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Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies...

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Hochschule für Angewandte Wissenschaften Fakultät Wirtschaft und Soziales Department Soziale Arbeit Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer Perspektive - Potentiale ästhetischer Erfahrung am Beispiel der Inszenierung „Paradise Mastaz“ der Gruppe Hajusom Bachelor-Thesis Tag der Abgabe: 17.01.2014 Vorgelegt von: Friederike Falk 1. Prüfer: Prof. Dr. Rainer Homann 2. Prüferin: Prof. Dr. Jutta Hagen
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Page 1: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Fakultät Wirtschaft und Soziales

Department Soziale Arbeit

Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer Perspektive

- Potentiale ästhetischer Erfahrung am Beispiel der Inszenierung

„Paradise Mastaz“ der Gruppe Hajusom

Bachelor-Thesis

Tag der Abgabe: 17.01.2014

Vorgelegt von: Friederike Falk

1. Prüfer: Prof. Dr. Rainer Homann

2. Prüferin: Prof. Dr. Jutta Hagen

Page 2: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ........................................................................................................................................ 1

1. Theaterpädagogik als ästhetische Bildung .............................................................................. 3

1.1 Definition Theaterpädagogik ................................................................................................ 3

1.2 Ästhetische Bildung .............................................................................................................. 4

1.2.1 Ästhetik ....................................................................................................................... 5

1.2.2 Ästhetische Erfahrung ................................................................................................. 6

1.2.3 Aporie ästhetischer Bildung ........................................................................................ 7

1.3 Ästhetische Erfahrung im Theater ........................................................................................ 8

1.3.1 Ästhetik des Theaters .................................................................................................. 9

1.3.2 Künstlertheorien ........................................................................................................ 10

1.3.3 Erfahrung des „Dazwischen seins“ ........................................................................... 11

1.3.3.1 Zwischen Spieler_in und Figur .................................................................... 12

1.3.3.2 Zwischen den Ereignissen ............................................................................ 12

1.3.3.3 Zwischen Bühne und Publikum ................................................................... 13

1.3.3.4 Zwischen Körper haben und Körper sein ..................................................... 14

1.3.3.5 Zwischen Sinn und Sinnlichkeit ................................................................... 14

1.4 Bildungspotentiale ästhetischer Erfahrung im Theater ...................................................... 15

1.5 Grenzen von Theaterpädagogik .......................................................................................... 17

2. Postdramatisches Theater ....................................................................................................... 19

2.1 Vom Dramatischen zum postdramatischen Theater ........................................................... 20

2.2 Ästhetik und Dramaturgie .................................................................................................. 21

2.2.1 Zustand und Zeremonie ............................................................................................ 21

2.2.2 Postdramatischer Zeichengebrauch ........................................................................... 21

2.2.3 Text - Sprache - Stimme ........................................................................................... 24

2.2.4 Körper - Körperbilder ............................................................................................... 25

2.3 Schauspieler_innen im postdramatischen Theater ............................................................. 26

2.3.1 Vom Nicht-Schauspielen zum Schauspielen ............................................................ 27

2.3.2 Doppelbewusstsein.................................................................................................... 29

2.3.3 Auflösung der Kohärenz ........................................................................................... 30

2.4 Zusammenfassung .............................................................................................................. 31

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3. Das Theaterstück „Paradise Mastaz“ der Gruppe Hajusom .............................................. 32

3.1 Das Theaterprojekt Hajusom .............................................................................................. 32

3.2 Die Inszenierung „Paradise Mastaz“ .................................................................................. 35

3.2.1 Methodische Anmerkungen zur Aufführungsanalyse ............................................... 35

3.2.2 Inhalt und Aufbau des Stücks ................................................................................... 36

3.2.3 Analyse unter postdramatischen Gesichtspunkten .................................................... 39

3.3 Potentiale ästhetischer Erfahrung der Spieler_innen an Beispielen ................................... 41

3.3.1 Szene 1.: Biographische Theaterarbeit ...................................................................... 42

3.3.2 Szene 2.: Performatives Erzählen ............................................................................. 43

3.3.3 Szene 3.: Choreographie und Tanz ........................................................................... 45

3.3.4 Szene 4.: Stimme, Sprache und Gesang .................................................................... 47

3.3.5 Szene 5.: Figurentheater ............................................................................................ 48

3.4 Ästhetische Erfahrung und Bildung im postdramatischen Theater .................................... 50

4. Fazit ........................................................................................................................................... 51

Literaturverzeichnis ..................................................................................................................... 53

Anhang .......................................................................................................................................... 57

Eidesstattliche Erklärung ............................................................................................................ 58

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Einleitung

Diese Arbeit geht der Frage nach, wie Formen des postdramatischen Theaters in der theaterpäda-

gogischen Praxis Anwendung finden können. Welche Potentiale ästhetischer Erfahrung und äs-

thetischer Bildung bietet die künstlerische Auseinandersetzung mit Mitteln des postdramatischen

Theaters in der theaterpädagogischen Arbeit? Speziell geht es um die Frage, ob und wie sich die

ästhetische Erfahrung des spielenden Subjekts in postdramatischen Inszenierungen im Vergleich

zum (Literatur-) Theater verändert, oder ob sie sich wie Ulrike Hentschel vermutet gar „radikali-

siert“ (Hentschel, 2010: 14).

Das Ziel dieser Arbeit ist eine theoretische Verknüpfung der Theorie oder des Paradigmas des

postdramatischen Theaters mit der Theaterpädagogik.

Die eingenommene Perspektive der Arbeit ist die einer zeitgenössischen Theaterpädagogik, wel-

che davon ausgeht, „dass dem Theaterspielen bestimmte Lernprozesse immanent sind, ohne dass

eine außerästhetisch begründete Pädagogisierung oder Didaktisierung des Gegenstandes erfolgen

müsse.“ (Hentschel/ Streisand, 2001: 41) Dies bedeutet eine kritische Haltung gegenüber einer zu

starken Pädagogisierung und Instrumentalisierung der Theaterarbeit für erzieherische Zwecke

(vgl. Hentschel, 2007: 6). Hentschels Analyse bezieht sich explizit auf das Literatur-Theater, je-

doch hält die Autorin ihre Ergebnisse für übertragbar auf andere Theaterformen. Sie verlangt

hierfür jedoch eine Konkretisierung bezogen auf die jeweilige Theaterform (vgl. Hentschel,

2010: 27).

Die Relevanz und Aktualität des Themas begründet sich in der zunehmenden Bedeutung post-

dramatischer Theaterarbeiten im professionellen und pädagogischen Bereich. Aktuelle Publikati-

onen der Theaterpädagogik weisen entsprechend auf einen Forschungsbedarf hin (vgl. Sting,

2005: 350; Hentschel/ Ritter, 2009: 10; Pinkert, 2010: 176).

Im ersten Kapitel wird auf die Theaterpädagogik als ästhetische Bildung eingegangen, wie Ulrike

Hentschel sie entwickelt hat (vgl. Hentschel: 2010). Ästhetische Bildung durch Theaterpädagogik

findet in diesem Sinne durch die „Auseinandersetzung des Subjekts mit sich selbst im Medium

der Kunst des Theaters“ (Hentschel, 2012: 64) statt. Zeitgenössisch bedeutet auch, sich eng am

Theater der Gegenwart zu orientieren bzw. sich als Teil dieses Theaters zu begreifen (vgl. Hent-

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schel, 2010: 11). Diese Position legt eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des postdrama-

tischen Theaters als Teil des zeitgenössischen Theaterdiskurses nahe.

Das postdramatische Theater wird im zweiten Kapitel, eng angelehnt an die Beschreibung des

Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte

(vgl. Lehmann: 2001). Lehmann beschreibt damit eine seit den 1970er Jahren auftretende, vielge-

staltige theatrale Diskursform. Das postdramatische Theater ist gekennzeichnet durch die Über-

windung der „Vorherrschaft des Textes“ (ebd.: 21) im Sinne „nachvollziehbarer narrativer und

gedanklicher Totalität“ (ebd.: 21). Der Text wird im postdramatischen Theater gleichberechtigter

Bestandteil neben anderen Theaterzeichen, worunter virtuell alle Elemente des Theaters zu ver-

stehen sind (vgl. ebd.: 139). Postdramatisches Theater ist Theater an der Grenze zur Performance

Art. Die Darsteller_in1 tritt nicht mehr primär als Rolle, als Verkörperung einer Figur auf, son-

dern in ihrer Präsenz als Performer_in, als provokante Verkörperung ihrer selbst (vgl. ebd.: 243).

Die Aufführung in ihrer Gesamtheit gerät zu einem Ereignis, einer sozialen Situation, in welcher

den Zuschauer_innen ihre Anwesenheit im Hier und Jetzt bewusst wird (vgl. ebd.: 178). Nicht

behandeln werde ich in diesem Kontext ein Phänomen, welches verschiedene Autoren als ‚Ein-

bruch des Realen‘ oder ‚Pädagogisierung‘ des Theaters beschreiben. Gruppen und Regisseure

wie Rimini Protokoll oder Volker Lösch, welche im professionellen Theater mit Laien arbeiten

und sie als ‚Experten des Alltags‘ wie die Gruppe Rimini Protokoll zu Protagonisten ihrer Stücke

machen (vgl. Pinkert, 2012: 75).

Im dritten Kapitel wird auf Grundlage der vorherigen Kapitel anhand eines Beispiels dargelegt,

wie Theaterpädagogik im Sinne ästhetischer Bildung auf Mittel des postdramatischen Theaters

zurückgreifen kann. Die Überlegungen werden exemplarisch anhand einer Analyse von Szenen

aus der der Inszenierung „Paradise Mastaz“ der Hamburger Theatergruppe Hajusom ausgeführt.

Die Gruppe Hajusom ist ein Hamburger Theaterprojekt unter der Leitung von zwei Künstlerin-

nen, die mit Jugendlichen und jungen erwachsenen, unbegleiteten Flüchtlingen, Theaterstücke er-

arbeiten. Hajusom ist aufgrund der Adressat_innen und bestimmter organisatorischer Merkmale

als theaterpädagogisches Projekt im Kontext Sozialer Arbeit zu verorten. Die Theaterarbeit ist je-

doch stark ästhetisch-künstlerisch und nicht pädagogisierend ausgerichtet und die Praxis der Auf-

führungen kann als postdramatisch beschrieben werden.

1Der _Unterstrich oder Gender Gap steht für den Einbezug der weiblichen und männlichen Form, sowie der Perso-

nen, die sich nicht in eine Zweigesschlechtlichkeit einordnen (vgl. Röhr/ Höft, 2011: 15).

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1 Theaterpädagogik als ästhetische Bildung

Grundlage dieses Kapitels ist die 1995 von Ulrike Hentschel vorgelegte Doktorarbeit „Theater-

spielen als ästhetische Bildung - Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur

Selbstbildung“, welche 2010 in der dritter Auflage erschienen ist. Ulrike Hentschel ist Leiterin

des Studiengangs Theaterpädagogik an der Universität der Künste in Berlin.

In ihrer Arbeit verfolgt Hentschel das Ziel einer „Analyse der Bildungsbewegungen, die sich im

künstlerisch produktiv Tätigen, in diesem Falle theaterspielenden Subjekt, vollziehen.“ (Hent-

schel, 2010: 17) Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen nicht-professionelle Darsteller_innen.

Sie bezieht sich auf die Theaterarbeit im pädagogischen Bereich, auf den Gegenstand der Thea-

terpädagogik (vgl. ebd.: 17). In Abgrenzung zu Konzepten, welche Theater als Methode zur Er-

reichung außerästhetischer Ziele instrumentalisieren, schlägt Hentschel einen Perspektivwechsel

vor. Sie plädiert für einen Ansatz ästhetischer Bildung, welcher von den spezifischen Produkti-

onsbedingungen des Theaters ausgeht (vgl. Czerny, 2004: 67).

Zur Konzentration auf die bildungstheoretische Bedeutung des Theaterspielens abstrahiert Hent-

schel von den sozialen Prozessen, welche immer auch Teil von Theaterproduktionen sind (vgl.

Pinkert, 2010: 176). Auch die ästhetische Qualität der Darstellung auf der Ebene der Rezeption,

sowie mögliche politische Implikationen von Theaterarbeit, stehen nicht im Fokus der Betrach-

tung.

Dieses Kapitel folgt Hentschels Argumentationsverlauf, um im dritten Kapitel die Beschreibung

von Theaterpädagogik als ästhetische Bildung an den, durch das postdramatische Theater verän-

derten, Bedingungen theatraler Produktion zu überprüfen.

1.1 Definition Theaterpädagogik

Die Theaterpädagogik ist eine vergleichsweise junge Fachdisziplin, welche sich in den 1970er

Jahren zu entwickelten begann (vgl. Bidlow, 2006: 35). Sie ist heute fester Bestandteil künstleri-

scher Betriebe, kultureller und sozialer Einrichtungen, Bildungsinstitutionen, Hochschulen und

der kulturellen Öffentlichkeit (vgl. Nix/ Sachser/ Streisand, 2012: 9). Die Ausbildung hat sich

professionalisiert, es existieren unterschiedliche Fortbildungen sowie Bachelor- und Masterstudi-

engänge (vgl. Hentschel, 2010: 9).

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Das wissenschaftliche Selbstverständnis der Theaterpädagogik ist ein interdisziplinäres. „Sie ist

angesiedelt zwischen Kunstwissenschaft und Erziehungswissenschaft auf der einen Seite und als

handlungsorientierte Disziplin zwischen Kunstpraxis und pädagogischer Praxis auf der anderen

Seite.“ (ebd.: 27)

„Ob Gefängnis, Psychiatrie, Fremdsprachenunterricht, Schule, Seniorenheim, Jugendfreizeitstätte

oder Kunstschule - kaum ein Gebiet auf dem mit Theatermitteln oder Theatermethoden nicht ge-

arbeitet wird bzw. werden könnte.“ (Nix/ Sachser/ Streisand, 2012: 10) Entsprechend heterogen

sind theoretische Ansätze und Methoden, entsprechend vielfältig gestaltet sich das Arbeitsfeld

von Theaterpädagog_innen (vgl. ebd.: 10). Es scheint also, als könne man mit Theater alles errei-

chen (vgl. Hentschel, 2010: 18). Die häufig verallgemeinernden und instrumentalisierenden

Hoffnungen werden durch Hentschels Analyse der Theaterpädagogik als ästhetische Bildung hin-

terfragt und kritisiert.

In diesem Sinne soll Theaterpädagogik im Rahmen dieser Arbeit zunächst definiert sein als die

professionelle, zumeist in Projekten verlaufende, auf Prozess und Produkt ausgerichtete Theater-

arbeit mit nicht-professionellen Darsteller_innen mit dem Ziel einer Aufführung (vgl. Hentschel,

2005b: 131). Als Disziplin ästhetischer Bildung befasst sie sich mit der Vermittlung von wahr-

nehmenden und gestaltenden Prozessen im künstlerischen Medium Theater (vgl. Hentschel,

2001: 41).

Das Theaterspiel ist der Kern theaterpädagogischer Arbeit. „Ohne das Theaterspiel ist die Thea-

terpädagogik nicht möglich, sie wäre ihres Gegenstandes beraubt.“ (Bidlo, 2006: 20) Wo ledig-

lich mit theaterpädagogischen Methoden gearbeitet wird, sich die Zielsetzung der Arbeit jedoch

auf einen außer-künstlerischen Gegenstand bezieht, findet im Sinne Hentschels noch keine Thea-

terpädagogik statt (vgl. Hentschel, 2005b: 131).

1.2 Ästhetische Bildung

Im Folgenden soll der Begriff der ästhetischen Bildung genauer betrachtet werden. Hierzu er-

scheint es notwendig, zunächst die Begriffe Ästhetik und Ästhetische Erfahrung einzuordnen und

zu beschreiben. Im Anschluss wird eine Problematisierung des Begriffs sowie der Begründungs-

zusammenhänge ästhetischer Bildung vorgenommen. Diese Argumentation erscheint notwendig,

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um im Sinne Hentschels das Wesen ästhetischer Bildung „als Auseinandersetzung des Subjekts

mit sich selbst im Medium der Kunst“ (Hentschel, 2010: 19) zu beschreiben. Davon ausgehend

werden in Abschnitt 1.3 Rückschlüsse auf die spezifischen ästhetischen Erfahrungen im Medium

Theater gezogen und in Abschnitt 1.4 Potentiale ihrer bildenden Wirkung abgeleitet.

1.2.1 Ästhetik

Der Begriff Ästhetik, aus dem Griechischen aisthesis, beschreibt die sinnliche Wahrnehmung

oder auch Sinnwahrnehmung (vgl. Jäger/ Kuckhermann, 2004: 11; Hentschel, 2009: 9). Histo-

risch betrachtet hat der Begriff der Ästhetik seit dem 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Um- und

Neudeutungen erfahren. Im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen, welche als postmodern

beschrieben werden, ist die Ästhetik weiterhin Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen (vgl.

Kolesch, 2005: 6 ff.).

Dieser Umstand lässt eine Einordnung des Begriffs im Rahmen dieser Arbeit als notwendig er-

scheinen. Aktuell muss von zwei voneinander zu differenzierenden Bedeutungen ausgegangen

werden (vgl. Jäger/ Kuckhermann, 2004: 11). Im umfassenden Sinn wird Ästhetik beschrieben

als „Lehre von der menschlichen Sinneswahrnehmung“ (ebd.: 11), auch als „Alltagsästhetik“

(ebd.: 12) bezeichnet, und damit als Teil jeder Menschlichen (Sinnes-) Erfahrung. In Abgrenzung

zur anderen Bedeutungen wird diese allgemein-wahrnehmungsorientierte Ästhetik auch als

Aisthetik bezeichnet (vgl. Kolesch, 2005: 6).

Im engeren Sinne wird Ästhetik, wenn auch „etwas verkürzt, als Theorie und Praxis der Kunst“

(Jäger/ Kuckhermann, 2004: 11) verstanden, bzw. die Kunst als Gegenstand der Ästhetik (vgl.

Hentschel, 2009: 9). Ästhetik ist in diesem Sinne nicht Teilaspekt jeder menschlichen Tätigkeit,

sondern wird im Kontext von Kunst zum zentralen Bezugspunkt des Handelns (vgl. Jäger/

Kuckhermann, 2004: 14).

In beiden Fällen ist Ästhetik nicht als Eigenschaft eines (künstlerischen) Objektes oder Ereignis-

ses zu begreifen (vgl. ebd.: 13). Ästhetik entsteht vielmehr im Wahrnehmungsurteil des Subjekts,

in der produzierenden oder rezipierenden Auseinandersetzung mit dem Gegenstand (vgl.

ebd.: 13).

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Folgt man Hentschels Beschreibung von ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung als Po-

tential der besonderen „Auseinandersetzung des Subjekts im Medium der Kunst“ (Hentschel,

2012: 64), erscheint es sinnvoll, der letzten Definition zu folgen. Andernfalls würde die für das

Verhältnis von Kunst und Leben konstitutive Spannung, die distanzierende Funktion der ästheti-

schen gegenüber der alltäglichen Erfahrung, verloren gehen (vgl. Hentschel, 2010: 13). Es ist je-

doch gerade diese Differenzerfahrung, welche Hentschel als Grundbedingung der ästhetischen

Bildung im Kontext von Theaterpädagogik hervorhebt (vgl. ebd.: 13). Daher soll hier ausgegan-

gen werden „von einer Distanz der Kunstpraxis gegenüber einer wahrnehmungsfähigen Alltags-

praxis“ (Hentschel, 2010: 20).

1.2.2 Ästhetische Erfahrung

Die ästhetische Erfahrung bezeichnet einen spezifischen Modus von Erfahrung, welcher sich ins-

besondere im Umgang mit Kunst, jedoch auch durch andere ästhetische Phänomene, wie bei-

spielsweise das einer Naturerfahrung, realisieren kann (vgl. Fischer-Lichte, 2005: 94).

Voraussetzung der ästhetischen Erfahrung sind drei aufeinander bezogene Elemente: ein Subjekt,

ein Gegenstand/ Ereignis und eine vermittelnde Aktivität (vgl. Jäger/ Kuckhermann, 2004: 13).

Ästhetische Erfahrung ist dann die subjektive Wahrnehmung durch Sinnesaktivität und zugleich

die darauf bezogene Deutungsarbeit. Sie entsteht in der Beziehung von Subjekt und Gegenstand,

als unmittelbares, emotionales Erleben, wie auch als bewusstes Empfinden und Erkennen (vgl.

ebd.: 13). Ihr Inhalt besteht dabei „weniger in dem Was als in der Prozessualität der Erfahrung

selbst“ (Fischer-Lichte 2005: 95). Die Erfahrung bezieht sich also eher auf die Frage danach, Wie

und als Was ein wahrgenommenes Objekt in Erscheinung tritt (vgl. ebd.: 101). Sie steht damit in

Differenz zu Erfahrungen des Alltags und führt zu einer Durchbrechung der in der alltäglichen

Lebenswelt vorherrschenden Wahrnehmung (vgl. ebd.: 101).

Die Potentialität der Erfahrung im ästhetischen Erleben ist je nach Kunstform oder Medium un-

terschiedlich (vgl. Pinkert, 2010: 176). In Abschnitt 1.3 werden die spezifischen Möglichkeiten

der Differenzerfahrung, welche sich im Prozess der theatralen Gestaltung ergeben, dargelegt. Im

Folgenden Abschnitt 1.2.3 soll jedoch zunächst auf die im pädagogischen Kontext mit der ästhe-

tischen Erfahrung verknüpften Bildungserwartungen eingegangen und diese problematisiert wer-

den.

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1.2.3 Aporie ästhetischer Bildung

Als „Aporie ästhetischer Bildung“ (Hentschel, 2010: 72) beschreibt Hentschel einen Wider-

spruch, welcher sich aus dem Spannungsfeld von Ästhetik und Pädagogik ergibt. Die Idee einer

Kunst, die sich frei entfalten können muss, steht im Konflikt zur ästhetischen Erziehung und Pä-

dagogik, durch welche die Kunst an einen Zweck gebunden wird (vgl. Bidlow, 2006: 33).

Sie deutet sich bereits in Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (vgl.

Schiller, 2000) an, in welchen erstmals systematisch die Frage nach der bildungstheoretischen

Bedeutung der Ästhetik und der ästhetischen Erfahrung gestellt wird (vgl. Hentschel, 2010: 32).

Schiller spricht sich in ihnen gegen jede Funktionalisierung ästhetischer Erfahrung aus und lehnt

jegliche inhaltliche Festlegung der Wirkung ästhetischer Erziehung ab (vgl. Hentschel,

2005a: 44). Sein ursprüngliches Ziel, „die erzieherische Funktion der Kunst bei der Wiederge-

winnung der Ganzheit des Menschen nachzuweisen und sie als Voraussetzung für die politische

Umgestaltung der Gesellschaft zu legitimieren“ (ebd.: 44) gelingt ihm dabei nicht, die Argumen-

tation bleibt widersprüchlich.

Der Versuch, die ästhetische Erfahrung im pädagogischen Kontext als bildend zu begreifen und

zu definieren, hat seit Schiller vielfältige Umformulierungen erfahren (vgl. Hentschel,

2009a: 10). Diese führen jedoch immer wieder zu einer Verzweckung der ästhetischen Erfahrung

(vgl. Hentschel, 2010: 31). Als Verzweckung müssen alle Unternehmungen gedeutet werden,

welche als Ziel der ästhetischen Bildung außerästhetische Zwecke angeben. Denn durch die In-

strumentalisierung und Funktionalisierung für gesellschaftliche, politische, religiöse oder morali-

sche Ziele, verliert sich die besondere Qualität künstlerischer Objekte und Ereignisse (vgl.

ebd.: 236).

Unterschieden nach ihrem Begründungszusammenhang lassen sich für die Theaterpädagogik drei

Arten theoretischer Legitimation beschreiben, auch wenn diese in der Praxis selten überschnei-

dungsfrei auftreten. Sie sollen hier kurz skizziert werden.

Anthropologische Begründungen gehen davon aus, dass Spiel und Theater dem Menschen we-

sensmäßig innewohnen und der Vollzug entsprechend unverzichtbar für das menschliche Dasein

ist. Kulturpädagogischen Begründungen geht es dagegen um eine Erziehung zur Kunst, um die

Weitergabe von kultureller Bildung und die Bewahrung kultureller Werte. Sozialisationstheoreti-

sche Begründungen lassen sich als Erziehung durch Kunst beschreiben. Sie gehen davon aus,

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dass im theaterpädagogischen Bildungsprozess Qualifikationen im Sinne gesellschaftlicher Hand-

lungsfähigkeiten erworben und eingeübt werden (vgl. ebd.: 123).

Als neueste Variante, im Kontext der Diskussion um die Postmoderne, wird die Kunsterfahrung

als modellhaft für die Erfahrung einer heterogenen und pluralistischen Gesellschaft angesehen

und funktionalisiert (vgl. Hentschel, 2009a: 10). Hentschels Auswertung historischer und zeitge-

nössischer Bildungsvorstellungen im Kontext von Theaterpädagogik zeigt insgesamt eine Domi-

nanz der nicht-ästhetischen Zielsetzungen (vgl. Hentschel, 2010: 133).

Die unterschiedlichen Hoffnungen auf Wirkweisen ästhetischer Bildung im Sinne der Entwick-

lung aktueller, wünschenswerter Kompetenzen, beruhen dabei kaum auf wissenschaftlichen Er-

kenntnissen. Sie gleichen eher Heilsversprechen und dienen häufig der Legitimation

künstlerischer Fächer im Wettkampf um Ressourcen und Fördermittel. Damit einher geht die Ge-

fahr, dass der Gegenstand, der spezifische, künstlerische Prozess, gegenüber den Zielen beliebig

und somit austauschbar wird (vgl. Hentschel, 2008: 83).

Hentschel versucht die dargelegte Aporie in der Hinsicht aufzulösen, dass sie, ausgehend von

Künstlertheorien nach den spezifischen Erfahrungsmomenten im Theater, genauer bei der Tätig-

keit des Schauspielens sucht (vgl. Hentschel, 2010: 73). Auf Zielformulierungen, welche die äs-

thetische Erfahrung des Theaterspielens und ihre bildenden Potentiale außerästhetischen

Zwecken unterordnen, wird bewusst verzichtet. Die bildende Qualität wird abgeleitet aus der

Praxis der Kunst, der ästhetischen Erfahrungen der Spielenden im Prozess der theatralen Gestal-

tung unter Berücksichtigung der spezifischen Materialität des Theaters (vgl. Czerny, 2004: 18).

1.3 Ästhetische Erfahrung im Theater

Um die Spezifika der ästhetischen Erfahrung im Theater herauszuarbeiten, geht Hentschel von

der besonderen Materialität des Theaters, von seinen Grundkonstituenzien aus. Diese theaterwis-

senschaftliche Perspektive wird im folgenden Abschnitt 1.3.1 nachvollzogen. Zur Analyse der

subjektiven Erfahrung der Spielenden nutzt Hentschel verschiedene, von Theaterpraktikern ent-

wickelte Künstlertheorien. Der Nutzen dieser Theorien bei der Beschreibung ästhetischer Erfah-

rung im Theater wird in Abschnitt 1.3.2 thematisiert. Darauf aufbauend werden in Abschnitt

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1.3.3 anhand fünf von Hentschel entwickelter Kategorien Potentiale ästhetischer Erfahrung im

Theater beschrieben.

1.3.1 Ästhetik des Theaters

Der Argumentation Hentschels folgend, sollen in diesem Abschnitt die für die Argumentation re-

levanten, spezifischen Bedingungen und Grundannahmen der Ästhetik des Theaters aus theater-

wissenschaftlicher Perspektive dargelegt werden.

Das theatrale Kunstwerk realisiert sich im Ereignis der Aufführung, in der gleichzeitigen Anwe-

senheit von Sender_in und Empfänger_in, in direkter Kommunikation. Im Unterschied zu ande-

ren künstlerischen Medien ist es nicht an einen materiellen Gegenstand gebunden. Der Begriff

des Ereignisses erscheint zentral, in ihm verdeutlicht sich die Einmaligkeit und damit

Unwiederholbarkeit des Theaterereignisses. Es ist abhängig von den „situativen Wahrnehmungs-

und Verstehensbedingungen“ (Hentschel, 2010: 136) aller Beteiligten, und somit immer auch als

soziale Situation zu begreifen. Als solche lässt sie sich auch mit technischen Aufzeichnungen

nicht festhalten. Aufgehoben ist die Aufführung nur als Erlebnis, in der Erinnerung der Produ-

zent_innen und Rezipient_innen (vgl. ebd.: 134 ff.). Das Theaterspielen soll in diesem Sinne als

ein Erzeugen und Erfahren von Wirklichkeit begriffen werden, nicht als Abbild von Wirklichkeit,

im Sinne von „als ob“ oder „Quasi-Realität“ (ebd.: 74).

Ein weiteres Kennzeichen der theatralen Kommunikationsstruktur begründet sich durch seine

Doppelschichtigkeit, der doppelten Anwesenheit der Akteur_in auf der Bühne als Spieler_in und

Figur (vgl. ebd.: 136). Im Prozess des Schauspielens bleibt das künstlerische Objekt, die gestalte-

te Rolle, an das produzierende Subjekt, den Körper der Spieler_in gebunden. Die Rezipi-

ent_innen verhalten sich reziprok zu der Doppelschichtigkeit der Spieler_innen, indem sie sich

auf beide Ebenen der Wirklichkeit beziehen. Der Prozess theatraler Kommunikation basiert auf

der Balance der beiden Wirklichkeitsebenen sowohl auf Seiten der Zuschauer_innen als auch auf

Seiten der Spieler_innen (vgl. ebd.: 137). Dieser Zustand kann in seiner Gesamtheit als eine Art

„metakommunikative Vereinbarung“ (Czerny, 2004: 69) verstanden werden.

Die subjektiven Bedingungen und Auswirkungen auf das spielende Subjekt werden ausführlich in

den Abschnitten 1.3.3 und 1.4 behandelt.

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Die Doppelschichtigkeit setzt sich in allen weiteren im Theater verwendeten Zeichen und Sym-

bolen fort. Die theatralen Zeichen, z.B. Requisiten, sind immer doppelt vorhanden. Als Material

in der Wirklichkeit des Bühnenraums aber auch in der Wirklichkeit des Spiels (vgl. Hentschel,

2010: 138). Hentschel bezieht sich an dieser Stelle explizit auf die Arbeiten zur Theatersemiotik

der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte. Da die im Theater verwendeten Zeichen be-

reits als Zeichen eines kulturellen Systems fungieren, werden sie beschrieben als „Zeichen von

Zeichen“ (Fischer-Lichte, 2007: 181). Im Theater findet in diesem Sinne eine kulturelle Verdop-

pelung statt. Ein besonderes Merkmal des theatralen Zeichens ist seine „Polyfunktionalität“

(ebd.: 183). In seiner Bedeutungserzeugung ist es nicht konventionell festgelegt, sondern flexibel

und wandelbar. Theatrale Zeichen können auf immer neue, unkonventionelle Art und Weise

strukturiert und verwendet werden. „Damit vermögen sie auf noch nicht verwirklichte, aber po-

tentiell denkbare Möglichkeiten einer Gesellschaft hinzuweisen.“ (Hentschel, 2010: 139)

Da Hentschel sich in ihren Ausführungen auf das „(Literatur)-Theater“ (ebd.: 27) bezieht, soll an

dieser Stelle noch kurz auf das Verhältnis von dramatischem Text und seiner theatralen Inszenie-

rung hingewiesen werden. Im Sinne einer „Emanzipation vom Primat des Textes“ (ebd.: 184)

wird die Theateraufführung nicht mehr als reine Realisation des Dramas begriffen. Zur Bestim-

mung des Verhältnisses wählt Hentschel den Begriff der „Intertextualität“ (ebd.: 154). Die Insze-

nierung wird betrachtet als Produkt einer kollektiven Auseinandersetzung mit dem Text, ohne

dabei normativen Maßstäben zu folgen. Ihr Ergebnis ist neu und einzigartig. „Die Geschichte, die

auf der Bühne erzählt wird, ist damit immer auch die Geschichte derjenigen, die sie erzählen.“

(ebd.: 154) Die als intertextuell begriffene Inszenierungspraxis wiederspricht dadurch sowohl der

Forderung nach Werktreue, als auch der scheinbaren Beliebigkeit, welche sich aus der Analyse

Fischer-Lichtes ergibt (vgl. ebd.: 154).

1.3.2 Künstlertheorien

Ausgehend von der Annahme, dass sich ästhetische Bildung im Vorgang des künstlerischen Ge-

staltens selbst vollzieht, gilt es die spezifischen Erfahrungen der Subjekte in eben diesem Prozess

zu beschreiben. Als Grundlage der Analyse nutzt Hentschel Künstlertheorien von Theaterprakti-

kern des 20. Jahrhunderts (vgl. Hentschel, 2010: 155). Sie konzentriert sich dabei auf explizit

dargelegte Konzeptionen zur Theater- und Schauspielpraxis von Stanislavskij, Cechov,

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Vachtangow, Straßberg und Brecht. Wenn auch teilweise nur verstreut und fragmentarisch vor-

handen, gehen diese Theorien von konkreten, in der Praxis des Theaters auftretenden Problem-

stellungen aus und versuchen diese durch Reflektion, angebunden an eine experimentelle Praxis,

zu lösen (vgl. Hentschel 2001: 41).

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, wie in den Künstlertheorien das Wie des

theatralen Gestaltens, seine spezifischen Bedingungen und Erfahrungen, beschrieben werden.

Das Was, als Ergebnis des Prozesses, wird von der Analyse zunächst ausgenommen (vgl. Hent-

schel, 2010: 155). Dadurch wird es möglich, Parallelen auch in solchen Theorien zu entdecken,

welche traditionell als antagonistisch verstanden werden, wie beispielsweise die Konzepte von

Straßberg und Brecht.

Im Sinne eines „reflektierten Handlungswissens“ (Hentschel, 2001: 42) sind Künstlertheorien ge-

eignet, um den spezifischen Charakter ästhetischer Erfahrung im Theater, sowie die ihnen imma-

nenten Bildungsprozesse, herauszuarbeiten. Durch die Beschreibung des künstlerischen

Produktionsprozesses als Konstitutionsleistung eines produzierenden Subjekts, wird der konstru-

ierende, also wirklichkeitserzeugende Charakter der Tätigkeit deutlich (vgl. ebd.: 41). Auf der

Suche nach dem besonderen Erfahrungsmodus der Spier_innen erscheint es dabei als nebensäch-

lich, dass sich die Konzepte mit professionellem Theater und also auch professionellen Schau-

spieler_innen auseinandersetzten (vgl. Hentschel, 2010: 155).

Die genaue, vergleichende Analyse der verschiedenen Künstlertheorien kann an dieser Stelle

nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Im anschließenden Abschnitt werden lediglich die Er-

gebnisse der Herleitungen Hentschels zusammengefasst.

1.3.3 Erfahrung des „Dazwischen seins“

Unter der Voraussetzung der in Abschnitt 1.3.1 beschriebenen theaterwissenschaftlichen Charak-

teristika theatraler Produktion, entwickelt Hentschel aus den Künstlertheorien (vgl. Ab-

schnitt 1.3.2) „die Erfahrung der Differenz als ein zentrales Merkmal der mit dem Theaterspielen

einhergehenden ästhetischen Erfahrung.“(Hentschel, 2012: 66) Sie ergibt sich aus dem besonde-

ren Verhältnis von Subjekt und Objekt, als spezifische Qualität der ästhetischen Erfahrung im

Theater. Eine Erfahrung, die „durch die paradoxe Struktur des Spiels gekennzeichnet ist, in der

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Wirklichkeit sowohl konstruiert als auch dekonstruiert“ (ebd.: 69) wird. Dies bedeutet ein aushal-

ten gleichzeitiger, widersprüchlicher Zustände, welche sich aus der „Ambiguität von Spieler[_in]

und Figur, von subjektivem Erleben und objektivierender Gestaltung“ (Weintz, 2008: 338) erge-

ben.

Die Erfahrung des „Dazwischen“, als durchgängigen und zentralen Erfahrungsmodus, unterteilt

Hentschel in fünf Kategorien, die im Folgenden genauer betrachtet werden. Die Kategorisierung

folgt dabei primär einer instrumentellen Absicht (vgl. Hentschel, 2010: 160).

1.3.3.1 Zwischen Spieler_in und Figur

Im Zustand der Gleichzeitigkeit, in ihrer Funktion als Material, Produzent und Produkt der

theatralen Gestaltung, erfahren die Spielenden sich selbst im Spannungsfeld zwischen der eige-

nen Person und der zu gestaltenden Figur. Die Spielenden erleben sich in einem Zustand des

‚sowohl als auch‘. „Sie sind sowohl sie selbst als auch die Figur“ (Hentschel, 2010: 188). Die

beiden Identitäten oder Ebenen finden im Moment der Aufführung parallel statt, es herrscht ein

Zustand des Ausbalancierens, ein labiles Gleichgewicht. Das gleichzeitige Vorhandensein muss

den Spielenden dabei zu jeder Zeit bewusst sein, um das Moment der künstlerischen Gestaltung

nicht zu verlieren (vgl. ebd.: 188). Mit Bezug auf den amerikanischen Theateranthropologen Ri-

chard Schechner beschreibt Hentschel diesen Zustand als einen der „doppelte Negation“

(Schechner, 1991: 233). Die Spieler_in ist im Moment der Aufführung nicht sie selbst, da es sich

beim Theaterspielen um keine reine Selbstdarstellung handelt. Zugleich ist sie aber auch nicht

nicht sie selbst, denn sie ist ja körperlich anwesend und schafft mit ihren Handlungen die

theatrale Wirklichkeit (vgl. ebd.: 233). Für die Spielenden ist das Erleben der Gleichzeitigkeit im

Übergang zwischen „Nicht-Ich“ und „nicht Nicht-Ich“ eine zentrale ästhetische Erfahrung, wel-

che sich aus der theatralen Gestaltung ergibt (vgl. Hentschel, 2010: 189).

1.3.3.2 Zwischen den Ereignissen

Zur Gestaltung komplexer Handlungszusammenhänge im Rahmen eines Theaterstücks und bezo-

gen auf eine einzelne Rolle müssen die vielschichtigen Zusammenhänge in überschaubare, kon-

krete Vorgänge untergliedert werden (vgl. Hentschel, 2010: 196 f.). Als Beispiel kann hier der

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schauspieltechnische Merksatz „Wahrnehmen – Bewerten – Reagieren“ dienen. Er beschreibt ei-

ne Handlungsabfolge im Sinne eines Dreischritts, welcher im alltäglichen Leben meist als unge-

teiltes Ganzes, als Handlung erscheint. Im szenischen Gestalten werden auf diese Weise

vielschichtige Bedingungszusammenhänge bewusst gemacht (vgl. ebd.: 197).

Für Theater, welches in irgendeiner Form die Beziehung zwischen Menschen verhandelt, ist da-

bei ein wesentliches Element, den Moment zwischen Handlungsabsicht und Durchführung zu be-

tonen. Die Zeitspanne des Zögerns oder Abwägens von Handlungsalternativen erscheint als

gedehnt und führt bei den Spielenden zu einer darauf bezogenen, besonderen Zeiterfahrung (vgl.

ebd.: 197). Diese wiederum findet aus einer doppelten Perspektive statt. Für die Spieler_in als

Moment „zwischen Gestaltungsabsicht und Gestaltungsrealisation“ (ebd.: 198), für die Figur als

„zwischen Motiv, Absicht und Handlung“ (ebd.: 198).

1.3.3.3 Zwischen Bühne und Publikum

Die theatrale Gestaltung stellt an die Spielenden die Anforderung der gleichzeitigen Konzentrati-

on auf die Wirklichkeit der Bühne und die des Zuschauerraums bzw. eines Wechsels zwischen

beiden Orten. Unabhängig von der Frage, ob das Spiel als scheinbar abgeschlossen hinter der

vierten Wand im Sinne Stanislavskis und Straßbergs, oder durch ihre Aufhebung als direkte

Kommunikation mit dem Publikum im Sinne Brechts begriffen wird, muss von dieser Differenz-

erfahrung ausgegangen werden. Sie ist nicht dauerhaft zu einer der Seiten aufzulösen (vgl. Hent-

schel, 2010: 207).

Als Voraussetzung dieser wechselhaften, flexiblen Aufmerksamkeit nennt Hentschel die Fähig-

keit der bewussten Wahrnehmung und der Wahrnehmung des eigenen Wahrnehmens. In der Er-

fahrung und Bewusstwerdung der eigenen Wahrnehmung, des eigenen Wahrnehmungsverhaltens

und ihrer Funktionsweisen, deutet sich das besondere „reflexive Verhältnis des Subjekts zu sich

selbst“ (ebd.: 208) im Prozess theatraler Gestaltung an.

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1.3.3.4 Zwischen Körper haben und Körper sein

Die Differenzerfahrung von Körper haben und Körper sein betrachtet die in Abschnitt 1.3.3.1 be-

schriebene Doppelerfahrung von Spieler_in und Figur unter dem besonderen Aspekt der Leib-

lichkeit. Die absichtsvolle Gestaltung mit dem eigenen Körper setzt dessen Objektivierung

voraus, die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung (vgl. Hentschel, 2010: 223). Die Spielenden erleben

einen Wechsel der Wahrnehmungsperspektiven, „zwischen dem Betrachten des eigenen Körpers

von außen und dem Handeln und Erleben im eigenen Körper“ (ebd.: 223).

Verschiedene Schauspieltheorien akzentuieren dabei unterschiedlich, betonen stärker die Ebene

des inneren Wahrnehmens oder des äußerlichen Betrachtens. Entsprechend erfolgt die Erarbei-

tung einer Rolle entweder eher vom inneren Erleben nach außen oder vom Äußeren, dem Körper

zum inneren Erleben der Figur. Dennoch gehen alle Theorien „von einem engen psycho-

physischen Zusammenwirken aus“ (ebd.: 223).

Die nicht aufzulösende Differenz zwischen Körper haben und Körper sein wird in jedem Fall

bewusst erfahren. Durch probieren und trainieren von Körper und Wahrnehmung wird die Fähig-

keit, mit dem eigenen Körper bewusst umzugehen und zu gestalten, erweitert (vgl. ebd.: 224).

1.3.3.5 Zwischen Sinn und Sinnlichkeit

Die Textgestaltung, das Sprechen auf der Bühne, ist wesentlicher Teil der Verkörperung, des

leiblichen Ausdrucks, und wird an dieser Stelle gesondert betrachtet. Die Spielenden stehen im

auf Literatur basierenden Theater vor der Aufgabe, sich einerseits intellektuell mit dem Sinn des

Textes auseinanderzusetzen und ihn andererseits sinnlich sprechend zu verkörpern. Dieser Pro-

zess findet dabei nicht nacheinander, sondern gleichzeitig statt (vgl. Hentschel, 2010: 224).

Der gesprochene Text ist dabei nicht Doppelung oder Repräsentation des geschriebenen, sondern

erfährt durch die sinnliche Gestaltung eine neue Dimension, welche schriftlich nicht enthalten ist.

Im Sinne des „Sprechens als Werkzeug des Handelns“ (ebd.: 233) sind Bedeutungen abhängig

vom Moment, vom situativen Kontext auf der Bühne und immer von dialogischem Charakter

(vgl. ebd.: 133).

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Unter Annahme der Ausführungen in Abschnitt 1.3.3.1 muss davon ausgegangen werden, dass

auch der Sub-Text, als Untertext der Figur und Untertext der Spieler_in, doppelt vorhanden ist.

Daraus ergibt sich sowohl eine intrasubjektive Dimension als auch eine intersubjektive, nämlich

durch den Dialog zwischen den Subjekten. Im Gegensatz zur alltäglichen Kommunikation wird

die Komplexität des Vorgangs für die Spielenden im Prozess des Gestaltens bewusst erfahrbar

(vgl. ebd.: 135). „In diesem Verständnis steht nicht ein zu verhandelndes Thema, ein ‚Stoff‘ im

Mittelpunkt des dramatischen Textes, sondern der Akt des Miteinandersprechens selbst und das

Scheitern dieses Aktes werden thematisiert.“ (ebd.: 135)

1.4 Bildungspotentiale ästhetischer Erfahrung im Theater

Ausgehend von der Materialität der Kunstform Theater wurden die Besonderheiten der ästheti-

schen Erfahrung im Prozess theatraler Gestaltung aus den Künstlertheorien entwickelt. Im Ge-

gensatz zu einer Ausweitung des Gegenstands ästhetischer Bildung, leitet Hentschel aus den

spezifischen Erfahrungen der Subjekte Bildungsmöglichkeiten ab, welche sich im künstlerischen

Prozess ergeben können (vgl. Hentschel, 2010: 237).

Der Begriff Bildung muss dabei im Sinne Hentschels als „Selbstbildung des Subjekts in der Be-

gegnung mit seiner Umwelt“ (ebd.: 19) verstanden werden. Die Betonung liegt auf dem selbstbe-

stimmten und subjektiven Charakter von Bildung oder „Bildungsbewegungen“ (ebd.: 238).

Aus dem zentralen Erfahrungsmodus der „Differenz“, des „Dazwischen Stehens“ entwickelt

Hentschel fünf Kategorien, um den ästhetisch bildenden Charakter der Erfahrung zu beschreiben.

Diese Wirkungsmöglichkeiten werden im Folgenden dargelegt. Die Unterteilung begründet sich

operational, in der Praxis handelt es sich um „ein Feld von sich gegenseitig bedingenden und

überschneidenden Erfahrungszusammenhängen.“ (ebd.: 238)

Als erste Kategorie umschreibt Hentschel die der „Ambiguitätserfahrung/ Differenzerfahrung/

Erfahrung des ‚Dazwischenstehens‘ “ (ebd.: 238). Die Ambiguität, als gleichzeitiges Erfahren

sich wiedersprechender Zustände und Situationen, wird im Theater am eigenen Leib erfahren.

Die Spieler_innen erleben sich in einer subjektiven Suchbewegung zwischen unterschiedlichen,

selbstbestimmt konstituierten Wirklichkeiten. Das Aushalten von Uneindeutigkeit, als „Fähigkeit,

unterschiedliche Wirklichkeiten zu konstruieren und nebeneinander bestehen zu lassen“

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(ebd.: 238), kann als Bildungsmöglichkeit betrachtet werden. Die beschriebene Erfahrung weist

möglicherweise über die theatrale Realität hinaus. Sie verweist auf die Konstruierbarkeit von

Körperlichkeiten und Körpern und macht die Konstruktion und Veränderbarkeit gesellschaftli-

cher Verhältnisse sichtbar (vgl. Hentschel 2012: 67).

Die zweite Kategorie, als „Erfahrung des Doppels von Gestaltung und Erleben“ (Hentschel,

2010: 239) ist eng mit der ersten Kategorie verbunden. Die szenische Gestaltung verlangt die

Aufrechterhaltung eines labilen, immer als bedroht erscheinenden Gleichgewichts zwischen (ob-

jektiver) Gestaltung und (subjektivem) Erleben. In Anlehnung an Adorno beschreibt Hentschel

diesen Zustand als ein Wechselspiel von „Subjektivierung des Objektiven und Objektivation des

Subjektiven“ (ebd.: 240). Diese Erfahrung und Fähigkeit steht, nach Adorno, im Gegensatz zu

dem Wunsch nach Eindeutigkeit, nach Auflösung des Spannungsverhältnisses im Sinne einer

„intolerance of ambiguity“ (Adorno, 1970: 176). Den Wunsch nach Eindeutigkeit, die „Unduld-

samkeit gegen das Ambivalente, nicht säuberlich Sublimierbare; am Ende gegen das Offene, von

keiner Instanz Vorentschiedene, gegen Erfahrung selbst“ (ebd.: 176) charakterisiert er als Ab-

wehrmechanismus eines schwach ausgebildeten Ichs, als Zug der autoritären Persönlichkeits-

struktur.

Als „Darstellung des ‚Nicht-Darstellbaren‘ “ (Hentschel, 2010: 240) beschreibt Hentschel die

dritte Kategorie. Im Prozess theatraler Gestaltung bleibt die Zeichenproduzent_in (Spieler_in) im

künstlerischen Zeichen (Figur) immer anwesend (vgl. ebd.: 240). Eine wesentliche Erkenntnis im

Theater, ist die der Nicht-Darstellbarkeit von Wirklichkeit. Der Tod auf der Bühne findet nicht

statt, vielmehr muss ein Zeichen für ihn gefunden werden, welches nicht mit dem Bezeichneten

identisch ist. Das Wissen um diesen Zustand führt zu der grundlegenden Erkenntnis „um die

unhintergehbare Kluft zwischen Sein und Schein.“ (ebd.: 241) Sie befähigt außerdem die Produ-

zent_innen zur Suche nach künstlerischen Mitteln und Ausdrucksweisen, welche in der theatralen

Wirklichkeit als angemessen erscheinen. So wird im Prozess der szenischen Aktion die Konstruk-

tion von Wirklichkeit durch theatrale Zeichen erlebbar. Gleichzeitig verweist sie auf die Unmög-

lichkeit der Abbildung von Realität. Diese Erkenntnis kann auch auf den Umgang mit neuen

Medien und Formen technologischer Kommunikation übertragen werden (vgl. ebd.: 241).

Die vierte Kategorie überschreibt Hentschel mit den Begriffen „Erfahrungsfähigkeit und Selbst-

vergessenheit“ (ebd.: 241). Angesprochen wird hier die Fähigkeit, sich im Spiel immer wieder

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neu auf das Erleben des Augenblicks einzulassen und gleichzeitig das Wissen und die Erfahrung

des Zukünftigen zu behalten (vgl. ebd.: 242). Diese beiden Grundfähigkeiten, „spielerische Nai-

vität“ (ebd.: 242) auf der einen und ein „synthesefähiges Ich“ (ebd.: 242) auf der anderen Seite,

stellen eine Herausforderung an die Persönlichkeit der Spielenden dar. Begreift man Identität als

Potential von Wandlung und Veränderung, als unabschließbaren Prozess, kann Theaterspielen

möglicherweise einen Beitrag zur Identitätsbildung leisten. Die eigenen Vorstellungen vom

Selbst können im gestalterischen, künstlerischen Prozess und in der Begegnung mit Mitspie-

ler_innen in Bewegung geraten und sich verändern (vgl. ebd.: 242 f.).

Die fünfte und letzte Kategorie bezeichnet Hentschel als Fähigkeit der „Selbstreflexivität“ (ebd.:

242). Der komplexe Prozess künstlerischer Produktion, der bewusste Umgang mit der eigenen

Aufmerksamkeit, dem eigenen Körper, erfordert Selbstreflexivität im Sinne einer exzentrischen

Selbstbetrachtung. Diese distanzierte und differenzierte Selbstbetrachtung ermöglicht in der Be-

ziehung zu anderen die Erfahrung, dass das eigene Selbst als sichtbares Objekt der oder des An-

deren existiert (vgl. Lehmann, 1991: 129). Sie relativiert außerdem das eigene Empfinden, die

subjektive Wahrnehmung. Der Facettenreichtum unterschiedlicher Wahrnehmungen von anderen

und auch die sich daraus ergebenden Widersprüchlichkeiten der Wahrnehmung werden bewusst

erfahren. Auf diese Weise ergeben sich grundsätzliche Einblicke in die Funktionsweisen von

Wahrnehmungsprozessen (vgl. Hentschel, 2010: 243).

1.5 Grenzen von Theaterpädagogik

In Abschnitt 1.4 wurden Bildungspotentiale beschrieben, welche sich aus der künstlerischen Pra-

xis des Theaters ergeben können. Die ästhetische Erfahrung wie auch die potentiell bildende

Wirkung, ergibt sich aus der Materialität es Theaters und der Tätigkeit des Spiels. Sie sind dem

Gegenstand Theater immanent und müssen nicht mit pädagogischer Absicht, quasi von außen,

hinzugefügt werden.

Es handelt sich dabei um Prozesse, welche zutiefst subjektiv und individuell sind. Ihre Realisati-

on ist abhängig von Entscheidungen und Fähigkeiten von jedem und jeder Einzelnen. Der

Wunsch aus pädagogischer Absicht heraus ästhetische Erfahrungen sicher herzustellen und zu

steuern, erweist sich als unmöglich. Es können lediglich Bedingungen geschaffen werden, in de-

nen ästhetisch bildende Prozesse möglich werden (vgl. Hentschel, 2010: 244).

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Theaterpädagog_innen können als Initiator_innen oder Vermittler_innen fungieren und versu-

chen, selbstbestimmte, künstlerische Prozesse in Gang zu setzten (vgl. Pinkert, 2010: 176). Ihr

tatsächliches Zustandekommen, wie auch ihr mögliches Scheitern, entzieht sich in weiten Teilen

einer direkten Einflussnahme (vgl. Hentschel, 2010: 244). Entsprechend lassen sich auch „keine

linearen Folgerungen im Hinblick auf gesellschaftlich wünschenswerte Zielsetzungen ableiten.“

(ebd.: 244) Die ästhetische Erfahrung lässt sich nicht vorab, im Sinne gesellschaftlich wün-

schenswerter Qualifikation, funktionalisieren. Ihr Zustandekommen und ihre eigene Qualität ge-

raten bei einem solchen Ansinnen eher in Gefahr (vgl. Hentschel, 2007: 5).

Die Subjektgebundenheit und Situativität der ästhetischen Erfahrung erweist sich auch als prob-

lematisch für die Forschung nach den bildenden Wirkungen des Theaterspielens (vgl. Pinkert,

2009: 11). Ein empirischer Nachweis, ein Messen ästhetischer Bildung, erweist sich als schwie-

rig. Dazu stellt Hentschel fest: „Die Suche nach geeigneten Methoden, die Aufschluss über die

Wirkung theaterpädagogischer Arbeit geben (und dabei nicht nach der Herstellung von so ge-

nannten Schlüsselqualifikationen fragen,) hat meines Wissens noch gar nicht begonnen.“ (Hent-

schel, 2009b: 72 f.)

Insgesamt wird deutlich, dass Theaterpädagogik viele Erwartungen, welche im aktuellen Legiti-

mationsdiskurs an sie herangetragen werden, nicht erfüllen kann. Dass Inhalte durch Theater bes-

ser vermittelt werden können, und gleichzeitig soziale Kompetenzen bzw. Soft-Skills erworben

und erweitert werden, ist bisher nicht belegt. Ihre besondere Qualität und auch ihr kritisches Po-

tential entwickelt Theaterpädagogik im Sinne ästhetischer Bildung in der entgegengesetzten

Richtung. Nämlich da, wo sie den Verwertungszusammenhang stört und zwischen gesellschaft-

lich wünschenswerten Kompetenzen und den im Theater möglichen ästhetischen Erfahrungen ei-

ne Distanz schafft (vgl. Hentschel, 2010: 10). Das erfordert immer auch ein kritisches

Bewusstsein über und Überprüfen von Möglichkeiten, die Theaterarbeit als Verfahren der Selbst-

disziplinierung zu vereinnahmen (vgl. ebd.: 11).

Künstlerisch motivierte Theaterpädagogik muss offen sein für neue Erfahrungen, und feststehen-

de Sinn- und Bedeutungszusammenhänge hinterfragen. Ziel kann sein „.aus einer experimentie-

renden und suchenden Haltung heraus, im Prozess theatraler Gestaltung gemeinsam

(künstlerisches) Wissen zu generieren und nach dessen Darstellungsmöglichkeiten zu fragen.“

(Hentschel, 2012: 70 f.) Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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2 Postdramatisches Theater

Postdramatische Theaterformen gewinnen im zeitgenössischen Theater zunehmend an Bedeutung

und haben Einzug auch in tradierte, große Häuser gehalten. Auch im Rahmen theaterpädagogi-

scher Inszenierungen wird sich auf das postdramatische Theater bezogen und mit seinen Mitteln

gearbeitet (vgl: Spinner, 2004: 5; Hentschel, 2010: 11; Pinkert, 2010: 177).

Als postdramatisch wird ein Theater beschrieben, welches sich vom dramatischen Text als

Grundlage und Vorschrift für die theatrale Inszenierung weitgehend befreit hat (vgl. Weiler,

2005: 245). Charakteristisch ist die Enthierarchisierung der Theatermittel bzw. aller theatraler

Zeichen, wodurch Aspekte wie Körper, Stimme, Raum und Zeit verändert hervortreten. Durch

die Aufgabe konventioneller Narration und der Orientierung an Rhythmen und assoziativen Fel-

dern findet eine dramaturgische Verschiebung statt. Die Repräsentationsfunktion von Theater tritt

in den Hintergrund, betont wird stärker seine eigene Gegenwärtigkeit, das Theater wird selbstre-

flexiv (vgl. ebd.: 248). Im Zuge dessen verändert sich auch die Aufgabe der Schauspieler_innen.

In unterschiedlichen Dimensionen „rückt ‚liveness‘, die provokante Präsenz des Menschen an-

stelle der Verkörperung einer Figur in den Vordergrund.“ (Lehmann, 2005: 243)

Im deutschsprachigen Diskurs geprägt wurde der Begriff des postdramatischen Theaters maßgeb-

lich durch den Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann und seine 1999 veröffentlichte Mo-

nographie mit dem Titel „Postdramatisches Theater“ (vgl. Weiler, 2005: 246). Lehmann verfolgt

in dieser Arbeit das Ziel, die ästhetische Logik und szenische Praxis eines Theaters zu entfalten,

welches seit den 1970er Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnt (vgl. Lehmann 2005: 13 ff.).

Sein Anliegen ist es, Kategorien und konzeptuelle Instrumentarien, also Worte zur positiven Be-

schreibung und Bestimmung der veränderten theatralen Praxis zu entwickeln und nutzbar zu ma-

chen (vgl. ebd.: 17). Der Begriff ist dabei konkret theaterästhetisch zu verstehen, nicht als

umfassende Epochenbeschreibung (vgl. ebd.: 19).

In diesem Kapitel werden zentrale Kennzeichen des postdramatischen Theaters im Sinne Leh-

manns dargelegt. Ein Schwerpunkt wird gelegt auf Aspekte, welche als geeignet erscheinen, po-

tentielle ästhetische Erfahrungen für die spielenden oder performenden Subjekte zu erforschen.

Im dritten Kapitel wird der Versuch unternommen, anhand einer Inszenierung Parallelen, Diffe-

renzen oder Radikalisierungen ästhetischer Erfahrungen im postdramatischen Theater zu analy-

Page 23: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

20

sieren. Die im ersten Kapitel dargelegten Annahmen zur ästhetischen Erfahrung im Theater wer-

den beispielhaft an einer postdramatischen Inszenierung überprüft, bzw. auf sie übertragen.

2.1 Vom Dramatischen zum postdramatischen Theater

In der europäischen Theatertradition wurde das Theater jahrhundertelang als „Theater des Dra-

mas“ (Lehmann, 2005: 20) begriffen. Die Aufführung, als Deklamation und Illustration des ge-

schriebenen Dramas, stand unter der Vorherrschaft des Textes. Der Text war „im Sinne von

nachvollziehbarer narrativer und gedanklicher Totalität bestimmend.“ (ebd.: 21) Trotz Verände-

rungen und Erweiterungen der non-verbalen Aspekte des Spiels wurde die Figur auf der Bühne

primär durch ihre Rede definiert. Die zentrale Funktion des Textes war die des Rollentextes. Das

dramatische Theater verstand sich als ein Modell des Realen, als fiktiver Kosmos, dessen Illusion

die Zuschauer_innen durch Phantasie und Einfühlung mit vollzogen (vgl. ebd.: 21).

Die Geschichte des Theaters im Verlauf des 20 Jahrhunderts beschreibt Lehmann als kontinuier-

liche Ablösung oder Autonomisierung des Theaters von der dramatischen Vorlage (vgl. Weiler,

2005: 247). Der zeitgenössische, postdramatische Theaterdiskurs ist das Ergebnis eines in Etap-

pen verlaufenden Prozesses von Selbstreflexion, Dekomposition und Trennung von Theaterele-

menten des dramatischen Theaters (vgl. Lehmann, 2005: 77). Wichtige Einflüsse kamen aus den

Bereichen der Performance und der Bildenden Kunst. Als Beispiele dieser Entwicklung, dem Be-

ginn des Experimentierens und der Autonomisierung oder Theatralisierung des Theaters, nennt

Lehmann politische und dokumentarische Theaterformen, das absurde Theater sowie die Entste-

hung des Regie-Theaters. Zwar opfern diese Theater-Formen Teile der dramatischen Darstel-

lungsweise, bewahren jedoch „den entscheidenden einheitsstiftenden Konnex zwischen dem Text

einer Handlung […] und der auf sie hin orientierten theatralen Darbietung“ (ebd.: 92).

Im postrdramatischen Theater reißt diese für das dramatische Theater konstitutive Verbindung.

Die Hierarchie der Theatermittel, die Dominanz des Textes wird aufgelöst und mit ihr auch die

Notwendigkeit ihrer Kohärenz. An die Stelle von Einheit und Synthesis tritt das Fragment, die

Suche, das Risiko (vgl. ebd.: 92). Zentrale Aspekte der vielfältigen und unterschiedlichen Spiel-

arten des postdramatischen Theaters werden im folgenden Abschnitt 2.2 beschrieben.

Page 24: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

21

2.2 Ästhetik und Dramaturgie

Da das Konzept des postdramatischen Theaters eine große Vielfalt von untereinander höchst un-

terschiedlichen Theaterformen beschreibt, können die im Folgenden dargelegten zentralen As-

pekte nur unvollständig bleiben. Auch auf eine ausführliche Darlegung anhand von

Praxisbeispielen, wie Lehmann sie vornimmt, muss verzichtet werden.

2.2.1 Zustand und Zeremonie

In Abgrenzung zum Dramatischen Theater als Theater der (mimetischen) Handlung und Narrati-

on beschreibt Lehmann das postdramatische Theater „als Theater der Zustände und szenisch dy-

namischer Gebilde.“ (Lehmann, 2005: 114) Im radikalsten Fall sind keine fiktiven Vorgänge

mehr vorhanden. Häufig zeichnen sich Inszenierungen durch eine Nähe zur Zeremonie oder zum

Ritual aus (vgl. Weiler, 2005: 247). Die zeremonielle Dimension ist historische Wurzel des Thea-

ters und ihm als soziale Praxis auch heute noch immanent. Die Zeremonie im postdramatischen

Theater verweist zwar auf religiöse und kultische Formen, findet jedoch um ihrer selbst willen,

als eigene ästhetische Qualität statt (vgl. Lehmann, 2005: 115).

Auch Inszenierungen, die zwar traditionelle dramatische Texte nutzen, die Handlung jedoch

gänzlich in den Hintergrund stellen, erzeugen eine Zuständlichkeit, welche den Bühnenvorgang

selbst, seine Zeitlichkeit und Räumlichkeit, hervortreten lässt (vgl. ebd.: 124).

2.2.2 Postdramatischer Zeichengebrauch

Als Theaterzeichen werden nach Lehmann an dieser Stelle virtuell alle Elemente des Theaters

verstanden, jegliche Dimensionen von Signifikanz, und nicht im engeren Sinne der Theaterse-

miotik lediglich Zeichen, welche bereits Träger feststehender Informationen sind (vgl. Lehmann,

2005: 139).

An die Stelle von Synthesis und Kohärenz treten im postdramatischen Theater das Offene und die

Zersplitterung. Durch die Freiheit des Theaters von der Hierarchie der Mittel, vom Vollendungs-

zwang und von Kohärenzforderungen entsteht auf der Seite der Rezeption die Freiheit zur

„idiosynkratischen Reaktion“ (ebd.: 142). Das Publikum erfährt sich nicht als Gemeinschaft der

Page 25: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

22

ähnlichen, sondern der verschiedenen Wahrnehmungen, allenfalls punktuell werden Gemeinsam-

keiten entdeckt. Der Bühnendiskurs ähnelt in seiner Non-Hierarchie der Bilder dem von Traum-

strukturen (vgl. ebd.: 142). Durch den Entzug von Verknüpfungen, der Beziehungslosigkeit der

Elemente, wird der oder die Zuschauer_in gezwungen, selbst aktiv Verbindungen und Deutungen

herzustellen. In der Konzentration auf die eigene Wahrnehmung wird der Versuch der

Synthetisierung, als leibliche Aktivität sinnlicher Erfahrung, bewusst (vgl. ebd.: 144).

In Anlehnung an Beschreibungen der Performance Studies wird die gesamte Situation einer Auf-

führung als Performance Text begriffen. Dieser geht über die Inszenierung weit hinaus und um-

fasst auch die Zuschauenden, die Zeit, den Raum, sowie Ort und Funktion des Theatervorgangs

im sozialen Feld (vgl. ebd.: 145). Für das postdramatische Theater beschreibt Lehmann den Per-

formance Text als: „mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung,

mehr Prozess als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als Informati-

on.“ (ebd.: 146)

Als charakteristische Stilmittel oder Typen des Zeichengebrauchs entwickelt Lehmann eine Rei-

he von Kategorien. Einige sind in dieser Arbeit bereits angesprochen worden, dennoch erscheint

es sinnvoll, sie an dieser Stelle aufzuzählen und kurz zu beschreiben.

Parataxis/ Non-Hierarchie: Als kennzeichnend für die Parataxis des postdramatischen Theaters

beschreibt Lehmann die Verknüpfung von Elementen oder Theaterzeichen in nicht eindeutiger

Weise. Mit Non-Hierarchie ist die bereits beschriebene Enthierarchisierung der Theatermittel

gemeint (vgl. ebd.: 146 f.).

Simultanität: Die Simultanität der Zeichen führt zu einer, häufig absichtlich hervorgerufenen,

Überforderung der Wahrnehmung (vgl. ebd.: 149). Das Ausschnitthafte, die Begrenztheit und

Subjektivität von Wahrnehmung wird bewusst von den Zuschauer_innen erfahren. Das theatrale

Ereignis nötigt zu Wahrnehmungsentscheidungen in denen potentiell befreiende Möglichkeiten

von Fort-Schreibung, Phantasie und Rekombination jenseits von totalen Setzungen erfahrbar

werden (vgl. ebd.: 150 f.).

Spiel mit der Dichte der Zeichen: Im Sinne eines Zuviel oder Zuwenig wird die konventionelle,

etablierte Norm der Zeichendichte verletzt. Dies reicht bis hin zur völligen Abwesenheit erwarte-

ter Zeichen, zum Entstehen und Aushalten von Leere oder Stille (vgl. ebd.: 151 ff.).

Page 26: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

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Überfülle: Dieses Stilmittel beschreibt nochmals das Überschreiten der oben angesprochenen

Norm der Zeichendichte (vgl. ebd.: 154).

Musikalisierung: Die Tendenz zur Musikalisierung besteht besonders in Bezug auf die Sprache,

umfasst jedoch auch andere theatrale Zeichen und ihre Beziehungen zu einander (vgl. ebd.: 155).

Die Möglichkeiten elektronischer Musik erweitern die Dimensionen des Theater-Sounds, die Op-

tionen von Geräuschen und Tonkombinationen (vgl. ebd.: 157).

Szenographie, visuelle Dramaturgie: Durch die Auflösung der logozentrischen Hierarchie wird

es möglich, dass andere Elemente, z.B. die visuellen Dimensionen, die dominante Rolle ausfüllen

können. Die visuelle Ebene kann dabei eine Eigenlogik entfalten, ein Theater der Szenographie

entsteht (vgl. ebd.: 159).

Wärme und Kälte: Die Entpsychologisierung und Formalisierung kann, besonders im Hinblick

auf den menschlichen Körper, als schwer zu ertragender Zustand der Kälte erfahren werden. Die

Erwartung der Darstellung menschlicher, also psychologischer Erfahrungswelten wird auf provo-

zierende Weise enttäuscht (vgl. ebd.: 161 f.). „Umgekehrt kann die Verselbstständigung der visu-

ellen Dimension zu einer Überhitzung und Bilderflut führen.“ (ebd.: 162)

Körperlichkeit: Im postdramatischen Theater steht der Körper weniger als Träger von Sinn als

vielmehr durch seine physische und gestische Präsenz im Fokus (vgl. ebd.: 163). In ihm manifes-

tiert sich der Körper als Einschreibungsort kollektiver Geschichte (vgl. ebd.: 167).

Konkretes Theater: Durch die Überwindung der Prinzipien der Mimesis und der Fiktion tritt die

sinnlich intensivierte Wahrnehmung des konkret Vorhandenen in den Vordergrund. Die Mittel

des Theaters, Körper, Raum, Material usw. exponieren sich selbst, werden zum Objekt ästheti-

scher Erfahrung (vgl. ebd.: 167 ff.).

Einbruch des Realen: Postdramatisches Theater macht die faktisch immer vorhandene Ebene des

Realen zum Gegenstand seiner Gestaltung. Diese inszenatorische Praxis, das Spiel mit der

Unentscheidbarkeit oder dem Umschlagen von Fiktion und Realität führt zu einer Verunsiche-

rung der Zuschauer_innen. Ihre Sicherheit des Zuschauens als unproblematische soziale Verhal-

tensweise wird gestört, wenn unklar ist, ob der Bühnenvorgang als Fiktion ästhetisch rezipiert

werden kann, oder ob es sich um reale Vorgänge handelt, welche potentiell moralisch bewertet

werden müssten (vgl. ebd.: 170 ff.).

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Ereignis/Situation: Das Theater als Ereignis, welches auf das reale Vollziehen von Akten im Hier

und Jetzt gerichtet ist, schafft für alle Teilnehmer_innen provozierende Situationen und inkom-

mensurable Momente (vgl. ebd.: 181). Theater, das sich als soziale Situation begreift, ist kaum

mehr objektiv beschreibbar, da die Erfahrungen einzelner Zuschauer_innen nicht deckungsgleich

sind. In dieser Situation erfahren Zuschauer_innen jedoch, dass ihr eigenes Erleben genauso von

ihnen selbst wie von anderen abhängig ist (vgl. ebd.: 182 f.).

Folge des veränderten Zeichengebrauchs im postdramatischen Theater ist die Verschiebung und

teilweise Auflösung der Grenzen zu anderen künstlerischen Praxisformen, insbesondere zur Per-

formance Art und zum Tanz (vgl. ebd.: 241). Die Übergänge von Theater, Performance, Tanz,

Installation oder auch zum Fest verfließen, werden unscharf.

2.2.3 Text - Sprache - Stimme

Der schriftliche Text im postdramatischen Theater kann dramatischen Ursprungs sein, generiert

sich häufig jedoch auch aus der nicht dramatischen Literatur, aus wissenschaftlichen oder journa-

listischen Artikeln, Interviews, Song-Texten oder persönlichen Aussagen der Darsteller_innen,

die in Diskussionen oder Improvisationen entwickelt wurden. Er wird nicht als vollendetes

Sprachwerk betrachtet, sondern dient als Material, mit welchem experimentierend umgegangen

wird. Das im Theater immer schon latent konfliktive Verhältnis zwischen Text und Bühne wird

dabei häufig zum intendierten Prinzip der Inszenierung (vgl. Lehmann, 2005: 261).

Der Logos, also Sinn oder Bedeutung des Textes, tritt hinter der Präsenz von Atem, Stimme,

Rhythmus und Körper in den Hintergrund (vgl. ebd.: 262). Sinn und Einheit des Textes werden

dekonstruiert, an die Stelle des Dialogs tritt der Polylog, also die Vielstimmigkeit (vgl.

ebd.: 263).

Die Sprache und das Sprechen selbst, als sinnlicher, körperlicher Vorgang, werden ausgestellt.

Dazu gehört auch das Zulassen von scheinbar unangebrachten, unprofessionellen oder störenden

Sprechweisen (vgl. ebd.: 264). Performer_innen machen sich selbst teilweise bewusst zu Opfern

des Textes und gehen das Risiko ein, am Text zu scheitern (vgl. ebd.: 271). Durch Stottern oder

Versagen wird das Textsprechen als nicht selbstverständlicher Vorgang gekennzeichnet (vgl:

269). Durch das Prinzip von Polyglossie, dem Gebrauch multilingualer Theatertexte, wird die

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Einheit der nationalen Sprache demontiert. Akteure_innen wie Zuschauer_innen geraten an

Grenzen sprachlicher Verständigung (vgl. ebd.: 168 f.).

Als Modelle postdramatischer Stimmen-Ästhetik unterscheidet Lehmann drei Varianten. Erstens

die Konzentration auf die pure Physis der Stimme als Keuchen, archaischem Laut, Schrei usw.

Zweitens die Bündelung eines dialogischen Textes auf eine Solo-Sprechstimme, aus welcher sich

durch Modulation das ganze Theater entfaltet. Drittens nennt Lehmann die elektronische Stimme,

also die Möglichkeiten, durch technische Mittel Stimmen aufzunehmen, zu verstärken, zu ver-

schieben oder auf andere Weise künstlich zu verändern (vgl. ebd.: 275 f.).

2.2.4 Körper - Körperbilder

Ähnlich dem Sprechen und der Stimme wird auch der Körper im postdramatischen Theater weni-

ger als Signifikant, als Träger von Bedeutung betrachtet, als vielmehr selbstreferentiell, in seiner

realen und eigentümlichen Präsenz. Der Körper selbst und der Vorgang seiner Betrachtung wer-

den also zum Objekt der Theaterästhetik (vgl. Lehmann, 2005: 366). An die Stelle des Dialogs

zwischen den Körpern tritt der einzelne Körper selbst. Jedoch nicht als Ideal ‚des‘ Menschen und

seines Körpers, sondern als Erscheinung des einzelnen Menschen, seiner unverwechselbaren Be-

wegung, Gestik und Lebendigkeit (vgl. ebd.: 369).

Aus dieser Grundannahme heraus beschreibt Lehmann eine Reihe von postdramatischen Körper-

bildern, welche auf den Körper und seine Realität im Theater verweisen. Eine im Hinblick auf die

weitere Analyse im dritten Kapitel als relevant erscheinende Auswahl soll im Folgenden erläutert

werden.

Ein wichtiges und häufig genutztes Mittel der Inszenierung von Körpern im postdramatischen

Theater ist der zeitgenössische Tanz. Er ist weniger formulierter Sinn oder eine Illustration, son-

dern artikulierte Energie, emotionales Erleben und Teilen von Impulsen in der Kommunikation

mit den Zuschauer_innen (vgl. ebd.: 371). Körpergesten und Alltagshandlungen werden nicht in

ihrer Signifikanz, sondern als Realität wahrnehmbar. Der Tanz ist nicht mehr auf ideale Körper,

Einheit und Harmonie ausgerichtet (vgl. ebd.: 372). Durch umfassende tänzerische Erkundung

tritt das „Potential der möglichen gestischen Variation des gegliederten Körperapparats hervor.“

(ebd.: 371)

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Weitere Techniken, welche für das postdramatische Theater kennzeichnend sind und den Körper,

seine Erscheinung, auf besondere Weise ausstellen, verfremden und sichtbar machen, sind Slow-

Motion-Technik, die Arbeit mit der Geste oder dem Körper als Skulptur (vgl. ebd.: 373 ff.). Die

Nähe und Überschneidungen zum zeitgenössischen Tanz werden hier nochmals offensichtlich.

Auf unterschiedliche Weise, durch äußerliche, räumliche Einschränkungen oder durch den Ver-

zicht auf den Schutz einer Rolle, bringen sich Performer_innen in gewisser Weise den Zuschau-

er_innen als Opfer dar, liefern sich selbst aus. In der schutzlosen Begegnung mit dem Publikum,

häufig durch direkten Blickkontakt, wird auch der Seh-Akt, seine voyeuristische Qualität in der

realen Situation des Theaters thematisiert und bewusst erfahren (vgl. ebd.: 380 f.).

Auch das Verhältnis zwischen dem lebendigen Körper und den nicht lebendigen Dingen wird äs-

thetisch auf besondere Weise thematisiert und sichtbar gemacht (vgl. ebd.: 382). Der oder die

Spieler_in nähert sich mit seinem Körper, z.B. durch formalisierte, repetitive oder mechanisch er-

scheinende Bewegungen, der Welt der Dinge an (vgl. ebd.: 383). Dinge, Objekte oder Puppen

wiederum werden durch die Spieler_innen belebt. Die Grenze zwischen Subjekt und Objekt ver-

schwimmt oder wird verschoben. Die Spieler_innen als Subjekte tendieren zum Objekt, das ding-

liche Objekt erscheint als lebendig, die Trennung zwischen Leben und Tod erscheint als

ungesichert (vgl. ebd.: 385).

2.3 Schauspieler_innen im postdramatischen Theater

Schauspieler_innen in postdramatischen Inszenierungen erscheinen weniger als Spieler_innen ei-

ner Rolle, als Darsteller_innen in einer ‚als-ob‘ Situation. Schauspieler_innen treten verstärkt als

Performer_innen, in ihrer eigenen Präsenz, als Darsteller_innen ihrer eigenen Wirklichkeit auf.

Ihr Fokus verschiebt sich auf die Herstellung einer Spielsituation und die Anwesenheit des Publi-

kums, weg von der Verkörperung einer fiktiven Wirklichkeit (vgl. Lehmann, 2008: 22).

Die Auflösung der eigenen, tradierten Gattungsgrenzen definiert die Rolle von Schauspie-

ler_innen neu (vgl. Metzler, 2005: 248). Schauspier_innen werden zu Tänzer_innen, Sport-

ler_innen und Spieler_innen, Sänger_innen, Moderator_innen. Sie führen diese Tätigkeiten nicht

als Schauspielrollen aus, spielen also keine Moderator_innen oder Tänzer_innen, sondern mode-

rieren oder tanzen wirklich. Häufig fungieren sie als „Koautoren“ (Lehmann, 2008: 24), indem

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Regisseur_innen mit ihren persönlichen Erfahrungen arbeiten und von ihnen persönliche Stel-

lungnahmen und Positionen einfordern. In kollektiven Arbeitsprozessen lösen sich häufig auch

die Grenzen zwischen Regie, Dramaturgie, Spieler_innen und Techniker_innen auf.

Angesichts des Eindringens nicht-professioneller Spieler_innen in professionelle Produktionen,

und dem Interesse des postdramatischen Theaters am Realen und Imperfekten, erscheinen die Fä-

higkeiten ausgebildeter Schauspieler_innen nicht mehr als notwendige Voraussetzung oder sogar

als hinderlich. Aus der Perspektive der Rezipient_innen fragt Lehmann provokant: „Wenn er [sie]

die Schauspieler[_innen] nicht mehr beurteilen kann nach ihrer Fähigkeit, einen Charakter zu

verkörpern […]? Was ist dann eigentlich die Leistung eines Schauspielers [einer Schauspielerin],

und wie kann ich auf diese Leistung als Zuschauer[_in] reagieren?“ (ebd.: 26)

Im vorangegangenen Kapitel wurde nachvollzogen, wie Ulrike Hentschel die möglichen, ästheti-

schen Erfahrungen des Subjekts im Prozess des Schauspielens aus Künstlertheorien unterschied-

licher Theaterpraktiker entwickelt. Zentral erscheint die Kategorie der Differenzerfahrung, wie

sie in Abschnitt 1.3.3 beschrieben wurde. Für das postdramatische Theater existiert jedoch keine

explizite Künstlertheorie, welche sich mit den Bedingungen, Produktionsprozessen und den in

ihnen agierenden Schauspieler_innen beschäftigt. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob es ange-

sichts der Vielzahl und Differenz postdramatischer Theaterpraxen möglich ist, verbindliche theo-

retische Aussagen über den Prozess des Schauspielens oder des Performens zu machen (vgl.

Roselt, 2009: 359).

2.3.1 Vom Nicht-Schauspielen zum Schauspielen

Lehmann nähert sich dem postdramatischen Theater als Theaterwissenschaftler vornehmlich aus

der Perspektive der Rezeption. In einem kurzen Abschnitt, in welchem er sich den Schauspie-

ler_innen widmet, verweist er jedoch auf den New Yorker Theaterwissenschaftler und Regisseur

Michael Kirby (vgl. Lehmann, 2005: 242). Kirby entwirft zur Beschreibung und Analyse des

Spektrums von möglichem, darstellerischem Handeln im Theater ein Kontinuum zwischen zwei

Polen (vgl. Roselt, 2009: 359). Die zwei Pole oder äußersten Extrem-Positionen des Kontinuums

im Rahmen einer Aufführung bezeichnet Kirby als Schauspielen (acting) und Nicht-Schauspielen

(not-acting) (vgl. Kirby, 2009: 361). Mit Nicht-Schauspielen ist eine Bühnen-Situation bezeich-

net, in welcher die Darsteller_in nichts unternimmt um etwas vorzutäuschen, zu simulieren oder

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zu verkörpern, also ihre Identifizierung zu verstärken (vgl. ebd.: 316). Als Nullmatrix-

Darstellung markiert sie den Ausgangspunkt einer Skala, welche über die Schritte Versinnbild-

lichte Matrix, Zuerkanntes Schauspiel, Einfaches Schauspiel schließlich das andere Extrem, das

komplexe Schauspiel, erreicht (vgl. ebd.: 375). Die unterschiedlichen Phasen im Kontinuum vom

Nicht-Schauspielen zum Schauspielen im Rahmen einer Aufführung sollen im Folgenden kurz

beschrieben werden.

Nullmatrix-Darstellung beschreibt einen Zustand, in dem eine Darsteller_in nicht in die Matrix

des Bühnenvorgangs eingebunden ist und die durch ihre Anwesenheit entstehende Information

durch nichts verstärkt wird. Kirby wählt hier den Vergleich zu Bühnendienern in unterschiedli-

chen fernöstlichen Theatertraditionen (vgl. ebd.: 362 f.).

Versinnbildlichte Matrix bezeichnet einen Zustand, in welchem die Darsteller_in lediglich han-

delt, jedoch als Handelnde_r aus der Perspektive der Zuschauer_innen in die Matrix einer Ge-

schichte eingebunden ist, z.B. durch ein Kostüm (vgl. ebd.: 364 f.).

Zuerkanntes Schauspielen ist noch immer kein Schauspielen, welches sich aus einer schauspiele-

rischen Aktion der Darsteller_in ergibt. Kirby beschreibt es lediglich als eine Zunahme des Refe-

renzrahmens, in welchem die Darsteller_in handelt. Aus der Perspektive des Publikum erscheint

er oder sie als Schauspieler_in, ohne jedoch durch ihre oder seine Handlung etwas zu simulieren

(vgl. ebd.: 366).

Einfaches Schauspielen oder simple-acting entsteht, wenn Darsteller_innen beginnen psychisch

oder emotional etwas zu simulieren oder zu repräsentieren, ein Moment, der mit Vortäuschung

verbunden ist, also etwas durch die Darsteller_in bewusst in Szene gesetzt wird (vgl.

ebd.: 367 f.). Diese Beschreibung trifft häufig auf Momente zu, in denen biographische Texte di-

rekt an ein Publikum gerichtet werden. Der Inhalt des Textes ist (subjektiv) wahr, die Darstel-

ler_in gibt nicht vor jemand anderes oder an einem anderen Ort zu sein. Doch sie verbindet den

Text mit Emotionen, simuliert ein inneres Gefühl wie Wut, Trauer oder Freude, um den Text zu

sprechen. In diesem Stadium, wenn in einer Dimension eine Handlung oder Gefühle für Zu-

schauer_innen in Szene gesetzt werden, kann von simple-acting gesprochen werden (vgl.

ebd.: 369).

Komplexes Schauspielen schlussendlich markiert den letzten Punkt auf dem Kontinuum. Kom-

plexes Schauspiel meint den Moment der Simulation für ein Publikum, welcher auf verschiede-

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nen Ebenen gleichzeitig stattfindet. Beim komplexen Schauspielen werden sowohl Handlungen

als auch Emotionen vorgespielt. Die Schauspieler_in bezieht den eigenen Körper in das Spiel ein

und verändert ihn bewusst. Sie gibt vor an einem anderen Ort als dem der Aufführung zu sein, zu

einer anderen Zeit usw. (vgl. ebd.: 373 f.).

Lehmann geht davon aus, dass sich Performer_innen primär zwischen simple-acting und not-

acting bewegen (vgl. Lehmann, 2005: 243). Die Unterteilung der ersten drei Ebenen, von der

Null-Matrix-Darstellung zum zuerkannten Schauspiel, ist eine Unterteilung aus der Perspektive

der Zuschauer_innen. Aus der Perspektive der Darsteller_in erscheinen sie gleich, denn sie be-

schreiben lediglich ein Handeln auf einer Bühne und werden daher im weiteren Verlauf gemein-

sam betrachtet. Als schwierig für eine Analyse subjektiver Erfahrung im Bereich von Nullmatrix-

Darstellung bis zum zuerkannten Schauspiel ist, dass Kirby sie eher darüber definiert, was die

Darsteller_in (noch) nicht tut. Ob, bzw. ab welchem Moment eine Performer_in in einen Zustand

des doppelten Erlebens eintritt und sich Momente einer Differenzerfahrung, wie Hentschel sie für

das Schauspielen beschreibt, ergeben, soll im folgenden Abschnitt diskutiert werden.

2.3.2 Doppelbewusstsein

Der amerikanische Performancetheoretiker Marvin Carlson geht davon aus, dass jegliche perfor-

mative Handlung von einer Differenz, einem Doppelbewusstsein gekennzeichnet ist. „Even if an

action on stage is identical to one in real life, on stage it is considered ‘performed’ and off stage

merely ‘done’.” (Carlson, 2004: 3). Die Differenz zwischen alltäglichem und performativem

Handeln ergibt sich nach Carlson aus dem Bewusstsein des Subjekts. Die besondere Qualität per-

formativer Handlungen ergibt sich aus dem Wissen, sie für und vor anderen auszuführen (vgl.

ebd.: 4). Das Bewusstsein für andere zu handeln führt zu einer Selbstbeobachtung (Wie wirke ich

auf die anderen?) sowie einem Abgleich mit dem inneren Bild oder Ziel der Handlung (Wirke ich

so wie ich wirken will?).

Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit von subjektivem Erleben und objektivierender Gestaltung ist

offenbar schon in einer einfachen Handlung im Rahmen einer Aufführung angelegt. Die von

Hentschel beschriebene Erfahrung des „Dazwischen Stehens“ (Hentschel, 2010: 238) scheint in

ähnlicher Weise möglich, ergibt sich jedoch weniger aus dem Widerspruch zwischen Spieler_in,

und Figur, als aus dem beschriebenen Doppelbewusstsein selbst. Auch bei einer Performer_in

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welche sich im Sinne Kirbys im Bereich des not-acting bewegt, ist also von einem Doppelbe-

wusstsein und einer Differenzerfahrung auszugehen. Schechner beschreibt das Doppelbewusst-

sein der Schauspieler_in mit der Unterscheidung von Nicht-Ich und nicht Nicht-Ich, wobei das

Nicht-Ich als das Handeln in der Rolle gekennzeichnet ist (vgl. Schechner, 1991: 233). Fällt nun

im postdramatischen Theater die Rolle weg, wird die Performer_in nicht zu einem einfachen

‚Ich‘. Auf der Ebene der Nullmatrix-Darstellung entsteht bereits ein Doppelbewusstsein durch

das Handeln für andere, das Wissen beobachtet zu werden und der daraus resultierenden Selbst-

beobachtung. Eine Trennung analog zu Schechner wäre vielleicht zu bezeichnen als ‚Ich, wie ich

mich selbst von außen wahrnehme‘ und ‚Ich in meiner inneren Wahrnehmung‘. Auf der Ebene

des simple-acting, in der eigene Texte und Gefühle für das Publikum zum Ausdruck gebracht

werden, ließe sich die Differenz formulieren als ‚Ich in Wiederholung meiner eigenen Gefühle‘

und ‚Ich im momentanen Erleben und Fühlen‘.

2.3.3 Auflösung der Kohärenz

„Die Theatermittel emanzipieren sich im postdramatischen Theater gleichsam aus ihrer

jahrhundertealten, mehr oder weniger stringenten Verlötung. Sie verselbstständigen sich, so

als sei die tradierte kohärente Ganzheit aus Elementen, als die wir uns die Form des drama-

tischen Theaters denken können, gleichsam auseinandergeplatzt.“

(Lehmann 2005: Vorwort zur 3. Auflage)

Diese allgemeine Beschreibung Lehmanns lässt sich übertragen auf die spezifische Situation der

Schauspieler_in im postdramatischen Theater. Die Theatermittel, welche einer Schauspieler_in

zur Verfügung stehen, erscheinen ebenso von einer Auflösung der kohärenten Ganzheit betroffen

bzw. auseinandergeplatzt. Die Mittel, wie Körper, Stimme, Text, das Verhalten in Raum und

Zeit, der Bezug zum Publikum, dienen in ihrer Anordnung im dramatischen Theater der mög-

lichst kohärenten Darstellung der Figur. Diese Figur dient gemeinsam mit allen anderen Thea-

termitteln letztlich dem „Text als Sinnangebot“ (Lehmann, 2005: 74), der Illusionsbildung zur

Erzeugung eines fiktiven Kosmos als Modell des Realen (vgl. ebd.: 21 f.). Nicht nur das Theater,

auch die Schauspieler_in emanzipiert sich von den damit verbundenen Zwängen. An die Stelle

der Synthese der Mittel durch die Schauspieler_in tritt ihre Zersplitterung. Einzelne Mittel treten

in den Vordergrund, werden separiert, isoliert oder neu kombiniert. Die Spielweise bleibt häufig

nicht im Laufe einer Aufführung stabil, sondern wechselt und variiert von Bild zu Bild. Der

Wechsel und die Veränderung betrifft dabei sowohl das Nutzen oder die Betonung einzelner Mit-

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tel als auch die Handlungs- oder Spielweisen zwischen acting und not-acting im Sinne Kirbys

(vgl. Abschnitt 2.3.1). Auch müssen die Schauspieler_innen untereinander nicht zwangsläufig ei-

ne gemeinsame, kohärente Spielweise entwickeln.

Die Selbstreflexivität des postdramatischen Theaters (vgl. Lehmann, 2005: 13) erfordert mögli-

cherweise auch ein höheres Maß an Selbstreflexivität von den Spieler_innen. Wenn „das Zeigen

vor das Gezeigte tritt“ (ebd.: 192) oder rein selbstreferentiell das Zeigen nur auf sich selbst zeigt,

muss nicht nur die Zuschauer_in nach subjektivem Sinn und Anknüpfungspunkten suchen. Glei-

ches gilt auch für die Schauspieler_innen. Die Betonung des Wie im postdramatischen Theater

gibt die Frage auch an die Schauspieler_innen weiter. Handlungen und Darstellungen werden

nicht mehr notwendigerweise aus der Psychologie und dem Verlauf der Geschichte entwickelt.

Sie können entweder rein energetisch, zum Beispiel durch innere körperliche Impulse, getroffen

werden, oder völlig unpsychologisch, rein intellektuell, von einem Konzept ausgehend begründet

werden.

Die Schauspieler_in im postdramatischen Theater verfügt also prinzipiell über dieselben Mittel

wie die Schauspieler_in im dramatischen Theater, sie werden jedoch anders genutzt oder kombi-

niert. Die sich hieraus ergebenden Parallelen und Differenzen bezüglich der ästhetischen Erfah-

rungen der Subjekte sollen im dritten Kapitel analysiert werden.

2.4 Zusammenfassung

An dieser Stelle soll zunächst festgehalten werden, dass Hentschels Annahmen über die Ästhetik

des Theaters (vgl. Abschnitt 1.3.1) bezogen auf den Ereignischarakter der Aufführung Über-

schneidungen mit Lehmanns Beschreibungen aufweisen. Das Theater als Ereignis zu begreifen,

als Erzeugen und Erfahren von Wirklichkeit und im Sinne einer sozialen Situation, steht nicht im

Widerspruch zum postdramatischen Theater (vgl. Lehmann, 2005: 113 f.; Hentschel,

2010: 134 f.). Die Veränderung oder Differenz besteht jedoch in Bezug auf das von Hentschel als

doppelschichtig im Sinne einer Balance zwischen zwei Wirklichkeitsebenen beschriebene Ver-

halten von Produzent_innen und Rezipient_innen. Wird dies von der einen oder der anderen Seite

nicht eingehalten, behauptet Hentschel den Zusammenbruch theatraler Kommunikation (vgl.

Hentschel, 2010: 137). Postdramatische Inszenierungen spielen und provozieren jedoch häufig

genau diesen Bruch und verweisen damit gleichzeitig auf die Existenz beider Ebenen.

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Insgesamt ist festzustellen, dass sich, unter dem Paradigma des postdramatischen Theaters auf

der Ebene wie und mit welchem Ziel Theater gemacht und gedacht wird, sowie analog auf der

Ebene der Rezeption, also wie es geschaut wird, Veränderungen vollzogen haben. Angesichts der

Vielfalt der Mittel, der Öffnung des Theaters zu anderen Kunstformen und Veränderungen durch

kollektive Arbeitsformen, wandelt sich die Arbeit von Schauspieler_innen. Der intellektuelle

Blick aufs Theater hat sich verändert und entsprechend ändert sich auch das Bewusstsein profes-

sioneller Schauspieler_innen. Es ist jedoch im Hinblick auf das innere Herstellen und Erleben im

Aufführungsprozess auf das konkrete Spiel vor einem Publikum zu bemerken, dass die Differenz

zwischen dramatischen und postdramatischen Inszenierungen weniger ausgeprägt ist, als es auf

den ersten Blick scheinen mag. Auch im Zustand reiner Präsenz auf der Bühne ist von einem

Doppelbewusstsein und entsprechenden Ambiguitätserfahrungen auszugehen. Wie sich die Spiel-

situation in postdramatischen Inszenierungen auf die potentiellen ästhetischen Erfahrungen nicht-

professioneller Darsteller_innen in theaterpädagogischen Projekten auswirkt, soll im nächsten

Kapitel differenzierter betrachtet werden.

3 Das Theaterstück „Paradise Mastaz“ der Gruppe Hajusom

Im folgenden Kapitel wird versucht, anhand der Ausgewählten Inszenierung die theoretischen

Annahmen des postdramatischen Theaters mit der Theaterpädagogik zu verbinden. Nach der

Darstellung des Projekts Hajusom wird die Inszenierung „Paradise Mastaz“ beschrieben und als

postdramatisches Theaterstück analysiert. Auf dieser Grundlage werden in Abschnitt 3.3 anhand

ausgewählter Inszenierungsausschnitte die verwendeten theatralen Mittel im Hinblick auf ihre Er-

fahrungspotentiale für die spielenden Subjekte untersucht. Die sich aus perspektive der Theater-

pädagogik ergebenden Folgerungen, im Sinne ästhetischer Erfahrung und Bildung werden in

Abschnitt 3.4 zusammenfassend dargelegt.

3.1 Das Theaterprojekt Hajusom

Im transnationalen Theater- und Kunstprojekt Hajusom erarbeiten minderjährige und junge er-

wachsene Flüchtlinge und Migranten in Kooperation mit internationalen Künstler_innen Theater-

Page 36: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

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performances unterschiedlichster Formate. Die jugendlichen Künstler_innen kommen aus westaf-

rikanischen Ländern, aus Afghanistan, dem Iran und anderen Krisen und Kriegsgebieten.

Hajusom versteht sich „als eine künstlerische Stellungnahme, die im Konfliktfeld aktueller Mig-

rationspolitik zu intervenieren versucht.“ (Huck/ Jansen/ Reinike, 2006: 259)

Gegründet wurde das Projekt 1999 durch die Künstlerinnen Ella Huck und Dorothea Reinike,

welche noch immer die Künstlerische Leitung inne haben (vgl. Hajusom, 2013b). Der Name

Hajusom leitet sich von den Anfangssilben der Namen der ersten drei Jugendlichen Spieler_innen

Hatice, Jusef und Omid ab. Insgesamt wurden bereits über zwölf Produktionen realisiert und

teilweise bundesweit sowie international aufgeführt. Viele Stücke wurden mit Preisen und Aus-

zeichnungen versehen (vgl. Hajusom, 2013a).

Das Projekt ist seit seiner Gründung stetig gewachsen, unter dem Dach von Hajusom e.V. verei-

nen sich das langjährig gewachsene ‚Ensemble Hajusom‘, das junge Ensemble ‚Neue Sterne‘, das

Musik-Band-Projekt ‚Voices of the Undead‘, die Gruppe ‚Ruff Monkeys‘ mit dem Schwerpunkt

Tanz und Choreographie sowie das offene Tanz- und Performance-Training ‚Open House‘. Die

Nachfrage für alle Gruppen ist sehr hoch, für alle Gruppen existiert eine Warteliste (vgl.

Hajusom, 2013c).

Neben der künstlerischen Arbeit existiert für alle Teilnehmer_innen ein Mentoring-Angebot,

welches individuelle Beratung und Unterstützung in psychosozialen Belangen, welche sich insbe-

sondere aus der Lebenssituation als Migrant oder Flüchtling ergeben, sicherstellt. Dazu zählen

die Vermittlung von Praktikums- oder Therapieplätzen, Hilfe bei Fragen zu Schule und Ausbil-

dung, sowie asylrechtliche Beratung (vgl. Hajusom, 2013c). Seit 2010 ist der Verein Hajusom

e.V. Träger der freien Jugendhilfe (vgl. Hajusom, 2013a).

Das beschriebene Mentoring-Angebot stellt das Projekt Hajusom deutlich in den Kontext Sozia-

ler Arbeit. Für diese Untersuchung interessieren jedoch insbesondere der künstlerische Anspruch

und die künstlerische Arbeitsweise von Hajusom. Es soll an dieser Stelle weniger um die politi-

schen und sozialen Implikationen gehen, welcher sich alle Beteiligten bewusst sind und welche

eine wichtige Rolle für das Projekt und auch die künstlerische Auseinandersetzung spielen.

Hier steht jedoch im Vordergrund, dass sich die Arbeitsweisen und Prozesse bei Hajusom als an-

schlussfähig an Hentschels Konzept von Theaterarbeit als ästhetische Bildung erweisen.

Page 37: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

34

Grundsätzlich entspricht die kontinuierliche, an Prozess und Produkt orientierte Arbeit bei

Hajusom Hentschels Definition von Theaterpädagogik (vgl. Abschnitt 1.1). Desweiteren versteht

sich Hajusom selbst als Kunstprojekt und betrachtet die Jugendlichen und jungen Erwachsenen

als Künstler_innen (vgl. Huck/ Jansen/ Reinike, 2006: 259). Die Arbeit von Hajusom wird auch

in der Presse als „künstlerisch professionell“ (Trötzer, 2002) wahrgenommen und die Produktio-

nen als „feste Größe in der Hamburger Theaterlandschaft“ (Ludwig, 2013) bezeichnet. Zwar sind

soziale Prozesse und die politische Auseinandersetzungen immer Teil der künstlerischen Arbeit,

die Kunst tritt ihnen gegenüber jedoch nicht in den Hintergrund. Es findet keine Pädagogisierung

oder Verzweckung im Sinne Hentschels statt. Es ist also davon auszugehen, dass Hajusom Be-

dingungen oder Möglichkeitsräume für ästhetische Erfahrungen im Sinne Hentschels schafft.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die experimentierende Arbeitsweise, sowie der Anspruch, die

künstlerischen Entscheidungen als Kollektiv zu treffen (vgl. Huck/ Jansen/ Reinike, 2006: 260).

„In der konkreten Umsetzung bedeutet das, jede neue Produktion konzeptuell mit den Beteiligten

zu besprechen, weiterzuentwickeln und in regelmäßigen Feedbackrunden dafür Sorge zu tragen,

dass alle den künstlerischen Prozess begreifen und mitgestalten können.“ (ebd.: 260) Daraus

ergibt sich ein hohes Maß an Auseinandersetzung, Verständnis und Reflektion des künstlerischen

Prozesses sowie der Selbstreflektion jeder Spieler_in. Die Fähigkeit zu Selbstreflexivität, Selbst-

distanz und Differenzierungsfähigkeit betrachtet auch Hentschel als notwendige Bestandteile

künstlerischen Erlebens (vgl. Hentschel, 2010: 243). Es werden also einerseits sehr „selbstbe-

stimmte kreative Prozesse “ (Pinkert, 2010: 176) initiiert, andererseits wird das Ziel verfolgt „den

Spieler_innen einen bewussten Umgang mit Darstellungsweisen zu ermöglichen.“ (ebd.: 177)

Die Mehrheit der bisherigen Produktionen entstand nicht auf Grundlage einer dramatischen Vor-

lage. Sie basieren meist auf biographischen Erfahrungen der Darsteller_innen, beschränken sich

jedoch nicht darauf. Die Leiterinnen bezeichnen sich selbst als Performance-Künstlerinnen, die

Produktionen von Hajusom werden als Theater-Performances bezeichnet (vgl. Hajusom, 2013a).

Die aktuelle Produktion „Paradise Mastaz“ lässt sich wie in Abschnitt 3.2.3 zu zeigen sein wird,

als postdramatische Theaterproduktion beschreiben.

Page 38: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

35

3.2 Die Inszenierung „Paradise Mastaz“

Das Stück „Paradise Mastaz“ wurde von den 16 Performer_innen des ‚Ensemble Hajusom‘ unter

der Regie von Ella Huck und Dorothea Reinike entwickelt. Die Premiere fand am 12. April 2013

auf Kampnagel, einer international renommierten Spielstätte für Performing-Arts, auf der großen

Bühne K2 statt. Es folgten bisher fünf weitere Aufführungen in Hamburg sowie ein Gastspiel im

Pumpenhaus Münster.

Die Musikalische Komposition und Begleitung der Inszenierung erfolgt durch die Hamburger

Musiker Knarf Rellöm und Viktor Marek, welche durch die jugendlichen Performer_innen unter-

stützt werden. Weitere wichtige Kooperationspartner sind der Puppenspielkünstler Yaya Couliba-

ly aus Bamako, Mali, welcher auch in der Inszenierung in Erscheinung tritt, sowie das

Puppentheater „Das Helmi“ aus Berlin. Mit beiden Kooperationspartnern erarbeiteten die Per-

former_innen Spielpuppen aus unterschiedlichen Materialien und erlernten das Spielen dieser

Puppen. Sie nehmen im Stück eine wichtige Rolle ein und werden in Abschnitt 3.3.5 in Bezug

auf die ästhetischen Erfahrungen der Darsteller_innen gesondert thematisiert.

3.2.1 Methodische Anmerkungen zur Aufführungsanalyse

Im Folgenden Abschnitt 3.2.2 werden zunächst der Inhalt, das Thema der Auseinandersetzung

sowie der grobe Ablauf der Inszenierung beschrieben. Die Darstellung dieses Gesamtkontexts

dient vor allem dem besseren Verständnis der in Abschnitt 3.3 exemplarisch ausgewählten Sze-

nen, die unter dem Aspekt potentieller ästhetischer Erfahrungen analysiert werden.

Im Anschluss erfolgt in Abschnitt 3.2.3 eine Analyse des Stücks unter postdramatischen Ge-

sichtspunkten. Dies erscheint notwendig, um die Eignung des Stücks für die Auseinandersetzung

im Hinblick auf die Forschungsfrage zu belegen.

Grundlage der Analyse ist ein Vorstellungsbesuch vom 18.04.2013. Als Erinnerungsmittel dient

zusätzlich eine Videoaufzeichnung der Aufführung selben Datums, außerdem nutze ich Zeitungs-

artikel über das Stück. Im Rahmen dieser Arbeit kann keine Ausführliche theaterwissenschaftli-

che Analyse des Stücks geleistet werden. Dennoch sind an dieser Stelle einige methodische

Anmerkungen zur Aufführungsanalyse sinnvoll.

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Die aufführungsorientierte Theaterwissenschaft geht von der Annahme aus, dass eine Aufführung

in der Interaktion aller Teilnehmer_innen, also Performer_innen und Zuschauer_innen entsteht

(vgl. Fischer-Lichte, 2004a: 11). Entsprechend existiert keine objektive Position, aus welcher

heraus die als „flüchtig und transitorisch“ (ebd.: 14) zu beschreibende Aufführung analysiert

werden könnte. „Die Subjektivität stellt die grundlegende Bedingung jeder Analyse dar. Sie ist

nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln.“ (Fischer-Lichte, 2010: 73) Bezüglich der Subjektivität

der Analyse soll explizit auch auf die privilegierte Position der Autorin, als Deutsche, weiße Frau

hingewiesen werden, wobei die Kategorie weiß nicht als Äußerlichkeit, sondern als gesellschaft-

lich wirksame, soziale Konstruktion zu verstehen ist (vgl. Eggers [u.a.], 2009: 13).

Desweiteren muss zwischen dem Begriff der Inszenierung als geplante, intendierte performative

Hervorbringung von Materialität und der Aufführung, welche jegliche in ihrem Verlauf perfor-

mativ hervorgebrachte Materialität einschließt, unterschieden werden (vgl. Fischer-Lichte, 2004a:

15). Im Gegensatz zur Inszenierung ist die Aufführung als Ereignis unwiederholbar (vgl. ebd.:

22). Auch eine Videoaufzeichnung ist eine Übersetzung in ein anderes Medium und nicht in der

Lage, die Vielschichtigkeiten einer Aufführung festzuhalten (vgl. Hiß, 1993: 11 f.).

3.2.2 Inhalt und Aufbau des Stücks

Mit dem Theaterstück „Paradise Mastaz“ (Meister des Paradieses) begibt sich das Ensemble

Hajusom auf die Suche nach dem Paradies. Als Expert_innen für Flucht und Migration entwi-

ckeln sie einen Abend über Heimat und Fremde, das Verhältnis von Afrika und Europa. Die Sze-

nen reihen sich collagenartig aneinander oder gehen ineinander über.

Das Bühnenbild besteht hauptsächlich aus großen, rollbaren Bühnenregalen, in denen verschie-

dene Requisiten in Form von Kisten, Tonnen und anderen Materialen untergebracht sind. Die

Regale werden im Verlauf des Stücks durch die Performer_innen auf unterschiedliche Positionen

bewegt. Als Theaterzeichen werden ihnen unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen, sie dienen

beispielsweise als europäische Außengrenze oder werden zu einem Kreuzfahrtschiff. Auf der lin-

ken Bühnenseite befinden sich ein Tisch mit einem Laptop und darüber eine Leinwand. Über den

Computer wird das Stück immer wieder schriftlich in Form eines Blogs ergänzt oder kommen-

tiert, es werden Grußworte aus Mali übermittelt oder gesprochenes Französisch ins Deutsche

Page 40: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

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übersetzt. Auf der rechten Bühnenseite befindet sich ein ebenfalls mobiler Rollcontainer, in wel-

chem die Musiker agieren und das Stück begleiten.

Die Kostüme der Performer_innen sind unterschiedlich, nicht eindeutig mit Rollen zu identifizie-

ren und werden im Verlauf des Stücks von manchen Performer_innen gewechselt. Es gibt sport-

liche, jugendliche Freizeitkleidung, auffällig glitzernde Party-Outfits, Anzüge, traditionell

afrikanische und arabische Kleider, militärische Uniformierungen u.a. Insgesamt ergibt sich ein

wildes, buntes Durcheinander, welches übertragen die ganze Welt bedeuten könnte, auf die Un-

terschiede im Ensemble selbst hinweisen oder grundsätzlich Assoziationen zu den Themen Mig-

ration, Kultur, Heimat und Fremde erlauben.

Wichtiges Mittel der Inszenierung sind die unterschiedlichen Puppen aus Holz und Schaumstoff,

welche in ihrer Vielfalt hier nicht umfassend beschrieben werden können. Es gibt übermenschen-

große Puppen, welche durch zwei Spieler_innen bewegt werden müssen, klassische Marionetten

an Fäden sowie kleine und große Schaumstoffpuppen und -gesichter, welche als Handpuppen ge-

spielt werden.

Die thematische und inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen Flucht und Migration kann

als multiperspektivisch bezeichnet werden. Biographische, individuelle und kollektive Erfahrung

von Krieg oder Armut im Heimatland, der gefährliche Weg der Flucht, das zurechtkommen in ei-

nem fremden Land ohne Familie und mit wenig Sprachkenntnissen, Heimweh, Alltagsrassismus

und die rechtliche Situation als Asylbewerber_in oder Illegalisierte werden mit unterschiedlichs-

ten Mitteln beleuchtet. Als besonders eindrücklich formulierte Alltagserfahrung kann als Beispiel

der Refrain eines kollektiv vorgetragenen Rap-Songs genannt werden: „Die U-Bahn kommt

pünktlich – aber Leute tot! Ich kenne niemanden, niemanden, niemanden.“ (vgl. DVD, TC

0:22:10)

„Paradise Mastaz“ beschränkt sich jedoch nicht auf individuelle, biographische Erfahrungen. So

wird ebenso der rassistisch durchsetzte, europäische Blick auf Afrika als Sehnsuchtsort und Pro-

jektionsfläche nachvollzogen. In einer eindrücklichen Szene fährt ein Kreuzfahrtschiff in Form

des riesigen Bühnenregals mit europäischen Touristen in ein nicht näher bezeichnetes afrikani-

sches Land. Parallel macht sich eine Gruppe Bootsflüchtlinge in Form von Marionetten in einer

Pappschachtel auf den risikoreichen Weg nach Europa (vgl. DVD, TC 0:36:00). Bei der Ankunft

im vermeintlichen Paradies werden die Erwartungen der Reisenden und Flüchtenden teilweise er-

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füllt, teilweise enttäuscht. Touristin: „Ich bin ja hier in Afrika um zu helfen, den armen kleinen

Kindern will ich einfach nur helfen. Aber ich bin so enttäuscht. Die singen und tanzen und sind

glücklich und fröhlich. So hab ich mir das nicht vorgestellt. Also ich bin so enttäuscht darüber.“

(vgl. DVD, TC 0:53:00) In der Ausstattung und Größe der zwei Schiffe verdeutlichen sich unter-

schiedliche Machtverhältnisse, sowohl auf staatlicher, als auch individueller Ebene.

Kulturelle Differenzen und Denkweisen werden auch am Beispiel der Religion behandelt. Zu Be-

ginn des Stücks wird durch einen Darsteller der Anfang der Genesis auf dem Laptop getippt und

auf die Leinwand übertragen. Als ein anderer Darsteller wiederspricht, einigen sie sich auf zwei

weitere Varianten: „Am Anfang gab es vielleicht auch Bakterien. Am Anfang gab es vielleicht

auch Nichts.“ (Stenitzer, 2013) Zu einem Späteren Zeitpunkt wird das Schöpfungsmotiv wieder

aufgenommen, es werden jedoch unterschiedliche afrikanische Mythen beschrieben. „Bei den

Dogon schuf Amma die Sonne, weiß, heiß und umgeben von acht Ringen aus rotem Kupfer […].

Aber, das ist eh alles egal, denn am Ende ist sowieso alles schief gegangen und die Kreation war

misslungen. Amma begann von neuem.“ (vgl. DVD, TC 0:42:00) Für die Zuschauer_innen wer-

den Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Mythen deutlich, Assoziationen, wie sie das Den-

ken von Menschen prägen und wie marginalisiert und undifferenziert afrikanische Geschichte

und Kultur in Europa wahrgenommen wird.

Neben improvisierten Szenen und selbstgeschriebenen Liedern wird auch auf politische Reden

zurückgegriffen. Beispielsweise werden Ausschnitte einer umstrittenen, zurecht als rassistisch,

neokolonialistisch und beleidigend kritisierten Rede des französischen Präsidenten Sarkozys aus

dem Jahr 2007 zitiert, in welcher er sich „an die Jugend Afrikas“ wendet (vgl. Cichon/ Hosch/

Kirsch, 2010: 9 ff.). Globale und europäische Zusammenhänge und Politiken werden aufgegrif-

fen, teils ironisierend zitiert, in ihren Widersprüchlichkeiten gezeigt und in Zusammenhang mit

den individuellen Erfahrungen der Subjekte gestellt.

Insbesondere durch die Arbeit mit den Puppen treten die Darsteller_innen auch in den eher bio-

graphischen Szenen nicht primär als Flüchtlinge, sondern als Performer_innen auf, und schaffen

eine Distanz zwischen sich und der Darstellung. Zusätzlich verkörpern sie europäische Touristen,

den Chef von Frontex, afrikanische Großgrundbesitzer, eine Maus auf der Suche nach einem

kleinen Stück vom großen Paradieskäse und viele weitere Charaktere.

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3.2.3 Analyse unter postdramatischen Gesichtspunkten

In diesem Abschnitt soll der postdramatische Charakter des Stücks belegt werden. Ich beschränke

mich dabei primär auf den Nachweis postdramatischer Theatermittel, eine weitergehende Inter-

pretation und Wirkungsanalyse kann aufgrund des dafür notwendigen Umfangs nicht geleistet

werden.

Grundlage von „Paradise Mastaz“ ist kein dramatischer Text, auch wird keine geschlossene

Handlung im Sinne eines „Modell des Realen“ (Lehmann, 2005: 22) erzählt. Die collagenartig

oder assoziativ aneinandergereihten, nur lose verknüpften Szenen ähneln einer „Traumstruktur“

(ebd.: 142). Auf Momente szenischer Handlung folgen beispielsweise unvermittelt Gesang oder

ein Tanz, ohne dass eine eindeutige Verknüpfung herzustellen ist. Inhaltliche Themen wie auch

die Theatermittel wechseln immer wieder. So tritt an die Stelle von Vereinigung der Elemente ei-

ne Offenheit oder Zersplitterung (vgl. ebd.: 140). Es wird zur aktiven Aufgabe der Zuschau-

er_innen, subjektiv Verknüpfungen und Assoziationen herzustellen. Gleichzeitig wird die damit

verbundene leibliche Aktivität auf der Suche nach Synthetisierung sinnlich Erfahren (vgl.

ebd.: 144)

Die Performer_innen agieren im Wechsel unterschiedlicher Darstellungsarten, zwischen not-

acting und complex-acting (vgl. Abschnitt 2.3.1). Alle Umbauten und Vorbereitungen des Büh-

nenbildes und technischer Requisiten werden durch die Performer_innen offen, für das Publikum

sichtbar vorgenommen. Zwar sind die Performer_innen, wie alle anderen, auch in diesen Momen-

ten Teil des gesamten „Performance-Text“ (ebd.: 144), für die Zuschauer_innen jedoch nicht Teil

der szenischen Matrix. Diese Momente markieren also den äußersten Punkt auf dem Kontinuum

vom Schauspielen zum Nicht-Schauspielen. Teilweise unterstützen sie durch Handlungen das

Spiel oder die Erzählungen andere Performer_innen. Bei der Erzählung der afrikanischen Schöp-

fungsmythen beispielsweise vollziehen einige der Spieler_innen mit ihren Körpern bildhaft das

eben Gesprochene nach. Wird erzählt, dass die Menschen vom Himmel herab auf die Erde fielen,

legen sie sich auf den Boden. Zwar unterstützen sie mit ihren Handlungen die Geschichte, sind

jedoch nicht psychologisch involviert.

In vielen Szenen bewegen sich die Performer_innen im Bereich des simple-acting, richten sich

erzählend mit teilweise persönlichen und biographischen Texten an das Publikum. Dabei ist es

für die Zuschauer_innen nicht immer erkennbar ob es sich um Behauptungen oder die Erzählung

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von realen Erfahrungen handelt. Es findet jedoch ebenfalls complex-acting statt, beispielsweise in

der Begegnung von Menschen in einer alltäglichen Straßensituation. Das Spiel mit den Puppen

reicht ebenfalls an das complex-acting heran, auch wenn die dargestellte Rolle nicht (nur) durch

den Schauspieler, sondern den Körper der Puppe gespielt bzw. repräsentiert wird. Dazu mehr in

Abschnitt 3.3.5.

Es gibt in der Inszenierung zwar viele Szenen mit deutlichem Fokus auf bestimmte Perfor-

mer_innen, es kommt jedoch immer wieder zu Momenten großer „Simultanität“ (ebd.: 149),

durch welche die Wahrnehmung der Zuschauer_innen überfordert wird. Beispielsweise die Ein-

lasssituation kann in diesem Sinne als „Überfülle von Zeichen“ (ebd.: 154) beschrieben werden.

Sie ergibt sich aus der großen Anzahl der Performer_innen und Musiker, der Vielfalt der Kostü-

me, dem parallelen Agieren und Sprechen aller auf der gesamten Bühne in Kombination mit dem

wechselnden Text auf der Leinwand. Als Zuschauer_in ist man nicht in der Lage, die gesamte Si-

tuation zu erfassen und muss sich entscheiden ob man zum Beispiel dem geschriebenen Text

folgt oder einzelne Performer_innen beobachtet.

Wenn auch mehrheitlich deutsch gesprochen wird, ist „Paradise Mastaz“ ein „multiliguale[s]“

(ebd.: 268) Theaterstück, in dem neben Deutsch auch Englisch und Französisch gesprochen wird.

Sprachprobleme und -barrieren werden deutlich und die Einheit nationaler Sprache dekonstruiert.

Auch wird die Sinnlichkeit von Sprache erfahrbar, wenn der Inhalt nicht entschlüsselt werden

kann. Wiederum wird deutlich, dass jede Zuschauer_in ein anderes Stück sieht bzw. hört.

Als Beispiel für einen „Einbruch des Realen“ (ebd.: 178) soll hier der Auftritt des Künstlers Yaya

Coulibali dienen, welcher das Stück mit erarbeitet hat (vgl. DVD, TC 01:20:50). Während seines

ca. siebenminütigen Auftritts, der durch eine Performerin anmoderiert wird, erzählt er in franzö-

sischer Sprache sehr frei und persönlich von seiner Arbeit mit Hajusom, seiner Kunst, seiner

Heimat Mali und seinen eigenen Migrationserfahrungen zwischen Europa und Mali. Seine im-

provisierte Erzählung erzeugt einen Bruch, fällt aus der theatralen Handlung heraus, da er die Ar-

beit an dem Stück in welchem er gerade Auftritt kommentiert und soziale, gesellschaftliche

Zusammenhänge reflektiert. So vermischen sich unterschiedliche Ebenen, die Realität, der Ereig-

nischarakter der Aufführung tritt besonders hervor. Zwar werden Teile seiner Rede auf dem Bild-

schirm übersetzt, dennoch bleiben für Zuschauer_innen ohne Französischkenntnisse viele

Aussagen unklar.

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Große Teile des Stücks werden durch unterschiedlichste, häufig elektronische Musik und Rhyth-

men unterstützt und getragen. Oftmals tritt die Vermittlung durch Sprache in den Hintergrund

und Körper, Bewegung oder Klang dominieren die Szene. Dies kann als „Musikalisierung“ (ebd.:

155) beschrieben werden, gleichzeitig deutet es auch auf eine „Non-Hierachie“ (ebd.: 146) der

verwendeten Theatermittel hin. Dies wird auch in den Choreopgraphien und Tanzszenen deutlich,

in welchen die Körper der Performer_innen im Mittelpunkt stehen.

Durch das biographische Material oszilliert die Wahrnehmung der Zuschauer_innen, ihr Blick

auf die Körper der Performer_innen zwischen der Wahrnehmung des Körpers in seiner Präsenz

und als szenischer Repräsentant. Besonders deutlich wird dies in einer Szene über das Thema

Flucht. Auf der Leinwand wird ein realer, dokumentarischer Ausschnitt aus dem Film ‚Victimes

de nos richesses‘ von Kal Touré gezeigt (vgl. DVD, TC 0:57:00). Mit einer Nachtsichtkamera

werden Flüchtlinge bei dem Versuch eines Grenzübertritts begleitet. Vielen gelingt die Flucht

nicht, sie werden überwältigt, fallen zu Boden. Die Performer_innen auf der Bühne beginnen pa-

rallel zum Film die körperlichen Bewegungen und Gesten einzelner Flüchtender im Video zu

wiederholen. Es entsteht eine eigentümliche Verdoppelung, zwischen Repräsentanz durch Nach-

ahmung und der Präsenz der realen Körper, in welche die Erfahrung von Flucht und Migration

eingeschrieben ist.

Insgesamt wird deutlich, dass die szenische Praxis und Ästhetik des Stücks „Paradise Mastaz“ im

Hinblick auf die Spielweise der Performer_innen, den Umgang mit Theaterzeichen wie Körper,

Stimme und Sprache, durch Musikalisierung und dem Spiel mit Realitäten dem postdramatischen

Theater zugerechnet werden kann.

3.3 Potentiale ästhetischer Erfahrung der Spieler_innen an Beispielen

Im folgenden Abschnitt sollen die für das Theaterstück „Paradise Mastaz“ zentralen Mittel der

Darstellung, welche sich nicht dem complex-acting zurechnen lassen und welche typisch für

postdramatische Inszenierungen sind, im Hinblick auf potentielle ästhetische Erfahrungen unter-

sucht werden. Ziel ist, durch die Analyse der spezifischen Darstellungsweisen Rückschlüsse auf

das spezifische Potential ästhetischen Erlebens und Erfahrens zu ziehen.

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3.3.1 Szene 1.: Biographische Theaterarbeit

Beispielszene (vgl. DVD, TC 0:20:22 - 0:22:10)

Ein Performer bekommt von einem anderen Performer mit den Worten „Er will dir was sagen“

eine Handpuppe überreicht. Er nimmt Kopf und Körper, schaut sie an und streift sie sich über den

Arm, dann wendet sich die Puppe mit tiefer Stimme an das Publikum: „ Hey, was redest du da?

Ich spür vor allem Einsamkeit. Ich war in Griechenland, Italien, Spanien und Deutschland. Euro-

pa ist ne leere Schachtel für mich. Gestern war ich am Kiosk und habe nach einer Adresse ge-

fragt. Die Frau ist weggelaufen vor mir!“ Der Spieler und die Puppe schauen sich an, der Spieler

nickt und stimmt der Aussage der Puppe zu. Er erzählt: „Ich verstehe was du meinst. Da wo ich

herkomme, da kommen wir abends alle zusammen, setzen uns hin, trinken Tee, sprechen über al-

les.“ Die Puppe antwortet: „Ja genau! Und hier? Die U-Bahn fährt Pünktlich, aber alle Menschen

tot!“ Im letzten Satz setzt Musik ein, die anderen Spieler_innen kommen dazu, gemeinsam

performen sie den selbstentwickelten Song, dessen Refrain auf dem letzten Satz der Puppe ba-

siert.

In dramatischen Produktionen wird auf die Biografie der Darsteller_innen lediglich indirekt Be-

zug genommen. Die persönlichen Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle dienen als Anknüpfungs-

punkt, um die Gefühle und das Verhalten einer Rolle zu füllen. Im Gegensatz dazu wird in

biografischer Theaterarbeit direkt auf sie Bezug genommen. Biographisches Material wird durch

individualisierende oder kollektivierende Gestaltungswege direkt Gegenstand der Inszenierung.

Die Theateraufführung wird so auch zu einer biographischen Mitteilung (vgl. Köhler, 2009: 119).

Der Begriff Biografie wird hier verstanden als Form von Lebensbeschreibung eines Subjektes,

welche „mit der Reflexion eigener Wachstums- und Entwicklungsprozesse verknüpft ist und da-

rüber mit der Frage nach der eigenen Identität verbunden.“ (Köhler, 2009: 17) Im beschriebenen

Beispiel basiert die Szene auf dem Lebenslauf des Performers, seiner Erfahrung von Flucht aus

der Heimat, dem Weg durch verschiedene europäische Länder, den Erfahrungen und Eindrücken

in Deutschland und seinen emotionalen Sehnsüchten und Wünschen. Künstlerisch transformiert

wird die biographische Mitteilung durch den dialogischen Charakter der Szene durch die Ver-

wendung der Puppe und das Verstellen der Stimme durch den Performer. Auch sind im stimmli-

chen Ausdruck zwei widersprüchliche emotionale Zustände zu erkennen, die Puppe wirkt wütend

und traurig, der Performer spricht eher zustimmend und besänftigend, hat eine positivere Aus-

strahlung als die Puppe. In der Zustimmung „Ich verstehe was du meinst“ findet auch die Ver-

wandlung einer individuellen hin zu einer kollektiven Aussage und Erfahrung statt. Denn auch

wenn sie sich individuell unterschiedlich ausformen, haben die Performer_innen auch jenseits der

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Bühne eine gemeinsame Geschichte und Erfahrungen, die sich gleichen oder ähneln. Auf die

Kollektivität der Erfahrung verweist auch die nachfolgende Szene, in welcher eine zentrale Aus-

sage der Puppe musikalisch durch alle Performer_innen wiederholt wird.

Die beschriebene Szene lässt sich also einerseits als biographische Mitteilung des Subjekts deu-

ten, welche sich durch eine Nähe zu der dem Performer vertrauten Alltagsrealität auszeichnet. Sie

wird jedoch spielerisch durch die beschriebenen Mittel in die Ästhetik einer Theatersituation

transformiert und erweist sich darin als different zum Alltag. Im Unterschied zu der ästhetischen

Erfahrung, welche in der Differenz zwischen einer literarischen Rollenvorgabe und der jeweili-

gen Spieler_in liegt, ist der Unterschied zwischen Darsteller_in und Dargestelltem verringert.

Dies lässt sich als „ästhetisches Merkmal der Minimaldifferenz“ (Köhler, 2009: 119) beschrei-

ben. Durch die theatrale Selbstinszenierung seiner oder ihrer Biographie in einem reflektierte Ge-

staltungsakt, welcher sich von anderen alltäglichen, sozialen Selbstthematisierungen

unterscheidet, wird für die Performer_in die Differenz zwischen Alltag und Theater erfahrbar

(vgl. ebd.: 119). „Die Besonderheit der Minimaldifferenz für die Qualität ästhetischer Erfahrung

liegt also darin, dass der Kontext Theater eine Differenzerfahrung herstellt und gleichsam mini-

malisiert.“ (ebd.: 121)

In der biographischen Theaterarbeit in welcher die Performer_in gleichzeitig Biographieträger_in

und –gestalter_in ist, bedarf es der Abstandnahme und Reflexion von biographischen Erinnerun-

gen und Erfahrungen, um diese wiederum auf der Bühne verkörpern zu können. Die ästhetische

Erfahrung von Minimaldifferenz kann als „engmaschiges Wechselspiel von Involviertheit und

Distanznahme“ (ebd.: 123) beschrieben werden, welches auch auf den Identitätsentwurf der Per-

former_in einwirkt. Es kann als spezifisches Potential biographischer Theaterarbeit betrachtet

werden. Gleichzeitig ist es charakteristisch für postdramatische Inszenierungen, in welchen die

Performer_innen im Sinne einer provokativen Verkörperung ihrer selbst auftreten.

3.3.2 Szene 2.: Performatives Erzählen

Beispielszene (vgl. DVD, TC 01:15:34 - 01:17:00)

Ein Performer betritt eine Szene, in welcher die Körper anderer Performer_inne verteilt auf dem

Boden liegen. Im Kontext der Inszenierung assoziiert das Publikum mit den Körpern die Leichen

von Flüchtlingen, welche bei dem Versuch Staatengrenzen zu überschreiten, um nach Europa zu

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gelangen, gestorben und liegen geblieben sind. Der Performer trägt ein Shirt mit der Aufschrift

‚We come in peace‘. Er blickt auf die vor ihm liegenden Körper und wendet sich direkt an die

Zuschauenden: „Mir reichts, ich kann das echt nicht mehr sehen. Leute! Was soll das? Überall

wo ich hinschaue sehe ich nur Kriege! Kriege hier, Kriege da, Kriege dort. Dabei ist es doch so

einfach, dass wir gemeinsam etwas gegen die Ursache der Kriege machen. Wir gemeinsam! Ver-

steht ihr? Als kollektive Macht. Ich mein, das ist doch so einfach, wirklich so einfach. Wenn wir

uns alle mal empören würden. Empörung! Wisst ihr was das für mich heißt? Empörung heißt für

mich Wiederstand. Denn aus Empörung entsteht Wiederstand.“ Dann wendet er sich den am Bo-

den Liegenden zu: „Deshalb steht auf, ihr Leichen da. Steht auf, ich kann das echt nicht mehr se-

hen.“ Die Performer_innen beginnen sich zu erheben und er wendet sich wieder an das Publikum:

„Ich mein, wir können doch alle zusammen was dagegen machen. Merkt euch eins: kollektive

Macht ist eine gefährlich Macht! Wenn wir uns auflehnen, wenn wir uns Empören, wenn wir

Wiederstand leisten, dann gibt es sowas wie das hier eben nicht mehr. Kriege, wozu denn auch?

Wir schaffen das! Die anderen Performer_innen sind in zwischen aufgestanden, elektronische

Musik setzt ein und alle beginnen, sich leicht roboterartig in geometrischen Linien im Bühnen-

raum zu bewegen. Er wendet sich mit seiner Aufforderung an einzelne, sucht Kontakt, rennt

durch den Raum, wird jedoch durch die anderen ignoriert. Er verschwindet in der Masse der Per-

former_innen, welche aus den Bewegungen in eine tänzerische Choreographie übergehen, die

den roboter- oder maschienartigen Charakter weiter beibehält.

Diese Szene kann im Sinne Lehmanns als „Einbruch des Realen“ betrachtet werden. Der Perfor-

mer unterbricht die Szene und positioniert sich zu dem gerade Geschehenen bzw. Gesehenen. Ute

Pinkert beschreibt diese Form der Unterbrechung als „performatives Erzählen“ und ordnet diese

Erzählform dem postdramatischen Theater zu (vgl. Pinkert, 2005: 40). Sie ist gekennzeichnet

durch die Reduzierung der dramatischen Situation auf die Begegnung zweier Gruppen, denjeni-

gen, die etwas sehen und hören möchten und denen, die etwas zeigen wollen. In dieser Begeg-

nung wird die Fiktionalität des Theaters und der Figur aufgegeben, die Wirklichkeit der Bühne

gleicht sich der Wirklichkeit der Zuschauenden weitgehend an (vgl. ebd.: 41). Mit den Katego-

rien Schechners lässt sich die Szene als simple-acting beschreiben. Zwar wird keine fiktive Situa-

tion behauptet, der Performer ist jedoch für das Publikum emotional involviert, er wiederholt

oder re-inszeniert seine eigenen Gefühle.

Im Unterschied zu biographischen Mitteilung ist die Grundlage performativen Erzählens weiter

gefasst, knüpft jedoch auch an Alltagserfahrungen der Subjekte an. Die Distanz zwischen Publi-

kum und Performer_in wird durch die direkte Ansprache sowie das Fehlen einer Rolle verringert.

Die von Hentschel entwickelte Differenz „zwischen Bühnenraum und Publikum“ (Hentschel,

Page 48: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

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2010: 198) wird zwar geringer, tritt jedoch gleichzeitig durch die Annäherung besonders hervor

und wird anders und neu erfahrbar.

In Gleichzeitigkeit findet ein Spiel zwischen Bühnenrealität und Wirklichkeit statt, die Kritik des

Performers am Krieg, an den vielen Toten, kann sowohl auf das Stück als auch auf die reale Welt

bezogen interpretiert werden. In diesem „liminoiden Raum zwischen Spiel und Realität“ (ebd.:

45) bewegt sich die Performer_in in Balance zwischen zwei Wirklichkeiten. Dieser Zustand kann

als Potential einer Differenz- oder Ambiguitätserfahrung betrachtet werden. Insbesondere wenn

man die Szene im Kontext der Inszenierung betrachtet. Denn in dem beschriebenen Beispiel tritt

der Performer aus einem bestimmten Distanzverhältnis zum Publikum in ein anderes hinüber,

verändert durch sein Handeln die Beziehung zweier Wirklichkeitsebenen. Das Wie, der Prozess

des Herstellens theatraler Wirklichkeit, wird besonders in diesen Übergängen, durch die Wechsel

und Verschiebungen von Distanzen für die Zuschauenden erfahrbar. Aus der Perspektive der Per-

former_in ermöglicht dieses Spiel möglicherweise eine intensivierte Wahrnehmung beider Ebe-

nen und bietet Anlass zur Selbstreflexion wie auch zur Reflexion des Verhältnisses der

Performer_in zum Publikum. An dieser Stelle könnte also der Vermutung Hentschels von einer

Intensivierung oder auch Radikalisierung der Differenzerfahrung im postdramatischen Theater

gefolgt werden.

3.3.3 Szene 3.: Choreographie und Tanz

Beispielszene (vgl. DVD, TC 01:17:00 - 01:19:40)

Im Anschluss an die im Vorigen Beispiel beschriebene Szene folgt eine Tanz-Choreographie, an

welcher alle Performer_innen beteiligt sind. Der Beginn der Szene wird deutlich durch die ein-

setzende Musik, welche durch Klang und Rhythmus Assoziationen zu einer Fabrik, Maschinen

und mechanischen, technisierten oder computerisierten Vorgängen erzeugt. Die Performer_innen

beginnen mit Einsetzen der Musik ihre Bewegungen immer stärker zu Formalisieren. Zunächst

verändert sich ihr Gang, ihre Bewegung im Raum. Zwar laufen sie scheinbar chaotisch im Raum

umher, bewegen sich dabei jedoch wie auf einem rechtwinkligen ‚Gitternetz‘. Nach und nach

bleiben sie stehen und führen choreographische Bewegungen aus, welche an Maschinen oder Ro-

boter erinnern. Dabei kommt es zu Wiederholungen und Verschiebungen der gleichen Choreo-

graphie. Diese wird teilweise von mehreren Performer_innen parallel ausgeführt und von anderen

zeitlich versetzt wiederholt. Dazwischen finden jedoch auch improvisiert wirkende Bewegungen

statt. Die Stimmung in der Szene ist eher düster, die Performer_innen wirken einerseits in den

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Bewegungen isoliert, gleichzeitig in der Parallelität der Choreografie auch als Gruppe funktiona-

lisiert.

Wie schon in Abschnitt 2.2.4 beschrieben, verdeutlicht sich die postdramatische Inszenierung

und Wahrnehmung des menschlichen Körpers in besonderem Maße im zeitgenössischen Tanz,

welcher Eingang in das postdramatische Theater erhalten hat. Auch in der Inszenierung „Paradise

Mastaz“ stehen Tanz und Choreographie von Körpern gleichberechtigt neben gespielten Szenen

und performativen Erzählungen. Im Gegensatz zum Tanztheater oder Musical stehen der Tanz

und der Körper für sich. Es wird nicht getanzt als Rolle und nicht eingebunden in eine lineare

Geschichte. Die „sinnferne Eigenrealität der körperlichen Spannungen“ (Lehmann, 2005: 271)

zwingt die Rezipient_innen eigene Assoziationen und Anknüpfungspunkte zu entwickeln. Die in

der Choreographie auftretende Mechanisierung und Maschinisierung der Körper kann als Unter-

suchung „im Grenzland zwischen Menschlichem und Dinglichen“ (ebd.: 382) betrachtet werden.

Der Körper wird als Schnittstelle zwischen Lebendigem und Totem thematisiert.

Aus dem Ansatz, die Potentiale ästhetischer Erfahrung jeweils medienspezifisch zu entwickeln,

erwächst die berechtigte Forderung, den zeitgenössischen Tanz als eigenständige Kunstform in

diesem Sinne zu analysieren. Dies kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Hier

soll jedoch versucht werden, die Annahmen Hentschels bezogen auf potentielle Differenzerfah-

rungen auf den zeitgenössischen Tanz zu übertragen.

Bezüglich der Differenzerfahrung der Subjekte kann im Tanz von einer Verschiebung der

Schwerpunkte möglicher Wahrnehmungen ausgegangen werden. Der Tanz wird nicht ‚als Rolle‘

vollzogen und auch nicht von sprachlichen oder stimmlichen Äußerung begleitet. Die Differenz-

erfahrung zwischen Spieler_in und Figur sowie zwischen Sinn- und Sinnlichkeit treten aus Per-

spektive der performenden Subjekte für die Zeit des Tanzens in den Hintergrund. Durch

Fokussierung oder Konzentration auf den Körper tritt die Wahrnehmung der Aspekte zwischen

Körper haben und Körper sein besonders hervor und eröffnet die Möglichkeit einer Intensivie-

rung dieser Differenzerfahrung. Tanz setzt, wahrscheinlich in insgesamt höherem Maße als

Schauspiel, die Objektivierung des eigenen Körpers zur bewussten Gestaltung voraus. Die Erfah-

rung des ‚Körper habens‘ im Sinne einer Selbstbeobachtung und der bewussten Gestaltung von

Bewegungen geht auch im Tanz mit der Erfahrung des ‚Körper seins‘, dem Erleben im eigenen

Körper als „Leib-Subjekt“ (Fischer-Lichte, 2004b: 129) einher. Die diesbezügliche Ambiguitäts-

erfahrung tritt also potentiell verstärkt auf.

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47

3.3.4 Szene 4.: Stimme, Sprache und Gesang

Beispielszene (vgl. DVD, TC 0:22:10 - 0:24:40)

Im Anschluss an die in Abschnitt 3.3.1 beschriebene Szene wird der Inhalt des Dialogs musika-

lisch mit einem Lied aufgegriffen und erweitert. Zwei Performer singen im Wechsel und gemein-

sam, wobei einer der beiden im Bühnenelement der Musiker steht, der andere im Zentrum der

Bühne. Die anderen Performer laufen mit Puppen in der Mitte der Bühne langsam im Kreis. Pa-

rallel erscheint auf der Leinwand ein Zitat von Walter Benjamin. Der Refrain des Liedes lautet:

„Ich kenne niemanden, niemanden, niemanden. Acht bis zehn Etagen, niemand kennt sich, nie-

mand. Hallo, tschüss und fertig. Hallo, tschüss und fertig. Und die U-Bahn kommt pünktlich -

aber Leute tot.“

Die beschriebene Szene kann nicht im radikalsten Sinne als Dekonstruktion von Sprache als auf

Sinn zentrierter Rede, als De-Semantisierung von Stimme beschrieben werden, wie es postdrama-

tischen Inszenierungen auch stattfindet (vgl. Lehmann, 2005: 263). Dennoch kann die Überfüh-

rung des vormals dialogisch gesprochenen Textes in einen Song als Musikalisierung und

Rhythmisierung gedeutet werden, durch welche Aspekte jenseits der semantischen Ebene hervor-

gehoben werden. Durch den Gesang tritt die Stimme hinter der Sprache hervor, macht sich in ih-

rem Eigenleben vernehmbar (vgl. Fischer-Lichte, 2004: 224). Körperlichkeit, Räumlichkeit, und

Lautlichkeit der Stimme werden für Produzent_innen wie Rezipient_innen hör- und wahrnehm-

bar (vgl. ebd.: 219).

Gerade die grammatikalisch fehlerhafte Zeile „die U-Bahn kommt pünktlich - aber Leute tot!“

erweist sich für die Zuschauer_innen rhythmisch als besonders eingängig, bleibt im Gedächtnis

haften. Die Lust am Klang, die Poesie und der Rhythmus der Zeile in Verbindung mit der ‚fal-

schen‘ Grammatik kann als „Poetik der Störung“ (Lehmann, 2005: 264) gedeutet werden. Dieses

anti-professionelle Moment, das Zulassen unterschiedlicher Sprachkompetenzen der Perfor-

mer_innen, verweist auch auf den Wiederstand gegen handwerkliche Perfektion, kann als politi-

sche Kritik an steriler Professionalität von Theater verstanden werden (vgl. ebd.: 270).

Ähnlich wie im vorherigen Abschnitt 3.3.3 kann dieses Beispiel der Argumentation dienen, dass

ein bestimmter Aspekt ästhetischer Erfahrung, die Differenz von Sinn- und Sinnlichkeit, beson-

ders betont wird. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass in postdramatischen Inszenierungen in wel-

chen die sinnliche und leibliche Dimension von Stimme erforscht und inszeniert wird, diese auch

durch die Performer_innen intensiver und bewusster erfahren werden kann.

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3.3.5 Szene 5.: Figurentheater

Beispielszene (vgl. DVD, TC 0:47:33 - 0:54:41)

Gegen Mitte des Stücks treffen die mit dem Kreuzfahrtschiff nach Afrika gereisten Touristen in

einem Dorf auf die Bewohner_innen. Die vier europäischen Touristen werden durch Handpuppen

aus Schaumstoff repräsentiert, während die Afrikaner_innen durch Marionetten vom übrigen En-

semble gespielt werden. Das Aufeinandertreffen erfolgt weitgehend ohne Sprache und wird mu-

sikalisch begleitet. Die Touristen beobachten die dörfliche Szenerie vom seitlichen Rand der

Bühne. Nach einem kurzen Zwischenspiel unterhalten sie sich über ihre Eindrücke und Erfahrun-

gen. Für dieses Gespräch setzen sie sich auf große Blechtonnen im vorderen Bereich der Bühne.

Die Performerin auf der linken Seite beginnt mit bzw. als Puppe zu sprechen. Die anderen Per-

former_innen nehmen mit ihren Puppen aktiv an der Erzählung Teil, indem sie zuhören und das

erzählte bejahend kommentieren. Die Performerin spricht mit starkem kölschen Akzent: „Also

Hauptsächlich bin ich ja hergekommen um zu helfen ne. Ich bin hier in Afrika um zu helfen, den

armen kleinen Kindern will ich einfach nur helfen. Aber ich bin so enttäuscht. Die singen und

tanzen und sind glücklich und fröhlich. So hab ich mir das nicht vorgestellt. Also ich bin so ent-

täuscht darüber. Und dann die Sonne hier ne. Gar nicht so warm wie mir erzählt wurde. Super

enttäuschend. Und dann läuft hier auch wirklich jeder mit nem Handy rum ne. Alle, wirklich je-

der hat hier so ein Handy. Was sollt das? Kein bisschen afrikanisch. Also nee, ich bin so ent-

täuscht. Aber eine Sache habe ich hier gesehen und das sind die Holzpuppen hier, ne. Ich hab mir

überlegt eine zu kaufen.“ Eine andere Performerin kommentiert: „Das nennen die hier Kunst!“

Die Touristin spricht weiter: „Ja, ja, die kenn ich ja auch von zu Hause. Da haben wir ja auch

welche in Museen. Und ähm, ich dachte mir ich kauf vielleicht eine. Vielleicht hilft das ja ir-

gendwie.“ Im Anschluss berichtet eine weitere Performerin mit ihrer Puppe auf Englisch von ih-

ren Eindrücken, wirkt sehr überwältigt, muss sich jedoch später übergeben, da sie Probleme mit

dem Magen hat. Ihr Abgang beendet die Szene.

Durch das besondere Verhältnis von Subjekt und Objekt erweist sich das Figurentheater als be-

sonders anschlussfähig und interessant für postdramatische Inszenierungen. In seiner Praxis ver-

deutlicht sich ein wesentlicher Aspekt postdramatischer Ästhetik im Hinblick auf den Körper als

„Grenze zwischen Lebendigem und Toten“ (Lehmann, 2005: 382). Denn im Figurentheater ver-

schwimmt für die Rezipient_in die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, da „das Subjekt zum

Ding tendiert und das Ding zum lebendigen Wesen“ (ebd.: 385) wird.

Bei der Inszenierung „Paradise Mastaz“ handelt es sich im doppelten Sinne um eine Mischform.

Es werden unterschiedliche Darstellungsformen wie Tanz, Schauspiel und Figurenspiel verwen-

det und aufeinander bezogen. Auch das Figurenspiel ist aufgrund der Integration und Kombinati-

on verschiedener Figurenarten wie Marionetten, Hand- und Stabpuppen u.a. als gemischt zu

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betrachten. Durch die offene szenische Kombination von Schauspieler_innen und verschiedenen

Figurenarten wird der unterschiedliche Charakter dieser Darstellungsformen, sowie die sich aus

dem Material der Figuren ergebenden Unterschiede, wahrnehmbar. Darin implizit ist also auch

eine selbstreferentielle Thematisierung des Wie der theatralen Darstellung.

Im Folgenden soll durch den Vergleich zum Schauspiel der Unterschied der Differenzerfahrung

zwischen Spieler_in und Figur im Figurenspiel herausgestellt werden. Im beschriebenen Beispiel

spielen die Performer_innen Handpuppen, welche einen Körper besitzen, den sie auf ihrem

Schoß platzieren. Die Performer_innen bleiben hinter den Puppen sichtbar für das Publikum.

Im Schauspiel erfahren sich die Darsteller_innen gleichzeitig als Subjekt und Objekt der Darstel-

lung, ihr Ausdrucksmittel ist der eigene Körper, an welchen sie gebunden bleiben. Im Figuren-

spiel wird die Rolle auf ein Objekt, im Beispiel eine Handpuppe, übertragen. Die im Schauspiel

intakt bleibende Einheit der Darstellung wird im Figurenspiel in zwei einzeln wahrnehmbare

Komponenten zerlegt. Das darstellende Subjekt, die Figurenspieler_in und das dargestellte Ob-

jekt, die Spielfigur, treten materiell getrennt auf, sind jedoch komplementär aufeinander Ange-

wiesen (vgl. Knoedgen, 1990: 99).

Der Wiederspruch zwischen Spieler_in und Figur erfährt zwar eine materielle Trennung, gleich-

zeitig bleibt ein antithetischer Widerspruch sowohl im Subjekt als auch im Objekt erhalten. Das

Objekt bleibt in seiner Materialität erhalten, wird jedoch gleichzeitig als handlungstragende Rolle

behauptet. Die Spieler_in bleibt einzig handlungsfähiges Subjekt, behauptet jedoch, nicht selbst

zu handel (vgl. Koedgen, 1990: 102).

Die besondere Differenzerfahrung des Subjekts deutet sich in der Aussage eines Performers über

die Arbeit mit den Puppen im Rahmen der Inszenierung „Paradise Mastaz“ an: „Es ist schwer,

die Puppen zu spielen. Man muss sich vollkommen auf sie konzentrieren, nicht auf sich.“ (Lud-

wig: 2013) Da die Darsteller_in im Figurenspiel die Rolle von sich loslöst und auf ein Objekt

überträgt, muss sie sich ganz auf das Objekt konzentrieren, bleibt jedoch das Subjekt der Darstel-

lung. Im Moment der Darstellung, bei gleichzeitiger Behauptung nicht selbst Darzustellen, kann

aufgrund der Widersprüchlichkeit von einer Differenzerfahrung für das spielende Subjekt ausge-

gangen werden.

Zusätzlich bietet die Mischung von Schauspiel und Figurenspiel das Potential, das Verhältnis von

Spieler_in und Figur vergleichend zu reflektieren.

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3.4 Ästhetische Erfahrung und Bildung im postdramatischen Theater

Wie schon in Abschnitt 2.4 beschrieben, erscheint der Unterschied ästhetischer Erfahrung für die

Spieler_innen weniger ausgeprägt, als zu Beginn der Arbeit vermutet. Die von Hentschel als

grundlegend beschriebene Besonderheit theatraler Darstellung, die Erfahrung der Gleichzeitigkeit

der Spieler_innen als Subjekt, Material und Objekt der künstlerischen Gestaltung, bleibt auch im

postdramatischen Theater erhalten. Ausgehend von dem Doppelcharakter jeder performativen

Handlung ist grundsätzlich von der Möglichkeit einer Differenzerfahrung für die Spieler_innen

auszugehen. Im ausgewählten Stück findet in einzelnen Szenen immer wieder Schauspiel im Sin-

ne des complex-acting statt. In diesen Momenten ergeben sich für die Spielerinnen Differenzer-

fahrungen im Sinne Hentschels, wie sie in Abschnitt 1.3.3 beschrieben worden sind.

Aus der Analyse der ausgewählten Szenen und der in ihnen verwendeten Mittel wird deutlich,

dass Differenzerfahrungen auch in postdramatischen Inszenierungen möglich werden. Durch die

Auflösung von Kohärenz auch in Bezug auf die Theatermittel verändert sich die Art und Weise,

wie die Erfahrungen der Subjekte im Medium Theater gemacht werden. Es werden also nicht

grundlegend andere Erfahrungen gemacht, sie werden jedoch auf einem anderen Weg gemacht.

Die grundlegende Erfahrung von Ambiguität, das Erleben unterschiedlicher, sich wiederspre-

chender Zustände, bleibt jedoch in allen untersuchten Mitteln erhalten, auch wenn keine klassi-

sche ‚Rolle‘ erarbeitet und gespielt wurde, bzw. diese wie im Figurenspiel auf ein Objekt

übertragen wurde.

Die Ausgestaltung der potentiellen ästhetischen Erfahrung erscheint aufgrund der vielgestaltigen

Möglichkeiten und Formen postdramatischer Inszenierungen als stark inszenierungsabhängig. In

den ausgewählten Szenen wurden Theatermittel untersucht, welche im postdramatischen Theater

häufig genutzt werden. Sie können jedoch nur als Beispiele für die Untersuchung möglicher Dif-

ferenzerfahrungen dienen. Weitere Aspekte wie beispielsweise räumliche und zeitliche Erfahrun-

gen sowie die Wirkung von Medien könnten in der weiteren Forschung berücksichtigt werden.

Der These Hentschels, das postdramatische Theater intensiviere und radikalisiere die Differenzer-

fahrung, kann nur bedingt zugestimmt werden. Einzelne Aspekte, welche Hentschel in ihren Ka-

tegorien von Differenzerfahrung beschreibt, mögen eine Betonung oder Intensivierung erfahren,

andere treten dafür jedoch in den Hintergrund.

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51

Die Differenzerfahrung ist Grundbedingung ästhetischer Bildung (Hentschel, 2010: 13). In Hin-

blick auf die Potentiale ästhetische Bildung in postdramatischen Inszenierungen ist zu vermuten,

dass sie weitestgehend parallel verlaufen. Die die in Kapitel eins mit Hentschel beschriebenen

Potentiale ästhetischer Bildung dürften interpersonell so unterschiedlich sein, das die

intrapersonelle Differenz, also die Unterschiedlichkeit der Erfahrung des einzelnen Subjektes im

Vergleich von dramatischen und postdramatischen Projekten weniger ausgeprägt ist.

4 Fazit

Anhand der exemplarischen Analyse der Inszenierung „Paradise Mastaz“ konnte gezeigt werden,

dass die in Kapitel eins beschriebenen Potentiale ästhetischer Erfahrung und ihre Voraussetzun-

gen in postdramatischen Inszenierungen erhalten bleiben. Sie werden jedoch teilweise aus ihrem

im klassischen Schauspiel oder complex-acting kohärenten Gefüge gelöst und treten einzeln oder

zumindest mit starker Betonung auf einzelne Aspekte auf. Dies könnte Zugangs und Erfahrungs-

wege für bestimmte Spieler_innen vereinfachen, in dem beispielsweise wie im Tanz primär über

den Körper gearbeitet wird. Auch die Selbstreflexion und Differenzierungsfähigkeit der Subjekte

könnte durch die Wahrnehmung der Unterschiede in den verschiedenen Mittel eher ermöglicht

werden.

Das Wesen der ästhetischen Differenzerfahrung erscheint insgesamt als so flüchtig und subjektiv,

dass es nicht als sinnvoll erscheint ein ‚mehr‘ an ästhetischer Erfahrung zu versprechen. Diese

Argumentation führt zu einer ökonomistischen Denkweise. Auch kann es nicht Ziel sein, mög-

lichst viele verschiedene Mittel zu verwenden, um Differenzerfahrungen zu intensivieren. Aus

Perspektive der Theaterpädagogik muss die Entscheidung, ob dramatisch oder postdramatisch in-

szeniert wird, und mit welchen Mitteln dies geschieht, eine primär künstlerische Entscheidung

sein. Diese Entscheidung hängt von der Spielleitung, dem jeweiligen Thema, Stück oder For-

schungsgegenstand und von den Bedürfnissen und Wünschen der Spieler_innen gemeinsam ab.

Die immer wieder geäußerten Vorbehalte, die Selbstreferentialität des postdramatischen Theaters

verhindere die künstlerische Erfahrung und Auseinandersetzung der Spieler_innen, und sei zu

abstrakt, muss Widersprochen werden. Das Beispiel der Inszenierung „Paradise Mastaz“ sowie

die Arbeitsweise von Hajusom, der Anspruch alle im künstlerischen Prozess mitzunehmen, be-

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weist das Gegenteil. Im Vergleich von dramatischem und postdramatischem Theater hängt es

nicht von der Form des Theaters ab, ob potentiell ästhetische Erfahrungen gemacht werden. Am

Ende ist es eine Entscheidung des spielenden Subjektes, Selbstbildung zuzulassen oder auch

nicht, unabhängig von der theatralen Form. Auch dramatische Inszenierungen können an

Spielenden vorbei entwickelt werden, wenn der gemeinsame, gleichberechtigte, künstlerische

Prozess nicht zu Stande kommt. Dies ist keine genuin postdramatische Problematik. In der Be-

hauptung, das postdramatische Theater sei zu abstrakt für die Adressat_innen theaterpädagogi-

scher Projekte, entlarvt sich eine paternalistische Haltung. Sie steht im Gegensatz zu der

Annahme, die Teilnehmer_innen theaterpädagogischer Projekte als Künstler_innen und das Pro-

jekt als gemeinsame künstlerische Arbeit mit den Mitteln des Theaters zu begreifen. Und nur im

letzteren Fall kann von Kunst und entsprechend von Selbstbildung als Auseinandersetzung des

Subjekts mit sich selbst im Medium der Kunst gesprochen werden.

Mit dieser Arbeit kann die Frage nach den Potentialen ästhetischer Erfahrung im postdramati-

schen Theater sicher nicht abschließend beantwortet werden, handelt es sich doch lediglich um

die Analyse einer einzelnen Inszenierung. Perspektivisch bedarf es einer ausführlicheren For-

schung, welche als Grundlage nicht nur die Inszenierung, das Produkt einer theaterpädagogischen

Praxis nutzt, sondern auch den gesamten Produktionsprozess mit einbezieht.

Vielleicht stößt aber auch die klassische Forschung im Bereich der ästhetischen Erfahrung von

Subjekten an Grenzen und die Theaterpädagogik muss sich als Wissenschaft stärker künstleri-

schen Methoden im Sinne eines „artistic research“ bedienen.

Darüber hinaus sollte auch die exemplarische Konzentration auf Theater als ästhetische Bildung

perspektivisch wieder aufgehoben werden. Theater hat immer auch eine soziale und politische

Dimension, auch diese Ebenen sind dem Theater potentiell immanent, müssen nicht pädagogisie-

rend hergestellt, aber dennoch betrachtet und bewusst gestaltet werden.

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http://www.hajusom.de/Szene-Hamburg-12-2002-Die-Kinder-der-Mischkultur.143.0.html

(Stand: 16.01.2014).

Page 60: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

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Anhang

DVD: „Paradise Mastaz“, Dokumentation von Mathis Menneking, Hajusom e.V. 2013

Page 61: Das postdramatische Theater aus theaterpädagogischer ......Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann, dargestellt, welcher den Begriff 1999 einführte (vgl. Lehmann: 2001). Lehmann

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Eidesstattliche Erklärung

Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe selbstständig verfasst und nur

die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Wörtlich oder dem Sinn nach aus anderen

Werken entnommene Stellen sind in allen Fällen unter Angabe der Quelle kenntlich gemacht.

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Ort, Datum Unterschrift


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