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Die Macht der Träume

Date post: 03-Jan-2017
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Nebel wallte in trägen Schwaden um die Mauern im Zentrum der Schwarzen Festung. Mit langen Schritten durchmaß der Gefangene den weiten Vorhof, und der Dunst teilte sich vor ihm. Stille herrschte - die Ruhe der Ewigkeit. Rakal blieb kurz stehen und blickte zurück. Neben dem Eingang, der in die schwarzen Räume hineinführte, brannte eine Fackel, und ihr unsteter Schein tanzte auf den dunklen Wänden. Weit empor ragten sie, und oben vereinten sie sich mit den Nebelschwaden und der Nacht, die seit tausend Jahren von keiner aufgehenden Sonne mehr erhellt worden war. Die Zinnen der eigentlichen Festung waren kantige und zerfranste Konturen, Schatten innerhalb von Schatten. Der Gefangene eilte weiter, bis unmittelbar vor ihm die Mauer des Außenwalls in die Höhe wuchs. Rakal strich mit den Fingerkuppen darüber hinweg, und der Stein fühlte sich kalt an — ein Frost, der noch weitaus kühler war als der, der in seinem Innern herrschte und mit dem ihn die Götter gestraft hatten, damals, vor tausend Jahren. Das hinter einer Maske verborgene Gesicht des Gefangenen verzerrte sich kurz in einem Anflug von Haß. Seit tausend Jahren konnte er nicht mehr schlafen und träumen. Seit tausend Jahren war er hinter den schwarzen Mauern des Außenwalls eingekerkert. Seit damals, als er versucht hatte, selbst zu einem der Götter zu werden. Seit damals, als sie ihn verhöhnt und für seinen Frevel bestraft hatten. Und in all dieser Zeit war sein Verlangen nach Rache immer weitergewachsen. Er würde Vergeltung üben an denen, die ihn bestraft hatten - und auch an den Menschen, die die Götter verehrten und sie lobten. Rakal ballte unwillkürlich die Fäuste und trat vor das breite Tor im hohen Außenwall. Er spürte bereits die sich nähernden Gedanken der Frau. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie die Außenmauern erreichte und durch das Tor trat, das nur von außen durchschritten werden konnte. Er lauschte dem diffusen Strom ihrer Träume und Visionen, und er freute sich darauf, einen weiteren kleinen Teil seiner Rache vollenden zu können. Oftmals hatten Finsterlinge aus den Höllentiefen der Unterwelt seinen magischen Ruf hinausgetragen in die Sphäre des Lichts, und manchmal war er auf ein Echo gestoßen. So wie jetzt. Die Angeln der großen bronzenen Platte knirschten, und langsam, ganz langsam öffnete sich das Tor. »Komm«, flüsterte Rakal und hob die Arme. »Komm zu mir.« Und die Frau kam. Sie trat durch das offene Tor. Ihr Haar hatte die Farbe von welkem Laub, und ihre Augen glänzten in der Tönung eines sturmgepeitschten Meeres. Sie trug ein seidenes, besticktes Gewand. Sie bewegte sich mechanisch, wie eine von unsichtbaren Fäden gesteuerte Marionette. Dicht vor Rakal blieb sie stehen. »Wie heißt du?« wisperte er. Tellure, sagten lautlos ihre Lippen. Mit den Fingerspitzen strich Rakal über ihr Gesicht, und er betrachtete ihren hellen Seelenschatten. Bilder zeichneten sich darin ab, rasch wechselnde Szenerien von weiten Ebenen, hohen Bergen, Tälern mit Blumen und Bächen, die Gesichter von Freunden und Verwandten, von Männern und Kindern. O ja, die Träume und Phantasien Tellures waren stark ausgeprägt. Sie mochten sich in einen guten Traumkristall umwandeln lassen — einen Baustein für den Turm, den Rakal seit vielen hundert Jahren in den unteren Gewölben der Schwarzen Festung

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plante und durch den er seine Freiheit wiederzugewinnen hoffte. »Betest du auch jetzt noch zu den Göttern?« fragte Rakal spöttisch. »Hoffst du auch jetzt noch auf ihren Beistand?« Er lachte schrill. Tellure antwortete ihm nicht. Sie vernahm seine Worte gar nicht. Sie war ebenfalls eine Gefangene - eine Gefangene des magischen Rufes Rakals, der von seinen dämonischen Helfern in die Welt des Lichts hinausgetragen worden war. Mit einem jähen Ruck packte er die. Hand der Frau und zog sie mit sich. Zusammen mit ihr steuerte er wieder auf den Eingang der eigentlichen Festung im Innern des Außenwalls zu. Trotz seines festen Griffs löste sich kein Laut von den Lippen Tellures. Ihre Augen starrten in das Dunkel der ewigen Nacht, aber ihr Blick weilte noch immer in einer Sphäre der Helligkeit. Am Hals Tellures zeigte, sich eine kleine Kette mit magischen Knochensplittern, so, wie sie in einigen Regionen Imagants üblich waren. Rakal lachte leise und voller Vorfreude. Vielleicht war diese Frau sogar eine Hexe, bewandert in einigen Künsten der Magie. Das würde ihre Träume um so wertvoller machen. Rakal stieß sie in den Eingang hinein und blickte noch einmal zurück. Die hoch aufragenden Außenmauern der Festung waren nun inmitten der düsteren Nebelschwaden verborgen. Einst hatte er versucht, mit Hilfe der Finsterlinge eine Treppe aus Steinen zu bauen, die unendlich hoch in den Himmel ragen sollte. Doch die Mauern waren einfach mitgewachsen. Dann hatte er begriffen, daß er diese Mauern nicht auf natürlichem Wege überqueren konnte. Und er hatte sich tief in seine Bücher vergraben und nach einem Wesen gesucht, das höher fliegen könnte als alle Mauern der Welt. Er hatte seinen mächtigsten Ruf ausgeschickt, doch er war ungehört verhallt. Nur eine Ahnung war ihm zurückgeblieben, wie von weißen Schwingen im Sonnenlicht. Dann hatte er sich nur noch tiefer in seinen Haß vergraben. Seitdem hatte er viele Jahrhunderte in seinem dunklen Gefängnis gewartet und die Träume der Seelen gesammelt, die sich dann und wann auf seinen Ruf hin zu ihm verirrten. Und er würde noch viele Jahre warten und sammeln . . . . . . wenn nicht die Keime, die im Dunkeln heranwuchsen, erwachten. Rakal zerrte die junge Frau durch dunkle und kalte Korridore. Noch schwiegen die Wände der schwarzen Räume. Noch hatten sie nicht ihr ewiges Spottlied angestimmt, und der Gefangene war dankbar dafür. Hier und dort in dem weiten Labyrinth aus Kammern und Gängen und Gewölben brannten Talgfackeln, und ihr zitternder Schein war wie ein stummes Lachen, das ihn ebenso verhöhnte wie die Festung selbst. Am Ende eines Ganges ging es eine lange Treppe hinunter. Die Stufen waren genauso schwarz wie die Wände - erbaut aus Kälte und Nacht, geschaffen von den Göttern selbst. »Ich hasse euch«, kam es flüsternd von den Lippen Rakals. »Und wenn ich erst Freiheit und Macht wiederer-

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langt habe . . . Dann werde ich mich rächen an euch und den Menschen . . .« Er klammerte sich an dieser Absicht fest, schon seit vielen hundert Jahren. Tellure stöhnte leise, als es in den Mauern zu flüstern begann. Rakal stieß sie weiter vor sich her. Ganz unten im tiefsten Gewölbe der Schwarzen Festung war die Stimme der Steine nur ein Flüstern, denn dort unten begann das Reich der Unterwelt. Er versuchte, dem Spottlied der Festung zu entkommen. Vielleicht hatten die Wächter auf den Mauern geschlafen und geträumt. Jetzt aber erwachten sie wieder. Gefangen sollst du sein, bis ans Ende der Zeit, Ohne Schlaf und ohne Ruhe. Gestrandet bist du, an der Ewigkeiten Gestade, Und niemals enden soll dein Leid. Erst wenn sich lichtet der Nebel und sich öffnet die Truhe, Mit Silber beschlagen, Berühren dich die Hände der Gnade, Und der Wind wird dich zu Grabe tragen. Rakal schrie, aber er konnte den Spottgesang von den Mauern nicht übertönen. Tellure begann, am ganzen Leib zu zittern. Ein Frevler bist du, Gefangener der Schwarzen Räume. Du wolltest sein ein Gott. Du suchtest nach dem Traum der Träume Und fandest doch nur Hohn und Spott. Tellure riß sich von ihm los. Durch das von den Wänden widerhallende Spottlied der Schwarzen Festung hatte sie sich zum Teil aus dem magischen Bann Rakals befreien können. Sie griff nach ihrer Halskette, und aus ihrem Mund drang ein Schaltwort, ein Wort der Macht. Eine glühende Aureole hüllte sie ein, und in diesem Gleißen formte sich eine Feuerlanze, die auf Rakal zielte. Sie fauchte auf ihn zu, aber dicht vor ihm löste sie sich einfach auf. Der Gefangene der Schwarzen Festung lachte schrill. Tellure ließ die Kette los und stürzte auf ihn zu. Mit einem plötzlichen Ruck riß sie ihm die Maske vom Gesicht. Sie starrte in Rakals entstellte Züge. Eine dämonische Fratze war es, und sie schrie auf und sank entsetzt auf die Knie. Rakal packte sie an den Schultern, zerrte sie in die Höhe und stieß sie erneut vor sich her. Er schob die Maske wieder an ihren Platz. »O ja«, zischte er. »Ich bin sicher, deine Träume werden einen besonders guten Baustein für den Seelenturm abgeben. Eine. Hexe bist du. Hast du wirklich geglaubt, stärker zu sein als ich?« Sie gab keine Antwort. Der Bann war wieder so fest wie zuvor. Als sie das Gewölbe am Fuß der langen Treppe erreichten, war der Spottgesang von den Festungsmauern nur mehr ein undeutliches Wispern. Rakals Blick fiel auf die mit Silber beschlagene Truhe, die in einer Nische stand. Darin hatten die Götter den Teil seines Ichs gefangen, der ruhen und träumen konnte: seinen Seelenschatten. Der Riegel lag lose in der Halterung, aber Rakal hatte oft vergeblich versucht, ihn zur Seite zu schieben und die Truhe zu öffnen. Er war sicher, daß er Freiheit und Macht wiedererlangen konnte, wenn es ihm gelang, diesen Teil seines Ichs zurückzugewinnen. Aber es gab auch noch andere Möglichkeiten. Das Tiefengewölbe war eine weite, dunkle Halle, und der Boden. . . Ein großes Trichterrund zeigte sich dort: ein Tunnel, der hinabführte in die Höllentiefen der Unterwelt, ins Reich der Schatten und Schemen, der Mahre und Dämonen. Rakal führte die nun wieder willenlose Tellure am Rand des

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Trichters entlang auf den Seelenturm zu. Seit fast tausend Jahren arbeitete er schon daran. Die Finsterlinge trugen seinen magischen Ruf in die Welt des Lichts, und er raubte den Menschen, die ihm gehorchten und zu ihm kamen, die Träume und Phantasien, die den Turm in die Höhe wachsen ließen. Rakal blieb mit der jungen Frau einige Meter davor stehen. Seine Ungeduld nahm zu. Noch einmal betrachtete er den Seelenschatten der Hexe. Dann hob er die Arme, sprach ein Schaltwort und entriß der Frau einen großen Teil ihrer Träume. Tellures Gesicht wurde kalkweiß, aber sie konnte sich nicht wehren. Wimmernd und stöhnend sank sie auf den kalten Fels. Und Rakal hielt in seinen Händen einen großen Kristall, in dessem Innern das kleine Gesicht der jungen Frau zu sehen war. Ein furchtsames Gesicht war es, von Grauen erfaßt. Rakal lachte schrill und fügte das Juwel ein ins Fundament des Turms, aus dem ihn andere in Kristallen gefangene Augen anstarrten. »Kann ich sie haben?« fragte eine heisere Stimme hinter ihm. Rakal drehte sich um, und sein Blick fiel auf ein dunkles Schattenwesen. Aus dem unförmigen Körper starrten ihn zwei glühende, kirschfarbene Augen an. Der Finsterling aus den Tiefen der Unterwelt kam näher und blickte auf die immer noch am Boden liegende Tellure. »Nein«, sagte Rakal scharf. »Bring sie in die Kammer zu den anderen. Sie soll schlafen. Und träumen. Ihre Phantasien sind wertvoll und können mir noch weitere Traumkristalle bescheren. Der Turm muß wachsen. Und wenn er fertig ist. . .« Wenn er fertig war und seine obere Spitze die Decke berührte - dann würde er zerspringen, und die in ihm gefangenen Träume mochten die Mauern der Festung einstürzen lassen und ihm Freiheit und Macht wiedergeben. Dann hatte er endlich die Gelegenheit, Rache zu nehmen an den Göttern und den Menschen. Dann hatte er endlich die Gelegenheit, den Traum der Träume zu finden und dadurch zu einem der Götter zu werden - nein, zu dem Gott. »Du kannst sie alle haben, wenn ich wieder frei bin. Du und deine Höllenbrüder. . . Ich werde euch in die Welt des Lichts führen, und alle Menschen sollen eure Opfer sein.« Der Finsterling tanzte voller Vorfreude, und das Glühen seiner roten Augen verstärkte sich. »Ich bin gekommen, um dir eine gute Nachricht mitzuteilen«, grollte er. »Die Keime. . . Sie sind endlich gediehen, Herr. Unter großen Mühen haben wir sie durch die wenigen Ritzen und Spalten, die die Unterwelt noch mit der Sphäre des Lichts verbinden, in die Welt der Helligkeit getragen.« Rakal sah ihn groß an. Damit war etwas geschehen, auf das er schon viele hundert Jahre gewartet hatte. »Sie sind. . . erwacht?« »Ja. Und die Traumdiebe machen sich nun auf den Weg. Viele sind es, Tausende und Abertausende. Du brauchst nun keine Menschen mehr zu dir zu rufen. Die Traumdiebe werden Visionen und Phantasien stehlen und die Beute zu dir tragen.« Vor seinem inneren Auge sah Rakal ein bestimmtes Bild: dämonische Schattenwesen, die sich an schlafende Menschen heranschlichen und ihnen das stahlen, was er, der Gefangene der Schwarzen Festung, brauchte, um die Freiheit wiederzuerringen und Vergeltung zu üben. Er blickte auf den Turm, der erst nur einen knappen Meter hoch

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war. Er würde jetzt schneller wachsen, viel schneller. Und wenn er zerbarst und alle Träume mit einemmal freisetzte, war die Stunde seiner Rache gekommen. »Singt nur, ihr Mauern«, flüsterte Rakal. Er lachte triumphierend. »Jetzt brauche ich nicht mehr lange zu warten. Es gibt viele Menschen und viele Träume. Bald bin ich frei. . .«

Und so machte sich eine ganze dämonische Armee auf den Weg. Die Nacht war ihr Freund und Beschützer, aber die Traumdiebe scheuten auch den Tag nicht. Sie selbst brauchten nicht zu ruhen. Sie jagten weiter, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Überall dort, wo Menschen schliefen, waren sie zugegen. Habbat war einer von ihnen. Und seine Gier nach Träumen, nach farbigen Visionen und Phantasien, war schier unersättlich. Zusammen mit einigen anderen dämonischen Schwestern und Brüdern durchstreifte er Ebenen und Bergtäler. Sein Weg führte ihn über die Gletscher hoher Berge, durch ausgedehnte Tulpenwälder, in deren Blüten Menschen träumten. Er lauschte den Stimmen ihrer Visionen. Er nahm nur einen kleinen Teil für sich selbst, und den anderen, weitaus größeren, übergab er Helfern oder anderen Traumdieben, die in die Unterwelt zurückkehrten und sich von dort aus auf den Weg machten zum Trichter, der ins unterste Gewölbe der Schwarzen Festung hinaufführte. . Menschen starben. Andere flohen. Aber die Traumdiebe verfolgten sie. Habbat hatte eine ganz spezielle Traumquelle gewittert. Er ließ sich von seinem Gespür leiten, und das führte ihn in die Nähe eines Tempels. Seine marmornen Säulen erhoben sich auf einem Hochplateau, und der Nachtwind flüsterte und sang an den uralten Gemäuern entlang. Er sah einen Jungen, einen einsamen Wanderer, der auf den Tempel zuhielt, sich ab und zu niederkniete und ein Gebet sprach. Habbat schlich sich an den Jungen heran. Der Traumdieb kannte weder Furcht noch Angst. Er gehorchte nur den Worten seines Herrn — Worten, die bereits in dem Keim enthalten gewesen waren, der fast tausend Jahre gebraucht hatte, um zu gedeihen. Er betrachtete den hellen Seelenschatten des Jungen — einleuchtendes Fanal in der Dunkelheit. In Habbats Nähe wisperten und raunten andere Traumdiebe. Er hastete weiter. Er wollte der erste sein, der dem Menschenkind die Visionen stahl. Als er bereits ganz nahe herangekommen war, drehte der Junge den Kopf auf die Seite. Blinde Augen glänzten matt im perlmuttfarbenen Schein des Mondes. Die beiden Silben eines Namens wehten dem Traumdieb entgegen: Bacnar. Der Junge sprang mit einem Satz auf und eilte flink und behend auf den breiten Eingang des Tempels zu. »Orakel«, vernahm Habbat die Stimme des Blinden. »Ich spüre etwas Finsteres in meiner Nähe. Ich habe einen weiten Pilgerweg hinter mir, um dich zu befragen, Orakel. Bitte, hilf mir.« Der Junge orientierte sich mit einer Sicherheit, die der eines Sehenden in nichts nachstand. Er setzte über die Treppenstufen hinweg und eilte in die Tempelhalle hinein. Habbat setzte ihm nach, aber auf der obersten Stufe verharrte er. Hier spürte er etwas anderes: ein Feuer, das heißer war als das in der Unterwelt, ein Brennen, das seinen ganzen Schattenleib erfaßte.

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Der Blick aus seinen gelben Augen fiel auf die große Statue des Orakels, und er wich zurück. Der Zugang ins Innere des Tempels war ihm verwehrt, der Junge in Sicherheit. Der Traumdieb wandte sich zornig ab und kehrte zu seinen Brüdern und Schwestern zurück. »Es war nur ein Junge, ein blinder Junge«, flüsterten sie. »Voraus liegt das Kaskadental Imagants. Dort leben Menschen mit besonders starken Träumen. Dort können wir unseren Hunger stillen und dem Befehl unseres Herrn genügen.« Und so eilten sie weiter, immer weiter — bis sie das Tosen eines Wasserfalls und die flüsternden Gedanken schlafender und wehrloser Menschen vernahmen . . .

Tela war noch in der Nacht aufgebrochen. Sie hatte die schlafende Kerina in ihrer Tropfsteinhöhle hinter der Kaskade zurückgelassen und war die Stufen der langen Treppe hinuntergeeilt, die am Rand des großen Wasserfalls ins Tal führte. Am Himmel zeigte sich nicht der Schatten einer einzigen Wolke, und die Sterne funkelten und glänzten und schienen ihr zuzublinzeln: Lauf nur, kleine Tela. Lauf nur. Bald ist die Nacht zu Ende, und mit dem Tag kommt das Erwachen. Jetzt ruhen Blätter und Blumen, Sträucher und Bäume. Aber wenn die Sonne hinter dem Horizont emporsteigt, geht der Schlaf zu Ende. Und Tela lief. Sie lachte leise, als sie den Talgrund erreichte und flink wie ein Wiesel über die Steine sprang, an denen die gischtenden Wasser der Kaskade vorbeifluteten. Sie lief weiter, immer weiter, vorbei auch an den Hütten des Dorfes Sogno. Sie achtete darauf, keine Geräusche zu verursachen, denn sie wollte niemanden in seiner Ruhe stören. Sie liebte diese Stunde: die Frische der sich ihrem Ende entgegenneigenden Nacht, das leise Rascheln der Blätter und Zweige, bewegt vom Wind oder der Freude auf einen neuen Tag. Die blasse Scheibe des Mondes überstrahlte das Tal mit einem perlmuttfarbenen Glanz. Das Licht spiegelte sich in dem Wasser wider, das sich in einem weiten Becken sammelte und als breiter und träger Fluß der Ebene entgegengurgelte. Jede einzelne Welle flüsterte mit einer anderen Stimme. Jeder Tropfen erzählte mit seiner eigenen Stimme. Einmal hockte sich Tela kurz auf dem Kiesufer nieder und lauschte der Melodie des Wassers. Es erzählte von Bergen und Gletschern, von Eis und Schnee, vom Himmel gefallen im Winter, im Frühling geschmolzen. Die Tropfen flüsterten und raunten und sangen von Bächen, von algenbewachsenen Felsen, von Fischen und Muscheln. Sie erzählten Tela, wie sie zu sich gefunden hatten, wie sie sich zu einem Fluß vereinten. Sie erzählten von anderen Dörfern und Städten des Landes Imagant, von Menschen mit fremden Gesichtern, von Lagerfeuern in der Nacht, von Gesängen und Festen. Tela lauschte und nahm alles in sich auf. Sie summte ein Lied, das sie von Kerina gelernt hatte. Es war ein Lied, das die Nacht und den Tag lobte, die Blumen und Wiesen, das Wasser und den Boden, aus dem alles gedieh. Sie sprang weiter, über Felsen hinweg, über die Keimlinge von Tulpen und Rosen. Das Dorf blieb allmählich hinter ihr zurück. Ihr Ziel war das Ende des Tals, die Ebene, die dort

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begann und sich bis zum Horizont erstreckte, das Grasland und die Terrassenäcker am Hang des letzten Hügels. Ihre schmalen Hände strichen über die fleischige Borke eines großen Pilzbaums, und ganz dicht an ihrem Ohr flüsterte es: »Bist du es, Tela? Solltest du nicht schlafen? Bald geht die Sonne auf. Es wird ein warmer Tag mit viel Arbeit, auch für dich, kleine Tela.« »So klein«, lachte sie, »bin ich gar nicht mehr.« »Ach«, seufzte der Pilzgeist, und die Lamellen der Krone bewegten sich knisternd, »ich weiß. Alles wächst und wird größer. Aber nur während der Jugend ist die Welt voller Rätsel und Wunder. Bewahre dir die Kraft deiner Phantasie, Tela. Sie ist ein kostbares Gut.« »Das sagt Kerina auch immer.« »Und sie hat recht«, bestätigte der Pilzbaum. »Und nun lauf weiter. Es dauert nicht mehr lange bis zum Sonnenaufgang.« Und die flüsternde und sanfte Stimme fügte hinzu: »Erzählst du mir eine Geschichte, wenn du zurückkommst?« »Wenn mir Kerina Zeit läßt«, sagte Tela. »Ja, dann erzähle ich dir eine Geschichte.« Sie lief weiter am Ufer des Flusses entlang, folgte den Stimmen des Wassers und des auf den Wellenkämmen im Lichte des Mondes glänzenden Schaums. Eidechsen huschten dahin, und sie verharrten, wenn Tela an ihnen vorbeieilte. »Gruß dir, kleine Geschichtenerzählerin«, raunten Steine und Sträucher, Blüten und Pollen. »Warum hast du es denn so eilig?« »Der Sonnenaufgang«, gab sie zurück, ohne in ihrem Lauf innezuhalten. »Ich möchte sehen, wie die Sonne aufgeht.« »Ein neuer Tag«, sang der Wind. »Ja, bald ist es wieder soweit. . . Ein neuer Tag. Lauf, Tela, lauf geschwind. Das sagt dir der Wind.« Als Tela sich dem Talausgang näherte, wälzten sich die Fluten des Flusses immer träger und langsamer dahin, und aus dem myriadenfachen Flüstern der einzelnen Tropfen wurde eine einzige Stimme, die einen Lobgesang auf das Meer anstimmte. Tela lauschte auch diesem Lied eine Weile, und sie spürte die melancholische Sehnsucht der Wellen. Irgendwo jenseits des Horizonts wartete das Meer auf sie, ein Ozean ohne Anfang und ohne Ende. Das war das Ziel der langen Reise eines jeden Wassertropfens. Und dort würde sich auch ihr Schicksal erfüllen. Die Wärme des Tages und der Sonne mochte sie verdunsten und aufsteigen lassen. Dann schlössen sie sich wieder zusammen zu großen weißen Wolkenbergen, die von der Stimme des Windes gelenkt wurden, über andere Täler und andere Ebenen, hin zu anderen Bergen, wo das Wasser anschließend wieder herabregnen konnte. Alles ist ein einziger großer Kreislauf, dachte Tela erfreut. Und ich bin ein Teil davon. Wie alles andere auch. Im Osten verfärbte sich bereits der Horizont. Purpurne Blässe überzog dort den Himmel und kündigte den neuen Tag an. Der Wind lebte ein wenig auf und strich mit ausgebreiteten Streichelarmen über das Gras der weiten Ebene. Die hohen Halme wiegten sich von einer Seite zur anderen. Ihre Blüten waren noch geschlossen, aber wenn die Sonne aufgegangen war, würde sich das ganze Land in einen blühenden Garten verwandeln. Tela betrachtete die Terrassenäcker am Hügelhang. Das Korn war schon fast ausgereift, und in den dicken Ähren steckten Tausende und Aber-tausende von Körnern, die dazu beitrugen, daß das Dorf Sogno während des Winters keinen Hunger litt.

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Lächelnd nickte Tela. Es war genau die richtige Zeit. Die Zeit zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Nacht und Tag. Die Zeit, zu der der Tanz am schönsten war. Rasch streifte sie das Seidengewand ab — es war das Geschenk eines Pilgers aus dem Norden, den sie mit ihren Geschichten erfreut hatte —, und nackt sprang sie fort, hinein in das hohe Gras. Sie reckte die Arme gen Himmel und rief: »Hörst du mich, Wind? Sing ein Lied für mich. Ein Lied, nach dem ich tanzen kann. Sing das Lied der aufgehenden Sonne und des neuen Tages.« Und der Wind erfaßte ihr langes, bis zu den Hüften herabfallendes Haar und bewegte es wie einen Schleier aus Gold. Er strich mit seinen sanften Händen über Telas Leib, und sie tanzte zu seiner Melodie. Es war ein Lied der Freude, das in dem jungen Mädchen sofort Widerhall fand. Telas Bewegungen waren anmutig und graziös, und die Grashalme raunten: »Es ist Tela, ja, Tela. Und seht nur, wie sie tanzt!« Und Tela tanzte. Sie sprang durch das hohe Gras, wirbelte um ihre eigene Achse und versuchte, mit ihren Händen den Wind zu fangen, dessen laue Böen sich ihr entzogen. Am östlichen Horizont breitete sich der Glanz aus, und bald darauf ging die Sonne auf. Ihr Gleißen ließ das Licht der Sterne verblassen, und Tela hielt kurz in ihrem Freudentanz inne, um den Stimmen des ersten Tageslichts zu lauschen. »Du bist schon wach, Tela?« streichelte die Wärme der Sonnenstrahlen über ihren Körper. »Solltest du nicht noch schlafen?« »Ich tanze!« rief Tela. »Ich tanze für dich, Sonne. Ich tanze zur Musik des Windes.« Sie breitete die Arme aus, und einige der Vögel ließen sich darauf nieder und krächzten: »Kennst du neue Geschichten, Tela, kleine Tela?« Sie lachte. »Ich kenne so viele.« Und die Erde zu ihren Füßen seufzte: »Auch mir sind viele bekannt, mehr, als ich in tausend mal tausend Tagen und Nächten erzählen könnte. Wieviel Gras schon auf mir gewachsen ist! Wie oft ich Leben geschenkt und genährt habe!« Und der Geist des Bodens fügte hinzu: »Ich habe Durst, Tela.« Und auch aus diesem Grund war sie hier: Am frühen Morgen, dann, wenn die Sonne gerade erst aufgegangen war und alles Lebendige und Beseelte aus der Ruhe der Nacht erwachte, kannten die Gräser, Sträucher und Halme die meisten Geschichten. Sie war nicht in erster Linie gekommen, um zu erzählen, sondern um selbst zuzuhören. Tela stellte ihr Tanzen ein und hob noch einmal die Arme gen Himmel. »Hörst du mich, Wind?« Und die Stimme des Windgeistes flüsterte: »Natürlich höre ich dich, kleine Tela.« »Eile fort, Wind, und hole eine Wolke herbei«, sang Tela. »Eine große Wolke soll es sein, grau wie Schiefer, hoch wie ein Berg.« Das Flüstern und Raunen der lauen Böen verklangen eine Zeitlang, während der Wind nach einer geeigneten Wolke suchte. Weit oben fauchte und grollte es, als die hauchfeinen Auswüchse kleiner Dunsttupfer zusammenwuchsen. Das Weiß verfärbte sich und wurde immer dunkler. Die zusammengeballte Regenwolke schob sich vor den Mond und schluckte sein letztes Licht. Der Wind heulte, aber er sandte seine Böenkinder nicht bis zum Boden herab. Dort säuselte er nur und

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ließ Telas langes blondes Haar wie eine Fahne aus Seide wehen. Das junge Mädchen legte den Kopf in den Nacken und lachte. Und der Wind fragte: »Magst du den Regen?« »Ich mag alles, was du mir bringst.« Daraufhin ließ der Wind es regnen. Es waren dicke und schwere Tropfen. Sie zerstoben auf den dünnen Asten von Wiesenbüschen. Sie teilten sich und flossen an den Halmen des hohen Grases entlang. Sie rannen Tela über Stirn und Wangen und bedeckten ihre Brüste mit frischer Kühle. Das Gras, das noch immer ihre Beine und Hüften umschmiegte, streifte die letzten Reste der Nachtruhe ab. Tela sprach mit den Geistern von Himmel, Luft und Erde, und Hunderte von zarten und kleinen Blütenkelchen öffneten sich. Der durstige Boden saugte die Nässe in sich auf und gab sie an die Wurzeln des Grases weiter. Die Vögel, die sich auf Telas Schultern niedergelassen hatten, stiegen auf und versuchten zirpend und flügelschlagend, einzelne Tropfen des Regens einzufangen. Und die Wassergeister der Tropfen erzählten ihre Geschichten. Sie berichteten von dem weiten Meer, von den Stürmen, die darüber hinwegtosten und hohe Wellenberge auftürmten. Sie erzählten von der Gemeinschaft des Wassers und der Neugeburt allen Seins. Sie erzählten von der Sonne, die die Nässe verdunsten ließ. Sie erzählten vom Wind, der die so entstehenden Wolken auf das Land zulenkte. Sie erzählten von Felsen, zwischen denen sie versickerten. Und sie erzählten von Quellen, durch die sie wieder zu Bächen und Flüssen wurden. Tela lauschte all diesen Geschichten, so wie es Kerina sie gelehrt hatte. Sie war wie ein Schwamm, der keine Nässe aufsaugte, sondern Bilder fremder Länder und Erfahrungen. Nach dem kurzen Schauer ließ der Wind die Wolke wieder zerfasern, und die Wärme der aufgehenden Sonne kehrte zurück. Tela tanzte noch eine Zeitlang zur Musik des Windes und dem Reigen zirpender Vögel. Dann schließlich ließ sie sich ins Gras sinken, und ihre Fingerspitzen strichen an den noch feucht glänzenden Halmen des hohen Grases entlang, die zart und sanft über ihren Leib tasteten. »Eure Geschichten«, sagte Tela nach einer Weile, »sind heute anders als sonst.« Sie legte den Kopf auf die Seite und lauschte. Ein vierflügliger Libellenkäfer kroch über ihre Hand. Sie betrachtete das Insekt eine Weile und flüsterte dann: »Flieg, kleiner Käfer. Flieg davon, und suche Nektar. Es sind schon alle Blüten geöffnet.« Die winzi-gen Facettenaugen des Insekts blickten sie an, und die Stimme des Käfergeistes sagte: »Ich habe dich gesucht, Tela, keinen Nektar.« Und die Grashalme fügten hinzu: »Die Steine im Boden. . . Sie erzählen uns Geschichten, die wir kaum glauben können. Wir . . . Wir fürchten uns, kleine Tela.« »Aber wovor denn?« Sie lachte, und es klang wie das Geläut ferner Glocken. »Seht doch! Die Sonne steigt auf. Die Blüten duften. Es ist ein neuer Tag. Ich kann nirgends etwas sehen, das . . .« Sie hielt inne, als sie es selbst spürte: ein Hauch von Kälte in der frischen Wärme des frühen Morgens, ein Prickeln dort, wo eigentlich nur wohlige Entspannung hätte sein müssen. »Es droht Gefahr«, krächzte die Stimme des Käfergeistes, und die Grashalme neigten sich bestätigend von einer Seite zur anderen. »Eine Gefahr, die nur ruht, wenn Menschen wach sind. Sie kommt von weither, und ihr Ziel ist Imagant.« Tela bekam plötzlich eine Gänsehaut. Sie blickte den Libellenkäfer groß an und fragte leise: »Bitte berich-

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te mir davon. Worin besteht diese Gefahr?« »Kehre zurück, Tela. Kehre rasch zu Kerina zurück. Die alte Geschichtenerzählerin hat dich schon überall gesucht. Sie ist in großer Sorge um dich. Und sie ist müde. Du mußt sie unbedingt erreichen, bevor sie einschläft.« Der Käfer breitete seine vier Flügel aus und stieg summend auf. »Bevor sie einschläft?« fragte Tela ungläubig. »Aber sie hat doch die ganze Nacht geruht.« »Geh zu ihr«, flüsterte das Gras, und der Wind fügte hinzu: »Auch ich empfinde es nun: Etwas Dunkles zieht heran, Tela, kleine Tela. Frag Kerina. Sie kennt die Gefahr. Sie ist alt, und sie weiß um Legenden und Sagen, von denen sie dir noch nie etwas berichtet hat. Geh zu ihr, Tela. Und beeil dich. Es bleibt dir nicht mehr viel Zeit. . .« Tela sprang auf und eilte durchs hohe Gras. Eine Windbö trug ihr das seidene Gewand zu. Sie ergriff es und zog es sich rasch über den Kopf. Der Stoff des Kleides war völlig trocken, aber bald begann Tela in der Wärme zu schwitzen, und bald klebte das Gewand wie eine zweite Haut an ihrem Körper fest. Rechts und links von ihr ragten die Talhänge auf, bewachsen mit Stechginster, Pilzbäumen und hohen Fichten. Große Bergadler stiegen auf, und selbst die knarrenden Stimmen der Könige der Lüfte klangen nun verwirrt und besorgt. Tela lief am Ufer des Flusses entlang auf den Wasserfall zu. Die Kaskade toste und rauschte wie immer. Wie Silber ergossen sich die Fluten über die mehr als hundert Meter hohen Felsen. Der Schaum zerstob in der Luft, und das helle Licht der Morgen-sonne schuf, wie an jedem Tag, einen wunderschönen Regenbogen. Tela lief immer schneller. Die Geister der Erde und Pflanzen flüsterten mit erregten Stimmen, und die Aura der Unruhe verstärkte sich immer mehr. Irgend etwas war geschehen. Und als Tela das Dorf Sogno erreichte, fiel ihr etwas auf, das an diesem Morgen völlig anders war als an allen anderen. Ruhig und stumm lagen die Hütten vor ihr. Nichts rührte sich. Kein Kind lachte. Keine Mutter sang. Kein Vater reinigte die Holzwerkzeuge für die bevorstehende Arbeit auf den Terras-senäckern. Tela eilte auf die Treppe zu, die auf der einen Seite des breiten Kaskadenbeckens in den Fels gemeißelt war. Normalerweise waren um diese Zeit alle Bewohner des Dorfes auf den Beinen. Aber abgesehen von dem Donnern des Wasserfalls herrschte eine Stille wie tief in der Nacht. Das junge Mädchen kletterte in die Höhe, und die klamme Furcht in ihm nahm zu. Dicht neben ihm rauschten die schaumigen Fluten des Wasserfalls in die Tiefe, und die Wassergeister der zerstäubten Tropfen riefen: »Sieh dich vor, kleine Tela. Sie sind noch immer da. In der Dunkelheit der Nacht kamen sie, und am Tag verstecken sie sich.« »Wer?« rief Tela. »Von wem sprecht ihr, Geister des Wassers?« Aber die Tropfen wiederholten nur immer wieder ihre Warnung, und der Regenbogen wisperte: »Beeil dich, Tela. Kerina ist müde, und bald wird sie schlafen.« Tela erreichte die oberste Stufe der Treppe und schob sich vorsichtig über den glitschigen Felsvorsprung, der unter der Kaskade hindurchführte. Nur drei Armeslängen von ihr entfernt stürzte die Gischt des Stroms in die Tiefe und sammelte sich in dem weiten Becken, aus dem der Fluß entsprang. »Kerina?« rief sie, als sie am Zugang

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zum Tropfsteinheim der alten Geschichtenerzählerin angelangt war. Keine Antwort. Tela schob sich in den Felsspalt hinein. Nach einigen Metern wurde der schmale Garig breiter, und sie gelangte in eine weite Höhle. Das Rauschen und Tosen der Kaskaden waren hier nur mehr eine leise Stimme, die in der Ferne vom Meer erzählte. Rauchlose Fackeln brannten an den Wänden, und hier und dort waren einige tönerne Schalen mit Duft-Öl aufgestellt. Licht und Düfte verwoben sich zu einem seltsamen Muster. Telas Blick fiel auf große, säulenartige Stalagmiten und Stalaktiten. Die Spitzen der in Jahrtausenden gewachsenen Kalksteine strebten aufeinander zu, und das in einem beständigen Rhythmus herabtropfende Wasser rief Tela zu: »Beeil dich, kleine Tela. Es bleibt dir kaum noch Zeit. Schnell. Schnell!« Und Tela lief. Sie sprang über kleine Becken hinweg, in denen sich das kalkhaltige Wasser sammelte. Sie eilte an schleierartigen Vorhängen vorbei, die in prächtigen Farben erstrahlten, wenn das Licht im richtigen Winkel auf sie fiel. Kleine Stege führten über tiefe Gruben hinweg. Tela hielt nicht inne. Sie kannte dieses Tropfstein-heim. Sie hatte lange mit Kerina zusammengelebt und Gelegenheit gehabt, alle noch so verborgenen Winkel und Nebenhöhlen zu erforschen. Voraus tanzte ein Schatten über die marmorierte Wand. »Kerina?« Und Kerina antwortete: »Komm rasch, Tela. Ich muß dir etwas erzählen. Komm rasch . . .« Die alte Geschichtenerzählerin hatte ihr eigentliches Lager in einer der vielen Nebenhöhlen aufgeschlagen. Auf dem Boden lagen Flechtmatten, die ihr von den Bewohnern Sognos geschenkt worden waren als Dank für Geschichten und Lieder. An den Wänden hingen Vorhänge und seidene Bildteppiche — Gaben von Besuchern aus anderen Regionen Imagants, die hierhergekommen waren, nur um Kerinas Stimme zu lauschen. Die alte Frau war weit über das Dorf im Kaskadental hinaus berühmt, und Tela empfand großen Stolz, von einer solchen Erzählerin unterwiesen zu werden. Im Schein der Fackeln wirkte Kerinas Gesicht hohl und eingefallen. Ihre grünen Augen lagen tief in den Höhlen, und das graue Haar war wie von einer Sturmbö zerzaust. Die Falten in den Augenwinkeln und auf den Wangen schienen sich während der Nacht tiefer in die Haut gefressen zu haben. Das knittrige Gewand umhüllte eine knochige und hagere Statur. Einige Pergamentrollen waren auf den Flechtmatten ausgebreitet, und mit zittrigen Fingern strich Kerina darüber hinweg, las murmelnd einige der Verse und holte anschließend aus einer Ecke der Tropfsteinkammer zwei Krüge hervor. »Es tut mir leid, wenn ich dir Sorge bereitet habe«, sagte Tela leise. »Ich bin in der Nacht aufgebrochen, um während des Sonnenaufgangs auf der Wiese am Talausgang zu tanzen.« »Und das war gut so«, sagte Kerina. Sie sah Tela kurz an, und in ihren Augen sah das junge Mädchen einen Schatten, den es dort vorher noch nie erblickt hatte. »So haben sie dich nicht gefunden.« »Wen meinst du denn?« fragte Tela. Kerina winkte ab, während sie aus dem einen Behälter Knochensplitter hervorholte. »Stell mir jetzt keine Fragen, Tela. Hör mir nur zu.« Sie seufzte. »Ich bin müde, so schrecklich müde . . .«

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Aus dem anderen Behälter goß die alte Geschichtenerzählerin ein wenig Öl in eine kleine Schale. Es entzündete sich sofort, als Kerina ein bestimmtes Schaltwort aussprach. Eine Flamme wuchs knisternd in die Höhe. Die alte Frau streckte die Hände aus, und das Feuer tanzte über ihre Haut, ohne sie verbrennen zu können. Tela betrachtete währenddessen den Seelenschatten der Geschichtenerzählerin. Er war nur mehr ein diffuser Schemen ohne Farbe. Das Schillern war verblaßt, und die perlenden Flächen des Ichs Kerinas hatten einen großen Teil ihres Glanzes eingebüßt. Kerina ordnete die Knochen zu einem bestimmten Muster an. Ihre Bewegungen waren fahrig und nervös. »Hörst du mich, Geist des Feuers?« fragte sie krächzend. Und in den Flammen, die aus der tönernen Schale aufstiegen, bildete sich das Gesicht eines alten Mannes. Seine Augen ähnelten glühenden Kohlen, und die Haare bewegten sich wie Schlangen aus aneinandergereihten Funken. »Du suchst meinen Rat, Geschichtenerzählerin?« »Ja.« Kerina seufzte und hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Sie winkte Tela zu sich heran, und das junge Mädchen folgte ihrer stummen Aufforderung. Es hockte sich neben der alten Frau auf das Flechtwerk und sah ebenfalls ins Feuer. »Ich will dir eine Geschichte erzählen«, wandte sich Kerina an Tela, und ihre Stimme klang dabei so dumpf, als flüstere sie aus einem Grabgewölbe empor. »Eine letzte Geschichte. Hör gut zu, Tela, denn es ist wichtig. Das Schicksal ganz Imagants steht auf dem Spiel.« Sie legte kurz den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. »Vor langer, langer Zeit«, begann sie, »lebte fern von hier ein junger Zauberer namens Rakal. Er ging bei einem erfahrenen und klugen Gwyden in die Schule. Er wurde unterwiesen in der Kunst, den Stimmen der Welt zu lauschen. Und der Gwyde lehrte ihn auch das geheime Wissen der Schaltwörter, mit denen man Macht über alles Belebte und Beseelte gewinnen kann. Zunächst war Rakal ein guter Schüler. Aber als er glaubte, selbst ein Meister zu sein, setzte er sich immer wieder über die Anweisungen des Gwyden hinweg. Er hielt sich für mächtig genug, der Natur seinen Willen aufzuzwingen. Und in seiner Ver-messenheit war er sogar davon überzeugt, daß es ihm gelingen könnte, sich über sein sterbliches Los zu erheben und in die Reihen der Götter aufgenommen zu werden.« Das Gesicht des Feuergeistes verschwand aus den Flammen. Statt dessen zeigte sich dort nun das Bild eines weiten Landes, das von Eis und Schnee regiert wurde. Ein alter Mann verließ ein gläsernes Haus, und der zurückbleibende Junge machte sich sofort an das Studium der Schriften, die ihm der Gwyde verboten hatte. Während Kerina ihre Erzählung fortsetzte, veränderten sich die Bilder rascher. »Aber Rakal wußte auch, daß ihm — trotz all der Macht, die er schon errungen hatte — noch etwas Entscheidendes fehlte, um den Göttern gleich zu werden. Es gibt verschiedene Bezeichnungen für diesen Faktor, an dem es ihm noch mangelte: Manche nennen ihn >Stein der Weisen<; manche bezeichnen ihn als das >Göttliche Auge<. Für Rakal jedoch war die fehlende Stufe in der langen Treppe hinauf zu den Göttern der >Traum der Träume<. Immer dann, wenn sein Lehrmeister nicht zugegen war, beschwor er Helfer und befahl ihnen, nach diesem >Traum der Träume< zu suchen. Wenn er ruhte, machte sich sein Seelenschatten auf

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weite Reisen. Er erschreckte die Menschen in ihrem Schlaf, denn sie spürten, daß etwas Fremdes und Unheilvolles ihre Gedanken berührt hatte.« Kerina seufzte, und ihre Lider zitterten. Als Tela noch einmal den Seelenschatten der alten Frau betrachtete, stellte sie fest, daß er sich weiter getrübt hatte. »Ruh dich ein wenig aus«, sagte sie. »Es geht dir nicht gut.« Kerina erbebte am ganzen Körper. »Nein«, krächzte sie erschöpft. »Ich darf nicht schlafen. Ich bin sicher, er ist noch hier.« Und um einer Frage ihrer jungen Schülerin zuvorzukommen, fügte sie rasch hinzu: »Ja, die Menschen spürten etwas Verderbli-ches. Rakal hatte sich verändert. Seine Seele war von einem unheilvollen Ehrgeiz zerfressen. Er vergaß die Werte, die ihn der Gwyde gelehrt hatte. Er vergaß, wie vermessen es für einen Sterblichen ist, den Anspruch zu erheben, zu einem Gott zu werden. Wer in die Macht der Schaltwörter eingeweiht ist, muß ein Diener der Men-schen sein, nicht ihr Herr. Nun, als Rakals Suche lange Zeit ohne Erfolg blieb, entschloß er sich dazu zu versuchen, andere Helfer unter seinen Willen zu zwingen. Er fand den Sphärentrichter, der die Welt des Lichts mit der der Finsternis verbindet. Und er stieg hinab in die Unterwelt.« Tela blickte aus großen Augen in die Flammen. Der Feuergeist zeigte nun ein weites Trichterrund und eine lange Treppe, die sich an den Wänden entlang in die Tiefe wand. In dem jungen Mädchen regte sich tiefe Besorgnis. Kerina hatte ihr viel von der Domäne des Bösen erzählt. Sie mochte diese Geschichten nicht. Sie erschreckten sie. Viel lieber lauschte sie der Stimme des Windes, seinen Liedern, die er für sie sang und zu denen sie so gut tanzen konnte. »Rakal schloß ein Bündnis mit den Mächten des Unheils«, sagte die alte Frau mit brüchiger Stimme. Es fiel ihr immer schwerer, die Augen offenzuhalten. Irgendwo in der Nähe spürte Tela etwas Kaltes und Finsteres. Sie sah sich rasch um, konnte jedoch nichts erkennen. »Dies aber blieb dem Lehrmeister des jungen Mannes nicht verborgen. Er stellte seinen Schüler zur Rede, aber Rakal lachte ihn nur aus und schleuderte ihm eines der geheimen Worte entgegen, die töten können. Wie vom Blitz getroffen brach der Gwyde zusammen, und in dem Glauben, ihn besiegt zu haben, ließ ihn Rakal hohn-lachend zurück, und fortan lebte er direkt am Rand des Trichters, der in die Hölle hinabführte. Der Gwyde aber war nicht tot. Nach vielen Wochen erwachte er aus seiner Starre, und er machte sich auf den langen Weg zum Sitz der Götter. Er kam in Demut, und er berichtete den Göttern von den Untaten seines Schülers. Er flehte sie an, einzugreifen und das Unheil von Imagant abzuwenden.« Tela schauderte, als der Feuergeist auch weiterhin die Worte Kerinas mit entsprechenden Bildern veranschaulichte. »Und die Götter erhörten den Gwyden. Sie stellten Rakal eine Falle. Sie sorgten dafür, daß einer der Dämonenherren, die er beschworen hatte, ihm sein wirkliches Gesicht zeigte.« Tela beobachtete die entsprechende Szene: die Züge eines jungen Mannes — sie verzerrten sich plötzlich und wurden zu einer Fratze des Grauens. »Aber Rakal wußte sich dennoch zu schützen. Im letzten Augenblick schob er sich eine Maske vors Gesicht und verhinderte so, daß er selbst zu einem

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Schattenwesen wurde, zu einem Dämon unter vielen anderen. Und daraufhin erbauten die Götter die Schwarze Festung am Rand der Welt. Sie konnten Rakal nicht zu einem Schemen machen, aber sie nahmen ihm einen großen Teil seines Ichs — jenen Teil, der ruhen und schlafen und träumen konnte. Sie sperrten seinen Seelenschatten in eine mit Silber beschlagene Truhe am Rand des Sphärentrichters, und sie verurteilten Rakal dazu, bis ans Ende der Zeit an sich selbst zu leiden und innerhalb der Schwarzen Räume der Bastion gefangen zu sein. Der Gwyde aber, der Lehrmeister Rakals, der die Götter warnte und sich voller Demut an sie wandte. . . Er wurde als ein Gott unter die Götter aufgenommen. Sein Name ist Benven.« »Der Herr der Berge und Ebenen«, murmelte Tela und blickte in die Flammen. Sie sah einen maskierten Mann, der ruhelos Gänge und Korridore durchstreifte. »Er tut mir leid«, sagte sie leise. »Es ist eine harte Strafe. Und vielleicht hat er sich inzwischen geändert. Vielleicht hat er eingesehen, welches Unheil er beinahe über die Welt gebracht hätte.« »Er tut dir leid?« krächzte Kerina. »Tela, kleine Tela. . . Du bist noch jung. Du siehst alles mit den Augen der Unschuld. Rakal ist böse. Er ist bis in sein tiefstes Inneres verdorben. Seit dem Bittgang Benvens und der Errichtung der Schwarzen Festung sind zehnmal hundert Jahre vergangen, und noch immer hat Rakal seine Ab-sicht, zu einem der Götter zu werden, nicht aufgegeben. Er ist kein Mensch mehr, Tela. Er dürstet nach Vergeltung sowohl an den Menschen als auch an den Göttern. Und wenn es ihm gelänge, aus der göttlichen Bastion auszubrechen . . . Seine Macht wäre viel größer als damals. Er hat erneut ein Bündnis mit den Schattenwesen Geas geschlossen, Tela. Sie haben ihm geholfen, und sie helfen ihm noch immer. Oh, der Sphärentrichter ist versperrt, ja. Die Mauern der Schwarzen Festung hindern auch die Dämonen daran, in unsere Welt zu gelangen. Aber es gibt an anderen Orten viele Spalten und Fugen. Nur die Geringsten der Unterwelt sind dazu in der Lage, das Höllenreich durch diese Ausgänge zu verlassen. Und das ist auch der Grund, warum selbst während der vergangenen tausend Jahre das Böse niemals ganz ausstarb, Tela. Sicher, es waren keine Dämonenherren, die in der Nacht in unsere Welt wechselten. Es waren nur einfache Finsterlinge. Aber sie trugen den magischen Ruf Rakals mit sich. Und manch ein Mensch fiel diesem Ruf zum Opfer.« Der Oberkörper Kerinas neigte sich von der einen Seite auf die andere, und Tela streckte den Arm aus und hielt die Geschichtenerzählerin fest. »Kerina? Du darfst doch nicht schlafen, Kerina. . .« Und die Besorgnis in ihr nahm zu. Noch verstand sie nicht alle Zusammenhänge. Sie begriff nur, daß der alten Frau große Gefahr drohte, wenn sich ihre Augen schlössen und ihre bewußten Gedanken umwölkten. »Ich danke dir, Tela«, murmelte Kerina so leise, daß das junge Mädchen sie kaum verstehen konnte. »In den vergangenen tausend Jahren sind immer wieder Männer und Frauen verschwunden, manchmal sogar Kinder. Viele hielten das für eine Laune der Götter, aber jetzt wissen wir, daß Rakal dafür verantwortlich ist. Er holte sie zu sich, weil er hoffte, einer von ihnen sei im Besitz des >Traums der Träume< mit dem er die Mauern der Schwarzen Festung einstürzen lassen und zu den Göttern aufsteigen

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kann. Und jetzt hat er die Traumdiebe ausgeschickt. Sie durchziehen ganz Imagant, und wenn Menschen schlafen, dann schleichen sie sich heran und stehlen ihnen alle Träume und Visionen. Heute nacht. . .« — Kerina sah Tela groß an —, ». . . heute nacht waren Sie auch hier im Kaskadental. Sie krochen in die Hütten, und sie kamen auch in mein Tropfsteinheim. Sie. . . sie stahlen mir einige meiner besten Geschichten. Und ich weiß nicht einmal mehr, welche es waren. Ich kann mich nicht mehr erinnern.« Sie seufzte, und wieder fielen ihr die Augen zu. »Die Geister der Gräser und Bäume flüsterten mir zu, etwas Dunkles und Unheilvolles sei herangezogen«, sagte Tela. »Und das stimmt auch.« Kerina stöhnte. »Tela, was sind wir Menschen ohne unsere Träume? Nichts weiter als leere Behälter. Wenn uns die Traumdiebe Rakals die Seelenschatten stehlen, gibt es keine Geschichten mehr, die man sich erzählen kann. Dann verlieren die Menschen nicht nur den Glauben an sich selbst, sondern auch den an die Geister der Welt, in der sie leben. Dann kann niemand mehr der Stimme des Windes lauschen.« Tela sprang auf. »Ich werde diesen Glauben niemals verlieren!« versprach sie. Aber Kerina flüsterte: »Auch du bist in Gefahr, kleine Tela. Die Traumdiebe sind überall. Und niemand, der schläft, kann ihnen entkommen. Sie stehlen und rauben, und wenn sie genügend Träume erbeutet haben, kehren sie in die Unterwelt zurück, um von dort aus zur Schwarzen Festung zu eilen.« Kerina seufzte und lehnte sich zurück. Ihr Kopf rutschte über die Flechtmatten. Tela war mit einem Satz an ihrer Seite, ergriff die Arme der alten Frau und versuchte, sie in die Höhe zu ziehen. »Nein, laß mich«, krächzte Kerina. »Es ist schon viel zu spät. Ich kann nicht mehr gegen den Schlaf ankämpfen.« Tela sah, wie sich der Seelenschatten der Geschichtenerzählerin weiter verfinsterte. »Hör mir zu, Tela, hör mir gut zu«, wisperte die alte Frau.« Du mußt fort von hier, ganz rasch fort. Es ist gut, daß du in der Nacht aufgebrochen bist, um mit dem Wind und dem hohen Gras zu tanzen. Vielleicht haben dich die Traumdiebe dadurch übersehen. Vielleicht wissen sie nichts von dir. Verlasse das Kaskadental. . .« »Aber. . . aber wohin soll ich denn gehen, Kerina? Und wenn du recht hast, dann sind die Traumdiebe doch schon überall in Imagant.« »Ja«, raunte die alte Frau. »Ja, sie sind überall. Du mußt dich vor ihnen in acht nehmen. Solange du wach bist, können sie dir nichts anhaben. Aber wenn du schläfst. . . dann schleichen sie sich an dich heran und stehlen dir deine Geschichten.« »Wie sehen sie denn aus?« fragte Tela. In ihren himmelblauen Augen schimmerte es feucht. »Nein . . . Nein, du kannst sie nicht sehen. Sie verstecken sich. Sie tarnen sich. Die Matte, auf der du stehst. . . Es könnte ebensogut einer der Traumdiebe sein.« Tela blickte zu Boden und trat rasch einen Schritt zur Seite. Die Matte sah ganz normal aus. »Sie kommen nur zum Vorschein, wenn man schläft«, krächzte Kerina. »Und selbst wenn einer von ihnen so unvorsichtig sein und sich dir zeigen sollte: Du kannst nur den Traumdieb sehen, der einen Teil deines eigenen Seelenschattens gestohlen hat.« Ihre Lider zitterten.

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»Bitte, Kerina«, sagte Tela. »Bitte, schlaf nicht ein. Du darfst nicht ruhen. Nicht jetzt. Nicht hier. Komm mit mir, Kerina.« Sie zog erneut an den Armen der Geschichtenerzählerin. Die alte Frau schlug noch einmal die Augen auf. »Ich kann ihn schon spüren, meinen eigenen Traumdieb. Er ist ganz in der Nähe. Geh fort, kleine Tela. Fliehe von hier.« Die in ihren Pupillen schwebenden Schatten der Müdigkeit wurden tiefer. »Rakal baut einen Seelenturm, Tela. Mit all den gestohlenen Träumen und Visionen. Und wenn er vollendet ist, wird er zerbersten, und dann stürzen vielleicht die Mauern der Schwarzen Festung ein. Dann ist Rakal wieder frei, und die Horden seiner Schattenarmeen werden der Welt des Lichts Tod und Verderben bringen. Die Bastion . . . Sie liegt am Ende der Welt. Finde. . . Peridor. Er kann dich dort hintragen. Befreie die im Seelenturm gefangenen Träume, Tela. Nur so kann das Unheil von Imagant abgewendet werden.« »Aber wie denn?« fragte Tela verzweifelt. »Ich bin nur eine Schülerin, eine Erzählerin, die noch viele Geschichten erfahren möchte. Und Peridor ist fort. Du hast mir selbst von der Legende des Flügelpferds berichtet.« »Ja. . . Ich weiß«, stöhnte Kerina. »Der Hengst Peridor floh vor dem magischen Ruf Rakals. Er wollte mit dem Flügelpferd die Zinnen der Schwarzen Festung überfliegen und die Mauern auf diese Weise einstürzen lassen. Aber Peridor lebt. Ich bin ganz sicher. Du mußt den Hengst finden. Das Flügelpferd kennt alle Regionen der Welt. Es kann mit dir selbst zum entlegensten Ort fliegen. Und beeil dich, Tela. Bald wird sich der Tag verdunkeln, und wenn Rakal seinen Seelenturm vollendet hat, mag ein Zeitalter der Finsternis beginnen. Beeil dich, Tela. Und sieh dich vor. Die Traumdiebe lauern überall. . .« Damit schlossen sich die Lider der alten Geschichtenerzählern.

Tela versuchte, Kerina aufzuwecken, aber ihre Bemühungen erbrachten keinen Erfolg. Nach einer Weile gab sie es auf. Ihre Blicke glitten hin und her, aber nirgends konnte sie einen Schatten sehen, der nicht ins Tropfsteinheim der alten Frau gehörte. Sie kniete sich vor der tönernen Schale nieder, aus der noch immer die Flammen des Feuergeistes prasselten. Zwei glühende Kohlen musterten sie. »Kannst du ihr nicht helfen, Geist des Feuers?« fragte Tela zaghaft. »Kannst du ihr nicht die Kraft geben, wach zu bleiben und mit mir zu kommen?« Und die Flammen antworteten knisternd und knarrend. »Nein, kleine Tela, das kann ich nicht. Befolge den Rat Kerinas. Verlaß die Höhle. Geh fort von hier. Und suche das Flügelpferd. Nur Peridor kann dich zur Schwarzen Festung bringen.« Unmittelbar im Anschluß an diese Worte sanken die Flammenzungen in sich zusammen, und zurück blieb ein kleiner Rest Öl. Tela goß es vorsichtig in den Krug zurück und warf noch einen letzten Blick auf die Geschichtenerzählerin. Kerina lag lang ausgestreckt auf den Flechtmatten, und ihr Seelenschatten war nur mehr ein diffuser Schimmer ohne jeden Glanz. »Wie soll ich es schaffen?« flüsterte Tela, und die Stimmen der Höhlengeister wisperten ihr zu: »Du mußt es versuchen, Tela. Und es bleibt dir nicht viel Zeit. Die Traumdiebe haben schon reiche Beute gemacht. Geh fort. Suche Peridor, den Hengst mit den weißen Schwingen.« »Aber wo?« fragte Tela. »Wo?«

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»Das wissen wir nicht«, summten die Stimmen der Tropfsteine und Lachen, der Kristalle und des Kalksteins. Tela band den Krug am Gürtel ihres seidenen Kleids fest. Ihre Fingerkuppen strichen ein letztes, Mal über die eingefallenen Wangen Kerinas. »Ich komme zurück«, murmelte sie. »Ganz bestimmt. Ich komme zurück.« Dann wandte sie sich von der Schlafenden ab und strebte dem zweiten Ausgang der großen Tropfsteinhöhle zu. Ein Kalksteinschleier formte dort eine lamellenartige Treppe, und kurz darauf stand Tela auf einem Felsen und sah von oben auf den tosenden Wasserfall. Ganz tief unten konnte sie die Hütten des Dorfes erkennen. Noch immer rührte sich dort nichts. Nur die Äste und Zweige der Bäume bewegten sich wie trauernd im Wind. »Du hast den Rat Kerinas gehört«, sang, der Wind. »Denke immer daran, Tela. Finde Peridor. Befreie»die Träume des Seelenturms.« Und Tela lief los. Ihre Füße trugen sie über einen alten Ziegenpfad, vorbei an Rotfichten und Tannen. Das Gras zu beiden Seiten des Weges neigte sich ihr zu, und die Hahne lockten: »Willst du nicht tanzen?« »Nein«, antwortete Tela. Zwei große Tränen schwammen in ihren Augen und schillerten wie zwei flüssige Diamanten. »Wißt ihr, wo ich das Flügelpferd Peridor finden kann?« »Nein, und es tut uns leid, Tela«, knisterte das Gras. »Wir würden dir so gerne helfen.« Und so lief Tela weiter und immer weiter. Das Lied des Windes begleitete sie. Aber diesmal war es ein trauriges und schwermütiges Lied. Die lauen Böen sangen von Dieben in der Nacht, von gestohlenen Träumen und Visionen, von der Gefahr, daß man die Geister alles Belebten und Beseelten vergaß. Es war das Lied von einem Tag, der sich bald verfinstern mochte, von einer Nacht, die keine Ruhe mehr brachte, nur Schaudern und Unheil und — Tod. Das lange und goldene Haar Telas wehte wie ein glänzendes Banner hinter ihr. Vögel stiegen auf, aber sie zirpten nicht, um Tela zu begrüßen, sondern um sie zu verabschieden und ihr Lebewohl zu sagen. Vor ihr beschrieb der Weg eine weite Kurve und führte anschließend in eine Senke. Tela kürzte die Strecke ab und erreichte kurz darauf zwei Grabsteine. Nicht allzu weit entfernt sprudelte eine kleine Quelle, und zwei Froschkröten blähten ihre weiten und perlmuttenen Atemtaschen auf und riefen ihr quakend zu: »Wir haben Mitleid mit dir, kleine Tela. Wir spüren es ebenso wie das Gras und der Wind. Das Unheil ist da und spinnt ein weites Tuch, das bald ganz Imagant bedecken wird.« Sie sprangen fort und tauchten ein in das Wasser des kleinen Baches. Tela sah ihnen nach und kniete sich dann vor den beiden Gräbern nieder. Hier lagen ihre Eltern, begraben von der alten Geschichtenerzählerin. »Wir haben dich schon erwartet«, flüsterten die Geister der vor den beiden Steinen wachsenden Blumen. Ihre Blütenkelche waren weit geöffnet. »Wir wissen Bescheid. Der Wind hat es uns erzählt, Tela, Tochter.« Tela weinte stumm. Zuviel hatte sich innerhalb zu kurzer Zeit verändert. Sie dachte an Kerina und an die Menschen im Dorf, an all die Schlafenden, denen nun die Träume gestohlen wurden. »Was soll ich nur tun, Mutter?« murmelte Tela.

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Und die Seele ihrer Mutter antwortete: »Das, was dir Kerina aufgetragen hat, Tela. Es ist eine schwierige Aufgabe, das weiß ich, aber du mußt dich ihr stellen.« Die Blumen, in denen ihre Eltern weiterlebten, seufzten. »Unsere Körper sind tot, aber unsere Träume und Visionen leben weiter, Tela. Kerina hat uns einst begraben, damals, als du noch ganz klein warst. Unsere Seelen sind nun Teil des Bodens, des Wassers und von allem, was wächst. Verstehst du, Tela? Der Tod ist nicht endgültig. Nicht dann, wenn die Seele weiterexistieren kann. Aber die Traumdiebe stehlen sie. Sie rauben all das, was das Sein ausmacht. Und alle Menschen, die ohne ihre Träume sterben, sind wirklich tot, für immer und ewig. Mach dich auf die Suche nach dem Flügelpferd, Tela.« »Peridor ist verschwunden. Wo soll ich den Hengst finden?« »Das«, flüsterte eine andere Blume, und es war die Seelenstimme ihres Vaters, »wissen wir auch nicht. Aber vielleicht findest du im Ahornwald die Antwort darauf. Die dort wachsenden Bäume sind alt, uralt. Und es heißt, Peridor habe den Ahornwald einmal besucht. Vielleicht können die Geister der Glätter dir sagen, wohin sich das Flüglpferd zurückgezogen hat.« Daraufhin stand Tela wieder auf und wischte sich die letzten Tränen aus den Augen, »Nach Westen mußt du, der untergehenden Sonne entgegen. Dort liegt der Ahornwald. Aber sieh dich vor, Tela. Die Traumdiebe sind überall. Du darfst nicht schlafen.« Das junge Mädchen mit dem goldenen Haar machte sich wieder auf den Weg, und der Wind flüsterte: »Du darfst nicht schlafen, nicht schlafen . . .«

Zwei ganze Tage war Tela unterwegs. Sie ruhte weder in der Nacht noch in der Zeit, in der die Sonne ihre Bahn über den Himmel zog. Manchmal tanzte sie mit dem Gras und dem Wind, aber es waren keine Freudentänze. Sie unterhielt sich mit den Geistern der Tiere, auf die sie traf, aber keine Stimme konnte ihr Auskunft darüber geben, wo sich das vor langer Zeit verschwundene Flügelpferd Peridor befand. Sie sprach mit den Wassern von Bächen und Flüssen. Die Wassertropfen hatten eine weite Reise und mehrere Neugeburten hinter sich. Aber selbst die Wassergeister hatten nur von dem legendären Hengst mit den weißen Schwingen gehört und wußten nicht, ob er noch lebte oder wo er sich aufhielt. Eine sonderbare Ruhe hatte sich über das Land Imagant gesenkt. Zwar hatte Tela das Kaskadental mit ihrem Heimatdorf nur sehr selten verlassen, aber sie erinnerte sich an entsprechende Erzählungen Kerinas. Danach sollte auf den breiten Pilgerstraßen, die von Norden nach Süden führten und in der Küstenstadt Quell-der-Seelen endeten, ständig ein reger Verkehr herrschen. Jetzt aber waren diese Wege leer und stumm, und nur der Staub wehte dahin und berichtete von besseren Zeiten. Hier und dort stieß Tela am Rand der Straßen auf umgestürzte Wagen und verendete Zugtiere. Einmal fand sie die Leiche eines Fuhrmannes. Der Blick der weit aufgerissenen Augen war gebrochen, die Wangen eingefallen, die Hände verkrampft. »Das«, flüsterte der Wind, »sind die ersten Opfer der herannahenden Finsternis. Die Traumdiebe haben dem Fuhrmann den ganzen Seelenschatten gestohlen. Er ist wirklich tot. Sein Geist ist nicht eingegangen in das Allgegenwärtige um dich herum, Tela.

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Dieser Mensch war wie eine Kerze, die einfach erlosch. Und selbst das trifft es noch nicht ganz: Eine brennende Kerze gibt Wärme an ihre Umgebung ab, und dadurch lebt die Flamme auch dann weiter, wenn sie längst nicht mehr brennt.« Tela wanderte weiter, und am Morgen des zweiten Tages erreichte sie die Zinnenstadt. Die Pilgerstraße führte am Hang eines niedrigen und schon vor langer Zeit erloschenen Vulkanberges in die Höhe, und in dem Krater erhoben sich die marmornen Türme und Minarette Estevans. Tela blieb am Kraterrand stehen und sah hinab. Nichts rührte sich in der Zinnenstadt. Keine Glocke läutete, keine Trommel pochte, nirgends das Lachen von Kindern. Das Licht der gerade über den Horizont gestiegenen Sonne spiegelte sich auf den Außenflächen der Türme wider, aber Tela gewann den Eindruck, als sei es ein trauriges und melancholisches Funkeln. Stille herrschte in Estevan. Tela setzte sich wieder in Bewegung. Zwischen den hoch aufragenden Minaretten spannen sich weite Netze. Sie hatte die Zinnenstadt selbst nie besucht, aber sie kannte sie aus den Berichten Kerinas. Sie wußte, welchem Zweck die Netze dienten: In den feinen Maschen sammelte sich der Pollenstaub der Vulkandisteln, die am Rand des Kraterrunds in dichten Kolonien wuchsen. Die Menschen Estevans verarbeiteten ihn zu einem nahrhaften Mehl. Jetzt aber waren einige der Netze infolge der Pollenlast zerrissen, und die Straßen und Gassen der Stadt bedeckte eine Staubschicht, in der sich keine Spuren zeigten. Tela wanderte an den ersten Türmen vorbei, und in der Stille hallten ihre Schritte dumpf von den aufragenden Wänden wider. »Die Stadt ist tot«, flüsterte die Geisterstimme des Windes. Tela blieb stehen und blickte auf die offenstehende Tür einer Zinne. »Eine ganze Stadt?« fragte sie ungläubig. Sie hatte das Gefühl, auf ihren Schultern laste ein bleiernes Gewicht. Ihre Muskeln schmerzten, und sie sehnte sich nach einer kurzen Ruhepause. Aber sie hatte auch nicht die Warnung Kerinas und ihrer Eltern vergessen. Sie durfte nicht schlafen. Denn während des Schlafs kamen die Traumdiebe. Sie konnte erst dann wieder ruhen, wenn sie das Flügelpferd gefunden hatte. »Es sind viele Traumdiebe«, antwortete der Staub, und die im Wind knarrenden Fenster fügten hinzu: »Viel zu viele. Eine ganze Armee ist es, und ihre Soldaten verstecken und verbergen sich. Sie warten auf eine günstige Gelegenheit.« Tela sah sich rasch um. »Sind sie noch hier?« »Hier und überall«, antworteten die Stimmen der Disteln. Die Netze zwischen den Türmen klagten: »Die Last, sie ist zu schwer. Wir zerreißen, ja, wir zerreißen . . .« Und der Pollenstaub rieselte wie Schnee herab. Tela betrat den Turm. Der Wind hatte einen Teil des Distelstaubs hereingeweht und an der gegenüberliegenden Wand zu einem kleinen Hügel angehäuft. Rechts davon führte eine marmorne Treppe in die Höhe, und ihre Stufen raunten: »Fremde Füße haben uns berührt. . . Füße, die keine Füße waren, die keinen Menschen gehörten. Klauen waren es, und sie schabten und kratzten.« Tela beugte sich nieder und fuhr mit den Fingerkuppen über den Marmor. Tatsächlich: Sie konnte haarfeine Kratzer entdecken. Langsam stieg sie die Treppe hoch, und hinter ihr mahnte der Wind: »Verlaß den Turm. Komm wieder nach draußen, Tela. Ich sorge

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mich um dich. Estevan ist keine Stadt der Freude mehr. Spürst du es nicht? Die Horden der Finsternis waren hier . . .« Aber Tela stieg höher und höher. Die ersten Zimmer, an denen sie vorbeikam, waren leer und staubig. Das Glas der Fenster ließ nur einen Teil des Lichtscheins durch, und deshalb herrschte im Innern der Zinne ein trübes Zwielicht. Sie dachte daran, den Feuergeist des Kruges an ihrem Gürtel zu beschwören, aber dann fiel ihr ein, daß sie das Öl vielleicht bei anderen Gelegenheiten dringender brauchen würde. Je höher Tela kam, desto schwieriger wurde es: Tische und andere Möbelstücke lagen auf den Treppenstufen und formten hier und dort fast unüberwindliche Barrieren. An anderen Stellen hatte das junge Mädchen fast den Eindruck, als habe sich im Innern der Zinne der Zorn eines Wirbelsturms entladen. Das Holz der Barrikaden war zersplittert und zur Seite geschleudert worden. »Sie wollten sich schützen«, murmelten die Fenster in der Außenwand des Turms. »Aber es nützte ihnen nichts.« In der oberen Etage waren die Zimmer nicht mehr leer. Türen waren aufgebrochen worden, und in den Räumen lagen Männer, Frauen und Kinder. Einige der Toten waren schon mumifiziert, was darauf hindeutete, daß der Überfall der Traumdiebe schon viele Tage und Nächte zurückliegen mußte. Andere Menschen hingegen hatten dem ersten Ansturm ganz offensichtlich widerstanden. Vielleicht war es ihnen ergangen wie Kerina: Sie hatten gespürt, daß sich etwas Fremdes ihrer Seele bemächtigte, daß ihnen während der Nacht Träume und Visionen gestohlen worden waren. Daraufhin mochten sie gegen den tödlichen Schlaf angekämpft haben. Was ihnen auch gelungen war — aber nur eine Zeitlang. Tela dachte an Kerina, und wieder bildeten sich zwei große Tränen in ihren Augenwinkeln. Sie wandte sich abrupt ab, hastete in langen Sätzen die Treppe hinunter und verließ die Zinne. Draußen im Pollenstaub zeigte sich eine Spur. Tela kniff die Augen zusammen und betrachtete die Abdrücke. Sie konnten nicht von menschlichem Fußwerk stammen. Sie sahen eher so aus, als seien sie von Klauen verursacht worden. »Sind sie hier, Wind?« flüsterte sie furchtsam und sah sich immer wieder um. »Verstecken Sie sich noch in der Stadt?« Und die Geisterstimmen der lauen Böen antworteten ihr murmelnd und säuselnd: »Ja, Tela, sie sind noch immer hier. Zumindest diejenigen, die noch nicht genügend Träume erbeutet haben. Sie warten auf weitere Opfer. Verlaß die Stadt, Tela. Rasch . . .« Und Tela lief und lief, vorbei an Minaretten und Zinnen, an Brunnen und Gemeinschaftshäusern. Über ihr klagten die prall gefüllten Netze weiterhin über eine zu schwere Last. Die Stimmen verklangen bald in der Ferne. Tela wurde erst langsamer, als der niedrige Krater mit der Zinnenstadt Estevan weit hinter ihr lag. Sie blickte nach Westen, und am Horizont erkannte sie eine dunkle Linie: Das war der Ahornwald. »Ich bin müde, Wind«, sagte sie. »Du kennst die Gefahr. Du darfst nicht schlafen, kleine Tela. Du mußt dich beeilen. Du darfst dir keine Ruhepause gönnen.« Die Stimme zögerte eine Weile und fügte dann hinzu: »Die Traumdiebe in der Zinnen-

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stadt. . . Sie haben dich gesehen, Tela. Sie verfolgen dich.«

Dunkel war es im Ahornwald, fast so finster wie in einer Nacht. Tela wanderte an den Stämmen der Bäume vorbei. Weit oben rauschten die Kronen, und die Äste und Zweige und Blätter bildeten ein hohes Dach. Am Boden wuchsen Pilze und Flechten und weiche Moose, die zum Ruhen einluden. Der Wind wehte hier nur leise, und manchmal konnte Tela seine Stimme gar nicht mehr verstehen. »Hört ihr mich, Geister der Blätter und Bäume?« fragte sie, aber sie erhielt keine Antwort. Um sie herum blieb es still. Dann und wann knackte es im Unterholz, und einmal starrten sie aus dem Dunkel die Augen einer schwarzen Baumkatze an. »Bist du Tela, Tela-auf-der-Suche?« fragte die Katzenseele. »Ja, die bin ich.« Die Katze schnurrte und kam auf sie zu. Ihre Krallen glitzerten wie Saphire. »Du mußt tiefer in den Wald hinein, Tela. Hier können dich die Geister der Bäume nicht verstehen.« Und im Anschluß an diese Worte sprang sie mit weiten Sätzen davon. Tela setzte ihren Marsch fort. Immer wieder blickte sie sich um, aber sie konnte nirgends Traumdiebe erkennen. Sie wußte auch gar nicht, wie sie aussahen. Aber das Bild der Spuren im Pollenstaub zeichnete sich nach wie vor deutlich vor ihrem inneren Auge ab, ebenso wie die mumifizierten Gesichter der Toten, denen die Seelenschatten gestohlen worden waren. Tela fürchtete sich, aber dennoch wurde die an ihren Gedanken nagende Müdigkeit immer stärker. Einmal ertappte sie sich dabei, wie sie sich gegen einen Ahornstamm lehnte und die Augen schloß, und nur ein Knacken in der Nähe bewahrte sie davor, ganz einzuschlafen. Der Schreck trieb sie weiter, immer tiefer in den Wald hinein, so, wie es ihr die Baumkatze geraten hatte. Und als sie das zweite Mal stehenblieb und die Geister der Bäume und Blätter anrief, erhielt sie auch eine Antwort. »Ja, wir hören dich, Tela. Du kommst von weit her. Und du wirst verfolgt von Schatten, die mehr sind als nur Schatten. Gib auf deine Seele acht, Tela.« Wieder sah sie sich um. Wieder versuchte ihr Blick, das Halbdunkel zwischen den Bäumen zu durchdringen. Und wieder konnte sie nirgends etwas sehen, was auf die Anwesenheit von Traumdieben hingedeutet hätte. »Könnt ihr mir weiterhelfen, ihr Bäume?« fragte Tela, drehte sich um die eigene Achse und sah an den Stämmen empor. »Es heißt, ihr seid alt.« »Oh, das sind wir auch«, lautete die geflüsterte Auskunft der Baumgeister. »Tausend Jahre und mehr. Viele Winter und Sommer haben wir kommen und gehen sehen. Niemals aber drohte sich der Tag zu verdunkeln. Wir brauchen das Licht der Sonne. Ohne ihren Glanz müssen wir sterben.« »Dann werdet ihr mir sicher helfen«, sagte Tela. Sie war ein wenig unsicher: Die Naturgeister ihrer Heimat unterschieden sich von den Geistern dieser Region Imagants. Sie hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, Kerina danach zu fragen. Sie konnte nur hoffen, daß ihr Vertrauen nicht enttäuscht wurde. »Der Wind hat uns deine Ankunft schon angekündigt«, sangen die Blätter und Zweige. »Es heißt, das Flügelpferd habe euch einmal besucht. Peridor ist verschwunden. Ich muß den Hengst finden, um mich von seinen weißen Schwingen zur Schwarzen Festung tragen zu lassen.«

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»Du willst den Kampf gegen Rakal und seine finsteren Horden aufnehmen?« fragten die Ahornbäume skeptisch. »Du bist doch nur ein junges Mädchen.« »Ich werde es zumindest versuchen«, erwiderte Tela fest. »Ja, ich werde versuchen, die in dem Seelenturm Rakals gefangenen Träume der Menschen wieder zu befreien und ihnen somit ihr Ich zurückzugeben.« »Recht so«, flüsterte der Wind nahe an ihrem Ohr. Und der Wald wisperte: »Du bist mutig, Tela. Und du wirst deinen Mut auch noch brauchen.« »Wißt ihr, wo ich das Flügelpferd finden kann?« Es rauschte in den Kronen, und die Flechten und Moose antworteten: »Nein, wir wissen es nicht. Der Hengst Peridor verschwand vor langer Zeit. Er vernahm einen magischen Ruf, vor dem er floh, Und er sagte uns nicht, wohin er sich zurückzog. Wir haben mit den vom Himmel herabfallenden Wassertropfen gesprochen, Tela-auf-der-Suche. Selbst sie konnten uns nichts über den Verbleib des Flügelpferds erzählen.« Tela senkte den Kopf. Die Enttäuschung war sehr groß, und sie wußte einfach nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Die Müdigkeit stieg erneut in ihr auf. Mehr als zwei Tage und Nächte hatte sie schon nicht mehr geschlafen, und auch die ständige Furcht vor den Traumdieben zehrte an ihrer Kraft. Langsam sank sie an dem Stamm eines Ahornbaums zu Boden. Das Bodenmoos war weich wie ein Kissen, und einige in der Nähe wachsende Blüten verströmten einen entspannenden Duft. Vielleicht, dachte Tela, haben die Traumdiebe inzwischen meine Spur verloren. Es ist dunkel im Ahornwald. Vielleicht kann ich mich ausruhen, nur ein wenig. Nur einmal die Augen schließen . . . »Du darfst nicht schlafen!« rief der Wind, und seine jähen Böen schufen hier und dort Lücken in dem dichten Blätterdach weit oben. »Nicht schlafen, Tela.« Das junge Mädchen schrak wieder auf. »Aber ich bin müde, so müde. . . Wach du über mich, Wind. Paßt auf mich auf, ihr Bäume und Blätter. Und wenn sich mir ein Traumdieb nähern sollte. . .« »Das können wir nicht«, antworteten die Ahornbäume. »Sobald du eingeschlafen bist, können wir nichts mehr für dich tun. Mit dem Schlaf erringen die Traumdiebe Macht über dich, Tela. Und was deine Frage angeht: Wir wissen nicht, wo du Peridor finden kannst. Aber wir haben von jemandem gehört, der dir vielleicht Auskunft geben kann.« Schlafen, dachte Tela. Nur eine kurze Ruhepause. . . »Wen. . ., wen meint ihr denn?« fragte sie die Geister des Waldes, und ihre Stimme war nur ein Hauch. »Die Schneekönigin«, raunten die Blätter und Zweige, und ein von Ast zu Ast springenden Baumhörnchen fügte zirpend hinzu: »Ihr Eisschloß erhebt sich im Reich des Frostes, kleine Tela. Auf einem Berg, der so hoch ist, daß sein Gipfel immer jenseits der Wolken verborgen ist. Die Schneekönigin ist noch älter als wir. Sie weiß bestimmt, wohin das Flügelpferd verschwand.« »Ich werde sie besuchen«, flüsterte Tela. Ihre Lider zitterten und klappten immer wieder zu. »Aber nimm dich vor ihr in acht«, warnten die Ahornbäume. »Ein alter Fluch lastet auf ihr. Wenn du zu ihr kommst, darfst du nicht in ihre Augen

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sehen. Wenn das geschieht, wirst du zu einem Teil des Eisschlosses, und dein Herz und alles, was du empfindest, wird vom Frost betäubt. Das ist das Schicksal der Schneekönigin — Hunger und Durst muß sie mit den Gefühlen von Beseelten stillen.« »Ich passe auf«, murmelte Tela. Das junge Mädchen hatte sich inzwischen ganz auf dem weichen Moos ausgestreckt, und es wisperte unter ihm: »Du darfst doch nicht schlafen, Tela. Nicht hier und nicht jetzt. Die Traumdiebe lauern überall. Sie verfolgen dich. Und wenn sie dich finden, während du ruhst. . .« »Ich. . . Ich schlafe nicht«, gab Tela zurück. Ihre Gedanken umwölkten sich bereits. »Ich möchte nur ein wenig ausruhen. Nicht lange.« Oben rauschte der Wind im hohen Blätterdach. Die Äste und Zweige des Ahornwaldes waren wie ein Gewirr aus Tausenden von größeren und kleineren Armen. Sie alle deuteten auf Tela und flüsterten ihr zu: »Wach auf! Wach auf! Sonst werden dir deine Träume gestohlen.« Aber Tela schlief bereits. In ihren Träumen sah sie ein weißes Land, eine Region des ewigen Frostes. Und auf dem Rücken eines großen Gletschers erhoben sich die Zinnen eines prächtigen Schlosses, das nur aus Schnee und Eis bestand. Oben auf dem Wehrgang stand eine Frau. Sie trug ein Gewand aus weißer Kälte, und ihr langes und wehendes Haar war wie ein frostiger Winterhauch. Die Schneekönigin sang, aber es war ein trauriges Lied, eine Melodie des Kummers und der Wehmut. Sie sang von Ländern, in denen eine helle und warme Sonne schien. Sie sang von Flüssen und Bächen, in denen das Wasser geschmolzenen Gletschereises dem Ozean entgegenstrebte. Sie sang von jungen Männern und jungen Frauen, die sich liebten, die sich umarmten und küßten. Sie sang das Lied einer verlorenen Jugend, und die in den Versen zum Ausdruck kommende Verzweiflung ließ Tela innehalten und emporblicken. Tränen bildeten sich in ihren großen Augen, Tränen des Mitleids und des Erbarmens. Sie dachte nicht mehr an die Warnung der Ahorn-geister. Sie sah der Schneekönigin in die frostweißen Augen, und sie rief: »Ich werde dir helfen, Regentin des Eises und des Schnees. Ich befreie dich von deinem Fluch.« Aber der Blick dieser Augen. . . Er reichte bis tief in ihr Innerstes. Er verwandelte Wärme in Kälte, und er umschloß ihr Herz mit einer eisigen Klammer. Tela verwandelte sich. Die Mauern des Eisschlosses öffneten sich, um sie aufzunehmen, um sie zu einer Zinne von vielen anderen werden zu lassen, für immer erstarrt in einem Land ohne Gefühl und ohne Empfinden. Furcht keimte in Tela empor, und sie versuchte, ihre Gefühle für sich zu behalten und ihr Ich zu wahren. Sie schrie, und der Schrei hallte nicht von Wänden aus Eis wider, sondern von Baumstämmen und einem hohen Blätterdach. Direkt über sich sah sie ein häßliches Gesicht: verschrumpelte und runzlige Züge, gelbe Augen mit schlitzförmigen Pupillen, die unter dem Rand einer dunklen Kapuze hervorspähten. Die dünnen und borkigen Lippen öffneten sich und offenbarten schwarze Zahnstummel. Die Gestalt gab ein überraschtes Fauchen von sich und wich zurück. Tela erblickte Klauenhände, und die Krallenfinger umschlossen einen Kristall, in dem ihr Gesicht schillerte - ein Gesicht des Schmerzes, verzerrt in Kummer und Qual. Und in dem Hauch eines Augenblicks, in dem sie diesen Kristall sah, veränderte sich das Bild: Es zeigte nun ein weites Gletscherland mit einem Schloß aus Eis.

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Der Traumdieb lachte schrill und eilte mit langen Sätzen davon. Tela versuchte aufzustehen. Tonnenschwere Gewichte schienen auf ihrem zarten Leib zu lasten und sie an den Boden zu pressen. Die Müdigkeit war wie ein Gift, das heiß wie Feuer in ihren Muskeln brannte. Sie zitterte am ganzen Körper und rief: »Gib ihn mir zurück! Gib mir meinen Traum zurück!« Die dunkle Gestalt des Traumdiebs war mit den Schatten zwischen den Ahornbäumen verschmolzen. Irgendwo knackte es im Unterholz. Tela setzte sich taumelnd in Bewegung, und der Schreck ließ sie die Müdigkeit vergessen. Kleinere Äste und Zweige wichen zur Seite, um ihr Platz zu machen, aber schon nach wenigen Metern hatte das junge Mädchen die Orientierung verloren. »Du wußtest es doch«, flüsterte der Wind im hohen Blätterdach. »Du durftest nicht schlafen.« »Ich wollte es doch auch nicht«, erwiderte Tela kummervoll. »Ich wollte mich nur einmal ausruhen. Zwei Tage und zwei Nächte bin ich nun schon unterwegs.« »Noch länger«, wisperten die Geisterstimmen der Blätter und Bäume. »Du hast einen ganzen Tag lang geschlafen, dumme kleine Tela.« Sie stolperte weiter und immer weiter. Sie horchte in sich hinein. Sie versuchte, sich zu erinnern. »Was fehlt mir?« fragte sie den Wald. »Bitte, sagt es mir, ihr Bäume. Welchen Traum hat er mir gestohlen?« »Das wissen wir nicht.« Die Finsternis der Nacht verschluckte das junge Mädchen. Sie wanderte weiter, und um Tela herum flüsterten die Blätter und Moose. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Bild von Zinnen aus Eis und Schnee, von Mauern, die sich öffneten und sie umschlossen. Ja, sie erinnerte sich wieder. Die Schneekönigin. Sie konnte ihr sagen, wo sich das Flügelpferd befand. »Nach Westen«, wisperte der Wind ihr zu. »Im Westen findest du den Wolkenberg.« Aber die Müdigkeit. . . Ihre hypnotische Stimme meldete sich wieder tief in Telas Innerem. Sie machte jeden einzelnen Schritt zu einer Anstrengung. Das junge Mädchen gab sich alle Mühe, der Verlockung zu widerstehen, sich erneut zu Boden sinken zu lassen und zu ruhen. Hatte sich so auch Kerina gefühlt? »Du mußt dagegen ankämpfen«, riet ihr der Wind. »Du mußt stark sein, Tela. Der Weg ist noch weit.« Welchen Traum hat er mir gestohlen?« Aber auch der Wind konnte ihr

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keine Antwort darauf geben. Sie glaubte, sich im Zusammenhang mit dem Hinweis auf die Schneekönigin an irgend etwas Wichtiges zu erinnern. Aber es fiel ihr nicht ein. Sie hatte die Warnung vor dem frostigen Blick der Regentin jener Zitadelle aus Eis vergessen.

Mit langen Schritten durchmaß Rakal die unteren Gewölbe der Schwarzen Festung. Er lachte leise, als er über die Bannschwellen hinwegwanderte. Mit schwarzer Kreide hatte er die Symbole bestimmter Schaltwörter auf die Mauern und den Boden aufgetragen. Hier unten in den Gewölben der Schwarzen Festung war die Macht seiner Magie noch wirkungsvoll. Weiter oben aber konnte sie seinen unsichtbaren Wächtern nichts anhaben. Rakal hatte lange versucht, dieses Geheimnis zu enträtseln — vielleicht sogar durch ein bestimmtes Schaltwort die Mauern der Bastion zum Einsturz zu bringen. Vielleicht handelte es sich bei alldem nur um einen weiteren Spottscherz der Götter, um eine Demonstration ihrer Macht, die Rakal auch für sich hatte erringen wollen. Hier und dort fiel Rakals Blick auch auf bleiche Knochen. Nicht einer von denen, die Rakals magischem Ruf gefolgt und von den Finsterlingen in die Schwarze Festung geleitet worden waren, hatte ihm die gewünschte Auskunft geben können. Keiner der Zauberer und Gwydenschüler hatte gewußt, wohin das Flü-gelpferd Peridor verschwunden war, wo Rakal nach dem Hengst, der ihn in die Freiheit zu tragen vermochte, suchen sollte. Rakal eilte weiter. In einem anderen Gewölbe schliefen die Träumer. Ihre Visionen hatten sich als wertvoller herausgestellt als die der Toten. Vor der Nische, in der Tellure lag, blieb er kurz stehen. Neben jedem Schläfer wuchs ein kleiner Kristall, ein Traumkristall gleich jenen, aus denen er seinen Turm errichtete. Bilder und Szenenfolgen spiegelten sich darin wider Rakal beobachtete Landschaften und Feste, fremde Gesichter und Hoffnungen und Wünsche. Doch bislang hatte nicht eine einzige der vielen Visionen auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Traum der Träume aufgewiesen. Und auch diesmal sah Rakal nichts, das ihm hätte helfen können. Die Träume der hier schlafenden Menschen waren einfach und nicht komplex genug — die schlichten Träume schlichter Gemüter. Selbst die Visionen der Zauberer und Gwyden erweckten nur den Spott des Gefangenen. Er sah Hände, die Wunden und Verletzungen und Krankheiten heilten, Augen, die ins Wasser eines Flusses blickten und dort nach Erkenntnissen suchten, Arme, die sich gen Himmel reckten, um die Götter zu loben und den Frühling zu preisen, der einen langen und kalten Winter vertrieben hatte. Das hinter einer Maske verborgene Gesicht Rakals verzerrte sich. Er packte einen der Kristalle, riß ihn aus dem Kelch der kleinen Geablume und schleuderte ihn fort. An der gegenüberliegenden Wand zerplatzte er, und trübe und matte Funken stoben davon. Die Mauern der Schwarzen Räume sangen: . . . du wolltest sein wie ein Gott. Du suchtest nach dem Traum, der Träume, Und fandest doch nur Hohn und Spott. Rakal wanderte weiter, ließ die Gewölbe der Träumer und Toten hinter sich zurück und erreichte kurz darauf

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die Bibliothek. Eine weite Halle war es, und an. den Wänden zogen sich Hunderte und Tausende von langen Regalen entlang. In der Mitte des Saals standen einige Schalen, und das darin schwimmende Öl nährte flackernde Flammen, deren zitternder Lichtschein über die ledernen Einbände glitt. Der Gefangene schritt an der einen Wand entlang. Immer dann, wenn irgendwo jenseits der Schwarzen Magie ein Buch geschrieben wurde — von einem Weisen vielleicht, einem alten Philosophen, einem Gwyden und Zauberer, einem Dichter —, so schufen die Götter eine Kopie, die sie hier unterbrachten. Aber nicht ein einziger der unzähligen Einbände wies einen Titel auf. Rakal war schon seit tausend Jahren in der Bastion eingekerkert. Er konnte nicht ruhen und nicht schlafen. Und er hatte sich oft in der Bibliothek aufgehalten, um in den Büchern nach einem mächtigen Schaltwort zu suchen, nach einer magischen Formel vielleicht, die die Mauern zerbrechen konnte. Aber selbst in all dieser Zeit war es ihm nicht gelungen, sich mit mehr als nur einem verschwindend kleinen Bruchteil der Bücher eingehender zu beschäftigen. »Ihr verspottet und verhöhnt mich, ihr Götter«, flüsterte Rakal, und sein Blick glitt über die Regale. »Ihr stellt mir alle Bücher zur Verfügung, die jemals geschrieben wurden. Aber die Titel enthaltet ihr mir vor.« Wieder verspürte er die Versuchung, die Einbände hervorzureißen und sie zu zerfetzen. Für eine Weile stand er mit geballten Fäusten vor der Wand. Dann wandte er sich ruckartig ab und trat an den kleinen Tisch neben den Ölschalen heran. Einige Bücher lagen dort, mehrere davon aufgeschlagen. Er setzte sich, und der hölzerne Stuhl knarrte unter ihm. Eine Zeitlang starrte er auf die mit roter Tinte auf das Pergament geschriebenen Symbole. Es waren Worte aus einer anderen Welt, Worte auch, die klug klingen wollten und doch manchmal von einer erschreckenden Naivität waren. Er beugte sich vor, blätterte weiter und überflog die nächsten Seiten. Von magischen Steinen war dort die Rede, von Pflanzen, die alle Geheimnisse der Welt kannten, von Blumen, die nur einmal blühten, in der Nacht, während der Mond hoch am Himmel stand und die Sterne ein bestimmtes Muster bildeten. Lilien wurden beschrieben, deren Duft den Geist vom Körper trennte und ihn auf eine lange Reise schickte. Rosen würden erwähnt, deren zermahlene Dornen unter dem Zusatz von Drachenblut ein Elixier ergaben, das Leben verlängerte und unter Umständen sogar ewige Jugend zu schenken vermochte. Rakal lachte leise. Welche Vermessenheit des Autors, dies als seine eigene Entdeckung anzupreisen! Er selbst hatte sich noch während der Zeit bei seinem Lehrmeister Benven mit all diesen Rätseln und magischen Geheimnissen beschäftigt, und später war jenes Wissen von ihm noch weiter vertieft worden. In der Mitte des Kapitels aber stieß er auf einen Namen, der ihn beinahe zusammenzucken ließ: Peridor. Mit zitternden Händen blütterte er weiter und las: »Als die Götter zu Göttern wurden und die Erschaffung der Welt beendet war, stiegen die Flügelpferde zu den Wolken empor und darüber hinaus. Ihre weißen Schwingen schimmerten heller als das Licht der Sonne. Stuten

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und Fohlen flogen weiter und immer weiter, hinein ins Reich der Sterne. Zurück blieb nur der Hengst Peridor.« Und an anderer Stelle hieß es: »Er blieb zurück, um zu wachen und zu hüten. Einsam war er am Tag, aber in der Nacht, wenn der Mond aufstieg, konnte er seine Herde sehen, die leuchtend am Himmel stand. Und in der Nacht verließ er seine Weiden in den Hohen Bergen, und manch ein Sterblicher sah ein Geschöpf voller Pracht und Herrlichkeit. Derjenige, der den Hengst Peridor des Nachts erblickte, vergaß all seine Sorgen, all seinen Kummer. Viele Seelen versuchten, ihn herbeizurufen, denn es heißt, das Flügelpferd vermag den Schatten des Todes zu vertreiben und die Gedanken von Greisen zu verjüngen. Aber nur selten erhörte Peridor die magische Bitte eines Zauberers . . .« Die Stimmen der schwarzen Mauern wurden lauter, und das Spottlied hallte durch die ganze Festung. Rakal preßte sich die Hände auf die Ohren und las weiter. ». . . die weiße Blume. Ihr Duft ist lieblicher als der einer Rose, und wenn sie blüht, verblaßt sogar der Glanz der Sterne. Es heißt, die weiße Blume habe einst Liore geboren, die Göttin aller Pflanzen, der Bäume und Gräser, der Sträucher und Halme. Und Liore wiederum hat die Flügelpferde in diese Welt geholt. Viele Zauberer und Gwyden haben versucht, die weiße Blume zu finden und damit den Hengst Peridor herbeizurufen. Aber niemand von ihnen konnte sie entdecken.« Und voller Stolz fügte derjenige, der diese Zeilen niedergeschrieben hatte, hinzu: »Ich aber weiß, wo die weiße Blume blüht. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen. Sie . . .« Eine unsichtbare Hand legte sich auf Rakals linken Arm, und als er jäh aufblickte, sah er eine in eine lange, farblose Kutte gekleidete Gestalt. Doch dort, wo sich das Gesicht des Wächters befinden sollte, war nichts. Rakal drehte rasch den Kopf zur Seite. In der hinteren Wand der Halle hatte sich eine Öffnung gebildet, und offenbar war der Kapuzenmann durch diesen Zugang in die Bibliothek gelangt. Noch nie hatte ihn ein Wächter an diesem Ort besucht. Rakal verbarg sein Erschrecken. Für einen Augenblick hatte er befürchtet, es sei den Unsichtbaren gelungen, die Bannschwellen in den Gewölben zu überschreiten, aber das war ganz offensichtlich nicht der Fall. »Was willst du?« krächzte Rakal und dachte an die weiße Blume, die in dem Buch auf dem Tisch erwähnt wurde. Hätte er sich doch nur schon viel eher mit diesem Band beschäftigt! »Ich bringe dir dein Essen«, hauchte die tonlose Stimme des Wächters. Er streckte den einen Arm aus, und die knöchernen Finger umschlossen eine kleine Schale. Gelblicher Dampf stieg daraus empor. »Ich habe keinen Hunger«, sagte Rakal und wollte sich wieder dem Buch zuwenden. Aber der Kapuzenmann trat schweigend einen Schritt vor, packte seine Schulter und zog ihn in die Höhe. »Du wirst essen.« Die Wut des Gefangenen war wie eine heiße Flamme, die tief in seinem Innern brannte, und die Worte des Kapuzenmannes schütteten Öl auf dieses Feuer. Rakal gab einen dumpfen Schrei von sich und stieß die Schale beiseite. Sie entfiel der Hand des Wächters, und ihr stinkender Inhalt ergoß sich auf die auf dem Tisch liegenden Bücher Spottgelächter hallte in dem weiten Saal wider. Und der Brei dampfte und kochte und verbrannte den Tisch und alles, was darauf lag, auch das Buch mit der Geschichte von Peridor und der weißen Blume.

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Als Rakal sich umwandte, war der Wächter verschwunden. Doch eine körperlose Stimme raunte in seinen Ohren: »Gefangen sollst du sein, bis ans Ende der Zeit, ohne Schlaf und ohne Ruhe. Gestrandet bist du, an der Ewigkeiten Gestade, und niemals enden soll dein Leid. Erst wenn sich lichtet der Nebel und sich öffnet die Truhe . . .« Der Gefangene schrie und hastete davon. Aber die Verse des Spottliedes verfolgten ihn auch noch, als er über die Bannschwellen der Gewölbe hinwegsprang und versuchte, dem Hohn der Schwarzen Räume zu entkommen.

Tela konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, als sie die Lichtung im Ahornwald erreichte. Der Schlaf der Nacht hatte sich über die Bäume und Blätter gesenkt. Nur der Wind ruhte nicht. Er flüsterte und säuselte, er summte und raunte, und er wiederholte immer wieder: »Du darfst nicht schlafen, Tela. Nicht schlafen! Andere Traumdiebe sind in der Nähe. Und sie werden dir weitere Visionen und Ge-schichten stehlen, wenn du dich hinlegst. Du hattest Glück, viel Glück, kleine Tela. Es wurden dir nur wenige Träume gestohlen. Dein Seelenschatten ist noch nicht trüb und matt. Er leuchtet nach wie vor. Aber wenn sich ein zweites Mal ein Dieb an dich heranschleicht, dann wirst du so enden wie die Bewohner Estevans . . .« Auf der Lichtung leuchtete es weiß. Tela lehnte sich an den Stamm eines schlafenden Ahornbaums. Am Himmel leuchteten nur wenige Sterne, und das Licht spiegelte sich auf einem hellen Körper. »Peridor?« flüsterte das junge Mädchen und stolperte auf die Lichtung. »Bist du es, Peridor?« Leises Wiehern antwortete ihr, und Tela seufzte: »Endlich habe ich dich gefunden, Flügelpferd.« Aber als sie ganz nahe heran war, sah sie, daß es nicht der Hengst Peridor war. Das Geschöpf hatte keine Schwingen, die es emportragen konnten, bis über die Wolken hinaus. Ein großer Kopf drehte sich herum, und zwei dunkle Augen blickten sie an. Aus der Stirn des Pferdeschädels wuchs ein perlweißes, gewundenes Horn. »Oh, du bist ein Einhorn«, sagte Tela leise und sank auf die Knie. Das Geschöpf lag verdreht im hohen Gras der Lichtung. Es wieherte leise, und Tela vernahm die Stimme des Einhorns wie aus weiter Ferne: »Es tut so weh, so schrecklich weh . . .« »Hast du dich verletzt?« Tela betrachtete die beiden Vorderläufe. Das eine Bein war gebrochen. »Ich habe versucht, mit dem Wind um die Wette zu laufen«, sagte das Einhorn und wieherte. »Aber es ist Nacht, und auch Einhörner können während der Nacht nicht allzu gut sehen. Ich entdeckte das Loch viel zu spät und stürzte. Anschließend schleppte ich mich bis hierher. Ich warte auf den Mond, Ich möchte in seinem Licht baden, das mich wieder gesund machen kann. Aber sieh selbst, sterbliches Mädchen. . . Es sind nur wenige Sterne zu sehen. Die Wolken reißen nicht auf.« Tela vergaß ihre Müdigkeit und strich mit den Fingerkuppen vorsichtig über den gebrochenen Vorderlauf des Einhorns. Ja, sie konnte sich vorstellen, wie stark der Schmerz sein mußte. Sie sah ihn als einen dunklen Schemen in dem ansonsten so hellen Seelenschatten des Einhorns.

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»Ich werde dir helfen«, sagte sie entschlossen. »Wie denn?« wieherte das Einhorn. »Du bist ein Mädchen aus dem Volk der Sterblichen. Wir Einhörner aber sind magische Wesen. Wie willst du mir helfen?« Und traurig sank der Kopf zurück. Tela stand auf. »Wind?« »Ich höre dich, kleine Tela«, antwortete das Flüstern des Windes. »Das Einhorn ist verletzt und leidet«, sagte Tela. »Bist du stark genug, deine Stimme zu erheben und die Wolken am Himmel zu vertreiben? Nur das Licht des Mondes kann dem Einhorn Heilung bringen.« Der Wind gab keine Antwort darauf. Aber kurz darauf rauschte es stärker in den Kronen der Ahornbäume. Böen fauchten heran, und sie erfaßten das lange blonde Haar Telas und ließen es emporwogen. »Ja!« rief Tela und sprang umher. »Ja, so ist es richtig, Wind. Heulen mußt du, laut heulen. Es sind viele Wolken, ich weiß, aber bestimmt wird es dir gelingen, sie fortzublasen.« Plötzlich war die Müdigkeit nur noch eine diffuse Erinnerung. Tela tanzte zur Sturmmelodie des Windes, und ihr glockenhelles Lachen begrüßte die Lichter der Sterne, die hinter den dunklen Wolkenbergen hervorblinzelten. Das hohe Gras der Lichtung bewegte sich im Rhythmus ihrer flinken Schritte. Es schmiegte sich an ihre Beine, und es streichelte den schmerzerfüllten Leib des verletzten Einhorns. Nachtfalter schwirrten umher, und ihr Zirpen untermalte das Singen Telas. Die Reime ihres Liedes wurden von den Böenarmen des Windes fortgetragen. Schließlich glänzte der Mond am Himmel. Sein zernarbtes Gesicht blickte auf die Welt weit unter ihm herab, und sein perlmuttfarbener Schimmer ergoß sich wie Milch aus Licht über die Wiese. Das Einhorn drehte sich und reckte den Kopf in die Höhe. Tela sah, wie sich die trübe Stelle im Seelenschatten des magischen Wesens allmählich auflöste, wie neues Funkeln entstand. Der verletzte Vorderlauf schien von innen heraus zu leuchten. Das Licht des Mondes konzentrierte sich auf der Bruchstelle, und die Knochen flüsterten: »Wir sind wieder eins, wieder eins!« Kurz darauf konnte das Einhorn schon wieder auf allen vier Beinen stehen. Als die fauchende Stimme des Windes verklang, kehrte die Müdigkeit zurück. Tela stellte ihren Tanz ein, stolperte auf das Einhorn zu und hielt sich kurz an der Mähne fest. »Was für ein sonderbares Menschenkind du doch bist«, wisperte es aus dem gewundenen Hörn. »Niemals bin ich jemandem wie dir begegnet.« Dunkle Augen musterten sie. »Du bist müde.« »Ja. Und ich darf nicht schlafen. Einer der Diebe hat mir schon einen Teil meiner Träume gestohlen. Das darf nicht wieder passieren. Ich habe eine schwere Aufgabe zu erfüllen.« Sie erzählte von Rakal, der Schwarzen Festung und den Traumdieben. Das Einhorn wieherte. »Ich habe es selbst gesehen, das Unheilvolle, das das ganze Land Imagant zu überziehen beginnt. Jetzt verstehe ich. Und du willst das Flügelpferd Peridor suchen, du ganz allein?« »Ich muß zur Schwarzen Festung gelangen«, sagte Tela fest und warf ihr goldenes Haar zurück. In ihren großen blauen Augen glänzte das Bild eines Dorfes am Rande eines tosenden Wasserfalls. »Sie liegt am Ende der Welt, und nur das Flügelpferd kann mich dort hintragen. Zuerst aber muß ich zur Schneekönigin. Sie weiß vielleicht,

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wohin der Hengst Peridor vor zehnmal hundert Jahren verschwand. Sie kann mir vielleicht sagen, wo ich ihn finden kann.« »Du bist müde und erschöpft«, sagte das Einhorn mitfühlend. »Du mußt ruhen, denn bis zum Wolkenberg der Regentin über Schnee und Eis ist es noch sehr weit.« Tela schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das darf ich nicht. Die Traumdiebe würden zurückkehren und . . .« Sie unterbrach sich selbst, als das Horn des Einhorns aufleuchtete. Ein milchiger Glanz ging von ihm aus, und für kurze Zeit vernebelte sich das Bild vor Telas Augen. »Hab' keine Furcht«, wisperte das Einhorn. »Ich sagte dir ja schon: Wir sind magische Geschöpfe.« Langsam sank es zu Boden, und Tela schmiegte sich an seine Flanke. Ihre Augen schlossen sich. »Schlafe, Mädchen aus dem Volk der Sterblichen. Schlafe ohne Angst. Solange ich bei dir bin, kann dir nichts zustoßen. Mir können die Diebe Rakals keine Träume stehlen, und ich vermag sie auch daran zu hindern, deine Phantasie zu »plündern.« Das Einhorn sang ein Lied, und Tela wehrte sich nicht mehr gegen die Müdigkeit. Zufrieden schloß sie die Augen. »Und morgen«, sang das Einhorn, »morgen, wenn wieder die Sonne am Himmel steht und die Geister der Nacht ruhen, bringe ich dich zum Wolkenberg.« Aber diese Worte hörte Tela schon nicht mehr.

Auf der langen Treppe, die hinabführte zum Trichterrund, kam Rakal ein Finsterling entgegen. Sein säulenartiger Schattenkörper floß die Stufen empor, und in dem Schwarz glühten zwei purpurne Flammenaugen. Der Finsterling verneigte sich kurz, als er den Gefangenen erblickte. »Ich habe dich schon gesucht, Herr«, grollte die Stimme des Schemen. »Die ersten Traumdiebe sind zurückgekehrt, und der Seelenturm wächst.« Er machte kehrt und glitt wieder in die Tiefe. Rakal folgte ihm. Noch immer sangen die Mauern der Schwarzen Festung um ihn herum das Spottlied der Götter, aber die ihn verhöhnenden Stimmen waren nun leiser geworden. Vor der Nische mit der Truhe blieb er kurz stehen. Die silbernen Beschläge schienen im flackernden Schein der Fackeln von innen heraus zu glimmen. Rakal ging in die Knie und strich über den Riegel. Er lag lose in der Halterung. Er umfaßte ihn mit der einen Hand, konnte ihn aber nicht einen einzigen Millimeter von der Stelle bewegen. Im Innern dieser Truhe war der Teil seines Ichs gefangen, der schlafen und träumen konnte. Der Finsterling kroch weiter und verharrte am Trichterrand. In der nachtschwarzen Tiefe des Trichters leuchteten zwei weitere Augen auf, riesig und rot wie Feuer, und eine dunkle Stimme sagte: »Die Keime, die von den Finsterlingen in die Welt des Lichts getragen wurden, sind gediehen. Die Traumdiebe kehren zurück. Glaubst du nun an die Macht der Unterwelt, Gefangener? Sieh nur . . .« Etwas weiter entfernt, ebenfalls am Rand des Sphärentrichters, bewegte sich etwas. Rakal sah das Schimmern von Kristallen. Wie von unsichtbaren Händen getragen ordneten sie sich um das Fundament der Träume. Rakal hob die Arme und murmelte ein Schaltwort. Kalte Funken stoben

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von seinen Fingerspitzen davon und woben ein dichtes Leuchtnetz in der Luft über dem Trichter. Der Gefangene fügte einige weitere Beschwörungen hinzu, und unmittelbar darauf konnte er die Körper der Traumdiebe sehen. Gedrungene Gestalten waren es, Gnomen ähnlich. Ihre Klauen kratzten über den Stein des Bodens, und in ihren Krallenfingern hielten sie Traumkristalle. In den Kristallen schillerten und wogten Hunderte von Bildern. Winzige Gesichter starrten ihn an, Mienen und Züge von Träumen, die nun die Gefangenen eines Gefangenen waren. »Ja«, sagte Rakal. »Ich sehe sie.« Die gelben Augen der Diebe warfen ihm verstohlene Blicke zu, während sie die Kristalle aufeinanderhäuften und anschließend rasch wieder im Trichterrund verschwanden. Irgendwo in der Ferne mochte es Fugen und Spalten geben, durch die sie wieder in die Welt des Lichts gelangen konnten, um dort ihre Raubzüge fortzusetzen. »Der Turm«, grollte die Stimme des Dämonenherrn aus der Tiefe, »wird wachsen und wachsen. Wir müssen ihn hier unten bauen, denn weiter oben »wachen die Kapuzenmänner, und sie würden die Errichtung des Seelenturms bestimmt nicht zulassen. Bist du ganz sicher, Herr, daß sie nicht hierherkommen?« Rakal drehte sich kurz um und betrachtete die beiden Augen. Oh, er kannte die Absichten des Herrn der finsteren Horden. Die Pupillen hofften darauf, daß Rakal einmal unvorsichtig war und sein hinter der Maske verborgenes Gesicht offenbarte, wie es schon einmal geschehen war, vor tausend Jahren. Aber diesmal war Rakal auf der Hut. »Sie sind nicht dazu in der Lage, die Bannschwellen zu überwinden«, antwortete er knapp und trat anschließend auf den entstehenden Turm zu. Die Traumdiebe zischten und fauchten und machten ihm respektvoll Platz. Rakal ging in die Hocke und beobachtete die Gesichter in den Kristallen. Einfache und schlichte Träume waren es zum größten Teil, aber das war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Die Diebe wählten nicht aus. Sie stahlen, wo sich ihnen Beute bot. Aber vielleicht stießen sie bei ihren Raubzügen zufällig auf die Vision, die er brauchte — den Traum, der die Mauern der Schwarzen Festung zerbersten ließ und ihm die Freiheit wiedergab. Einer der Traumdiebe schob sich dicht an ihm vorbei und machte Anstalten, dem Fundament des Turms einen weiteren Kristall hinzuzufügen. Als Rakals Blick darauf fiel, erstarrte er beinahe. Dann sprang er auf und riß den Kristall aus den Krallenfingern, die ihn umklammerten. Der Traumdieb knurrte nur und verneigte sich. Rakal aber betrachtete das Gesicht im Kristall. Ein junges Gesicht war es, ohne die Spur von Erfahrungen, unschuldig und zart. Goldene Haare umrahmten das schmale Gesicht des Mädchens, und in den himmelblauen Augen schillerten pastellfarbene Bilder. Der Gefangene spürte etwas: Es war nur ein Hauch, ein unverständliches Flüstern, ein Raunen, das den Zorn in ihm betäubte und den Acker der Hoffnung pflügte. »Wo hast du diesen Traum gestohlen?« fragte er heiser. Der Traumdieb antwortete: »Im Land Imagent, im Ahornwald. Das Mädchen erwachte überraschenderweise, und ich mußte fort.« »Dann hast du also nicht alle Visionen an dich genommen, sondern nur einen Teil?« »Ja, Herr«, fauchte der Dieb. »Es war ein seltsames Mädchen, Herr. Sei-

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ne Träume waren strahlend hell und stark und fest.« Rakal achtete gar nicht mehr auf diese Antwort. Ruckartig drehte er sich um und hastete die Stufen der Treppe hoch. Als er weit oben durch die Gänge und Korridore der Schwarzen Festung lief, stimmten die Wächter auf den Mauern erneut ihr Spottlied an. Das Donnern der immer gleichen Reime war wie ein Wind, der nur hinter der Stirn des Gefangenen wehte. Am Ausgang blieb er kurz stehen. In der Dunkelheit waren die Außenmauern der Festung Schatten, die noch finsterer waren als die Nacht. Rakal legte den Kopf in den Nacken und blickte empor. Er hatte den Eindruck, als gäbe es irgendwo in den dunstigen Schwaden ein mattes Licht, das langsam, ganz langsam heller wurde. Und er erinnerte sich an die Worte des Dämonenherrn: Je mehr Träume den Menschen Imagants gestohlen wurden, desto dunkler wurde dort der Tag -und desto mehr erhellte sich die Nacht, die die Schwarze Festung einhüllte. Noch einmal betrachtete Rakal den Kristall. Die Augen des jungen Mädchens starrten ihn aus einem winzigen Gesicht an, dessen Züge nicht vor Furcht und Entsetzen entstellt waren. Das Licht einer hellen Sonne spiegelte sich auf blondem Haar und ließ es wie Gold erstrahlen. Der Gefangene blickte sich um. Der Nebel verschluckte die Gestalten der Wächter. Nirgends in seiner unmittelbaren Nähe konnte er die dunklen Konturen eines Kapuzenmannes ausmachen. Er trat einige Schritte zurück, holte mit dem rechten Arm aus und warf den Kristall. Er flog hoch hinauf und zerbrach an der Mauer. Hunderte von Splittern regneten in die Tiefe, und aus jeder einzelnen Facette sah ihn das Gesicht des Mädchens an. Einige Augenblicke lang herrschte Stille. Dann begann es, vor Rakal leise zu knirschen und zu knarren. Der Gefangene trat vorsichtig wieder einige Schritte vor, und seine Hände tasteten über die Mauer. Mit den Fingerkuppen erspürte er mehrere feine Risse, die sich in dem massiven Stein gebildet hatten. Als der letzte Splitter des Traumkristalls zu Boden gefallen war, verklang das Ächzen in der Wand. Und die dünnen Risse und Fugen schlossen sich nicht. Rakal warf triumphierend die Arme hoch. »Er ist es!« zischte er, und noch einmal, lauter diesmal, ungeachtet der im Vorhof der Bastion wachenden Kapuzenmänner. »Er ist es — der Traum der Träume, die Vision, die ich so lange gesucht habe!« Als er sich umdrehte und Anstalten machte, in die Festung zurückzukehren, blickte er in das Gesicht eines der Wächter - und taumelte zurück. Denn in der einsetzenden Dämmerung erkannte er zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, die Züge eines Gesichts unter der verhüllenden Kapuze. Es war ein junges, engelhaftes Gesicht, und darin lag ein solcher Ausdruck von Schmerz, daß Rakal sich zusammenkrümmte und sich von seinen unter der Maske verborgenen Lippen ein Schrei löste. Er taumelte fort von dem Wächter, und auf dem Rückweg durch die Nebelzone kam er an anderen dunklen Gestalten vorbei, die ihm die Köpfe zuwandten. Im Eingang zu den Schwarzen Räumen blieb er stehen und hielt sich am Stein fest. Er hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen, und kein Schaltwort, das er kannte, war mächtig genug, um dieser Qual ein

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Ende zu machen. Sie flaute nur langsam ab, ganz langsam, und sie hinterließ eine Leere in ihm, die sich sofort mit Haß zu füllen begann. Tief unten in der Festung, jenseits der Bannschwellen, die die Wächter nicht zu überschreiten vermochten, ließ der Schmerz allmählich nach. Und als er wieder am Rand des nach Gea hinabführenden Trichters stand und die beiden roten Augen in der Tiefe betrachtete, hatte sich die Natur seines Hasses verändert. Er winkte die Traumdiebe zu sich, die einige Meter entfernt mit dem Bau des Seelenturms beschäftigt waren. »Der Kristall, den ich einem von euch abnahm . . . er enthielt einen Teil des Traums der Träume, den Splitter einer Vision, mit der ich die Mauern der Festung einstürzen lassen kann.« »Bist du sicher?« grollte die Stimme des Dämonenherrn. »Bist du ganz sicher?« »Kehrt zurück in die Welt des Lichts!« befahl Rakal den Dieben und schenkte der Frage des Dämons keine Beachtung. »Und bringt mir alle Träume des Mädchens mit den goldenen Haaren!« Die Traumdiebe heulten und fauchten und zischten und verschwanden im Sphärentrichter. Rakal trat an den Rand des Trichters heran. »Endlich«, kam es flüsternd von seinen Lippen. »Endlich habe ich gefunden, wonach ich tausend Jahre suchte. Bald werden die Mauern einstürzen, und dann kann ich aus der Schwarzen Festung fliehen.« »Dann ist auch der Trichter zwischen den beiden Welten wieder offen«, antworteten die roten Augen in der Tiefe. Und nach kurzem Zögern fügte die Stimme hinzu: »Bist du wirklich sicher, daß es der richtige Traum ist?« Aber die letzten Worte hörte der Gefangene schon gar nicht mehr. Er stieg wieder die Treppe empor, und als die Mauern der Bastion ihr Spottlied anstimmten, lachte er schallend.

Weit unten erstreckte sich das Land Imagant. Als Tela einmal zurücksah, fiel ihr Blick auf weite Wälder, auf Pilzbaumkolonien und Terrassenäcker. Auf den Feldern arbeitete jetzt niemand mehr, und das Korn verdorrte, weil kein Mensch da war, der Regen herbeirief, um die Äcker zu bewässern. Das Einhorn hatte sie auf Umwegen an Dörfern und Städten vorbeigetragen, denn dort, so flüsterte der Wind, lauerten die meisten Traumdiebe. Sie warteten dort auf weitere Opfer, und einige von ihnen mochten diejenigen verfolgen, die vor ihnen geflohen waren. Eine sonderbare Stille hatte sich über ganz Imagant gesenkt. Manchmal fiel es Tela sogar schwer, mit dem Gras und den Felsen am Wegesrand zu sprechen. »Die Menschen verlieren den Glauben an uns«, beklagten sich ihre Stimmen. »Die Träume werden ihnen gestohlen, und uns kann man nur verstehen, wenn man ausreichend Phantasie besitzt. Beeil dich, kleine Tela. Bald beginnt der große Schlaf, und wir fürchten, kein Mensch erwacht nach der langen Nacht. Vielleicht werden auch wir ruhen. Vielleicht werden wir träumen, ohne darauf hoffen zu können, unsere Träume jemals wieder mit den Menschen zu teilen.« Und höher ging es hinauf, immer höher. Das Einhorn trug Tela den Hang des Wolkenberges empor, und ganz oben, dicht unterhalb des Dunstes, der den Gipfel verbarg, begann das Reich des Eises und des Schnees. Immer steiler wurde es, und bald blieb das Einhorn stehen und neigte den Kopf. Braune Augen musterten Tela.

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»Ich muß jetzt umkehren«, sagte es bedauernd. Tela stieg ab und strich mit beiden Händen durch die Mähne des Einhorns. Weiß war sie, so weiß wie Schnee - so weiß wie das Fell Peridons. »Höher kann ich nicht hinauf — ich könnte den Halt verlieren und dich und mich selbst in die Tiefe stürzen.« »Ich verstehe«, sagte Tela. Sie legte den Kopf in den Nacken. Es war erst Morgen, aber schon zeigte sich im Westen ein Streifen Dunkelheit. Die hauchdünnen Arme der Finsternis sandten faserige Ausläufer übers Firmament, und sie umschlangen einen Teil des Sonnenlichts. »Der Tag beginnt sich zu verdunkeln und wird zur Nacht«, sagte das Einhorn. »Ja«, meinte das junge Mädchen leise und löste sich aus der Umarmung. »Bald vereinnahmt die Finsternis das ganze Licht des Tages. Dann ist es dunkel in Imagant. Aber über der Schwarzen Festung wird es heller und heller.« Das Einhorn wieherte noch einmal zum Abschied und galoppierte anschließend den Hang hinunter. Bald wurde es zu einem weißen Fleck zwischen Felsen und Flechten, und seine melodische Stimme verklang in der Tiefe. Seine letzten Worte waren nur mehr ein Hauch: »Hüte dich vor dem Schlaf, Tela. Halte die Augen immer offen. Jetzt ist niemand mehr da, der dich schützen kann, wenn du träumst. Und du brauchst deine Träume. Ohne sie verliert Imagant alle Hoffnung.« Tela sang leise ein Lied, als sie emporkletterte. Und der Wind, der auch in diesen Höhen wehte, summte die Musik dazu. Sie lauschte den Stimmen der Steine und der an einigen halbwegs geschützten Stellen wachsenden Krüppelkiefern. »Nur wenige Menschen wagen sich in diese Region«, raunten diese Stimmen. »Du hast Mut, kleine Tela.« Aber als das junge Mädchen noch höher kam und den Rand des Frostreiches vor sich sah, verstummte dieses Wispern. Die ewige Kälte in diesem Bereich betäubte die Geister der Steine und Felsen und ließ sie schlafen. Stundenlang kletterte Tela. Noch immer trug sie nur ihr einfaches Seidengewand, und der unbarmherzige Frost stach mit tausend Nadeln in ihre Haut. Die Sonne sank allmählich dem westlichen Horizont entgegen, und ein düsteres Zwielicht senkte sich über den Berg. Kurz darauf erreichte sie die Untergrenze der Wolken, und der Wind flüsterte: »Es ist nicht mehr weit bis zum Eisschloß der Schneekönigin. Du wirst noch vor Einbruch der Nacht dein Ziel erreicht haben.« Tela erinnerte sich an die Auskunft der Bäume im Ahornwald, an den Dieb, der ihr einen ganz bestimmten Traum gestohlen hatte. Wieder hatte sie das Gefühl, im Zusammenhang mit der Regentin über Schnee und Eis etwas Wichtiges vergessen zu haben, aber so sehr sie sich auch zu erinnern versuchte, es fiel ihr nicht ein.

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Sie seufzte, bemühte sich, der wieder in ihr emporwachsenden Müdigkeit keine Beachtung zu schenken und kletterte weiter. Das Grau der Wolken verschluckte sie. Kalter Dunst benetzte das Seidengewand und ließ es einer frostigen Patina gleich an ihrem Leib festkleben. In dieser Höhe wuchs nichts mehr. Unter Telas Schritten knirschte nur der ewige Schnee, und manchmal grollte es tief im Innern des Gletschers, über dessen Rücken sie wanderte. Er litt an seinem eigenen gewaltigen Gewicht. Tela horchte, aber die Stimme des Eises war undeutlich, und sie konnte nur einige wenige Silben verstehen. Bizarre Eisformationen türmten sich rechts und links ihres Weges auf. Wenn der Wind an ihnen vorbeiwisperte und durch winzige Spalten und Zwischenräume flüsterte, so entstand eine eigentümlich traurige Melodie. Tela sang auch zu dieser Musik, und ihre Stimme wehte über den Schnee und verlor sich in der nebligen Ferne. Als sie die Wolken hinter sich gelassen hatte, sah sie im verblassenden Licht des Tages das Eisschloß. Der Palast der Schneekönigin erhob sich am Rande des Gletschers. Die Türme aus Eis ragten weit in die Höhe, und die Zinnen und Minarette fingen das blutrote Licht der untergehenden Sonne ein, hielten es mit unsichtbaren Händen fest und legten einen purpurnen Schimmer über die breiten Wände aus Schnee. Tela verharrte einige Augenblicke und sah sich um. Die Wolken unter ihr waren wie ein endloser Ozean aus flaumiger Watte. In der Ferne erhoben sich die Gipfel anderer Berge — wie Finger, die stumm und ewig aus diesem Meer emporwuchsen, Inseln, auf denen der Frost herrschte. Im Innern des Dunstes, der Tela gerade freigegeben hatte, kratzte und schabte es. »Wind?« fragte sie unsicher. »Ja, es sind die Traumdiebe. Eine ganze Horde verfolgt dich, Tela. Rakal hat den Kristall gesehen, in dem einer der Diebe einen Traum von dir einfing. Und er gab den Befehl, dir auch alle anderen Visionen zu rauben. Dutzende sind es, Tela . . .« Daraufhin setzte sich Tela wieder in Bewegung. Sie lief über den Rücken des Gletschers hinweg, auf das eine offenstehende Tor des Eisschlosses zu. Immer wieder sah sie sich um, aber hinter sich konnte sie keinen Schatten erkennen. Vor ihr ragten die stummen Schneemauern des Palastes auf. Ihre Gestalt spiegelte sich in blanken Eisflächen, die niemals von einem Hauch Wärme gestreichelt worden waren. Das Licht der hinter dem dunklen westlichen Horizont versinkenden Sonne. . . es war wie ein Banner, das über den Zinnen des Eisschlosses wehte. Tela verlangsamte ihren Schritt und trat durch das Tor. Von einem Augenblick zum anderen verklang die Stimme des Windes. Das junge Mädchen blieb auf dem weiten Vorhof stehen. »Wind?« Keine Antwort. Tela wanderte weiter und drehte sich dabei um ihre eigene Achse. Im Innern des Palastes war alles glatt, und die Kälte sprach von Ewigkeit. An den Innenwänden der Schneemauern zogen sich breite und lange Wandelgänge entlang, gesäumt von Säulen aus weißem Glanz. Nichts bewegte sich. Tela schob sich an einer der Säulen vorbei, und ihre Füße traten über spiegelglattes und durchsichtiges Eis hinweg. Als sie einmal zu Boden sah, glaubte sie, für den Hauch eines Augenblicks im Innern des Eises ein Gesicht gesehen zu haben. »Schneekönigin?« Aber auch darauf erhielt sie keine

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Antwort. Tela gab sich einen inneren Ruck und fügte hinzu: »Ich bin Tela, die Schülerin von Kerina, der Geschichtenerzählerin. Kannst du mich hören, Regentin des Eises und des Schnees? Ich komme von weither, und ich möchte dich um eine Auskunft bitten.« Alles blieb still. Es war eine Stille, die sich wie ein schweres Gewicht auf die schmalen Schultern des Mädchens legte. Tela dachte an die sie verfolgenden Traumdiebe. Sie eilte durch den Wandelgang, und kurz darauf erreichte sie den Zugang zu einer langen Halle. Sie trat ein. Das leise Knirschen ihrer Schritte hallte unnatürlich laut von den hohen Wänden wider. Nirgends zeigte sich eine Unebenheit im Eis, nirgends eine noch so winzige Ausschmückung. Alles war glatt und kalt, und überall sah Tela das Spiegelbild ihres eigenen Gesichts. Sie blickte zu Boden und gewann den Eindruck von Tunneln und Korridoren, die sich dort entlangzogen, die ein ganzes Labyrinth bildeten. »Bitte«, sagte Tela und hob die Arme. Ihr war kalt, so schrecklich kalt, und der Frost nährte die Müdigkeit in ihr. Er flüsterte ihr den Schlaf ein, auf den die Traumdiebe warteten. »Bitte, Schneekönigin, du mußt mich anhören. Dunkle Horden durchziehen das Land Imagant. Sie rauben den Menschen ihre Träume und Visionen. Sie töten Freude und Hoffnung und Glück. Hast du es nicht schon selbst gesehen? Der Tag verfinstert sich, und bald wird auch das letzte Licht verblassen. Bitte . . . Ich bin gekommen, um dich etwas zu fragen. Bitte, hör mich an.« Aber auch nach diesen Worten blieb alles still. Tela kniff die Augen zusammen. In der gegenüberliegenden Wand zeigte sich ein Rechteck, das ein wenig dunkler war als die Umgebung — vielleicht der Zugang zu einem anderen Saal des Eisschlosses. Tela trat darauf zu. Und als sie ihn fast erreicht hatte, knirschte es plötzlich unter ihr. Ihr erster Gedanke galt den sie verfolgenden Traumdieben, und sie wirbelte herum, sah aber nichts weiter als nackte Eiswände. Dann plötzlich löste sich der Boden unter ihren Füßen auf. Tela fiel. Nach einigen Metern landete sie auf einem Polster aus Schnee. Ihre Hände suchten unwillkürlich nach Halt, doch sie war zu langsam. Sie rutschte weiter, und ein schmaler Eistunnel nahm sie auf. Der Frost hauchte dem jungen Mädchen seinen betäubenden Atem ins Gesicht. Immer schneller sauste ihr Körper durch die Röhre. Der zweite Aufprall kam fast noch überraschender als der erste, und er erschütterte sie so, daß sie das Bewußtsein verlor und schlief . . . und schlief . . .

Es war ein Schlaf, der kein Licht brachte, sondern nur undurchdringliche Schwärze. Aber Tela konnte dennoch sehen: hohe Mauern aus einem Fels, der kein Fels war, den die Götter geformt hatten, ein anderes Schloß, in dem es fast ebenso kalt war wie im Palast der Schneekönigin. Und in den Räumen dieser Bastion war ein Mann gefangen. Er trat auf sie zu, mit langen und entschlossenen Schritten. Dicht vor ihr blieb er stehen, und hinter den Schlitzen in der Maske funkelten dunkle Augen. Zwei Hände hoben sich, griffen nach der Maske und nahmen sie mit einem Ruck ab. Tela sah in ein entstelltes, fratzen-

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haftes und abscheuliches Gesicht. Sie taumelte unwillkürlich einige Schritte zurück, aber der Mann folgte ihr. Sie konnte die Entfernung zu ihm nicht vergrößern. Er ließ die Maske fallen und streckte die Hände nach ihr aus. Und als die Fingerspitzen sie berührten, verspürte sie eine Kälte, die bis in ihr Innerstes vordrang, die ihr Herz langsamer pochen ließ und sich wie eine klamme Decke über ihre Gedanken stülpte. Sie vermochte sich nicht mehr von der Stelle zu rühren. Aber sie konnte schreien. Tela schrie. Und sie erwachte. Ihr halb verschleierter Blick fiel auf ein schmales, junges Gesicht mit braunen Augen und grauer Haut. Die Haare waren weiß, und die Augenbrauen wurden von einer glitzernden Schicht Rauhreif bedeckt. »Geht es dir wieder gut?« fragte die Stimme des Jungen. Tela sah an ihm vorbei und starrte auf durchsichtige Eiswände. Sie vernahm ein leises Kratzen und Schaben, das fast schon etwas Vertrautes für sie hatte. Daraufhin wandte sie den Kopf. Die gedrungenen Gestalten einiger Traumdiebe machten sich eilig davon. Gelbe Augen warfen ihr verstohlene und zugleich triumphierende Blicke zu. In ihren Klauenhänden glänzten Kristalle, und in diesen Kristallen schillerte das Gesicht Telas. Sie stemmte sich stöhnend in die Höhe und krächzte: »Bleibt hier. Laßt mir meine Träume!« Die Traumdiebe lachten meckernd, und noch bevor sie den Ausgang der Eiskammer erreicht hatten, lösten sich ihre Körper auf. Ihre Konturen verschmolzen mit dem Weiß, und nur das Kratzen der Fußklauen kündete noch von ihrer Anwesenheit. Es entfernte sich rasch. Tela sank zurück. Wieder war die Müdigkeit da, stärker als jemals zuvor. Und jetzt konnte sie nicht auf die Hilfe eines Einhorns zurückgreifen. Jetzt war sie ganz auf sich allein gestellt. Sie horchte in sich hinein, und mit großem Erschrecken stellte sie fest, daß in jenem Teil ihres Bewußtseins, der zuvor ihre schönsten Träume und Geschichten beinhaltet hatte, jetzt dunkle Leere herrschte. Ihre Schultern bebten, und sie weinte leise. Die Tränen lösten sich nur träge und zögernd aus ihren Augenwinkeln, und sie gefroren, als sie ihr über die Wangen rannten. »Wind?« fragte sie, aber die flüsternde Stimme antwortete nicht. Der Zugang in den Eispalast der Schneekönigin war ihr verwehrt. »Ich heiße nicht Wind«, vernahm sie die Stimme des Jungen, der sie geweckt hatte. »Mein Name ist Bacnar. Ich habe dich hier gefunden. Ich weiß gar nicht, wie lange ich schon das Frostlabyrinth durchstreife. Aber ich stoße immer wieder auf Kammern, die ich noch nicht kenne. Wenn ich doch nur endlich den Ausgang finden würde!« Er seufzte. »Bist du schon lange hier?« Tela schüttelte den Kopf und streifte sich die gefrorenen Tränen von den Wangen. Es klirrte leise und hell, als sie auf den Eisboden fielen. »Kannst du mich verstehen?« fragte der Junge und neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Tela schob sich an der Wand in die Höhe. Müdigkeit und Erschöpfung betäubten ihren ganzen Leib, und die Leere, die nach dem Traumraub zurückgeblieben war. . . Sie fürchtete, sich darin zu verlieren, von der Schwärze in ihrem Geist vollständig aufgesogen zu werden. Allmählich lösten sich die Schleier vor ihren Augen auf. Sie musterte den vor ihr auf dem Boden hockenden Jungen. Er trug nur einen dünnen

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Schurz, und sein Körper. . . Überall glänzte seine Haut. »Du . . . Du verwandelst dich in Eis«, flüsterte sie. Der Junge nickte betrübt. »Du hast recht. Ich bin schon viel zu lange hier. Und wenn man das Eisschloß der Schneekönigin nicht nach einer bestimmten Zeit wieder verläßt, muß man für immer hierbleiben. Viele Tage und Nächte ist es her, daß ich den Wolkenberg erklomm. Ich erreichte den Palast der Regentin über Schnee und Eis. Aber als ich die stillen und leeren Räume durchstreifte, stürzte ich in eine Grube, und ich fand mich in diesem Labyrinth wieder. Seitdem versuche ich, einen Ausgang zu finden und doch noch zur Schneekönigin zu gelangen. Manchmal hörte ich ihre Stimme. Aber immer schien sie aus weiter Ferne zu kommen.« »Deine Augen. . .«, sagte Tela. Sie ging in die Knie und blickte dem Jungen, der ungefähr in ihrem Alter war, ins Gesicht. Die Pupillen Bacnars hatten sich ebenfalls mit einer dünnen Eisschicht überzogen, aber es war nicht das, was das junge Mädchen so verwirrte. Der Blick der Augen — er war trüb und matt. »Du bist. . .?« »Blind, ja.« Bacnar hob kurz die Arme und ließ sie dann wieder sinken. »Von Geburt an. In meiner Heimat sagt man, wer blind auf die Welt kommt, der sieht mit dem ganzen Körper, mit den Ohren, der Nase und den Händen.« »Woher kommst du denn?« Tela klammerte sich an die Worte Bacnars. Sie waren wie dünne Lichtzungen, die das Dunkel in ihrer Erinnerung erhellten, die eine fragile Barriere bauten, hinter der sich die in ihr emporkeimende Müdigkeit staute. »Aus Imagant«, gab Bacnar zur Antwort. »Dort wurde ich geboren. Vor zwei Wintern machte ich mich auf meine Pilgerreise. Ich zog zum Tempel des Orakels, um dort vom Heiligen Orakel meine Bestimmung zu erfahren. Und das Orakel trug mir daraufhin auf, zum Wolkenberg zu wandern, ihn zu ersteigen und die Schneekönigin von dem Fluch zu befreien, der seit so langer Zeit auf ihr lastet.« »Bist du denn ein Zauberer oder Gwyde?« fragte Tela, und in ihrer Stimme kam großer Respekt zum Ausdruck. »Nein, nur ein Amba, nichts weiter als ein einfacher und blinder Amba. Und du? Ich kenne nicht einmal deinen Namen. Wie kommst du hierher? Was führte dich den Wolkenberg hinauf?« Und Tela. erzählte ihre Geschichte. Sie berichtete vom Kaskadental, von ihrer Lehrmeisterin Kerina, von der Schwarzen Festung und der Verfinsterung des Tages, von gestohlener Phantasie und Traumdieben, die überall lauerten, die sie sogar bis hierher verfolgt hatten. Der Junge nickte. »Ja, ich habe etwas gespürt, in der Nähe des Tempels, etwas Finsteres und Unheilvolles, Aber ich wußte nicht. . .« Er beugte sich ein wenig vor. »Haben Sie dir deine Träume geraubt?« Bei diesen Worten stieg wieder alles in Tela empor. Die Silben zerbrachen die Barriere, und die Müdigkeit gurgelte über die Trümmer und ergoß sich durch ihren Körper. Sie vereinte sich mit dem einschläfernden Flüstern des Frostes. Tela kippte zur Seite, und ihre Lider wurden so schwer wie Blei. »Ich darf nicht schlafen«, murmelte sie, als ihre Gedanken bereits in den dunklen Schlund hinabzurutschen begannen, der sich direkt hinter ihrer Stirn geöffnet hatte. »Ich muß die Schneekönigin finden und sie. . . um eine Auskunft bitten. Ich muß erfahren, wohin das Flügelpferd verschwand, wohin der Hengst Peridor vor dem magischen Ruf Rakals floh . . .«

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Ihre Worte wurden immer leiser. »Tela?« fragte Bacnar. »Tela . . .?« Erneut beugte er sich vor, und seine eisverkrusteten Hände berührten die Schultern des jungen Mädchens. Und Tela spürte, wie sich tief in ihrem Innern etwas veränderte, wie ein Teil der Kälte in ihr von einem lauen Hauch Wärme verdrängt wurde. Die Leere in ihrer Erinnerung begann sich allmählich wieder aufzufüllen. Zit-ternd öffneten sich ihre Lider. »Jetzt weiß ich, was du bist«, sagte sie leise. Die Müdigkeit flutete zurück, und irgendwo in der Ferne vernahm sie das zornige Fauchen und Heulen der enttäuschten Traumdiebe. »Ein Amba, ja. . . Ich erinnere mich. Kerina hat mir einmal davon erzählt. Ambas sind Boten, die vom Orakel ausgeschickt werden. Und du. . . Du bringst Liebe und Harmonie. Deine Gedanken sind so klar und rein und sauber wie frisches Quellwasser. Ich. . .« Tela sprach nicht weiter. Sie seufzte, und eine Zeitlang gab sie sich ganz der Wärme hin, die Bacnar ihr schenkte. Der Seelenschatten des Jungen war so hell und strahlend wie ein Fanal, und sie sonnte sich in seinem Schein. Die Zeit verging. Bald war die Müdigkeit nur noch ein dunkler Schatten am Rande ihres Wahrnehmungsfeldes. Tela träumte, während sie wachte, und in diesen Träumen sah sie das alte Gesicht Kerinas. »Du darfst keine Zeit verlieren, kleine Tela. Du mußt Peridor finden, dich von ihm zur Schwarzen Festung tragen lassen und dort den Seelenturm zerstören.« Behutsam ergriff sie die Eishand Bacnars und hielt sie fest. »Wir werden das Labyrinth verlassen«, sagte sie entschlossen. »Ich habe lange nach einem Ausweg gesucht«, erwiderte er. »Ich bin zwar blind, aber ich sagte es dir ja schon: Ich sehe mit meinem ganzen Körper. Ich erinnere mich genau an jede Kammer und jede Tunnelkurve. Nein, Tela, ich kann die Aufgabe, die mir das Orakel übertrug, nicht erfüllen. Viel zu lange schon halte ich mich im Eispa-last der Schneekönigin auf. Sieh mich an, Tela. Mein Körper verwandelt sich allmählich in Eis. Ich werde hier unten sterben.« »Nein, nein.« Tela schüttelte heftig den Kopf. Sie sehnte sich danach, erneut die Hand Bacnars auf ihrem Körper zu spüren, die Liebe, die vom Seelenschatten des Ambas ausging. Aber sie dachte nun auch wieder an die Städte und Dörfer Imagants, in denen die Menschen weiter litten und starben, an das auf den Feldern ver-durstende Korn, an die Geister der Welt, die schlafen mußten, wenn die Menschen, denen alle Phantasie geraubt worden war, nicht mehr an sie glaubten. »Ich weiß jemanden, der uns vielleicht helfen kann.« Rasch löste sie den Krug vom Gärtel ihres Seidengewandes. Sie schüttete ein wenig von dem Öl auf den Eisboden und murmelte dann das Schaltwort, das den Geist des Feuers weckte, Kerina war keine Hexe gewesen, nur eine kluge und begabte Geschichtenerzählerin. Aber sie hatte auch Umgang mit Gwyden gehabt und von ihnen einige Schaltwörter erfahren, die sich als recht nützlich erwiesen hatten. Tela war von ihr in einen Teil dieses magischen Wissens eingeweiht worden. »Was machst du da?« fragte Bacnar. Tela erklärte es ihm. »Ich rufe den Geist des Feuers«, sagte sie und beobachtete, wie die Flammen höher emporzüngelten. »Er weiß mehr als wir

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Sterblichen, und vielleicht kann er uns sagen, wo der Ausgang des Eislabyrinths liegt und sich die Schneekönigin aufhält.« Das Gesicht eines alten Mannes formte sich in der Glut, und der Geist des Feuers sagte: »Ich grüße dich, kleine Tela. Als wir uns das letzte Mal sahen, war die Welt noch hell und klar. Jetzt aber beginnt sich der Tag zu verdunkeln, und an einem anderen Ort wird eine Nacht, die ewig dauern sollte, allmählich heller.« Tela nickte. »Ich weiß. Und noch immer habe ich das Flügelpferd nicht gefunden. Wir sind hier im Eisschloß der Schneekönigin, gefangen in einem kalten Labyrinth. Wir wissen nicht, wo der Ausgang liegt. Kannst du uns weiterhelfen?« Der Geist des Feuers gab nicht sofort Antwort auf diese Frage. Seine Funkenaugen blickten in die Ferne. »O Tela«, knisterte seine Stimme dann. »Rakal ist auf dich aufmerksam geworden. Er hat eine ganze Horde Traumdiebe nach dir ausgeschickt, und sie lauern noch immer in deiner Nähe. Einige von ihnen sind nach Gea zurückgekehrt, um dem Gefangenen der Schwarzen Festung die Kristalle zu bringen, in denen die Visionen und Geschichten gefangen sind, die sie bisher von dir erbeutet haben.« Das Prasseln der Flammen wurde etwas leiser. Bacnar saß ganz in der Nähe des Feuers und lauschte mit halb auf die Seite gelegtem Kopf. »Du bist jetzt in großer Gefahr, Tela, denn du hast bereits einen erheblichen Teil deiner Phantasie eingebüßt. Denke immer daran: Nur der feste Glaube an die Kraft der Geschichten, die du noch kennst, macht dich stark. Und du mußt stark sein. Oh, Tela, arme Tela — zuviel haben sie dir bereits gestohlen. Und jetzt brauchen die Traumdiebe nicht mehr auf deinen Schlaf zu warten. Sie nagen auch dann an deiner dir verbliebenen Phantasie, während du wach bist.« Tela erschrak bei diesen Worten und sah sich unwillkürlich um. Sie konnte nichts entdecken, aber sie hatte eigentlich auch nichts anderes erwartet. »Kannst du uns helfen, Feuergeist?« erinnerte das junge Mädchen die Flammen an ihre ursprüngliche Frage. Das Feuer prasselte und knisterte, und das von der Glut umhüllte Gesicht des alten Mannes schwebte höher hinauf. »Es gibt keinen Ausgang aus dem Labyrinth«, sagte der Feuergeist. »Der Irrgarten ist in sich selbst geschlossen.« »Aber das kann nicht sein!« widersprach Tela. »Ich bin durch einen Tunnel hierhergelangt. Und Bacnar ebenfalls.« Der Junge nickte bestätigend. »Das mag durchaus sein«, räumten die zischenden Stimmen der Flammen ein. »Aber hinter euch ist das Eis wieder zusammengewachsen.« Das knisternde Flüstern verstummte für einige Augenblicke. »Aber es gibt eine andere Möglichkeit. . .« »Welche?« »Wenn ich meine ganze Kraft verausgabe . . . Nimm den Krug, Tela, und gieße alles Öl aus.« »Aber das geht doch nicht. Wenn du den letzten Tropfen verzehrt hast, wirst du sterben.« »Feuer kann nicht sterben«, antwortete der alte Mann. »Feuer hat ewigen Bestand, Tela.« Tela zögerte, dann nahm sie den Krug und befolgte die Anweisung des Feuergeistes. Aber ein Rest Zweifel verblieb in ihr. Dies hier war nicht die Welt, die sie kannte. Nicht einmal der Geist des Windes konnte ihr innerhalb des Eispalastes etwas zuflüstern. »Und jetzt«, knarrten die Flammen, als alles Öl ausgegossen war, »verlaßt

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diese Kammer. Denn sonst werdet ihr im Eis gefangen.« Tela nahm den blinden Bacnar an der Hand und eilte mit ihm in den an den Raum angrenzenden Korridor. Nach einigen Schritten blieb sie stehen und sah zurück. Die Finger des Ambas waren mit einer glitzernden Frostschicht überzogen, aber die Berührung schenkte dem jungen Mädchen dennoch einen Hauch von Wärme und drängte die Müdigkeit zurück. Doch trotzdem verspürte Tela ein fremdes Tasten inmitten ihrer Gedanken, in dem Bereich ihrer Seele, der träumen und Geschichten erzählen konnte. Der Feuergeist hatte recht: Sie hatte bereits viel zuviel verloren, und die Gier der Traumdiebe beschränkte sich jetzt nicht mehr nur allein auf die Zeit des Schlafens In der Eiskammer begann der Feuergeist zu wachsen. Seine Flammen breiteten sich über den ganzen Boden aus, und als sie über das Öl des Krugs hinwegknisterten, ertönte ein dumpfes Grollen. »Er läßt die Wände einstürzen«, stieß Tela hervor. Und Bacnar sagte: »Es ist zu spät, schon viel zu spät. . .« Aber Tela achtete nicht auf seine Worte. Der Feuergeist verausgabte seine ganze Kraft. Die Flammen, die sonst nicht verbrennen konnten, atmeten plötzlich Hitze, und das Eis der Wände schmolz. Die Glut schuf eine schmale Gasse, und zu beiden Seiten erstarrte das Eis in bizarren Formen. Es ging alles ganz schnell. Noch bevor Tela begriff, was eigentlich geschah, war es schon wieder vorbei, und aus den hoch emporlodernden Flammen wurden trübe Funken, die zu Boden sanken und dort verglommen. Tela und Bacnar kehrten in die Kammer zurück, und der Geist des Feuers flüsterte: »Jetzt seid ihr frei. Und ich . . .«

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»Du hast mich angelogen!« rief Tela. »Es war notwendig«, raunte der sterbende Geist. »Ich sterbe, aber ich bin nur das Kind viel mächtigerer Flammen, die ewig sind. Du mußt leben, kleine Tela.« Die letzten Funken erloschen, und die Glut, deren Wärme längst von den Eiswänden verschluckt worden war, raunte noch: »Finde das Flügelpferd, Tela. Finde es recht-zeitig . . .« Dann war es wieder still.

Tela schob sich durch den schmalen Gang, der schon wieder zuzuwachsen begann. Sie hielt den blinden Bacnar an der Hand und zog ihn mit sich. Längst spürte sie die Kälte nicht mehr. Der Frost hatte ihren Körper betäubt, und sie stellte fest, daß sich ihre Hände bereits mit dem Grau zu überziehen begannen, das den ganzen Körper des Ambas bedeckte. Der schmale Durchgang mündete in eine Kammer. Sie eilten über den Eisboden, und im Ausgang der Kammer blieb Tela stehen. Vor ihr lag eine weite Halle, die sich bis auf einen Punkt nicht von der unterschied, in der sie sich vor ihrem Sturz ins Eislabyrinth aufgehalten hatte: Am einen Ende erhob sich ein Thron aus perlweißem Schnee. Und vor diesem Thron stand eine Frau, unbeweglich wie eine Statue. Sie wandte ihnen den Rücken zu. »Wir haben sie gefunden«, flüsterte Tela ihrem Begleiter zu. Der Körper der Schneekönigin schien aus trübem Glas zu bestehen, und er strahlte eine Kälte aus, die noch intensiver war als die der Wände. Das lange weiße Haar der Regentin war ein seidener Frostschleier, ebenso unbewegt wie sie selbst. Tela trat langsam auf die Schneekönigin zu und blieb einige Meter hinter ihr stehen. Es war, als schliefe die Frau, aber irgendwie wußte Tela, daß das nicht zutraf. Sie war wach, und sie hatte sie und Bacnar gehört. Dennoch bewegte sie sich nicht. »Schneekönigin!« sagte Tela leise. »Ich komme von weit her, Regentin über Schnee und Eis.« Sie erzählte ihre Geschichte, und die Frau rührte sich noch immer nicht. »Ich brauche eine Auskunft von dir, Königin.« Stille schloß sich an. Und diese Stille wurde durchbrochen von einer Stimme, die in sich selbst einem Kältehauch gleichkam. »Einst war ich ein sterbliches Wesen wie ihr beide auch«, sagte die Schneekönigin monoton. »Als Mädchen lebte ich in einem Dorf am Rand des Sumpflandes. Meine Eltern nahmen mich mit in ihren Fangbooten. Ich wuchs auf in einer glücklichen und zufriedenen Gemeinschaft. Doch als ich heranwuchs, verliebte sich ein Mann in mich. Wir tanzten in der Nacht, und wir besangen das Licht des Mondes. Aber der Mann war nicht frei. Viele Menschen fürchteten sich vor seiner Frau, denn sie kannte einen Teil der Geheimnisse der Zauberei.« Nach wie vor klang die Stimme völlig teilnahmslos. Tela und Bacnar hörten schweigend zu. »Als die Frau davon erfuhr, daß sich ihr Mann in mich verliebt hatte, rief sie die dunklen Geister an, und sie nannten ihr das Rezept eines Tranks. Sie gab den Krug ihrem Mann und pries den Inhalt als ein Elixier, das alle Krankheiten zu heilen vermochte. Er brachte ihn mir, und ich nahm einen Schluck davon. Ich konnte mich nicht gegen die Zauberei wehren. Ich schlief ein, und als ich erwachte, bestand mein Körper aus Eis, und alle meine Gefühle waren in der frostigen Kälte erstarrt. Seitdem warte ich hier in meinem Palast aus Schnee. Ich warte darauf,

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daß jemand kommt, um mich von dem Fluch zu befreien. Ich warte darauf, daß mir jemand mein Herz und meine Empfindungen zurückgibt.« Im Anschluß an diese Worte bewegte sich die Schneekönigin. Sie drehte sich langsam um, und die Eissträhnen klirrten leise — wie kleine Glocken, deren Klang sich nicht zu einer Melodie zusammenfinden wollte. Bacnar hob bei diesem Geräusch ruckartig den Kopf und rief: »Sieh ihr nicht in die Augen, Tela!« Aber seine Warnung kam zu spät.

Zwei helle Augen waren es, weiß wie frisch gefallener Schnee. Und ihr Blick reichte bis tief in Telas Inneres. Er verdrängte alle Wärme, die dort noch zurückgeblieben war. Er umklammerte ihr Herz und betäubte ihre Gedanken. Sie spürte, wie sie einen weiteren Schritt vortrat: Ihre Beine bewegten sich von ganz allein, gesteuert von einem Sog, der von der Schneekönigin ausging. Der blinde Bacnar stöhnte und sank auf die Knie. »Ich bitte dich, Regentin, laß von ihr ab«, sagte er und hob die Arme. »Tela hat eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, von der die Zukunft ganz Imagants abhängt.« Aber die Schneekönigin schüttelte den Kopf. »Es ist der Fluch, der mich dazu zwingt, ihre Gefühle und Empfindungen in mich aufzunehmen.« Ihre Stimme klang noch immer völlig monoton. Tela versuchte, den Eishauch, der sich um ihr Herz spannte, aufzulösen und durch Wärme zu ersetzen. Wieder vernahm sie das leise Schaben und Kratzen der versteckten Traumdiebe, die nun auf eine weitere Gelegenheit hofften, ihr die Phantasie zu rauben. Die Kälte in ihr nahm zu. Sie hüllte sie ganz ein, und nirgends gab es eine Lücke, durch die ein Entkommen möglich gewesen wäre. Tela suchte nach einem Ausweg. In einem Teil ihres plötzlich verblassenden Seelenschattens spiegelten sich die Wortbilder der Geschichte der Schneekönigin wider. Und von einem Augenblick zum anderen wußte sie, wie die Regentin des Eisschlosses von ihrem Fluch befreit werden konnte. »Bacnar . . .«, stöhnte Tela. »Gib mir deine Hand, Bacnar.« Der blinde Junge sprang auf und war mit einem Satz an ihrer Seite. Als sie seine Hand auf ihrer Schulter spürte, fügte sie hinzu: »Schenk mir Liebe, Amba.« Wärme durchströmte sie und verdrängte einen Teil der Kälte, die von er Schneekönigin ausging. Tela versuchte sich an eine passende Geschichte zu erinnern, aber in ihrem Gedächtnis klaffte ein großes Loch, dessen Räder immer mehr in die Breite wuchsen. Sie versuchte, der Furcht keine Beachtung zu schenken, und ließ sich einfach von ihrem Gefühl leiten, so, wie sie es von Kerina gelernt hatte. Sie murmelte ein Schaltwort, das die Wirkung ihrer Worte verstärkte, und anschließend begann sie mit ihrer Erzählung. Sie löste sich von Bacnar und tanzte. Sie dachte an eine ganz bestimmte Melodie des Windes, und sie paßte ihre Bewegungen daran an. Zunächst fiel ihr das sehr schwer, zumal sie nun nicht mehr die Berührung des blinden Jungen verspürte und die Kälte in sie zurückzufluten drohte. Nach und nach aber wurde sie zu einem Teil ihrer Geschichte, und die Worte machten sich selbständig, fügten sich wie Mosaiksteine aneinander und formten ein farbenprächtiges Bild.

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In der Ferne gierten die Traumdiebe. Ihre Kristalle füllten sich erneut. Tela war sich darüber klar, daß sie nach dem Tanz diese ganz bestimmte Geschichte vergessen haben würde, und diese Erkenntnis ließ sie einen Augenblick in ihrem Tanz und in ihrem Erzählfluß straucheln. Aber sie fing sich sofort wieder und tanzte weiter. Es war eine Geschichte von Liebe und Harmonie, von den murmelnden Geisterstimmen der Gräser, von den Akkorden des Windes, vom Rauschen des Wasserfalls im Kaskadental, von den Farben des Regenbogens. Es war die Geschichte eines Kindes, das in einem kleinen Dorf aufwuchs und von einer Erzählerin unterrichtet wurde. Es war die Geschichte eines jungen Mädchens, das allmählich zur Frau wurde. Es war die Geschichte einer jungen Frau, die einen blinden Mann liebte. Ihre anmutigen Bewegungen drückten aus, was sie empfand, und Tela klammerte sich an dieses Gefühl. »Die Wände, murmelte Bacnar. »Ich kann es hören . . . Das Eis schmilzt« Aber Tela ließ sich davon nicht ablenken. Sie sah das Gesicht Bacnars, so wie es gewesen war, bevor er sich im Eislabyrinth der Zitadelle aus Schnee verirrte. Sie sah ihn als jungen Mann, dessen Hände Liebe spendeten. Und erst, als sie die ganze Geschichte beendet hatte, hielt sie in ihrem Tanz inne. Wasser gurgelte an ihren Füßen vorbei, und die Schneekönigin hatte sich verändert. Ihr Haar war nicht mehr weiß, sondern glänzte nun im hellen Schein von Silber. Die Kälte in ihren Augen. . . Nun lag Wärme in ihrem Blick, eine Wärme, die das Eis ihres Körpers verflüssigte. Tela taumelte auf Bacnar zu und sank in die Arme des blinden Jungen. Der Tanz hatte sie sehr erschöpft. »Nie mehr hatte ich gehofft, eine solche Liebe zu spüren«, ertönte die Stimme der einstigen Schneekönigin. Sie klang nicht mehr eintönig, sondern drückte Wehmut aus. »Ihr . . . Ihr habt mich von meinem Fluch erlöst. . .« »Bitte«, sagte Tela. »Kannst du mir die Auskunft geben, die ich brauche? Kannst du mir sagen, wo ich das Flügelpferd Peridor suchen muß?« Die untere Körperhälfte der Frau mit dem Silberhaar hatte sich schon mit dem Schmelzwasser der Eiswände vereint. Es wurde rasch wärmer im Palast. »Bitte, Königin, sag es mir. Wohin floh der Hengst?« »Das weiß ich nicht«, sang die Frau leise. »Aber wenn du die weiße Blume findest, dann kannst du ihn herbeirufen — ganz gleich, wo sich Peridor auch aufhalten mag.« »Und wo wächst die weiße Blume?« »Auf einem Felsen, nicht weit von hier.« Nur noch der Oberkörper der Frau ragte aus den Fluten. Sie beschrieb Tela den Weg und fügte hinzu: »Aber du mußt vorsichtig sein. Denn die weiße Blume wird von den beiden Steinernen Schwestern bewacht.« Im Anschluß an diese Worte versank die befreite Schneekönigin im Wasser. Tela griff rasch nach der Hand des blinden Jungen - seine Haut war nun nicht mehr grau, sondern glänzte braun und gesund — und zog ihn mit sich. »Hast du gehört, Bacnar? Es ist nicht mehr weit. Bald habe ich es geschafft. . .«

Weit unten spiegelte sich das Licht der Sterne auf den Wolken, die die Flanken der Berge umschmiegten. Die Gipfel und Grate ragten wie unterschiedlich dicke Nadeln aus der flaumigen Watte. Tela kletterte zwischen Felsen weiter in die Höhe. Dann und wann ergriff sie die Hand des blinden Jungen, um ihm weiterzuhelfen. Hun-

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derte von Metern unter ihnen grollte der Gletscher, und nur noch die geschmolzenen Mauern und Zinnen erinnerten an das Eisschloß der Schneekönigin. Weiter oben, auf einem kleinen Felsen, erhoben sich die Gestalten der beiden Steinernen Schwestern. »Schneller, Tela«, flüsterte der Wind. »Sie verfolgen dich. Sie kommen immer näher.« Das junge Mädchen blieb kurz stehen und sah sich um. Es kniff die Augen zusammen und glaubte, in den Kaminen diffuse Schatten erkannt zu haben. Die Stimme des Windes trug das Geräusch von Klauen und Krallen heran, die über Felsen hinwegkratzten. »Kannst du mir nicht helfen, Wind?« fragte sie. Bacnar legte den Kopf in den Nacken. »Mit wem sprichst du?« »Mit dem Wind und den Wolken«, erwiderte Tela. Und sie fügte hinzu: »Könnt ihr mich hören, ihr Geister der Steine und Felsen? Ihr müßt aufwachen und euch zu einer hohen Wand auftürmen, die die Traumdiebe nicht überwinden können.« Aber es antwortete ihr nur der Wind: »Sie können dich nicht hören, kleine Tela. Sie schlafen. Ebenso wie die beiden Steinernen Schwestern, die über die weiße Blume wachen. Schneller, Tela. Die Diebe haben dir schon viel zuviel Phantasie gestohlen. Sie besitzen jetzt so viel von dir, daß sie nicht mehr warten müssen, bis du schläfst. Wenn sie dich nun erreichen, werden sie dir auch deine restlichen Träume und Geschichten rauben . . .« Und daraufhin kletterte Tela weiter. Immer dann, wenn sie die Hand Bacnars spürte, entstand eine sonderbare Ruhe in ihr, eine Stille, die sie genoß. Aber wenn sie die Finger des blinden Ambas losließ, kehrten Kälte und Leere mit noch größerer Wucht zurück. »Meine Mutter«, sagte Bacnar dicht unterhalb des Plateaus. »Sie konnte ebenfalls mit dem Wind sprechen. Ja, mit dem Wind und den Bäumen und dem Gras. Aber sie tanzte nicht. Und sie erzählte auch keine Geschichten wie du,« Er neigte kurz den Kopf auf die Seite. »Sie sind ganz nahe, nicht wahr, Tela? Ich kann ihre Anwesenheit spüren. Dunkel sind sie, kalt und finster. Sie haben es immer noch nicht aufgegeben.« »Du hast recht«, murmelte das junge Mädchen und zog Bacnar höher hinauf. Sie hatten nun das kleine Hochplateau erreicht, das die Schneekönigin beschrieben hatte. Vor ihnen standen stumm und still die beiden Steinernen Schwestern. Der Wind flüsterte: »Sei auf der Hut, Tela. Betrachte die beiden Schwestern. Sie bewachen die weiße Blume, denn ihre Blüte kann Sterblichen große Macht bescheren. Du darfst die beiden Hüterinnen nicht aufwecken, Tela.« Und Tela musterte die beiden Gestalten, während sich Bacnar an sie schmiegte und sie das Gefühl der Liebe genoß, das der helle Seelenschatten des Ambas ausstrahlte. Es waren zwei Statuen, die Dutzende von Metern in die Höhe ragten, stumm und starr und unbeweglich. Es sah so aus, als seien sie von den fleißigen Händen eines Künstlers aus dem Fels gemeißelt worden. Grau waren sie, grau wie Schiefer, grau wie Granit. Dicke Wurzelstränge ragten wie unförmige Schlangenleiber aus dem Boden des Plateaus und vereinten sich zu den beiden Körpern aus Stein. Allein die massigen Köpfe mußten viele Tonnen schwer sein, und die Gesichter mit den großen, smaragdenen Augen blickten nach Osten. Auf

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den Köpfen der Steinernen Schwestern zeigten sich Kronen aus schneeweißem Marmor. Die kräftigen Arme der Statuen hielten genau über der Blume eine riesige, bronzene Glocke fest. Tela atmete schwer. Noch immer rührten sich die Gestalten der granitenen Schwestern nicht, aber dennoch spürte das junge Mädchen einen Hauch von Leben in ihnen — wie eine kleine Flamme, die jederzeit höher emporzüngeln konnte, wenn man Öl ins Feuer goß. Es war keine Aura des Bösen, die die Blumenhüterinnen um-hüllte, eher die von ewiger Wachsamkeit. »Ihre Wurzeln«, fuhr der Wind flüsternd und säuselnd fort, »verlaufen überall im Fels des Plateaus. Aber es gibt einen Weg an den Schwestern vorbei.« »Wo?« fragte Tela. »Wo verläuft er?« »Das kann ich dir nicht sagen, Tela. Du mußt den Pfad selbst finden.« Das junge Mädchen trat einige Schritte vor und kniete sich auf dem Boden nieder. Ihre Fingerkuppen strichen über das Gestein, und sie sagte leise: »Ich brauche jetzt eure Hilfe, ihr Geister der Felsen. Bitte, ihr müßt mich anhören. Beschreibt mir den Weg, der an den beiden Blumenhüterinnen vorbeiführt.« Aber wieder erhielt sie keine Antwort. Alles blieb still. Und in dieser Stille ertönten von weiter unten das Schaben und Kratzen der näher kommenden Traumdiebe. »Warum gehst du nicht weiter?« fragte Bacnar. »Wenn die Schwestern erwachen«, wisperte der Wind, »wird sich die Glocke über die weiße Blume senken, und dann, kleine Tela, hast du keine Möglichkeit mehr, das Flügelpferd zu rufen.« Tela sah den blinden Jungen an. »Es gibt nur einen einzigen Pfad, der an den beiden Steinernen Schwestern vorbeiführt«, erklärte sie ihm. »Sie dürfen nicht aus ihrem Schlaf erwachen. Aber ich kann diesen Weg nicht finden, und die Geister der Steine und Felsen antworten mir nicht.« »Siehst du ihn denn nicht?« Bacnar schüttelte verwundert den Kopf und ergriff Telas Hand. »Komm mit mir.« Sicheren Schrittes führte er sie auf die beiden granitenen Blumenhüterinnen zu. Tela blickte furchtsam an den hohen Gestalten aus Stein empor. Nichts rührte sich. Nichts bewegte sich. Ab und zu blieb Bacnar kurz stehen und schien zu horchen. Dann wanderte er weiter, langsam und vorsichtig. »Aber wie . . .?« setzte Tela verwirrt an. »Ich sehe nicht mit den Augen«, erwiderte der blinde Junge. »Ich sehe mit meinen Empfindungen und Gefühlen, Tela. Und der Boden unter uns . . . Dort, wo die Wurzeln der Steinernen Schwestern verlaufen, ist er dunkel und kalt. Die anderen Stellen sind viel heller. Oh, ich kann sogar einige Farben erkennen: rote und blaue und purpurne Flächen, die wir betreten können, ohne die Hüterinnen zu wecken.« Tela seufzte und ließ ich von Bacnar leiten. Kurz darauf erreichten sie die weiße Blume. Sie wuchs in einer kleinen Bodenmulde, direkt unterhalb der großen Glocke, die die beiden Steinernen Schwestern trugen. Ihr Blütenkelch war geschlossen. Mit den Fingerkuppen strich Tela über die filigranen Blätter, und sie verspürte einen Hauch von Wärme, der dem ähnelte, der in Bacnars Seelenschatten zu Hause war. »Schnell«, flüsterte der Wind über dem Plateau. »Die Traumdiebe . .. Sie kommen.«

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Tela wandte den Kopf zur Seite. Am gegenüberliegenden Rand des Plateaus bewegte sich etwas. Mehrere schattenhafte Körper schoben sich empor und krochen über den Fels. Tela sah in gelbe und gierige Augen, und sie vernahm ein triumphierendes Fauchen und Heulen. »Ich kann sie sehen«, tropfte es von ihren Lippen. »Wind, ich sehe sie!« »Ja«, flüsterten die sanften Böen. »Sie haben dir bereits so viele Geschichten und Träume gestohlen, daß sie sich nicht mehr vor dir zu verbergen brauchen, Tela. Öffne die Blume. Rufe das Flügelpferd . . .« Furcht keimte in dem jungen Mädchen auf. Es starrte auf den geschlossenen Blütenkelch der weißen Blume, und sie sagte leise: »Hörst du mich, Blumengeist? Erwache für mich aus deinem Schlaf. Ich bin Tela. Ich habe eine weite Reise hinter mir, und meine Aufgabe ist es, das Unheil vom Lande, Imagant abzuwenden. Bitte, öffne dich für mich, und rufe den Hengst Peridor, der vor tausend Jahren die Flucht ergriff vor einem magischen Ruf.« Sie wartete, aber der Geist der Blume schlief weiter. Der Kelch öffnete sich nicht. Statt dessen stöhnten die beiden Steinernen Schwestern. Ihre granitenen Lider zitterten, und ihre Lippen bebten. Tela hielt nach den Seelenschatten der beiden Hüterinnen Ausschau, aber sie konnte nichts erkennen. Es knisterte verhalten, und eine dumpfe Stimme grollte: »Wir schützen die weiße Blume. Wir halten alles Böse von ihr fern . . .« »Die Traumdiebe«, stöhnte Tela und starrte auf die Schemen zwischen den Wächterinnen. »Sie haben die Schwestern geweckt. Sie kannten nicht den richtigen Weg . . .« Dornen wuchsen aus den granitenen Körpern der Hüterinnen. Spitze Nadeln waren es, die aufeinander zu-

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strebten und ein dichtes Gitter bildeten. Und aus dem noch vor wenigen Augenblicken so triumphierend klingenden Fauchen und Heulen der Traumdiebe wurde ein schmerzerfülltes Schrillen. Klauenhände schlugen auf die Dornen ein, aber die Krallen runzliger Finger zerbrachen an den Nadeln, die sich in die Körper der dämonischen Wesen bohrten. Die kräftigen Arme der Schwestern bewegten sich. Langsam ließen sie die Glocke herabsinken. Bacnar hatte den Kopf auf die Seite gelegt und horchte. »Du mußt tanzen, Tela«, sagte er. »Du mußt tanzen und eine Geschichte erzählen, so, wie im Eisschloß der Schneekönigin.« Er hob die Arme und berührte ihre Wangen. Sie waren kalt, aber unter seinen Fingerkuppen breitete sich rasch Wärme aus. Tela erhob sich. »Wind, bitte sing ein Lied für mich — ein Lied von Bergen und Wolken, von Graten und Kaminen, von Schnee und Eis und vom Licht des Mondes und der Sterne.« Und der Wind begann zu flüstern und zu säuseln. Seine unsichtbaren Böenarme erfaßten das lange blonde Haar des jungen Mädchens und ließen es wie die Woge eines goldenen Meeres emporgischten. Sein Wispern war eine zarte Melodie, und Tela drehte sich im Kreis und begann zu tanzen. Aber es fiel ihr schwer, sich auf die Musik des Windes zu konzentrieren und den Akkorden seiner Stimme zu lauschen. Immer wieder vernahm sie das Fauchen und Schrillen der sterbenden Traumdiebe. Und wenn sie sich drehte, fiel ihr Blick auf die sich herabsenkende Glocke, die die Bodenmulde mit der weißen Blume bald ganz bedecken würde. »Nein«, sagte Bacnar, »so ist es nicht richtig, Tela. Du kannst besser tanzen, viel besser. Vergiß alles andere. Tanze und erzähle deine beste Geschichte.« Aber Tela hatte plötzlich Angst. Sie fürchtete, so kurz vor dem Ziel doch noch versagen zu können. Sie versuchte, sich zu erinnern, sich die Stimme Kerinas ins Gedächtnis zurückzurufen. Die besten Geschichten sind die, die aus deinem Innern kommen, sagte Kerina. Eine gute Erzählerin weiß ganz genau, welche Wirkung ihre Worte erzielen. Sie beherrscht die Sprache, die nur ein Werkzeug ist, um vor den inneren Augen der Zuhörer ganz bestimmte Bilder entstehen zu lassen. Vertraue immer auf dich, Tela. Zweifel ist ein Gift, das deine Phantasie langsam zersetzen kann. Vertraue immer auf dich . . . Die Glocke war nun nur noch wenige Zentimeter vom Kelch der weißen Blume entfernt. Tela schloß die Augen und wartete, bis die aus ihrem Gedächtnis ertönenden Worte Kerinas zu einem brausenden Orkan geworden waren. Sie formte einen Strudel daraus und gab sich dessen Zerren bereitwillig hin. Als sie den Grund des Wirbelns erreichte, gelangte sie in eine Zone der Ruhe, und in dieser Stille ertönte erneut die Melodie des Windes. Diesmal machte Tela ihren Körper zu einer Feder, die von der Stimme des Windes hin und her getragen wurde. Sie paßte ihre Bewegungen ganz genau den Akkorden an, und während sie tanzte, erzählte sie eine Geschichte. Viele Kammern und Räume ihrer Erinnerung waren leer, geplündert von den Traumdieben. Aber sie hatten ihr noch nicht alle Geschichten gestohlen. Vor ihrem inneren Auge sah sie einen hohen Wasserfall, dessen Fluten gischtend und rauschend in die Tiefe stürzten. Sie sah die Hütten des Dorfes Sogno, Männer, Frauen und Kinder, die sie kannte und liebte. Sie sah sich selbst — wie sie im hohen Gras der Wiese tanzte und sich das Korn auf den Terrassenäckern im Rhythmus ih-

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res Gesangs von einer Seite zur anderen neigte. Sie erzählte von den Geistern der Blätter und Bäume, der Blumen und Gräser, des Bodens und des hellen Sonnenscheins. Sie beschrieb die Farben des Regenbogens und den Geschmack der Luft. Sie berichtete von den Wassertropfen, von den weiten Reisen, die sie hinter sich hatten, von ihren Wiedergeburten. Aber noch immer störte sie irgend etwas. Als sie wußte, was es war, lachte sie hell und streifte sich mit einer gleitenden Bewegung das Seidengewand über den Kopf. Das Licht der Sterne spiegelte sich auf ihrer nackten Haut, und der Mondschein streichelte sie. Tela setzte ihren Tanz fort, und erst, als sie eine Stimme vernahm, die sie bisher noch nie gehört hatte, hielt sie inne und kniete sich vor der Bodenmulde nieder. Über ihr schwebte wie drohend die große Glocke, und vor ihr blühte die weiße Blume. Ihr Kelch hatte sich geöffnet. Der Wind ließ ihn von einer Seite zur anderen zittern, und Pollenstaub rieselte daraus hervor. »Wer bist du?« fragte der Geist der weißen Blume. Tela antwortete und erzählte eine andere Geschichte; sie berichtete von Rakal, der Schwarzen Festung, dem Seelenturm, den Traumdieben und dem Unheil, das den Tag verfinsterte und ganz Imagant überzog. Während die Worte aus ihr herausströmten, senkte sich die Glocke der Steinernen Schwestern weiter. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie die ganze Bodenmulde und damit auch die blühende Blume bedeckte. »Bitte«, flüsterte Tela, »rufe für mich das Flügelpferd. Nur der Hengst Peridor weiß, wo das Ende der Welt liegt, wo die Götter die Schwarze Festung erbauten. Nur das Flügelpferd kann mich dort hintragen.« Die Hand des blinden Jungen schloß sich um ihre Schulter und zog sie zurück. »Die Glocke«, sagte Bacnar. »Wenn du nicht aufpaßt, wirst auch du unter ihr eingeschlossen.« Aber Tela widersetzte sich seinem Ziehen. Ihr Blick klebte an der weißen Blüte. »Hast du mich verstanden, Blumengeist?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Es ist so wichtig, daß du mir meine Bitte erfüllst. Ich brauche die Hilfe des Flügelpferdes. Ohne Peridon muß ich scheitern.« Aber keine Stimme antwortete ihr. Der Geist der weißen Blume blieb jetzt stumm. »Du mußt stark sein, Tela«, flüsterte der Wind. »Du darfst den Glauben nicht verlieren. Wenn du nicht fest auf die Macht der weißen Blume vertraust, dann kann sie dir auch nicht helfen.« Das junge Mädchen betrachtete die Blume und wußte, daß ihr nur noch wenige Sekunden Zeit blieben. Sie versuchte, sich den Geist der Blume vorzustellen, die Macht, die er verkörperte. Und erst, als sich bereits das Licht der Sterne zu verfinstern begann, kroch sie mit der Hilfe Bacnars rasch unter der sich herabsenkenden Glocke hervor. Ein dumpfer Laut hallte davon, als der Rand des gewaltigen Gebildes den steinernen Boden berührte und sich die Glocke wie eine unüberwindliche Barriere zwischen ihr und der weißen Blume auftürmte. Tela sah die beiden Steinernen Schwestern an. Die Augen der granitenen Gestalten waren nun wieder geschlossen. Die Dornen aber bildeten sich nicht zurück, und in dem Gespinst aus spitzen Nadeln waren die toten Körper der Traumdiebe gefangen. Von ihnen ging nun keine Gefahr mehr aus.

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Aber die Dornenmauer versperrte Tela und Bacnar auch den Rückweg. »Hat dir der Geist der Blume geantwortet?« fragte der blinde Junge leise. Seine Fingerspitzen strichen sanft über die Wangen des Mädchens. »Nein«, sagte Tela niedergeschlagen. »Er blieb stumm.« Sie sah Bacnar an. »Ich. . . Ich habe Angst, den Glauben an die Geister der Natur zu verlieren.« Bacnar nahm sie in die Arme, und für einige Augenblicke gab sich das junge Mädchen ganz der Ruhe hin, die von ihm ausging. Es war eine Wärme, die die Furcht in ihr betäubte. Nach einer Weile aber machte sich Tela wieder frei von ihm und kroch auf einen von weißem Eis überzogenen Felsvorsprung. Eingehüllt in weißen Flaum wuchsen unter ihr andere Berggipfel empor. Weit über ihr glitzerten und funkelten die Sterne. Die Kälte machte ihr nichts aus, obgleich sie nun nicht einmal mehr das Seidengewand trug. Solange Bacnar in ihrer Nähe weilte, wurde sie immer von einem Hauch Wärme begleitet. Zwei schillernde Tränen quollen ihr aus den Augenwinkeln, als sie an das Kaskadental und die Dörfer und Städte Imagants dachte. Noch immer waren die Traumdiebe unterwegs, um auch die letzten Reste von Phantasie zu stehlen. Und wenn sie schließlich alle zurückkehrten zur Schwarzen Festung . . . Dann war Imagant ein totes Land, in dem der Tag ebenso dunkel war wie die Nacht. »Es tut mir leid, Kerina«, murmelte Tela. »Ich habe alles versucht. Ich war nicht stark genug.« Aber plötzlich flüsterte der Wind: »Tela, sieh nur! Du konntest die Geisterstimme der weißen Blume zwar nicht hören, aber die Blüte vernahm deine Worte . . .« Tela drehte den Kopf zur Seite. Im Westen bewegte sich etwas in dem faserigen Dunstflaum. Eine Wolke schien es zu sein, die von einem Böenarm emporgezogen wurde, den Sternen entgegen. Das junge Mädchen kniff die Augen zusammen, und es vergaß seinen Kummer, als es sah, daß es sich überhaupt nicht um eine Wolke handelte. Ein Pferd flog aufs Plateau zu, getragen von schneeweißen Schwingen. Der perlmuttfarbene Schweif bewegte sich wie ein Banner. Der Wind trug ein lautes Wiehern heran: »Die weiße Blume hat mich gerufen, und ich bin gekommen, so rasch ich konnte.« Tela hob die Arme, als der Hengst Peridor heransegelte. Nie hatte sie ein herrlicheres Geschöpf gesehen. Die langen Strähnen der Mähne bewegten sich wie ein dichter Schleier. In den Flanken des Flügelpferdes spielten kräftige Muskeln. Und in den Augen Peridors schimmerte eine viele Jahrhunderte alte Weisheit. Noch einmal erzählte Tela ihre Geschichte, und sie schloß: »Kannst du mich zur Schwarzen Festung tragen, Peridor?« »Oh«, wieherte das Flügelpferd, »ich weiß, wo das Ende der Welt liegt. Für ein sterbliches Mädchen wie dich ist es eine Reise, deren Ende du nie erlebst. Für ein Geschöpf wie mich aber, das über die Wolken und Berge hinwegschweben kann. . . Ja, kleine Tela, ich bringe dich zur göttlichen Bastion. Steig auf.« Das junge Mädchen schwang sich auf den Rücken des Flügelpferdes. Sie reichte Bacnar die Hand. »Nimm hinter mir Platz«, sagte sie und fügte rasch hinzu, wobei sie den Hals des Hengstes streichelte: »Ich hoffe doch, du kannst auch den blinden Amba tragen.« »Ich spüre euer Gewicht nicht einmal«, lachte Peridor wiehernd. »Ihr beide seid so leicht wie Federn. Aber während ich euch zur Schwarzen Fe-

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stung trage, mußt du mir eine Geschichte erzählen, Tela. Denn ich höre noch immer den magischen Ruf des Gefangenen, und ich könnte ihm erliegen, wenn ich ihm zu lange lausche.« Daraufhin breitete das Flügelpferd seine schneeweißen Schwingen aus und segelte fort von dem Plateau. Der Wind sang ein Lied, und Tela erzählte eine Geschichte . . . Die Geschichte von einem Tag, der wieder hell war, von einer Nacht, die keine Gefahren barg, von lachenden Kindern, von Männern und Frauen, die auf Terras-senäckern arbeiteten und die Ähren von ihrer schweren Kornbürde entlasteten.

In den weiter oben liegenden Räumen und Korridoren der Bastion sangen die Wächter ihr ewiges Spottlied. Jetzt aber hörte Rakal die ihn verhöhnenden Worte gar nicht. Er starrte auf die Traumkristalle, die er in Händen hielt. Vor ihm standen die gedrungenen und knorrigen Gestalten mehrerer Traumdiebe. Sie verneigten sich ehrerbietig vor ihm, und sie warteten geduldig auf neue Befehle. »Sie ist es«, flüsterte der Gefangene. »Ja, ich bin ganz sicher. Das Mädchen besitzt das, was ich seit zehn mal hundert Jahren gesucht habe — den Traum der Träume.« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. Einige Meter entfernt, ebenfalls am Rande des Sphärentrichters, wuchs der Seelenturm in die Höhe. Traumdiebe kamen und gingen, und jeder Kristall verfestigte die Wände des Turms. »Erzählt mir von ihr«, wandte sich Rakal an die vor ihm stehenden Gestalten. Einer der Traumdiebe sah ihn aus gelben Augen an. »Es ist ein junges Mädchen aus dem Kaskadental Ima-

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Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer. Anzeigenpreisliste Nr. 19 vom 1.1. 1984

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7730 Villingen-Schwenningen. Printed in Gerrnany.

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gants, die Schülerin einer Geschichtenerzählerin. Sie machte sich auf, um das Flügelpferd zu suchen. Sie war im Ahornwald. Wir sahen sie auch in der Stadt Estevan. Im Eispalast der Schneekönigin konnten wir ihr weitere Träume stehlen. Aber ein blinder Junge, ein Amba, verhinderte, daß wir ihre ganze Phantasie erbeuten konnten. Sie befreiten die Schneekönigin von ihrem Fluch und fanden die weiße Blume, die von den beiden Steinernen Schwestern bewacht wird.« Die Gestalt senkte kurz den Kopf. »Einige Traumdiebe starben den endgültigen Tod, als die Blütenhüterinnen erwachten und sie mit ihren Dornen aufspießten.« Rakal nickte nur. Der Tod der Traumdiebe betraf ihn nicht. Ihn interessierte nur das Mädchen, weiter nichts. Er betrachtete die Bilder in den Kristallen. In der Tiefe des Trichters leuchteten wieder die beiden kirschroten Augen des Dämonenherrn auf. Noch war er nicht dazu in der Lage, selbst aus dem Trichter emporzusteigen. Aber der Seelenturm wuchs, und wenn er fertiggestellt war, würde er zerbersten und die Mauern der Schwarzen Festung zum Einsturz bringen — wenn der richtige Traum dabei war. Und dann war auch der Sphärentrichter nicht länger versperrt. Rakal zweifelte nicht daran, daß er einen Teil des richtigen Traums in Händen hielt. »Spürst du es nicht, Gefangener?« grollte die Stimme des Dämonenherrn. »Es ist der jungen Geschichtenerzählerin gelungen, das Flügelpferd herbeizurufen. Sie hat damit etwas geschafft, was dir nie gelang, Herr. Und jetzt ist sie auf dem Wege hierher.« »Um so besser«, erwiderte Rakal dumpf. Ruckartig warf er die Arme hoch und rief: »Die Stunde meiner Freiheit ist gekommen.« Oben sangen die Wächter der Bastion ihr Spottlied. Jetzt konnte Rakal nur noch darüber lachen. »Bist du dir da ganz sicher?« fragte die Stimme der beiden roten Augen. »Ist auch nicht eine Spur von Zweifel in dir?« Rakal trat näher an die Geablume heran und streckte die Hände aus, deren dünne Finger die Traumkristalle umklammerten. »Zweifel?« ächzte er. »Nein, ganz bestimmt nicht. Sieh dir die Visionen an. Nur ein Splitter dieses Traums hat die Mauern der Festung erschüttert und Risse und Fugen geschaffen. Der ganze Traum aber. . .« »Das Mädchen ist noch frei, und es wird vom Hengst Peridor hierhergetragen. Tela hat die Absicht, die im Turm gefangenen Seelen zu befreien.« »Sie hat bereits einen großen Teil ihres Ichs eingebüßt. Sie ist schwach.« Er reichte die Kristalle den Traumdieben und befahl: »Macht sie zu einem Teil des Seelenturms.« Als die Gestalten mit den gelben Augen davoneilten, um seine Anweisung sofort auszuführen, sagte Rakal kalt: »Ich werde das Mädchen hier erwarten.« Er lachte. »Es dauert nicht mehr lange, bis mir alle Träume Telas gehören . . .«

Es war ein berauschender Flug. Über weite Ebenen ging es hinweg, über hohe Berge, deren Gipfel bis in den Himmel hinaufzureichen schienen, über Ozeane, deren Wasserwüsten sich endlos unter ihnen ausdehnten. Und unermüdlich schlugen die schneeweißen Schwingen des Flügelpferdes. Tela lachte und sang mit dem Wind. Bacnar stimmte in ihr Lied mit ein, und die Strähnen der wehenden Mäh-

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ne Peridors waren wie die Saiten einer Harfe, auf denen Tela zu spielen verstand. Einmal zeigten sich weit voraus die finsteren Wolkenberge eines sich zu-sammenbrauenden Sturms. Das junge Mädchen sprach mit dem Wind, und daraufhin erhob er seine Stimme, und die Böenarme schoben die Sturmzone vorsichtig fort. Weit unter ihnen zogen Städte und Dörfer dahin. Tela dachte an die dort lebenden Menschen, und daraufhin hörte sie auf zu singen. Wie viele Träume und Visionen waren bereits von den Schergen Rakals gestohlen worden? Vor ihrem inneren Auge sah Tela Männer, Frauen und Kinder mit leeren Augen und verblassenden See-lenschatten. Sie war sich ihrer großen Verantwortung bewußt. Bald wurde es dunkler, und als es ganz finster geworden war und nicht einmal mehr die Sterne am Himmel glänzten, wieherte der Hengst und sagte: »Sieh hinab, Tela. Dort unten. . . Das ist das Ende der Welt — das Meer der lichtlosen Schwärze, aus dem die Götter kamen, aus dessen Fluten ihr Schöpfungsgeist aufstieg.« Peridor segelte in die Tiefe, und seine Hufe traten durch leere Luft. »Wind?« fragte Tela, als Nebelschwaden sie zu umwehen begannen. »Ja«, ertönte es aus der Ferne. »Ich höre dich. Hier ist mein Reich zu Ende. Ich kann dich nicht länger begleiten. Ich wünsche dir viel Glück, Tela, kleine Tela. Viel hängt davon ab, ob du Erfolg hast oder nicht.« Kurz darauf konnte das junge Mädchen kaum noch etwas sehen. Tela erzählte weiter, eine Geschichte nach der anderen, und mit großem Erschrecken mußte sie feststellen, daß sie sich zu wiederholen begann. Die Traumdiebe hatten ihr mehr Phantasie gestohlen, als sie bisher geglaubt hatte. Unter ihnen wuchsen dunkle Mauern aus einem lichtlosen Dunst. Kreisrund war der Außenwall der Schwarzen Festung, und sie ragte weit empor aus dem Ozean der Dunkelheit und des Nebels. Sie glänzte so schwarz wie Obsidian, so schwarz wie eine völlig lichtlose Nacht. Im Zentrum des Kreises, den der Außen wall bildete, erhoben sich die Wände der eigentlichen Festung. Sie sah aus wie ein düsteres Schloß: stumme Minarette und Zinnen, leere Wehrgänge, Masten, an denen keine Fahnen wehten, nur das imaginäre Banner eingekerkerten Unheils. Die Bastion war groß; bestimmt gab es in ihrem Innern Hunderte von Kammern, Gängen, Korridoren und Gewölben. Und alles war schwarz — so schwarz wie der Geist desjenigen, der in den Gemäuern der Festung seit zehn mal hundert Jahren gefangen war. »Das ist die Schwarze Festung«, wieherte das Flügelpferd. Traurig warf es den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ich kann nicht lange hierbleiben, Tela. Der magische Ruf Rakals ist hier sehr stark.« Der Hengst landete im Innenhof der Festung. Seine weißen Schwingen schlugen noch einmal und falteten sich dann zusammen. Tela und Bacnar stiegen ab. Stille herrschte. »Wo finde ich den Seelenturm?« fragte Tela leise und blickte in die Augen des Flügelpferds. In den hellen Pupillen spiegelte sich das unstete Licht einer Fackel, die im Zugang zu den Schwarzen Räumen brannte. »Ganz tief unten in den Gewölben«, wieherte Peridor. »Am Rand des Trichters, der in die Unterwelt führte, ins Reich der Schatten und Schemen. Tela. . . Jetzt kann ich dir nicht mehr

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helfen. Ich habe dich hierhergebracht, aber die gestohlenen Träume mußt du selbst befreien.« Das Flügelpferd breitete wieder die Schwingen aus und stieg auf. »Das letzte Stück des Weges mußt du allein gehen. Sei auf der Hut. Rakal ist mächtig. Denke immer an die Kraft deiner Phantasie.« Tela sah dem Hengst nach — ein weißer Fleck, der vom Nebel und der Düsternis verschluckt wurde. Dann nahm sie die Hand des blinden Jungen und eilte mit ihm auf den Eingang zu. Sie kam an den reglosen Gestalten der Wächter vorbei. Unter den schwarzen Kapuzenrändern waren Gesichter, bleich wie der Tod. Tela schaudert und betrat den Korridor. Die Wände sangen: »Ein Frevler bist du, Gefangener der Schwarzen Räume. Du wolltest sein ein Gott. Du suchtest nach dem Traum der Träume, und fandest doch nur Hohn und Spott. . .« »Es ist kalt hier«, flüsterte Bacnar. »Kalt und finster und leer. Ein unseliger Ort ist es, Tela. . .« »Ja«, gab das junge Mädchen leise zurück. »Du hast recht. Ich spüre es ebenfalls.« Gemeinsam wanderten sie durch Korridore und Gänge. Nach einer Weile stießen sie auf eine in die Tiefe führende Treppe. Telas Gedanken klammerten sich an die Liebe des Ambas. An der Seite des blinden Jungen, dessen Hand sie nun nicht mehr losließ, stieg sie hinab. Das Lied der Wächter hallte von den Wänden wider, und plötzlich stieg wieder das Mitleid in ihr empor, das sie schon damals empfunden hatte beim Anblick Rakals in den Flammen des Feuergeistes. »Es ist eine harte Strafe«, murmelte Tela. »Seit tausend Jahren ist er bereits gefangen.« »Die von ihm ausgeschickten Traumdiebe haben viele Menschen getötet und andere zu einem Schattendasein verurteilt«, sagte Bacnar. Immer tiefer ging es, und über ihren Köpfen spannen sich dunkle Mauerdecken. Manchmal traten sie über seltsame Kreidesymbole hinweg, die Tela an die Zeichen der Schaltworte erinnerte, die Kerina manchmal benutzt hatte. Diese aber waren ihr völlig unbekannt. Gelegentlich verspürte sie ein sonderbares Prickeln, wenn ihre nackten Füße eins der Symbole berührten. Schließlich erreichten sie die letzte Stufe, und Bacnar fragte: »Sind wir da?« Tela sah sich um. Vor ihr öffnete sich das Rund eines weiten Trichters. Und am Rand, nicht weit entfernt, erhob sich der gläserne Seelenturm. Er war fast vollendet. »Ja«, flüsterte Tela. »Wir sind da.« Sie zog den blinden Jungen behutsam mit sich. Ihr Blick fiel auf eine Nische, in der eine silberne Truhe stand. Und oben klang es von den Mauern: »Erst wenn sich lichtet der Nebel und sich öffnet die Truhe, mit Silber beschlagen, berühren dich die Hände der Gnade, und der Wind wird dich zu Grabe tragen . . .« Nirgends zeigte sich der Schemenkörper eines Traumdiebs. Und auch von Rakal selbst war weit und breit nichts zu sehen. »Vielleicht haben wir Glück«, raunte Tela Bacnar zu. »Vielleicht weiß der Gefangene nicht, daß wir hier sind.« Vor dem Seelenturm blieb Tela stehen und ließ die Hand des blinden Jungen los. In den aufgehäuften Kristallen vor ihr schimmerten fremde Gesichter. Sie waren verzerrt und entstellt. Lippen formulierten stumme Schreie der Qual. Traumszenen wechselten in rascher Folge. Und einige Meter weiter oben sah sie ihr eigenes Gesicht. Tela stöhnte und taumelte unwillkürlich einen Schritt zurück.

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»Es freut mich, daß du gekommen bist«, ertönte aus dem Dunkel neben ihr eine Stimme. Tela erschrak und drehte den Kopf. Eine hochgewachsene Gestalt trat auf sie zu, und das Gesicht war hinter einer Maske verborgen. Der Gefangene lachte leise. Tela suchte nach seinem Seelenschatten, aber sie konnte ihn nicht finden. Sie dachte an die mit Silber beschlagene Truhe, die sie in der Nische gesehen hatte. »Was für ein dummes und törichtes Mädchen du doch bist«, fuhr Rakal fort. »Du kommst, um die Seelen zu befreien, die meine Traumdiebe stahlen. Es ist deine Absicht, das Unheil von Imagant abzuwenden. Statt dessen aber wirst du mir dabei helfen, meine Freiheit wiederzugewinnen.« Plötzlich wußte Tela, was zu tun war. Sie packte die Hand Bacnars und flüsterte ihm zu: »Du mußt mir helfen. Zusammen mit dir kann ich es schaffen.« Unmittelbar im Anschluß an diese Worte trat sie erneut auf den Seelenturm zu und preßte sich und den blinden Jungen fest an die Kristalle mit den gepeinigten Gesichtern. Im Bruchteil einer einzigen Sekunde vernahm sie Tausende von Geschichten Die gefangenen Seelen erzählten sie ihr. Sie berichteten von ihrem Kummer, von ihrer Qual. Und ganz oben flüsterten andere Träume: Sie waren wie ein Sog, und zwei himmelblaue Augen in einem von goldenem Haar umrahmten Gesicht starrten Tela an. Es waren ihre eigenen Augen, und sie stellten zwei Tore dar, die sich für sie öffneten, die sie anzogen und mit Schwärze zu umspinnen begannen. Sie blickten leer und kalt, so, wie die in den Maskenschlitzen funkelnden Augen Rakals. Allein hätte sie dem Sog bestimmt nicht widerstehen können. Aber die Liebe des blinden Jungen half ihr. Seine Wärme füllte die Leere in ihrem Innern aus, die nach dem Traumraub zurückgeblieben war. Und die flüsternden Stimmen der Seelen gaben ihr die gestohlene Phantasie zurück. Tela sang, und die Verse des Liedes, mit dem sie eine Geschichte von Liebe

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und Harmonie erzählte, mit dem sie die Macht des Träumens pries, verwoben sich miteinander zu einem Netz. Dicht über dem Seelenturm begann es zu glühen. Wie aus weiter Ferne hörte Tela den durchdringenden Schrei Rakals. Aus den Augen wink ein sah sie, wie er die Arme hob, wie seine hinter der Maske verborgenen Lippen Beschwörungen formulierten, wie Funken von seinen Fingerspitzen stoben und eine zornige Windbö durch das Gewölbe fauchte. Aber dicht vor ihr wurde das Heulen zu einem leisen Flüstern, das ihr vertraut war. Haarfeine Risse durchzogen den Seelenturm. Tela sang weiter, und ihre Geschichte nahm kein Ende. Ihre Intuition ließ sie immer wieder Neues ersinnen, und im Takt der Melodie rieselte Kristallstaub zu Boden. Die Seelen stiegen auf: warme Flammen, die einen schützenden Mantel um den nackten Leib des jungen Mädchens legten. Die dunklen Bereiche in Telas Geist erhellten sich wieder, als die gestohlenen Träume in ihre Gedanken zurückflössen. Die Müdigkeit war nur noch eine Erinnerung. Neben ihr erzitterte Bacnar. Er hob die eine Hand und fuhr sich damit über die Augen. »Tela . . . Tela, ich kann sehen!« Er blickte Tela an, und das Trübe und Matte in seinen braunen Augen hatte sich für immer aufgelöst. Von dem Seelenturm war nichts mehr übriggeblieben. Die befreiten Visionen bildeten einen Regenbogenschwarm, der die Dunkelheit des Gewölbes erhellte. »Ich verabscheue dich«, schrie Ra-kal mit sich überschlagender Stimme. Als er einsah, daß seine Beschwörungen nichts gegen das junge Mädchen und Bacnar ausrichten konnte, riß er sich mit einer jähen Bewegung die Maske vom Gesicht. »Siehe mich an, Tela, sieh mich an!« Und sie sah ihn an. Sie blickte in ein zu einer Fratze entstelltes Gesicht. Aber es stieß sie nicht ab. Es nährte nur das Mitgefühl in ihr. »Du tust mir leid, Rakal«, sagte Tela leise. »Lange hast du gelitten. Dein Haß hat dich innerlich zerstört.« Er trat auf sie zu, aber dicht vor ihr blieb er stehen und ballte hilflos die Fäuste. »Ich habe ihn immer gesucht!« heulte er. »Den Traum der Träume, das, was die Götter zu Göttern macht. Du besitzt ihn.« »Tausend Jahre lang hast du dich selbst getäuscht«, erwiderte Tela mit sanfter Stimme. »Das, was die Götter zu Göttern macht, ist Liebe, ist die Kraft des Glaubens, die Essenz des Träumens. Das hast du nie verstanden, Rakal. Erst die Phantasie gibt allem Farbe. Erst die Phantasie macht aus Menschen Erschaffer neuer Welten.« »Du lügst!« schrillte Rakal. Tela wandte sich von ihm ab und trat auf die Nische mit der Truhe zu. Sie griff nach dem Riegel, und sie spürte überhaupt keinen Widerstand, als sie ihn aus der Fassung hob und den Deckel aufklappte. Eine leuchtende Wolke stieg daraus hervor. Der helle Seelenschatten schwebte an ihr vorbei und vereinte sich mit der Gestalt Rakals. Der Gefangene der Schwarzen Festung stöhnte. Sein Gesicht glättete ich. Narben und Entstellungen lösten sich einfach auf und hinterließen die glatten Züge des jungen Mannes, der einst von den Göttern gestraft worden war. In dem weiten Trichterrund wurden zischende Stimmen laut. »Du hast uns betrogen, Rakal«, grollte es in der dunklen Tiefe. Eine schwarze Mauer wuchs und bedeckte den Zugang in das Dämonenreich. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann herrschte wieder Stille. Diesmal

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aber war es keine bedrückende, keine düstere Stille. Sie stellte nur einen anderen Ausdruck der Harmonie dar. Rakal alterte. In seinem glatten Gesicht zeigten sich Falten, und bald war seine Gestalt nicht mehr straff, sondern von tausend Jahren gebeugt. »Ich sterbe«, wisperte er. Kein Bedauern klang in diesen beiden Worten mit. Zufriedenheit kam in ihnen zum Ausdruck, eine Ruhe, die der Gefangene seit vielen hundert Jahren gesucht hatte. Der Haß hatte sich vollkommen aufgelöst. »Ja«, sagte Tela. »Aber dein Tod ist nicht endgültig. Dein Seelenschatten wird weiterleben, in Bäumen und Sträuchern, in Blättern und Blumen, in den Halmen des Grases, das sich neigt, wenn der Wind darüber hinwegsingt. Du hast genug gelitten, Rakal.« Und als von dem einstigen Gefangenen der Schwarzen Festung nur noch grauer Staub übriggeblieben war, der vom Wind fortgeweht wurde, verstummte für immer das Spottlied der Mauern. Tela hob den Kopf. Die Wächter waren verschwunden. »Verzeiht mir, ihr Götter«, sagte sie. »Nun ist er frei.« Sie nahm Bacnars Hand und stieg mit ihm die Treppe empor. Im Vorhof der Festung wartete das Flügelpferd auf sie. Der Nebel hatte sich aufgelöst, und die Dunkelheit einer tausend Jahre währenden Nacht war wieder eins mit dem schwarzen Meer, dessen visionäre Wellen an den Rand der Welt spülten. Oben rissen die Wolken auf, und die Sonne strahlte hell und warm. Tela und Bacnar stiegen auf den Rücken des Flügelpferdes, und Peridor breitete seine blütenweißen Schwingen aus und galoppierte der Sonne entgegen. »Bring uns ins Kaskadental«, lachte Tela. Sie schlang die Arme um den vor ihr sitzenden Bacnar. »Ich habe dir viele Geschichten zu erzählen, Amba, und die meisten davon handeln von Liebe.« Über Täler und Berge flog das Flügelpferd hinweg. Tela sang ein Lied, und der Wind flüsterte die Melodie dazu.

-ENDE-

Scan, Korrektur und Layout Herry

18.10.2002

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