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Akupunktur - Die Macht Der Nadel

Date post: 28-Oct-2015
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AKUPUNKTUR Die Macht der Nadel Akupunkturstudien der Krankenkassen brachten ein sensationelles Ergebnis: Die Nadelstecherei wirkt tatsächlich - doch es ist egal, wo der Therapeut hinsticht. Sind die Erfolge der chinesischen Heilkunst nur auf einen gigantischen Suggestionseffekt zurückzuführen? Trotz großer Erfolge der modernen Medizin strömen Einwohner der Industrieländer zuhauf in die Praxen von Anhängern traditioneller Heilkünste aus aller Welt. Doch die "sanfte" Methoden aus dem Osten sind nicht ungefährlich: häufiger als bisher bekannt treffen Nadelstecher die inneren Organe ihrer Patienten. DPA Pieksen gegen den Schmerz
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AKUPUNKTUR

Die Macht der Nadel

Akupunkturstudien der Krankenkassen brachten ein sensationelles Ergebnis: Die Nadelstecherei wirkt

tatsächlich - doch es ist egal, wo der Therapeut hinsticht. Sind die Erfolge der chinesischen Heilkunst

nur auf einen gigantischen Suggestionseffekt zurückzuführen?

Trotz großer Erfolge der modernen Medizin strömen Einwohner der Industrieländer

zuhauf in die Praxen von Anhängern traditioneller Heilkünste aus aller Welt. Doch die

"sanfte" Methoden aus dem Osten sind nicht ungefährlich: häufiger als bisher bekannt

treffen Nadelstecher die inneren Organe ihrer Patienten.

DPA

Pieksen gegen den Schmerz

Wissenschaft

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Wegen ihrer Rückenbeschwerdenhatte sich die Patientin schon öf-ter nadeln lassen. Diesmal aber

nahm die Akupunktursitzung einen uner-warteten Verlauf.

Zehn Minuten nach dem Entfernen derhauchdünnen Nadeln spürte die Frauplötzlich diffuse Schmerzen im Brustkorb.Die Nacht durchwachte sie mit Reizhustenund Atembeschwerden im Sitzen.

Der am nächsten Morgen konsultierteNadelexperte blieb seiner Weltanschauungdennoch treu – er verabreichte der bereitsleicht bläulich verfärbten Frau eine Fußre-flexzonenmassage.

Erst Tage später erkannten Ärzte imKrankenhaus, warum die Frau immer ver-zweifelter nach Luft schnappte: Der Aku-punkteur hatte ihren rechten Lungenflügelangestochen. Die in den Brustkorb einge-drungene Luft verhinderte, dass sich dasgetroffene Organ vollständig entfaltenkonnte. Erst ein Drainageschlauch zwi-schen den Rippen, über den die Luft ab-geleitet wurde, sorgte für Erleichterung.

„Die Patientin hat Glück gehabt“, ur-teilten die schulmedizinischen Nothelfer –der Vorfall hätte auch zu einem lebensge-fährlichen Lungenkollaps führen können.

Rund 1,5 Millionen Patienten lassen sichin Deutschland jährlich mit der fernöst-lichen Nadeltechnik behandeln. Schät-zungsweise 40000 niedergelassene Medizi-ner besitzen die Lizenz zum Stechen. Vorallem bei Schmerzpatienten gilt die zur Tra-ditionellen Chinesischen Medizin zählendeMethode als sanfte Alternative zur westli-chen Pillen- und Apparatemedizin.

Doch so harmlos, wie es die Befürwor-ter darstellen, ist das invasive Verfahrennicht. Lebensbedrohliche Zwischenfällesind bei der 3000 Jahre alten Heilmetho-de zwar selten, aber es gibt sie: „DieAkupunktur ist komplikationsarm, abernicht komplikationsfrei“, erklärt DieterMelchart, Experte für Naturheilkunde ander TU München und einer der Autorenjener Großstudien, mit denen in Deutsch-land die Wirksamkeit der Akupunktur inden vergangenen Jahren untersucht wurde.

Noch drastischer formuliert es der Me-diziner Friedrich Hansen: „Stechen, bis dieSchwarte kracht – dabei kann mehr schief-gehen, als man glaubt.“

Viele der Nebenwirkungen sind nichtgefährlich; die Symptome verschwindenvon selbst. So kommt es bei etwa jederzweiten Behandlung zu leichten Nerven-irritationen, Blutungen oder blauen Fle-cken. Jeder hundertste Genadelte reagiertmit Kreislaufproblemen wie Schwindel,Blutdruckabfall oder Herzrhythmusstö-rungen. Auch Angst- und Panikattacken,Benommenheit, Orientierungsstörungenoder Übelkeit und Erbrechen treten mit-unter auf.

Riskant wird es dagegen, wenn dieNadelkünstler mit ihren oft mehrere Zenti-meter tief in den Körper gebohrten Instru-menten innere Organe oder das Zentral-nervensystem verletzen. Bei 48 von 10000Patienten könnte es nach Hochrechnungendes britischen Komplementärmedizin-For-schers Edzard Ernst von der UniversitätExeter zu solchen ernsthaften Komplika-tionen kommen.

Vor dem Stich in die Tiefe ist fast keinlebenswichtiges Organ geschützt. Ganzeoder abgebrochene Akupunkturnadelnwurden schon im Rückenmark und imKleinhirn, im Nierenbecken oder in derBlasenwand von Patienten gefunden. Amhäufigsten jedoch erwischt es die Lunge:„Wer denkt schon daran, dass die Brust-korbwand eventuell nur 1,7 Zentimeterdick ist und man in null Komma nichts dieLunge nadelt“, warnte kürzlich das Ärzte-blatt „Medical Tribune“.

Norwegische und australische Forscherhaben Hunderte Fälle gezählt, in denenAkupunkteure die Lungen ihrer Patientendurchlöchert hatten (Pneumothorax). Fürmindestens drei der Anhänger der fernöst-lichen Medizin endete der Zwischenfall

M E D I Z I N

DurchlöcherteLunge

Die Akupunktur gilt alsnebenwirkungsarme Methode.

Doch häufiger als bekannttreffen Nadelstecher die inneren

Organe ihrer Patienten.

Akupunktur-Behandlung: Abgebrochene Nadeln

viele der Akupunkteure darauf verzichten,die angestochenen Hautareale zu desinfi-zieren.

Besorgte Beobachter warnen deshalbdavor, die Unwägbarkeiten der Heilme-thode zu verharmlosen: „In Zeiten, da inder breiten Öffentlichkeit das unkritischeBild der sanften Komplementärmedizingezeichnet wird, sollten die potentiellenKomplikationen solcher Behandlungsme-thoden nicht in Vergessenheit geraten“,sagt der Schweizer Experte Werner Pichlervom Inselspital in Bern.

Doch ausreichend aufgeklärt wird überdie Risiken des Heilverfahrens nur selten.Nicht alle Anhänger der Technik besitzenzudem die nötigen anatomischen Kennt-nisse – zumal sich in der unübersichtli-chen Akupunkturlandschaft auch Tausen-de Heilpraktiker und medizinische Laientummeln. „Ich würde wetten, dass neunvon zehn Akupunkteuren über das ange-borene Loch im Brustbein nicht Bescheidwissen“, schätzt de Groot.

Wie schnell bei der vermeintlich sanftenMethode Fehler passieren können, habenauch die deutschen Großstudien gezeigt.Bei insgesamt acht Patienten durchbohrtendie Behandler das Atemorgan ihrer Pa-tienten. Die tatsächliche Zahl der Lungen-treffer dürfte viel höher gelegen haben:„Es wurde nicht alles gemeldet“, sagtMelchart.

In einem der Fälle traf den Nadelstecherallerdings keine unmittelbare Schuld – fürden Pneumothorax sorgte eine Sprech-stundenhelferin: Sie hatte der frierendenPatientin eine Decke auf den mit Nadelngespickten Rücken gelegt.

Günther Stockinger

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tödlich. „Die Dunkelziffer ist immens“, er-klärt Michael de Groot, Neurologe am Ber-liner Vivantes Humboldt-Klinikum; einPneumothorax könne „im Prinzip jedemBehandler passieren“.

Noch tückischer ist die Akupunktur,wenn der Nadelstecher auf eine anato-mische Besonderheit trifft: Mehr als vierProzent der Frauen und knapp zehn Pro-zent der Männer haben ein angeborenesLoch im Brustbein. Passt der Akupunk-teur nicht auf, kann seine Nadel durch dieÖffnung direkt in das darunterliegendeHerz rutschen.

Zumindest einer Patientin hat ein Be-handler auf diese Weise schon den Todes-stoß versetzt. Er perforierte den Herzbeu-tel, in dem sich der Pumpmuskel norma-lerweise in einem dünnen Flüssigkeitsfilmohne Reibung bewegt – durch das ein-sickernde Blut füllte sich der Beutel sosehr, dass dem Herz kein Platz zum Aus-dehnen mehr blieb. Drei weitere Berichtevon solchen lebensgefährlichen „Herzbeu-teltamponaden“ sind bekannt.

Weniger Schaden richten die Verfechterder Methode an, seit sie – zumindest imreichen Westen – nur noch sterile Ein-wegnadeln verwenden. Die letzten Fälle, in denen Akupunkteure Dutzende Patien-ten mit Hepatitis oder HIV infizierten, lie-gen mittlerweile knapp zwei Jahrzehntezurück.

Mit lokalen Hautinfektionen müssen dieGenadelten dagegen noch immer rechnen– etwa dann, wenn die Alternativmedi-ziner ihre sterilen Nadeln durch eitrigeHautpusteln stechen und dabei Keime in den Stichkanal verschleppen. Ver-schärft werden die Probleme noch, weil

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wurden schon im Rückenmark, im Kleinhirn und in der Blase gefunden

Die deutschen Ärzte hielten sichscheinbar strikt an die Regeln dertraditionellen chinesischen Aku-

punktur. Um eine wichtige Einstichstellezur Behandlung von Rückenschmerzenaufzuspüren, folgten die Mediziner auf derHinterseite des Oberschenkels zunächstdem Verlauf des „Blasenmeridians“ sechsDaumen breit nach unten und gingen vondort aus noch einmal drei Zentimeter nachinnen: Exakt dort lag einer der Punkte, andenen sie den geplagten Patienten eineAkupunkturnadel drei bis fünf Millimetertief ins Fleisch zu stechen hatten.

Für die behandelten Schmerzkrankenwirkte diese Prozedur ganz schön chine-sisch – doch in Wahrheit war sie ein reinesPhantasieprodukt. Erfahrene Akupunk-

teure hatten den Scheinakupunkturpunktextra erfunden. Er lag ganze drei Zenti-meter von dem „echten“ Akupunktur-punkt Yinmen („prächtiges Tor“) entfernt,in den traditionell bei Rückenproblemen,

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insbesondere bei Ischias-Beschwerden, ge-stochen wird – und zwar nicht nur wenigeMillimeter tief wie beim Scheinpunkt, son-dern zwei bis vier Zentimeter.

Der Schwindel war Teil der Gerac-Stu-dien („German acupuncture trials“): derbislang größten wissenschaftlichen Aku-punkturstudien, die im Auftrag mehrererKrankenkassen klären sollten, ob diefernöstliche Nadelstecherei tatsächlichwirkt. Zu diesem Zweck wurden die Kran-ken nach dem Zufallsprinzip drei Gruppenzugeteilt: Die Schmerzpatienten der erstenGruppe wurden nach einem chinesischenOriginalverfahren gestochen, auf das sichAkupunkteure bundesweit geeinigt hatten;die Patienten der Kontrollgruppe hingegenerhielten – ohne davon zu wissen – nur die

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Die eingebildete HeilungDie größten Akupunkturstudien der Krankenkassen haben ein sensationelles Ergebnis gebracht:

Die Nadelstecherei wirkt tatsächlich – doch es ist egal, wo der Therapeut hinsticht. Sind dieErfolge der chinesischen Heilkunst nur auf einen gigantischen Suggestionseffekt zurückzuführen?

Projektleiter Trampisch„Es stand auf Messers Schneide“

Akupunkturpatientin: „Jede intime Begegnung zwischen Arzt und Patient wirkt besonders gut“

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Nadeln gegen SchulmedizinPatienten, denen die jeweiligeTherapie helfen konnte*

„echte“ Akupunktur

Scheinakupunktur

Standardtherapie

„echte“ Akupunktur

Scheinakupunktur

Standardtherapie

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44,2%

27,4%

51,0%

48,0%

28,0%

CHRONISCHER KNIE SCHMERZ

CHRONISCHER KREUZ SCHMERZ

Quelle: Gerac-Studie; jeweils 387 Kreuzschmerz-bzw. rund 350 Knieschmerzpatienten je Therapie

*Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung um einendefinierten Mindestbetrag auf einer international gültigen Skala

Scheinakupunktur. Eine weitere Kontroll-gruppe wiederum bestand aus Patienten,die nach der schulmedizinischen Stan-dardtherapie behandelt wurden.

Die ersten Resultate für die Behandlungchronischer Rückenschmerzen und chro-nischer Kniearthroseschmerzen wurdenvergangenen Donnerstag auf dem Ortho-pädenkongress in Berlin vorgestellt. Das Ergebnis muss Skeptiker und gläubigeAkupunkturanhänger gleichermaßen ver-stören: Akupunktur wirkt, viel besser sogarals die schulmedizinische Standardthera-pie – doch die Scheinakupunktur wirkt ge-nauso gut wie das chinesische Original.

Ist es bei der hohen Kunst der Aku-punktur also egal, wohin man sticht? Hatdie Gerac-Studie die chinesische Yin-Yang-Philosophie als bloßen Budenzauber ent-larvt? Andererseits: Sind die Ergebnissenicht auch für die Schulmedizin peinlich?

Beispiel Kreuzschmerz: Sechs Monatenach einer Standardtherapie mit Medika-menten und insgesamt 10 bis 15 „Anwen-dungen“ wie Massagen oder Kranken-gymnastik hatte nur bei gut einem Viertelder Patienten entweder der Schmerz spür-bar nachgelassen oder sich die Beweglich-keit der Wirbelsäule merklich gebessert.Nach nur 10 bis 15 Sitzungen mit „echter“Akupunktur hingegen betrug die Erfolgs-rate fast 50 Prozent (wobei zusätzlich eine

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bestimmte Menge an Schmerzmitteln er-laubt war). Die Pointe aber lautet: DieScheinakupunktur schnitt fast ebenso gutab (siehe Grafik).

„Also, ich war schon überrascht“, sagtProjektleiter Hans Joachim Trampisch, Me-dizinstatistiker an der Ruhr-Universität Bo-chum. Und der Akupunkteur und Studien-leiter Albrecht Molsberger gesteht: „Ichhätte schon damit gerechnet, dass der Un-terschied zwischen echter und Scheinaku-punktur größer ist.“

Die Studienergebnisse bestätigen ande-re, kleinere Studien und sind wegen ihrerwissenschaftlichen Qualität nicht mehrvom Tisch zu wischen. Sie werden auchnicht ohne Folgen bleiben: Vor vier Jahrenhatte der gemeinsame Bundesausschussder Ärzte und Krankenkassen die Erstat-tung der Akupunktur durch die gesetzli-chen Krankenkassen nur noch unter derBedingung erlaubt, dass das Verfahrengleichzeitig wissenschaftlich erforscht wird.Auf der Basis dieser Ergebnisse sollte danndie endgültige Entscheidung fallen, ob dieAkupunktur in den Leistungskatalog derKrankenkassen aufgenommen wird. Spä-testens im nächsten Sommer muss der Bun-desausschuss seine Entscheidung fällen.

Doch wie lassen sich die verblüffendenResultate der Akupunkturstudien erklären?Verbirgt sich hinter den Heilerfolgen der

Nadelstecher nur Suggestion, also eine Artgigantischer Placebo-Effekt? Und falls ja:Müssen die Krankenkassen dann trotzdemdafür zahlen? Und warum bezahlen sie an-dererseits für schulmedizinische Therapien,die offensichtlich viel schlechter wirken?

Meridiankarte mit AkupunkturpunktenBudenzauber mit Yin und Yang

„Die Studien“, sagt Bernhard Egger vomAOK-Bundesverband, „sind auf vielfacheWeise interpretierbar.“ In der Tat: JedeFraktion kann sich auf ihre Weise bestätigtoder gedemütigt fühlen – und nun damitbeginnen, die Daten durch geschickte In-terpretation zurechtzubiegen.

Schon bezweifeln einige, dass die Aku-punktur tatsächlich so viel wirksamer ist alsdie schulmedizinische Standardtherapie.„Der große Unterschied“, sagt beispiels-weise auch Egger, „könnte teilweise, wennauch nicht allein, dadurch zu Stande kom-men, dass die Patienten, die die Standard-behandlung erhielten, enttäuscht waren,dass sie nicht der Akupunkturgruppe zu-gelost worden sind. Die Leute litten ja oftschon seit Jahren unter Schmerzen undhatten sich möglicherweise sehr auf dieAkupunktur gefreut.“

Wahr ist auch: Zumindest bei der Knie-schmerzstudie erhielten die Akupunktur-patienten deutlich mehr Zuwendung vomArzt als die Standardpatienten – eine me-thodische Schwachstelle, die zu Verzer-rungen geführt haben könnte. Bislang weiß auch niemand, ob der positive Effektder Akupunktur länger anhält als sechs Monate.

Dass es zudem egal zu sein scheint, wo-hin man sticht, ist besonders unangenehmfür all jene Akupunkteure, die es zum Dog-ma erhoben haben, nur nach original chi-nesischen Regeln zu piksen. Ausgerechneteiner der besten Kenner der Geschichteder chinesischen Medizin, der Sinologeund Medizinhistoriker Paul Unschuld vonder Universität München, sagt: „Dieses Er-gebnis verwundert mich nicht.“

Innerhalb wie außerhalb Chinas, so Un-schuld, gebe es eine Vielzahl von Aku-punkturtraditionen, die sich teilweise er-

heblich unterschieden. „In derjapanischen Akupunktur, diehäufig von blinden Therapeu-ten angewendet wird“, be-stätigt auch der Akupunktur-arzt Ulrich Eberhard aus Ma-

drid, „werden etwa viel feinere Reize gesetzt als bei der chinesischen.“ Und vie-les, was im Westen als „Traditionelle Chi-

nesische Medizin“ (TCM)und Akupunktur gelehrtwird, ist eher über ei-ne Aneignung durch Um-deutung entstanden alsdurch eine echte Tradi-

tion. Schon der Begriff TCM ist keinesfalls4000 Jahre alt, sondern wurde erst von denMaoisten geprägt – die die chinesische Me-dizin als Exportschlager entdeckten.

Welches der vielfältigen Akupunktur-verfahren nun letzendlich das beste sei, soUnschuld, lasse sich wissenschaftlich kaumklären: „Solange es dem Patienten nichtschadet, ist es also eigentlich egal, welcheAkupunkturvariante ein Arzt anwendet.“

Zudem gibt es Hinweise darauf, dass eseinfach der Stich an sich sein könnte, der

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wirkt – alle Theorien über Meridiane unddas „Gleichgewicht der Elemente“ wärendemnach reine Philosophie. So zeigenneuere Experimente aus der Schmerzfor-schung, dass bei jedem Einstich in die HautBotenstoffe freigesetzt werden, die denSchmerz hemmen können.

Hinzu kommt vermutlich noch die Wir-kung der Suggestion: „Jede invasive The-rapie“, sagt der Schmerztherapeut und Stu-

dienleiter Michael Zenz von der Ruhr-Uni-versität Bochum, „ist eine sehr intime Be-gegnung zwischen Arzt und Patient undwirkt damit besonders gut – und zwar vorallem beim Schmerz.“ Tatsächlich zeigenExperimente aus der Placebo-Forschung,dass Schein-Spritzen gegen Schmerzen in der Regel besser wirken als Schein-Tabletten.

Wozu aber müssen die Ärztedann noch aufwendig in TCMgeschult werden? Eine große Be-drohung stellt die Gerac-Studiedenn auch für die großen deut-schen Akupunkturorganisatio-nen wie der „Deutschen Ärzte-gesellschaft für Akupunktur“(DÄGfA) oder der „Forschungs-gruppe Akupunktur“ dar, die essich zur Aufgabe gemacht ha-ben, Ärzte für viel Geld in der Technik derNadelstecherei auszubilden.

Den Kassen und Ärztevertretern bietensich diese Verbände als die einzig seriösenAusbilder an; das von ihnen vergebene „A-Diplom“ (nach 140 Stunden für etwa 1800Euro) und das „B-Diplom“ (nach 350 Stun-den für insgesamt etwa 4800 Euro) wer-den zurzeit in eine von den Ärztekammernanerkannte Zusatzbezeichnung umgewan-delt, die der Mediziner nach 200 Stunden

die jeder Patient aufgenommen wurde, derwegen Kreuz-, Knie- oder Kopfschmerzenakupunktiert werden wollte. Inzwischensind allein in den von AOK, Betriebs- undanderen Krankenkassen finanzierten Ko-hortenstudien über 1,9 Millionen Patientenbehandelt worden. Ursprünglich sollten die Kohortenstudien angeblich der Erfor-schung der Nebenwirkungen dienen – dochinzwischen versucht nicht einmal mehr

der AOK-Bundesverband,diesen Schein aufrechtzu-erhalten.

Das wissenschaftlichweitgehend sinnlose Mam-mutprojekt gefährdete zeit-weise sogar die qualita-tiv hochwertigen Studien.„Das größte Problem“, sagtCarmen Brittinger von derUniversität Marburg, eineLeiterin der Kreuzschmerz-studie, „war die selbst ge-machte Konkurrenz durchdie Kohortenstudie.“ Da-durch sei es extrem schwie-rig geworden, Patienten zufinden, die bereit waren, ander wissenschaftlich kor-rekten Studie teilzuneh-men. Denn dort musstensie das Risiko eingehen, indie Standardgruppe gelostzu werden – und damit aufdie gewünschte Akupunk-tur vorläufig zu verzichten.

„Manchmal“, sagt Pro-jektleiter Trampisch, „stand

es auf Messers Schneide. Wir haben sehrviel Geld für Werbemaßnahmen ausgebenmüssen, um überhaupt noch Patienten fürdie wissenschaftlich hochwertigen Studienzu finden.“

Welche Schlüsse der Bundesausschussim nächsten Jahr aus den Gerac-Studienziehen wird, ist noch offen. Die Akupunk-tur völlig aus dem Leistungskatalog her-auszuhalten wird wohl schwierig werden.Doch mit Sicherheit wird es erregte De-batten um Ausbildung und Honorierungder Akupunkteure geben.

Schmerzexperte Zenz hofft, dass dannauch um die entscheidende Frage gestrittenwird: Warum ist die Standardtherapie deschronischen Schmerzes in Deutschland soerschreckend schlecht?

Für viele Schmerzerkrankungen fehlenklar strukturierte Leitlinien. Und oft be-stimmt nicht der Arzt, sondern der Praxis-computer, welche Therapie der Patient ge-rade bekommt; denn Leistungen wie Kran-kengymnastik oder Massagen unterliegeneinem Budget, das am Quartalsende häu-fig ausgeschöpft ist.

„Wir müssen diese Studien zum Anlassnehmen“, sagt Zenz, „um uns endlich ein-mal zu fragen: Wie soll der chronischeSchmerz im Gesamtkonzept behandeltwerden?“ Veronika Hackenbroch

Ausbildung erhalten soll – kürzere Lehr-gänge von Konkurrenten werden in derRegel als Schmalspurausbildung verteufelt.

Projektleiter Trampisch: „Die Forde-rung nach großer Ausbildung ist jetzt al-lerdings fraglich.“ Norbert Schmacke vonder Universität Bremen, der auch Mitgliedim Bundesausschuss ist, stimmt ihm zu:„Die Behauptung, dass nur gut ausgebil-dete Akupunkteure gute Ergebnisse er-

zielen, lässt sich vielleicht nicht mehr hal-ten. Das hätte dann erhebliche Konse-quenzen, denn die Ausbildung der Aku-punkteure ist ja zu einer richtigen Indu-strie geworden.“

Dominik Irnich, Dozent der DÄGfA,schließt Veränderungen am Ausbildungs-konzept zumindest nicht kategorisch aus.„Es ist denkbar, dass das Studienergebnis

eine Auswirkung auf die Ausbil-dung haben könnte“, sagt Irnich,„aber nicht sofort.“ Natürlichmüsse man sich immer fragen,„wo bauen wir Mythen auf?“;doch die jetzige Ausbildung sei„ohnehin ein Minimum“.

Blamiert stehen aber nicht zu-letzt die Geldgeber, die Kran-kenkassen, da. Denn die Gerac-Studien kamen nur zu Stande,

weil die Kassen ein starkes Interesse dar-an hatten, die Wirksamkeit der Akupunk-tur zu beweisen – um diese endlich offiziellbezahlen zu dürfen. Andernfalls, so ihreBefürchtung, könnten Versicherte zur Kon-kurrenz wechseln.

Damit die Krankenkassen trotz der nochnicht abgeschlossenen hochwertigen Gerac-Studien weiter für die Nadelstecherei zah-len konnten, ließen sie parallel dazu riesi-ge so genannte Kohortenstudien laufen, in

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Wissenschaft

Muskelaufbau-Training: Warum sind die Erfolge der Standardtherapie so erschreckend schlecht? S

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Schein-Spritzenwirken in

der Regel auchbesser gegenSchmerzenals Schein-

Medikamente.

Prisma Wissenschaft · Technik

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A K U P U N K T U R

„Es ließen sichMillionen sparen“

Michael Zenz, 57, Schmerzexpertean der Uni Bochum, über die Ver-schwendungssucht der Krankenkas-sen beim Bezahlen von Akupunktur

SPIEGEL: Im letzten Jahr startetenAOK, Betriebs- und andere Kran-kenkassen die „German Acupunc-ture Trials“, die größte Akupunktur-Studie der Welt. Sie selbst sitzen imLeitungsgremium – trotzdem werfenSie den Kassen jetzt Verschwen-dungssucht beim Bezahlen von Aku-punktur vor. Warum? Zenz: Es war geplant, im ersten Teilder Studie 300000, maximal 500000Patienten auf Kosten der Kassen aku-punktieren zu lassen – doch inzwi-schen sind es schon mehr als 600000!Pro Patient kostet das etwa 250 Euro.

Und die Kassen wollen unbedingtimmer noch weiter bezahlen. SPIEGEL: Warum denn das? Zenz: Es ließen sich leicht Millionensparen! Aber der Wettbewerb zwi-schen den Kassen verhindert das.Zurzeit dürfen die Kassen Akupunk-tur nur dann erstatten, wenn siegleichzeitig in Studien deren Wirk-samkeit untersuchen. Nun führt aberauch die Techniker-Krankenkasseeine große Akupunkturstudie durch.Die Kassen fürchten einfach, dassviele Patienten zur Konkurrenz ab-wandern könnten, wenn sie selbstihre Studien abschlössen. Denn Aku-punktur ist unglaublich beliebt.SPIEGEL: Ist es eigentlich legal, eineStudie beliebig fortzusetzen? Zenz: Auf jeden Fall gibt es dabei einethisches Problem. Die zusätzlichenPatienten sind von der Ethikkom-mission, die jeder Studie zustimmenmuss, nicht genehmigt worden.Wenn sich jetzt herausstellen sollte,dass bei Akupunktur doch Neben-wirkungen auftreten, stünden wirganz schön dumm da. SPIEGEL: Und – wirkt Akupunktur?Zenz: Dazu geben die Studien bisherleider noch gar keine Auskunft.Zunächst wollten wir nur etwas überdie Nebenwirkungen von Akupunk-tur erfahren. Erst in einem zweitenTeil der Studie wird an 4000 Patien-ten die Wirksamkeit überprüft.

A R C H Ä O L O G I E

Chinas Mauer älterals China?

Eigentlich ist sie nicht zu übersehen: Wenn Astro-nauten vom Weltall auf die Erde blicken, können

sie die Chinesische Mauer als eine über 6000 Kilo-meter lange Linie mit bloßem Auge erkennen. Den-noch ist nun ein bisher unbekannter Teil des Boll-werks entdeckt worden: ein immerhin 800 Kilometerlanger Vorläufer, der sich durch die zentralchine-sische Provinz Henan zieht. Möglicherweise mussdie Geschichte des größten Bauwerks aller Zeitenumgeschrieben werden. Denn der Archäologe XiaoLuyang datiert seinen Fund auf die Zeit um das Jahr700 vor Christus. Bisher galt Kaiser Qin Shi Huang-di als erster Auftraggeber, ein Tyrann, der subversi-ve Literatur verbrennen ließ und im 3. Jahrhundertvor Christus mit der Mauer das frisch vereinigte Großreich ab-sichern wollte. Die Rückdatierung dagegen würde die Herr-scher der Zhou-Dynastie als erste Mauerbauer adeln, derenKultur bislang eher durch Poesie als durch Baukunst auffiel. Da-

mals bestand das heutige China aus einem Flickenteppich ver-feindeter Königreiche, die sich gegeneinander abschotteten. Essei daher nur eine Frage der Zeit, glauben einige Fachleute, be-vor noch weitere Chinesische Mauern ausgegraben werden.

C O M P U T E R

Landkarte hört aufs WortLandkarten zu lesen ist eine hohe Kunst.

Zeitgemäße Karten dagegen drehen denSpieß um und lesen ihrerseits die Wünsche desBetrachters von seinen Lippen und Gesten ab:Eine Handbewegung genügt, schon zoomt dasKartenbild näher heran; ein gesprochener Be-fehl reicht aus, schon werden Details wie Krankenhäuser, Friedhöfe oder Straßen einge-blendet. Ein derartiges interaktives „Geo-

grafisches Informationssystem“ hat die Arbeits-gruppe um Alan MacEachren von der ameri-kanischen University of Pennsylvania ent-wickelt. Der Benutzer sieht dabei die Karte vor sich auf dem Computerbildschirm und na-vigiert mit Hilfe von Kamera, Mikrofon und einer Software zur Sprach- und Gestenerken-nung – so ähnlich wie Tom Cruise, der im Ki-nofilm „Minority Report“ die Datenlandschaftmit Gesten wie ein Dirigent ordnet.

Chinesische Mauer

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Jahrelang hatte Beate Hübner, 47, Ärz-tin aus Berlin-Marzahn, mit Überge-wicht zu kämpfen. „Du isst zu viel“:

Das war alles, was Kollegen und Freundeihr dazu sagen konnten. Helfen tat ihr dasnicht; nur unverstanden und schuldig fühl-te sie sich.

Doch 1994 begann Hübner, sich mit tra-ditioneller chinesischer Medizin zu be-schäftigen. Und plötzlich hatte ihr Problemeinen neuen Namen: „Verschleimte Mitte“– so lautet die TCM-Diagnose für einenZustand des Ungleichgewichts, der vonÜbergewicht, dem Bedürfnis, zu viel zuessen, und einer ganzen Reihe weiterer

nelle chinesische Medizin“ eingerichtetwird – und das ausgerechnet jetzt, in Zei-ten von Bettenabbau und Stellenstopp, woan der benachbarten Freien UniversitätBerlin sogar die Schließung der gesamtenMedizinischen Fakultät droht. Noch in die-sem Jahr, so verspricht Dekan Joachim Du-denhausen, soll die zunächst auf fünf Jah-re befristete Stelle besetzt werden; das Aus-wahlverfahren sei bereits abgeschlossen.

Mit Macht dringt die chinesische Medizin– noch vor kurzem in Universitätskreisenbestenfalls belächelt – in den akademischenElfenbeinturm vor. Treibende Kraft sinddie Patienten: Unbeirrbar scheinen sie vom

Symptome geprägt ist. „Das hat mich fas-ziniert“, sagt Hübner, „denn ich sah michplötzlich mit ganz anderen Augen.“

Zwar ist Hübner bis heute ihr Überge-wicht nicht losgeworden – aber ihre Faszi-nation für die chinesische Heilkunde hatandere Dinge in Bewegung gesetzt. DennHübner ist nicht nur Ärztin: Von 1996 bis1999 war sie auch CDU-Gesundheitssena-torin von Berlin.

Mit unermüdlichem Einsatz – nach demEnde ihrer Senatorinnenzeit gründete siedazu eigens einen Förderverein – schafftesie es, dass an der traditionsreichen Charitédie erste deutsche „Professur für traditio-

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Einmal Yin, einmal YangIn Berlin soll der erste deutsche Professor für traditionelle chinesische Medizin (TCM) lehren und so

die fernöstliche Heilkunde akademisch hoffähig machen. Keine leichte Aufgabe: Denn auf dem boomenden deutschen TCM-Markt geht es auch um Ideologien, um Macht und um viel Geld.

Schröpfkopf-Behandlung (an der TCM-Fachklinik in Bad Pyrmont): „Aktive Missionierung des Westens“

Glauben an die Wunderkraftder fernöstlichen Heilkundebeseelt. Die chinesische Arz-neitherapie, Ernährungslehre,Entspannungs- und Massage-technik und vor allem die Aku-punktur haben einen beispiel-losen Siegeszug durch dieArztpraxen hinter sich.

Schätzungen zufolge prakti-zieren in Deutschland inzwi-schen – bezogen auf die Ein-wohnerzahl – fast doppelt so

viele Akupunkturärzte wie in China; 1,5Millionen Deutsche lassen sich jedes Jahrnadeln. Und die gesetzlichen Krankenkas-sen sehen sich trotz Sparzwang und Bei-tragssteigerungen zunehmend genötigt, zuzahlen: derzeit etwa 300 Millionen Euro imJahr im Rahmen von Modellversuchen, undvermutlich bald noch mehr: „Ich bin derfesten Überzeugung“, sagt etwa JürgenHardt, der als Landesgeschäftsführer derBarmer Ersatzkasse Berlin Hübners Pläneaktiv unterstützt hat, „dass die Akupunkturin absehbarer Zeit bei bestimm-ten Erkrankungen in den norma-len Leistungskatalog der Kran-kenkassen übernommen wird.“

Der massiven Nachfrage kön-nen sich offenbar auch die Universitäten nicht verschlie-ßen. „Als ich mit meinen Plänenvon der Professur kam“, erzähltHübner, „war den Leuten an derCharité schnell klar: ChinesischeMedizin – das kann auch zurStandortsicherung beitragen.“

Ziel der Professur solle es sein,die chinesische Medizin aus der„Schmuddelecke“ der alternati-ven Therapien zu befreien und aufwissenschaftliche Füße zu stellen.

Professur zu finden. „Einer der Bewerber“,berichtet zum Beispiel Hans Joachim Leh-mann, Heilpraktiker, Arzt und China-Ken-ner aus Berlin, „hat damit angegeben, inChina studiert zu haben. Als ich ihn aberdann auf Chinesisch fragte, an welcher Uni-versität er denn war, guckte er mich anwie ein Auto. Tatsächlich konnte er keinWort Chinesisch und hatte nur ,per Korres-pondenz‘ in China studiert.“

Drei Kandidaten mit einigermaßen ak-zeptablen Qualifikationen sind inzwischennoch übrig geblieben: Julia Kleinhenz ausder Nähe von Wiesbaden, Mitentwickle-rin einer „Placebo-Akupunkturnadel“;Michael Hammes, Neurologe aus Mün-chen; und Thomas Ots, Gynäkologe undPsychosomatiker aus Graz.

Allerdings gehen die Meinungen dar-über, was eigentlich die Aufgaben des zukünftigen Professors für traditionellechinesische Medizin genau sein sollen, weitauseinander: Hübner zum Beispiel liegtvor allem die Suche nach dem ursprünglichChinesischen am Herzen – genau das aberhalten Ots, Hammes und Kleinhenz für„obsolet“. Ots („Die Zukunft der TCMliegt im Westen!“) hält es für weitaus sinn-voller, gezielt das für den Westen Brauch-bare aus der chinesischen Medizin heraus-zudestillieren, insbesondere auf dem Ge-biet der Psychosomatik. Und Hammes willunter anderem untersuchen, ob sich chi-nesische Diagnosen überhaupt auf westli-che Patienten übertragen lassen.

Sicher ist, dass der zukünftige Professorfür chinesische Medizin vermutlich weni-ger ein renommierter Forscher als einestarke Persönlichkeit sein muss. Was zumBeispiel würde passieren, wenn er es wa-gen sollte, mit einigen lieb gewonnenenMissverständnissen aufzuräumen?

So ist schon der Begriff „traditionellechinesische Medizin“ verblüffend jung. Wasim heutigen China unter diesem Namenpraktiziert wird, ist keineswegs Ergebnis ei-ner 4000-jährigen Tradition, wie es ehr-fürchtige Westler oft glauben. „TCM“, er-klärt Sinologe Unschuld, „ist eigentlich einKonstrukt der Maoisten, die aus der riesi-gen Vielfalt der traditionellen chinesischen

Heilkunde das mit der ParteilinieVerträgliche herausfilterten.“

Auf dem Weg in den Westen –Richard Nixons China-Besuch1972 war ein wichtiger Auslöserfür einen ersten TCM-Boom –kam dann noch eine Fülle vonFehlübersetzungen und gezieltenUmdeutungen hinzu, die seitdemals echt chinesische Wahrheitenweiterverbreitet werden.

So entstammt auch die viel ge-priesene „Ganzheitlichkeit“ derchinesischen Medizin vor allemder Theorie. In China, so Lan-deskenner Hammes, sei die TCMin der Praxis „alles andere alsganzheitlich“, eher eine Art Mas-

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Moxibustionsbehandlung: Glaube an heilende Wunderkraft

Wissenschaft

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Vor- und nichtmedi-zinische Verfahrenseit max. 4000 Jahren

MedizinischeVerfahren imengeren Sinn

seit max. 2200 Jahren

Mitgliederder DÄGfA*

Religiöse Therapien

Ahnenheilkunde

Dämonenheilkunde

Auf Erfahrung beru-hende Behandlungmit Kräutern, Mineralienund Tierbestandteilen

Atemtechniken

Ernährungslehreauf Erfahrung beruhend

Massage

MoxibustionAbbrennen von Beifuß-Kraut auf dem Körper

AkupunkturNaturphiloso-phisch begründeteArzneitherapiemit Kräutern, Mineralienund Tierbestandteilen

1992 20021997

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8594

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Ernährungslehrenaturphilosophischbegründet

Quelle: P.Unschuld

*größte deutscheAkupunktur-Gesellschaft

Denn vieles, was hier zu Lande un-ter dem Etikett TCM angeboten wird,grenzt an Quacksalberei: Nur 15000 derrund 40000 deutschen Akupunkturärz-te können eine auch nur einigermaßenakzeptable Ausbildung vorweisen.

Trotzdem ist jeder Arzt berechtigt,seine Kenntnisse, und seien sie noch sodürftig, am Patienten auszuprobieren.Dabei sind neumodische Techniken wieLaserakupunktur und willkürlicheKombinationen mit anderen fragwür-digen Verfahren wie Bioresonanz-

therapie oder Homöopathie weitverbreitet – ohne dass sie jemalsernsthaft auf Wirksamkeit oder auchnur Schädlichkeit hin untersuchtworden wären.

Der Patient kann dabei kaum be-urteilen, ob er sich gerade einemKundigen oder einem Dilettantenanvertraut (einziges Indiz: Die Kran-kenkassen übernehmen einen Teilder Kosten nur ab einer Mindest-ausbildungszeit des Arztes von 140Stunden an ganz bestimmten Aus-

bildungseinrichtungen). Auch hinter einemArzt chinesischer Abstammung – bei vie-len Patienten wegen der scheinbaren „Authentizität“ besonders beliebt – kannsich ein Hochstapler verbergen.

Bislang gibt es gerade mal eine Handvoll methodisch guter Studien, die Hin-weise darauf liefern, dass das Nadeln über-haupt eine Wirkung hat; über das SystemAkupunktur sagt das nur sehr wenig aus.Und ob dabei die authentische Methodewirklich die beste ist – wie meist ganzselbstverständlich vorausgesetzt –, ist kei-neswegs gewiss.

„Solange es dem Patienten nicht scha-det“, sagt deshalb sogar Paul Unschuld,Münchner Sinologe, Medizinhistoriker undanerkanntermaßen bester Kenner der Ge-schichte der chinesischen Medizin inDeutschland, „ist es eigentlich völlig gleich-gültig, welche Akupunktur-Variante einArzt verwendet.“

In diesem Chaos überrascht es nicht,dass es schwierig war, geeignete Kandida-ten für die Besetzung der neu geschaffenen

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senabfertigung, bei der Gefühle und seeli-sche Nöte der Patienten in der Regel keinenPlatz hätten. Auch die ursprünglich sehrmilitaristische Terminologie der chinesi-schen Medizin, die den Kampf zwischenKrankheitsauslösern und Körper be-schreibt, verschwand klammheimlich.

„Es war eine Aneignung durch Umdeu-tung“, erklärt Hammes. Offensichtlich ginges dabei darum, gezielt eine Bedürfnislückezu füllen, die die westliche Medizin mit ih-rer eigentlich längst überholten Technik-gläubigkeit des 19. Jahrhunderts offen ge-lassen hatte. „Es waren vor allem die Ideender chinesischen Medizin, oder das, waswir dafür hielten, die uns so schnell für sieeingenommen haben“, sagt Unschuld,„nicht ihre möglicherweise gar nicht sogroße Wirksamkeit.“

Inzwischen ist für die chinesische Me-dizin ein fast schon perfektes Vermark-tungsnetz gesponnen worden – und ge-rade hier lauert für einen zukünftigenTCM-Professor eine Gefahr. Denn falls er sich tatsächlich um wissenschaftliche

Seriosität bemüht, müsste er sich zum Bei-spiel mit den größeren deutschen Aku-punkturorganisationen, wie der „Deut-schen Ärztegesellschaft für Akupunktur“oder der „Forschungsgruppe Akupunktur“anlegen, die es sich zur Aufgabe gemachthaben, Ärzte in der Technik der Aku-punktur auszubilden.

Kassen und Ärztevertretern bieten sichdiese größeren Verbände als die einzig se-riösen Ausbilder an („Diplom A“ nach 140Stunden / etwa 1800 Euro, „Diplom B“ ins-gesamt etwa 4800 Euro nach 350 Stunden).„Doch was da gelehrt wird“, kritisiertHammes, „ist manchmal nicht mehr als dieMeinung von Meinungsmachern.“

Bislang allerdings wagt es kaum jemand,die großen Gesellschaften zu kritisieren,denn ohne sie läuft im Bereich der Aku-

Englisch gegen teures Geld lieblos vorge-tragene Vorträge!“) und Touristen gezieltzu TCM-Kliniken geführt, wo sie nach ei-ner kurzen ärztlichen Konsultation gegenhorrendes Entgelt die angeblich passendenHeilkräuter kaufen dürfen.

„Es gibt auch TCM-Kliniken in China“,erzählt Hammes, „die ihre Ärzte an Kran-

kenhäuser in der ganzen Weltregelrecht vermieten.“ Auchdie bekannte TCM-Klinik inKötzting im BayerischenWald funktioniert nach die-sem Modell.

Die Qualität der angemie-teten TCM-Ärzte allerdingslässt sich nur schwer kontrol-lieren. Kaum eine deutscheBehörde weiß, wie chinesi-sche Dokumente zu beurtei-len sind. Und deutsche Kli-nikchefs, die zu unbequemwurden, sind auf Drängen derChinesen auch schon mal ab-gesetzt worden. „Das ist einganz heikler Filz“, sagt Ham-

mes, „viele chinesische Ärzte werden ganznervös, wenn sie merken, dass ihnen einWestler in den Tee spucken kann.“

Entsprechend zurückhaltend sind siedann auch oft, wirklich wichtiges Wissenan westliche Ärzte weiterzugeben – zumales in der chinesischen Medizin die Tradi-tion des Geheimwissens gibt, das allenfallsauf dem Sterbebett an den Sohn oder treu-esten Schüler weitergegeben wird – undmit Sicherheit nicht an einen obskurendeutschen TCM-Professor.

„Stattdessen“, erzählt Hammes, „sindviele chinesische Ärzte sehr geschickt dar-in, uns genau das zu erzählen, was wirhören wollen. Wenn zum Beispiel Ganz-heitlichkeit gewünscht wird, dann liefernsie sie uns eben.“

Noch ist das Rennen um die BerlinerTCM-Professur nicht entschieden. Dochegal welcher der Bewerber es letztendlichschafft – seine wichtigste Aufgabe wird essein, westliche Ärzte und Patienten aus ih-rer naiven Gutgläubigkeit, teilweise sogarEuphorie (Ots: „Viele glauben doch: Ein-mal Yin, einmal Yang – und die Welt ist inOrdnung!“) zu holen.

Beate Hübner („verschleimte Mitte“) je-denfalls hatte auch hierzu schon einSchlüsselerlebnis. So lud sie einmal eini-ge ehrwürdige TCM-Koryphäen nach Berlin ein, die deutschen Anästhesistenbei der OP-Vorbereitung assistieren soll-ten. Ziel war es, mit Hilfe von Akupunk-tur die Menge an Beruhigungsmitteln zureduzieren.

„Anfangs“, erzählt Hübner, „lief allesglatt. Aber irgendwann erklärten die chi-nesischen Ärzte: ,Der Patient ist jetzt sosehr im Gleichgewicht, er muss gar nichtmehr operiert werden.‘“ Hübner lacht:„Da sind sie hochkant aus dem OP geflo-gen.“ Veronika Hackenbroch

punktur in Deutschland so gut wie nichts:kaum große Kongresse, kaum Zusammen-arbeit mit den Kassen, kaum Forschung.

Der zukünftige TCM-Professor wird ver-mutlich auch aus anderen Gründen zögern,an dieses Tabu zu rühren: Die Gesellschaf-ten überlegen, ob sie die nicht gerade lu-krative halbe C3/W2-Professur finanziell

aufstocken sollen. Auch die Zusammenar-beit mit China dürfte für den künftigen Pro-fessor nicht einfach werden. Zwar würdesich, so Hammes, „vermutlich jeder Arzt inChina darum reißen, mit ihm zusammen-zuarbeiten“. Doch diese Bereitschaft ist vonklaren finanziellen Interessen geprägt.

„Die TCM“, sagt Unschuld, „ist heute inChina ein wichtiger Image- und Wirt-schaftsfaktor.“ So systematisch wird dieVermarktung der traditionellen Heilkundevon China aus vorangetrieben, dass derMünchner Sinologe von einer „aktivenMissionierung“ des Westens spricht.

So werden nicht nur jedes Jahr Tausen-de westlicher Ärzte zur Ausbildung insLand geholt (Unschuld: „In schlechtem

* Oben: im bayerischen Kötzting; unten: in Hongkong.

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Wissenschaft

Herstellung chinesischer Tees, chinesischer Hausarzt*: Kein Platz für seelische Nöte

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Die Medizin der Zukunft überschreitet Grenzen: Ärzte in China versuchen traditionelle und moderne

Heilmethoden zu versöhnen – ein Traum vieler Patienten auch im Westen. Den Ländern

der Dritten Welt hingegen wäre schon mit den einfachsten Standards der Schulmedizin viel geholfen.

TAI CHI UND HIGHTECH

• 1. Medizin von morgen

• 1.2. Rettung durch Robodocs – Fortschritte der Medizintechnik

• 1.3. Der (fast) unsterbliche Mensch – lässt sich das Altern hinausschieben?

• 1.4. Zwischen Tai Chi und Hightech – die Globalisierung der Heilkunst

• 1.5. Baustelle Gehirn – graue Zellen und Computer

• 1.1. Das entschlüsselte Genom – neue Waffen gegen die Krankheit

Yoga-Anhängerin, medizinische Versorgung in Ruanda, Computer-Tomografie, Akupunktur-Behandlung

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Es mutet an wie die sprichwörtlichverkehrte Welt: In den reichen In-dustrienationen der westlichen Welt,den Hochburgen der Apparateme-

dizin, drängen die Menschen in die Pra-xen von Akupunkteuren, trinken, demRat indischer Gurus und deren deutschenAdepten folgend, den eigenen oder auch

Seit den Zeiten der Gründerväter mo-derner Medizin, in den knapp eineinhalbJahrhunderten seit Louis Pasteur, RobertKoch, Rudolf Virchow und Ignaz Semmel-weiß, hat sich die durchschnittliche Le-benserwartung in Ländern wie Deutsch-land oder den USA nahezu verdreifacht.Eine Zunahme, die fast ausschließlich den

fremden Urin oder vertrauen auf dieHeilkraft von Kristallen und von exoti-schen Kräutermischungen.

Derweil träumen Milliarden von Erdbe-wohnern in den Ländern der Dritten Weltvon den für sie meist unerreichbaren underst recht unbezahlbaren Segnungen derwestlichen Medizin.

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Indische Ayurveda-Behandlung: Die Reichen und Berühmten New Yorks strömen in die Praxen der Schamanen und Geistheiler, so schnell

HEIL AUS DEM OSTENTrotz großer Erfolge der modernen Medizin strömen Einwohner der Industrieländer

zuhauf in die Praxen von Anhängern traditioneller Heilkünste aus aller Welt.

Können „sanfte“ Methoden aus dem Osten die westliche Medizin wirkungsvoll ergänzen?

• 1. Medizin von morgen • 1.4. Zwischen Tai Chi und Hightech – die Globalisierung der Heilkunst

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Erfolgen der wissenschaftlichen Medizinund der damit verbundenen verbessertenHygiene zuzuschreiben ist.

In den Industrieländern sind Cholera,Pest, Polio und Pocken praktisch ausgerot-tet. Die Ausbreitung von Infektionskrank-heiten wie Tuberkulose, Grippe und sogarAids ist weithin beherrschbar geworden;

len Krankenhäusern und Universitätskli-niken Deutschlands wie etwa an der KlinikBergmannsheil in Bochum. Und mehr als20000 niedergelassene westdeutsche Ärz-te nutzen ihr oft nur in flüchtigen Wo-chenendkursen erworbenes Wissen, umPatienten Akupunkturnadeln zu setzen.

Geradezu boomartige Steigerungsratenhat die alternative Medizin von Reiki-Meistern und Ayurveda-Anhängern bis zuTCM-praktizierenden Doktores in denUSA zu verzeichnen. „Besonders die Rei-chen und Berühmten“ unter den Einwoh-nern New Yorks strömten in die Praxenvon Schamanen, Geistheilern, chinesischenMeistern und Alternativ-Ärzten, „so

schnell ihre Autos sie nur dort-hin tragen konnten“, wie dasStadtmagazin „New York“ be-merkte.

Im Zuge dieser Entwicklung –vom angesehenen „New Eng-land Journal of Medicine“ als„Rückkehr zu irrationalen An-sätzen“ in der medizinischenPraxis gegeißelt – haben sichauch zahlreiche MedicalSchools, Ausbildungsstätten fürÄrzte in den USA, der TCM

geöffnet. Im pragmatischen Umgang ame-rikanischer Konsumenten und Medizinermit paramedizinischen Methoden sieht deramerikanische Autor David B. Morris(„Die Geschichte des Schmerzes“) schondas Heraufdämmern einer „postmodernenGesundheitsvorsorge“.

Der amerikanische Herzchirurg MehmetOz beschrieb im Magazin „Newsweek“

Herz-, Leber-, oder Nierentransplantatio-nen sind Routine.

Dennoch vertrauen nicht nur in Umfra-gen fast zwei Drittel der erwachsenen Bun-desbürger ebenso wie die Mehrheit derAmerikaner einer „sanften“, „alternati-ven“ Medizin – wobei unter dem schim-mernden Begriff so ziemlich alles subsu-miert wird, von esoterischen Heilweisen,indischen, chinesischen, tibetischen undkeltischen Ursprungs, bis hin zu Homöo-pathie, Chiropraktik, anthroposophischerund Phytotherapie.

Besonders starken Anklang unter denMultikulti-Heilweisen findet die Traditio-nelle Chinesische Medizin (TCM). Gera-dezu von einer „Globalisierungder chinesischen Medizin“spricht der Medizin-Anthropolo-ge Volker Scheid in einer Studiefür das Fachblatt „Lancet“ imDezember letzten Jahres.

TCM wird demnach derzeitvon rund 300 000 Ärzten undHeilern in über 140 Ländernpraktiziert. Deutsche Kranken-kassen erstatten teilweise dieKosten einer Akupunkturbe-handlung. TCM-Kurse gibt es aneinigen britischen Universitäten, und TongRen Tang, Pekings älteste, im 17. Jahrhun-dert gegründete Apotheke, eröffnete 1995eine Niederlassung im Herzen Londons.

In Bad Pyrmont entsteht Europas „größ-tes Fachzentrum“ für TCM mit einer „Pri-vat-Uni für alternative chinesische Heil-methoden“, wie die künftigen Betreiberverkünden. TCM-Fachärzte gibt es an vie-

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sie ihre Autos nur dahin tragen können

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Herzoperation: Chinesen misstrauen den Nebenwirkungen der Biomedizin

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In einigenJahren rät einAnalyse-Automat zuHeilkrautund Tai-Chi-Übungen

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schon zur Illegalität verdammt wordenwar; erst die Kommunisten in den fünf-ziger Jahren stellten sie der modernen Wis-senschaft gleich.

Wissenschaftliche Biomedizin westlicherPrägung bestimmt über 60 Prozent des chi-nesischen Gesundheitsdienstes. Aber esgibt auch 3000 reine TCM-Krankenhäuser,und nahezu 95 Prozent der westlich aus-gerichteten Kliniken in China verfügenüber eigene TCM-Stationen und Ambu-lanzen.

„Die meisten Chinesen“, so China-Ken-ner Scheid, seien „von den überlegenen

diagnostischen Fähigkeiten derwestlichen Biomedizin über-zeugt“. Viele bevorzugten den-noch TCM-Therapien bei chro-nischen Leiden, weil sie oft be-fürchteten, „die Nebenwirkun-gen einer biomedizinischen Be-handlung könnten deren Heil-wirkung übertreffen“.

Mit moderner westlicher Me-dizin haben einige chinesischeÄrzte aber offenbar auch westli-che Geschäftstüchtigkeit impor-

tiert. So pflanzen Ärzte im KrankenhausSun-Yat-Sen im südlichen Guangzhou zah-lungskräftigen ausländischen Patienten dieOrgane hingerichteter Häftlinge ein, wiedie „Hongkong Sunday“ im Februar diesesJahres berichtete.

Da die Häftlinge meist jung seien, eig-neten sich ihre Organe „ausgezeichnet“,sagen die Ärzte. Derzeitiger Tagespreis fürdie Leber eines Exekutierten: umgerechnet50000 Mark. Rolf S. Müller

jüngst, wie solch „globalisierte“ postmo-derne Medizin aussehen könnte: „Ich hof-fe, dass ich in 20 Jahren, wenn ich 60 bin,meine Gesundheitskarte in eine elektroni-sche Analysebox stecken kann. Nach ei-ner kurzen automatisierten Untersuchungmeines Körpers und meines Elektro-lythaushalts würden mir, gemäß den un-terschiedlichen medizinischen Traditionen,die verschiedenen Diagnosen gestellt.“

Sodann liefert der Automat, in jeder ge-wünschten Sprache, einen Ausdruck, aufdem, so Mediziner Oz, „zur Reduzierungmeines Blutcholesterins ein neues Phar-makon sowie ein Heilkraut ge-gen eine vergrößerte Prostataund neben einer fettarmen Diätschließlich noch ein Trainings-programm mit Tai-Chi-Übungenempfohlen werden“.

Noch sind solche west-öst-lichen Synergieeffekte Hoffnung,aber nicht Realität. Bislang gel-ten nur wenige ethnomedizini-sche Heilmethoden im Sinnewestlicher Wissenschaft als „ge-sichert“. Die Wirksamkeit derAkupunktur bei der Bekämpfung vonchronischen Schmerzzuständen, Migräneoder Übelkeit als Folge von Chemothera-pien ist mittlerweile erwiesen.

Als Bereicherung, nicht Ersatz der west-lichen Biomedizin gilt dementsprechendauch den meisten TCM-praktizierendenÄrzten die 3000 Jahre alte Nadelkunst.

Ähnlich wird TCM in ihrem Ursprungs-land gesehen, wo sie im Jahre 1929 durchdie damalige republikanische Regierung

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Noch sindwest-östlicheSynergieeffek-te in derHeilkunst Hoff-nung, abernicht Realität

Traditionsapotheke Tong Ren Tang in Peking: Seit 1995 eine Niederlassung in London

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• 1.4. Zwischen Tai Chi und Hightech – die Globalisierung der Heilkunst

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freak Doktor Carl-Hermann Hempen. Ermeint selbstsicher: „Durch Chinas Tradi-tionsmedizin ist prinzipiell jede Krankheittherapierbar.“

Von wegen, sagen die anderen. „Nichteinmal jede hundertste Studie zur Wirk-samkeit der Akupunktur erfüllt alle wis-senschaftlichen Standards“, urteilt derMünchner Medizinhistoriker Paul Un-schuld. Muss man also an die Traditionel-le Chinesische Medizin einfach nur glau-ben? Gehört dazu ein philosophisches Ge-dankengebäude, das sich dem Menschenaus dem Westen sowieso nicht erschließt –und somit Heilerfolge bei ihm unwahr-scheinlich macht?

Im Pekinger Krankenhaus Guang AnMen zieht Professor Tang, 74, seine dickenBrillengläser von der Nase und putzt sieumständlich. Unter dem Häkeldeckchen aufdem kleinen Resopaltisch steht ein Spuck-napf. Tang räuspert sich, ein trockener Hus-ten. Er lässt das Fenster schließen, denn vondraußen kommt keine gute Luft herein, son-

Mischung aus Kräutern und Nadelstichen.„Phantastisch, ich kann jetzt bis zum Ab-stand von einem Meter alles sehen“, riefIndonesiens Präsident begeistert aus undwill seinen Peking-Doktor nun alle paarMonate nach Jakarta einfliegen.

Geschichten wie diese sind es, die imWesten den Eindruck entstehen lassen, diechinesischen Ärzte könnten mit ihrer jahr-tausendealten Naturheilkunde wahre Wun-der wirken. Gläubige und Skeptiker, Laienund Fachleute aus dem Abendland pilgernins Reich der Mitte, um zu lernen – oderum sich ihre fest gefügten Abneigungenbestätigen zu lassen.

Da muss es doch noch etwas geben jen-seits unserer westlichen Gerätemedizin, dieimmer aufwendiger und objektiv besserwird, die aber mit jedem neuen Compu-tertest auch vielen ein Stück kälter und„unmenschlicher“ vorkommt. Da müssendoch „Alternativen“ existieren, „sanfte“Medizin. Sagen die einen. Deren Guru istder Münchner Internist und Akupunktur-

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• 1. Medizin von morgen • 1.4. Zwischen Tai Chi und Hightech – die Globalisierung der Heilkunst

Zungendiagnose am Krankenhaus Guang An Men in Peking: „Rühmt die Tugend der vaterländischen Medizin!“

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FLUG AUF DEM TIGER„Weder Hokuspokus noch Allheilmittel“ ist die Traditionelle Chinesische Medizin in den Augen

einheimischer Ärzte. SPIEGEL-Autor ERICH FOLLATH berichtet über eine

Klinik in Peking, in der östliche und westliche Heilkunst erfolgreich kombiniert werden.

P rofessor Tang Youzhi hat sein Ärzte-leben lang illustre Patienten behan-delt, aber zwei ragen doch noch her-

vor aus der Liste der Berühmtheiten: MaoTse-tung, Chinas Großer Vorsitzender,und Abdurrahman Wahid, Indonesiensderzeitiger Präsident. Beider Augenlichthatte die westliche Schulmedizin fastschon aufgegeben, beiden konnte Pekingsberühmtester Ophtalmologe helfen – mitMitteln der Traditionellen ChinesischenMedizin (TCM).

Maos Grauen Star operierte Tang 1975nach einer von ihm entwickelten TCM-Me-thode und behandelte ihn anschließend mitAkupunktur; der Vorsitzende, der weni-ger erfolgreiche Ärzte in seiner Entourageschon mal zornbebend ins Umerziehungs-lager verbannte, zeigte ihm nach dem ge-glückten Eingriff das Victory-Zeichen undwidmete ihm mit elegantem Pinselstrichein Gedicht.

Wahids Fast-Blindheit linderte Tangnach eigenen Angaben Ende 1999 mit einer

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dern nur Smog. Die Hauptstadt der Volks-republik gehört zu den zehn am stärkstenumweltverschmutzten Orten der Welt.

Dann sagt er: „Auch wir in China wissennicht viel darüber, warum etwas funktio-niert, und wir können die positive Wir-kung auch nicht immer garantieren. In ei-nigen Bereichen sind wir skeptischer alsunsere Bewunderer im Westen. TCM istfür uns weder Hokuspokus noch ein All-heilmittel – deshalb versuchen wir in un-serem Hospital die Stärken westlicher undöstlicher Medizin zu kombinieren.“

Das Guang An Men, dessen Ehrenvor-sitzender Tang ist, gilt als eines der bestenKrankenhäuser in Peking. 47 Professoren,111 Ärzte und mehr als 600 Pflegekräfteund technisches Personal kümmern sichum die 505 stationären Patienten; jedenTag werden über 2000 ambulant behan-delt. Aber das Besondere besteht in seinerDoppelfunktion: Guang An Men ist Teilder staatlichen TCM-Akademie, das Hos-pital forscht in Sachen Heilkräuter undAkupunktur und bildet in- und ausländi-sche TCM-Fachkräfte aus. Es ist mit seinenweit gereisten Spitzenkräften Treffpunktder medizinischen Avantgarde und einideales Umfeld für Experimente.

Von außen sieht das Krankenhaus imrückständigen Südwesten Pekings so grauaus wie die umliegenden Fabrikblocks. ImHof stellt ein Schaukasten mit vergilbtenBildern „Errungenschaften des Sozialis-mus“ vor; weder Patienten noch Personalnehmen die Propaganda zur Kenntnis.

* Bei einer Patientin mit leichter Gesichtslähmung.

angewendeten Wärmetherapie, der Moxi-bustion.

Zhang berichtet von dem allseits ver-ehrten Heilkräuter-Li, dem die Kranken-hausgründer 1955 die Statue widmeten.Der schrieb das bis heute gültige Grund-satzwerk über die Wirkungsmöglichkeitender über 2000 TCM-Substanzen und ent-

wickelte das System der Haupt-leitbahnen, die sich durch denKörper ziehen.

„Der wichtigste Unterschiedzwischen westlicher und chine-sischer Medizin war zu allen Zeiten das unterschiedlicheMenschenbild“, sagt ProfessorZhang.

Der Arzt im Westen geht inder Regel bei der Diagnose sei-nes Patienten strikt naturwis-senschaftlich vor. Messwerte ste-

hen für seinen Befund im Mittelpunkt, seinZiel ist die kausale Analyse. Mit „harten“Fakten – EKG, Röntgen, Blutbild – lassensich organische Veränderungen erkennenund behandeln. Bei Patienten, die keinepathologischen Blutbefunde oder auffälli-gen Röntgenbilder aufweisen, aber trotz-dem über Schmerzen, Reizbarkeit und In-fektanfälligkeit klagen, stößt dieser Wegan Grenzen. Wie will man sie heilen, wennsich nicht nachweisen lässt, dass sie er-krankt sind?

Die Traditionelle Chinesische Medizinhat einen anderen, eher philosophischenAnsatz: Der Mensch ist das Abbild natür-licher Harmonie zwischen Himmel undErde, die beiden Urkräfte Yin (weiblich,

Über einem Nebengebäude des Hospi-tals verstauben rote Laternen, eine davonhat sich aus ihrer Verankerung gelöst undhängt jetzt, abgeknickt wie ein verlorenerLuftballon, an einem Draht.

In dem nur ausgesuchten Funktionärs-patienten vorbehaltenen Flügel verkündengelbe Schriftzeichen gestrige Polit-Parolen:„Rühmt die Tugend der vater-ländischen Medizin und dientdem sozialistischen Ideal!“ Inder Krankenhauskantine und amgerade verputzten Neubau klingtdie Schrift an der Wand schoneher nach dem Alltag der Pekin-ger im Jahr 2000 – Manchester-kapitalistisch: „Tu alles für dei-nen Job, sonst hast du morgenkeinen mehr.“

An einer blütenweiß geputz-ten Statue des TCM-Pioniersund Pharmakologen Li Shizhen (1518 bis1598), umrahmt von Grünpflanzen und ei-nem Poster mit Südseepalmen, erläutertder Krebsprofessor des Guang-An-Men-Krankenhauses die Vorteile der Traditio-nellen Chinesischen Medizin – und ihreGrenzen.

Zhang Peitong, 37, spricht von denSteinnadeln und den zugespitzten Tier-knochen, die wohl schon vor mehr als 6000 Jahren zum Einstich an bestimm-ten Körperstellen genutzt wurden. Er er-zählt von dem „Kanon der inneren Medi-zin des Gelben Kaisers“, dem Klassikeraus dem zweiten vorchristlichen Jahrhun-dert, der schon 160 Akupunkturpunktekannte, verbunden mit der bis heute

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„In einigenBereichen sindwir Ärzte inChina skepti-scher als un-sere Bewunde-rer im Westen“

Getrocknete Skorpione: Gift zur Entgiftung

Abbrennen einer „Moxa-Zigarre“*, Klinik-Präsident Tang, Ehefrau: Patient Mao pinselte ein Dankgedicht

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dunkel, kalt) und Yang (männlich, hell,warm) sind im Gleichgewicht – so lange ergesund ist. Bei einer Erkrankung ist dienotwendige Balance zwischen den beidenlebenserhaltenden Kräften durcheinandergeraten. Die Lebensenergie Qi kann nichtmehr ungestört durch die Körperbahnenfließen. Entlang dieses Netzwerks von 14Meridianen, die den einzelnen Organenwie Herz, Leber, Galle oder Magen undihren Funktionskreisen zugeteilt sind, lie-gen 361 genau festgelegte Punkte.

Durch Einführung von Nadeln an diesenPunkten, so die Lehre, lassen sich Störun-gen beseitigen und das Gleichgewicht wie-derherstellen. Allerdings muss der chinesi-sche Arzt wissen, wo er ansetzen muss,um das gestaute Qi wieder in Fluss zu brin-gen. Er versucht zu begreifen, wie es zu derenergetischen Entgleisung imKörper gekommen ist, er lerntdie krankheitsauslösenden Fak-toren seines Patienten kennen –sein soziales und emotionalesUmfeld, seine Ernährungsge-wohnheiten.

Die Diagnose erfolgt häufigdurch genaue Inspektion derZunge und über das Ertasten vonso genannten Pulsbildern; 31 ver-schiedene werden in der TCMdetailliert registriert. WestlicheMesswerte werden nur im Bedarfsfall her-angezogen – sie sind nicht primär ent-scheidend.

* Der Rauch getrockneter Kräuter passiert walnussähnli-che „Linsen“ und stimuliert die Nerven der Augenpartie.

Prozent der Tumoren bilden sich zurück,berichtet der Professor. Und öfter ließe sichdie Ausbreitung der tödlichen Zellen durchexperimentelle Kräuterkuren wenigstensverlangsamen. „Wenn Ärzte anderer Kran-kenhäuser einem Krebspatienten bei derEinlieferung drei Monate geben, lebt erhier bei uns durchschnittlich noch ein biszwei Jahre“, sagt Zhang.

Ein Stockwerk höher werden weit mehrPatienten „gespickt“, manche liegen miteinem Dutzend Nadeln, die aus Ohren undWangen herausragen. Zur Verstärkung derWirkung trägt Professor Liu Zhishun, 47,eine Ginseng-Schicht auf die Haut auf oderbrennt in der Nähe des Akupunkturpunktseine „Moxa-Zigarre“ ab; Glut und Rauchdes aus Beifußkraut gedrehten Kegels sol-len die Stichwirkung verstärken. Die imTCM-Krankenhaus verwendeten Aku-punkturnadeln gibt es in neun verschiede-nen Längen von 15 bis 150 Millimetern.

Professor Liu hat, wie fast alle Ärzte ander Guang-An-Men-Klinik, westliche wieöstliche Medizin studiert. Er tauscht seineErfahrungen mit amerikanischen und eu-ropäischen Kollegen aus, hat ein Jahr langin Australien gelehrt. Besonders erfolgreichist die TCM seiner Meinung nach bei Fol-gen von Schlaganfällen wie Halbseiten- undGesichtsparalyse. Auch die Parkinson-krankheit behandelt der Arzt aus Peking er-folgreich, „mit einer Kombination aus west-lichen Pharmaka und Akupunktur“.

Liu sagt: „Wir haben längst keineBerührungsängste mehr mit den ausländi-schen Kollegen und haben einige hane-büchene Behauptungen über TCM längst

„Das Feuer, das den Gebirgswald ab-brennt“, „Der fliegende Tiger“, „Das Tor zur Schatzkammer“ heißen einige der überJahrhunderte erprobten Behandlungsme-thoden an den Reizpunkten: Es ist diesesMystisch-Geheimnisvolle, das die auf nüch-terne Fakten geeichten Menschen aus demWesten an der Traditionsmedizin so an-zieht oder abstößt. Wo liegen die Mög-lichkeiten, fernöstliche Diagnose und Be-handlung mit westlicher zu verbinden –beispielsweise für einen Krebsarzt, der einebösartige Geschwulst behandeln muss?

Zhang seufzt. „Bei einem Tumor ope-rieren wir, anschließend ist meist die Chemotherapie erste Wahl. Und dieZukunft der Krebsbehandlung sehen wirgenau wie die Kollegen im Westen in der Genmanipulation der Zellen.“ Tradi-

tionelle Kräutertherapien undAkupunktur können aber nachden Erfahrungen im Guang An Men die Nebenwirkungender Chemotherapie erheblichlindern.

Der Onkologe führt durch seine Abteilung mit 40 Betten,meist besetzt mit Krebspatien-ten im fortgeschrittenen Stadi-um. Fast alle Kranken haben Be-such, der hier durchgehend er-laubt ist. Familienmitglieder

bringen Essen mit, Teetöpfe klappern, dieAtmosphäre ist entspannt, fast heiter.

Bei den von der Schulmedizin aufgege-benen Fällen erzielen TCM-Methoden be-achtliche, wenngleich statistisch gesehennicht bahnbrechende Erfolge. Etwa zehn

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• 1. Medizin von morgen • 1.4. Zwischen Tai Chi und Hightech – die Globalisierung der Heilkunst

„Sich schröp-fen lassen sollte jeder,der einenSchreibtisch-job hat odergestresst ist“

Patientin mit Rauchbrille*, Mediziner Wang bei Qigong-Hypnose gegen Depression: Hände wie Adlerschwingen

d e r s p i e g e l 1 8 / 2 0 0 0164

zurückgedreht. Wir Ärzte in China könnenso viel, wir müssen nicht diesen Blödsinnaufrechterhalten, mit Akupunktur ließe sichschmerzlos Anästhesie betreiben.“

Der Doktor schüttelt sich. „Erinnern Siesich an diese Bilder beim Nixon-Besuch1972, als ein Patient während der Aku-punkturnarkose glücklich Mao-Sprücheaufsagte und Orangensaft trank? Möchtenicht wissen, wie’s dem während der Operation wirklich ging, und vor allem danach.“

An einer halbmeterhohen Puppe mitaufgezeichneten Punkten erläutert der Pro-fessor die Akupunkturstellen, die er gera-de gestochen hat.

Das Modell ist jener Demonstrations-figur nachempfunden, die der große Ge-lehrte Wang Weiyi im Jahr 1027 in Kupfergießen ließ. Schon auf dieser klassischenFigur waren die Akupunkturpunkte alsLöcher markiert. Das sollte der Nachweltals Vermächtnis dienen, aber auch ganzpragmatisch Schulungsprobleme lösen. DasModell wurde mit Wachs beschichtet undmit Wasser oder Quecksilber gefüllt. Wennder Medizin-Prüfling den korrekten Aku-punkturpunkt getroffen hatte, spritzte eszum Beweis der Richtigkeit aus den durch-stochenen Öffnungen. Bestanden.

„Generell gilt: TCM eignet sich eher beileichteren Erkrankungen, meint ProfessorZou Jinpan, 36. „Wir behandeln etwa 80Prozent unserer stationären Fälle über-wiegend mit westlicher Medizin. Fast 90Prozent seiner Tagespatienten könne eraber mit Kräutern und Akupunktur hel-fen. „Besonders gut ist TCM bei der Be-

relat besitzen. Diese Befunde sind jedochvon anderen Wissenschaftlern nie bestätigtworden. Professoren von der UniversitätGraz wiesen mittels elektronischer Sen-soren einen Zusammenhang zwischenAkupunktur und der Blutflussgeschwin-digkeit im Gehirn nach, doch tritt dieserEffekt auch bei Suggestivtherapien auf,etwa bei der Hypnose oder der Gabe vonPlacebos.

Der Anästhesist KonradStreitberger von der UniversitätHeidelberg versuchte es empi-risch. Er erfand 1998 eine „Pla-cebo-Nadel“, die nach einemoberflächlichen Kontakt mit derHaut in ihre Halterung zurück-springt; der Patient fühlt einenStich, aber eine wirkliche Aku-punktur findet nicht statt. DiesePlacebo-Technik testete der Me-diziner an einer Gruppe von 25Kranken, die an schweren Schul-

terschmerzen litten. Ihr Zustand verän-derte sich kaum. Wohl aber verbessertesich das Befinden der zweiten Testgruppemit demselben Leiden erheblich, die tat-sächlich akupunktiert worden waren.

Die Suche nach Beweisen für die TCMamüsiert die chinesischen Ärzte im Gu-ang-An-Men-Hospital. Sie halten schon dieFrage für ein west-östliches Missverständ-nis. „Wir kennen die Effekte der Nadelnseit einigen tausend Jahren und haben un-sere eigenen Erklärungen dafür“, sagt derEhrenpräsident und Mao-Doktor Tang.

Die Weltgesundheitsorganisation WHObestätigt die TCM-Mediziner: Sie empfiehlt

handlung in meinem Fachbereich“, sagtstolz der Fachmann für Innere Medizin amGuang An Men. Doktor Zou verzeichnetbeim Kampf gegen Bronchitis und vor al-lem gegen chronisches Asthma erstaunli-che Erfolge. Er erreichte durch Akupunk-turbehandlung bei über 70 Prozent seinerPatienten deutliche Verbesserungen, 20Prozent der Asthmatiker wurden angeb-lich ganz geheilt.

Gegen leichtere Gebrechenwie das gemeine Rückenleidensetzt der Internist aufs traditio-nelle Schröpfen. Die glockenför-migen Glaskuppeln werden feu-erheiß erhitzt und die Wirbel-säule entlang mittels Vakuum aufden Rücken geklebt, wo derDoktor sie hin- und herschraubtund tief in die Haut hinein-drückt.

„Ein Stück Volksgesundheit.Hilft für eine Woche, dann wie-derholen“, strahlt er, und sein Gesicht wirddabei fast so rund und glänzend wie dasSchröpfglas in seiner Hand. „Sollte jedermachen, der einen Schreibtischjob hat oderso gestresst ist wie wir Ärzte – michschröpft meine Frau.“

Westliche Wissenschaftler suchen im-mer wieder nach schlüssigen Beweisen fürdie Wirksamkeit der TCM, nach einemneurophysiologischen Konzept, in das sichdie alte östliche Lehre eingliedern ließe.Der deutsche Mediziner Hartmut Heinemachte schon 1988 darauf aufmerksam,dass etwa 80 Prozent aller klassischenAkupunkturpunkte ein anatomisches Kor-

Patientenberatung in der Tong-Ren-Tang-Apotheke in Peking: Keine Berührungsangst mit westlicher Medizin

„Wir behan-deln 80 Pro-zent unsererstationärenFälle überwie-gend mit west-licher Medizin“

Wang, anschließend so erschöpft wie seinePatientin.

Unten an der Krankenhaus-Apothekehat sich wie jeden Tag eine lange Warte-schlange gebildet. Die ambulanten Patien-ten holen sich die Kräutermischungen ab,die ein halbes Dutzend robuster Damenhinter der Theke für sie aus über 300 Pflan-zenextrakten zurechtrühren. Nichts Eroti-sches wie die berühmten Potenzmittel ausHirschpenis, sondern meist Substanzen mitGrundbestandteilen wie der Isatis-Indigo-tica-Wurzel, die gegen Erkältungen hilft –und getrocknete Skorpione zum Entgiftendes Körpers. In einem Nebengebäude hän-gen zwei Dutzend Pensionäre am Tropf,durch den verflüssigte Heilkräuter laufen.

* Zur Behandlung einer Gesichtslähmung.

im Behandlungszimmer verändert sich derSchüchterne, seine Bewegungen wirkenplötzlich, als sei eine Kraft aus einer ande-ren Welt in ihn gefahren.

Der Arzt lässt seine Hände über das Ge-sicht einer jungen Patientin gleiten. Immerwieder, knapp über Augenhöhe, wie dieSchwingen eines Adlers. Die 25-Jährige aufder Couch leidet seit dem Tod ihres Vatersunter schweren Depressionen und wurdebis jetzt nur mit Psychopharmaka behan-delt. Doktor Wang glaubt, sie durch eineQigong-Hypnose heilen zu können, einejahrtausendealte Therapie, welche dieKraft des Arztes auf die Kranke überträgt.Tatsächlich versinkt sie nach kurzer Zeit ineinen Hypnoseschlaf, und der Arzt flüstertihr ins Unterbewusstsein. Es sei unklar, wieviele solcher Sitzungen sie brauche, sagt

ganz offiziell bei eine Reihe von Krank-heiten eine Akupunkturtherapie. Etwa beiStörungen der Atemwege wie akuter Si-nusitis oder Bronchitis. Bei Augen- undRachenerkrankungen, bei Magen- undDarmproblemen wie Gastritis oder Diar-rhö. Bei neurologischen Erkrankungen wieMigräne und der seltenen Menière-Krank-heit (die mit Drehschwindel einhergeht),aber auch beim Tennisellenbogen.

Einigen Ärzten im TCM-Hospital ist die-se Liste zu konservativ. Sie experimentie-ren mit der Traditionsmedizin – und glau-ben ihre Therapien ausweiten zu können,etwa auf die Behandlung psychischerKrankheiten wie Depressionen und auf se-xuelle Störungen.

Professor Wang Weidong, 43, ist ein eherunscheinbares, dünnes Männchen. Doch

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Elektro-Akupunktur*

J. J

IN

GANZ OHR – NADELN GEGEN NEURALGIE

Schon vor 2500 Jahren versuchten chinesische Ärzte, den menschlichenKörper durch Ohr-Akupunktur zu heilen. Als Reflexzonentherapie

wurde die Methode 1956 von dem französischen Arzt Paul Nogierweiterentwickelt. Die Experten unterteilen die Hörmuschel auf einer„topografischen Karte“ in neun Felder, die jeweils einem Körperbereichzugeordnet sind, zum Beispiel der Zunge, dem Bauchraum oder den Augen. Da die Projektionspunkte nur selten mehr als ein ZehntelMillimeter groß sind, erfordert dasAuffinden viel Wissen und Geschick.Die Therapie erfolgt mit kürzeren unddickeren Nadeln als in der klassischenAkupunktur. Bei chronischen Erkran-kungen arbeiten die Ärzte oft mit„Dauernadeln“, die bis zu sieben Tageam Einstichort bleiben. Behandeltwerden vor allem Schmerzen desBewegungsapparats und Neuralgien.Mit unterschiedlichem Erfolg habenMediziner auch versucht, mit der Ohr-Akupunktur Suchtkrank-heiten zu heilen. Ohr-Akupunktur

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„Viel billiger als das westliche Chemie-zeug“, sagen die Apothekerinnen. „Undvor allem ohne Nebenwirkungen.“

Im Guang An Men, versichertdie Leitung der Klink, würde al-len Notfällen geholfen. Aberauch dieses Hospital muss sichauf tumultuöse soziale Umwäl-zungen einstellen. Die Zeiten desKrankenscheins, der zur kosten-losen Behandlung berechtigte,sind vorbei. Die Patienten müs-sen mindestens 20 Prozent derArzneien bezahlen.

Wer bettlägerig wird oder eineOperation braucht, ist bessersehr gut bei Kasse: 2000 Yuan (500 Mark)muss der Kranke vorstrecken. Ein Klacksfür die in westlichem Luxus lebende neue

lisch“, fanden die Leser und setzten dieÄrzteschaft auf den drittletzten Platz allerBerufsgruppen.

Ein zerlumpter Mann bringt seineschniefende Tochter auf einem Schubkar-ren zur Aufnahme. Daneben hält mit knir-schenden Reifen ein nagelneuer BMW derFünferreihe. Heraus springt ein Herr imArmani-Anzug, an seiner Seite zwei Bo-dyguards: Das offiziell immer noch kom-munistische China ist längst eine Klassen-gesellschaft und hat dementsprechend aucheine Klassenmedizin. In manchen PekingerKliniken werden selbst Schwerkranke ab-gewiesen, wenn sie die Behandlung nichtbar bezahlen können.

Fast schon amerikanische Verhältnisse,sagt Professor Tang und lächelt dabei nurein bisschen.

Unternehmerklasse, aber praktisch uner-schwinglich für die Pensionäre. Die Parteiverspricht eine neue Form der Versiche-

rung mit geringer Selbstbeteili-gung, aber bis jetzt ist noch nichteinmal jeder Zehnte von diesemSystem erfasst.

„Die hier in Guang An Mensind gute Menschen, aber sonstsind die meisten chinesischenÄrzte Halsabschneider“, sagt einPatient, dessen chronischesHautleiden permanenter Be-handlung bedarf. Eine Mei-nungsumfrage in der Jugendzei-tung „Qingnian bao“ zeigte, wie

rapide das traditionelle hohe Ansehen derMediziner im modernen China verfällt:Kaum ein Berufsstand sei so „unmora-

„In dieserKlinik sind guteMenschen,aber die meis-ten Ärzte sind Halsab-schneider“

Verabreichung von Kräuter-Infusionen im Guang-An-Men-Krankenhaus: „Viel billiger als das westliche Chemiezeug“

Ausgabe 7 Seite 96 vom 01.07.1998

Nadeln für arm und reichHans Halter über Akupunktur, Ayurveda und die Geheimnisse asiatischer Heilkünste

Von Hans HalterHans Halter, 60, ist SPIEGEL-Redakteur in Berlin.

Lange bevor die Chinesen das Pulver erfanden, diePockenschutzimpfung, das Papier, denFingerabdruck und das Porzellan, die Seide und denKompaß, verfügten sie über eine Heilmethode, dieJahrtausende überdauert hat: die Akupunktur. Siestammt aus der Steinzeit.

Als ihr Entdecker gilt Huang-Ti, der "Gelbe Kaiser".Dieser legendäre Monarch lebte, so wird berichtet,von 2698 bis 2598 vor Christi Geburt, wurde also 100Jahre alt.

Der Kaiser hat nicht nur die Nadelung reichsweiteingeführt. Ihm wird auch nachgerühmt, er habe alserster die Musik in ein System gebracht, den Lauf derGestirne wissenschaftlich beobachtet, den Wagenund das Geld erfunden. Doch wer weiß das schon sogenau?

Sicher ist nur, daß die Akupunktur, das Moxa-Brennen, auch die indischen Heilweisen Ayurvedaund Yoga - kurzum: alle asiatischenMedizinrichtungen, die jetzt in Europa Furore machen- uralt sind. In den Höhlen Nordchinas wurdenAkupunkturnadeln aus Stein gefunden - gebraucht zuZeiten, da Rom noch nicht gegründet war und diealten Germanen zwischen Sumpf und Krüppelfichtenumherliefen.

Die ältesten Lehrbücher zu Asiens Heilkünsten sindfast 4000 Jahre alt. Der Große Vorsitzende Mao TseTung hat ihren Wert in einem Satz komprimiert: "DieVolksmedizin ist eine große Schatzkammer." Unddiese dunkle Höhle bietet Raum für Weisheiten undWidersprüche, Vernunft und Glauben. Jeder darf sichbedienen, das Angebot ist vielfältig und wohlfeil.

Asiens Heilweisen, so hoffen immer mehr Europäer,werden auch ihnen helfen, vor allem dem Schmerzendlich Flügel machen. Diese Zuversicht istbegründet, aber sie ist nicht gerade neu.

Nachdem missionierende Jesuiten im 17. und 18.Jahrhundert Expeditionen in das dunkle Reich derMitte unternommen hatten, schäumte die erste Welleder Begeisterung für fernöstliche Heilkunst überEuropa. Alle Großen jener Zeit, vom deutschenUniversalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz bis zumfranzösischen Aufklärer Voltaire, zeigten sichinteressiert. Auch Goethe legte ein gutes Wort ein,

und der preußische Hofprediger Conrad Mel gabseinen überkonfessionellen Segen: "Und wieverächtlich uns diese Völker auch vorkommen",sprach der Gottesmann, "werden doch vielleichtunsere Medici von ihnen manch bishero verborgenesKunststück erlernen."

So geschah es. Doch die Welle ebbte rasch ab. Nacheinigen Jahrzehnten waren "MedizinischeChinoiserien" wieder out, die indische Heilkunstwurde von den Briten sogar systematisch verfolgt. InEuropa begann der Siegeszug derNaturwissenschaften, das Jahrhundert derSemmelweis, Pasteur und Koch.

Seither koexistieren die beiden so gegensätzlichenmedizinischen Systeme nebeneinander, mehr oderminder friedlich. Die asiatischen Kulturen, seitJahrtauenden von der traditionellen Heilkunstbegleitet, haben Europas "Hochschulmedizin" in ihreMetropolen integriert: die Chirurgie und Anästhesie,Penicillin und Aspirin, die Lehre von den Mikroben -alles, was gut und teuer ist. Vor allem der Preis setztdem Zug zur "weißen Medizin" jedoch Grenzen, nichtso sehr Hochmut oder Ignoranz ihrer Doktoren.

Andererseits wird das Spektrum asiatischerTherapien (inklusive ihrer so ganz anderenKrankheitsdiagnostik) in Europa immer breiter. Inallen Ländern gibt es wissenschaftliche Akupunktur-Gesellschaften, deren Präsidenten Medizin-Professoren sind.

Dreiviertel der Deutschen halten asiatischeHeilweisen für interessant, jeder zweite findet siesympathisch. Die Hoffnung richtet sich nicht so sehrdarauf, durch Akupunktur konventionelle oderchirurgische Therapien - etwa der Extraktion einesWeisheitszahnes oder des Wurmfortsatzes -vermeiden zu können. Gewünscht wird vielmehr vonden fernen Gesundheitslehren ein Zugewinn anWohlbehagen oder wenigstens ein Minus bei denSchmerzen, die gewöhnlich mit der Diagnose undBehandlung nach herkömmlichen europäischenRegeln verbunden sind.

Auf die strengen gesetzlichen und wissenschaftlichenAnforderungen, der sich die Schulmedizin Europasunterwirft, wird im allgemeinen Einvernehmen beiAsiens Heilweisen verzichtet. Bei näherem Hinsehen

wimmelt es nämlich von unaufhebbarenWidersprüchen. Beispiel: Akupunktur (siehebeigefügtes Service-Heft).

Die naturwissenschaftliche Basis der Akupunktur mitihren "Punkten" und "Meridianen" war von Anfang andürftig. Kein Wunder, denn bis vor 200 Jahren warenden chinesischen Ärzten (von denen die meisteneher philosophierende Theoretiker als Praktikerwaren) die Lage der Leber, die Funktion der Nieren,der Unterschied zwischen Arterien und Venen undsogar das ganze Nervensystem unbekannt.Leichenöffnungen waren im alten China tabu, auchOperationen.

Aufgabe fernöstlicher Heilkunst war die Linderungalltäglicher, oft chronischer Beschwerden, nicht ihreursächliche Therapie. Die Akupunktur-Theoretikerlieferten den Akupunktur-Praktikern, meist"Barfußärzten", das Rüstzeug der Theorie - sogesehen ist auch der Große Vorsitzende Mao TseTung ein Akupunkteur gewesen. Der "Steuermann"wußte sehr wohl, daß er seinem armen Volk nicht die(manchmal auch dubiosen) Segnungen derwestlichen Medizin spendieren konnte. Aber erwünschte sich und den Seinen eine Basistherapie,die den Schmerz lindert, Ruhe und Gelassenheit gibtund arm an Nebenwirkungen ist. Wer Krankheit nichtheilen kann, will wenigstens ihre Folgen mindern.

Legt man die Elle der naturwissenschaftlichenMedizin an das Gedankengebäude der Akupunktur,so zeigt sich, daß es weder Beweise gibt für dieExistenz von Meridianen und Akupunkturpunkten,noch Erkenntnisse darüber, wie relevant Einstichtiefeoder Material der Nadel sind.

Nirgendwo und nirgendwann hat jemandirgendwelche anatomischen Strukturen entdeckt,nicht mal mit dem Elektronenmikroskop, die mit demAkupunktur-System zusammen passen. Aber warumwirkt es dann?

Denn auf die Wirkung der Nadeln schwören ja nichtnur die, welche am Piksen gut verdienen. Akupunkturhat Millionen Menschen unbestritten die Schmerzengenommen, das Fieber gesenkt, den Schlafzurückgegeben. Sie wirkt bei einfachen undgebildeten Menschen, Armen und Reichen,studierten Ärzten und sogar bei denen, die "nichtdaran glauben". Nur bei kleinen Kindern hilftAkupunktur nicht, die weinen.

"Wir wissen nicht, warum Akupunktur wirkt undweshalb sie manchmal nicht wirkt", erklären diechinesischen Akupunktur-Lehrer. Ihre europäischenAdepten suchen hingegen noch nach biologischenErklärungen. Partout wollen sie nicht wahrhaben, daßes sich bei der fernöstlichen Heilweise um eineSonderform von Hypnose und Suggestion handelt -als sei das eine Schande. Schließlich hat auch

Europa suggestive "Chinoiserien" hervorgebracht, dieHomöopathie oder den Mesmerismus (durchHandauflegen wird "Magnetismus" übertragen).

"Viel Nachdenken gebiert Weisheit", hat Mao gelehrt,doch davon wollen die Anhänger asiatischerHeilweisen lieber nichts wissen. Die traditionelleMedizin der verschiedenen Kulturräume des größtenKontinents wird meist losgelöst von ihren Ursprüngenadaptiert.

Dabei stecken in diesen Lehrgebäuden viele klugeIdeen, denen sich die europäische Naturwissenschaftseit einiger Zeit wieder vorsichtig nähert: derGedanke von der körperlich-geistigen Harmonie, vonder Einheit von Mensch und Natur, vom Segen derMäßigung bei Tisch und der Muskelaktivitäten.

Ayurveda, die indische "Wissenschaft vom Leben",stützt ihre Lehren von der Gesundheit des Menschenund seinem Wohlbefinden auf eine ganzheitlicheBetrachtung der Existenz. Wem es unterwechselnden Bedingungen gelingt, Leib und Seelemit der Umwelt in einem stabilen Gleichgewicht zuhalten, der bleibt gesund.

Der indische Subkontinent steht seit Jahrtausendenvor den gleichen Problemen wie das chinesischeRiesenreich - es fehlt an heilkundlichen Strategienund Instrumentarien, die allen Menschen zurVerfügung stehen sollten. So entwickelte sich eineMixtur aus religiösen Hoffnungen, entspannendenÜbungen und bekömmlicher Diät - das hilft auchgegen den Schmerz.

In Mitteleuropa lassen sich 65 Prozent allerSchlafstörungen durch ein wirkstoffreiesScheinmedikament beheben. Ähnlich hoch ist diePlacebo-Heilquote bei akuten und chronischenSchmerzen. Ist das subjektive Leid groß und dieaktive Bereitschaft, einem bestimmten medizinischenVerfahren zu vertrauen, stark ausgeprägt, so hilft diefernöstliche Heilkunst am besten.

Sie trägt - wie ein Komet, der die Wolken seinesSchweifs mitschleppt - eine Vielzahl ewigerLebensweisheiten im Gefolge. Zur gefälligenAuswahl: Man kann sich für die strenge Sicht desLao Tse entscheiden, für die wunderbare Resignationdes dicken Buddha oder für die Weisheit einesungenannten alten Inders. Der empfiehlt -zugegeben: ein bißchen macho - als rechten Weg zuGlück, schmerzfreiem Wohlbehagen und langemLeben "frische Milch, ein warmes Bad und ein jungesMädchen".

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KG.


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