+ All Categories
Home > Documents > Die RepoRtage Montag, 29. November 2010 Lang, kalt, hart · kasus-gebirge, in der Re-publik...

Die RepoRtage Montag, 29. November 2010 Lang, kalt, hart · kasus-gebirge, in der Re-publik...

Date post: 28-Mar-2019
Category:
Upload: duongkhue
View: 213 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
1
DIE REPORTAGE Montag, 29. November 2010 0 Eßlinger Zeitung 16 A zau liegt im russischen Kau- kasus-Gebirge, in der Re- publik Kabardino-Balka- rien. Es ist die letzte Sied- lung im Baksan-Tal. Bis zur Grenze nach Georgien sind es elf Kilometer, bis zum Kaspischen Meer fünf Auto- stunden. Das Auswärtige Amt rät, nicht in den Kaukasus zu fahren. Es gibt auch keinen Marco-Polo-Reise- führer. Über was sollte man da auch schreiben? Über Bombenanschläge, bewaffnete Übergriffe und Entführun- gen? Die Bronx in New York ist ver- mutlich sicherer. Einen guten Grund gibt es trotzdem, Ferien in Azau zu machen. Über dem Dorf türmt sich der 5642 Meter ho- he Mount Elbrus auf. Da die Gren- ze nach Asien ein paar Kilometer weiter südlich verläuft, ist der Elb- rus der höchste Berg Europas und ei- ner der „Seven Summits“, Das sind die jeweils höchsten Gipfel von sie- ben Kontinenten. 2007 haben wir mit dem Kilimandscharo höchsten Berg Afrikas bestiegen, 2009 haben wir uns am Aconcagua in Südameri- ka versucht. Es wird Zeit, an dieser Liste zu arbeiten. Wir müssen also nach Azau. Ein Airbus der Aeroflot bringt uns nach Moskau. Umsteigen. Der Flug- hafen der Hauptstadt ist wie ein gro- ßer Laufsteg. Westlicher Chic an al- len Ecken. Die Frauen tragen Hèr- mes und Prada in Konfektionsgröße 34, es gibt Shops von Gucci, Hugo Boss, Ray-Ban, Rolex. Die Mieten in der russischen Metropole haben sich in den letzten Jahren verdreifacht. Moskau ist teurer als London und steht an der Spitze Europas. Am Flughafen sind selbst die Toiletten mit Marmor gefliest. Mit einer klapprigen Tupolew aus den 60er-Jahren geht es weiter in die Kaukasus-Region. Hier gibt es Plumpsklos. Azau besteht aus ein paar Hotels und Pensionen, einem Krämerladen und einer Hand voll Kneipen. Vor den Häusern rauchen die Grills, auf dem Markt wird Strick- ware angeboten, Katzen streunen umher. Der Ort ist doppelt so groß wie der Esslinger Marktplatz. Auf dem Weg dorthin gerät man immer wieder in Militärkontrollen. Ein paar Euro halten die Milizen bei Laune, die Kalaschnikows bleiben unten. Man kann die alte Sowjetunion förm- lich riechen. Wir bestellen Schaschlik und Bier und fragen uns: Was liegt zwischen den Designer-WCs in Moskau und den Plumpsklos am Fuße des Elbrus? Offensichtlich wenig. Russland ist schwerreich an Rohstoffen. Doch es hat in weiten Teilen die Infrastruk- tur eines Entwicklungslands. 25 Pro- zent der Erwachsenen haben kein Bankkonto. Hunderte entlegener Dörfer sind ohne Stromanschluss und warmes Wasser. Die Straßen erwei- sen sich als Schlaglochpisten, man sieht zerbombte Häuser, zerfallene Fabriken, verlasse- ne Siedlungen. In Russland fehlt die breite Mittel- schicht. Eine Gene- ration, die bei Ikea einkauft. Nur jeder vierte ist in der La- ge, langlebige Kon- sumgüter wie Autos, Fernseher, Waschmaschinen oder Billy-Regale anzuschaffen. Doch das wäre die Ba- sis echter Modernisierung, realer De- mokratie – und sozialer Gerechtig- keit. Wir treffen Lisa, eine sportliche Blondine mit Pferdeschwanz. Sie ist in Deutschland geboren und lebt seit 17 Jahren in Russland. Ihre Brötchen verdient sie als Bergführerin. Kein Ausländer war öfter auf dem Elbrus als sie. Lisa haben wir im Internet er- googelt. Sie ist unsere Rückversiche- rung, falls die Dinge in der Gipfel- nacht hoch oben am Berg aus dem Ruder laufen sollten. Der Elbrus kann ein ganz übler Bur- sche sein. Er gehört zu den gefähr- lichsten Bergen der Welt. In man- chen Jahren lassen hier mehr Men- schen ihr Leben als am Mount Eve- rest. In der Woche vor unserer An- kunft hatte es am Gipfel minus 32 Grad und 100 km/h Windgeschwin- digkeit. Das ist Orkanstärke. Das ist, als würde man mit einer Kawasaki über den Nordpol brettern. Beißen- de Kälte, blitzartige Wetterum- schwünge und Gletscherspalten so groß wie U-Bahnhöfe können den Elbrus zu einem heiklen Unterfan- gen machen. Wer im Schneesturm die Orientierung verliert, hat ein massives Problem. Mehr als 70 Glet- scher fließen von den Hängen hinab. Die Eiskuppe ist drei Mal so groß wie Esslingen. Das Risiko eines Spalten- sturzes steigt mit jedem Schritt. Am Fuße des Gletschers beziehen wir unser Basislager. Wir sind auf 4000 Metern Höhe, 2000 Meter oberhalb von Azau. Die meisten Bergsteiger übernachten in verros- teten Ölfässern. Sie liegen nebenei- nander, jeweils acht Leute passen hi- nein. Ein paar kleine bunte Zelte set- zen einen Farbtupfer in dieser öden, kargen Welt. Man stolpert über ver- rosteten Schrott, auf dem Gletscher liegen Benzinkanister, hier und da stehen kaputte Notstromaggregate herum, Altöl wird im Gletscherwas- ser entsorgt. 50 Meter abseits woll- te man eine Berghütte für Touristen bauen. Irgend- wann ging das Geld aus. Im Obergeschoss des Rohbaus ste- hen jetzt zwei Klohäuschen ohne Kloschüs- sel. In die Boden- platte wurden Löcher in der größe von Fußabstreifern geschlagen. Wenn man so will, fliegen die Fäka- lien vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Wir leben in Baucontainern. Dort gibt es Stockbetten ohne Matratzen. Wir werfen die Schlafsäcke auf eine dünne Holzplatte und fertig. Die Kü- che befindet sich in einem eige- nen Container. Tamara umsorgt uns hier wie ihre eigenen Kin- der. Es gibt Rühreier, leckere Suppen, frisches Gemüse, Gu- lasch, Salate, Kaffee und Tee, Wurst und Käse, Fisch und Fleisch. Fünf Liter Trinken am Tag sind Pflicht. Wir sitzen im Küchen-Container an der Bier- tischgarnitur und genießen die Zeit. Von hier aus sind es noch 1600 Höhenmeter zum Gipfel. Die absolute Streckenlänge zum höchsten Punkt und wieder zu- rück beträgt 20 Kilometer. Da- für braucht man 12 bis 16 Stun- den. Tamara schält Kartoffeln, die Töpfe dampfen, es ist mollig warm. Wir spielen Karten. In den folgenden Tagen machen wir Touren in immer höhere Re- gionen. Geschlafen wird im Basisla- ger. „Climb high, sleep low“ heißt das Motto der Höhenanpassung. Auf dem Gipfel des Elbrus beträgt der Sauerstoffpartialdruck nur noch die Hälfte. Man verliert 50 Prozent der Leistungsfähigkeit, körperlich und geistig. Wer hier ei- ne Stunde rastet, verbrennt mehr Energie als bei ei- ner Stunde Dauer- lauf. Langsam dämmert uns: Der Elbrus wird uns viel mehr abverlangen als der Kilimandscharo. Der Gipfelgang ist länger, kälter und härter. Der Kili ist das Lächeln Afri- kas, der Elbrus ist das eisige Gesicht Russlands. Wir haben unseren letz- ten Ruhetag vor dem Gipfelversuch. Wir liegen in der Sonne, vertrödeln die Zeit. Der Countdown läuft. Es kribbelt. Haben wir genug trainiert? Wir packen. In den Rucksack kommt nur das Allernötigste: Drei Liter Was- ser, Erste-Hilfe-Set, Power-Gels, zehn Aspirin, eine Dose Red Bull, Schoko- lade, Sonnencreme, Eispickel, Digi- talkamera, Ersatzakku. Es ist drei Uhr nachts. Wir haben schlecht bis gar nicht geschlafen. Es ist gespenstisch. Wir tragen zwei La- gen Skiunterwäsche, drei Jacken, Bergstiefel mit Thermo-Innenschu- hen, Steigeisen, Sturmhaube, Müt- ze, Skibrille, Stirnlampe und Höhen- messer. Das Thermometer zeigt mi- nus fünf Grad, die Wetterprognose ist gut. Ein letzter Schluck Tee, ein letztes Schulterklopfen. Lisa geht vorneweg, ihr russischer Gehil- fe geht hinten. Er ist unser Sicher- heitspuffer, falls jemand umdre- hen muss. Die Steigeisen schla- gen Funken, als wir durch das steinige Basislager staksen. Nach kurzer Zeit stehen wir am Fuß des Gletschers. Das ist der schlimms- te Moment überhaupt. Man betet, ei- ne halbwegs gute Tagesform zu er- wischen. Nur wer jetzt seine physi- sche und psychische Kraft auf den Punkt bringt, hat eine Chance. Die Gletscherflanke ist hart wie Beton. Perfekt. Die Steigeisen beißen sich fest wie Krokodilzähne. Wir steigen im Zeitlupentempo auf. Wer am An- fang hetzt, bricht am Ende ein. Es ist eine abenteuerliche Stille. Man hört nur die tiefen Atemzüge der Freun- de, das Knirschen der Steigeisen und das Klimpern der Karabiner am Klet- tergurt. Die Stirnlampen schweifen durch die Nacht, die Eiskristalle tan- zen auf dem Gletscher. 4900 Meter. Unterhalb des Ostgip- fels queren wir eine steile Flanke. Der Pfad ist etwa so schmal wie ein Biertisch. Links fällt die Wand 1000 Meter steil ab. Das Herz hämmert, die Lungen glühen, der Schweiß rinnt. Wie blöd muss man sein, sich das freiwillig anzutun? Die Querung nimmt kein Ende. Es ist eine Tortur. Wir fluchen. Und schnaufen. Und flu- chen. Und schnaufen. Gegen halb acht erreichen wir den Sattel. 5200 Meter. Von hier geht es zwei Kilometer durch ein eisiges Tal, rechts der Ostgipfel, links der etwas höhere Westgipfel. Wir stehen vor dem letzten Aufschwung, 45 Grad steil, blankes Eis. Der Höhenmesser zeigt 5300 Meter. Noch zwei Stun- den bis zum Gipfel. Die Hälfte aller Aspiranten bricht hier ab. Wir ma- chen Pause. Die Do- se Red Bull soll Flü- gel verleihen, ein paar Aspirin sollen die höllischen Kopf- schmerzen lindern. Wir nicken immer wieder kurz ein. Die Müdigkeit frisst sich im Körper fest, wir kommen nur schwer auf die Beine. Es ist neun Uhr, die Sonne strahlt. Auf das Wet- ter können wir es nicht schie- ben. Markus ist jetzt im tiefroten Be- reich. Wir fixieren seinen Ruck- sack mit einem Eispickel und wollen ihn auf dem Rückweg wieder mitnehmen. Schritt für Schritt quälen wir uns höher. Man hat das Gefühl, als hätte man einen trockenen Waschlap- pen im Mund. Wir erreichen den Kraterrand. 5540 Meter. Ge- schafft? Schön wär’s. Ganz hin- ten, am anderen Ende des Kra- ters, etwa zehn Fußballfelder entfernt, sehen wir den höchs- ten Punkt. Zum Heulen. 20 Minuten später stehen wir auf dem Dach Europas. Allein. Es ist 11.15 Uhr. Jubelgeschrei. Vergessen ist die Anstrengung der letzten Stunden. Wir hüp- fen wie kleine Kinder. Die Glückshormone sprudeln, wir umarmen uns, es kullern ein paar Tränen. Das sind die Mo- mente, die man ein Leben lang nicht vergisst. Ein Steinblock markiert den höchsten Punkt. Wir lassen ein paar Andenken da, Ketten, Glücksbringer. Die dünne Luft ist glasklar. Wir blicken in Rich- tung türkei, nach Georgien, in die russische Steppe. Warum gibt es dort unten Krieg und Hungersnot? Wir sehen die Erdkrümmung. Was die Liebsten zu Hause jetzt wohl ma- chen? Die meisten Unglücksfälle passieren beim Abstieg. Nach 30 Minuten bre- chen wir auf. Ein letzter Blick zu- rück. Markus schwankt wie Harald Juhnke. Lisa nimmt ihn ans kurze Seil. Das Risiko, an den steilen Flan- ken abzustürzen, ist zu groß. Die Sonne hat den Gletscher aufge- weicht, wir sinken ein bis zu den Kni- en. Immer wieder lassen wir uns ein- fach in den Schnee fallen. Um 15 Uhr torkeln wir ins Basislager. Tamara. Heißer Tee. Das erste Bier seit einer Woche. Zurück in Azau checken wir im Hotel Alpina ein. Der Chef sieht aus wie ein Kirmesboxer, kahler Schädel, die Hände groß wie Baseball- Handschuhe. Er trägt einen schwar- zen Adidas-Jogging-Anzug und fährt einen 5er-BMW mit 20-Zoll-Alufel- gen. Auf den ersten Blick könnte sein Hotel in Kitzbühel stehen. Auf den zweiten Blick nicht. Die Betten sind aus Pressspanplatten zusammenge- leimt, die Treppengeländer wackeln, die Balkone neigen sich nach vorn, die Wellness-Dusche spuckt bitter- kaltes Wasser aus. Wer nach Azau fährt, darf keinen westlichen Standard erwarten. Wer nach Azau fährt, erlebt Russland. Je- de Wette, dass die 70 Dollar fürs Doppelzimmer direkt in die Jogging- hose des Chefs wandern. Kein Fi- nanzminister wird jemals auch nur einen Teil dieses Geldes sehen. Doch wenn die öffentlichen Kassen leer sind, kommen bitter nötige Infra- strukturmaßnahmen nur schleppend voran. Am Ende lebt jeder nur für sich. Die einen fahren 5er-BMW und sind Hotelbesitzer, die anderen hau- sen zu acht in einer Zwei-Zimmer- Wohnung und werfen den Müll aus dem Fenster. Beide wohnen Seite an Seite. Russland ist ein armes, reiches Land. Wir sind froh, dass wir da wa- ren. Und wir sind froh, dass wir wie- der weg sind. Lang, kalt, hart Das Auswärtige Amt rät von Reisen ins russische Kaukasus-Gebiet „dringend ab“. Ziemlich töricht ist, wer trotzdem hinfährt. Doch die Besteigung des 5642 Meter hohen Mount Elbrus – der höchste Berg Europas und einer der „Seven Summits“ – ist einfach zu verlockend. Eine Zeitreise durch ein armes, reiches Land. Von Thorsten Jacobs Fröhliche Männer auf dem Gipfel: Matthias Kral, Thorsten Jacobs, Frank Naruhn und Markus Ottmayer (von links) – alle aus dem Esslinger Raum – haben die Strapazen von eben schon vergessen. Ein paar Euro halten die Mi- lizen bei Laune, die Kalasch- nikows bleiben unten. Die Sowjetunion lässt grüßen. Ganz hinten, etwa zehn Fuß- ballfelder entfernt, sehen wir den höchsten Punkt. Zum Heulen. Die Eiskuppe ist drei Mal so groß wie Esslingen. Das Risiko eines Spaltensturzes steigt mit jedem Schritt. Majestätisch ruht der Mount Elbrus im Kaukasus: Er ist das eisige Gesicht Russlands. Fotos: Jacobs
Transcript

Die RepoRtage Montag, 29. November 20100 Eßlinger Zeitung16

azau liegt im russischen Kau-kasus-gebirge, in der Re-publik Kabardino-Balka-rien. es ist die letzte Sied-

lung im Baksan-tal. Bis zur grenzenach georgien sind es elf Kilometer,bis zum Kaspischen Meer fünf auto-stunden. Das auswärtige amt rät,nicht in den Kaukasus zu fahren. esgibt auch keinen Marco-polo-Reise-führer. Über was sollte man da auchschreiben? Über Bombenanschläge,bewaffnete Übergriffe und entführun-gen? Die Bronx in New York ist ver-mutlich sicherer.einen guten grund gibt es trotzdem,Ferien in azau zu machen. Über demDorf türmt sich der 5642 Meter ho-he Mount elbrus auf. Da die gren-ze nach asien ein paar Kilometerweiter südlich verläuft, ist der elb-rus der höchste Berg europas und ei-ner der „Seven Summits“, Das sinddie jeweils höchsten gipfel von sie-ben Kontinenten. 2007 haben wirmit dem Kilimandscharo höchstenBerg afrikas bestiegen, 2009 habenwir uns am aconcagua in Südameri-ka versucht. es wird Zeit, an dieserListe zu arbeiten. Wir müssen alsonach azau.ein airbus der aeroflot bringt unsnach Moskau. Umsteigen. Der Flug-hafen der Hauptstadt ist wie ein gro-ßer Laufsteg. Westlicher Chic an al-len ecken. Die Frauen tragen Hèr-mes und prada in Konfektionsgröße34, es gibt Shops von gucci, HugoBoss, Ray-Ban, Rolex. Die Mieten inder russischen Metropole haben sichin den letzten Jahren verdreifacht.Moskau ist teurer als London undsteht an der Spitze europas. amFlughafen sind selbst die toilettenmit Marmor gefliest.Mit einer klapprigen tupolew ausden 60er-Jahren geht es weiter in dieKaukasus-Region. Hier gibt esplumpsklos. azau besteht aus einpaar Hotels und pensionen, einemKrämerladen und einer Hand vollKneipen. Vor den Häusern rauchendie grills, auf dem Markt wird Strick-ware angeboten, Katzen streunenumher. Der ort ist doppelt so großwie der esslinger Marktplatz. aufdem Weg dorthin gerät man immerwieder in Militärkontrollen. ein paareuro halten die Milizen bei Laune,die Kalaschnikows bleiben unten.Man kann die alte Sowjetunion förm-lich riechen.Wir bestellen Schaschlik und Bierund fragen uns: Was liegt zwischenden Designer-WCs in Moskau undden plumpsklos am Fuße des elbrus?offensichtlich wenig. Russland istschwerreich an Rohstoffen. Doch eshat in weiten teilen die infrastruk-tur eines entwicklungslands. 25 pro-zent der erwachsenen haben keinBankkonto. Hunderte entlegenerDörfer sind ohne Stromanschluss undwarmes Wasser. Die Straßen erwei-sen sich als Schlaglochpisten, mansieht zerbombte Häuser, zerfalleneFabriken, verlasse-ne Siedlungen. inRussland fehlt diebreite Mittel-schicht. eine gene-ration, die bei ikeaeinkauft. Nur jedervierte ist in der La-ge, langlebige Kon-sumgüter wie autos, Fernseher,Waschmaschinen oder Billy-Regaleanzuschaffen. Doch das wäre die Ba-sis echter Modernisierung, realer De-mokratie – und sozialer gerechtig-keit.Wir treffen Lisa, eine sportlicheBlondine mit pferdeschwanz. Sie istin Deutschland geboren und lebt seit17 Jahren in Russland. ihre Brötchenverdient sie als Bergführerin. Keinausländer war öfter auf dem elbrusals sie. Lisa haben wir im internet er-googelt. Sie ist unsere Rückversiche-rung, falls die Dinge in der gipfel-nacht hoch oben am Berg aus demRuder laufen sollten.Der elbrus kann ein ganz übler Bur-sche sein. er gehört zu den gefähr-lichsten Bergen der Welt. in man-chen Jahren lassen hier mehr Men-schen ihr Leben als am Mount eve-rest. in der Woche vor unserer an-kunft hatte es am gipfel minus 32grad und 100 km/h Windgeschwin-digkeit. Das ist orkanstärke. Das ist,als würde man mit einer Kawasakiüber den Nordpol brettern. Beißen-de Kälte, blitzartige Wetterum-schwünge und gletscherspalten sogroß wie U-Bahnhöfe können denelbrus zu einem heiklen Unterfan-

gen machen. Wer im Schneesturmdie orientierung verliert, hat einmassives problem. Mehr als 70 glet-scher fließen von den Hängen hinab.Die eiskuppe ist drei Mal so groß wieesslingen. Das Risiko eines Spalten-sturzes steigt mit jedem Schritt.am Fuße des gletschers beziehenwir unser Basislager. Wir sind auf4000 Metern Höhe, 2000 Meteroberhalb von azau. Die meistenBergsteiger übernachten in verros-teten Ölfässern. Sie liegen nebenei-nander, jeweils acht Leute passen hi-nein. ein paar kleine bunte Zelte set-zen einen Farbtupfer in dieser öden,kargen Welt. Man stolpert über ver-rosteten Schrott, auf dem gletscherliegen Benzinkanister, hier und dastehen kaputte Notstromaggregateherum, altöl wird im gletscherwas-ser entsorgt. 50 Meter abseits woll-te man eine Berghütte für touristen

bauen. irgend-wann ging dasgeld aus. imobergeschossdes Rohbaus ste-hen jetzt zweiKlohäuschen –ohne Kloschüs-sel. in die Boden-

platte wurden Löcher in der größevon Fußabstreifern geschlagen.Wenn man so will, fliegen die Fäka-lien vom Schlafzimmer insWohnzimmer.Wir leben in Baucontainern.Dort gibt es Stockbetten ohneMatratzen. Wir werfen dieSchlafsäcke auf eine dünneHolzplatte und fertig. Die Kü-che befindet sich in einem eige-nen Container. tamara umsorgtuns hier wie ihre eigenen Kin-der. es gibt Rühreier, leckereSuppen, frisches gemüse, gu-lasch, Salate, Kaffee und tee,Wurst und Käse, Fisch undFleisch. Fünf Liter trinken amtag sind pflicht. Wir sitzen imKüchen-Container an der Bier-tischgarnitur und genießen dieZeit. Von hier aus sind es noch1600 Höhenmeter zum gipfel.Die absolute Streckenlänge zumhöchsten punkt und wieder zu-rück beträgt 20 Kilometer. Da-für braucht man 12 bis 16 Stun-den. tamara schält Kartoffeln,die töpfe dampfen, es ist molligwarm. Wir spielen Karten.in den folgenden tagen machenwir touren in immer höhere Re-

gionen. geschlafen wird im Basisla-ger. „Climb high, sleep low“ heißtdas Motto der Höhenanpassung. aufdem gipfel des elbrus beträgt derSauerstoffpartialdruck nur noch dieHälfte. Man verliert 50 prozent derLeistungsfähigkeit, körperlich undgeistig. Wer hier ei-ne Stunde rastet,verbrennt mehrenergie als bei ei-ner Stunde Dauer-lauf.Langsam dämmertuns: Der elbruswird uns viel mehrabverlangen als der Kilimandscharo.Der gipfelgang ist länger, kälter undhärter. Der Kili ist das Lächeln afri-kas, der elbrus ist das eisige gesichtRusslands. Wir haben unseren letz-ten Ruhetag vor dem gipfelversuch.Wir liegen in der Sonne, vertrödelndie Zeit. Der Countdown läuft. eskribbelt. Haben wir genug trainiert?Wir packen. in den Rucksack kommtnur das allernötigste: Drei Liter Was-ser, erste-Hilfe-Set, power-gels, zehnaspirin, eine Dose Red Bull, Schoko-lade, Sonnencreme, eispickel, Digi-talkamera, ersatzakku.es ist drei Uhr nachts. Wir habenschlecht bis gar nicht geschlafen. esist gespenstisch. Wir tragen zwei La-gen Skiunterwäsche, drei Jacken,

Bergstiefel mit thermo-innenschu-hen, Steigeisen, Sturmhaube, Müt-ze, Skibrille, Stirnlampe und Höhen-messer. Das thermometer zeigt mi-nus fünf grad, die Wetterprognoseist gut. ein letzter Schluck tee, einletztes Schulterklopfen. Lisa geht

vorneweg, ihrrussischer gehil-fe geht hinten. erist unser Sicher-heitspuffer, fallsjemand umdre-hen muss. DieSteigeisen schla-gen Funken, als

wir durch das steinige Basislagerstaksen.Nach kurzer Zeit stehen wir am Fußdes gletschers. Das ist der schlimms-te Moment überhaupt. Man betet, ei-ne halbwegs gute tagesform zu er-wischen. Nur wer jetzt seine physi-sche und psychische Kraft auf denpunkt bringt, hat eine Chance. Diegletscherflanke ist hart wie Beton.perfekt. Die Steigeisen beißen sichfest wie Krokodilzähne. Wir steigenim Zeitlupentempo auf. Wer am an-fang hetzt, bricht am ende ein. es isteine abenteuerliche Stille. Man hörtnur die tiefen atemzüge der Freun-de, das Knirschen der Steigeisen unddas Klimpern der Karabiner am Klet-tergurt. Die Stirnlampen schweifen

durch die Nacht, die eiskristalle tan-zen auf dem gletscher.4900 Meter. Unterhalb des ostgip-fels queren wir eine steile Flanke.Der pfad ist etwa so schmal wie einBiertisch. Links fällt die Wand 1000Meter steil ab. Das Herz hämmert,die Lungen glühen, der Schweißrinnt. Wie blöd muss man sein, sichdas freiwillig anzutun? Die Querungnimmt kein ende. es ist eine tortur.Wir fluchen. Und schnaufen. Und flu-chen. Und schnaufen.gegen halb acht erreichen wir denSattel. 5200 Meter. Von hier geht eszwei Kilometer durch ein eisiges tal,rechts der ostgipfel, links der etwashöhere Westgipfel. Wir stehen vordem letzten aufschwung, 45 gradsteil, blankes eis. Der Höhenmesserzeigt 5300 Meter. Noch zwei Stun-den bis zum gipfel. Die Hälfte alleraspiranten bricht hier ab. Wir ma-chen pause. Die Do-se Red Bull soll Flü-gel verleihen, einpaar aspirin sollendie höllischen Kopf-schmerzen lindern.Wir nicken immerwieder kurz ein.Die Müdigkeit frisstsich im Körper fest, wir kommen nurschwer auf die Beine. es ist neunUhr, die Sonne strahlt. auf das Wet-

ter können wir es nicht schie-ben.Markus ist jetzt im tiefroten Be-reich. Wir fixieren seinen Ruck-sack mit einem eispickel undwollen ihn auf dem Rückwegwieder mitnehmen. Schritt fürSchritt quälen wir uns höher.Man hat das gefühl, als hätteman einen trockenen Waschlap-pen im Mund. Wir erreichen denKraterrand. 5540 Meter. ge-schafft? Schön wär’s. ganz hin-ten, am anderen ende des Kra-ters, etwa zehn Fußballfelderentfernt, sehen wir den höchs-ten punkt. Zum Heulen.20 Minuten später stehen wirauf dem Dach europas. allein.es ist 11.15 Uhr. Jubelgeschrei.Vergessen ist die anstrengungder letzten Stunden. Wir hüp-fen wie kleine Kinder. Dieglückshormone sprudeln, wirumarmen uns, es kullern einpaar tränen. Das sind die Mo-mente, die man ein Leben langnicht vergisst. ein Steinblockmarkiert den höchsten punkt.

Wir lassen ein paar andenken da,Ketten, glücksbringer. Die dünneLuft ist glasklar. Wir blicken in Rich-tung türkei, nach georgien, in dierussische Steppe. Warum gibt es dortunten Krieg und Hungersnot? Wirsehen die erdkrümmung. Was dieLiebsten zu Hause jetzt wohl ma-chen?Die meisten Unglücksfälle passierenbeim abstieg. Nach 30 Minuten bre-chen wir auf. ein letzter Blick zu-rück. Markus schwankt wie HaraldJuhnke. Lisa nimmt ihn ans kurzeSeil. Das Risiko, an den steilen Flan-ken abzustürzen, ist zu groß. DieSonne hat den gletscher aufge-weicht, wir sinken ein bis zu den Kni-en. immer wieder lassen wir uns ein-fach in den Schnee fallen. Um 15 Uhrtorkeln wir ins Basislager. tamara.Heißer tee. Das erste Bier seit einerWoche.

Zurück in azauchecken wir imHotel alpinaein. Der Chefsieht aus wie einKirmesboxer,kahler Schädel,die Hände großwie Baseball-

Handschuhe. er trägt einen schwar-zen adidas-Jogging-anzug und fährteinen 5er-BMW mit 20-Zoll-alufel-gen. auf den ersten Blick könnte seinHotel in Kitzbühel stehen. auf denzweiten Blick nicht. Die Betten sindaus pressspanplatten zusammenge-leimt, die treppengeländer wackeln,die Balkone neigen sich nach vorn,die Wellness-Dusche spuckt bitter-kaltes Wasser aus.Wer nach azau fährt, darf keinenwestlichen Standard erwarten. Wernach azau fährt, erlebt Russland. Je-de Wette, dass die 70 Dollar fürsDoppelzimmer direkt in die Jogging-hose des Chefs wandern. Kein Fi-nanzminister wird jemals auch nureinen teil dieses geldes sehen. Dochwenn die öffentlichen Kassen leersind, kommen bitter nötige infra-strukturmaßnahmen nur schleppendvoran. am ende lebt jeder nur fürsich. Die einen fahren 5er-BMW undsind Hotelbesitzer, die anderen hau-sen zu acht in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und werfen den Müll ausdem Fenster. Beide wohnen Seite anSeite. Russland ist ein armes, reichesLand. Wir sind froh, dass wir da wa-ren. Und wir sind froh, dass wir wie-der weg sind.

Lang, kalt, hartDas Auswärtige Amt rät von Reisen ins russische Kaukasus-Gebiet „dringend ab“. Ziemlich töricht ist, wer trotzdem hinfährt.

Doch die Besteigung des 5642 Meter hohen Mount Elbrus – der höchste Berg Europas und einer der „Seven Summits“ – ist einfach zu verlockend.Eine Zeitreise durch ein armes, reiches Land.

Von Thorsten Jacobs

Fröhliche Männer auf dem Gipfel: Matthias Kral, Thorsten Jacobs, Frank Naruhnund Markus Ottmayer (von links) – alle aus dem Esslinger Raum – haben dieStrapazen von eben schon vergessen.

Ein paar Euro halten die Mi-lizen bei Laune, die Kalasch-nikows bleiben unten. DieSowjetunion lässt grüßen.

Ganz hinten, etwa zehnFuß-ballfelder entfernt, sehenwir den höchsten Punkt.Zum Heulen.

Die Eiskuppe ist drei Malso groß wie Esslingen. DasRisiko eines Spaltensturzessteigt mit jedem Schritt.

Majestätisch ruht der Mount Elbrus im Kaukasus: Er ist das eisige Gesicht Russlands. Fotos: Jacobs

Recommended