschriebene Leben wird jedoch
nicht immer zum vorbildlichen Entwicklungsroman. Es wird in der Retrospektive die
Entfaltung und das Werden des Individuums verdeutlicht und das entwickelte
Selbstbewusstsein kann zum Beispiel das Erleben von Leid in „Leidensstolz“116
verwandeln. Die Theorie der Autobiografie als „Mitteilungsgeschehen“ verdeutlicht,
dass es sich immer um die gewünschte Selbstdarstellung des Autobiografen/der
Autobiografin handelt, wobei Elemente der eigenen Biografie verwandelt, verdrängt
oder ausgeschmückt werden. In der Auseinandersetzung mit der Umwelt wird auch
auf vorherrschende schicht-, gruppen- oder zeittypische Elemente zurückgegriffen.
Die Analyse soll durch den Vergleich der beiden Autobiografien zeigen, ob sich
Elemente der Kindheit- und Jugend finden lassen, die sich als typisch für eine
spätere Autorenlaufbahn erweisen. Die typischen und auch die variierenden
Elemente von Künstlerkonzeptionen werden im folgenden Kapitel behandelt. Die
Theorieforschungsrichtung der Biografie als „Mitteilungsgeschehen“ wirkt sich auf
die Analyse unter anderem durch die Annahme aus, dass jede Autobiografie
„sowohl durch Tradition als auch durch individuellen Stil geprägt“117 ist. Deshalb ist
ein erklärtes Ziel der Analyse auch, traditionelle als auch individuelle Elemente der
Künstlerautobiografie bzw. der Inszenierung des Künstlerlebens herauszufiltern, um
zu einem genaueren Verständnis der Autobiografien dieser Zeit zu gelangen.
114
Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 79. 115
Thomas Bernhard: Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg: Residenz 1975, S. 82-84. 116
Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 81. 117
Ebd. (Anm. 15), S. 81.
31
3) DIE INSZENIERUNG DES KÜNSTLERDASEINS:
Künstlerkonzeptionen und Künstlerbilder
Die deutschsprachige Künstlerbiografie wird, wie die Biografie im angelsächsischen
Raum, als eine lebendige kulturelle Praxis betrachtet.118 Autobiografien bieten
Lebensentwürfe, die in einer Kultur zum Ideal avancieren können:
Biographien bieten die Möglichkeit, vorbildhafte Lebensentwürfe zu gestalten, erlauben auf diese Weise, sich des eigenen Selbst zu vergewissern und spiegeln so stets herrschende Individualitätsauffassungen und -ideale. Diese Ideale werden dabei in einer spezifischen Form und zu einem bestimmten Zeitpunkt […] vermittelt.119
Wenn es sich beim Autobiografen/bei der Autobiografin um einen Künstler/eine
Künstlerin handelt, egal welcher Kunstsparte wie z. B. um einen Literaten/eine
Literatin, einen Musiker/eine Musikerin oder eine/n bildende Künstlerin/bildenden
Künstler, dann werden diese herrschenden Individualitätsauffassungen und -ideale
zu Künstlerbildern bzw. Künstlerkonzeptionen. Diese Künstlerbilder und
Künstlerkonzeptionen ändern sich jedoch mit der Zeit. Man kann auch von einem
„Rätsel des Künstlerdaseins“ sprechen, wobei davon ausgegangen wird, dass
bestimmte Fähigkeiten und Veranlagungen beim Künstler/bei der Künstlerin
vorhanden sein müssen und dass auch die Umwelt einen gewissen Einfluss
ausübe, dass aber diese Fähigkeiten und dieser Einfluss nicht genau ein für alle Mal
festgelegt werden können. Bezogen auf die Umwelt besteht die Annahme, dass der
Künstler/die Künstlerin einen Einfluss auf die Umwelt habe, aber auch dass die
Umwelt sich auf das Künstlerleben auswirke.120 Es bestehe somit zwischen dem
Künstler/der Künstlerin und der umgebenden Umwelt eine wechselseitige
Abhängigkeit. Die Summe der Eigenschaften, die einem Talent zugesprochen
werden, sind mannigfachen Anpassungen unterworfen und teilweise lediglich aus
der geschichtlichen Situation zu verstehen.121 Da in dieser Arbeit die Autobiografien
von Bernhard und Canetti zur Analyse herangezogen werden, die die frühesten
118
Vgl. Lukas Werner: Regionale Entwicklungen. Deutschsprachige Biographik. In: Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009, S. 265. 119
Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 265. 120
Vgl. Ernst Kris und Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 21. 121
Vgl. ebd. (Anm. 120), S. 21.
32
Kindheits- und Jugenderinnerungen behandeln, stellt sich die Frage, warum gerade
dieser Zeitabschnitt des Lebens herangezogen wird und ob nicht die Lebenszeit der
Autoren, in denen sie schon aktiv als Autor tätig gewesen sind, für die
Herausbildung einer Künstlerkonzeption bedeutender wäre. Zur Legitimation dieser
Vorgangsweise kann festgehalten werden, dass gerade dieser Zeitabschnitt als
besonders aussagekräftig angesehen wird.122 Diesbezüglich kann man sich auf
zwei Anschauungen berufen. Die erste Anschauung behandelt diesen Zeitabschnitt
als Vorgeschichte im Sinne einer kausalen Abhängigkeit für das spätere Autoren-
bzw. Künstlerleben. Sie:
[…] besagt, daß gerade die Ereignisse der Kindheit für die zukünftige Entwicklung des Menschen von entscheidender Bedeutung seien; sie hat darum frühzeitig das Walten des Schicksals im Leben großer Gestalten der Menschheitsgeschichte nachzuweisen versucht.123
Die zweite Anschauung betrachtet die Zeit des Heranwachsenden nicht als
Vorgeschichte, sondern einzelne Elemente der Geschichte werden als Vorzeichen
angesehen:
[…] sie sucht schon den Erlebnissen des Kindes den Hinweis auf seine künftigen Leistungen zu entnehmen und ist bereit, sie als Zeugen seiner früh vollendeten Eigenart zu betrachten.124
Deshalb ist es ein Ziel dieser Arbeit, in der Analyse bestimmte Vorzeichen im Text
für das spätere Schaffen als Künstler bzw. als Autor herauszufinden. Die zweite
Anschauung ist umfassender und auch unproblematischer als die erste, denn
retrospektiv nach kausalen Abhängigkeiten zu suchen ist zwar typisch, um
bestimmten Ereignissen nachträglich Sinn zu verleihen, doch es ist auf jeden Fall
schwieriger, Elemente des Lebens in eine kausale Abhängigkeit zu bringen, als sie
lediglich als Vorzeichen zu behandeln. Es muss aber in Bezug auf diese beiden
Anschauungen festgehalten werden, dass sie einander gegenseitig berühren und
ineinander übergehen und sie somit nicht leicht zu trennen sind. In
Künstlerbiografien der Antike ringt die Begabung des Kindes meist schon sehr früh
nach Ausdruck und sie kommt meist schnell an das Licht und zieht die
122
Vgl. ebd. (Anm. 120), S. 21. 123
Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 37. 124
Ebd. (Anm. 120), S. 37.
33
Aufmerksamkeit anderer auf sich.125 Dieser Sachverhalt ist in vielen modernen
Autobiografien auch noch zu finden, doch er tritt nur teilweise und in zahlreichen
Abwandlungen wieder in den Vordergrund. Wichtig ist anzumerken, dass die
Inszenierungen des Künstlerlebens wiederum von kulturellen und somit auch von
historischen Faktoren abhängen, die sich ebenfalls auf das Selbstverständnis des
Künstlers/der Künstlerin auswirken.126 In der Antike und im frühen Mittelalter habe
es im Vergleich zu heutigen Künstlerbiografien noch größere Unterschiede
zwischen den Kunstdisziplinen gegeben. Denn zu dieser Zeit habe man die
Schriftstellerei noch nicht als manuelle Kunstfertigkeit angesehen, sondern als eine
würdige Tätigkeit, der jeder angesehene freie Mann nachgehe.127 In modernen
Künstlerbiografien werden selbstverständlich Schriftsteller/Schriftstellerinnen
ebenfalls als Künstler/Künstlerinnen angesehen. Die Vorzeichen in den Texten für
das spätere Schaffen als Künstler/Künstlerin unterscheiden sich hinsichtlich der
Zugehörigkeit zu den verschiedenen Kunstdisziplinen. Im späten 18. Jahrhundert
bzw. im frühen 19. Jahrhundert habe sich im Gegensatz zu früheren Zeiten die
Vorstellung vom „ganzen Künstler“/von der „ganzen Künstlerin“ durchgesetzt. Das
bedeutet, dass es sich um besondere Menschen handle, die aufgrund ihres Talents
und ihren Gaben in jeder Hinsicht dem Bild eines Künstlers/einer Künstlerin
entsprächen. Dadurch sei auch ihr Leben und damit auch die Lebensbeschreibung
von der Aufgabe bzw. Sendung, künstlerisch zu wirken, voll und ganz
durchdrungen.128 Zu dieser Zeit habe es noch die herrschende Auffassung
gegeben, dass das Leben selbst nicht als Kunstwerk anzusehen ist und dass das
Leben des Künstlers/der Künstlerin lediglich dem Kunstwerk diene. Mit der
Romantik setze sich dann nach und nach die noch heute prägende Vorstellung
durch, dass das Leben und das Werk des Künstlers/der Künstlerin untrennbar
miteinander verbunden seien. Daraus folge, dass das Leben des Künstlers/der
Künstlerin selbst als Kunstwerk betrachtet werden kann.129 Über den klassischen
Bereich der Autobiografie hinaus gehe der zunehmend öffentliche Blick auf die
Persönlichkeit des Künstlers/der Künstlerin. Der künstlerische Ausdruck werde
125
Vgl. ebd. (Anm. 120), S. 51. 126
Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 14. 127
Vgl. Günther Binding: Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als ,sapiens architectus´. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 160-177. 128
Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 17. 129
Vgl. ebd. (Anm. 10), S. 8.
34
sowohl im Leben als auch im Werk gesucht bzw. gefunden und das Leben sehe
man gleichberechtigt mit dem Werk als Medium des Künstlertums. Bei
Künstlerkonzeptionen sei der künstlerische Ausdruck im Lebensverlauf als ebenso
bedeutend anzusehen wie das Werk. Neben dem Leben und dem Werk des
Künstlers/der Künstlerin gebe es noch eine dritte Dimension, die für die
Künstlerkonzeption von Bedeutung erscheint. Diese ist das für die Öffentlichkeit
inszenierte Leben, das eben nicht das gesamte Leben umfassen könne.130 An
dieser Stelle stellt sich die Frage, was man in diesem Zusammenhang unter
Inszenierung verstehen kann. Nach einem Text von Wolfgang Iser wird die
Inszenierung als der „unablässige […] Versuch des Menschen, sich selbst zu
stellen“131 bzw. als die „Institution menschlicher Selbstauslegung“132 bestimmt. Bei
der Inszenierung gibt sich der betreffende Mensch gegenüber der Öffentlichkeit so,
wie er/sie denkt, dass er/sie ist bzw. wie er/sie gesehen werden möchte.
Inszenierungen werden oftmals gar nicht als solche wahrgenommen, sondern als
ungestellte Lebensvorgänge. Erika Fischer-Lichte verdeutlicht mit der folgenden
Ausführung recht treffend, was man genau unter einer Inszenierung außerhalb der
Theaterwahrnehmung verstehen kann:
Der Mensch tritt sich selbst – oder einem anderen – gegenüber, um ein Bild von sich als einem anderen zu entwerfen und zur Erscheinung zu bringen, das er mit den Augen eines anderen wahrnimmt bzw. in den Augen eines anderen reflektiert sieht.133
So könnte man eine Autobiografie und auch die öffentlichen Auftritte von
Autoren/Autorinnen oder anderen Künstler/Künstlerinnen als bewusste wie auch als
unbewusste Inszenierungen des eigenen Lebens ansehen. Daraus ergibt sich die
Lebensbeschreibung bzw. das Auftreten, das der Künstler/die Künstlerin intendiert.
Dabei gilt das Verhältnis von der eigentlichen Privatheit zur öffentlich zur Schau
gestellten bzw. inszenierten Privatheit als Problem der Gattung Autobiografie. Es
kann aber als Funktion der Autobiografie angesehen werden, hinter das öffentliche
Bild des Künstlers/der Künstlerin zu schauen, indem man durch die erzählten
130
Vgl. ebd. (Anm. 10), S. 10. 131
Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 525. 132
Ebd. (Anm. 131), S. 512. 133
Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung. In: dies. & Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen/Basel: Francke 2000, S. 21.
35
Ereignisse beispielsweise aus der Kindheit und Jugend, die man durch die
Rezeption der Autobiografie erhält, die Persönlichkeit bzw. das Bild des
Künstlers/der Künstlerin, das dadurch vermittelt wird, kritisch hinterfragen kann.
Eine Autobiografie begünstigt zusätzlich zum öffentlich inszenierten Leben eines
Künstlers/einer Künstlerin die Schaffung einer biografischen Legende.134
Bei einer Künstlerkonzeption ist die Trennung von öffentlichem und privatem Leben
bzw. Selbst nicht möglich bzw. nicht erlaubt. Die Darstellung des Künstlerhabitus
setzt sich sowohl aus relativ konstanten als auch aus von Epoche zu Epoche
variierenden Elementen zusammen. In der Analysetätigkeit dieser Arbeit werden die
Texte auf konstante und auch auf variierende Künstlerelemente untersucht. Ernst
Kris und Otto Kurz haben in ihrem Werk über „die Legende vom Künstler“
festgestellt, dass sich die Topoi: „das frühe Talent“, „die Virtuosität“ als auch „die
Überlegenheit und die Außergewöhnlichkeit der Künstlerpersönlichkeit“ gegenüber
anderen Menschen als erstaunlich konstant erweisen.135 Die spezifischen,
gesellschaftlich geprägten Erwartungsmuster bzw. der Künstlerhabitus sind nach
Christopher Laferl und Anja Tippner durch die konstanten Elemente der „Virtuosität“,
der „Genialität“, der „tiefer gehenden Weltsicht“ und auch durch „Extravaganz“
geprägt.136 Die Künstlerschaft ist somit mit bestimmten kulturell vorgeprägten
Elementen verbunden, die die Gesellschaft projiziert, wovon auch die
Autoren/Autorinnen einer Autobiografie nicht unbeeinflusst bleiben können, da kein
Mensch kulturlos ist und somit immer bewusst als auch unbewusst geprägt wird von
den Vorstellungen einer Gesellschaft. Neben diesen erwähnten grundlegenden
Elementen, die meist konstant sind, gibt es eben auch Elemente, die variieren.
Um die spezifischen variierenden Elemente der zwei Autobiografien in der
Analysearbeit herauszufinden, werden diese Werke nach vier Kriterien analysiert,
die nach John Clausen137 der Entwicklung des Lebenslaufes zugrunde liegen. Die
vier Komponenten bestehen aus den „persönlichen Ressourcen“ wie zum Beispiel
„Intelligenz“, „Aussehen“, „Stärke“, „Gesundheit“ und „Temperament“, aus den
Ressourcen an „Unterstützung und Anleitung“, aus dem „Zugang zu
134 Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 10. 135
Vgl. Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 123-124, S. 131. 136
Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 7. 137
John A. Clausen: Die gesellschaftliche Konstitution individueller Lebensläufe. In: Klaus Hurrelmann: Sozialisation und Lebenslauf. Hamburg: Rowohlt 1980, S. 207.
36
Lebenschancen“ und aus den „persönlichen Bemühungen und Anstrengungen“.138
Denn gerade die Autobiografie verdeutlicht, dass die Entwicklung des Menschen
geprägt ist von persönlichen Entscheidungen, von der Willenskraft, vom Ehrgeiz
und von den Bemühungen des Einzelnen.139 Im Weiteren wird in Bezug auf die
soziologische Biografieforschung als variierende Elemente des Künstlertums die
soziale Umgebung genauer untersucht wie z. B. die Stellung der Familie, die
Hauptbezugspersonen und damit auch das Ausmaß an Unterstützung und
Anleitung bzw. den dadurch in gewissen Umfang gegebenen Zugang zu
bestimmten Lebenschancen.
138
Vgl. ebd. (Anm. 137), S. 207. 139
Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 17.
37
4) ANALYSEN Der Analyseteil der vorliegenden Arbeit ist in drei Abschnitte geteilt.
Im ersten Abschnitt finden sich grundlegende Darstellungen zur Primärliteratur. Zu
beiden Werken, die analysiert werden, gibt es eine kurze Einführung, eine
Inhaltsangabe und Informationen zum Leben des Autors. Dann wird zu jedem Werk
die Stellung dieser autobiografischen Schrift im Gesamtwerk des Autors behandelt;
abschließend wird ein Überblick über die Forschungsliteratur mit einem
Forschungsbericht zur autobiografischen Erzählung „Ein Kind“ bzw. zum Werk „Die
gerettete Zunge“ gegeben.
Der zweite Abschnitt enthält die erzähltheoretische Analyse, diese ist wiederum in
drei Abschnitte geteilt. Zuerst werden die Werke einzeln analysiert; danach werden
erzähltheoretische Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Thomas Bernhards
„Ein Kind“ und Elias Canettis „Die gerettete Zunge“ herausgearbeitet.
Im dritten Abschnitt werden die Werke hermeneutisch-interpretativ analysiert, mit
Blick auf die konstanten und auch auf die variierenden Elemente der Inszenierung
des Künstlerdaseins. Dieser Abschnitt beinhaltet dieselbe Aufteilung, indem vorerst
die Werke getrennt voneinander behandelt und untersucht und abschließend sie
verglichen werden.
4.1) Analysegrundlagen:Primärliteratur
4.1.1) Thomas Bernhards „Ein Kind“: Einführung und Inhalt
Das Werk „Ein Kind“ von Thomas Bernhard ist eine autobiografische Erzählung, die
zusammen mit vier anderen autobiografischen Bänden die gesamte Kindheits- und
Jugendautobiografie von Thomas Bernhard ergibt.
Es handelt sich dabei um die frühesten Kindheitserinnerungen des Autors und es
stellt ein wichtiges Werk im Bezug auf die Inszenierung seines Künstlerdaseins dar.
Nach Mittermayer greifen vor allem bei Bernhard Leben und Werk auf komplizierte
Weise ineinander.140 Da einige Hauptfiguren bei Thomas Bernhard auch in seinen
Romanen, die nicht explizit als autobiografisch gekennzeichnet sind, seinem
eigenen Lebensstil eigentümlich nahe kommen und auch aufgrund der Nähe vieler
140
Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S. 8.
38
seiner Texte zu realen Personen und Ereignissen, ist der Vergleich zwischen
Wirklichkeit und Fiktion äußerst reizvoll aber auch schwierig.141 Dieser Vergleich,
den durch die vorangehende Lektüre der autobiografischen Erzählungen viele
Leser/Leserinnen auch bei anderen Werken des Autors anstellen, macht die
Autobiografie besonders interessant, wobei man lediglich feststellen kann, dass es
sich dabei um die inszenierte Künstlerschaft handelt. Wir erhalten lediglich ein Bild,
das er den Lesern/den Leserinnen vermitteln wollte. Bernhards Bücher sind somit
keineswegs reine Selbstbeschreibungen und auch seine Auftritte in der
Öffentlichkeit waren nicht gänzlich frei von Stilisierung und Ironie:
So erweist sich Bernhard als virtuoser Theatermacher, sein Werk als Vexierspiel
zwischen existenzieller Betroffenheit und Ironie.142
Ein Autorenkollege, Wieland Schmied, der entscheidend war für Thomas Bernhards
Durchbruch, später unter anderem Professor für Kunstgeschichte ist und zu den
wichtigsten Persönlichkeiten des deutschen Kunstbetriebs gezählt werden kann,
formuliert die Beziehung zwischen Bernhards Leben und seinem Werk
folgendermaßen:
Sein Leben ist sein Werk, und sein Werk ist sein Leben. Manchmal sind Masken eingeführt in seiner Prosa, aber die sind ja fast transparent. […] Wenn es Orte sind oder andere Personen, die auftauchen, ist es manchmal so, daß die Erfahrungen von zwei oder drei Orten in einem zusammengefaßt sind. Zwei oder drei Menschen sind in einer Figur zusammengefaßt. Aber er war kein Phantast und er war kein großer Erfinder.143
Diese Aussage entspricht auch der Feststellung, dass das Leben und die Werke
untrennbar miteinander verknüpft sind und insgesamt kann die Verstrickung und
somit das Leben und auch die Werke des Künstlers in der Gesamtheit und im
Einzelnen als Kunstwerk angesehen werden. Der autobiografische Band „Ein Kind“
stellt den Analysegegenstand dar und deshalb wird im Folgenden kurz der Inhalt
zusammengefasst.
Das Werk „Ein Kind“ beginnt mit der Beschreibung eines Abenteuers des
achtjährigen Thomas, der erstmals mit einem Steyr-Waffenrad fährt und gleich
voller Ehrgeiz von der Wohnung am Taubenmarkt in Traunstein bis nach Salzburg
141
Vgl. ebd. (Anm. 26), S. 8. 142
Ebd. (Anm. 26), S. 8 143
Zitiert nach: Krista Fleischmann: Thomas Bernhard- Eine Erinnerung. Interviews zur Person. Wien: Edition 1992, S. 14. und 16.
39
zu seiner Tante Fanny fahren will, wobei er aber stürzt und seine Fahrt nicht
fortsetzen kann. Als er mitten in der Nacht nachhause kommt, traut er sich nicht zu
seiner Mutter und geht stattdessen zu seinem innig geliebten Großvater
mütterlicherseits. Zwischen dieser Erzählung und der anschließenden Rettung aus
dieser misslichen Lage durch den Großvater werden viele Gedanken und
Meinungen des Großvaters und Beschimpfungen der Mutter, wiedergegeben. Durch
die Beschimpfungen zeigt sich die Überforderung der Mutter. Es wird auch eine
Beschreibung der Wohnumgebung abgegeben. Die Großeltern wohnen in dieser
Zeit in einem Haus von Bauersleuten, die einen Enkel in seinem Alter haben. Dieser
Schorschi ist ein guter Freund von Thomas. Anschließend wird vorausblickend das
letzte Treffen des Erzählers mit Schorschi als Erwachsener beschrieben. Darauf
folgt ein Rückblick auf die Kindheit mit Schorschi und ein Schwenk zurück auf die
Waffenradgeschichte. Es wird auch auf das schlechte Verhältnis der Mutter zu
seinem Vater, den er nicht kennt, eingegangen. Von tiefgehenden Verletzungen des
Ichs durch verletzende Worte der Mutter wird ausführlich berichtet. Er wird als
schlechter Schüler dargestellt, der sich in der Schule langweilt, wobei der Großvater
immer von der Überdurchschnittlichkeit des Enkels überzeugt ist. Auf viele
Kindheitserlebnisse folgt ein Ausblick auf die Zukunft des Protagonisten. Es wird
somit oft zwischen den Zeitebenen hin- und hergewechselt. Verwandte werden
einzeln vorgestellt bzw. charakterisiert und die Familienkonstellation wird im Laufe
der Erzählung erläutert. Etwas später in der Erzählung folgt der Rückblick auf seine
Geburt und auf seine ersten Lebenswochen, die er als Pflegekind auf einem
Fischhafen in Rotterdam verbringt, da seine Mutter arbeiten muss. Nach den
Erzählungen von einzelnen Kindheitserinnerungen und Erlebnissen wird jeweils
verdeutlicht, wie diese seine Lebensgeschichte in weiterer Folge prägen. Dem
ersten Hollandjahr folgen zwei Jahre in Wien und von seinem dritten bis zum
siebenten Lebensjahr lebt er in Bayern und in Salzburg. Oftmals handelt die
Erzählung von gemeinsamen Spaziergängen mit dem Großvater und von der
Beschreibung von dessen schriftstellerischen Tätigkeiten. Als kleines Kind stirbt ein
guter Freund des Erzählers vierjährig an einer unerklärlichen Krankheit. In dem
darauffolgenden Zeitabschnitt am „Hippingerhof“ wird er bereits mit fünf Jahren
eingeschult. Im ersten Schuljahr ist er ein Musterschüler, das sich in den folgenden
Jahren durch Desinteresse und ungeeignetem Lehrpersonal ändert. Der
40
anschließende Umzug nach Traunstein (Bayern) fällt ihm schwer. In dieser Zeit
prägen ihn Selbstmordgedanken und er wird zum Bettnässer. Dies hat eine
Einweisung in ein Erholungsheim in Saalfeld, das sich als Erziehungsheim für
Schwererziehbare entpuppt, zur Folge. Die historischen Rahmenbedingungen der
Nazizeit bzw. des angehenden Zweiten Weltkrieges finden auch ihre Behandlung.
Der Großvater ist ständig auf der Suche nach einer Kunstbeschäftigung für Thomas,
wobei zuerst durch eine Staffelei die Malkunst und auch später durch
Geigenunterricht die Musikkunst sein großes Talent entfalten soll. Er brilliert als
Sportler bzw. als Läufer im „Jungvolk“ und lässt sich gern als Held feiern. Dadurch
bessert sich auch seine psychische Konstitution. Aufgrund der angespannten
finanziellen Situation arbeitet er als Schüler bei einem Bäcker und er läutet die
Kirchenglocke für einen Pfarrer. Die Erzählung endet mit der Schulsuche für die
fortlaufende Schullaufbahn, wobei er einen Aufnahmetest für die Handelsakademie
in Passau absolviert. Diesen besteht er mit Auszeichnung, doch dem Großvater
gefällt die Schulanstalt nicht und bestimmt für ihn als Schulstadt Salzburg.
4.1.1.1) Der Autor Thomas Bernhard
Der lebensgeschichtliche Hintergrund des österreichischen Autors, der am 9.
Februar 1931 in Heerlen (Holland) geboren ist, ist für diese Zeit nicht ungewöhnlich.
Bernhards Kindheit als uneheliches Kind wird kurzgefasst als traumatisierend bzw.
als schwierig dargestellt.
Seinen leiblichen Vater lernt Bernhard nicht kennen, er wächst bei seiner Mutter und
seinen Großeltern mütterlicherseits auf. Seine Großeltern sind für ihn wichtige
Bezugspersonen, vor allem sein Großvater mütterlicherseits Johannes
Freumbichler, der auch Schriftsteller ist, wird für seinen Lebensweg als bedeutend
und prägend beschrieben.144 Der junge Bernhard durchläuft zunächst die
staatlichen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen in der Zeit des autoritären
österreichischen Ständestaats und ab der Übersiedlung nach Deutschland zum
Jahreswechsel 1937/38 macht er Erfahrungen mit Heimen und Schulen des NS-
Staats.145 In seinen autobiografischen Schriften scheut er sich auch nicht, die
144
Vgl. Hans Höller: Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 34-35. 145
Vgl. ebd. (Anm. 144), S. 18.
41
Schrecken des Krieges und des Nationalsozialismus durch eigene Erfahrungen
darzustellen. Von 1951 bis 1954 studierte er Musik in Salzburg und Wien und ab
1957 lebte er als freier Schriftsteller. Thomas Bernhard war zeitlebens lungenkrank
und diese Krankheit spiegelt sich in vielen seiner Werke wider.146 Er starb am 12.
Februar 1989 in Gmunden. Er verbrachte den Großteil seines Lebens in seiner
Heimat und so wird bei Bernhard von einem österreichischen Autor und von
österreichischer Literatur gesprochen.147
Seine Kindheits- und Jugendbiografie ist zwar im Faktischen nicht sehr zuverlässig,
doch die literarische Sprache vermittelt indirekt über die Bilder, worauf es ihm
ankommt, nämlich die Vermittlung „[der] tiefgehende[n] Verletzung eines Ich durch
die staatlichen Institutionen.“148 Nach Judex ist ein zentraler Aspekt dieser
autobiografischer Schriften die:
[...] Selbstgewinnung des Ichs durch die Arbeit an der Sprache, die durch das Schreiben ermöglichte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.149
4.1.1.2) Zur Stellung der autobiografischen Erzählung „Ein Kind“ im Gesamtwerk Bernhards
Die autobiografischen Schriften wirken sich auf die Rezeption seiner anderen Werke
aus, da viele Protagonisten den Personen in seinen autobiografischen Texten sehr
ähnlich sind. Nach Judex führt die Erinnerungsarbeit, also die Arbeit an seinen
autobiografischen Schriften, zu einer veränderten Erzählperspektive und zu einem
neuen Stil in Bernhards genuin fiktionalen Texten.150 Somit wirken sich diese Texte
nicht nur allein durch die veränderte Rezeptionsmöglichkeit der Leser/der
Leserinnen auf die anderen genuin fiktiven Texte aus, sondern die Arbeit an den
Werken selbst veränderte seinen Schreibstil, „der hinter dem sprechenden Ich dem
Autor zum Vorschein bringt und den Erzähler zugunsten der Hauptfigur verdrängt
146
Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S. 9-11. 147
Vgl. Guoquing Feng: Kreisel für Erwachsene: zur Kürzestprosa in der Gegenwartsliteratur in Österreich: Thomas Bernhard, Elias Canetti und Erich Fried. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang 1993, S. 22. 148
Höller: Thomas Bernhard (Anm. 144), S. 18. 149
Bernhard Judex: Thomas Bernhard. Epoche, Werk, Wirkung. München: C.H. Beck 2010, S. 96. 150
Vgl. Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 96.
42
bzw. beide miteinander verschmilzt.“151 Bei Thomas Bernhard nimmt, der
Forschungsliteratur zufolge, das Thema der Erforschung der eigenen
Herkunftsbedingungen, somit die Arbeit an der eigenen Geschichte, bereits in den
späten 1960er Jahren eine Schlüsselstellung ein.152 Seit dieser Zeit spielen Themen
wie die Beschäftigung mit der Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit oder
Existenzforschung bzw. die Aufarbeitung des Herkunftskomplexes eine bedeutende
Rolle. Dabei sollte man aber vor allem in Hinblick auf die autobiografischen
Erzählungen, Begriffe wie authentisch oder unmittelbar, durch konstruiert oder
inszeniert ersetzen.153 Vor allem deshalb, da die aufgezeichneten Lebensdaten des
Autors zeigen, dass vieles nicht authentisch nacherzählt wurde, sondern fiktiv
konstruiert bzw. inszeniert wurde. Der Erzähler in Thomas Bernhards Autobiografie
weist im Schlussteil des zweiten autobiografischen Werks „der Keller“ mit
Interpretationsspielraum auf die fiktiven Inszenierungen hin:
Ich darf nicht leugnen, daß ich auch immer zwei Existenzen geführt habe, eine, die der Wahrheit am nächsten kommt und die als Wirklichkeit zu bezeichnen ich tatsächlich ein Recht habe, und eine gespielte, beide zusammen haben mit der Zeit eine mich am Leben haltende Existenz ergeben.154
Diese Passage verdeutlicht, wie Thomas Bernhard mit der Fiktion in seinen
autobiografischen Erzählungen gespielt hat. Diese Haltung könnte man als
Schutzmechanismus interpretieren, damit nicht Elemente der Lebensgeschichte an
die Öffentlichkeit kommen, die ihm unangenehm sind. Dass die fiktive literarische
Wahrheit und die empirische Wahrheit eine ihm am Leben erhaltende Existenz
ergeben haben, könnte ein Grund sein, warum diese autobiografischen Züge bei
den fiktiven Personen seiner Texte immer wieder vorkommen. Es handelt sich also
um eine konstruierte Inszenierung seiner Lebensgeschichte, die natürlich einerseits
Einfluss hat auf die Rezeption seiner Texte und andererseits, wie schon
angesprochen, Auswirkungen auf den Schreibstil und auf die Themenkomplexe in
151
Ebd. (Anm. 149), S. 96. 152
Vgl. Manfred Mittermayer: „Nur die Verstellung rettet mich zeitweise“ - Ausgangspunkte einer Biographie über Thomas Bernhard. In: Christopher Laferl und Anja Tippner (Hg.): Leben als Kunstwerk. Künstlerbiografien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard. Bielefeld: transcript 2011, S. 86. 153
Vgl. Christian Klein: Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: ders. (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart/Weimer: Metzler 2002, S. 1-22. 154
Thomas Bernhard: Der Keller. In: Martin Huber und Manfred Mittermayer (Hg.): Thomas Bernhard. Werkausgabe. Die Autobiografie (Bd.10). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 203-204.
43
seinen anderen Werken zeigen. So könnte man sagen, dass Thomas Bernhard in
der Öffentlichkeit lediglich als Kunstfigur bekannt ist, die er selbst durch seine
Schriften und durch seine Aussagen in der Öffentlichkeit erschaffen hat. Deshalb
kann man bei Bernhards Leben von einem konstruierten Leben, das in der
Gesamtheit zum Kunstwerk erhoben wird, sprechen. Von Jochen Jung, Bernhards
Salzburger Verleger, ist eine Anekdote überliefert, die zeigt, wie er mit diesen
bewusst eingesetzten Identitäten gespielt hat. Nach dieser hat Bernhard ihm bei
einem seiner Besuche im Hinblick auf seine autobiografischen Erzählungen
angekündigt, dass er vielleicht noch erzähle, wie es damals wirklich gewesen sei.155
Durch den bewussten Einsatz erzählerischer Mittel ist die Erinnerungsarbeit somit
von einer „kunstvollen Stilisierungs- und Literarisierungstendenz“156 geprägt, der
vielfache Bezüge zur realen Lebensgeschichte zugrunde liegen, aber wodurch
dennoch vieles verschleiert und auf andere Art und Weise dargestellt wird. Nach
Christian Klug spielen autobiografische Ereignisse auch in seinen anderen genuin
fiktionalen Werken eine Rolle:
Die meisten Texte Bernhards handeln von einem biografischen Ereignis, das für das weitere Leben eines Protagonisten entscheidend gewesen ist.157
Dabei erscheinen vor allem „Fragen nach dem Sinn des gelebten Lebens und nach
der Zufälligkeit oder Zwangsläufigkeit, mit der es abgelaufen ist“158 vordergründig.
Mit der These Christian Kleins könnte man bei der Aufarbeitung von biografischen
Erlebnissen und Ereignissen von einer Bewältigungsarbeit bzw. Erinnerungsarbeit
der eigenen Existenz sprechen. Diese Verflechtung von Werk und der inszenierten
Lebensgeschichte des Autors macht die Rezeption und die Interpretation von
Bernhards Werken für den Leser/die Leserin äußerst schwierig, aber auch
interessant. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass den autobiografischen
Schriften ein bedeutender Stellenwert zugewiesen werden kann, da diese Werke
die Rezeption der anderen Werke maßgeblich beeinflussen.
155
Vgl. Manfred Mittermayer: Der Wahrheitsgehalt der Lüge. Thomas Bernhards autobiographische Inszenierungen. In: Bernhard Fetz und Hannes Schweiger (Hg.): Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit. Wien: Zsolnay 2006, S. 83. 156
Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 105. 157
Christian Klug: Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart: Metzler 1991, S. 112. 158
Ebd. (Anm. 157), S. 112
44
4.1.1.3) Forschungsbericht zu Bernhards autobiografischer Erzählung „Ein Kind“
Das autobiografische Werk „Ein Kind“, das im Jahr 1982 erscheinen ist, ist
Gegenstand von unzähliger Forschungsliteratur zu Thomas Bernhard. Da der Autor
die Lebensgeschichte „literarisch formt und auf eine bestimmte Entwicklung hin
stilisiert“159, spricht die Forschung nicht von der Kindheits- und Jugendbiografie
Bernhards, sondern von autobiografischen Erzählungen zu diesem
Lebensabschnitt. Das dichterische Spiel mit der Wahrheit in seinen
autobiografischen Werken ist für Bernhard signifikant.160 Dieses Erzählwerk ist unter
„dem Aspekt der Poetizität“161 zu verstehen. Bei Bernhard bestimmt nicht so sehr
die mimetische Beschreibung oder Nacherzählung des Erlebten das Werk, sondern
vielmehr seine unverwechselbare Sprachverwendung, dessen äußere Struktur an
musikalische Stilmittel erinnert.162 Bernhard hat laut den Beschreibungen in „Ein
Kind“ schon früh die Macht des Wortes durch die Beschimpfungen bzw. verbalen
Verletzungen seiner Mutter erfahren.163 Einige Autoren haben darauf hingewiesen,
dass im Zentrum von Bernhards Schaffen die "virtuose […] Anstrengung mit der
Sprache“164 steht.
Das Werk beginnt mit der Erzählung des missglückten Fahrradausfluges. Bei dieser
eingangs erzählten Anekdote wird oftmals von einer Urszene seiner dichterischen
Existenz165 gesprochen. Denn sprachlich dichtet er das Scheitern in eine Heldentat
um und zeigt gleichzeitig, indem er sich sprachlich wehrt, die tiefgreifende Angst vor
Verletzungen durch seine Mutter und die Bedeutung des Großvaters als Beschützer
und Unterstützer. Dabei fällt auf, dass in allen fünf Bänden der autobiografischen
Werke, Vorgänge oftmals ähnlich ablaufen, wie die so eben kurz beschriebene
Eingangszene aus „Ein Kind“:
159
Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S. 94 160
Vgl. Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 13. 161
Ebd. (Anm. 149), S. 105. 162
Vgl. ebd. (Anm. 149), S. 9. 163
Vgl. ebd. (Anm. 149), S. 107. 164
Burghard Damerau: Selbstbehauptungen und Grenzen. Zu Thomas Bernhard. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 427. 165
Vgl. ebd. (Anm. 164), S. 96.
45
Der Ausbruchsversuch zu Beginn von Ein Kind mit einem Fahrrad ist die symptomatische Vorwegnahme aller späteren Versuche, in die »entgegengesetzte Richtung« zu gehen.166
Bei diesen nach ähnlichem Muster ablaufenden Vorgängen handelt es sich immer
um problematische Entscheidungen.
In der Forschungsliteratur findet man den Hinweis, dass in Bernhards
autobiografischen Schriften der Fokus des Autors auf Krisen und Grenzsituationen
liege.167 Grenzsituationen und Krisen bleiben in Erinnerung und werden
anschließend zur autobiografischen Erzählung der Kindheit und Jugend verdichtet.
Bernhard erzählt im Band „Ein Kind“ die Geschichte von seiner Geburt bis zu
seinem 13. Lebensjahr. Er liefere aber keine Entwicklungsgeschichte im Sinn eines
Bildungsromans des 19. Jahrhunderts, sondern er schmücke tief prägende
Ereignisse aus und verpacke sie zu einer zusammenhängenden Erzählung.168 Es
wird auch auf die Ähnlichkeit bzw. auf die Nähe dieses Textes zu Initationsriten169
oder auch zu bekannten Schemata von Passionsgeschichten170 hingewiesen.
Zu seinen autobiografischen Erzählungen sind Entwürfe erhalten, die sehr gut seine
Arbeitsweise aufzeigen. So legte er großen Wert auf die Anfangsszene, um in einen
Schreibfluss zu kommen. Seine Aufzeichnungen bzw. Notizen zeigen, dass er
vorerst zentrale Szenen bzw. Erinnerungen vermerkt hat, die dann ausgebaut und
ausgeschmückt wurden. Zum Teil entfaltete er daraus Szenarios, in denen er sich
selbst sprachlich ausführlich gegen die als feindlich dargestellte Umwelt wehrt.171
Bernhards Lebenserzählung wird auch als „Biografie eines kulturellen Produktes“172
betrachtet. Diese Ansicht ergibt sich aus der Berücksichtigung der gesellschaftlich
historischen Rahmenbedingungen und des literarischen Kontextes. Es wird
angenommen, dass sich Bernhard nicht so sehr um Authentizität seiner
autobiografischen Schriften bemüht hat. Durch die bewussten Veränderungen und
166
Schmidt-Dengler: Auf dem Boden der Sicherheit und der Gleichgültigkeit (Anm. 6), S. 231. 167
Vgl. ebd. (Anm. 6) 168
Vgl. Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 107. 169
Vgl. Reinhard Tschapke: Hölle und zurück. Das Initationsthema in den Jugenderinnerungen Thomas Bernhards. Hildesheim, Zürich, New York: G. Olms 1984, S. 94. 170
Vgl. Gerhard vom Hofe: Ecce Lazarus. Autor-Existenz und »Privat«- Metaphysik in Thomas Bernhards autobiographischen Schriften. In: duitse kroniek (Den Haag) 32. 1982, Heft 4, S. 18-36. 171
Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S. 95. 172
Gita Honegger: Thomas Bernhard. »Was ist das für ein Narr?« München: Propyläen 2003, S. 17.
46
die Fiktionalisierung der Erlebnisse werden die Erzählungen vielmehr „zu einer
komplexen Auseinandersetzung des Ichs mit seinen historischen und sozialen
Lebensbedingungen“173. Mit dem Blick auf die Vergangenheit zeigt Bernhard ein
individuelles Schicksal auf und verarbeitet damit zugleich ein Stück
Zeitgeschichte.174 Die Bedingungen des Krieges und des NS-Terrors zeigen ihre
Auswirkungen bis in die Familienstrukturen und dies offenbart sich in der
deutschsprachigen Literatur bzw. in den deutschsprachigen Autobiografien der
1970er und 1980er Jahre. Die Verarbeitung der zeitgeschichtlichen Bedingungen
lässt sich in den autobiografischen Werken bei Bernhard und auch bei Canetti
ablesen. Auch die Vaterlosigkeit, die sich bei Bernhard und Canetti zeigt, ist ein
typisches Phänomen dieser Kriegsgenerationen.175
Das Werk „Ein Kind“ ist eigentlich der letzte Band der Pentalogie und führt somit
nachträglich an seine Ursprünge heran. Bernhard hat in seinen autobiografischen
Erzählungen den Großvater als das große „Ideal-Ich seiner Kindheit“176 dargestellt.
In „Ein Kind“ zeigt sich, dass der Großvater ihn früh, wie in einem klassischen
Bildungsroman, in den verschiedensten Künstlerspaten sieht und ihn auf eine
Künstlerlaufbahn vorbereitet.177 Es wird vermutet, dass der Großvater Johannes
Freumbichler, der selbst Schriftsteller war, alles auf den Enkel projiziert hat, dass
ihm selbst versagt geblieben war.178
Bernhard Judex nimmt an, dass Bernhard bewusst mit der Wirklichkeit gespielt hat
und im Weiteren muss die „Verfälschung der Wahrheit durch den Akt der
erinnernden Erzählung“179 anerkannt werden, damit die vorherrschende Ansicht der
Forschung Platz findet, dass es sich nicht einfach um Bernhards Rekonstruktion
seiner Vergangenheit handelt, sondern vielmehr um seine Interpretation.180
173
Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 105. 174
Vgl. ebd. (Anm. 149), S. 27. 175
Vgl. z. B. Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München: Piper 1963. Oder: Alois Brandstetter: Prosaische Annäherung an die Väter. Zu einem Motivboom in der österreichischen Gegenwartsliteratur. In: Friedrich Aspetsberger und Hubert Lengauer (Hg.): Zeit ohne Manifeste? Zur Literatur der 70er Jahre in Österreich. Wien: 1987, S. 191-198. 176
Höller: Thomas Bernhard (Anm. 144), S. 40. 177
Vgl. ebd. (Anm. 144), S. 40.
178 Vgl. Höller: Thomas Bernhard (Anm. 144), S. 40.
179 Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 106.
180 Vgl. z. B. Pascal: Die Autobiographie (Anm. 33), S. 32.
47
Interpretationen zu Thomas Bernhards Werken erweisen sich als besonders
schwierig, denn durch „formal-ästhetische Verfahren wie Wiederholungen,
Übertreibungen und Widersprüche“181 verweigern sie sich einer eindeutigen
Interpretation. So wird in der Thomas Bernhard-Forschungsliteratur vor biografisch
verkürzten Deutungen gewarnt und stattdessen wendet man sich vermehrt dem
sprachlich-literarischen Inszenierungscharakter zu.182 Bernhard unterscheidet sich
durch die Methode „die Vergangenheit in der Gegenwart mitzudenken“ 183 von einer
klassischen Autobiografie. Er verbindet somit zwei Zeitebenen:
Vor ein paar Jahren habe ich ihn zum letzenmal gesehen, wir waren beide gerade fünfundvierzig, er war verrückt geworden und hatte das Haus seiner Großeltern, das
sie ihm vererbt hatte, zwei Jahre nicht mehr verlassen gehabt. (EK, S.32)
Zusätzlich unterläuft er auch ständig die Chronologie.184 Durch das Schreiben setzt
sich der Autor mit der Identitätsproblematik der Moderne auseinander und es führt
auch dazu, dass er über sich selbst im Rollenspiel reflektiert.185 Alfred Pfabigan
konstatiert auch, dass die autobiografischen Erzählungen seine Schreibhaltung
verändert haben.186 Seine autobiografischen Werke werden auch als individueller
„Bewältigungsversuch des Daseins durch das Schreiben“187 betrachtet. Andere
Forschungsrichtungen zur Autobiografie Thomas Bernhards sehen sie
differenzierter als „Prozess einer Ich-Werdung durch die sprachliche
Selbstermächtigung und Distanzierung von der Gesellschaft“188 oder als
„Widerstandskunst“189 bzw. als „Selbstbehauptung“190. Hermann Burger hat
Bernhards Methode seine autobiografischen Werke zu verfassen, folgendermaßen
prägnant formuliert:
181
Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 133. 182
Vgl. ebd.(Anm. 149), S. 109.
183 Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand
autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 103. 184
Vgl. Schmidt-Dengler: Auf dem Boden der Sicherheit und der Gleichgültigkeit (Anm. 6), S. 225.
185 Vgl. Willi Huntemann: Artistik und Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard. Würzburg:
Königshausen & Neumann 1990, S.14. 186
Vgl. Alfred Pfabigan: Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment. Wien: Zsolnay 1999. 187
Judex: Thomas Bernhard (Anm. 149), S. 109. 188
Ebd. (Anm. 149), S. 109. 189
Hyun-Chon Cho: Wege zu einer Widerstandskunst im autobiographischen Werk von Thomas Bernhard. Frankfurt am Main: Lang 1995. 190
Damerau: Selbstbehauptungen und Grenzen (Anm. 164).
48
Der Schriftsteller als Erfinder, Konstrukteur, nicht als »Stimmenimitator« von Realität. Um erfinderisch produktiv sein zu können, muß man das Seiende und das Gewesene zunächst einmal hartnäckig leugnen: Kindheit? Nie gehabt! Erst dann wird die Fiktion möglich, die präziser ist als die Chronologie zufälliger Ereignisse. Man erinnert sich sozusagen an das, was man geworden ist.191
4.1.2) Elias Canettis „Die gerettete Zunge“: Einführung und Inhalt
Elias Canettis Werk „Die gerettete Zunge“ stellt den Auftakt seiner dreiteiligen
Kinder- und Jugendbiografie dar, die mit „Die Fackel im Ohr“ und „Das Augenspiel“
fortgesetzt wird. Die frühen Jahre Elias Canettis, die durch seine dreiteilige
Autobiografie dargestellt werden, werden als fundamental für sein späteres Werk
angesehen.192 Es kann auch festgehalten werden, dass in den Erzählungen seiner
Kindheit und Jugend schon viele Ansichten wie z. B. zur Kunst enthalten sind, die
auch den späteren Canetti prägen.193 Als wichtiges Leitmotiv in Canettis Leben und
somit auch in seiner dreiteiligen Autobiografie kann sein Freiheitsdrang angesehen
werden. Dieser äußert sich unter anderem in einer Systemlosigkeit. Damit versteht
man die grundsätzliche Haltung Canettis, die sich in der Ablehnung einer
vollkommenen Befolgung bzw. Zuerkennung eines Glaubenssystems, einer
Institution oder einer geistigen Strömung äußert. Göbel formuliert diesen
Sachverhalt prägnant auf folgende Art und Weise aus:
Bei Canetti regiert stets der Zweifel mit und im Geistigen ebenso eine Mobilität, die sich nicht gerne bindet.194
Bei Elias Canetti zeigt sich eine ausgeprägte Individualität, die sich unter anderem
aus dem Zweifel an verschiedenen Institutionen ergibt. Seiner abwechslungsreichen
Kindheit und Jugend verdankt er es, dass er sich zu mehreren „Heimaten“
zugehörig fühlte, wobei bei Canetti auch der frühe Kontakt zu verschiedenen
Kulturen von Bedeutung erscheint.195 Eine weitere prägende Komponente in
Canettis Leben stellt der frühe Verlust von seinem Vater dar. Als Anstoß für die
191
Hermann Burger: Thomas Bernhards Kindheitsmuster. Tages-Anzeiger vom 12.6.1982. Zitiert nach: Jens Diettmar (Hg.): Thomas Bernhard. Werkgeschichte. Aktualisierte Neuausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 241. 192
Vgl. Helmuth Göbel: Elias Canetti. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005, S. 9. 193
Vgl. ebd.(Anm. 192), S. 9 194
Ebd. (Anm. 192), S. 9. 195
Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 9.
49
autobiografischen Schriften werden die eigene Herkunftsfamilie und die zur
Erzählzeit eben neu gegründete Familie angesehen.196 Das Buch ist seinem Bruder
Georges gewidmet, wobei eine Anfangsmotivation auch in dessen Krankheit
gesehen werden kann, der in weiterer Folge im Jahr 1971, ein Jahr vor dem
Erscheinen seines ersten autobiografischen Werkes in Paris verstorben ist. Im
selben Jahr heiratete Elias Canetti seine zweite Frau Hera Buschor in London und
ein Jahr danach kam seine Tochter Johanna zur Welt. Diese neu gegründete
Familie und der daraus resultierende Wunsch der Tochter seine erlebte Welt
nachzuerzählen, wie er sie empfunden hat, wird oftmals als weiterer Anstoß für das
Schreiben seiner Autobiografie angesehen.197
Der Titel „Die gerettete Zunge“ stammt von seinem ersten Kindheitserlebnis, an das
er sich in seiner Autobiografie erinnert und dabei geht es um die Drohung ihm
würde die Zunge abgeschnitten werden, wenn er eine zufällig beobachtete
Liebesaffäre eines Kindermädchens verraten würde. In übertragener Bedeutung
könnte man den Titel auch als „gerettete Sprache“ verstehen und dieses Erlebnis
kann als Schlüsselerlebnis für seine spätere schriftstellerische Tätigkeit angesehen
werden. Dadurch ist bereits der Grundstein gelegt für die weitere intensive
Beschäftigung mit der Sprache in seinem Leben.198
Dieses autobiografische Werk ist in fünf Teile gegliedert. Der erste Teil umfasst die
Zeitspanne von 1905 bis 1911 und somit die ersten sechs Jahre seiner Kindheit in
Rustschuk. Dieser Zeitraum stellt sich als der längste heraus, in der er in seiner
gesamten Kindheit und Jugend am selben Ort bleibt.199 Dieser Teil beginnt mit
seiner frühesten Erinnerungsepisode „der geretteten Zunge“. In diesem werden die
Familienverhältnisse und das kulturelle Umfeld klar beschrieben. Vor allem seine
beiden Großväter werden hier genau dargestellt. Eine Schlüsselepisode stellt auch
das aggressive Losgehen des kleinen Elias auf die Kusine Laurica dar. Er verfolgt
sie mit einer Axt, da diese durch ein paar Jahre Vorsprung bereits Schulhefte mit
enthaltenen Buchstaben hat, die sie Elias vorenthält. Denn zu dieser Zeit empfindet
er schon eine große Faszination für Buchstaben. Die Kusine wirft ihn später als
196
Vgl. ebd. (Anm. 192), S. 128. 197
Vgl. ebd. (Anm. 192), S. 124. 198
Vgl. ebd. (Anm. 192), S. 16. 199
Vgl. ebd. (Anm. 192), S. 19.
50
Rache in einen brühend heißen Heißwasserkessel. Tante Sophie rettet ihn daraus,
aber er muss dennoch danach einige Zeit sterbenskrank im Bett liegen. Der Vater,
der zu dieser Zeit nicht zuhause war, wird bei seiner Rückkehr als Erlöser von den
schweren Verletzungen beschrieben. In die Zeit von Rustschuk fällt auch die Geburt
der Brüder Nissim und George. 1911 entschließen sich die Eltern nach London,
Manchester zu ziehen, womit sich der Großvater väterlicherseits nicht abfinden
kann und somit verflucht der Großvater seinen Vater. Das Verfluchen wird als eine
der schlimmsten Taten beschrieben, die ein Vater an seinem jüdischen Sohn
begehen kann. Damit beginnt der zweite Teil, die Zeit in Manchester von 1911 bis
1913. Das prägendste Ereignis in dieser Zeit ist der unerwartete Tod des Vaters.
Elias wird auch eingeschult und da die Mutter nach Wien ziehen will, muss Elias mit
einer gewissen Strenge sehr schnell Deutsch erlernen. Somit folgt im dritten Teil die
Zeit in Wien von 1913 bis 1916. In dieser Zeit kommt er in der Schule zum ersten
Mal mit antisemitischen Beschimpfungen und Beleidigungen in Berührung. Die
Begeisterung für Bücher, die sein Vater in ihm geweckt hat, bleibt bestehen und er
liest sogar manche Bücher, die ihm sehr gut gefallen, mehr als vierzig Mal. Die
historischen Rahmenbedingungen, wie der Ausbruch des Ersten Weltkrieges
werden ebenfalls aus der Sicht des zehnjährigen Elias beschrieben. In die Riten und
Praktiken des Judentums wird er einerseits durch den Religionsunterricht und
andererseits durch den Großvater, der dazu oftmals nach Wien kommt, um den
Enkel einzuschulen, eingeführt. Dabei stellt der Großvater den Bewahrer der
Traditionen dar und die Mutter vertritt eher eine modernere Position. Dieser
Wienaufenthalt der Familie Canetti erstreckt sich nur über drei Jahre, denn die
Auswirkungen des Ersten Weltkrieges vertreiben sie in die neutrale Schweiz. Damit
beginnt der vierte Teil dieses autobiografischen Werkes, die Zeit in Zürich in der
Scheuchzerstraße von 1916 bis 1919. Zunächst besucht er noch die Grundschule in
Oberstrass und danach wechselt er 1917 in die Kantonsschule. Vor allem die
Gespräche mit der Mutter über Lektüren setzen sich in dieser Zeit fort und werden
von ihm als äußerst bedeutend und prägend für sein weiteres Leben beschrieben.
Die Mutter erkrankt in dieser Zeit und sie fühlt sich so ausgelaugt, sodass sie nicht
einmal mehr für ihre Lieblingslektüren, wie zum Beispiel Strindberg zu begeistern
ist. Sie geht, um sich auszukurieren nach Arosa und anschließend nach Wien. Elias
bleibt in dieser Zeit in Zürich, das den fünften und letzen Teil dieser
51
autobiografischen Schrift ausmacht. Es ist die Zeit von 1919 bis 1921, in der er auf
sich allein gestellt ist und in ein Dachzimmer in die Villa Yalta, ein ehemaliges
Mädchenpensionat im südlichen Ortsteil Tiefenbrunnen zieht. Er fühlt sich hier sehr
wohl und wird von den Betreuerinnen verwöhnt. Diese Züricherjahre umfassen
Canettis eigentliche Schulzeit. Der Erzähler geht auch intensiv darauf ein, welche
Autoren/Autorinnen und welche Künstler/Künstlerinnen oder geistige Strömungen
dem Protagonisten in bestimmten Phasen seiner Schulzeit beschäftigt haben. Elias
beginnt zu dieser Zeit erstmals zu dichten und schriftstellerisch tätig zu sein. Das
Werk endet damit, dass die Mütter bösartig über sein angenehmes Leben in der
Villa Yalta herzieht und ihm ihren Entschluss ankündigt, dass er und seine Brüder
ein härteres Umfeld nach dem Krieg kennenlernen sollen und sie somit nach
Deutschland umziehen werden.
4.1.2.1) Der Autor Elias Canetti
Elias Canetti wurde am 25. Juli 1905 als Erstgeborener in Rustschuk am
bulgarischen Unterlauf der Donau geboren. Im Jahr 1911 übersiedelte er mit seinen
Eltern nach England. Zwei Jahre später starb sein Vater und danach zog er 1913
mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern nach Wien. In der Zeit von 1916 bis 1924
besuchte er Schulen in Zürich und in Frankfurt am Main. Daran anschließend
studierte er in Wien Naturwissenschaften und er promovierte zum Doktor der
Philosophie. Dann brach die Zeit seiner hauptsächlichen Tätigkeit und Arbeit als
Schriftsteller an. Vierzehn Jahre später im Jahr 1938 ließ er Österreich hinter sich
und kehrte über Paris nach London zurück. In seinen letzten Lebensjahren lebte er
in London und Zürich, wo er am 14. August 1994 starb.
Elias Canetti erhielt viele Auszeichnungen für seine Werke. Zu erwähnen ist der
Georg Büchner Preis im Jahr 1972, der Nelly-Sachs Preis im Jahr 1975, der
Gottfried-Keller Preis im Jahr 1977 und der Nobelpreis für Literatur im Jahr 1981.200
Man kann Elias Canettis Werke zur österreichischen Literatur zählen. Im Gegensatz
zu Bernhard zeigt sich bei Canetti aus literarischer Sicht eine tiefe Zuneigung und
200
Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 142-145.
52
Liebe zu Österreich.201 Natürlich muss angemerkt werden, dass Canetti weder in
Österreich geboren ist, noch Eltern hatte, die österreichischer Abstammung waren
und er verbrachte auch nicht den Großteil seines Lebens in Österreich. Doch seine
Werke sind in Deutsch geschrieben, obwohl dies nicht seine Muttersprache war. Die
enge Verbundenheit zur deutschen Sprache sei aus der Liebe der Mutter zum
Wiener Burgtheater entsprungen.202 In weiterer Folge lebte er siebzehn Jahre in
Wien, wobei er diesen Aufenthalt für sein Schriftstellertum als bedeutend und
entscheidend ansah und in einem Interview sagte er sogar „[…] von Karl Kraus
habe ich lesen gelernt, wie er und Nestroy bin ich ein Wiener Schriftsteller“203.
Obwohl Canetti kein österreichischer Staatsbürger war, führt seine tiefe
Verbundenheit zu Österreich dazu, dass sein Werk als Bestandteil der
österreichischen Literatur angesehen wird.204
Der Vergleich mit Bernhards Werk „Ein Kind“ ist vor allem durch das feindliche
Verhältnis zwischen Bernhard und Canetti interessant. Es wird oftmals berichtet,
dass Bernhard und Canetti sich als Feinde betrachtet haben. Die intellektuelle
Gegnerschaft wird vor allem bekannt, als sich Thomas Bernhard in einem Leserbrief
in der „Zeit“ zu Canettis Rede „Der Beruf des Dichters“ bissig äußerte, da er sich
durch die Haltung des Dichters, die von Canetti beschrieben wurde, provoziert
fühlte.205
4.1.2.2) Zur Stellung der autobiografischen Erzählung „Die gerettete Zunge“ im Gesamtwerk Canettis
„Die gerettete Zunge“ und seine anderen autobiografischen Werke sind von großer
Bedeutung für das Schriftsteller- und Künstlerverständnis von Canetti. Als im Herbst
1981 bekannt wird, dass er den Nobelpreis für Literatur erhalten wird, zieht er sich
aus der Öffentlichkeit zurück und an seiner Wohnungstüre finden Journalisten die
folgenden Worte: „Alles, was Sie von mir wissen wollen, steht in meinen
201
Vgl. Feng: Kreisel für Erwachsene: zur Kürzestprosa in der Gegenwartsliteratur in Österreich (Anm. 147), S. 22. 202
Vgl. ebd. (Anm. 147), S. 22. 203
Gotthard Böhm: Der optimistische Elias Canetti. „Presse“-Gespräch über die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur. In: Die Presse. Unabhängige Zeitung für Österreich. 24./25./26. Dezember 1971, S. 7. 204
Vgl. Feng: Kreisel für Erwachsene: zur Kürzestprosa in der Gegenwartsliteratur in Österreich (Anm. 147), S. 22. 205
Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 122.
53
Büchern“206. Diese Worte zeigen, dass ihn die autobiografischen Werke genau so
beschreiben, wie er von anderen Leuten gesehen werden möchte und sie stellen
somit einen wichtigen Beitrag zur bewussten Inszenierung des Künstlerdaseins dar.
Die autobiografischen Erzählungen können als Spätwerk des Autors betrachtet
werden, da er sie erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt fertiggestellt hat. Laut
eigenen Beschreibungen nehmen die Jahre der Kindheit und Jugend für seine
späteren Ansichten und seine Weltorientierung einen hohen Stellenwert ein.
Deshalb sei seine Autobiografie auch für seine vorherigen Werke bedeutend, da
man durch sie nachvollziehen kann, wie er manche Ansichten erworben hat und wie
er nach seiner Interpretation zu dem geworden ist, was er verkörpert. Deshalb
können nachträglich Ansichten in seinen früheren Werken gefunden werden, die
sich durch die Lektüre seiner Autobiografie scheinbar erklären lassen. Jedoch muss
angemerkt werden, dass es sich dabei nur um die gewünschte Inszenierung des
Autors handelt.
Die Autobiografie gilt als Zeugnis des alt gewordenen Canetti über sein Leben, der
seine Erinnerungen schriftlich zu seiner Lebensgeschichte geformt, vorlegt.
4.1.2.3) Forschungsbericht zu Canettis autobiografischer Erzählung „Die
gerettete Zunge“
Die literaturwissenschaftliche Rezeption der autobiografischen Werke beschränkt
sich oftmals auf die Absicherung der Deutungen von anderen Texten, wie Canettis
essayistischen, literarischen, kulturphilosophischen oder aphoristischen Schriften.
Die autobiografischen Erzählungen werden eher selten Gegenstand einer
eigenständigen Analyse und deshalb herrscht ein „Mangel an theoretischer
Reflexion“207. Friederike Eigler hat in diesem Zusammenhang konstatiert, dass es
sich bei der Mehrheit der Arbeiten zu Canettis Autobiografie um eine Auflistung
seiner Selbstdarstellung handelt, wobei die Gestaltungsprozesse selten analysiert
werden.208 Canettis Autobiografie kann keine realitätsgetreue Abbildung seiner
206
Claudio Magris: Der Schriftsteller, der sich versteckt. In: Stefan S. Kaszynski (Hg.): Elias Canettis Anthropologie und Poetik. München: C. Hanser 1984, S. 21-23. 207
Friederike Eigler: Das autobiographische Werk von Elias Canetti. Identität - Verwandlung - Machtausübung Tübingen: Stauffenburg 1988, S. 22. 208
Vgl. ebd. (Anm. 207), S. 23.
54
Vergangenheit sein, da sich bei einer Berichterstattung über weit zurückliegende
Zeitabschnitte aufgrund der Zeitdifferenz ein Filter vorschiebt. Durch diesen treten
nur Erlebnisse in Erinnerung, über die man berichten möchte und die für eine
adäquate Selbstdarstellung benötigt werden. Martin Bollacher stellt diesen
Sachverhalt in seinem Beitrag über Canettis Autobiografie folgendermaßen klar:
Die Organik der Kunstform Autobiographie beruht auf der Vermittlung von Erzähler-Gegenwart und erzählter Vergangenheit, und die in der Autobiographie dargestellte Wahrheit ist die Wahrheit des sich erinnernden Menschen, der sich des Vergangenem zu seinem Zweck bedient.209
Alfred Doppler stellt fest, dass sich aufgrund der Fülle an Erinnerungen und Bildern
aus Canettis autobiografischen Erzählungen ein Selbstbildnis ergibt, „das sich nicht
festlegen“ lasse.210 Claudio Magris hat zudem konstatiert, dass es sich beim
konventionellen Erzählhabitus, der eine auffällige Geschlossenheit suggeriert, um
eine Fassade handelt, die eine problematische Identitätsfindung transparent mache:
Die Autobiographie erscheint als die Verdrängung der Substanz des Lebens, von der sie berichtet, vielleicht weil die Substanz außergewöhnlich und unsagbar `anders` ist. Mittelpunkt des Buchs ist eine Leere, jener Strudel, jene Implosion, die das Innere aufzusaugen und das geordnete Material der Erzählung zu zerstören scheint. Am Rande dieses Strudels des Nichtgesagten häuft der Schriftsteller eifrig und geduldig, zuweilen mit genialer Evidenz, Erinnerungen und Anekdoten, Betrachtungen und sonderbare Episoden, Orte und Figuren.211
Nach dieser These stellt sich die Frage, was der Autor unausgesprochen lässt und
wie „unsagbar anders“ seine Existenz tatsächlich gewesen sei. Aus diesen
Aufzeichnungen über Canettis Schreib- und Erinnerungsprozess geht
zusammengefasst die Ansicht hervor, dass „der Begriff der Ganzheit an die
Vorstellung des Fragmentarischen und Dissonanten gekoppelt wird“212.
Zu Beginn der „Geretteten Zunge“ gibt es in der Beschreibung der frühen Jahre in
Rustschuk einen Satz, den kaum ein Interpret nicht zitiert hat:
209
Martin Bollacher: „Ich verneige mich vor der Erinnerung“. Elias Canettis autobiographische Schriften. In: Beda Allemann, John Bayley und Martin Bollacher (Hg.): Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti. Hanser: München 1985, S. 246. 210
Alfred Doppler: Der Tod der Mutter. In: Arbitrium 4, De Gruyter 1986, S. 106. 211
Magris: Der Schriftsteller, der sich versteckt (Anm. 206), S. 33. 212
Axel Gunther Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis: Subjekt- Sprache- Identität. Würzburg: Königshausen und Neumann 1994, S. 272.
55
Alles was ich später erlebt habe, war in Rustschuk schon einmal geschehen. (GZ, S. 11)
Dieser Satz wird mehrheitlich als Hinweis gedeutet, dass seinem autobiografischen
Entwurf ein entelechisches Gestaltungsprinzip zugrunde liege.213 Nach diesem
Prinzip müsste der Autor für die Autobiografie sowohl jedes Erlebnis der frühen
Kindheit als auch die kindlichen Anlagen in Hinblick auf die Gesamtperspektive des
Lebens rekonstruieren. Diese Methode kann auch als Strategie gesehen werden mit
den Erinnerungen sprachlich zu spielen. Rustschuk wird zwar als „Summe des
Lebens“ angesehen, wobei jedoch die einzelnen Erinnerungsbilder in einem Akt der
Verschiebung und der Stellvertretung eingebunden werden. Dadurch kann auch die
angesprochene Totalität von Rustschuk in Zweifel gezogen werden und Canettis
Identität entzieht sich einer einheitlichen Konturierung. Rustschuk kennzeichnet
somit in seinen autobiografischen Werken ein Erzählspiel Canettis.214 Zur
Entschlüsselung des Erzählspiels werden in der Forschungsliteratur zwei Thesen
angeführt. Einerseits findet sich die These, dass die Autobiografie durch
intertextuelle Relationen verstanden werden kann, da frühere theoretische und
literarische Entwürfe verdichtet worden sind. Dafür spricht auch das folgende
Canetti Zitat: „In meiner Lebensgeschichte geht es gar nicht um mich. Aber wer wird
das glauben?“215. Andererseits kann man die autobiografischen Werke intratextuell
entschlüsseln:
[…] Ich-Begriff und Text-Begriff [werden] im Spannungsfeld von Ganzheits- und Fragmentierungsdenken, endlosen Fortschreibungen und einheitskonstituierenden Akten verknüpft.216
Es kann festgestellt werden, dass die Farbe Rot den ganzen ersten Teil der
„Geretteten Zunge“ prägt.217 Denn nicht nur die Eingangsepisode, in der er vor dem
Liebhaber des Kindermädchens um seine Zunge fürchtet, ist in Rot getaucht,
sondern auch die Kleidung der Zigeuner, die Zunge der Wolfsmaske des Vaters,
das Blut, das bei der Beschneidung des Bruders Nissim vergossen wird, der Komet
am Himmel, das Feuer in der Nachbarschaft, der Eifersuchtsmord eines Türken und
213
Vgl. ebd. (Anm. 212), S. 273. 214
Vgl. Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (Anm. 212), S. 274. 215
Elias Canetti: Das Geheimherz der Uhr. Aufzeichnungen 1973-1985. Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 104. 216
Steussloff: Autorschaft und Werk Elias Canettis (Anm. 212), S.275. 217
Vgl. Sven Hanuschek: Elias Canetti. Wien: Hanser 2005, S. 32.
56
auch die Szene, in der er seine Kusine Laurica mit der Axt erschlagen möchte, da
sie ihn bis aufs Blut ärgert und er sie in ihrem Blut sehen möchte.
Der Text erhält durch die aufsteigende Erinnerung seine Form und es handelt sich
nicht um eine traditionelle Form der Autobiografie, durch die die Laufbahn eines
Menschen referiert oder nacherzählt wird. Im literarischen Prozess spielen das
schreibende Ich und das beschreibende Ich eine gleichberechtigte Rolle.218 Bereits
das erste Kapitel zeige deutlich, dass die autobiografische Erzählung auf das
Prinzip der Erinnerung festgelegt sei. Die Erinnerungen formieren sich im Prozess
des Schreibens und sie werden von zentralen Themen geleitet. Schon im ersten
Band „Die gerettete Zunge“ zeigt sich der Mutter-Sohn-Konflikt, der sich durch alle
Bände bis zum Tod der Mutter zieht.219
Ein wichtiges Gestaltungs- und Strukturprinzip erfüllt die Metapher der sich
wiederholenden Geburt.220 Ein Beispiel für eine „wiederholende Geburt“ ist die
Textstelle, in der der Protagonist schwer verletzt mit Brandwunden im Bett liegt und
große Sehnsucht nach seinem Vater zeigt, der zu dieser Zeit in England ist:
Die Mutter, der Arzt, alle anderen, die sich um mich bemühten, waren mir gleichgültig, […] ich hatte einen einzigen Gedanken, es war mehr als ein Gedanke, es war die Wunde, in der alles einging: der Vater. (GZ, S. 43)
Dann hörte ich seine Stimme, er trat von hinten an mich heran, ich lag auf dem Bauch, er rief leiste meinen Namen, er ging ums Bett herum, ich sah ihn, er legte mir leicht die Hand aufs Haar, er war es, und ich hatte keine Schmerzen. (GZ, S. 43)
Der Arzt war der Überzeugung, daß ich ohne sein Erscheinen und seine weitere Gegenwart gestorben wäre. […] Es war der Arzt, der uns alle drei zur Welt gebracht hatte, und er pflegte später zu sagen, daß von allen Geburten, die er erlebt habe, diese Wiedergeburt die schwerste gewesen sei. (GZ, S. 44)
Es gibt neben dieser Textstelle noch einige andere, die nach der Metapher der sich
wiederholenden Geburt gestaltet bzw. strukturiert sind wie z. B. die Wiedergeburt
durch das Lesen von Büchern, durch das Erlernen der deutschen Sprache und
durch die Leseabende mit seiner Mutter. Die „sich wiederholenden Geburten“ sind
meist auch mit Ängsten verbunden und begleiten den Lebens- und
218
Vgl. Doppler: Gestalten und Figuren als Elemente der Zeit- und Lebensgeschichte (Anm. 7), S. 115. 219
Vgl. ebd. (Anm. 7), S. 115. 220
Vgl. ebd. (Anm. 7), S. 116.
57
Entwicklungsgang des Ich-Erzählers. Meist stehen sie auch in Verbindung mit
verschiedenen Personen oder Gestalten, die die Entwicklung prägen:
Diese Figuren, die den Anschein erwecken könnten, es handle sich um eine Galerie literarischer Portraits, sind in zweifacher Weise in die Autobiographie integriert. Einerseits sind sie alle auf die Zentralachse der Mutter-Sohn-Konstellation bezogen, noch die entferntesten Figuren haben Anteil an dem großen Konflikt, und zwar im Verhältnis des Kontrastes, der Ergänzung und der Variation; andererseits sind sie aber Bauelemente zur Darstellung der Zeitsituation.221
Die Zeitsituation wird nicht nur durch die Wiedergabe von Ereignissen, sondern
auch durch das sprachliche Spiel mit den Figuren verdeutlicht, indem das geistige
Klima und die Lebensatmosphäre vermittelt werden.
In den autobiografischen Erzählungen Canettis herrschen zwei grundsätzlich
verschiedene, aber miteinander verwobene Erzählweisen vor. Es handelt sich dabei
um die karikierende Übertreibung und die Ironie. Die Ironie wird jedoch begleitet von
Selbstkritik, Kritik, Sorge und Enttäuschung und hat nichts Besserwisserisches an
sich.222 Der Erzählduktus wird bestimmt von einem in Gegenbildern und
Widersprüchen gekleideten Geschehen:
Die Spannung, die von diesen Textpartien ausgeht, wird durch eine Sehweise bewirkt, die auch verehrte und bewunderte Menschen nie zu glatten Vorbildern stilisiert, sondern ihnen die schon angedeutete Gegenbildlichkeit einschreibt, in der die Gefahren ihrer Mächtigkeit und ihres bannenden Einflusses sichtbar werden.223
Die drei Bände seiner Autobiografie sind nach der Titelgebung „auf die Erweiterung
der Sensitivität und Aufnahmefähigkeit“224 angelegt, von der Sprache „Die gerettete
Zunge“- über das Hören- „Die Fackel im Ohr“ zum Sehen- „Das Augenspiel“.
Bei Canettis Autobiografie handelt es sich zusammengefasst um eine Sammlung
von Erinnerungen, die sich zu seiner Lebensgeschichte verdichtet, die bei
genauerer Betrachtung den Charakter einer üblichen Bildungsgeschichte verliert.
221
Ebd. (Anm. 7), S. 118. 222
Vgl. ebd. (Anm. 7), S. 121. 223
Ebd. (Anm. 7), S. 121. 224
Ebd. (Anm. 7), S. 122.
58
4.2) Erzähltheoretische Analyse Die erzähltheoretische Analyse ist angelehnt an die Erzähltheorie von Matías
Martínez und Martin Scheffel und teilt sich in die Ebene der Darstellung, dem „Wie?“
der Erzählung und in die Ebene der Handlung, dem „Was?“ der erzählten Welt.225
Die Ebene der Handlung wird in der vorliegenden Arbeit erst durch die
hermeneutische Analyse abgedeckt.
Die Ebene der Darstellung wird nach Martin Scheffel und Matías Martínez
systematisch durch ein Beschreibungsmodell nach drei Analysekategorien
geordnet. Dabei werden Fragen zum Einsatz von narrativen Techniken behandelt.
Dieses Beschreibungsmodell umfasst die Zeit, den Modus und die Stimme.226
Wichtig zu erwähnen ist, dass in der Analyse auch zwischen der Erzählung, dem
Schriftstück durch das die Erzählung vermittelt wird und dem Erzählen an sich, dem
Akt der zur Erzählung führt, unterschieden wird.227
Die Kategorie „Zeit“ behandelt das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit
und die dazugehörenden leitenden Analysefragen ergeben sich durch die
Schlagwörter „Ordnung“ zur Frage nach der Reihenfolge, „Dauer“ zur Frage: wie
lange einzelne Erzählepisoden andauern, und „Frequenz“ zur Frage nach der
Häufigkeit von bestimmten Erzählmomenten.
Die Analysekategorie „Modus“ umfasst den Grad der Perspektivierung und der
Mittelbarkeit des Erzählten und die beiden Schlagwörter „Distanz“ zur Frage: wie
unmittelbar das Erzählte präsentiert wird und die „Fokalisierung“ zur Frage: aus
welcher Sicht erzählt wird, beschreiben die dazugehörigen Analysefragen. Gérald
Genette führt zum „Modus“ das neue Begriffspaar „dramatischer Modus“ vs.
„narrativer Modus“ ein.228 Der dramatische Modus bezeichnet die rein distanzlose
mimesis, wohningegen der narrative Modus ein distanzierendes Erzählverhalten
darstellt. Nach Genette differenziert man zwischen drei Typen der Fokalisierung: der
Nullfokalisierung (der Übersicht), der Internen Fokalisierung (der Mitsicht) und der
Externen Fokalisierung (der Außensicht).229
225
Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11). 226
Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 32-92. 227
Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 32. 228
Vgl. Gérald Genette: Die Erzählung. München: UTB 1994, S. 116-117. 229
Vgl. ebd. (Anm. 228), S. 115-120.
59
Die „Stimme“ summiert die Analysefragen zum Akt des Erzählens: wie zum Beispiel
das Verhältnis von erzählendem Subjekt und dem Erzählten beschaffen ist oder das
Verhältnis von Leser und erzählendem Subjekt. Zur genaueren Beschreibung dieser
Analysekategorie gehören die Schlagwörter „Zeitpunkt des Erzählens“ zur Frage:
wann erzählt wird, der „Ort des Erzählens“ zur Frage: auf welcher Ebene erzählt
wird und die „Stellung des Erzählers zum Geschehen“ zur Frage: in welchem
Ausmaß der Erzähler am Geschehen beteiligt ist.
Unter die Ebene der Darstellung fällt auch die Behandlung von Martin Sterns
propagierten sieben „A“s der Autobiografie der „Anordnung, Auswahl,
Anfangspunkt, Akzentuierung, Außenmaterial, Ausdehnung und Autorpräsenz“230.
Die erzähltheoretische Analyse erfolgt je Werk und anschließend werden in einem
eigenen Kapitel Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden untersuchten
Autobiografien in Hinblick auf die narrativen Strukturen ausgearbeitet.
4.2.1) Erzähltheoretische Analyse von Bernhards „Ein Kind“
Das erzähltheoretische Analysemodell von Martin Scheffel und Matías Martínez
führt zuerst zur Analysekategorie „Zeit“, die bezüglich „Ordnung“, „Dauer“ und
„Frequenz“ untergliedert ist. Grundsätzlich wird in „Ein Kind“ die Zeit von Bernhards
Geburt bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr behandelt.
Die Autobiografie beginnt mit einem Erlebnis, bei dem der Erzähler acht Jahre alt ist
und erst anschließend folgt rückblickend die Erzählung seiner Geburt und seiner
ersten Lebensmonate. Somit ist dieses Werk bezogen auf die Ordnung ein Fall
einer narrativen Anachronie, wobei es sich um die „Umstellung der chronologischen
Ordnung einer Ereignisfolge“231 handelt. Denn die Analepse bzw. die Rückwendung
auf seine Geburt und auf seine ersten Lebensmonate kommt in der Erzählung erst
ab Seite 56. In diesem Text finden sich auch zwischendurch einige proleptische als
auch analeptische Erzählelemente. Im Zeitabschnitt der anfangs geschilderten
Waffenradgeschichte verbringt er viel Zeit mit Schorschi, dem Sohn der
230
Stern: Autobiographie und Identität (Anm. 108), S. 261. 231
Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 35.
60
Bauersleute, in dessen Haus seine Großeltern mütterlicherseits wohnen. Nach der
Beschreibung von Schorschi, dem der Protagonist die Waffenradgeschichte als
Achtjähriger zuerst erzählt, folgt eine Textstelle, die aus Sicht der erzählten Zeit als
Prolepse zu bezeichnen ist, die auch die Erzählzeit anspricht:
Vor ein paar Jahren habe ich ihn zum letztenmal gesehen, wir waren beide fünfundvierzig, er war verrückt geworden und hatte das Haus seiner Großeltern, das sie ihm vererbt hatten, zwei Jahre nicht mehr verlassen gehabt […]. (EK, S. 32)
Diese Vorausschau verdeutlicht, was aus dem achtjährigen Schorschi geworden ist
und es werden auch biografische Einschnitte im Leben des Schorschis genannt, wie
er zu dem Erwachsenen geworden ist, den der Erzähler zuletzt vor ein paar Jahren
getroffen hat. Es können einige Textstellen gefunden werden, die eine Prolepse
darstellen; auf eine Beschreibung der Familienkonstellation folgt zum Beispiel:
Noch heute ist ein […] von meinem Urgroßvater […] gebautes Atelier zu bewundern […]. (EK, S. 47)
Immer wieder gibt der Erzähler eine Vorausschau auf die Lebensgeschichte bzw.
auf Vorlieben oder Lebensdaten einzelner Persönlichkeiten, die über die erzählte
Zeit hinausgehen und die Erzählzeit bzw. Ereignisse, die zeitlich weit nach der
erzählten Zeit anzusiedeln sind, ansprechen. Beispiele dafür sind:
Heute weiß ich, daß man erst im Alter Rindfleisch liebt, nicht als Kind. (EK, S. 54)
Meine Mutter musste schon neunzehnhundertdreißig […] eine Zeitlang bei ihrer Tante Rosina gelebt haben, in jenem Hendorf […] wo sie [Rosina] seit dem Jahr fünfzig begraben ist auf ihren Wunsch. (EK, S. 57)
Nach der Beschreibung seiner ersten Lebensmonate mit der anschließenden
Argumentation bzw. Vorausschau, wie diese Ereignisse ihn geprägt haben, folgt
eine Prolepse aus Sicht der erzählten Zeit bzw. eine Analepse aus der Sicht der
Erzählzeit, auf wichtige Orte in seiner Kindheit:
Ideal ist für mich das Alpenvorland, wo ich den Großteil meiner Kindheit verbrachte, im bayerischen in der Nähe des Chiemsees und im salzburgerischen, aber diese Zeit liegt weit zurück, sie reicht von meinem dritten bis zu meinem siebenten Lebensjahr. Vorher war ich, nach dem ersten, dem Hollandjahr, zwei Jahre in Wien gewesen. (EK, S. 60f)
Chronologisch folgen Beschreibungen seiner Zeit in Wien, Salzburg und im
bayerischen Alpenvorland, die eingebettet sind in Lebensbeschreibungen von
Familienmitgliedern, die wieder proleptische Erzählelemente enthalten:
Er hatte geirrt, Hansi hatte schließlich den Hof übernehmen und seine Ambitionen auf den Geist begraben müssen. (EK, S. 82)
61
An geeigneten Stellen finden sich im Erzählfluss immer wieder Vorausdeutungen
auf Zeitabschnitte, die in der Erzählung erst später behandelt werden, wie zum
Beispiel in der Zeit am „Hippingerhof“ spricht der Erzähler bereits die Zeit in
Traunstein an:
Dieses Radio sollte ein paar Jahre später eine große Rolle spielen, es war letzenendes daran schuld, daß mein Großvater in Traunstein in Verwahrung genommen und in ein zu einem nationalsozialistischem Parteibüro umfunktionierten Kloster dienstverpflichtet wurde. (EK, S. 77)
Die chronologische Abfolge wird somit immer wieder durchbrochen und es kommen
auch analeptische Erzählelemente vor, wie zum Beispiel:
Das Mädel aus dem Maurerhaus war jene Tante Fanny, die ich am Anfang dieses Berichts mit dem Steyr-Waffenrad besuchen wollte, deren Adresse ich aber gar nicht wußte. (EK, S. 105)
Eindeutig proleptische Erzählelemente, die weit über den erzählten Zeitrahmen
hinausgehen, werden auch zeitlich gekennzeichnet:
Meinem Großvater waren diese kurz aufeinanderfolgenden Katastrophen erspart geblieben, denn sie ereigneten sich erst nach seinem Tode und stehen also hier nicht zur Debatte. (EK, S. 105)
Die Zeitdifferenz der Gegebenheiten zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit
wird dem Leser/der Leserin immer wieder vor Augen geführt, wie zum Beispiel bei
folgender Prolepse, die im Erzählfluss in der Zeit des Erholungsheimes in Saalfeld
steht, wobei die Erzählzeit als Ankerzeitpunkt genommen wird:
Vor drei Jahren habe ich auf dem Weg nach Weimar und Leipzig die Stätte meiner höchsten Verzweiflung aufgesucht. (EK, S. 146)
Durch Prolepsen erhalten manche Erinnerungen den Eindruck von Lebhaftigkeit
und Allgegenwärtigkeit:
Heute sehe ich mich noch so deutlich, als wäre es gestern gewesen und nicht vor über vierzig Jahren, durch den Thüringer Wald marschieren, singend. (EK, S. 150)
Manche Prolepsen übernehmen auch die die Funktion einer Beweisführung:
Heute erinnern noch die beiden großen Knienarben an diesen Höhepunkt. (EK, S. 156)
62
Charakteristisch für dieses Werk ist der oftmalige Ausblick auf die Persönlichkeit
bzw. auf die Vorlieben des Erzählers in der Erzählzeit, die sich aus der erzählten
Zeit ergeben:
Ich liebte das Geigenspiel der anderen, mein eigenes haßte ich, und es blieb dabei. (EK, S. 159)
Die erzählte Zeit endet mit seinem dreizehnten Lebensjahr, in dem er sich mit
seinem Großvater auf den Weg macht, eine weiterführende Schule auszuwählen.
Die zweite Analysekategorie ist die „Dauer“. Die ersten fünfzig Seiten umfassen die
Zeit in Traunstein (~1939), es folgen vier Seiten zu seinem ersten Lebensjahr
(1931), acht Seiten zu seinen drei Jahren in Wien (1931/32-1934/35), 39 Seiten zu
seinen drei Jahren in Seekirchen am Wallersee (1935-1937), 25 Seiten zu seiner
Zeit in Traunstein, 16 Seiten zu seiner Zeit im nationalsozialistischen Heim für
schwererziehbare Kinder in Saalfeld in Thüringen und abgerundet wird die
Erzählung mit abschließenden 16 Seiten zu seiner Zeit in Traunstein in Bayern
(1938-1944).
Den größten Teil der Erzählung macht mit einer Seitenanzahl von ungefähr 90 die
Zeit in Traunstein aus, wobei diese proportional auch tatsächlich die längste in
diesen Kindheitsjahren war, denn sie erstreckte sich über sechs Jahre, von 1938 bis
1944. Dem ersten Lebensjahr in Holland werden die wenigsten Seiten geschenkt,
wobei dies wohl auch damit zu tun hat, dass man als Autobiograf keine eigenen
Erinnerungen von dieser Zeitspanne hat, wodurch man sich auf die Erzählungen
anderer Personen, wie zum Beispiel von Angehörigen stützen muss. Die
darauffolgenden Jahre in Wien werden ebenfalls sehr schnell abgehandelt, wobei
wiederum das Alter des Autobiografen in der erzählten Zeit eine Rolle spielt. Es
handelt sich somit bei diesen Teilen um zeitraffendes bzw. summarisches Erzählen.
Mit dem Älterwerden des Protagonisten werden auch die Ausführungen genauer
und somit werden den folgenden drei Jahren in Seekirchen am Wallersee rund 39
Seiten zugebilligt. In diese Zeit fallen auch wichtige Entwicklungsschritte wie zum
Beispiel die Einschulung mit bereits fünf Jahren. Die Zeit in Saalfeld wird
proportional zu seiner tatsächlichen Dauer (von 1941-1942) sehr umfangreich mit
16 Seiten behandelt. Durch schlechte Erfahrungen kann ein Zeitraum subjektiv
länger andauern und dies spiegelt sich in der Genauigkeit der geschilderten
63
Erinnerungen wider. Dabei handelt es sich um zeitdehnendes Erzählen. Dies zeigt
sich auch in dem Fakt, dass auf Seite 150 nach der Rückkehr vom
nationalsozialistischen Erziehungsheim für schwer erziehbare Kinder in Saalfeld
berichtet wird: „Als ich nachhause kam, hatte ich einen Bruder, der von allen geliebt
wurde“ (EK, S.150). Doch aus seinen autobiografischen Daten bzw. Fakten ist zu
schließen, dass er den Zeitraum von 1941-1942 im Erziehungsheim verbrachte,
doch sein Halbbruder Peter Fabjan ist am 15. April 1938 geboren.232 Die
tatsächlichen Zeiten stimmen somit mit der erzählten Zeit nicht überein.
Die nächste Analysekategorie, die „Frequenz“, die zur großen Kategorie der „Zeit“
gehört, umfasst die Frage nach der Häufigkeit von bestimmten Erzählmomenten.
Eindeutig am frequentiertesten finden sind Erzählungen und Beschreibungen über
seinen Großvater mütterlicherseits. Denn sein Großvater wird in mehr als einem
Drittel aller Seiten erwähnt bzw. kommt er in der beschriebenen Handlung vor. Am
zweithäufigsten kommen Erzählmomente vor, in denen seine Mutter eine Rolle
spielt. Es erscheint typisch für eine Kindheits- und Jugendbiografie, dass die
Hauptbezugspersonen, in diesem Fall die Mutter und der Großvater
mütterlicherseits, durch stark frequente Erzählelemente abgebildet werden.
Die meisten erzählten Ereignisse stellen singulative Erzählungen dar, denn sie
werden nur einmal erzählt, da sie sich auch nur einmal ereignet haben.
Zum „Modus“ kann gesagt werden, dass eine Nullfokalisierung festzustellen ist, da
der Erzähler mehr weiß als die Figuren. Dies ist deshalb der Fall, da der Erzähler im
Gegensatz zu den beschriebenen Figuren auch immer auf Zukünftiges Bezug
nehmen kann.
Zur „Distanz“ bzw. zur „Unmittelbarkeit“ ist festzuhalten, dass mittelbare
Erzählungen von Worten, Gesprächen und Ereignissen vorkommen, die nicht in
einem dramatischen Modus übermittelt werden, da immer wieder Kommentare und
Reflexionen auf der Ebene des Erzählers vorkommen. Die immer anwesende
vermittelnde narrative Instanz spricht gegen den dramatischen Modus. Der Erzähler
fasst in der Form einer summarischen Erzählung die Gedanken und Meinungen von
anderen Figuren zusammen und kommentiert sie. Die Vermittlungsinstanz des
Erzählers ist immer anwesend und dadurch kann bei diesem Werk von
Unmittelbarkeit bzw. von einer mimetischen Illusion keine Rede sein.
232
Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard (Anm. 26), S.139-143.
64
Die Analysefragen zum Akt des Erzählens sind unter „Stimme“ subsumiert. Der
Zeitrahmen der erzählten Welt ist in diesem autobiografischen Roman genau
festgelegt. Bei der erzählten Zeit handelt sich grob um die Zeit von seiner Geburt bis
zu seinem dreizehnten Lebensjahr. Die Verwendung des epischen Präteritums setzt
den Akt des Erzählens in ein Vergangenheitsverhältnis zur erzählten Zeit. Durch die
Vorausschau auf ein Erlebnis des erwachsenen Erzählers, der Schorschi trifft, kann
man die Zeit, indem der Akt des Erzählens vollzogen wird, berechnen:
Vor ein paar Jahren habe ich ihn zum letztenmal gesehen, wir waren beide gerade fünfundvierzig, er war verrückt geworden und hatte das Haus seiner Großeltern, das sie ihm vererbt hatten, zwei Jahre nicht mehr verlassen gehabt. (EK, S. 32)
Deshalb muss der Erzähler um die fünfzig Jahre alt sein und die Figuren der
erzählten Zeit sind in der Erzählepisode, in der von seinem Freund Schorschi die
Rede ist, acht Jahre alt (vgl. EK, S. 7).
In weiten Teilen des Werkes handelt es sich um eine extradiegetische Narration. Es
kommen aber durchaus auch intradiegetische Elemente vor. Bei der
intradiegetischen Ebene handelt es sich um erzähltes Erzählen und bei der
extradiegetischen um reines Erzählen. So wäre ein Beispiel für eine Textstelle, die
auf der extradiegetischen Ebene angesiedelt ist, folgende:
Ich war in den Straßengraben katapultiert worden. Ohne Zweifel, das war mein Ende. Ich stand auf und blickte mich um […]. (EK, S. 11)
Die Textstelle, in der der Protagonist als Erwachsener zwei Männer nach seinem
Kindheitsfreund Schorschi fragt, kann als extradiegetisch bezeichnet werden und
die Erzählung dessen, was ihm die Männer berichten, kann als Beispiel für eine
intradiegetische Narration angesehen werden, da es eine Form des erzählten
Erzählens darstellt:
Zwei Jahre habe er den ersten Stock nicht verlassen. Sie versorgten ihn mit Lebensmitteln, dürften aber nicht zu ihm hinauf. Er besitze das Haus noch, obwohl er längst entmündigt gehöre. (EK, S. 34)
Zur Stellung des Erzählers zum Geschehen kann festgehalten werden, dass es sich
um einen homodiegetischen Erzähler handelt. Dieser umfasst zwei unterschiedliche
Rollen, die Rolle als Figur, das erzählte Ich und die Rolle als Erzähler, das
erzählende Ich.
65
Aus den beschriebenen Erzählebenen lassen sich zwei Erzähltypen differenzieren.
Der erste vorkommende Erzähltyp ist der extradiegetisch-homodiegetische
Erzähler, der auf der ersten Ebene seine eigene Geschichte erzählt. Das
Textbeispiel, das auf der intradiegetischen Ebene angesiedelt ist, zeigt den
intradiegetisch-heterodiegetischen Typen, der sich auf der zweiten Erzählstufe
befindet, da es sich um eine Binnenerzählung handelt, in der der Erzähler nicht als
Figur beteiligt ist. Dieser zweite Typ ist jedoch kaum in diesem Werk zu finden.
Hauptsächlich handelt es sich um einen extradiegetisch-homodiegetischen
Erzähler.
Da es sich bei der ersten Person um die Hauptfigur der erzählten Welt handelt,
kann der Protagonist sogleich als homo- als auch als autodiegetischer Erzähler
bezeichnet werden, der seine eigene Geschichte erzählt. Eine Autobiografie wie
diese lässt sich meistens durch einen homo- und autodiegetischen Erzähler
kennzeichnen.233 Nach Franz K. Stanzels Typologie von Erzählsituationen kann
man den Erzähler auch als auktorial bezeichnen.234 Bei einer auktorialen
Erzählsituation bringt der Erzähler auch Kommentare und Anmerkungen zum
erzählten Geschehen ein, wobei er an der Schwelle zwischen der Wirklichkeit des
Autors und der Fiktion in autobiografischen Romanen steht.
4.2.2) Erzähltheoretische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“
Die erzähltheoretische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“ fängt bei der
Ebene der Darstellung, dem „Wie?“ der Erzählung, auch „Discours“ an.
Die erste Frage, die bezüglich der ersten Analysekategorie „Zeit“ behandelt wird, ist,
wie es mit der „Ordnung“, der Reihenfolge des Erzählten aussieht. Die Erzählung ist
chronologisch in vier Teile geteilt. Der erste Teil umfasst die Zeit in Rustschuk von
1905 bis 1911, der zweite Teil die Zeit in Manchester von 1911 bis 1913, der dritte
Teil die Zeit in Wien von 1913 bis 1916, der vierte Teil die Zeit in Zürich in der
Scheuchzerstraße von 1916 bis 1919 und der fünfte und letzte Teil die Zeit in
Zürich, Tiefenbrunnen von 1919 bis 1921.
233
Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 87. 234
Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 93.
66
Das Werk erzählt die Geschichte des Autors von 1905, seiner Geburt an, die jedoch
nicht explizit angesprochen wird, da die Erzählung mit seiner ersten bewussten
Erinnerung vom Sommer 1907 beginnt, bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr. Die
Grundstruktur der Erzählung ist durch die Aufteilung in die vier Zeitabschnitte
chronologisch gegliedert, doch auch in diesem Werk kommen innerhalb der
verschiedenen Zeitspannen auch Elemente einer Anachronie vor. Die Anachronie
tritt in den zwei Formen der Analepse, der nachträglichen Darstellung eines
Ereignisses bzw. der Rückwendung und der Prolepse, der Vorausdeutung, indem
ein in der Zukunft liegendes Ereignis vorwegnehmend erzählt wird, auf.235
Ein Beispiel für eine Analepse ist die folgende Textstelle, in der rückblickend in der
Zeit in Zürich in Tiefenbrunnen auf die Bedeutung des Vaters hingewiesen wird:
Der Vater stand als guter Geist am Anfang meines Lebens, und das Gefühl für die Mutter, der ich so ungefähr alles schuldete, schien noch unerschütterlich. (GZ, S. 251)
Ein weiteres Beispiel für eine Analepse stellt das Ereignis mit seiner Kusine Laurica
dar. Im ersten Teil der Erzählung wird von Elias Mordandrohung an seine Kusine
Laurica berichtet. Er verfolgt seine Kusine mit einem Beil, da sie ihm ihre Schulhefte
vorenthalten hat. Im fünften Teil der Erzählung, in der von der Zeit in Zürich in
Tiefenbrunnen erzählt wird, wird rückblickend – rund zehn Jahre später in der
Erzählung – noch einmal dieses Ereignis angesprochen:
[…] der Großvater hielt mir noch Wochen danach vor, wie tot – wäre mir mein Vorhaben gelungen – Laurica gewesen wäre […]. (GZ, S. 265)
Das daraus ergebende Tötungsverbot wird noch einmal in der Geschichte
rückblickend erwähnt, wobei auch andere Tabus angeführt werden, die ihm früher
auferlegt wurden und die für die aktuell erzählte Zeit relevant erscheinen:
Ich war zehn, als sie mir das zweite, große Tabu auferlegte, nach jenem viel früheren gegen das Töten, das vom Großvater ausging. Dieses richtet sich gegen alles, was mit geschlechtlicher Liebe zusammenhing: Sie wollte es möglichst lange vor mir verborgen halten und überzeugte mich davon, daß ich nicht daran interessiert sei. Ich war es damals wirklich nicht, aber ihr Tabu behielt seine Kraft während der ganzen Züricher Zeit, ich war beinahe 16 und hörte noch immer weg, wenn die Kameraden über die Dinge sprachen, die sie am meisten beschäftigten. (GZ, S. 269)
235
Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 35.
67
Eine weitere Analepse ist der Rückblick in der Züricher Zeit in Tiefenbrunnen auf
seine ersten Lebensjahre in Manchester:
In Manchester führte mich der Vater in den Tiergarten. […] Dank dem Vater hatten jene Erfahrungen begonnen, ohne die eine Kindheit es nicht wert ist, gelebt zu werden. (GZ, S. 279)
Natürlich lassen sich noch andere Beispiele für Analepsen in der Erzählung finden,
doch diese Auswahl soll lediglich das Vorhandensein belegen. Die grobe
Grundstruktur des Werkes ist durch die Einteilung in die vier Teile chronologisch,
doch vor allem innerhalb dieser Teile gibt es immer wieder Elemente des Rückblicks
und der Vorausschau, für die nun im Folgenden Beispiele angeführt werden.
Ein Beispiel für eine Prolepse findet man im Wiener Zeitabschnitt, indem er über
seinen Großvater berichtet, der den Protagonisten in Wien oftmals am Wochenende
besucht:
Er war schon lange gestorben, als ich seinesgleichen unter den Geschichtenerzählern in Marakesch wiederfand, und obwohl ich von ihrer Sprache kein Wort verstand, waren sie mir durch die Erinnerung an diesen Großvater vertrauter als alle die unzähligen anderen Menschen, denen ich dort begegnete. (GZ, S. 110)
Dieses Textbeispiel zeigt eine Vorausschau auf die Erzählzeit. Vorausdeutungen
auf die Erzählzeit und auf andere Zeitepisoden, die weit über die erzählte Zeit
hinausgehen, finden sich einige. Durch diese wird meistens verdeutlicht, welche
Auswirkungen einzelne Ereignisse hatten:
[…] dafür erlebte ich etwas, was wichtiger war, wenn auch seine Bedeutung mir erst später bewußt werden sollte. (GZ, S. 169)
Aber noch ahnte ich nicht, mit welchem Entzücken ich eines Tages den »Grünen Heinrich« lesen würde, und als ich, Student und wieder in Wien, Gogol mit Haut und Haaren verfiel, schien mir in der deutschen Literatur, soweit ich sie damals kannte, eine einzige Geschichte wie von ihm: »Die drei gerechten Kammmacher«. (GZ, S. 208)
Auch Vorausdeutungen auf Zeitereignisse, die später im Werk noch eingehend
behandelt werden, sind enthalten. Ein Beispiel dafür findet man im Text bei der
Übersiedelung bzw. Reise nach Wien, die sie für einige Stunden in Zürich
unterbrechen:
[…] die Erinnerung an diesen ersten Blick auf Zürich, das später zum Paradies meiner Jugend werden sollte, hat mich nie verlassen. (GZ, S. 95)
68
Das Kommentar des Erzählers zum Bericht über die Freundin seiner Mutter Alice
Astriel ist ebenfalls als Prolepse zu bezeichnen:
Sie hat eine Rolle in meinem Leben gespielt, und was ich über sie gesagt habe, entspringt eigentlich späterer Erfahrung. (GZ, S. 138)
So werden manche Zeitsprünge in der Erzählung kommentiert, indem deutlich
hervorgehoben wird, wenn die berichteten Ereignisse eigentlich nicht exakt der
erzählten Zeit entstammen. Die chronologische Reihenfolge wird immer wieder
durchbrochen, wobei die Nichteinhaltung der Ordnung und der Dauer oftmals im
Text erklärend vermerkt wird. Die folgende Textstelle, in der der Erzähler angibt,
zum Teil Erlebnisse aus unterschiedlichen Zeiten zusammenzuziehen und an
geeigneter Stelle wiederzugeben, belegt das Vorhandensein von Kommentierungen
und Erklärungen:
In dieser Schilderung des Großvater habe ich manches zusammengezogen, auch was ich erst in späteren Jahren erlebt oder erfahren habe. So nimmt er hier, in dieser ersten Wiener Periode, mehr Raum ein, als ihm eigentlich zukommt.“ (GZ, S. 111)
Zur Analysekategorie „Dauer“, die der Frage nachgeht: inwiefern sich die Erzählung
an die zeitliche Dauer hält, kann festgehalten werden, dass sich die Erzählung
ebenso wenig durchgängig an die chronologische Ordnung hält als auch an seine
zeitliche Dauer. Kommentierungen die darauf hinweisen, dass Erlebnisse
zusammengezogen wurden, verdeutlichen, dass es sich hier um zeitraffendes bzw.
summarisches Erzählen handelt. Ein Beispiel für summarisches Erzählen ist die
folgende Textstelle, in der ein gesamter Winter kurz zusammengefasst dargestellt
wird:
Alles in alles war es ein tief einschneidender Winter gewesen: das Einleben in die Yalta ohne ein einziges männliches Wesen, wo ich tat, was ich wollte, von blinder Zuneigung, ja eine Art von Verhimmelung durch weibliche Wesen jeden Alters getragen; die scharfe Attacke durch den Onkel, der mich in seinen Geschäften ersticken wollte; die täglich fortgesetzte Kampagne in der Klasse. (GZ, S. 263)
Der erste Teil des Werkes, der mit der Zeitspanne von 1905 bis 1911, die ersten
sechs Jahre des Protagonisten behandelt, bildet hinsichtlich der Analysekategorie
„Dauer“ eine Ausnahme. Denn die Erzählungen der restlichen vier Teile umfassen
jeweils drei Lebensjahre. Doch der erste Teil beginnt erst mit seiner ersten
Erinnerung von 1907 und deshalb ist dieser, mit zeitlich umfassenden vier Jahren
69
als ungefähr gleich lang anzusehen. Nach dem Seitenumfang ist die Zeit in Zürich
Tiefenbrunnen (Teil 4) mit 108 Seiten die umfangreichste, gefolgt von der Zeit in
Wien mit 62 Seiten. Die Zeit in Manchester mit 46 Seiten und die Zeit in Zürich in
der Scheuchzerstraße mit 52 Seiten nehmen ungefähr denselben Seitenumfang ein.
Die ersten Lebensjahre, die eigentlich den längsten Zeitabschnitt darstellen, finden
mit 36 Seiten die wenigste Behandlung. Dies hat auch mit dem Lebensalter des
Protagonisten zu tun, da man von den allerersten Lebensjahren selbst nur sehr
wenige Erinnerungen behält. Deshalb kann der erste Teil dem zeitraffenden
Erzählen zugeordnet werden.
Zur Analysekategorie „Frequenz“ ist festzuhalten, dass in den stärksten
frequentierten Erzählmomenten die Hauptbezugspersonen eine tragende Rolle
spielen. Diese Tatsache kann man als typisch für eine Kindheits- und
Jugendbiografie bezeichnen. In Canettis Fall handelt es sich dabei zuerst um seine
Eltern und anschließend nur um seine Mutter, da sein Vater sehr früh stirbt (als
Elias Canetti gerade einmal sieben Jahre alt ist und sein Vater noch nicht einmal
einunddreißig [vgl. GZ, S. 74]). Dennoch wird auch in späteren Zeitabschnitten in
der Erzählung auf die Bedeutsamkeit und Wichtigkeit des verstorbenen Vaters
hingewiesen:
Da gab es nicht Zweifel noch Zögern, da stimmte sie begeistert ein. »Einen Menschen, der so gut ist, wie er es war, wirst du nie auf der Welt finden, niemals, nie!« (GZ, S. 127) Mein eigener Vater war noch in mir, der mit mir über so vieles gesprochen, den ich singen gehört hatte. Jung, wie er gewesen war, blieb auch sein Bild, er blieb der einzige Vater. (GZ, S. 136)
Hoch frequente Erzählmomente stellen die Abende mit seiner Mutter dar, in der sie
über Literatur sprechen. Rückblickend kommentiert der Erzähler diese Leseabende:
Ich glaube nicht, daß ich damals die Stücke verstand, die wir zusammen lasen. Gewiß ging vieles davon in mich ein, aber in meiner Erinnerung blieb sie die einzige Figur, es war eigentlich alles ein einziges Stück, das wir zusammen spielten. (GZ, S. 104)
Die Beschreibungen von bestimmten Lehren in den unterschiedlichen
Lebensphasen, die vom Erzähler als bedeutend eingeschätzt werden, sind ebenfalls
hoch frequent. Seien es Lehren, die sich aus dem Unterricht von Personen ergeben
oder vor allem durch selbst gewählte oder auch von anderen Personen empfohlene
70
Lektüren. Das Werk ist auch geprägt von der Hochschätzung des Lesens durch den
Protagonisten und von Darstellungen der Erkenntnisse und Prägungen, die er aus
den Lektüren gewinnen kann. Die den Lektüren geschenkte Liebe und die
Hochschätzung der Bücher durch den Protagonisten verdeutlicht diese Textstelle:
Denn wenn ich damals etwas wie Sorge um die Zukunft überhaupt kannte, so galt sie ausschließlich dem Bücherbestand der Welt? Gewiß, ich las am liebsten wieder und wieder, was ich mochte, aber zur Freude daran gehörte die Gewissheit, daß mehr und mehr nachkommen würde. (GZ, S. 194)
Es können auch Beispiele für iteratives Erzählen gefunden werden. Beim iterativen
Erzählen werden Ereignisse einmal erzählt, die sich jedoch wiederholt ereignet
haben:
Sie merkte nicht, daß ich heimlich wachte, so sehr war sie mit ihrem Schmerz beschäftigt, und wenn sie ganz still aufstand und sich ans Fenster schlich, war sie sicher, daß ich fest schliefe. Jahre später, wenn wir über diese Zeit sprachen, gestand sie, daß sie jedesmal überrascht war, als ich gleich neben ihr stand und sie mit meinen Armen umschlang. (GZ, S. 49)
Diese Textstelle für iteratives Erzählen stellt gleichzeitig eine Prolepse dar, denn
erst 25 Seiten später wird vom Tod des Vaters berichtet und es wird schon vorweg
auf die Zeit danach hingewiesen. Diese Nächte werden auch ein zweites Mal
erwähnt, wobei der Erzähler verdeutlicht, dass er durch diese Umstände große
Angst hatte, in kürzester Zeit einen zweiten geliebten Menschen zu verlieren (vgl.
GZ, S. 78). Eine weitere Textstelle, bei der es sich um iteratives Erzählen handelt,
findet man in der Züricher Zeit in Tiefenbrunnen:
Ich war mit der Großmutter und der Tante Ernestine verabredet, die noch in Zürich wohnten und die ich einmal wöchentlich besuchte. (GZ, S. 244)
Bestimmte Abläufe in der Familie, die sich immer wieder ereignet haben, finden
zwar ihren indirekten Niederschlag an vielen Stellen, doch die grundsätzliche
Struktur wird einmal iterativ erzählt. Beispiele dafür stellen routinierte Abläufe dar,
so endet am Anfang des Werkes jeder Tag mit der Heimkehr des Vaters und jede
Woche mit den Sonntagsvormittagen im Bett der Eltern mit Spielen und Gesprächen
(vgl. GZ, S. 69). Doch beim Großteil der erzählten Erlebnisse kann von singulativen
Erzählungen gesprochen werden. Das heißt Ereignisse, die sich einmal ereignet
haben, werden auch einmal dargestellt, wodurch sich ein Abbildungsverhältnis von
eins zu eins ergibt.
71
Zur Analysekategorie „Modus“, der den Grad der Perspektivierung und der
Mittelbarkeit des Erzählten umfasst, gehören die „Distanz“ und die „Fokalisierung“.
Zur „Distanz“, die der Frage nachgeht, wie mittelbar bzw. unmittelbar das Erzählte
präsentiert wird, ist zu erwähnen, dass es sich hauptsächlich um keine Erzählung im
dramatischen Modus handelt. Bei diesem Werk kann nicht von Unmittelbarkeit oder
mimetischer Illusion gesprochen werden, da die Instanz des Erzählers in der
Nacherzählung der Kindheits- und Jugendepisoden meistens anwesend ist. Die
zum Teil vorkommende, vorher erwähnte, narrative bzw. summarische
Erzählhaltung ermöglicht den Eindruck einer zunehmenden Distanz zu den
erzählten Ereignissen. Durch Kommentare und Reflexionen auf der Erzählebene
und der ständigen Anwesenheit der vermittelnden narrativen Instanz entsteht der
Eindruck einer Distanz vom Geschehen, der sich vor allem aus dem zeitlichen
Abstand und auch aus der Perspektivierung heraus ergibt. Doch es lassen sich
auch Textstellen wie die folgende finden, bei denen der Detailreichtum der
Erzählung kombiniert mit einem scheinbar zeitdeckenden, langsamen Erzähltempo
zum Eindruck der Gegenwart des Erzählten beitragen:
Ich pflegte auf den Augenblick zu warten, da sie am Hoftor vorn zuerst erschienen, und lief, kaum hatte ich den blinden Alten erblickt, unter gellenden Rufen >Zinganas! Zinganas!< durch das lange Wohnzimmer und den noch längeren Korridor, der es mit der Küche verband, nach hinten. Da stand die Mutter und gab ihre Anweisungen für die Sabbatgerichte, manche besondere Leckerbissen bereitete sie selbst. Die kleinen Mädchen, die ich oft auf dem Wege traf, beachtete ich nicht, ich schrie gellend immer weiter, bis ich neben der Mutter stand, die etwas Beruhigendes zu mir sagte. (GZ, S. 21)
Die Erzählweise vermittelt zwar beim Großteil des Erzählten eine gewisse Distanz
zum Geschehen, doch es sind auch Erzählelemente zu finden, bei der die Illusion
einer unmittelbar greifbaren Wirklichkeit durch eine detailreiche und sehr genaue
Darstellung der Sachverhalte bzw. Ereignisse aufrechterhalten wird. An manchen
Stellen scheint durch die Präsentation der Figurenrede die Distanz zum Erzählten
sehr reduziert. Ein Beispiel für eine Figurenrede im dramatischen Modus ist die
folgende Textstelle, in der gegen Ende des Werkes der junge Elias mit seiner Mutter
diskutiert bzw. sich gegen deren Anschuldigungen verteidigt:
»Nichts hast du gelernt! Sonst wüßtest du, daß man daran nicht mehr denkt, wenn die Leute ins Unglück geraten sind. Ich hab`s in Wien gesehen, und ich kann`s nicht vergessen, ich hab`s immer vor Augen.« »Warum willst du, daß ich es sehe? Ich kann`s mir doch vorstellen.« »Wie aus einem Buch, nicht wahr! Du denkst, es genügt, daß man von etwas liest, um zu wissen, wie es ist. Es genügt aber nicht. Die
72
Wirklichkeit ist etwas für sich. Die Wirklichkeit ist alles. Wer sich vor der Wirklichkeit drückt, verdient es nicht zu leben.« (GZ, S. 326)
Denn hier fehlen jegliche Kommentare des Erzählers und die Figurenrede wird auch
ohne „verba dicendi“236 präsentiert, daher ohne „sagte ich“ oder „antwortete sie“
etc.. In diesem Fall distanzieren lediglich die Anführungszeichen den Leser/die
Leserin von der unmittelbaren Rede und durch diese unmittelbare Darstellung
erscheinen tatsächlich nur die erlebten Inhalte des Gesprächs vordergründig und
die Illusion der gegenwärtigen Rede wird hervorgerufen.
Zur Perspektivierung bzw. zur Fokalisierung kann festgestellt werden, dass es sich
um eine Nullfokalisierung handelt, die auch als auktoriale Erzählhaltung
umschrieben werden kann, da der Erzähler mehr weiß als die Figuren.237 Dies zeigt
sich vor allem, indem der Erzähler auf Zukünftiges bzw. auf Ereignisse der
Erzählzeit Bezug nimmt, die die Figuren in der erzählten Welt noch nicht wissen
können:
Heute weiß ich sehr wohl, daß er mir über etwas hinweghelfen wollte, über das hinwegzukommen mir nicht erlaubt war. (GZ, S. 283)
Ich bin nie wieder in diesem Tal gewesen, es wird sich in einem halben Jahrhundert, besonders diesem letzten, wohl sehr verändert haben. (GZ, S. 311)
Bei den nächsten Analysefragen, die sich unter der Kategorie „Stimme“
subsumieren, handelt es sich um den „Zeitpunkt des Erzählens“, den „Ort“ bzw. die
„Ebene der Erzählung“ und die „Stellung des Erzählers zum Geschehen“. Zum
„Zeitpunkt des Erzählens“ kann durch die Verwendung des Präteritums eindeutig
festgestellt werden, dass es sich um ein späteres Erzählen handelt. Doch bei den
Erlebnissen, die im dramatischen Modus unmittelbar dargestellt werden, wird
stattdessen das Präsens verwendet. Der Erzähler erzählt von der Kindheit des
Protagonisten und an manchen Stellen findet man auch Angaben, wie lange diese
Ereignisse ungefähr zurückliegen. Bei der Erzählung vom Sommer 1920, den er mit
seiner Mutter und seinen Brüdern in Kadersteg bzw. im Lötschental verbrachte,
findet sich die Anmerkung, dass er bis zur Erzählzeit nicht mehr dort gewesen sei
und, dass sich in einem halben Jahrhundert viel verändert wird haben (vgl. GZ, S.
311). Somit kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Erzählzeit
236
Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 53. 237
Vgl. ebd. (Anm. 11), S. 67.
73
ungefähr um das Jahr 1970 handelt. Da das Werk 1979 erstmals verlegt und
herausgegeben worden ist, stimmt diese Angabe auch ungefähr mit der Zeit
überein, in der das Werk erstmals erschienen ist. Eine weitere Zeitangabe, die auf
die Erzählzeit verweist, findet sich, indem er seine Hochschätzung in Bezug auf den
Naturgeschichtelehrer Karl Fenner ausdrückt:
Falls er, ein Neunzig-, ein Hundertjähriger, noch auf der Welt sein sollte, so möge er wissen, daß ich mich vor ihm verneige. (GZ, S. 283)
Bei diesem Werk handelt es sich hauptsächlich um eine Erzählung auf der
extradiegetischen Ebene. Dies ist die erste Ebene, in der es sich um reines
Erzählen handelt, denn der Rahmenerzähler erzählt seine Geschichte aus seinem
eigenen Gedächtnis:
Aber obwohl ich jedem Wort und jeder Bewegung des Großvaters folgte, freute ich mich während der ganzen Dauer der Vorlesung auf das Ende. (GZ, S. 33)
Ein Beispiel für eine intradiegetische Erzählung in diesem Werk ist die
Binnenerzählung der Mutter, die Canetti Auskunft gibt über seine erste Erinnerung,
die er sich alleine nicht erklären kann:
Am Rot überall erkennt sie die Pension in Karlsbad, wo sie mit dem Vater und mir den Sommer 1907 verbracht hatte. Für den Zweijährigen haben sie ein Kindermädchen aus Bulgarien mitgenommen, selbst keine fünfzehn Jahre alt. […] Die Drohung mit dem Messer hat ihre Wirkung getan, das Kind hat zehn Jahre darüber geschwiegen. (GZ, S. 9-10)
Wiedergegebene erzählte Erzählungen sind jedoch im Gegensatz zur Erzählung auf
der extradiegetischen Ebene selten in diesem Werk. Da der Erzähler gleichzeitig
auch der Protagonist der Erzählung ist und somit zwei Rollen umfasst, das
erzählende Ich und das erzählte Ich, kann bei der Stellung des Erzählers zur
Erzählung von einem homodiegetischen Erzähler gesprochen werden. Da es sich
beim Erzähler auch um die Hauptfigur handelt, kann die Stellung auch als
autodiegetisch bezeichnet werden.238 Die daraus ergebenden Erzählertypen sind
der extradiegetisch-homodiegetische Typ, der Erzähler erster Stufe, der seine
eigene Geschichte erzählt und der intradiegetisch-homodiegetische Typ, der
Erzähler zweiter Stufe, der aus zweiter Hand seine eigene Geschichte erzählt bzw.
ergänzt.
238
Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 85.
74
4.2.3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und Canettis „Die gerettete Zunge“ aus der erzähltheoretischen Analyse
Aufgrund der intellektuellen Feindschaft zwischen Bernhard und Canetti erweist sich
das Herausarbeiten von auf erzähltheoretischem Weg gefundenen
Gemeinsamkeiten und Unterschieden als besonders interessant.239 Es kann
festgehalten werden, dass sich die beiden Werke erzähltheoretisch sehr ähnlich
sind.
In beiden Werken gibt es Elemente einer narrativen Anachronie, wobei sowohl
Prolepsen als auch Analepsen zu finden sind. Grundsätzlich wird in „Ein Kind“ die
Zeit des Protagonisten von der Geburt bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr
behandelt und in „Die gerettete Zunge“ die Zeit von der Geburt bis zu seinem
sechzehnten Lebensjahr. Beide Erzählungen beginnen nicht chronologisch mit der
Geburt ihrer Helden. Bei Bernhard wird rückwendend erst ab Seite 56 von seiner
Geburt berichtet und bei Canetti wird das Jahr 1905 seiner Geburt zwar im Untertitel
des ersten Teils „Rustschuk 1905-1911“ angeführt, doch die Erzählung beginnt bei
seiner ersten bewussten Erinnerung im Jahr 1907. In beiden Werken gibt der
Erzähler immer wieder kommentierend eine Vorausschau auf die gesamte ihm
bekannte Lebensgeschichte bzw. auf Lebensdaten bzw. Ereignisse, die weit über
die erzählte Zeit hinausgehen. Die Differenzen zwischen Erzählzeit und erzählter
Zeit werden immer wieder verdeutlicht. Charakteristisch für die Gattung
Autobiografie werden sowohl bei Canetti als auch bei Bernhard die Ereignisse in
Hinblick auf ihre Bedeutung für das weitere Leben durch den Erzähler kommentiert.
Die ersten Lebensjahre können in beiden autobiografischen Erzählungen dem
zeitraffenden Erzählen zugeordnet werden. Die oberflächliche Behandlung der
ersten Lebensjahre hängt damit zusammen, dass ein Erwachsener nur sehr wenige
Erinnerungen von seinen ersten Lebensjahren behält. Diese Tatsache trägt auch
zur Glaubwürdigkeit der Erzählungen bei, denn ein Autor kann schlecht aufrichtig
von seinen eigenen Erinnerungen über seine Geburt oder seinen ersten
Lebensmonaten berichten, da diese meist nicht vorhanden sind und somit müsste
er sich auf die Nacherzählungen anderer Personen verlassen. Zeitsprünge finden
239
Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 121.
75
sich in beiden Erzählungen, doch nur der Erzähler in Canettis Werk kommentiert
diese in der überwiegenden Anzahl der Fälle. Zur Analysekategorie „Zeit“ ist noch
festzustellen, dass das Werk von Canetti durch die Aufteilung in fünf Teile, wodurch
die Ereignisse den einzelnen Zeitabschnitten und dem jeweiligen Ort zugeteilt sind,
sichtlich chronologisch gegliedert ist. Bei Bernhard gibt es keine offensichtliche
Gliederung in Kapitel oder Teile. Die Chronologie wird somit bei Bernhard öfters
grob durchbrochen. Auch bei Canetti gibt es Elemente der narrativen Anachronie,
doch im Kontrast zu Bernhard nur innerhalb eines Teiles bzw. eines vorgegebenen
Zeitabschnittes. Aufgrund dessen und der Tatsache, das Canetti im Gegensatz zu
Bernhard Zeitbrüche kommentiert, kann konstatiert werden, dass Canetti zeitlich
genauer bzw. behutsamer mit der Erzählung seiner Kindheits- und
Jugenderlebnisse umgeht. Dadurch vermittelt Canetti dem Leser/der Leserin das
Gefühl, das er aufrichtig versucht hat, den Eindruck eine realitätsgetreue Abbildung
seiner Kindheit und Jugend verfasst zu haben, aufrechtzuerhalten. Vor allem durch
die Gliederung in die fünf Zeitabschnitte weist die Autobiografie Ähnlichkeiten mit
einem historischen Geschichtsbuch auf. Bernhard ist bezüglich der Kategorie „Zeit“
freier mit seinen Erlebnissen aus der Kindheit und Jugend umgegangen, wodurch
es zum Beispiel Zeitsprünge gibt, die nicht vom Erzähler kommentiert werden.
Wie es für Kindheits- und Jugendautobiografien zu erwarten ist, spielen bei beiden
Werken die Hauptbezugspersonen in den frequentiertesten Erzählmomenten eine
tragende Rolle. Bei Bernhard handelt es sich um Ereignisse oder um verbrachte
Zeit mit seinem Großvater mütterlicherseits und/oder mit seiner Mutter und bei
Canetti hauptsächlich um die prägenden Einflüsse seiner Mutter und seines Vaters,
der schon sehr früh verstorben ist. Bei Canetti findet man auch hoch frequent
Textstellen, durch die der Erzähler betont, wie sehr der Protagonist schon immer die
Sprache und das Lesen geschätzt hat. Solche Erzählmomente findet man bei
Bernhard kaum, doch stattdessen werden oftmals die Gedanken und Aussagen des
Großvaters mütterlicherseits nacherzählt, die bei Canetti einen nicht so hohen
Stellenwert einnehmen. Grundsätzlich kann angenommen werden, dass
Erzählmomente, die hoch frequent vorkommen, dem Autor besonders wichtig
erscheinen bzw. dass sie als prägend für die weitere Entwicklung eingeschätzt
werden. Die meisten schriftlich festgehaltenen Ereignisse stellen singulative
76
Erzählungen dar. Doch auch iterative Erzählmomente finden in beiden Werken ihren
Niederschlag.
Sowohl bei Canettis als auch bei Bernhards Werk kann in Bezug auf den „Modus“
eine Nullfokalisierung festgestellt werden. Denn die Erzähler wissen mehr als die
Figuren, da sie auf Zukünftiges verweisen können und sie schon wissen, welche
Auswirkungen bestimmte Ereignisse nach sich ziehen.
Hinsichtlich der „Unmittelbarkeit“ bzw. der „Distanz“ ist in Bernhards Werk der
Erzähler immer als vermittelnde narrative Instanz anwesend und er fasst in
summarischer Form die Gedanken, Meinungen und Erlebnisse der Figuren
zusammen und stellt sie kommentierend dar. In Canettis „Die gerettete Zunge“ gibt
es hingegen Textstellen, in denen die vermittelnde narrative Instanz ganz
ausgeschaltet wird und bei denen man das Gefühl hat, man sei als Leser
unmittelbar beim Geschehen dabei. Dieses Gefühl wird durch eine besonders
detailgetreue Erzählung, gepaart mit einem langsamen, scheinbar deckenden
Erzähltempo erreicht. Zum Teil werden in Diskussionen die „verba dicendi“ ganz
weggelassen, wodurch die Distanz zum Geschehen auf ein Minimum reduziert wird.
Doch diese Erzählmomente überwiegen auch nicht in Canettis Werk und im Großteil
der Erzählung ist die vermittelnde narrative Instanz des Erzählers anwesend und
kommentiert das Geschehene wie bei Bernhard. Verbunden mit dem Eindruck der
Unmittelbarkeit ist auch die Verwendung der Zeitform. Die Verwendung des
epischen Präteritums in der gesamten Autobiografie Bernhards erzeugt eine
gewisse Distanz zum Geschehen. Bei Canetti wird nicht durchgängig dieselbe
Zeitform verwendet. Textstellen, die im dramatischen Modus dargestellt sind, stehen
in Präsens und Ereignisse, die vom Erzähler kommentiert werden, sind im epischen
Präteritum verfasst. Ganzheitlich betrachtet zeigt die erzähltheoretische Analyse,
dass Bernhard im Gegensatz zu Canetti eine größere Distanz zum Geschehen
aufbaut. Die Lebhaftigkeit von Erinnerungen wird bei Bernhard stattdessen durch
Prolepsen verdeutlicht, wie zum Beispiel, indem kommentierend verdeutlicht wird,
wie einprägend ein bestimmtes Ereignis war und wie detailgetreu man es dadurch
noch heute, zur Erzählzeit in Erinnerung behalten hat (vgl. EK, S. 150).
Beide Autoren erzählen großteils auf extradiegetischer Ebene, wodurch die
Glaubwürdigkeit des Erzählten erhöht wird. Denn von Ereignissen zu berichten, die
man selbst erlebt hat, ist authentischer und glaubwürdiger, als etwas aus zweiter
77
Hand wiederzugeben. Dennoch finden sich auch intradiegetische Elemente, da man
bei manchen Sachverhalten auf die Erinnerungen anderer Personen zurückgreifen
muss, um ein umfassenderes Bild zu erhalten. Der intradiegetische Ort des
Erzählens wird vor allem dann gewählt, wenn die eigene Person diesbezüglich nicht
verlässlich Auskunft geben kann. Beispiele dafür wären die Wiedergabe von
Lebensdaten anderer Figuren oder Ereignisse, bei denen man selbst nicht dabei
oder man noch zu jung war, sodass man sie nicht aktiv wahrnehmen konnte, um sie
später verlässlich in Erinnerung zu rufen.
Zur Stellung des Erzählers zum Geschehen kann gesagt werden, dass es sich
sowohl bei Bernhard, als auch bei Canetti um einen homodiegetischen Erzähler
handelt, da er jeweils zwei Rollen einnimmt, die Rolle des Erzählers und der Figur
im erzählten Geschehen. Somit ist der extradiegetisch-homodiegetische Typ in
beiden Werken der am häufigsten vorkommende Erzähltyp. Da es sich um
Autobiografien handelt, kann sowohl vom homo- als auch vom autodiegetischen
Erzähler gesprochen werden. Die Erzählsituationen können als auktorial klassifiziert
werden. Denn der Erzähler zeigt sich allwissend und bringt somit Kommentare und
Anmerkungen an, die Informationen über das Geschehene hinaus geben und auf
zukünftige Geschehnisse und Auswirkungen hinweisen.
4.3) Hermeneutische Analyse: Die Inszenierung des Künstlerdaseins
Bei der hermeneutischen Analyse wird die Frage behandelt, wie einzelne
Handlungselemente in einen überzeugenden Zusammenhang gebracht werden. Die
analysierte Handlungsebene wird im Ordnungsschema in die großen Bereiche
„Handlung“, „erzählte Welt“, „Figur“ und „Raum“ aufgeteilt.240 Bezüglich der
Analysekategorie „Handlung“ wird untersucht, wie die biografische Erzählung in
einzelne Handlungselemente bzw. biografische Episoden zerlegt werden kann,
wobei nicht weiter zerlegbare Einheiten als Motiv bezeichnet werden.241 Bei der
Frage nach der Motivierung wird analysiert, wie die einzelnen Motive in einen
240
Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 111-160. 241
Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 204-219.
78
sinnstiftenden Zusammenhang gebracht werden können. Dieser Analysepunkt
umfasst die „erzählte Welt“, wobei die Motivierung des Erzählten im Text meist
unausgesprochen bleibt und somit Freiraum gelassen wird für Interpretationen.242
Doch es kann festgehalten werden, dass Biografien nie wertfrei ein Leben
darstellen, sondern dass die Handlungen für die Autobiografen von besonderer
Bedeutung zu sein scheinen, weil sie zum Beispiel typisch für einen historischen
Zeitraum sind oder weil sich der Autobiograf dadurch auf bestimmte Art und Weise
ins Licht rückt. Zu dieser Analyseebene gehören auch die Fragen nach der
Figurenkonstellation und den Figurenbeziehungen. Denn biografische Handlungen
bestehen vor allem aus Figurenhandlungen. Durch den letzten Analyseunterpunkt
„Raum“ wird klar, dass es in Autobiografien oft bedeutende Raumwechsel gibt, die
zum Teil veränderungsbetont angelegt sind.243 Es wird untersucht, welche Raum-
bzw. Ortswechsel vorkommen und ob diese mit einem bestimmten
Entwicklungsschritt verbunden werden können. Denn Orte und Räume strukturieren
Biografien zusätzlich und können ebenfalls als sinntragende Elmente angesehen
werden.
Im Weiteren wird Ausschau gehalten nach bestimmten Vorzeichen für das spätere
Schaffen als Künstler bzw. Autor, die sich bereits aus den Kindheits- und
Jugenderinnerungen ergeben. Da die Künstlerkonzeptionen von kulturellen als auch
zeitlichen Faktoren abhängen und die beiden Autobiografien ungefähr um dieselbe
Zeit erschienen sind, stellt sich die Frage, welche Parameter aus der Kindheit bzw.
Jugend man aus den beiden Autobiografien dieser Zeit, als Vorboten für das
spätere Autoren- bzw. Künstlerleben ermitteln kann. Die Autobiografien werden
nach den konstanten und den variierenden Elementen des Künstlerhabitus
analysiert. Die konstanten Elemente stellen nach Ernst Kris und Otto Kurz das
„frühe Talent“, die „Virtuosität“ als auch die „Außergewöhnlichkeit bzw.
Überlegenheit der Künstlerpersönlichkeit“ gegenüber anderen Personen dar.244
Nach Christopher Laferl und Anja Tippner können die konstanten Elemente durch
„Genialität“, „tiefer gehende Weltsicht“ und „Extravaganz“ ergänzt werden.245 Die
variierenden vier Komponenten, die nach John Clausen aus den „persönlichen
242
Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11), S. 132. 243
Vgl. Klein: Handbuch Biographie (Anm. 1), S. 211. 244
Vgl. Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 123-124, S. 131. 245
Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 10.
79
Ressourcen“, wie zum Beispiel „Aussehen“, „Intelligenz“, „Stärke“, „Gesundheit“ und
„Temperament“, aus den Ressourcen an „intellektueller Unterstützung und
Anleitung“, aus dem „Zugang zu Lebenschancen“ und aus den „persönlichen
Anstrengungen und Bemühungen“ bestehen, stellen den weiteren Analyserahmen
dieser Arbeit dar.246
4.3.1) Hermeneutische Analyse von Bernhards „Ein Kind“
Die Analyse beginnt mit der Frage, wie die einzelnen Handlungselemente zu einem
sinnstiftenden Zusammenhang verknüpft sind. Dazu wird zuerst im Bereich der
Handlung bzw. der erzählten Welt die biografische Erzählung in biografische
Episoden bzw. in Motive zerlegt.
Als erste biografische Episode ist die Waffenradgeschichte zu nennen. Anhand
dieser wird sein außerordentlicher Ehrgeiz betont:
Es wäre ganz gegen meine Natur gewesen, nach einigen Runden wieder abzusteigen; wie in allem trieb ich das nun einmal begonnene Unternehmen bis zum Äußersten. (EK, S. 8)
Dieser Ehrgeiz geht auch mit besonderem Stolz und dem unbändigen Wunsch nach
Ankerkennung und Bewunderung einher:
Sie müßten einsehen, daß ich mich doch immer, gegen die größten Hemmnisse und Widerstände, durchsetzte und Sieger sei! […] Vor allem wünschte ich, […] mein wie nichts auf der Welt geliebter Großvater könnte mich auf dem Fahrrad sehen. (EK, S. 9)
Das Misslingen des Vorhabens durch den Sturz führt zur Angst des Protagonisten
vor den Konsequenzen und damit einhergehend werden zwei wichtige Motive, die
das gesamte Werk durchziehen, gut in die Erzählung eingegliedert. Die beiden
angesprochenen Motive sind das schwierige Verhältnis zur alleinstehenden Mutter
mit dem damit verbundenen Wunsch nach Anerkennung und die unbändige Liebe
zum Großvater, der eine Ankerfunktion für den jungen Thomas, der bei der
überforderten Mutter nicht richtig Halt finde, erfüllt. Immer wieder werden bei diesem
biografischen Moment die Außergewöhnlichkeit des jungen Thomas und das damit
verknüpfte, schwierige Verhältnis zur Mutter angesprochen:
Ich liebte meine Mutter, aber ich war ihr kein lieber Sohn, nichts war einfach mit mir, alles Komplizierte meinerseits überstieg ihre Kräfte. (EK, S. 14)
246
Vgl. Clausen: Die gesellschaftliche Konstitution individueller Lebensläufe (Anm. 137), S. 207.
80
Der Protagonist wird durch die ausgereiften Kommentare und Reflexionen als
außergewöhnlich erwachsen dargestellt. Wenn jedoch trotz allem ein typisch
kindhaftes Verhalten in der Erzählung abgebildet wird, wird diese Tatsache auch
vom Erzähler thematisiert. So weint er in der Wirtsstube, nachdem ihm das
Abenteuer mit dem Waffenrad durch einen Sturz missglückt ist und dies wird
folgendermaßen kommentiert: „Das Kind fiel aufeinmal wider kopfüber in seine
Kindheit hinein“ (EK, S. 16). Eingegliedert in die Waffenradgeschichte wird auch
von psychischen Verletzungen durch die Mutter und von sogenannten
Gewohnheitssätzen des Großvaters, die als prägend dargestellt werden, berichtet:
Da mich die körperliche Züchtigung letztenendes immer unbeeindruckt gelassen hat, was ihr niemals entgangen war, versuchte sie, mich mit den fürchterlichen Sätzen in die Knie zu zwingen, sie verletzte jedes Mal meine Seele zutiefst, wenn sie Du hast mir noch gefehlt oder Du bist mein ganzes Unglück, Dich soll der Teufel holen! Du hast mein Leben zerstört! Du bist ein Nichts, ich schäme mich Deiner! Du bist so ein Nichtsnutz wie Dein Vater! Du bist nichts wert! Du Unfrieden-Stifter! Du Lügner! sagte. Das ist nur eine Auswahl ihrer von Fall zu Fall gegen mich ausgestoßenen Verfluchungen, die nichts als ihre Hilflosigkeit mir gegenüber bewiesen. (EK, S. 38)
Die Hochschätzung der Denkkraft und die damit verbundene Außergewöhnlichkeit
des jungen Thomas werden oft zur Sprache gebracht. Es wird zum Beispiel
berichtet, dass er durch das Legen von Steinen auf Gleisen, Züge entgleisen sehen
will:
Zur Vollendung unser anarchistischen Absichten fehlte es uns an Körperkraft, nicht an den geistigen Fähigkeiten. (EK, S. 21)
Der Großvater habe ihn auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Denkfähigkeit
lebensnotwendig sei (vgl. EK, S. 23). Ein wichtiges Motiv ist auch die Darstellung
der Bedeutsamkeit von einzelnen Ansichten bzw. Sätzen seines Großvaters für sein
weiteres Leben:
Wir müssen nur tätig sein, niemals untätig, dieses großväterliche Wort hatte ich immer im Ohr, auch heute noch bestimmt es meinen Tagesablauf. (EK, S. 25-26)
Als Gründe für das schwierige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn wird einerseits
die Kompliziertheit des Jungen angegeben und andererseits wird auch die
Aussehensähnlichkeit zum Vater dafür verantwortlich gemacht. Es wird
beschrieben, dass der Hass gegen den Vater, der dem Protagonisten verblüffend
ähnlich sieht, der Liebe seiner Mutter im Weg steht (vgl. EK, S. 38-39).
81
Kontrastierend werden oftmals die Verletzungen durch die Mutter den erlösenden
Worten des Großvaters gegenübergestellt:
Ich sei ein Versager, wenn ich es zum Maurerpolier brächte, das wäre schon von allen weiteren Zielen das höchste. Immer drohte sie mir mit dem Wort Maurerpolier, es war einer ihrer geschliffensten Waffen. Tatsächlich stach sie mir mit diesem Wort direkt ins Herz. (EK, S. 41)
Wohingegen der Großvater die erlösende Ansicht vertritt:
Ich sei überdurchschnittlich intelligent, die Lehrer kapieren das nicht, sie seien die Stumpfsinnigen, nicht ich, ich sei der Aufgeweckte, sie seien die Banausen. (EK, S. 42)
Es wird somit oft dialektisch von der Anerkennung durch den Großvater und von
den (psychischen) Verletzungen bzw. dem fehlenden Verständnis der Mutter
berichtet. Auch die biografische Episode des Waffenradabenteuers wird durch eine
„Erlösung“ vom Großvater beendet. Die Großeltern bringen ihn zum Essen zur
Mutter mit und der Großvater verteidigt ihn vor der Mutter, wobei er immer wieder
die Außergewöhnlichkeit des Protagonisten zum Ausdruck bringt:
Wenn wir es den Eltern schwer machen, wird etwas aus uns, sagte er. Gerade diese sogenannten schwierigen Kinder werden etwas. Und gerade sie lieben ihre Eltern über alles, mehr als alle anderen. Aber das verstehen die Eltern nicht. (EK, S. 54)
Auf die erste große biografische Episode der Waffenradgeschichte folgt der
Rückblick auf seine Geburt und auf seine ersten Lebensmonate. Dabei werden die
schwierigen Verhältnisse der Mutter mit einem unehelichen Kind und der damit
einhergehende, außergewöhnliche Aufenthaltsort des Säuglings beschrieben. Die
Geburt findet in einem Kloster in Heerlen statt, das auf sogenannte „gefallene
Mädchen“ spezialisiert ist (vgl. EK, S. 58). Da die Mutter arbeiten muss, bringt sie
ihn als Pflegekind bei einer Fischerin unter, die die Neugeborenen in Hängematten
auf dem Fischkutter unterbringt. Im Anschluss auf diese biografische Episode wird
ein Motiv der Berichterstattung verdeutlicht, indem der Erzähler auf die prägenden
Auswirkungen dieser Zeit auf das gesamte bisherige Leben des Protagonisten
eingeht:
Natürlich sind aus dieser Zeit keinerlei Eindrücke zurückgeblieben, allerdings, denke ich, prägt mein damaliger Meeraufenthalt meine ganze Geschichte. Manchmal kommt es mir vor, wenn ich den Geruch des Meeres einatme, als wäre dieser Geruch meine erste Erinnerung. Nicht ohne Stolz denke ich oft, bin ich ein Kind des Meeres, nicht der Berge. (EK, S. 60)
82
Anschließend wird die Zeit in Wien behandelt, wobei wiederum die
Außergewöhnlichkeit des Protagonisten betont wird:
Die Landschaft um den Wilhelminenberg ist mild überstrahlt von der Nachmittagssonne, mein Ich, auf welches sich alles übrige konzentriert, fordert die totale Bewunderung. (EK, S. 65)
Es kann auf jeden Fall festgestellt werden, dass die Raum- und Zeitwechsel den
biografischen Roman strukturieren und die biografischen Episoden sehr stark daran
angelegt sind. Die gebotene intellektuelle Umgebung und die damit verbundene
Hochschätzung der Bildung durch den Großvater zeigen sich auch ganz deutlich in
dieser Episode:
Wir hatten aus Wien außer Tausenden von Büchern, die aber erst nachkommen sollten, nichts mitgenommen, weder Möbel noch sonst etwas, nur zwei Koffer und unsere Kleidung. (EK, S. 67)
Der biografische Abschnitt in Wien wird sehr kurz abgehandelt und darauf folgt die
Zeit am Wallersee in Salzburg.
Die erste wichtige biografische Episode an diesem Wohnort, wo sie vorerst in der
Ortsmitte wohnen, ist der erste erlebte Verlust von einem Freund. Der junge
Thomas durchlebt somit schon sehr früh sehr einprägende Erlebnisse und
Lebenserfahrungen. Er findet als Vierjähriger einen guten Freund, mit dem er sich
gut versteht und viel Zeit verbringt. Dieser Freund ist der einzige Sohn des
Käsereibesitzers Wöhrle, der zu dieser Zeit der wohlhabendste Mann der Region ist
(vgl. EK, S. 72):
Als ich mich mit meinem Freund für immer verschworen hatte, starb er, vierjährig, an einer unerklärlichen Krankheit. (EK, S. 72)
Die darauffolgende biografische Episode ist von einer gewissen Bodenständigkeit
geprägt, die durch die Spaziergänge mit dem Großvater aufgebrochen wird. Es ist
die Zeit auf dem Hippinggut, in der er die Bauernarbeit kennenlernen darf:
Manchmal war ich wochenlang in Hipping, ich schlief neben den Pferdeknechten mit meinem neuen Freund, dem sogenannten Hippinger Hansi, dem älteren von zwei Söhnen, zusammen. (EK, S. 79)
Die Spaziergänge mit seinem Großvater stehen der bodenständigen Umgebung
dialektisch gegenüber und sichern auch eine intellektuelle Prägung, die er sehr
schätzt:
Die Spaziergänge mit ihm waren fortwährend nichts anderes als Naturgeschichte, Philosophie, Mathematik, Geometrie, Belehrung, die glücklich machte. (EK, S. 82)
83
Diese Zeit ist geprägt durch die innige Freundschaft mit dem Hippinger Hansi, der
im selben Alter ist wie der Protagonist und sehr strenge Eltern hat:
Die Strenge seiner Eltern galt auch für mich, auf dem Hippingerhof herrschten Zucht und Ordnung, die Menschen behandelten sich selbst oft nicht so gut wie das Vieh. (EK, S. 83)
Das nächste wichtige biografische Motiv fällt auch in diese Zeit und behandelt den
wichtigen Entwicklungsschritt der Einschulung. Gemäß seiner beschriebenen
Außergewöhnlichkeit wird er schon mit fünf Jahren eingeschult, da der Direktor der
Volksschule auch Buben in der Klasse möchte, da eine beinahe reine
Mädchenklasse für den Direktor langweilig sei. Auch der Hippinger Hansi darf mit
ihm gemeinsam ein Jahr früher mit der Schule beginnen. Die Besonderheit bzw.
Außergewöhnlichkeit und das frühe vielseitige Talent des Protagonisten werden an
dieser Stelle besonders hervorgehoben:
Aber ich sah doch immer anders aus als die andern [sic!], eleganter, wie mir schien, ich fiel sofort auf. (EK, S. 89)
Ich war ein guter Zeichner. Aber ich habe diese Möglichkeit nicht weiter verfolgt, sie verkümmerte wie so viele andere. Ich war der Lieblingsschüler der Lehrerin. (EK, S. 90)
In diesem ersten Schuljahr bekommt er auch ohne besondere Anstrengung lauter
Einser, wobei kommentiert wird, dass ihm die gelernten Inhalte schon vorweg
bekannt gewesen sind:
Dieses erste Jahr brachte mir, was das Wissen betraf, nichts Neues, aber ich kostete es zum erstenmal in meinem Leben aus, in einer Gemeinschaft der Erste zu sein. Es war ein Hochgefühl. Ich genoß es. (EK, S. 92)
Mit den folgenden beiden Schuljahren bricht eine neue biografische Episode an, in
der er nicht mehr als hervorragender Schüler brilliert. Für die Verschlechterung
seiner Noten wird das neue Lehrpersonal verantwortlich gemacht. Dies wird
kommentierend verdeutlicht durch Aussagen wie „Die Klasse staunte, wie dumm ich
aufeinmal war, über Nacht“ (EK, S. 92). In der dritten Klasse droht sogar das
Sitzenbleiben. Doch die Familie findet in Österreich keine Verdienstmöglichkeit und
es steht ein Umzug nach Traunstein, nach Bayern bevor. Denn dort hat sein
Vormund, der neue Mann seiner Mutter eine Anstellung gefunden und somit ist er
„dieser Schande […] entkommen“ (EK, S. 95).
84
Doch der Abschluss dieser biografischen Episode fällt ihm schwer:
Die Katastrophe bedeutete, Abschied zu nehmen von allem, das zusammen tatsächlich mein Paradies gewesen war. (EK, S. 96)
Bevor die Zeit in Traunstein anfängt, kann im Werk noch eine biografische Episode
ausgemacht werden, die unabhängig von seiner Schulzeit ist. Diese widmet sich
dem ersten Erfolg seines Großvaters als Schriftsteller mit sechsundfünfzig Jahren.
Darauf folgt ein Besuch bei einem berühmten Schriftsteller und seinen beiden
Töchtern. Die Welt der Berühmtheit übt Faszination auf den jungen Thomas aus
und er und sein Großvater finden sich gut in dieser Welt zurecht (vgl. EK, S. 102):
Wir waren arm, aber man sah es uns nicht an. Wir hatten alle eine herrschaftliche Haltung. (EK, S. 104)
Die nächste abgrenzbare Episode ist die Zeit in Traunstein, in der er nun wieder bei
seinen Eltern wohnt. In die neue Umgebung kann er sich nicht gut einfinden und
somit wird es zu einer Zeit, in der er erstmals Selbstmordgedanken hat:
Als Esterreicher hatte ich es schwer, mich zu behaupten. Ich war dem Spott meiner Mitschüler vollkommen ausgeliefert. Die Bürgersöhne in ihren teuren Kleidern straften mich, ohne daß ich wußte, wofür, mit Verachtung. Die Lehrer halfen mir nicht, im Gegenteil, sie nahmen mich gleich zum Anlaß für ihre Wutausbrüche. Ich war so hilflos, wie ich niemals vorher gewesen war. Zitternd ging ich in die Schule hinein, weinend trat ich wieder heraus. (EK, S. 113)
Wenn ich nur sterben könnte! war mein ununterbrochener Gedanke. (EK, S. 114)
Auch in dieser verzweifelten Lage wünscht er sich seinen Großvater, der als
„Erlöser“ des jungen Thomas dargestellt wird:
Ich wünschte nur noch eines auf der Welt: daß mein Großvater kommt und mich rettet, bevor es zu spät ist. Ich hatte keine Zeit mehr. Ich war am Ende. Statt dem Ende kam die Erlösung. (EK, S. 115)
Sein Großvater erhält somit ein paar Mal in diesem autobiografischen Roman die
Stellung als Messias und Retter.
Seine Leistungen in der Schule verbessern sich jedoch auch in Traunstein nicht. Die
Außergewöhnlichkeit bzw. das vielseitige Talent und die krankhafte Abneigung des
Protagonisten gegen die Schule, die ihm von seinem Großvater eingetrichtert wird
(vgl. EK, S. 124), werden für den Misserfolg in der Schule verantwortlich gemacht:
Ich war der Talentierteste, gleichzeitig der Unfähigste, was die Schule betrifft. Meine Talente waren nicht, wie man glauben möchte, meinem Schulfortschritt förderlich, sie behinderten alles in höchstem Maße. (EK, S. 124)
85
Historisch gesehen gehört Österreich in dieser Episode nun zu Deutschland und
aufgrund des herrschenden Nationalsozialismus muss er nun auch zum „Jungvolk“
gehen, einer Vorstufe zur sogenannten „Hitlerjugend“, die für ihn noch entsetzlicher
als die Schule ist (vgl. EK, S. 127).
Die nächste biografische Episode wird eingeleitet mit den Besuchen der Frau Dr.
Popp, die im Auftrag der Fürsorge arbeitet, um die als arm registrierte Familie zu
unterstützen. Frau Dr. Popp schickt den Protagonisten auf Erholung nach Saalfeld,
das sich als nationalsozialistisches Heim für schwer erziehbare Kinder entpuppt.
Aufgrund der psychischen Belastungen in der Schule und in der Umgebung wird er
nämlich zusätzlich zum „Unruhestifter“ auch noch zum „Bettnässer“ (vgl. EK, S.
137). Deswegen wird er von seiner Mutter gedemütigt, die als erzieherische
Maßnahme seine nassen Leintücher aus dem Fenster hängt, damit sie alle sehen
können. In Saalfeld gehen die Demütigungen aufgrund des Bettnässens weiter. Dort
findet er einen Leidensgenossen namens Quehenberger, der die sogenannte
„Englische Krankheit“ hat und der sein Leintuch oftmals mit Kot beschmutzt (vgl.
EK, S. 145). Es ist eine Episode seiner Kindheit, die durch Verzweiflung geprägt ist
und in der Demütigungen an der Tagesordnung sind. In dieser Zeit muss er einmal
bei einem Theaterstück einen Engel spielen. Er hat Probleme mit dem
Auswendiglernen, mit denen er auch noch zur Erzählzeit zu kämpfen hat und somit
versagt er in dieser Rolle, da ihm der Text entfällt (vgl. EK, S. 149). Diese
Theaterblamage erweist sich als äußerst einprägendes, negatives
Kindheitsereignis, das ihn an seinen Fähigkeiten zweifeln lässt.
In der darauffolgenden biografischen Episode ist er wieder zurück in Traunstein.
Historisch gesehen ist es die Zeit der sogenannten Terrorangriffe (vgl. EK, S. 152).
Diese Episode kann für Bernhard als Zeit des Aufschwungs bzw. der psychischen
Besserung gesehen werden und auch sein Großvater verdient zum ersten Mal
Geld, da zwei Bücher von ihm gedruckt werden (vgl. EK, S. 153). Der Großvater
sucht für den Enkel zur Entfaltung seiner Talente eine Kunstbeschäftigung. Somit
wird eine Staffelei für die Malkunst angeschafft und auch Geigenunterricht darf er
besuchen. In dieser Zeit brilliert er im „Jungvolk“ als Läufer und durch die vielen
errungenen Siegernadeln wird er zum Helden der Schule (vgl. EK, S. 154). Durch
die Erfolge stellt sich eine psychische Stabilisierung ein und damit auch sein
Bettnässen.
86
Er findet einen Weg aus der Verzweiflung, indem er durch die gewonnenen
Laufdisziplinen Bewunderung und Anerkennung erntet:
Bei der Siegerehrung […] machte ich dem Helden, der ich jetzt war, alle Ehre. Ich entsprach dem Bild seiner Vollkommenheit. (EK, S. 156)
Um die finanzielle Situation der Familie aufzubessern, arbeitet er sogar als Schüler
für einen Pfarrer, indem er die Totenglocke läutet und für einen Bäcker, indem er
Brot austrägt. Dabei wird auch sein überaus großer Ehrgeiz betont, wodurch er
auch seine physischen Schwächen als Schüler kompensiert. Im Werk kommentiert
er diesen Sachverhalt folgendermaßen „[…] aber mein Ehrgeiz war immer größer
als meine Kräfte“ (EK, S. 160). Er wird als armes Kind beschrieben, denn er muss
sich im Gegensatz zu den anderen Kindern das Geld für den Jahrmarkt selbst
verdienen.
Der Elfjährige findet mit Inge Winter eine neue Freundin. In dieser Zeit streicht er
das eingangs bereits erwähnte Steyr-Waffenrad öfters mit silberner Farbe und
durchradelt damit die ganze weite Umgebung von Traunstein. Somit endet das
Werk beinahe mit derselben Zeitepisode, wie es beginnt. Er ist zwar am Ende der
biografischen Erzählung schon dreizehn Jahre alt, doch am selben Ort wie zu
Beginn der Handlung. Die erneute Erwähnung des Waffenrades schließt an den
Anfang an.
Die letzte Erzählepisode umfasst die Schulsuche für die weiterführende
Schullaufbahn. Nach der Aufnahmeprüfung in Passau, die er mit besonderer
Auszeichnung absolviert, bestimmt sein Großvater Salzburg für ihn als Schulstadt,
da er diese Stadt als besser geeignet für seinen Enkel betrachtet (vgl. EK, S. 167).
Durch die Aufgliederung in einzelne Erzählepisoden bzw. in biografisch
sinntragende Elemente zeigt sich, dass mit den unterschiedlichen
Wohnumgebungen, die mit bestimmten Entwicklungsschritten verbunden sind, auch
die unterschiedlichen Figurenkonstellationen einhergehen. Damit sind vor allem die
unterschiedlichen Freunde in den biografischen Episoden gemeint. Bei diesen
Beziehungen ist das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter und das äußerst gute
Verhältnis zu seinem Großvater mütterlicherseits hervorragend. Die beiden Figuren
erweisen sich als Hauptbezugspersonen und die Beziehung zu ihnen wird im
gesamten Werk thematisiert. Sie können als Konstante trotz der häufigen
Ortswechsel wahrgenommen werden. Die Figurenkonstellationen strukturieren die
87
Autobiografie zusätzlich und sind verknüpft mit den verschiedenen Orten, in denen
der junge Bernhard gelebt hat.
Alle konstanten Elemente wie „frühes Talent“, „Überlegenheit und
Außergewöhnlichkeit“ gegenüber anderen Menschen, „tiefer gehende Weltsicht“,
„Genialität“ und „Extravaganz“ 247 finden sich in diesem Werk. Das frühe Talent zeigt
sich einerseits anhand der frühen Einschulung, aber auch in anderen Textstellen, in
denen betont wird, dass er außergewöhnlich ehrgeizig und begabt ist:
In den ersten Schultagen, erinnere ich mich, hatten wir eine Petroleumlampe zu zeichnen, von allen abgelieferten Zeichnungen war meine am besten gelungen, die Lehrerin hob sie, vor der Klasse stehend, in die Luft und sagte, das sei die beste Zeichnung. Ich war ein guter Zeichner. Aber ich habe diese Möglichkeit nicht weiter verfolgt, sie verkümmerte wie so viele andere. (EK, S. 89-90)
Die geistigen Fähigkeiten werden schon sehr früh als stark ausgeprägt beschrieben
und dadurch wird er auch als „schwieriges Kind“ bezeichnet, das seine Mutter
überfordert (vgl. EK, S. 14).
Die Überlegenheit und Außergewöhnlichkeit des Kindes gegenüber anderen
Menschen finden in vielen Beschreibungen ihren Ausdruck. Ein Beispiel unter vielen
ist, dass er angibt, als kleines Kind bereits die Hilflosigkeit der Mutter bemerkt und
ausgenützt zu haben (vgl. EK, S. 49). Auch den damit verbundenen
Erkundungsdrang bzw. die frühe tiefer gehende Weltsicht findet man eindeutig in
diesem Werk:
Ich war drei Jahre alt, ich war überzeugt, daß wir, meine Großeltern und ich, ganz und gar außerordentliche Leute waren. Mit diesem Anspruch stand ich jeden Tag auf in einer Welt, von deren Ungeheuerlichkeit ich nur eine Ahnung hatte, ich war gewillt, sie zu erforschen, sie mir klarzumachen, aufzuschlüsseln. Ich war drei Jahre alt und hatte mehr gesehen als andere Kinder meines Alters […]. (EK, S. 70)
Durch seinen Erkundungsdrang zeigt er auch eine gewisse Virtuosität bzw. ein
außerordentliches Perfektionsstreben, die Welt aufzuschlüsseln bzw. so viel wie
möglich davon zu verstehen. Bereits mit drei Jahren denkt er an seinem
bevorzugten Platz, dem Friedhof in Seekirchen, über das Leben tiefer gehend nach:
Stundenlang saß ich auf irgendeiner Grabeinfassung und grübelte über Sein und sein Gegenteil nach. (EK, S. 70)
247
Vgl. Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 123-124, S. 131 und Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 10.
88
Intellektuell wird er vor allem durch seinen Großvater unterstützt. Diese
Unterstützung erfolgt durch die lehrenden Spaziergänge und die ausführliche
Beantwortung seiner vielen Fragen:
Während mein Großvater und ich weite Spaziergänge machten, […] während ich an der Seite des Philosophen schon einen gewissen Reifegrad erreicht hatte und tatsächlich für mein Alter überdurchschnittlich gebildet war, ohne darüber kopfüber in einen lebensbedrohenden Größenwahn zu verfallen […]. (EK, S. 105) Immer, wenn mir etwas spanisch vorgekommen war, wenn ich in meiner Aufklärungsbemühung scheiterte, lief ich, gleich von wo, zu meinem Großvater. […] Die Fragen häuften sich, die Antworten waren immer mehr Mosaiksteine des großen Weltbildes. (EK, S. 71)
Er wird als überdurchschnittlich intelligent beschrieben und zum variierenden
Element der „persönlichen Bemühungen und Anstrengungen“ kann angemerkt
werden, dass er sich ehrgeizig Wissen über die Welt aneignet. Die Extravaganz, die
auch als konstantes Element der Künstlerautobiografie angesehen wird, könnte
man mit der Außergewöhnlichkeit gleichsetzen. Ein Beispiel für Extravaganz, die
auch mit Außergewöhnlichkeit umschrieben werden kann, ist die angegebene
„krankhafte […] Sucht nach Sensationen“ (EK, S. 50), wodurch er die Mutter
überfordert. Die Genialität des Kindes zeigt sich in der Verkleidung der
Schwierigkeit:
Wenn wir es den Eltern schwer machen, wird etwas aus uns, sagte er. Gerade diese sogenannten schwierigen Kinder werden etwas. Und gerade sie lieben ihre Eltern über alles, mehr als alle anderen. Aber das verstehen die Eltern nicht. (EK, S. 54)
Sowohl der „Zugang zu Lebenschancen“, der sich aus den „Ressourcen an
Unterstützung und Anleitung“ durch den Großvater ergibt, als auch die persönlichen
Ressourcen, wie zum Beispiel die Intelligenz, das Aussehen oder die intellektuelle
Stärke, sind auf vielfältige Art und Weise in positiv ausgeprägter Form vorhanden
und deuten eine spätere intellektuelle Tätigkeit bzw. eine Künstlerlaufbahn an.
89
4.3.2) Hermeneutische Analyse von Canettis „Die gerettete Zunge“
Seine Liebe zu Sprachen und sein intellektueller Ehrgeiz finden sich im gesamten
Werk mit mehr oder weniger hervorstechenden Motiven. Seine erste Erinnerung
und der damit einhergehende Titel „Die gerettete Zunge“ weisen schon auf diesen
Sachverhalt hin. In seiner ersten Erinnerung wird ihm gedroht, dass ihm die Zunge
abgeschnitten werde, wenn er etwas vom Verhältnis des Kindermädchens zu einem
jungen Herrn verraten würde. Diese „gerettete Zunge“ leitet die Erzählung seiner
Kindheit ein, in der die Sprache bzw. Sprachen immer eine große Rolle spielen. Die
Mutter als eine der Hauptbezugspersonen wird als äußerst intellektuell beschrieben
und dies zeigt unter anderem die gebotene intellektuelle Unterstützung für den
Heranwachsenden:
Ihr Verstand war durchdringend, ihre Menschenkenntnis an den großen Werken der Weltliteratur geschult, aber auch an den Erfahrungen ihres eigenen Lebens. […] Spät habe ich erkannt, daß ich, auf die größeren Verhältnisse der Menschheit übertragen, genau wie sie bin. […] mein Stolz auf sie ist noch immer so groß, daß ich nur eines wirklich hasse: ihren Feind, den Tod. (GZ, S. 13)
Die deutsche Sprache nimmt schon sehr früh in seinem Leben einen hohen
Stellenwert ein und die Liebe zur Sprache übernimmt er von seinen Eltern. In der
Zeit in Rustschuk sprechen die Eltern oftmals untereinander Deutsch, das er nicht
verstehen kann und so wird sie für ihn zu einer Zaubersprache (vgl. GZ, S. 34). Er
versucht sich heimlich aufgeschnappte Phrasen einzuprägen, um etwas von der
Zaubersprache zu beherrschen. Dies ist unter anderem ein Indiz für die bereits im
Kindesalter gezeigte Virtuosität:
Wenn der Vater vom Geschäft nach Hause kam, sprach er gleich mit der Mutter. Sie liebten sich sehr in dieser Zeit und hatten eine eigene Sprache unter sich, die ich nicht verstand, sie sprachen Deutsch, die Sprache ihrer glücklichen Schulzeit in Wien. (GZ, S. 33) […] unter den vielen heftigen Wünschen dieser Zeit blieb es für mich der heftigste, ihre geheime Sprache zu verstehen. (GZ, S. 35)
Sein Vater liest täglich in der Früh die „Neue Freie Presse“ und der kleine Elias will
schon sehr früh herausbekommen, was den Vater dabei so fesselt. Vorerst vermutet
90
er, es könnte der Geruch sein, doch dann löst der Vater das Rätsel auf, was in ihm
die Sehnsucht weckt, lesen zu lernen:
Da sprach er zu mir, […], und erklärte mir, daß es auf die Buchstaben ankomme, viele kleine Buchstaben, auf die er mit dem Finger klopfte. Bald würde ich sie selber lernen, sagte er, und weckte in mir eine unstillbare Sehnsucht nach Buchstaben. (GZ, S. 38)
Der Mordanschlag des Protagonisten an seine Kusine Laurica, die ihm Schulhefte
mit Buchstaben vorenthält, verdeutlicht, dass ihn Buchstaben besonders faszinieren
(vgl. GZ, S. 39-42). Er zeigt somit ein äußerst temperamentvolles Handeln in Bezug
auf seine geliebte Sprache. Rustschuk als Ort seiner frühesten Kindheit trägt zu
seiner Liebe zur Sprache bzw. zu den Sprachen bei, da hier die Mehrsprachigkeit
zum guten Ton gehört:
Es war oft von Sprachen die Rede, sieben oder acht verschiedene wurden allein in unserer Stadt gesprochen, etwas davon verstand jeder, nur die kleinen Mädchen, die von den Dörfern kamen, konnten Bulgarisch allein und galten deshalb als dumm. Jeder zählte die Sprachen auf, die er kannte, es war wichtig, viele von ihnen zu beherrschen, man konnte durch ihre Kenntnis sich selbst oder anderen Menschen das Leben retten. (GZ, S. 38)
Als kleiner Junge wird er beim Fangenspielen von seiner Kusine Laurica in einen
brühend heißen Wasserkessel geschubst. Durch diesen Unfall liegt er sehr viele
Wochen unter starken Schmerzen im Bett. Der Arzt und alle Angehörigen fürchten
um sein Leben. Zu dieser Zeit ist sein Vater in England und Elias hat große
Sehnsucht nach ihm, denn er hat Angst, dass er ihn nicht wiedersehe, wenn er
sterben würde. Die anschließend beschriebene Erlösungsszene durch den Vater
verdeutlicht die Schlüsselposition bzw. die Bedeutsamkeit des Vaters für den
Jungen. Durch die wiedergewonnene Stärke des Jungen erhält der Vater die
Stellung eines Erlösers bzw. eines Heiligen:
Dann hörte ich seine Stimme, er trat von hinten an mich heran, ich lag auf dem Bauch, er rief leise meinen Namen, er ging ums Bett herum, ich sah ihn, er legte mir leicht die Hand aufs Haar, er war es, und ich hatte keine Schmerzen. […] Die Wunde verwandelte sich in ein Wunder, die Heilung setzte ein, er versprach, nicht mehr fortzugehen, und blieb während der nächsten Wochen. Der Arzt war der Überzeugung, daß ich ohne sein Erscheinen und seine weitere Gegenwart gestorben wäre. (GZ, S. 43-44)
Als wichtiges Motiv erweist sich die Herausstellung der Außergewöhnlichkeit des
Jungen. So zeigt er sich unter anderem als sehr kreativ. Ein Beispiel für die
91
außergewöhnliche Kreativität ist die Erfindung der Geschichten über die
„Tapetenleute“ (vgl. GZ, S. 51). Wenn er alleine im Kinderzimmer ist, erscheinen
ihm die vielen Kreise im Tapetenmuster als Personen und zu diesen erfindet er sehr
viele Geschichten. Dies könnte man als ersten Vorboten für seine spätere
schriftstellerische Tätigkeit ansehen. Es zeigt sich, dass er ausreichende
intellektuelle Unterstützung vonseiten seiner Eltern erfährt. So gibt zum Beispiel
seine Mutter zusätzliche Französischstunden in Auftrag (vgl. GZ, S. 67) und sein
Vater versorgt ihn mit ausreichender, für sein Alter durchaus anspruchsvolle
Lektüre. Diese Bücher finden auch ihren Niederschlag im Alltag:
Ich brachte alles, was ich damals erlebte, in Zusammenhang mit den Büchern, die ich las. (GZ, S. 69)
Zur Kreativität gesellt sich ein außergewöhnlicher Perfektionsdrang. So übt er zum
Beispiel eine Geschichte aus dem Französischunterricht immer wieder für sich, um
ja keinen Fehler zu machen bzw. um ja nicht zu stocken beim Vortrag (vgl. GZ, S.
68)
Als äußerst einprägendes Ereignis erweist sich klarerweise der Verlust seines
geliebten Vaters, der plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt:
Alle Fassungen dieses Berichts [vom Tod des Vaters] hat meine Erinnerung bewahrt, ich wüßte nicht, was ich mir verläßlicher gemerkt hätte. (GZ, S. 75)
In dem Bericht über die schlaflosen Nächte, in der der siebenjährige Elias seine
Mutter nach dem Tod des Vaters vor dem Suizid aus Verzweiflung bewahrt, der in
der Erzählung schon vor dem eigentlichen Tod des Vaters steht, zeigt sich, dass der
Junge sich als außergewöhnlich reif und verantwortungsbewusst für sein Alter
zeigen muss:
Nach der Aufregung schliefen wir beide erschöpft ein. Allmählich bekam sie eine Art von Respekt für mich, und sie begann mich in vielem wie einen Erwachsenen zu behandeln. (GZ, S. 49)
Es finden sich in der Erzählung immer wieder genaue Datierungen, so gibt es bei
allen Ortswechseln bzw. bei einschneidenden Übergängen genaue Orts- und
Datumsangaben. Der Übergang zur Zeit in Wien wird mit historischen Daten
gespickt. So sehen sie das Land bei der Fahrt durch Österreich am 18. August 1913
beflaggt, da Kaiser Franz Josephs Geburtstag ist (vgl. GZ, S. 95). Durch solche
Anmerkungen und Details werden die beschriebenen Kindheitserinnerungen
92
historisch eingebettet. Ein weiteres Beispiel für ein historisches Ereignis in der
Wiener Zeit ist die Ermordung des Thronfolgers im ersten Jahr in Wien (vgl. GZ, S.
102). Historische Ereignisse werden in der Erzählung verknüpft mit den damit
verbundenen Kindheitserinnerungen. So singen sie in der Schule nach der
Verkündigung des Todes des Thronfolgers das Kaiserlied und danach bekommen
sie schulfrei. Das Kind erfreut sich natürlich am schulfreien Tag (vgl. GZ, S. 102). In
der Wiener Zeit macht er erste antisemitische Erfahrungen als Jude, denn er wird
gemeinsam mit seinem Freund Kornfeld als Jude beschimpft (vgl. GZ, S. 102).
Die Mutter zeigt in der gesamten Erzählung außergewöhnlichen Ehrgeiz in Bezug
auf die pädagogisch intellektuelle Unterstützung des Sohnes, der sich durch den
Deutschlernprozess gut verdeutlichen lässt. Kurz vor der Übersiedelung nach Wien
im Jahr 1913 beschließt sie, dass der achtjährige Elias innerhalb kürzester Zeit
Deutsch lernen muss, da es für sie ein unerträglicher Gedanke sei, dass er
aufgrund der Unkenntnis der Sprache nicht in die altersgemäße dritte Schulstufe
aufgenommen werden könnte. Sie unterrichtet ihn privat und fordert von ihm die
allergrößte Motivation und den allerhöchsten Fleiß (vgl. GZ, S. 86-90). Durch die
ehrgeizige intellektuelle Unterstützung des Sohnes eröffnet sie ihm den Zugang zu
Lebenschancen, wie in diesem Fall den Einstieg in die altersadäquate Klasse trotz
einer neuen Sprachumgebung. Anfangs versucht sie hartnäckig ihm rein mündlich
die Sprache bei- bzw. näherzubringen, doch die rein verbale Lernmethode fällt dem
Jungen sichtlich schwer und er leidet darunter:
Sie achtete nicht darauf, daß ich vor Kummer wenig aß. Den Terror, in dem ich lebte, hielt sie für pädagogisch. (GZ, S. 88)
Er versucht sich die Sätze mit außergewöhnlichem Eifer und voller Besessenheit
einzuprägen, doch er hat keine schriftlichen Aufzeichnungen dazu und so kommt es
auch vor, dass er sich Fehler einprägt. Doch die Mutter duldet keine Fehler und
zeigt sich erbarmungslos streng:
[…] das Höchste, wozu ich es brachte, war, daß sie mich nicht verhöhnte. An anderen Tagen ging es weniger gut, und dann zitterte ich in Erwartung des Idioten, den sie zur Welt gebrachte hatte, der traf mich am schwersten. (GZ, S. 88)
Die Demütigungen der Mutter spornen jedoch seinen Eifer an, die Sprache korrekt
zu erlernen (vgl. GZ, S. 88-89). Aus dieser misslichen Lage rettet ihn das
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Kindermädchen Miss Bray, die der Mutter verdeutlicht, dass er auch gerne die
deutsche Schrift lernen möchte. Dadurch erhält er ein Grammatik-Buch und kann
fortan aus dem Lehrwerk, von der Schrift lernen, wodurch er sehr schnell enorme
Fortschritte erzielt:
Es war eine erhabene Zeit, die jetzt begann. Die Mutter begann mit mir Deutsch zu sprechen, auch außerhalb der Stunden. […] Erst später begriff ich, daß es nicht nur um meinetwillen geschah, als sie mir Deutsch unter Hohn und Qualen beibrachte. Sie selbst hatte ein tiefes Bedürfnis danach, mit mir deutsch zu sprechen, es war die Sprache ihres Vertrauens. (GZ, S. 90)
Es ist die Sprache ihres Vertrauens, da es auch die Sprache ihrer Ehe gewesen ist,
denn sie hat sich mit dem Vater großteils in Deutsch unterhalten. Dadurch wird der
junge Elias sprachlich an die Stelle des verstorbenen Vaters bzw. aus Sicht der
Mutter an die des verlorenen Ehemannes gesetzt. Die Verwurzelung der deutschen
Sprache mit dem Andenken an seinen geliebten Vater trägt dazu bei, dass sie für
ihn große Bedeutung erhält. Der schnelle Lernfortschritt verbunden mit
außergewöhnlichem Eifer beim Erlernen der deutschen Sprache anhand der Schrift
zeigt ebenfalls die Außergewöhnlichkeit des Jungen:
Sie erwartete sich sehr viel davon und ertrug es schwer, als ich zu Anfang ihres Unternehmens zu versagen drohte. So zwang sie mich in kürzester Zeit zu einer Leistung, die über die Kräfte jedes Kindes ging, und daß es ihr gelang, hat die tiefere Natur meines Deutsch bestimmt, es war eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache. (GZ, S. 90)
Dieser Lernprozess, der durch die Vorenthaltung der Schrift anfangs sehr schwierig
ist, kann als ein Vorbote für seine spätere schriftstellerische Tätigkeit in deutscher
Sprache angesehen werden:
Es muß auch den Hang zum Schreiben früh in mir genährt haben, denn um das Erlernen des Schreibens willen hatte ich ihr das Buch abgewonnen, und die plötzliche Wendung zum Besseren begann eben damit, daß ich deutsche Buchstaben schreiben lernte. (GZ, S. 90)
Die Hochschätzung der Sprachen und insbesondere der deutschen Sprache lebt die
Mutter vor und diesbezüglich verlangt sie großen Ehrgeiz von ihrem ältesten Sohn
Elias. Besonders im Bereich der Sprachen wird die frühe intellektuelle
Unterstützung durch die Mutter als sehr ausgeprägt und intensiv dargestellt:
Sie duldete keineswegs, daß ich die anderen Sprachen aufgab, Bildung bestand für sie in den Literaturen aller Sprachen, die sie kannte, aber die Sprache unserer Liebe- und was war es für eine Liebe!- wurde Deutsch. (GZ, S. 90)
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Die Liebe zu den Sprachen und damit auch verbunden zu Büchern zeigt sich, wie
zum Teil schon durch Textstellen belegt, als wichtiges Motiv in der Darstellung
seiner Kindheitserinnerungen. Die außerordentliche Begabung des Kindes, die
angetrieben und unterstützt wird durch den Ehrgeiz der Mutter, kann als roter Faden
gesehen werden, der das gesamte Geschehen zusammenhält.
So ist es für die Mutter auch klar, welchen Bildungsweg der Protagonist einmal
anzustreben habe und sie stellt hohe Ansprüche an die Entwicklung des Sohnes:
Die Volksschule hatte fünf Klassen, sie fand bald heraus, daß man die fünfte überspringen könne, wenn man gute Zeugnisse hatte, und sagte: »Nach der vierten Klasse, das ist in zwei Jahren, kommst du ins Gymnasium, da lernt man Latein, das wird nicht mehr so langweilig für dich sein«.(GZ, S. 102)
»Was möchtest du, daß ich werde?« fragte ich einmal, in großer Angst, als wüßte ich, was für eine schreckliche Antwort kommen würde. »Am besten ist Dichter und Arzt zusammen«, sagte sie. (GZ, S. 152)
Das Motiv der außergewöhnlichen Begabung bzw. des frühen Talents unterstützt
durch den Ehrgeiz und Perfektionsdrang der Mutter durchdringt viele
Kindheitsereignisse und es kann angenommen werden, dass die intellektuellen
Prägungen aus der Kindheit Auswirkungen auf den späteren Lebenslauf haben.
Somit könnte man diese Erzählmomente, wie vorher schon bei einem konkreten
Textbeispiel angesprochen, als Vorboten für seine späteren schriftstellerischen
Tätigkeiten ansehen. Ein weiterer Beleg für die Außergewöhnlichkeit, die Virtuosität
und die intellektuelle Unterstützung ist unter anderem auch die Tatsache, dass er
manche Bücher mehr als vierzig Mal liest und er immer wieder neues Lesematerial
von der Mutter zur Verfügung gestellt bekommt (vgl. GZ, S. 104). Der Großvater
väterlicherseits kümmert sich um die religiöse Erziehung des Jungen und besucht
ihn dafür in Wien (vgl. GZ, S. 106-109). Obwohl es zwischen seiner Mutter und den
Großvater Canetti Differenzen gibt, da er ihr vorwirft den Vater von Bulgarien
weggelockt zu haben, schätzt er dennoch die Erziehungsart der Mutter:
Er hatte, obwohl es eine für ihm völlig fremde Welt war, in der sich ihr Geist bewegte, großen Respekt vor der Bildung der Mutter und besonders dafür, daß sie mit uns streng war und sehr viel von uns verlangte. (GZ, S. 109)
Zur intellektuellen Unterstützung und Förderung zählen auch die Abende, in der er
mit der Mutter über die derzeitigen Lektüren sprechen kann und an denen sie auch
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gemeinsam lesen. Diese werden als sehr prägend für seine Entwicklung
beschrieben:
Denn das unvergleichlich Wichtigste, das Aufregende und Besondere dieser Zeit waren die Leseabende mit der Mutter und die Gespräche, die sich an jede Lektüre knüpften. Ich kann diese Gespräche nicht mehr im einzelnen wiedergeben, denn ich bestehe zum guten Teil aus ihnen. Wenn es eine geistige Substanz gibt, die man in früheren Jahren empfängt, auf die man sich immer bezieht, von der man nie loskommt, so war es diese. (GZ, S. 111)
Aufgrund dieser Leseabende kann er viele Personen aus Büchern kennenlernen
und durch die oftmaligen Ortswechsel macht er auch Bekanntschaft mit vielen
verschiedenen Personen, wobei einige davon zu seinen Freunden werden. Doch
die vielen verschiedenen Personen, mit denen er in Kontakt tritt, sei es über Bücher
oder im realen Leben, hinterlassen ihre Wirkung und diese Tatsache wird ihm früh
bewusst:
Seit dieser Zeit, also seit meinem zehnten Lebensjahr, ist es eine Art Glaubenssatz von mir, daß ich aus vielen Personen bestehe, deren ich mir keineswegs bewußt bin. (GZ, S. 112)
Der Erzähler verdeutlicht, dass er davon überzeugt ist, dass der Protagonist von
vielen verschiedenen Menschen geprägt wird. Mit seinem Übertritt ins Gymnasium
im Jahr 1915 kann er viele neue Persönlichkeiten kennenlernen und es treten viele
neue Figuren in die Erzählung ein wie zum Beispiel Lehrpersonen, neue
Kindermädchen und auch Mitschüler. Dieser Sachverhalt belegt, dass der
Protagonist ständig neue Kontakte gewinnen kann, die ihn in weiterer Folge zum
Teil prägen. Als bedeutender Freund kann unter anderem Hans genannt werden,
mit dem er in Zitaten schwelgt und Dichterquartett spielt (vgl. GZ, S. 141).
Da er seinen Vater so früh verliert und dadurch sehr früh Verantwortung
übernehmen und Reife zeigen muss, um seine Mutter vor der Verzweiflung zu
retten, bildet er einen außergewöhnlichen Beschützerinstinkt für seine Mutter aus.
Dieser äußert sich in extravaganter Eifersucht:
Damals setze die Eifersucht ein, die mich mein Leben lang gequält hat, und die Gewalt, mit der sie mich überkam, hat mich für immer geprägt. Sie wurde zu meiner eigentlichen Leidenschaft, die sich um Überzeugungen und besseres Wissen nicht im geringsten scherte. (GZ, S. 149)
So erträgt er es nicht, wenn Männer seiner Mutter zu nahe kommen. Dies trifft zum
Beispiel auf den Herrn Dozenten zu, der ihnen bei der Übersiedelung in die Schweiz
zur Seite steht und ihnen hilft. Zu dieser Zeit lebt der erstgeborene Elias alleine mit
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seiner Mutter, da seine Brüder ab dem Ausbruch der Krankheit der Mutter bei den
Großeltern sind. Als die Übersiedelung in die Schweiz ansteht, ist die Mutter noch
erholungsbedürftig. Der Herr Dozent macht ihm vor allem große Angst, da er sie auf
die Lektüre neuer Autoren bringt und die neuen Werke fürchtet er (vgl. GZ, S. 154).
Da man sich in der Schweiz bei der Schulaufnahme streng an das Alter hält, kommt
er in die sechste Klasse der Primarschule in Oberstrass, obwohl er eigentlich in die
zweite Klasse der höheren Schule gehört hätte. Die Mutter versucht dies ehrgeizig
zu verhindern, doch sie muss diesbezüglich ihren Stolz schlucken (vgl. GZ, S. 168-
169). Zu dieser Zeit leben sie nun auch bescheidener ohne Kindermädchen. Die
bescheidene Lebensweise kann zwar zum Teil auf die Wiener Kriegsjahre
zurückgeführt werden, doch sie ist auch ein Erziehungsprinzip:
Sie wollte uns allen dreien eine gute Erziehung geben und zu dieser Zeit gehörte es, daß wir uns nicht an das Vorhandensein von Geld gewöhnten. (GZ, S. 173)
Ab dem Frühjahr 1917 besucht er die Kantonsschule an der Rämisstraße und auf
dem zwanzigminütigen Schulweg zeigt sich wiederum seine außerordentliche
Kreativität. Denn er erfindet lange Geschichten, die von Tag zu Tag fortgesetzt
werden und die sich sogar teilweise über Wochen hinziehen (vgl. GZ, S. 178). Diese
Schulzeit wird als intellektuell gewinnbringend eingeschätzt und auch die
Lehrpersonen werden als sehr einprägende Persönlichkeiten beschrieben:
In dieser Zeit ging durch die Schule so viel in mich ein wie sonst nur durch Bücher. Was ich lebendig aus dem Mund von Lehrern erlernte, behielt die Gestalt dessen, der es aussprach, und blieb ihm in der Erinnerung immer zugehörig. (GZ, S. 183)
Die Vielfalt der Lehrer war erstaunlich, es ist die erste bewußte Vielfalt in meinem Leben. (GZ, S. 185)
Diese bewusste Vielfalt von Menschen wird auch als „die erste bewusste Schule der
Menschenkenntnis“ (GZ, S. 185) beschrieben und somit zeigen sich diese Figuren,
die zum Teil sehr genau dargestellt werden, als wichtige Motive in der
Entwicklungsgeschichte des jungen Schriftstellers. Er hält auch Ausschau nach den
Klassenkameraden, von denen er etwas lernen kann und darin zeigt sich der
Wunsch nach tiefer gehender Weltsicht bzw. nach Perfektion:
Wenn sie gar etwas beherrschten, was mir fehlte, faßte ich Bewunderung für sie und ließ sie nicht aus den Augen. (GZ, S. 179)
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Als wichtiger Schulfreund dieser Zeit kann Walter Wreschner genannt werden, mit
dem er eine literarische Freundschaft schließt (vgl. GZ, S. 205). Die Beschreibung
der literarischen Freundschaft zeigt die Genialität des jungen Elias auf.
Die Zeit der gemeinsamen Leseabende mit der Mutter ist vorüber, doch die
Schulzeit füllt ihn so aus, sodass der Erzähler kommentiert, dass ein anderer
Reichtum an diese Stelle getreten ist (vgl. GZ, S. 197). Das Lernen erscheint ihm
nicht als Belastung und er fühlt sich intellektuell gut gefördert:
Was immer auf mich zukam, schlug feste Wurzeln, es war Platz für alles, ich hatte nie das Gefühl, daß mir etwas vorenthalten wurde, im Gegenteil, mir schien, als werde mir alles dargeboten, und ich hätte es nur aufzufassen. (GZ, S. 203)
Im Winter 1918/1919 kommt eine große Grippe-Epidemie. Alle werden von der
Krankheit erfasst, doch die Mutter kann sich nur sehr schwer davon erholen. Ihre
Schwächezustände kehren immer wieder zurück und sie sehnt sich zurück nach
Wien. Sie beraten lange, wie es nun weitergehen werde und da Elias auf keinem
Fall die Schule wechseln will, darf er alleine in Zürich zurückbleiben und die kleinen
Brüder kommen wieder nach Lausanne ins Pensionat, wo sie ihr Französisch
verbessern sollen (vgl. GZ, S. 208-209).
Mit dem neuen Wohnort der Pension Villa Yalta in Zürich beginnt ein neuer
Entwicklungs- und Lebensabschnitt für den jungen Elias. Da in dieser Pension fast
nur Mädchen beheimatet sind und es auch nur Betreiberinnen gibt, ist er dort als
Junge etwas Besonderes. Er fühlt sich zu dieser Zeit sehr frei und kann auch lesen,
was er will:
Ich tat im Grunde, was ich wollte, ich las und lernte, wozu ich Lust hatte. Dazu betrat ich auch abends das Wohnzimmer der Damen: Es enthielt einen Bücherschrank, in dem ich nach Herzenslust wählen durfte. (GZ, S. 232)
Die Mutter verbringt den Großteil der beiden Jahre in Arosa in einem
Waldsanatorium zur Erholung und auch sie lebt unter vielen neuen Menschen, die
sie geistig beeinflussen (vgl. GZ, S. 235). Kontakt hält er mit der Mutter, indem sie
Briefe wechseln, doch für die täglichen Regeln des Alltags sind die vier Damen, die
Betreiberinnen der Pension, verantwortlich:
Ich war viel freier als früher, sie kannten die Art meiner Wünsche und versagten mir nichts. (GZ, S. 236) So war auch sie [Mutter] frei von uns, wie ich von ihr und den Brüdern, und beider Kräfte entwickelten sich auf unabhängige Weise. (GZ, S. 237)
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Durch die Schule entwickelt er einen akademischen Ehrgeiz und „Wissenschaft“
und „wissenschaftlich“ werden für ihn zu neuen Zauberwörtern (vgl. GZ, S. 236). Da
er zu dieser Zeit die Mutter nicht mehr beschützen muss, werden Kräfte in ihm frei,
die lange nur für die Bewachung der Mutter reserviert gewesen sind (vgl. GZ, S.
237):
Damals entstanden die ersten Keime der späteren Entfremdung zwischen uns. Als die Wißbegier, die sie auf jede Weise gefördert hatte, eine Richtung nahm, die ihr fremd war, begann sie an der Wahrhaftigkeit und an meinem Charakter zu zweifeln und fürchtete, ich könnte dem Großvater nachgeraten, den sie für einen abgefeimten Komödianten hielt: ihr unversöhnlichster Feind. (GZ, S. 238)
So ist dieser Entwicklungsabschnitt eine Phase der Entfremdung von der Mutter und
er kann sich dadurch geistig in neue Richtungen entwickeln.
Zu dieser Zeit nimmt er sein erstes schriftstellerische Werk in Angriff. Er schreibt
monatelang konsequent an jedem Abend an einem Drama namens „Junius Brutus“,
das er seiner Mutter widmet. Der Erzähler zeigt sich rückblickend diesbezüglich
sehr selbstkritisch:
Es mag junge Dichter gegeben haben, die mit 14 Jahren Talent verrieten. Ich gehörte bestimmt nicht zu ihnen. Das Drama war erbärmlich schlecht, in Jamben geschrieben, die jeder Beschreibung spotten, ungeschickt, holprig und aufgeblasen, von Schiller nicht eben beeinflußt, sondern in jeder Einzelheit bestimmt, aber so, daß alles lächerlich wurde, von Moral und Edelmut triefend, geschwätzig und seicht […]. (GZ, S. 240)
Im Herbst 1919 wird die antisemitische Ausgrenzung der Juden immer schlimmer
und so treffen sich alle siebzehn Juden der dritten Klasse, um eine Petition zu
entwerfen und zu beschließen, damit das Rektorat auf den aufkommenden
Antisemitismus aufmerksam gemacht wird (vgl. GZ, S. 258). Doch die Petition wird
von den Empfängern zerrissen und bewirkt nichts. Diese feindliche Umgebung hat
auch Auswirkungen auf seine sonst gezeigte Schulfreude. Aufgrund eines
Zwischenfalls beim Aufzeigen, wo er sehr schnell aufzeigt und der Lateinprofessor
meint, dass der Junge, den er drangenommen hat, ruhig nachdenken soll, denn
„Wir lassen uns nicht alles von einem Wiener Juden wegnehmen“ (GZ, S. 252) und
eines Kommentars des Usteri „Du streckst zuviel auf“ (GZ, S. 260) verliert er die
Freude an der Schule und zeigt nicht mehr auf, um mitzuarbeiten:
Ich war auch unlustig geworden, die Schule freute mich nicht mehr. (GZ, S. 260)
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Vier Monate nach dem Beginn der Kampagne hören die Sticheleien auf, doch sein
Aufzeigen bleibt dennoch auf ein Minimum reduziert (vgl. GZ, S. 261). Intellektuell
ist er aber dennoch gut eingebettet, denn er ist zum Beispiel auch in einem Art
Schachclub, der sich bildet (vgl. GZ, S. 262).
Im Mai 1921 besucht ihn seine Mutter und wirft ihm vor, dass er hier verblöde und
deshalb weg von hier müsse (vgl. GZ, S. 319):
Es war eine jener Szenen, in denen sie alles niederzureißen versuchte, was sie in jahrelanger, geduldiger Bemühung in mir aufgerichtet hatte. Auf ihre Weise war sie ein revolutionärer Mensch. Sie glaubte an Plötzlichkeiten, die einbrechen und sämtliche Konstellationen auch im Menschen erbarmungslos verändern. (GZ, S. 321)
Die Mutter will ihn unbedingt zum Umzug nach Deutschland bewegen und die
Gegenargumente des Protagonisten verlaufen im Sand. Sie beleidigt ihn zutiefst
und da er nur mehr aus Trümmern besteht, gibt er sich verloren (vgl. GZ, S. 329).
Doch im Nachhinein gesehen kann der Erzähler dieser Wendung, die das Ende des
Werkes ausmacht, auch etwas Gutes abgewinnen:
Es ist wahr, daß ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand. (GZ, S. 330)
Im Werk verdeutlicht der Erzähler, wie ihm einzelne Figuren aber auch Orte und
Ereignisse prägen. Ein wichtiges Motiv, das die gesamte Erzählung zusammenhält,
ist zusammengefasst der Perfektionsdrang der Mutter, der den ehrgeizigen Elias zu
Höchstleistungen antreibt. Die Mutter bietet ihm somit eine gut ausgeprägte
intellektuelle Unterstützung.
Das gesamte Werk ist durchzogen von Beschreibungen, die verdeutlichen, dass der
junge Elias seinem Alter weit voraus ist und dass er durch seinen intellektuellen
Ehrgeiz schon früh Attitüden eines Schriftstellers aufweist. Abschließend zeigt sich
auch hier, dass alle als konstant beschriebenen Elemente einer
Künstlerautobiografie im Werk enthalten sind. Auch die vier variierenden
Komponenten (persönliche Ressourcen, Ressourcen an Unterstützung und
Anleitung, Zugang zu Lebenschancen, persönliche Bemühungen und
Anstrengungen) sind alle auf unterschiedliche Art und Weise positiv ausgeprägt, wie
sie in diesem Kapitel herausgearbeitet zu finden sind.
100
4.3.3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Bernhards „Ein Kind“ und Canettis „Die gerettete Zunge“ aus der hermeneutischen Analyse
Dieses Kapitel stellt die auf hermeneutischem Weg gefundenen Gemeinsamkeiten
und Unterschiede der Autobiografien dar. Bei den Inhalten kann lediglich von
Inszenierungen der Künstlerjugend bzw. Kindheit gesprochen werden. Es kann
natürlich kein Anspruch erhoben werden, dass sich die dargestellten Ereignisse
bzw. Gegebenheiten im tatsächlichen Leben so abgespielt haben.
Sowohl Canetti als auch Bernhard werden in ihrer Kindheit intellektuell gut
gefördert. Bei Canetti übernimmt die intellektuelle Unterstützung und Anleitung
vorerst sein Vater, dann vor allem seine Mutter und auch die Lehrer in der Schule
werden als intellektuell prägend und gewinnbringend dargestellt. Der junge Elias
erfährt somit eine breite intellektuelle Unterstützung, die hauptsächlich von der
Mutter angeleitet wird, bei der jedoch auch einige andere Personen eine Rolle
spielen. So übernimmt zum Beispiel der Großvater die Rolle des Religionslehrers,
da auf diesen Erziehungsbereich die Mutter keinen Wert legt.
Bei Bernhard hingegen erscheint der Großvater als der einzige Lehrer, der ihn als
überdurchschnittlich intelligent hält und der die Lehrer als stumpfsinnige Banausen
bezeichnet (vgl. EK, S. 42). Dies hat zur Folge, dass der junge Thomas die
Lehrer/Lehrerinnen auch nicht als gute Lehrende schätzen kann. Der Großvater
belehrt ihn vor allem bei den gemeinsamen Spaziergängen, doch auch sonst hat er
immer ein offenes Ohr für den Enkel (vgl. EK, S. 71):
Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reißen immer den Vorhang auf, den die anderen fortwährend zuziehen. Wir sehen, sind wir mit ihnen zusammen, was wirklich ist, nicht nur den Zuschauerraum, wir sehen die Bühne und alles hinter der Bühne. […] Er machte mich, früh genug, aber tatsächlich als einziger, darauf aufmerksam, daß der Mensch einen Kopf hat und was das bedeutet. Daß zur Gehfähigkeit auch die Denkfähigkeit so bald als möglich einzusetzen habe. (EK, S. 23-24)
Da die hauptsächliche intellektuelle Unterstützung bei Canetti die Mutter bietet und
bei Bernhard der Großvater, zeigen sich Parallelen zwischen diesen beiden
Hauptbezugspersonen. Sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie privaten
Unterricht erteilen, der weit über den schulischen Lehrstoff hinausgeht. Es kann
konstatiert werden, dass beide hohe Anforderungen an die Entwicklung des Kindes
101
bzw. des Jugendlichen stellen und sie ihnen Bildungsinhalte nahebringen, die weit
über dem altersgemäßen Niveau anzusiedeln sind. Vergleichend kann der
hauptsächliche Ort der Belehrung herausgestellt werden. Dabei handelt es sich bei
Bernhard um die Spaziergänge mit dem Großvater und bei Canetti um die
Leseabende mit der Mutter. Diese privaten Belehrungen bzw. die privaten
Unterrichtsstunden unterscheiden sich nach ihren Beschreibungen in ihrer
Vorgehensweise. So werden bei Canetti hauptsächlich Bücher gemeinsam gelesen
und dialogisch besprochen und bei Bernhard handelt es sich hingegen um
Monologe des Großvaters über Naturgeschichte, Philosophie, Mathematik oder
Geometrie (vgl. EK, S. 82).
Bernhards Großvater ist auf der Suche nach der passenden Kunstbeschäftigung für
den Enkel. Die Anschaffung einer Staffelei bzw. die Bezahlung von Geigenunterricht
zeigen die Versuche des Großvaters, das vermutete Talent durch eine
Kunstbeschäftigung zur Entfaltung zu bringen. Bei Canetti hingegen wird gezielter
eine literarische Künstlerlaufbahn angestrebt. Auf die Frage des jungen Canetti, was
er einmal werden solle, antwortet die Mutter, dass sie es am besten finden würde,
wenn er Dichter und Arzt werde (vgl. GZ, S. 152). Die anbahnende Autorenlaufbahn
zeigt sich bei Canetti durch verschiedene Vorboten wie z. B. durch die beschriebene
frühe Faszination, die für ihn von Buchstaben ausgeht (vgl. GZ, S. 38) bzw. unter
anderem ganz eindeutig durch seinen ersten Versuch als Schriftsteller mit dem
Werk "Junius Brutus", das er mit vierzehn Jahren verfasst (vgl. GZ, S. 240).
Bernhards Großvater ist sich sicher, dass der Enkel eine Künstlerlaufbahn
einschlagen werde, doch die Disziplin müsse erst gefunden werden, damit sein
Talent voll zur Entfaltung kommen könne. Die große Bewunderung des Großvaters
kann aber als Vorzeichen gesehen werden, welche Kunstrichtung der junge
Bernhard einschlagen wird. Da der innig geliebte und geschätzte Großvater, der ihm
als Vorbild gilt, Schriftsteller ist, liegt die Vermutung für den Leser nahe, dass sich
dadurch die spätere Autorenlaufbahn des Autobiografen ankündigt. Bei Canetti wird
hingegen die Autorenlaufbahn durch die intellektuelle Unterstützung im Elternhaus,
vor allem durch die gemeinsamen Lektüreabende mit der Mutter konkreter
angestrebt. Ein Vorzeichen für die spätere Autorenlaufbahn, das bei beiden
vorhanden ist, ist die Versorgung mit Büchern. So wird in beiden Autobiografien
beschrieben, dass sie über einen großen Bücherbestand im Eltern- bzw.
102
Großelternhaus verfügen können (vgl. z. B. GZ, S. 232 und EK, S. 67). Die
Hochschätzung von Büchern, bzw. davon über eine ausreichende Ressource
verfügen zu können, könnte man der „intellektuellen Unterstützung“ unterordnen.
Die „ausreichende Ressourcen an Büchern" kann als ein Element von
Künstlerautobiografien gesehen werden, wodurch sich nach der vorliegenden
Analyse eine Schriftstellerlaufbahn anbahnt.
Der früh verstorbene Vater von Canetti wird ähnlich Bernhards Großvater
dargestellt. Der innig geliebte Vater von Canetti und der zutiefst bewunderte
Großvater von Bernhard erhalten bei manchen Textstellen die Stellung eines
Heiligen bzw. eines Erlösers. So erzählen die Autoren in ihren Büchern, dass sie
aus ernsten Lebenslagen in ihrer Kindheit bzw. frühen Jugend lediglich vom
geliebten Großvater bzw. Vater gerettet bzw. erlöst werden können (vgl. z. B. GZ, S.
43-44 und EK, S. 115). Die Parallele besteht in der Darstellung von jeweils einer
Figur (Vater bzw. Großvater), die eine Erlöser- bzw. Retterfunktion bekleidet.
Als deutlicher Unterschied zwischen den beiden Lebensverläufen kann die
sozioökonomische Stellung der Familie genannt werden. Canetti stammt aus einer
sehr wohlhabenden Familie, in der viele Familienmitglieder Geschäfts- bzw.
Kaufmänner sind, Bernhard stammt hingegen aus ärmlichen Familienverhältnissen.
Dies zeigt jedoch, dass es nicht auf die sozioökonomische Stellung der Familie
ankommt, sondern auf die intellektuelle Unterstützung, um die Wahrscheinlichkeit
zu erhöhen, dass jemand eine erfolgreiche Künstler- bzw. Autorenlaufbahn
einschlagen wird.
Der Vergleich der Autobiografien zeigt auch, dass beide in ihrer Kindheit bzw.
Jugend sehr viel gereist sind. So sind es bei Bernhard mit Holland, Wien,
Seekirchen am Wallersee, Saalfeld und Traunstein in Bayern fünf Wohnorte, in der
Zeit von seiner Geburt bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr. Bei Canetti sind es in
seinen ersten sechzehn Jahren mit Rustschuk, Manchester, Wien und Zürich
Scheuchzerstraße und Zürich Tiefenbrunnen ebenfalls fünf Wohnorte. Aufgrund der
vielfältigen dadurch gesammelten Erfahrungen gilt demnach ein häufiger
Wohnumgebungswechsel und das Kennenlernen von verschiedensten Menschen
und Umgebungen als intellektuell bereichernd. So könnte man nach diesen beiden
Autobiografien „wechselnde Wohnumgebungen“ als variierendes Element einer
Künstlerautobiografie ansehen.
103
Manche Wohnumgebungswechsel sind auch aufgrund historischer
Rahmenbedingungen notwendig. Dadurch können wechselnde Wohnumgebungen
als typisches Element einer Künstlerautobiografie in der erzählten Zeit des Ersten
oder Zweiten Weltkrieges eingeordnet werden. Durch die historische Einbettung
erklären sich die Ausgrenzungen bzw. Verspottungen, die beide auf
unterschiedliche Art und Weise miterleben müssen. So wird Bernhard in der Zeit
des Zweiten Weltkrieges in Deutschland als „Esterreicher“ beschimpft und
ausgegrenzt und Canetti erfährt in Zürich in der Zeit des anbahnenden Zweiten
Weltkrieges antisemitische Beschimpfungen aufgrund seiner jüdischen Herkunft.
Beide Autoren erleben somit in ihrer Kindheit bzw. Jugend Ablehnung aufgrund
einer nationalen oder religiösen Zugehörigkeit. Dies könnte ein Grund dafür sein,
dass Canetti sich als Erwachsener nicht vollkommen zu einer Religion bekennt. Er
wird als außerordentlich freiheitsliebend beschrieben, der sich nicht gerne an ein
bestimmtes Glaubenssystem oder generell an Institutionen bindet.248 Vage kann
man diesbezüglich bei Bernhard interpretieren, dass die Beschimpfungen als
„Esterreicher“ und die dadurch erfahrenen Stigmatisierungen und Ausgrenzungen
mit seinen späteren „Hassreden“ bzw. übertriebenen Schelten auf Österreich zu tun
haben könnten. Man kann Bernhard aber auf jeden Fall unterstellen, dass er sich
als äußerst freiheitsliebend inszeniert und präsentiert, denn er bekennt sich als
Erwachsener weder zu einer religiösen Institution noch zu einer Nation oder
irgendeiner bestimmten Institution. Die in den Autobiografien dargestellten
Kindheits- und Jugenderlebnisse zeigen, dass sie aufgrund der historischen
Rahmenbedingungen mit manchen Institutionen äußerst schlechte Erfahrungen
machen müssen und diese lassen sich als Vorboten für die ausgeprägte
Freiheitsliebe im Erwachsenenalter interpretieren. Bei beiden Autoren kann
aufgrund der Autobiografien festgehalten werden, dass die erfahrenen einengenden
historischen Rahmenbedingungen, gekoppelt mit gut geförderten intellektuellen
Entfaltungsmöglichkeiten in der Kindheit bzw. in der Jugend zu einer geistigen
Freiheit im Erwachsenenalter führen, die sich nicht gerne festlegt.
Durch die häufigen Wohnumgebungswechsel müssen die Autoren ihr „Paradies der
Kindheit“ verlassen. So wird von Bernhard die Zeit in Seekirchen am Wallersee (in
248
Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 9.
104
Österreich) nachträglich, in Anbetracht der bevorstehenden Übersiedelung nach
Bayern, da sein Stiefvater dort eine Arbeit findet, als Paradies bezeichnet:
Die Katastrophe bedeutete, Abschied zu nehmen von allem, das zusammen tatsächlich mein Paradies gewesen war. (EK, S. 96)
Auch bei Canetti findet sich die Bezeichnung des „Paradieses der Kindheit“ als er
Abschied nehmen muss von seiner Wohnumgebung in Zürich Tiefenbrunnen:
Es ist wahr, daß ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand. (GZ, S. 330)
Die Vertreibung aus dem Angenehmen, dem Gewohnten müssen beide
Heranwachsende erleben und es kann somit als weiteres variierendes Element der
Künstlerautobiografien aufgenommen werden. Nach der zitierten Textpassage aus
„Die gerettete Zunge“ kann angenommen werden, dass ein Umzug aus dem
Paradies der Kindheit dazu führt, dass man sich anschließend durch schwierige
Lebensphasen bzw. Rahmenbedingungen durchkämpfen muss. Durch schwierige
Rahmenbedingungen können sie sich weiterentwickeln und nur durch das
Verlassen des Bequemen, des Angenehmen können sie zu den Erwachsenen
werden, die sie darstellen. Denn das Stehenbleiben im Angenehmen bringt keinen
Entwicklungsfortschritt und somit kann die Vertreibung aus dem Paradies ebenfalls
als bedeutendes typisches Element dieser Künstlerautobiografien angesehen
werden.
Hervorstechende Merkmale dieser Künstlerautobiografien sind auch die Betonung
der persönlichen Ressourcen, des besonderen Ehrgeizes, des frühen Talents bzw.
der Außergewöhnlichkeit der frühen Künstlerpersönlichkeit gegenüber anderen
Menschen, der Virtuosität, der Genialität bzw. der tiefer gehenden Weltsicht, die
jedoch alle in die Reihe der konstanten Elemente einer Künstlerautobiografie
eingeordnet werden können.
Im Vergleich dieser beiden Autobiografien kann als typisches Element das
„Durchleben von frühen Verlusten“ mit aufgenommen werden. Denn Bernhard
durchlebt erstmals mit vier Jahren Trauer um seinen an einer plötzlichen Krankheit
verstorbenen Freund in Seekirchen und Canetti muss mit sieben Jahren bereits den
Tod des eigenen Vaters verkraften (vgl. EK, S. 72 und GZ, S. 72).
Als typisch für beide Werke erweist sich der psychische Terror, der von den Müttern
ausgeht, die als überfordert mit bestimmten Lebenssituationen bzw. mit ihren
105
Söhnen beschrieben werden. So macht zum Beispiel Canettis Mutter dem
Heranwachsenden Vorwürfe, dass er spielt, obwohl sein Vater tot ist (vgl. GZ, S. 73)
oder er wird von ihr verhöhnt, wenn er nicht die außergewöhnliche Leistung erbringt,
die sie von ihm erwartet (vgl. GZ, S. 87). Hinter dem erlebten Terror wird
kommentierend aus erwachsener Sicht eine pädagogische Intention vermutet (vgl.
GZ, S. 88). Beide Mütter fordern von ihnen sehr früh, reifes Verhalten an den Tag
zu legen. Die Mutter von Bernhard verletzt den Heranwachsenden oft durch Worte
zutiefst, wohingegen ihm die körperliche Züchtigung unbeeindruckt lässt (vgl. EK, S.
38). Bei Bernhard ist das Verhältnis zur Mutter besonders schwierig, wofür er die
physische Ähnlichkeit zu seinem Vater verantwortlich macht, der seine Mutter mit
ihm als ungeborenes Kind stehen gelassen hat (vgl. EK, S. 38-39):
Ich fühlte naturgemäß ihre Liebe zu mir, gleichzeitig aber immer auch den Hass gegen meinen Vater, der dieser Liebe meiner Mutter zu mir im Weg stand. (EK, S. 39)
Beide Autoren durchleben somit schwierige Lebensumstände und auch psychische
Gewalt, die vor allem von den Müttern ausgeht. Trotz widriger Umstände in der
Kindheit bzw. Jugend können sie sich dennoch behaupten und avancieren zu
Künstlerpersönlichkeiten, die in ihrer weiteren Laufbahn große Erfolge als
Schriftsteller ernten. Daraus resultieren zwei Thesen bezüglich der späteren
Künstlerpersönlichkeit. Einerseits kann angenommen werden, dass sich durch die
Tatsache der Bewältigung der schwierigen Bedingungen schon die bereits im
Kindesalter vorhandenen großen Persönlichkeiten bzw. die vorhandenen
persönlichen Ressourcen widerspiegeln. Nach der zweiten daraus resultierenden
These können die Autoren gerade aufgrund der Bewältigung der schwierigen
Lebensbedingungen und Phasen ausgereifte Künstlerpersönlichkeiten entwickeln.
Doch diese beiden Thesen können auch vereint werden, wodurch beide auf
gewisse Weise ihre Gültigkeit bewahren. Nach den vereinten Thesen sind bei
beiden Autobiografien die schwierigen Lebensumstände und deren Bewältigung
dafür verantwortlich zu machen, dass sie persönliche Ressourcen entwickeln und
bereits vorhandene erst entfalten, wodurch sie zu den Künstlern bzw. großen
Persönlichkeiten werden, die sie zur Erzählzeit sind.
Zusammengefasst kann bezüglich dieser Autobiografien die Schlussfolgerung
gezogen werden, dass Künstlerpersönlichkeiten bzw. große Persönlichkeiten aus
106
der Bewältigung von zum Teil sehr schwieriger Kindheit bzw. Jugend entstehen und
dass es nicht die idealen Bedingungen sind, die eine Künstlerlaufbahn ankündigen.
Die Bewältigung von schwierigen Kindheits- bzw. Jugenderlebnissen kann somit als
typisches Element dieser beiden Künstlerautobiografien angesehen werden.
107
5) CONCLUSIO
Durch die hermeneutische und die erzähltheoretische Analyse konnten
Besonderheiten bzw. auch viele Ähnlichkeiten der Autobiografien „Ein Kind“ von
Thomas Bernhard und „Die gerettete Zunge“ von Elias Canetti herausgefunden
werden.
Der Fokus auf den konstanten Elementen der Künstlerbiografie, dem
Überdurchschnittlichen, dem Außergewöhnlichen bzw. dem Exzentrischen oder
dem Genialen der Person kann als gattungsimmanentes Merkmal bezeichnet
werden. Exemplarisch für die Gruppe der Autoren, deren Kindheit bzw. Jugend in
der Zeit des Ersten bzw. des Zweiten Weltkrieges liegt, zeigen Canettis und
Bernhards Autobiografien durchaus fordernde und schwierige Kindheits- und
Jugendphasen, die sie zu bewältigen haben, wodurch sie früh Reife zeigen müssen
bzw. ihre persönlichen Ressourcen entfalten bzw. entwickeln können. Die
Erzählungen über schwierigen Phasen ihrer Kindheit und Jugend können zum Teil
durch die beschriebenen historischen Rahmenbedingungen begründet werden. Die
textuelle Konstruktion der erfahrenen Ablehnung aufgrund der nationalen bzw.
religiösen Zugehörigkeit kann durch die historische Einbettung erklärt werden, die
durch die persönliche Bewältigung Einfluss hat auf die erzählte Entwicklung ihrer
ausgereiften bzw. außergewöhnlichen Persönlichkeit.
Typisch und prägend für diese beiden Autobiografien sind inhaltlich die häufigen
Wohnumgebungswechsel. Diese erscheinen durch das Kennenlernen von
unterschiedlichsten Persönlichkeiten und die Überwindung von Schwierigkeiten, die
mit einem Umzug einhergehen, als intellektuell bereichernd für die Künstler- bzw.
Autorenlaufbahn. Diese häufigen Umzüge in der Erzählung sind ebenfalls in den
historischen Rahmenbedingungen begründet und können somit ausgehend von den
Darstellungen in diesen beiden Werken als typisch für diese erzählte Zeit
bezeichnet werden.
Aus den erwähnten typischen Elementen dieser Künstlerbiografien kann man auch
implizit auf kulturell geprägte Vorstellungen einer Künstler- bzw. Autorenlaufbahn
schließen, durch die die Autoren in der Erzählzeit geprägt waren. Denn die
Autobiografien sind sich in vielen Punkten sehr ähnlich, obwohl sie sich gegenseitig
wahrscheinlich nicht zum Vorbild genommen haben, da das Verhältnis zwischen
108
den Autoren von einer intellektuellen Feindschaft geprägt war.249 Gerade aus den
frühesten Kindheits- bzw. Jugenderlebnissen lassen sich schon viele Vorboten
ausmachen, die als lebensentscheidende Fundamente für die Berufung Autor zu
werden gelten können. Als einer der wichtigsten lebensentscheidenden
Fundamente muss die erzählte intellektuelle Unterstützung und Anleitung durch
Hauptbezugspersonen genannt werden. Durch die Analyse dieser beiden Werke
kann gesagt werden, dass nach konstruierten autobiografischen Erzählungen die
intellektuell bereichernde Unterstützung unabhängig ist von der sozioökonomischen
Stellung der Familie.
Die Autoren konstruieren ihre Kindheit und Jugend auf eine Weise, indem sie
gerade schwierige Lebensumstände, wie zum Beispiel das Ausgesetzsein von
psychischer Gewalt durch verbale Attacken durch nahe Bezugspersonen zu den
lebensgeschichtlichen Besonderheiten einer Künstlerpersönlichkeit zählen. Zu einer
Künstlerqualität gehören nach den Inszenierungen des Künstlerdaseins somit
Persönlichkeitseigenschaften, die es dem Heranwachsenden ermöglichen trotz
widriger Umstände und psychischer Verletzungen Strategien zu finden das
Vergangene zu bewältigen, um in der Arbeit als Autor emporzusteigen. Daraus
ergibt sich eine Künstlerkonzeption, in der man erst zu einem Künstler werden kann,
wenn das Leben nicht nur aus Annehmlichkeiten besteht, sondern auch
Schwierigkeiten bereithält, die man bewältigen muss, wodurch sich die Möglichkeit
ergibt, dass man sich selbst weiterentwickeln kann.
Erzähltheoretisch sind einander die beiden Autobiografien auch sehr ähnlich.
Anzumerken ist, dass Canetti im Unterschied zu Bernhard behutsamer mit der Zeit
umgeht und sein Werk deutlicher gliedert. Denn bei Bernhard gibt es keine solche
offensichtliche chronologische Ordnung und die Chronologie wird öfters grob
durchbrochen. So kommentiert Bernhard nicht alle Zeitsprünge wie Canetti,
wodurch Canettis Autobiografie im Vergleich wie ein historisches Geschichtsbuch
erscheint. Bezogen auf die Distanz bzw. Unmittelbarkeit muss konstatiert werden,
dass bei Canetti im Gegensatz zu Bernhard oftmals die narrative Distanz
vollkommen ausgeschaltet ist, wodurch der Eindruck entsteht, dass das erzählte
Erlebnis möglichst unmittelbar wiedergegeben wird. Durch diesen Vergleich erhält
249
Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 121.
109
man als Leser/Leserin den Eindruck, dass Canetti mehr Bemühungen setzt, um die
Glaubwürdigkeit seiner eigenen Autobiografie, durch detailgetreue Erzählungen und
Kommentierungen bei Abweichungen, zu erhöhen. Es kann somit festgestellt
werden, dass Bernhard durch erzählerische Mittel größere Distanz zu seiner
eigenen Lebensgeschichte erzeugt, wohingegen Canetti den Versuch unternimmt,
möglichst unmittelbar alles Erlebte rekonstruiert wiederzugeben. Die Elemente der
Selbststilisierung sind in diesen Autobiografien bezüglich der beschriebenen
Persönlichkeitseigenschaften und der Vorboten für eine Künstlerlaufbahn sehr
ähnlich, wohingegen sich die eingesetzten erzähltheoretischen Mittel stärker
voneinander unterscheiden.
Diese beiden Autobiografien stellen eine einander ähnliche Erscheinungsform der
neuen literarischen Biografik dar. Einschränkend muss angemerkt werden, dass der
Vergleich jedoch aufgrund der Begrenztheit auf die zwei analysierten Werke keine
systematische Darstellung der Erzähltypen und der Erscheinungsformen der
Autobiografien dieser Zeit bieten kann.
110
6) ZUSAMMENFASSUNG Die vorliegende Arbeit trägt den Titel „Die Inszenierung des Künstlerdaseins durch
die Autobiografie. Vergleichende Analyse von Thomas Bernhards ,Ein Kind´ und
Elias Canettis ,Die gerettete Zunge´“ und beschäftigt sich exemplarisch mit
Besonderheiten der modernen literarischen Autobiografie des 20. Jahrhunderts.
Die Analyse wird von den Fragen geleitet, welche Künstlerbilder sich aus den
individuellen künstlerischen Selbststilisierungen der Autoren Thomas Bernhard in
„Ein Kind“ und Elias Canetti in „Die gerettete Zunge“ ergeben und welche
erzähltheoretischen Auffälligkeiten sich auf der Ebene der Darstellung zeigen.
Zur Gattung der Autobiografie gehört es in dem „Individuellen zugleich das
Allgemeine zu sehen“250 und deshalb wird in dieser Analyse der Versuch
unternommen, sowohl auf erzähltheoretischem als auch auf hermeneutischem Weg,
Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Künstlerautobiografien
herauszuarbeiten. Der Vergleich zwischen Bernhard und Canetti ist vor allem
interessant, da sie sich intellektuell als Gegner bezeichneten251 und dadurch kann
eher ausgeschlossen werden, dass sie einander als Vorbilder genommen haben.
Deshalb sprechen Gemeinsamkeiten dieser Werke für eine kulturelle Komponente,
von denen Künstlerautobiografien geprägt sind.
Jedes der beiden analysierten Werke ist natürlich sowohl durch Tradition als auch
durch einen ausgeprägten individuellen Stil geprägt. Es kann konstatiert werden,
dass sich neben anderen Elementen auch die historischen Rahmenbedingungen
bzw. die Umwelt auf das frühe Künstlerleben auswirken. Die konstanten Elemente
der Künstlerautobiografie nach Ernst Kris und Otto Kurz252 als auch nach
Christopher Laferl und Anja Tippner253 sind das frühe Talent, die Virtuosität, die
Außergewöhnlichkeit bzw. die Überlegenheit der Künstlerpersönlichkeit gegenüber
anderen Personen, die Genialität, die tiefer gehende Weltsicht und die Extravaganz
und diese erwiesen sich als gattungsimmanente Merkmale der beiden Werke. Die
beiden Autobiografien wurden auch hinsichtlich variierender Elemente von
Künstlerautobiografien untersucht, anhand der vier Komponenten nach John
250
Hähner: Historische Biographik (Anm. 64), S. 9. 251
Vgl. Göbel: Elias Canetti (Anm. 192), S. 121. 252
Vgl. Kris und Kurz: Die Legende vom Künstler (Anm. 120), S. 123-124, S. 131. 253
Vgl. Laferl und Tippner: Leben als Kunstwerk (Anm. 10), S. 10.
111
Clausen254, den persönlichen Ressourcen, die Ressourcen an Unterstützung und
Anleitung, dem Zugang zu Lebenschancen und den persönlichen Bemühungen und
Anstrengungen. Für alle vier variierenden Elemente konnten Entsprechungen in den
Werken gefunden werden. Bei diesen Werken erwiesen sich auch die schwierigen
Lebensumstände aufgrund der historischen und familiären Rahmenbedingungen als
entscheidend für die Ausbildung wichtiger Künstlerqualitäten. Die intellektuelle
Unterstützung erscheint auch von Bedeutung zu sein, die nach der Analyse dieser
beiden Werke unabhängig ist von der sozioökonomischen Stellung der Familie.
Erzähltheoretisch wurden diese Werke hinsichtlich eines Beschreibungsmodells
nach drei Kategorien aus der Erzähltheorie von Martin Scheffel und Matías
Martìnez255 untersucht.
Thomas Bernhard unterscheidet sich unter anderem durch seine „Methode, die
Vergangenheit in der Gegenwart mitzudenken“256 von einer klassischen
Autobiografie. Die Analyse zeigt, dass sich Canetti ebenfalls dieser Methode
bedient.
Die moderne Autobiografie erweist sich sowohl bei Canetti als auch bei Bernhard
als Konstrukt, in dem Orientierungsleistungen beschrieben und erklärt werden, die
sich aus individuellen und aus sozialisierten individuellen
Wahrnehmungsprozessen, die auch aus Emotionen bestehen, ergeben. Natürlich
hängen die Autobiografien auch von der kultur- und zeitspezifischen
Betrachtungsweise des Lebens ab. Bei diesen modernen Autobiografen fallen die
Wahrnehmung, die Erkenntnis und die Interpretation des Erlebten zusammen und
diese ergeben die autobiografische Wirklichkeit, die natürlich keiner
realitätsgetreuen Abbildung entsprechen kann. Vom Bild eines klassischen
Bildungsromans entfernen sich diese Autoren bewusst, denn das Ziel der
Lebensdarstellung liege nach der Analyse eher in der Selbstfindung und in der
Inszenierung des Lebens auf eine gewünschte Darstellungsform und nicht auf die
Nacherzählung eines idealen Lebensentwurfes. Die zwei Erzählweisen der Ironie
und der karikierenden Übertreibung kann man bei beiden Autobiografien finden und
diese zeigen wiederum, dass Canetti und Bernhard gerne mit der Sprache gespielt
254
Vgl. Clausen: Die gesellschaftliche Konstitution individueller Lebensläufe (Anm. 137), S. 207. 255
Vgl. Scheffel und Martìnez: Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 11). 256
Jesse: Die retrospektive Widerspiegelung der Identitätsentwicklung Jugendlicher anhand autobiographischer Romane (Anm. 15), S. 102.
112
haben. Die Autobiografien wirken sich auch auf die Rezeption der anderen Werke
dieser Autoren aus. Die literaturwissenschaftliche Rezeption der autobiografischen
Erzählungen führt oftmals zum Versuch der Belegung von Deutungen anderer
Werke. Doch diese Vorgehensweise unterliegt dem Fehlschluss, dass andere
Werke durch den autobiografischen Hintergrund aus den autobiografischen
Erzählungen erklärt werden können. Die Analyse dieser Arbeit zeigt jedoch auf,
dass die Autoren deutlich mit ihren Erinnerungen gespielt, sie inszeniert und
interpretiert dargestellt haben. Deshalb sollten sich Interpretationen anderer Werke
nicht auf die Angaben der autobiografischen Erzählungen stützen, denn die
autobiografischen Erzählungen können nicht als Beleg für den realitätsgetreuen
lebensgeschichtlichen Hintergrund der Autoren gelten.
113
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120
8) ANHANG (Lebenslauf)
PERSÖNLICHE DATEN
Name Kerstin Hackl
Titel Mag. rer. nat.
Geburtsort Zwettl, NÖ
Geburtsdatum 20.12.1989
Staatsbürgerschaft Österreich
Religion römisch-katholisch
AUSBILDUNG/BERUFLICHER WERDEGANG
1996 – 2000 Musikvolksschule Ottenschlag
2000- 2008 Bundesrealgymnasium Zwettl
2006 Absolvierung des europäischen Computerführerscheins (ECDL)
12. Februar 2008 Erwerb des Führerscheins der Klasse B
5. Juni 2008 Abschluss der 12. Schulstufe mit ausgezeichnetem Erfolg und
Absolvierung der Matura
Ab Oktober 2008 Diplomstudium der Psychologie an der Universität Wien
Seit Oktober 2009 Zweitstudium: Lehramt UF Psychologie/Philosophie und UF Deutsch
an der Universität Wien
Juni 2010 Abschluss des 1. Studienabschnittes des Diplomstudiums
Psychologie
August 2010 Zweiwöchiges freiwilliges Praktikum im Psychosomatischen Zentrum
Waldviertel Eggenburg
Juni 2011 Abschluss des 1. Studienabschnittes des Lehramtsstudiums (UF PP /
UF Deutsch)
Juli-August 2011 Psychologie-Pflichtpraktikum (240h) beim NÖ Hilfswerk-Zentrum für
Beratung und Begleitung in Zwettl
Sommer/Herbst 2011 Ausbildung und Arbeit als Student Advisor (Mentorin für
StudienanfängerInnen) an der Fakultät für Psychologie
121
Oktober 2012 Fachbezogenes Schulpraktikum am BG und BRG Bertha v. Suttner-
Schulschiff (1210 Wien, Donauinselplatz)
Februar 2013 Fachbezogenes Schulpraktikum am BG, BRG und BORG
Brigittenauergymnasium (1220 Wien, Karajangasse 14)
Laufend Nachhilfebetreuerin über das niederösterreichische Hilfswerk in den
Fächern Mathematik und Deutsch
25. April 2013 Erfolgreiche Diplomprüfung und Abschluss des Diplomstudiums
Psychologie mit der Verleihung des akademischen Grades „Magistra
der Naturwissenschaften“ (Titel der Diplomarbeit: Wissen und
Einstellungen von Lehramtsstudierenden zu internationalen
Schulleistungsstudien)
Ab 3. Juni 2013 Arbeit im BBRZ (berufliches Bildungs- und Rehabilitationszentrum)
als Mitarbeiterin für Maßnahmen in der beruflichen Rehabilitation in
3910 Zwettl