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Argumente & Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 47 'Die ...Nationalstaat oder Weltrepublik? Welche...

Date post: 08-Aug-2021
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ISBN 3-88795-298-7© 2006 Hanns-Seidel-Stiftung e.V., MünchenAkademie für Politik und ZeitgeschehenVerantwortlich: Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur)

Redaktion:Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin)Susanne Berke Dipl.-Bibl. (Redakteurin)Christa Frankenhauser (Redaktionsassistentin)

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Inhaltsverzeichnis

Oliver HidalgoVorwort ..................................................................................................................................5

Karlfriedrich HerbWelches Ende der Geschichte? Demokratie als Friedensordnung.........................................7

Iring FetscherZukunftsprobleme und Perspektiven der Demokratie in Europa .........................................13

Urs MartiDemokratie und Gesetzgebung im Prozess der Globalisierung ...........................................23

Jerzy MaćkówDer Verfassungs- und Rechtsstaat als unverzichtbare Voraussetzungeiner erfolgreichen Demokratisierung nach dem Kommunismus........................................39

Oliver HidalgoAlexis de Tocqueville und die Vision einer postliberalen Demokratie ...............................47

Karsten FischerDemokratie und Gemeinsinn oder Sozialmoral in homöopathischer Dosierung.................57

Christoph BieberDie Zukunft der Mediendemokratie.....................................................................................61

Autorenverzeichnis...............................................................................................................79

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Vorwort

"Die Demokratie ist die schlechtesteStaatsform – abgesehen von allen ande-ren". Mit seinem berühmten Ausspruch hatWinston Churchill den Zeitgeist zu Beginndes 21. Jahrhunderts vorweggenommen.Nirgendwo ist eine Alternative zur demo-kratischen Organisation politischer Herr-schaft in Sicht. Seitdem der ideologischeGegensatz zwischen Ost und West in denFußnoten der Geschichte verschwundenist, avancieren Volkssouveränität, Rechts-staatlichkeit und soziale Marktwirtschaftoffenkundig zum konkurrenzlosen Verfas-sungsmodell der Gegenwart. Gleichzeitigmehren sich die Anzeichen, dass die Men-schen mit ihrem politischen System unzu-frieden sind. Die Demokratie gilt heute alsschwerfällig und wenig bürgernah, wassich an Wortschöpfungen wie "Reform-stau" oder "Politikverdrossenheit" ablesenlässt. Der Bedarf an einer Neujustierungder klassischen Parteiendemokratie scheintunbestritten. Effektivität und Leistungsfä-higkeit der Institutionen sowie Verant-wortlichkeit und Kontrolle der Akteurebedürfen dringend der Verbesserung. Ob-wohl die Demokratie einen globalen Sie-geszug angetreten hat, scheint ihre Zukunftdaher alles andere als sicher. Ohne dasKontrastbild, das vormals der Sozialismusgewährte und das nicht zuletzt die Überle-genheit der demokratischen Regimes be-wies, stehen heute viele Resultate des his-torischen Demokratisierungsprozesses aufdem Prüfstand. Eines der wesentlichenZiele von politischer Wissenschaft undpolitischer Bildung muss es daher sein, diePerspektiven und Optionen aufzuzeigen,die eine Reform der Demokratie ermögli-chen, ohne die "Idee" der Demokratie alssolche zu gefährden.

Die vorliegende Publikation geht auf eineExpertentagung zurück, die die Hanns-Seidel-Stiftung in Zusammenarbeit mitdem Institut für Politikwissenschaft der

Universität Regensburg vom 3. bis 4. Feb-ruar 2005 in Wildbad Kreuth veranstaltete.Wissenschaftler aus Deutschland, Polen,und der Schweiz erörterten Fragen undProbleme, die im Zusammenhang mit der"Zukunft der Demokratie" von entschei-dender Bedeutung sind: Wird die Demo-kratie zu Frieden und Wohlstand führen,wie es Immanuel Kant einst prophezeite?Welches Schicksal erwartet die Demokra-tie in den Mitgliedstaaten der EU? WelcheStrukturanpassungen sind nötig, um auf dieHerausforderung durch die Globalisierungzu reagieren? Wie weit ist der Transfor-mationsprozess in Osteuropa vorange-schritten? Was hat man sich unter einer"postliberalen" Demokratie vorzustellen?Ist der Gemeinsinn das, woran es der bür-gerlichen Gesellschaft westlicher Prägungam meisten mangelt? Welche Chancenbieten die neuen Medien?

Antworten auf diese Fragen sind alles an-dere als leicht zu finden. Offensichtlichexistieren keine einfachen Lösungen, dieohne Rücksicht auf nationale Besonder-heiten, Strukturvarianten und systemim-manente Defizite der Demokratie zu for-cieren wären. Auch erscheinen die Prob-leme, vor denen etwa die konsolidiertenDemokratien des Westens und die kaumgefestigten Systeme in Osteuropa oderLateinamerika stehen, kaum miteinandervergleichbar.

Um nicht die Orientierung zu verlieren,greift die Politische Theorie verstärkt aufdie Klassiker der Ideengeschichte zurück.Die "Janusköpfigkeit" der Demokratie istschließlich kein unbekanntes Problem.Schon Alexis de Tocqueville, der erstkürzlich seinen 200. Geburtstag feierndurfte, hat vor den Verfalls- und Deforma-tionsprozessen der Demokratie gewarnt.Neu ist freilich, dass heute der Mehrzahlder Bürger bewusst zu werden beginnt, wie

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6 Oliver Hidalgo

weit wir noch von einer Lösung entferntsind. Der vorliegende Band hofft in dieserHinsicht einen Beitrag dazu zu leisten, die

Zukunft der Demokratie wieder etwas op-timistischer zu sehen.

Oliver Hidalgo

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Welches Ende der Geschichte?Demokratie als Friedensordnung

Karlfriedrich Herb

Hat die Demokratie eine Zukunft? Könnenwir uns weiterhin auf ihre Machtmecha-nismen verlassen? Lässt sie ihre Bürger imStich oder wird sie von ihnen verlassen?Welchen Raum darf sie der Religion imGemeinwesen gewähren? Ist sie selbst aufreligiöse Bindungen angewiesen? Drohenihr mit der zunehmenden Globalisierungschwierige Zeiten?

Vor noch nicht allzu langer Zeit klangensolche Fragen weniger dringlich. Da schiendie Demokratie vor Selbstgewissheit zustrotzen und ihre Zukunft ohnehin gesi-chert. In den glücklicheren Tagen des Jah-res 1989 verkündete Francis Fukuyama mitder Herrschaft der Demokratie kurzerhanddas Ende der Geschichte. Mit dem Fall derBerliner Mauer und dem bevorstehendenZusammenbruch des kommunistischenWeltreiches schien dieses Ende unaus-weichlich. Aus dem jahrzehntelangen Kon-flikt zwischen Ost und West war die De-mokratie als Siegerin hervorgegangen –und eine Alternative nicht erkennbar. Wassollte es jenseits ihrer konkurrenzlosenHerrschaft noch Neues geben?

Ob die Dinge damals wirklich so günstigstanden? Jedenfalls ist die Aufbruchstim-mung von 1989 schnell allgemeiner Er-nüchterung gewichen. Nach einer Welleder Demokratisierung, die Rechtsstaatlich-keit, Menschenrechte und Marktwirtschaftin die Welt zu tragen versprach, hat uns dieGeschichte wieder eingeholt, ja vielerortssogar eines Schlechteren belehrt. Soschnell wie damals erhofft, nimmt die De-mokratie nicht Besitz vom Globus – und

schon gar nicht friedfertig und kampflos.Kaum war die frohe Botschaft vom demo-kratischen Ende der Geschichte verklun-gen, machte die Losung vom Kampf derKulturen die Runde. Mit ihr taucht die Zu-kunft der Demokratie in ein anderes Licht.Ob dieser Konflikt nun in den Bruchlinienzwischen den Zivilisationen beheimatet ist,schon in ihnen selbst angelegt, ja mögli-cherweise sogar zur Demokratie als solchergehört, sei dahingestellt. Sollten wir tat-sächlich im Zeitalter der Demokratie leben,dann ist der Konflikt ihre Signatur.

Geirrt haben sich damals viele, ob sie nundas nahe Ende aus der neuen Welt oder ausdem alten Europa kommen sahen. InFrankreich verkündete der Historiker Fran-çois Furet – pünktlich zur Zweihundertjah-resfeier – das Ende der Revolution von1789 und macht die Gegenwart um eineIllusion reicher: Mit der Ära Mitterrandsah er das endgültige Zeitalter der Demo-kratie und der Menschenrechte eingeläutet.In gewohnter Geste, wonach französischeInnenpolitik gleich Weltgeschichte ist,sollte der Weltgeist in Paris die letzte Ruhefinden.

Fukuyama besitzt eine andere Landkarte:Er erkennt im American Way of Life diedefinitive Gestalt der Demokratie. Über-zeugt von ihrem endgültigen Sieg – zu-mindest über ihre äußeren Feinde –, be-fürchtet er 1989, dass mangels Alternati-ven sogar Langeweile unter den Siegernaufkommen könne. Solche Sorgen hättendie Vereinigten Staaten heute liebend ger-ne. Vom Rest der Welt ganz zu schweigen.

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8 Karlfriedrich Herb

Betrachtet man Fukuyamas Endzeitvisionmit dem Abstand der Ideengeschichte, soentpuppt sie sich als eigenwillige Mi-schung aus schottischer Aufklärung undpreußischer Geschichtsphilosophie – dasWalten der unsichtbaren Hand im Marktauf der einen Seite, ein glücklich endenderKampf um Anerkennung auf der anderenSeite: Das sind die Erfolgsgaranten desdemokratischen Sieges. Adam Smith imHintergrund, im Vordergrund aber Hegelals Verkünder des Endes der Geschichte.

Einige mag verwundern, dass ausgerechnetHegel zu Fukuyama in die Chefetage desamerikanischen State Departement vor-dringen konnte: Doch ist es nicht Hegelselbst, sondern ein anderer Verwaltungsbe-amter des Weltgeistes, der Fukuyama dasStichwort liefert. Einige Jahre hatte Alex-andre Kojève mutig das Ende der Ge-schichte verkündet.

Als russischer Emigrant war Kojève in denDreißigerjahren nach Frankreich gekom-men, um den Pariser Intellektuellen diePhilosophie Hegels zu vermitteln und dieHegelianer das Fürchten zu lehren. Ver-mutlich hatten beide ihre Lektion verdient.

Kojève bewegt die alte Frage aller Hegel-schüler von links bis rechts: Was wohl denferneren Inhalt der Weltgeschichte bildenwerde? Darüber weiß Kojève bestens Be-scheid. Im Namen seines Meisters Hegeldatiert er das Ende der Geschichte auf dasJahr 1806, also auf den Sieg Napoleonsüber die Preußen in der Schlacht um Jena.Mit der Niederlage Preußens schlägt auchfür den Nationalstaat die Todesstunde –und der Weltstaat betritt die Bühne der Ge-schichte. Der Weltgeist hat sein letztesStück gegeben. Von nun an ist kein wirkli-cher Fortschritt mehr möglich. Was zu tunbleibt, ist die Eroberung der Provinzen, ei-ne lästige Strafarbeit des Weltgeistes. An-sonsten gilt: Im Osten nichts Neues.

Hegels Dialektik wird durch Kojève nochabenteuerlicher. Der Kampf zwischen Herr

und Knecht mündet in eine Gesellschaftfreier Bürger, die sich gegenseitig Aner-kennung zollen. Frankreichs Revolutionund Napoleons Empire machen die indivi-duelle Freiheit zum Prinzip des Selbstbe-wusstseins. Nach Napoleons Siegeszugwill Kojève nichts Neues mehr unter derSonne entdecken: Stalin und Hitler sindbloße Epigonen; die chinesische Revoluti-on nichts anderes als die verspätete Einfüh-rung des Code Napoléon am anderen Endeder Welt.

Wer im 20. Jahrhundert allerdings als Sie-ger aus der Konkurrenz der Großmächtehervorgehen wird, ist für Kojève keines-wegs ausgemacht. Kapitalismus wieKommunismus haben gleiche Siegeschan-cen. In aberwitzigen Vergleichen verwischtKojève die vertrauten Konturen der beidenSysteme. Zunächst verlegt er die Endzeit indie Sowjetunion und macht Stalin zu Na-poleons legitimem Erben. Nach demZweiten Weltkrieg sieht er das vom Mar-xismus anvisierte Ende der Geschichte be-reits in den Vereinigten Staaten erreicht.Eine Japan-Reise in den Fünfzigerjahrenbeschert Kojève eine neue Vision vom En-de der Geschichte: Es ist ein demokrati-scher Snobismus, der aus der Begegnungder Tradition Japans mit dem AmericanWay of Life resultiere. Teezeremonie undMcDonald's-Frühstück als letzter Schreider modernen Konsumgesellschaft.

Ob dies nun alles intellektuelle Spielereioder todernst gemeint sein soll, ist schwerzu entscheiden. Schwer erträglich ist esallemal. Schließlich schrumpfen bei Ko-jève die größten Verbrecher der Weltge-schichte zu Marionetten seiner philosophi-schen Kleinkunst. Da hört jeder Spaß auf.Es spricht Bände, dass Kojève sich mitStalin auf Augenhöhe glaubte und damitein ähnliches Gespann wie Napoleon undHegel abgeben wollte.

Aber auch Hegel selbst hätte vermutlichwenig Gefallen an den dialektischenAbenteuern seines Schülers gefunden.

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Natürlich weiß auch Hegel, dass der Fort-schritt im Bewusstsein der Freiheit seinenPreis hat, die Geschichte für die Poesie desIndividuums deshalb wenig Spielraumbietet. Die Idee eines homogenen Welt-staates allerdings, in dem alle Katzen grausind und alle Politik, diese Idee Kojèves istHegel fremd. Für ihn steht das Ende derGeschichte noch ganz im Zeichen der Na-tionalstaaten. Sie bleiben auch künftig dieProtagonisten des Weltgeistes.

Nur nebenbei sei erwähnt, dass Hegel sichdamit gegen Kants Kosmopolitismus wen-det. Kant will die Staaten in eine völker-rechtliche Ordnung einbinden und damitweltweit demokratischen Frieden garantie-ren. Dabei denkt er die Demokratie vonAnfang an in globaler Perspektive. Erst eindemokratischer Globus macht das Men-schenrecht sicher.

Nationalstaat oder Weltrepublik? WelcheOption sich mit Blick auf die heutige De-mokratisierungs- und Einigungsprozessebehaupten könnte, scheint mir keineswegsausgemacht.

Was im 19. Jahrhundert auf Kant und He-gel folgte, hat Julius Ebbinghaus einmalböse den Terror des Weltanschauungsdi-lettantismus genannt. Der Vorwurf ist hart,aber nicht ganz von der Hand zu weisen.Die Verwaltung der Zukunft wird zur phi-losophischen Leidenschaft. Ob die Ge-schichte mit der Herrschaft der Bourgeoi-sie, der Diktatur des Proletariats oder derExpertokratie der Positivisten ihr Ende fin-det, Männer wie François Guizot, KarlMarx und Auguste Comte wissen genau,wohin der Fortschritt führt und wo die Ge-schichte enden wird. In dieser illustren Ge-sellschaft der Prognostiker und Prophetenwirken die Analysen eines anderen Meis-terdenkers des 19. Jahrhunderts geradezubescheiden. Ich spreche von Alexis deTocqueville. Dabei wagt auch Tocquevilleeine mutige These. Auch er stellt die Ge-schichte unter ein Gesetz: die égalité desconditions. Von dieser Gleichheit der Be-

dingungen her will er über die Zukunft derDemokratie befinden.

So nüchtern und diesseits Tocquevilles Be-schreibung der Demokratie, so spekulativseine Prämisse. Denn ein Stück weit istauch Tocquevilles Geschichtsphilosophiesäkulare Heilslehre. Schließlich ist dieGleichheit der Bedingungen, in der er daseherne Gesetz der Moderne erkennt, einWerk der göttlichen Vorsehung: Sie ist all-gemein, sie ist von Dauer, sie entzieht sichtäglich der Macht der Menschen; die Ge-schehnisse wie die Menschen dienen alleihrer Entwicklung.

Bemerkenswert ist allerdings, dass Toc-quevilles politische Eschatologie das Endeder Geschichte gerade offen lässt. Magsein, dass Demokratie und Gleichheit inGottes Schöpfungsplan vorgesehen sind:Ihre Zukunft liegt dennoch im Ungewis-sen. Zwar verhindert die Gleichheit eineRückkehr ins Ançien Régime, ein fraglosesdemokratisches Ende der Geschichte istaber keineswegs garantiert. Im Gegenteil:Statt auf eine demokratische Fügung Got-tes zu setzen, entwirft Tocqueville einedramatische Alternative: Freiheit oderBarbarei, liberale Demokratie oder moder-ne Despotie: Das sind die Aussichten in ei-nem von der Vorsehung nicht garantiertenZeitalter der Gleichheit. Die Zukunft derDemokratie bleibt damit ambivalent.

Wer heute nach der Zukunft der Demokra-tie fragt, sollte Tocquevilles Reflexionengerade wegen ihrer Unentschiedenheit be-denken. Mit seinem Erstlingswerk "Überdie Demokratie in Amerika" (1835/40) trittdas Nachdenken über die Demokratie undihre Zukunft in eine neue Phase. Dachtendie Autoren des 18. Jahrhunderts bei De-mokratie noch an plebiszitäre Staatsformenwie in Athen, Sparta und Rom, so erklärtTocqueville die Demokratie für moderni-tätstauglich. Sie wird zur exklusiven Ge-sellschaftsform der Moderne. Rechts-gleichheit und ökonomische Chancen-gleichheit, Volkssouveränität, Repräsenta-

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10 Karlfriedrich Herb

tion, Gewaltenteilung und politischeGleichheit der Bürger – das sind die We-senmerkmale der Demokratie als gesell-schaftlicher und politischer Ordnung.

Tocqueville sucht die Wahrheit über diemoderne Demokratie in der neuen Welt –und revolutioniert damit Landkarte undZeitrechnung der politischen Wissenschaft.Hobbes und Locke bemühten Amerika, umden Naturzustand zu illustrieren. DerAristokrat Tocqueville bricht mit der Hyb-ris des alten Europa. Amerika ist nicht Eu-ropas Vergangenheit, sondern seine Zu-kunft. Hier lässt sich das Wesen der mo-dernen Demokratie und ihr unaufhaltsamerAufstieg in Reinkultur entdecken. Nichtssteht hier der naturwüchsigen Entfaltungder Gleichheit der Bedingungen im Wege.Dagegen markieren in Europa Revolutio-nen den Weg in die demokratische Gesell-schaft.

Wer die beiden – 1835 und 1840 erschie-nenen – Bände der Demokratie in Amerikaliest, wird ihren unterschiedlichen Grund-ton nicht überhören. Der erste Band zeich-net ein günstiges Bild des politischen Le-bens in den Vereinigten Staaten, stellt derDemokratie der neuen Welt und ihren Bür-gern ein positives Zeugnis aus. Der zweiteBand ändert Perspektive und Tonart. Dasamerikanische Beispiel rückt in den Hin-tergrund und eine wachsende Skepsis wirdspürbar: gegenüber der Demokratie imAllgemeinen und den europäischen, vorallem französischen Entwicklungen im Be-sonderen. Neben den Errungenschaftenwerden nun auch Gefahren und Abwegedes demokratischen Zeitalters erkundet.Was Tocqueville der Demokratie als Ab-hilfe und Zukunftssicherung verordnet,verdient noch heute unsere Aufmerksam-keit. Leicht sind seine Lektionen nicht zunehmen.

Obwohl Tocqueville das institutionelleSpiel der demokratischen Kräfte als Vor-aussetzung der Freiheit würdigt, geltenseine Vorschläge nicht allein den demo-

kratischen Institutionen, sondern auch undvor allem der demokratischen Lebenswelt.Mit großem Einfühlungsvermögen und bisheute maßgeblich hat der Aristokrat diedemokratischen habits of the heart offengelegt. Seine Analysen lassen sich heuteals Vorschläge zur Zivilgesellschaft lesen:Sie zeigen die kommunitaristische Aderdes Liberalen Tocqueville. Allesamt lebensie von der Einsicht, dass demokratischeInstitutionen und Rechte nur solange tau-gen, wie sie von einer lebendigen politi-schen Kultur getragen werden. Dass auchdie moderne Demokratie nicht ohne dieTugend der Bürger auskommt, war Toc-quevilles feste Überzeugung. Zeitlebenshat er deshalb vor dem Rückzug des Bür-gers aus der öffentlichen Sphäre gewarnt.Wo materielles Anspruchsdenken und Un-fähigkeit zum politischen Handeln zusam-mentreffen, droht bereits für Tocquevillejene Überforderung des Staates, die NiklasLuhmann zum Wesensmerkmal heutigerDemokratien erhebt. Statt den Einzelnendem Lamento der eigenen Machtlosigkeitzu überlassen, wirbt Tocqueville für Ei-genverantwortung und politisches Enga-gement der Bürger.

Doch so wichtig für Tocqueville Gemein-sinn und Teilhabe des citoyen sein moch-ten: Mit den Heilmitteln des modernen Re-publikanismus allein sah er die Demokratieauf Dauer nicht gegen ihre eigenen Anfäl-ligkeiten und Schwächen gewappnet.Schon Tocqueville begreift, dass die De-mokratie aus Bedingungen lebt, die sieselbst nicht zu garantieren vermag. Scho-nungslos offenbart er die eigentümlicheBodenlosigkeit der demokratischen Gesell-schaft. Die Unfähigkeit, über sich selbstGewissheit zu erlangen, sieht er als ihregrößte Schwäche. Aus diesem Grund siehtTocqueville sich gezwungen, über einebloß innerweltliche Diagnose und Therapieder Demokratie hinauszugehen. Bietendoch ihre politischen Dogmen – Volkssou-veränität, Mehrheitsprinzip, Menschen-und Bürgerrechte – weder innere Stabilitätnoch moralische Sicherheit. Deshalb bleibt

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die Demokratie auf Grenzen und Regelnangewiesen, die von außen an sie herange-tragen werden. Dass die demokratischeGesellschaft möglicherweise dazu verur-teilt ist, ihre Unbestimmtheit und Wider-sprüche auszuhalten, konnte er sich nichtvorstellen. Denker wie Claude Lefort las-sen hier die Pathologie des totalitären Zeit-alters beginnen.

Anders Tocqueville: Erst in den Grenzeneiner transzendenten Ordnung könne dieDemokratie sich entfalten und dem Ab-driften in einen demokratischen, sanftenDespotismus entgegenwirken. Auch in Zu-kunft bleibt die Demokratie auf ihre trans-zendente Grundlegung angewiesen. Ame-rika galt Tocqueville auch hier als – zwie-spältiges – Vorbild. In der amerikanischenDemokratie glaubte er die eigentlicheGrundlage der politischen Energien ent-deckt zu haben: in der Symbiose von Poli-

tik und Religion. Erst dort, wo sie herrscht,erhält die Demokratie ein tragfähiges Fun-dament. Dass ihm der Amercian Way ofLife auch in Sachen Religion zunehmendfragwürdiger wurde, die innerweltlicheHandhabe der Religion gerade ihre politi-schen Segnungen gerade vereitelte, stehtauf einem anderen Blatt. Auf die Religio-sität der Menschen wollte der unglücklicheAgnostiker jedenfalls weder in der altennoch in der neuen Welt setzen.

In einer Welt, in der Konkurrenz und Kon-flikte der Religion zur erneuten Herausfor-derung an die Demokratie geworden sind,mag Tocqueville religiöse Therapie für dieheutigen Leiden der Demokratie fragwür-dig erscheinen. Doch auch wer Tocquevil-les Antworten verwirft, kann seine Diag-nose der modernen Demokratie auch künf-tig zu Rate ziehen – erkennen wir doch inseinen Fragen unsere eigenen wieder.

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Zukunftsprobleme und Perspektiven der Demokratie in Europa

Iring Fetscher

1. Rahmenbedingungen für eindemokratisch vereintes Europa

"Zukunftsprobleme der Demokratie" mussman eigentlich nicht suchen, es existierenja gegenwärtig schon einige: zunehmendesDesinteresse von großen Teilen der Bevöl-kerung, vor allem von Jugendlichen, Ab-driften von Rechtsextremen von der Basiseiner liberal-demokratischen und toleran-ten Verfassung, Angst vor "Überfrem-dung" und vor dem wachsenden Druckpotenzieller Zuwanderer aus den armenTeilen der offenen Welt, Vernachlässigungder dringend notwendigen ökologischenKurskorrektur der Industrienationen. DieListe ist längst nicht vollständig, und allegenannten Probleme sind zumindest auchsolche der Demokratie – heute und erstrecht künftig.

Die Frage, wie diesen Problemen begegnetwerden kann, lässt sich nicht einfach be-antworten. Vielleicht ist die Ausweitungauf "die Demokratie in Europa" sogar einemögliche Hilfe, zugleich aber fügt sie einweiteres Problem hinzu. Die "EuropäischeUnion" ist bisher nicht viel mehr als einzusammenwachsendes einheitliches Wirt-schaftsgebiet, das eine gemeinsame Wäh-rung hat. Für die Bewohner der Staaten derEuropäischen Union ist diese Gemein-schaft aber weder politisch noch emotionalnoch kulturell schon erlebbare Realität.Zwar finden regelmäßig Wahlen von Eu-ropaabgeordneten statt, aber die Persondieser Abgeordneten und die Beschlüssedieses Parlaments sind im öffentlichenBewusstsein nur selten präsent. DieBrüssler Behörde aber nimmt in der popu-lären Stammtisch-Kultur eher die Rolle desbürokratischen Bösewichts und des über-bezahlten Kleinlichkeitskrämers wahr. Wirleben in einem wirtschaftlich vereinten Eu-

ropa, aber wir erfahren diese gemeinsamepolitische Einheit im Alltagsleben nichtoder nur als lästige Behörde, die Vor-schriften über Lebensmittelkennzeichnun-gen erlässt.

Vor dem Hintergrund dieser Lage könnenÜberlegungen über die Probleme und Per-spektiven der Demokratie in Europa nureinen programmatischen, zum Teil fastutopischen Charakter haben. Die Politik-verdrossenheit und Politikabstinenz sowiedie – nicht nur in Deutschland – auftau-chenden neuen Formen intoleranter Frem-denfeindlichkeit und rechtsextremer Ge-walt können nur in einer wirtschaftlich ge-festigten und demokratisch glaubhaften eu-ropäischen Union einmal überwundenwerden.

Die sukzessive Erweiterung der EU wirddiese Probleme noch vergrößern. Auf dieErweiterung aber kann weder verzichtetwerden noch wird sie ohne weit gehendeund erfolgreiche Reformen in den bei-trittswilligen Ländern und ohne zusätzlichefinanzielle Belastung der alten Staaten inder EU möglich sein. Genug Stoff für nati-onalistische Egoismen und Widerstand.

Vor allem aber sollte der geplanten Er-weiterung eine politische und demokrati-sche Verdichtung und Verbesserung dereuropäischen Institutionen vorausgehen.Europa, die EU, ist außen- und militärpoli-tisch kaum handlungsfähig. Selbst Kon-flikte auf dem Balkan, die doch eine urei-genste europäische Problematik darstellen,konnten bisher nur durch entsprechendeUS-amerikanische Initiativen wenn nichtgelöst, o doch wenigstens entspannt wer-den. Ebenso groß sind die Erwartungen derzahlreichen sozialdemokratischen Regie-rungen innerhalb der EU in Bezug auf eine

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14 Iring Fetscher

gemeinsame oder doch koordinierte Be-schäftigungs- und Sozialpolitik. Eine voll-ständige Angleichung der Löhne und derSozialleistungen wird es aber z.B. ange-sichts der höchst unterschiedlichen öko-nomischen Stärke in den verschiedenenStaaten und Regionen der EU nicht so baldgeben können. Sie wäre nur mit unbezahl-bar hohen Transferzahlungen realisierbar,zu denen kein nationales Parlament seineZustimmung geben dürfte.

Wo anfangen? Zunächst einmal sollte we-nigstens daran erinnert werden, was wiralle in der EU und auch im übrigen Europavon der Entwicklung in den Jahren seit derGründung der EWG gewonnen haben!Bewaffnete Konflikte und tief greifendeQuerelen zwischen den Staaten Kerneuro-pas (Großbritannien, Frankreich, Deutsch-land, Italien, Belgien, Niederlande, Lu-xemburg), Irland und Österreich sind heutenicht mehr vorstellbar. Im Vergleich mitder Zeit vor 1945 ist das schon ein un-schätzbarer, von der jüngeren Generationleicht zu vergessender Gewinn. Dazu ge-hört auch die enge Verbundenheit des ver-einten Europas mit der größten Wirt-schafts- und Militärmacht der Welt, denUSA. Freilich waren die USA auch dieGeburtshelfer dieser Vereinigung – nichtohne erhebliches Eigeninteresse. Ein ver-eintes starkes Europa sollte als Schutzwallgegen die andere – damalige – SupermachtSowjetunion die US-amerikanischen mili-tärischen Aufgaben in der Welt entlasten.In dem Maße, wie auf der einen Seite dieBedrohung durch die sowjetische Super-macht wegfiel oder zumindest durch eineinstabile, russische Atommacht abgelöstwurde und auf der anderen Seite die Verei-nigung der Europäer fortschritt, sank dasInteresse der USA an dieser Entwicklung.Zu der politischen und kulturellen Verbun-denheit kam als korrigierende Komponenteökonomische und weltpolitische Konkur-renz hinzu.

Auf weltwirtschaftlichem Gebiet kommtschließlich die so genannte "Globalisie-

rung" als eine weitere Belastung der in-nenpolitischen, sozialen und wirtschaftli-chen Entwicklung der europäischen Staa-ten hinzu – eine Belastung und Herausfor-derung freilich, der ein handlungsfähigvereintes Europa weit eher gewachsen seinwürde. Wenn daher auf der einen Seite deräußere militärische Druck auf die EU unddie NATO erheblich zurückgegangen ist,so bedeuten auf der anderen Seite die Glo-balisierung und die deutlich stärker wer-dende wirtschaftliche Konkurrenz mit denUSA und Südostasien eine neue Heraus-forderung.

Nicht zuletzt stellen die Notwendigkeiteneiner Korrektur unserer Weise des Produ-zierens und Konsumierens im Interesse ei-nes sparsameren Verbrauchs nicht erneu-erbarer Ressourcen und eine Verringerungder Schadstoffbelastung der Ökosphäre ei-ne künftig nur noch gemeinsam, am bestenweltweit, aber wenn das nicht möglich seinsollte, wenigstens im vereinigten Europazu bewältigende Aufgabe dar.

2. Institutionelle Ordnung in denStaaten Europas und in der EU

Die Rahmenbedingungen sind damit skiz-ziert, innerhalb deren sich eine europäischeDemokratie, ein demokratisch vereinigtesEuropa entwickeln kann und muss. Nunstellt sich die Frage der institutionellenOrdnung in den Staaten Europas und in derEuropäischen Union. Die namentlich inDeutschland weit verbreitete Meinung, diegemeinsame Währung werde "von alleine"zu einer Angleichung auf allen übrigenGebieten des wirtschaftlichen, politischenund sozialen Lebens führen, ist wohlfalsch. Die souveränen Regierungen wer-den entsprechend der unterschiedlichen lo-kalen Verhältnisse anders auf die wirt-schaftliche Lage und die sozialen Problemeihres Landes reagieren. Der Spielraum fürihre Entscheidungen wird durch die Exis-tenz einer vornehmlich auf Geldwertstabi-lität programmierten Europäischen Zent-

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Zukunftsprobleme und Perspektiven der Demokratie in Europa 15

ralbank eingeschränkt sein, aber sie wer-den ihn unterschiedlich und verschieden-artig nützen. Wir haben zwar eine Europäi-sche Kommission, aber keinen europäi-schen Wirtschaftsminister und keinen eu-ropäischen Arbeitsminister.

Nach wie vor dringend wären eine Stär-kung und ein Ausbau der Kompetenzendes Europäischen Parlaments. Die Europa-abgeordneten werden zwar seit 1979 schonin den Einzelstaaten direkt gewählt, sie ha-ben aber im Vergleich zu Abgeordnetender einzelstaatlichen Parlamente nur sehrbegrenzte Kompetenzen. Die Abgeordne-ten des Europäischen Parlaments haben le-diglich beratende und kontrollierende –keine gesetzgebenden – Funktionen. Siehaben das Recht, an die EuropäischeKommission und den Europäischen RatFragen zu stellen, die diese mündlich oderschriftlich beantworten müssen. Auch be-schließen sie ihren eigenen Haushalt (abernicht den der Kommission) und könntenmit einer freilich unwahrscheinlichenZweidrittel-Mehrheit die EuropäischeKommission zum Rücktritt zwingen. Daspublizistische Interesse an den Sitzungendes Europäischen Parlaments ist entspre-chend dieser begrenzten Kompetenzen re-lativ gering. Nur selten gelangen Berichteüber dessen Sitzungen auf die Titelseitender großen Tageszeitungen. Auch dieAuswahl der für das Europäische Parla-ment aus einigen Ländern geschickten Ab-geordneten-Kandidaten trägt nicht beson-ders zur Steigerung des Ansehens diesesGremiums bei. Gelegentlich wird ein Sitzin diesem Parlament als Belohnung fürverdiente ältere Politiker verwendet, seltenals Chance für Nachwuchspolitiker.

In begrenztem Umfang haben sich zwarländerübergreifende Partei-Fraktionen ge-bildet: so sozialdemokratische und christ-demokratisch-konservative. Britische Ab-geordnete waren aber zu sehr von ihrer Ei-genart überzeugt, um sich solchen Zuord-nungen anpassen zu wollen. Eine Europa-wahl mit grenzüberschreitenden politi-

schen Losungen, Programmen und Platt-formen hat es allenfalls ansatzweise gege-ben. Ein "europäisches, politisches Volk"gibt es noch nicht. Von den "VereinigtenStaaten Europas" sind wir noch meilenweitentfernt. Es fragt sich auch, ob wir esüberhaupt anstreben sollten.

Der Grundgedanke, der für den Ausbau ei-ner europäischen Demokratie leitend seinsollte, ist der des Föderalismus und derSubsidiarität. Beide Worte leiden darunter,dass sie im englischen und französischenSprachgebrauch entweder eine andere Be-deutung haben als im deutschen oder un-bekannt sind. Es scheint jedoch nicht aus-sichtslos, die zusammengehörigen Begriffeeuropaweit verständlich zu machen und zurAkzeptanz zu bringen.

Im deutschen Sprachgebrauch ist eine fö-derale Verfassung entsprechend dem Prin-zip der Subsidiarität so beschaffen, dass siejeweils den unteren Einheiten (Gemeinden,Kreisen, Ländern, Gesamtstaaten) so vielKompetenzen lässt, wie sie selbst ausrei-chend wahrnehmen können. Die jeweilshöhere Einheit wird erst dann und nur dort"helfend" (subsidiär) tätig, wenn die untereEinheit nicht stark genug, nicht fähig ist,eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Das inder katholischen Soziallehre entwickeltePrinzip der Subsidiarität kann aber z.B.gegenüber der Skepsis britischer Politikerangesichts der wachsenden Abgabe vonSouveranitätsrechten an die EuropäischeUnion durchaus Zustimmung finden. Wennman das Prinzip des Föderalismus und derSubsidiarität ernst nimmt, bedarf das Eu-ropäische Parlament nicht nur als demo-kratische Institution einer Kompetenzer-weiterung, sondern auch einer zweitenKammer. Traditionell föderale Staaten wiedie Schweiz ("Confoederatio Helvetica")und die Vereinigten Staaten von Amerikahaben stets zwei Kammern: Im SchweizerNationalrat (erste Kammer) ist das"Schweizervolk" entsprechend dem Ver-hältniswahlrecht vertreten. Im Ständerat(zweite Kammer) sind die Kantone reprä-

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sentiert. Dabei wird im Ständerat dasÜbergewicht der Abgeordneten aus dengroßen Kantonen (namentlich Zürich) da-durch ausgeglichen, dass jeder – auch derkleinste Kanton – mit zwei Räten vertretenist, die Halbkantone mit einem. Ganz ge-nauso verhält es sich in den USA, wo imSenat jeder Staat mit zwei Senatoren ver-treten ist – ganz gleich wie viel Einwohnerer hat: Auf diese Weise erhalten die 350Tausend Einwohner Alaskas und die 370Tausend Bürger Wyomings ebenso vielGewicht wie die 14 Millionen Texaner, die22 Millionen Kalifornier und die 18 Milli-onen New Yorker (Staat New York).

Föderalismus bedeutet daher die Ausba-lancierung des Gewichts der reinen Zahldurch das Gewicht der selbstständigenTeile der Union. Wir haben im Bundesratdieses Prinzip dadurch gemildert, dass diegrößeren Länder wie Nordrhein-Westfalenund Bayern zwar mehr Sitze im Bundesrathaben als die kleineren – etwa das Saarlandund Mecklenburg-Vorpommern –, aberdoch nicht in exakter Proportion zur Be-völkerungszahl. Deshalb reicht diese un-gleiche Gewichtung der Länder nicht aus,um eine gewisse Stärkung auch der Be-wohner der kleineren Länder gegenüberden ganz großen aufzuheben. Ähnlich wiegegen das Mehrheitswahlrecht wird vonAnhängern des reinen Proporzes gegen dasZweikammersystem mit seiner Bevorzu-gung der kleinen Staaten oder Kantoneeingewandt, es verfälsche das Mehrheits-prinzip. Ein solcher Einwand ist jedochunbegründet. Zum Vergleich das Mehr-heitswahlrecht: Es führt wie z.B. in Groß-britannien dazu, dass aus einer möglichstgut verteilten knappen Mehrheit in denWahlkreisen eine größere Mehrheit vonAbgeordneten resultiert. Umgekehrt kanneine Partei, die in wenigen großen Zentreneine sehr große Stimmenmehrheit erzielt,im Resultat weit hinter der Anzahl von Sit-zen zurückbleiben, die ihr auf Grund desProporzes zugefallen wäre.

Man kann diesen Zusammenhang auch soausdrücken: Es gibt im einfachen Mehr-heitswahlverfahren einen Bonus für mög-lichst – landesweit – gut verteilte knappeMehrheiten und einen Malus bei stark kon-zentrierten großen Mehrheiten. Das Re-sultat berücksichtigt die territoriale "Ge-rechtigkeit", indem es diejenige Partei eherzum Zuge kommen lässt, die in der größe-ren Anzahl von Wahlkreisen Mehrheitenerzielt hat. Man könnte von einer legitimenterritorialen Gerechtigkeit sprechen, dieder rein proportionalen widerspricht – je-denfalls stark von ihr abweichen kann. DasMehrheitswahlsystem gewährleistet eineangemessenere Vertretung des Landes,weil es dafür sorgt, dass möglichst vieleWahlkreise mit ihren Mehrheiten ins Par-lament gelangen. Das Verhältniswahlrechtsorgt im Unterschied dafür, dass allein diezahlenmäßige Mehrheit der Stimmen, ganzgleich wie sie im Lande verteilt sind, denAusschlag gibt. Beide Prinzipien lassensich rechtfertigen. In einem Bundesstaatkommt es aber vor allem auch auf die ge-rechte Repräsentation der föderiertenStaaten an. Aus diesem Grund sind zweiKammern nach dem schweizerischen undUS-amerikanischen Vorbild zumindest na-he liegend.

Gerade angesichts der gewachsenen zah-lenmäßigen Größe des vereinten Deutsch-lands kommt es deutschen Europapoliti-kern zu, sich für eine solche zweite Kam-mer des Europäischen Parlaments einzu-setzen. Die erste Kammer könnte im Un-terschied zu der pauschalierten Quotierung,die heute gilt, nach dem reinen Proporz"one man one vote" gewählt werden, sowäre dann durch die zweite Kammer eineillegitime Oberstimmung der kleinerenMitgliedstaaten nicht mehr möglich.

Um die beiden Häuser eines EuropäischenParlaments arbeitsfähig zu machen, be-dürfte es unter anderem auch einer Verbes-serung der sprachlichen Kompetenz der

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Abgeordneten, die mindestens zwei, wennnicht drei Sprachen beherrschen sollten.Die Schweiz kommt mit ihren drei (oderauch vier) Amtssprachen zurecht, im heu-tigen Europa sind es schon weit mehr, undkünftig dürften es noch mehr sein. Eine le-bendige Debatte würde aber auch durchschwerfällige (und kostspielige) Dolmet-scher-Arbeit erheblich beeinträchtigt. Ottovon Habsburg hat schon einmal das Fran-zösische als Parlaments- und Amtssprachevorgeschlagen. Er war vermutlich nicht dergeeignete Fürsprecher der "grande nation".Dennoch scheint sein Vorschlag sinnvoll.Die kontinentalen Völker – vor allem,wenn man eines Tages auch die Polen,Tschechen und Ungarn einbezieht – habentraditionell eher Französisch als ersteFremdsprache gekannt. Englisch als Welt-sprache und Sprache der modernen Tech-nik eignet sich aus diesem Grund wenigergut, um die europäische Besonderheit zuunterstreichen. Die britische Krone gibtnoch heute ihre Zustimmung zu einer Ge-setzesvorlage mit der traditionellen Formel"la Reine le veult" – "die Königin will es(so)". Mehr als zweihundert Jahre nach derFranzösischen Revolution und der Welleder gegen die französisch sprechendeAristokratie in den anderen europäischenVolkern entstandenen Ablehnung dieser"Adelssprache" könnte ein neuer Anlaufgenommen werden, um als Zweitsprachemöglichst aller Europäer das Französischeaufzuwerten.

Franz Oppenheimer, der ungemein kreativeSoziologe und Ökonom, den Ludwig Er-hard als seinen Lehrer verehrte, hat1937/38 in einer Denkschrift, die in einemBand mit seinen "Politischen Schriften" imDruck erschienen ist,1 auf die Frage, "wieder Frieden aussehen sollte", zwei wesent-liche Antworten gegeben: Notwendig wä-ren ein Abbau der Zollschranken in Europaund eine wesentliche Verbesserung derKenntnis der Sprache des jeweiligenNachbarlandes. Seine Vorschläge sindheute zum Teil überholt, können aber nochimmer als Anregung gelesen werden.

Als 1. Punkt schlägt er vor, "aus dem links-rheinischen Deutschland und Elsaß-Lothringen einen neutralen Zwischenstaatmit eigener Verwaltung zu bilden, in demdie beiden Sprachen völlig gleichberechtigtsind. Binnen zehn Jahren müsse jeder Be-amte beide Sprachen in Wort und Schriftvollkommen beherrschen. Beide Sprachensind offizielle Schulsprachen mit der Maß-gabe, dass der Erstlingsunterricht in dervorherrschenden Sprache des Schulbezirkserteilt wird". Ein ganz ähnlicher Zwischen-staat, eine Art Pufferzone, solle auch zwi-schen Deutschland und Polen gebildetwerden, in dem für die Sprachkenntnissedie gleichen Vorschriften gelten. Ähnlichesschließlich auch für die Grenzregionenbeiderseits der bisherigen politischenGrenzen zwischen dem Deutschen Reichund der Tschechoslowakei. Alle Staaten –die alten wie die neugebildeten –, so Op-penheimer, vereinigen sich zu einem euro-päischen Bund, innerhalb dessen es keineZolle und Grenzabgaben mehr gibt. Mit"außenstehenden Mächten schließen sie alsBund Handels- und Zollverträge". DieSkizze dieses europäischen Bundesstaatesenthält auch die Errichtung einer Bundes-bank, die allerdings – die Anhänger vonLudwig Erhard werden sich wundern –"die ihr angebotenen Betriebe verwaltetund unter möglichster Fortführung derProduktion erwirbt, um Entlassungen imgroßen Ausmaße zu vermeiden, um sie al-lerdings "so bald wie möglich an solventeKäufer" abzustoßen. Offenbar eine ArtZentralbank mit Aufgaben der Treuhand!Dieser europäische Bundesstaat, heißt esunter VI., werde "mit seiner Gesamtbevöl-kerung der der Vereinigten Staaten" über-legen "und mit seiner gewaltigen Industriewahrscheinlich vor jedem Angriff" sichersein. Dennoch sieht Oppenheimer zusätz-lich Grenzbefestigungen vor sowie – aufGrund des Reichtums werde das möglichsein – ein Heer mit den "jeweils erreichba-ren besten Waffen ausgerüstet". Die verei-nigten Bundesmitglieder sollten völligsouverän bleiben, nur die Wehrhoheit unddie Zollhoheit an den Bund abtreten. Den-

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noch schlägt Oppenheimer schon in dieserüber 60 Jahre alten Skizze am Ende einerEntwicklungsperiode eine Verfassung vor,die sich am Vorbild der USA und derSchweiz orientieren und zwei Kammernhaben sollte – eine Volkskammer und ei-nen Senat, in dem die Bundesstaaten reprä-sentiert sind.

3. Französisch als "Europasprache"

Die erwähnte Denkschrift enthält neben ei-nigen vertrauten Bestimmungen der Euro-päischen Union außerordentlich originelle,für damals neue kreative Ideen. Dass Op-penheimer eine einheitliche – allerdingsam Goldstandard fixierte – Währung undeine zentrale Bundesbank vorsieht, wirdnicht weiter verwundern. Er spricht aberauch von einer Vereinheitlichung des Han-dels- und Wechselrechts, einer Koordinie-rung des Verkehrs auf Schienen und Stra-ßen, der Post und der Telekommunikationsowie einer Verbesserung der "Zusammen-arbeit der Kriminalpolizei" (Europol). Alsletzten Punkt erwähnt Oppenheimer diegroße Attraktivität, die von dem neu ge-gründeten Bund ausgehen werde, sodasssich mehr und mehr weitere Staaten ihmanzuschließen wünschen werden. In demMaße, wie diese Erweiterung voranschrei-tet, würden die Heeres- und die Zollpolitikunwichtiger werden, weil es keine poten-ziellen militärischen Bedrohungen undkaum noch Außenhandelsbeziehungen desgroßen Bundes geben wird.

Vor allem aber die Bedeutung des Sprach-problems hat Oppenheimer bereits deutlichhervorgehoben. An Stelle der nach allenSeiten hin einzuführenden Zweisprachig-keit in einem zu beiden Seiten der altenpolitischen Grenzen liegenden Gebietscheint jedoch die Einführung einer in al-len europäischen Staaten einzuführendenzweiten Europa-Sprache sinnvoller. Wennman aber einmal diesem Desiderat prinzi-piell zustimmt, kann es nur noch eine Wahlzwischen der englischen und der französi-

schen Sprache geben, es sei denn wirkönnten und wollten auf die alte Gelehr-tensprache (und Kirchensprache) Lateinzurückgreifen. Diese Option hätte nur ei-nen einzigen Vorteil: Sie würde keineneinzelnen Staat, kein besonderes Volk pri-vilegieren, es wäre eine "Kunstsprache",die selbst Altphilologen, die ja nicht ge-wohnt sind, moderne Gegenstände undBegriffe lateinisch auszudrücken, erst nochlernen müssten.

Das Beispiel der Einführung des Iwrit inIsrael beweist, dass es möglich ist, eine als"tot" geltende Sprache, die Jahrhundertelang nur als Sakralsprache überlebt hat, zuneuem Leben zu erwecken. Wenn das La-tein als Alternative ausfällt, liegt das Fran-zösische als "Europasprache" näher. Eserlaubt jedenfalls, die Eigenständigkeitdieser großen Union von individuellenStaaten gegenüber den Vereinigten Staatenvon Amerika deutlich zu markieren. Dassein mehr oder minder vereinfachtes Eng-lisch darüber hinaus ohnehin von denmeisten erlernt wird, sollte nicht stören.Gerade auch angesichts der Globalisierungkönnte die Einigung auf eine einheitlicheZweitsprache für die Mitglieder der Euro-päischen Union eine besondere Bedeutunggewinnen. Durch sie würde die Eigenstän-digkeit, die kulturelle Identität des verei-nigten Kontinents, verstärkt hervorgehobenwerden. Darüber hinaus ist das Französi-sche mit den drei anderen aus dem Lateinhervorgegangenen Sprachen Europas –dem Spanischen, Italienischen und Portu-giesischen – verwandt und war (wie schonangedeutet) bis in dieses Jahrhundert hin-ein die Sprache der europäischen Diplo-matie.

4. Nachhaltige Lebensweise

Natürlich wären mit diesen institutionellenInnovationen die Zukunftsprobleme derDemokratie in Europa nicht schon gelöst.Sie könnten lediglich einen kleinen Beitraghierzu darstellen. Die Reform der Sozial-

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systeme, die die wachsende Schuldenlastabbaut und die Arbeitslosigkeit überwin-det, muss hier ausklammert werden, ob-gleich klar ist, dass beide Probleme gelöstwerden müssen, wenn die Stabilität derDemokratie in Europa nicht gefährdet wer-den soll. Dagegen haben wir uns mit einemnoch grundsätzlicheren Problem zu be-schäftigen, das seit einiger Zeit angesichtsder Massenarbeitslosigkeit zu Unrecht inden Hintergrund getreten ist. Das Problemder Korrektur unserer Lebensweise ange-sichts der Begrenztheit der erneuerbarenEnergiequellen und der schon erreichten,wenn nicht überschrittenen Grenze derSchadstoffbelastbarkeit von Wasser, Luftund Boden. Die Art und Weise des Produ-zierens und Konsumierens, die auf längereSicht allein mit der Bewahrung der Vor-aussetzung humanen Lebens auf der Erdevereinbar ist, wird seit einiger Zeit mit demWort "nachhaltige Entwicklung" oder"sustainable development" charakterisiert.Studien über "sustainable Netherlands"und "nachhaltiges Deutschland"2 kommenübereinstimmend zu dem Ergebnis, dassbis in die Ernährungsweise hinein Um-stellungen notwendig sind, wenn diesesZiel erreicht werden soll. Die Illusion zumBeispiel, dass die niederländische Bevölke-rung sich aus den Produkten ihres eigenenBodens ernähren könne, wird dadurch er-zeugt, dass große Mengen an importiertenFuttermitteln allein diese Ernährung mitMilch und Fleisch ermöglichen. Zu dem inWirklichkeit in Anspruch genommenen"Umweltraum" müssen daher die Boden-flächen hinzugerechnet werden, auf denendie erwähnten Futtermittel erzeugt werden.Damit kommt ein "Verbrauch" an Umwelt-raum pro Kopf der Bevölkerung zu Stande,der mit einer einigermaßen gleichen welt-weiten Inanspruchnahme pro Kopf derErdbevölkerung unvereinbar ist. Die Studiefolgert daraus, dass eine Umstellung aufeinen größeren Anteil an pflanzlicher Er-nährung notwendig ist, wenn den Bedin-gungen einer nachhaltigen Entwicklungweltweit genüge getan werden soll.3

Ebenso drastisch sehen die Verhaltensän-

derungen aus, die bei Inanspruchnahmevon Verkehrsmitteln wie Flugzeug, Autousw. stattfinden müssten. Je größer derAnteil an der Benützung von Flugzeugenund Autos durch eine Person ist, destoschneller ist der "ihr zustehende" Energie-betrag verbraucht. Das mag genügen, umdeutlich zu machen, dass "nachhaltigeEntwicklung" nicht nur Umstellungen derProduktion – z.B. Schadstofffilter, Ausbauder erneuerbaren Energieproduktion usw. –verlangt, sondern auch eine Änderung un-serer gesamten Lebensweise. Einer solchenÄnderung stehen aber Konsumbedürfnisseund Konsumgewohnheiten der Bevölke-rungsmehrheit entgegen, zugleich setzendie meisten Wirtschaftspolitiker beimKampf gegen die Arbeitslosigkeit immerwieder auf Wachstum, ohne zu differenzie-ren, auf welchen Gebieten Wachstum –ohne zusätzliche Umweltbelastung – nochmöglich ist und auf welchen nicht.

Das Erfordernis einer Umstellung auf"nachhaltige Entwicklung", d.h. auf eineEntwicklung, die aufrecht erhalten werdenkann, ohne die Lebensbedingungen künfti-ger Generationen und ohne eine faireChancenverteilung weltweit zu zerstören,stellt eine vielleicht noch größere Heraus-forderung der Demokratie – auch im verei-nigten Europa – dar. Dabei ist die ethischverwerfliche, im Augenblick unbewusstpraktizierte Umgehung des Problems aus-zuschließen, die darin besteht, dass dieMehrheit der Bevölkerung in den nicht in-dustrialisierten Staaten weit hinter demRessourcenverbrauch und hinter demSchadstoffausstoß der Industrieländer zu-rückbleibt. Nur durch diese extreme Un-gleichheit sind bis jetzt größere Umwelt-katastrophen vermieden worden. Das wirt-schaftlich weit gewichtigere vereinte Eu-ropa kann sich gegenüber der ärmerenMehrheit der Weltbevölkerung diese Ver-haltensweise auf die Dauer nicht leisten. Eswird viel Überzeugungsarbeit kosten, umfür die Notwendigkeit einer Korrektur un-serer Lebensweise demokratische Mehr-heiten zu gewinnen. Ein Abbau des extrem

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hohen Wohlstandsgefälles wird aber auchaus nahe liegenden pragmatischen Grün-den sich als notwendig erweisen. DerDruck der Bevölkerung aus den ärmerenund verarmten Regionen der Erde auf dieGrenzen der "Wohlstandsinsel" Europakann nur verringert werden, wenn diesesGefälle abnimmt.

5. Zivilgesellschaft und europäischeDemokratie

Obgleich die Probleme der Demokratie indem aus selbstständigen Nationalstaatenzusammenwachsenden Europa sich erheb-lich von denen des EinwanderungslandesUSA unterscheiden, können wir doch ausden Überlegungen Nutzen haben, die derSozialwissenschafter Michael Walzer inseinem Buch "Zivile Gesellschaft undamerikanische Demokratie" entwickelthat.4 Das Wort Zivilgesellschaft hat in derZeit unmittelbar nach dem Zusammen-bruch des sowjetisch dominierten Ost-blocks plötzlich Popularität gewonnen. Esdrückte bei Dissidenten in Ungarn schonvor der politischen Wende die Forderungnach Befreiung aller Vereinigungen vonBürgerinnen und Bürgern von der Bevor-mundung durch die herrschende Monopol-partei und den autoritären Staatsapparataus. Freie Bürger – so lautet die Forderung– sollten nicht nur als vereinzelte Individu-en, sondern auch als Angehörige zahlrei-cher, von einander unabhängiger Gemein-schaften vollständig frei sein. Die Vielfaltdieser Vereinigungen auf wirtschaftlichem,kulturellem und politischem Gebiet stellteine Zwischenschicht zwischen dem Ein-zelnen und dem Staatsapparat dar. DieseZwischenschicht erlaubt es auch in einemgrößeren Gemeinwesen Bürgerinnen undBürgern, in unterschiedlicher Weise aktivam sozialen Leben teilzunehmen. DasKonzept der Zivil- oder Bürgergesellschafthat daher auch für liberale DemokratienBedeutung, deren Staatsbürger regelmäßigan Wahlen teilnehmen können und freisind, ihre politische Überzeugung öffent-

lich zu artikulieren. Es stellt keinen Ersatzfür fehlende demokratische Institutionendar, sondern ergänzt deren Funktion underöffnet sehr viel mehr Personen Partizipa-tionsmöglichkeiten. Auf diese aber vor al-lem kommt es an, wenn sich aus der Indi-vidualisierung der liberalen Wirtschafts-ordnung nicht Vereinsamung egoistischerMonaden entwickeln soll. Michael Walzerhält die Verbindung der traditionellen po-litischen Demokratie mit den Möglichkei-ten einer Zivilgesellschaft für ein "sozial-demokratisches" Konzept. Das Wort hatallerdings im Amerikanischen eine weni-ger enge parteipolitische Bedeutung. Esgeht Walzer darum, das berechtigte Anlie-gen des so genannten Kommunitarismusaufzunehmen, ohne in der Sackgasse einernostalgischen Sehnsucht nach Erneuerungder traditionellen religiösen und kommu-nalen Gesellschaft zu enden.

Zur Erläuterung des Begriffs Zivilgesell-schaft noch ein Wort. Im Deutschen ver-stehen wir unter "bürgerlicher Gesell-schaft" seit Hegel die durch Marktbezie-hungen verbundenen Personen "unterhalb"der staatlichen Einheit. Der Bürger, vondem hier die Rede ist, ist der Bourgeois,der Privatmann. Der englische Begriff "ci-vil society" hat im Unterschied dazu diePerson im Auge, die sowohl Privatpersonals auch citizen, politische Person, ist, abereben nicht bloß "Staatsbürger", wie diemissverständliche deutsche Bezeichnunglautet, sondern ein aktiv an allen mögli-chen Vereinigungen – in der Regel vonBürgertugend "civism" motiviert – teil-nehmender Mitbürger. Wir haben keinenpassenden deutschen Ausdruck, und ausdiesem Grund ist die Bezeichnung "Zivil-gesellschaft“ auch die angemessene. Ver-mutlich hängt das Fehlen eines adäquatendeutschen Ausdrucks auch damit zusam-men, dass die fragwürdige Trennung vonKultur und Zivilisation sowie die aller-dings heute der Vergangenheit angehörigeEntgegensetzung von Militär und Zivilper-sonen störend hereinspielt. Im Englischenist der citizen, der sich aktiv an der civil

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society beteiligt, zugleich durch "zivili-sierte Umgangsformen" und durch die Fä-higkeit des fairen Austragens von Kon-flikten ausgezeichnet.

Das Konzept der Zivilgesellschaft, das allemöglichen Vereinigungen wie Gewerk-schaften, Interessensverbände, Umwelt-schutzorganisationen, Kulturkreise, kirch-liche Vereine usw. umfasst, ist aber an dasPrinzip des Föderalismus und der Subsidia-rität durchaus anschlussfähig. Wir müssennur von der Gemeinde noch weiter "hinab-steigen" zu regionalen usw. Vereinigun-gen, in denen sich Bürgerinnen und Bürgerengagieren. Von Seiten der politischen Ins-titutionen können und sollten diese Verei-nigungen allerdings gestärkt und ermutigtwerden. In einigen Fällen vielleicht auchdurch steuerliche Erleichterungen oder An-schubfinanzierungen. Jedenfalls solltenStaaten, die auf eine lebensfähige und akti-ve Zivilgesellschaft Wert legen, es sich an-gelegen sein lassen, durch Förderung allerArten von Vereinigungen der Vereinsa-mung und der Ausgrenzung von Einzelper-sonen oder bestimmter sozialer Kategorienentgegenzuwirken. Die heute oft gehörteForderung nach Eigenverantwortung undEigeninitiative könnte leichter erfüllt wer-den, wenn Gruppen gemeinsam Verant-wortung übernehmen. Bereits existierendeBeispiele sind Initiativen von Arbeitslosenund von Pensionisten. Die wichtigste Ein-sicht, die zur Aufnahme der Zivilgesell-schaft in die Vorstellung einer entwickel-ten demokratischen Verfasstheit geführthat, war die Feststellung, dass die älterenFormen traditioneller Gemeinschaften, dienicht nur in den USA einmal Grundlageder "Bürgertugend" und des öffentlichenLebens waren, heute nicht mehr ausrei-chend vorhanden sind. Weder Gemeindennoch Großfamilien sind für die Bewohnervon Industriestaaten tragende und stützen-de Gemeinschaften. Sie können auch kaumohne Beeinträchtigung der erreichten indi-viduellen Freiheit und Selbstbestimmungwieder hergestellt werden. Wohl aber ist esmöglich und wünschenswert, viele freiwil-

lige Vereinigungen zu schaffen, in denenund durch die der Einzelne seine Einsam-keit, seine Hilflosigkeit, seine Verlassen-heit überwinden und aus einem passivenNorm-Konsumenten zu einem aktiven "ci-tizen" werden kann. Michael Walzernimmt an, dass aus einer lebendigen Zivil-gesellschaft auch ein intensiveres demo-kratisches Gemeinwesen resultieren würde.Freilich werde es in einer solchen Zivilge-sellschaft, zu der selbstverständlich auchpolitische Organisationen gehören, Kon-flikte und heftige Auseinandersetzungengeben. Aber der Reiz des politischen Le-bens sei nicht gut ohne Konflikte und hef-tige Dispute zu haben. Entscheidend blei-be, dass die gemeinsame Basis für dieAustragung solcher Konflikte von allenanerkannt wird. Auch könnte sich aus ar-gumentativ und rhetorisch ausgetragenenKonflikten sehr wohl eine höhere und sta-bilere Art von Gemeinsamkeit ergeben, alsaus einer bloß herbeigeredeten oder be-schwiegenen Harmonie.

In mancher Hinsicht sind übrigens dieUnterschiede zwischen den VereinigtenStaaten als multikulturellem Einwande-rungsland und dem künftig vereinten Eu-ropa als multinationale Föderation heuteweit geringer als noch vor einem halbenJahrhundert. In den USA ist die "Schmelz-tiegelideologie" nicht mehr angebracht.Die Besinnung auf die unterschiedlichenethnischen Identitäten von den "blackAmericans" über "our crowd" und die Irenbis hin zu den Indianern spielt im kultu-rellen und sozialen Leben eine gewachseneRolle. Auf der anderen Seite sind die Ho-mogenitäten der europäischen National-staaten, schon vor der zunehmenden Ein-wanderung aus den Nachbarländern oderehemaligen Kolonien, fragwürdig gewor-den. Korsen, Bretonen, Flamen, Elsässerund Provencalen in Frankreich sind stärkerauf ihre regionale sprachliche und kultur-historische Besonderheit bedacht. Die tra-ditionelle republikanische Forderung nachsprachlicher Homogenität und nach politi-schem Zentralismus ist – wenigstens etwas

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– zurückgetreten. Ähnliches gilt für Spa-nien mit seine Basken und Katalonen, fürGroßbritannien mit Schotten und Walisernusw. In einem vereinigten Europa werdendiese regionalen Eigenarten es leichter ha-ben, sich zu behaupten. Sie werden unterUmständen auch grenzüberschreitend neueVerbindungen herstellen. Darüber hinauswerden die zugewanderten Minderheitenihre Kultur behaupten können, ohne des-halb die Loyalitätspflicht gegenüber demStaat und der Europäischen Union zu ver-letzen. Auch das könnte ein Aspekt derentwickelten Zivilgesellschaft sein.

6. Fazit

Die Zukunftsprobleme der Demokratie inEuropa sind zum größten Teil schon heutevorhanden. Es gilt zu einer politisch hand-lungsfähigen Vereinigung voranzukom-

men, die den kulturellen Besonderheitenund Traditionen der verschiedenen Völkernicht Abbruch tut. Die demokratischeStruktur dieser Vereinigung sollte am bes-ten durch ein Zweikammersystem ausge-baut und zu einem wirklich handlungsfähi-gen Parlament gemacht werden. Für dieErleichterung einer lebendigen politischenDebatte sollte eine sprachliche Vereinheit-lichung gefunden werden. Die internatio-nale Orientierung der Europäischen Unionmuss der gewachsenen Verantwortung die-ser ökonomischen und militärischen Machtentsprechen. Föderalismus, Subsidiaritätund Zivilgesellschaft können zu einer fürdie Bürgerinnen und Bürger dieses Ge-meinwesens erlebbaren Realität der Zu-sammengehörigkeit und der Bereicherungdurch kulturelle Vielfalt beitragen. In die-ser Weise ließe sich die Zukunftsperspek-tive einer europäischen Demokratie den-ken.

Anmerkungen1 Oppenheimer, Franz: Gesammelte Schriften

Bd. II. Politische Schriften, Berlin 1996. "Wieder Frieden aussehen sollte" (1937/38). Bis-lang unveröffentlichte Denkschrift vermutlichaus dem Jahr 1937/38. Central Zionist Archi-ves, Jerusalem, S.238ff.

2 Vgl. vor allem Institut für sozial-ökologischeForschung (Hrsg.): Sustainable Netherlands.Aktionsplan für eine nachhaltige Entwicklungder Niederlande, Milieu Defensie, Friends ofthe Erth Netherlands, Frankfurt/M. o.J.; Um-weltbundesamt (Hrsg.): NachhaltigesDeutschland. Wege zu einer dauerhaften um-weltgerechten Entwicklung, 1997; Kreibich,Rolf u.a. (Hrsg.): Nachhaltige Entwicklung.Leitbild für die Zukunft von Wirtschaft undGesellschaft, Weinheim 1996.

3 Ebd., S.19: "Sobald der Umweltraum deutlichist, stellt sich die Frage, wer diesen Spielraumbenutzt und wie darüber entschieden wird. DieAntwort kann kurz ausfallen: Der reiche Wes-

ten verbraucht derzeit den weitaus größerenTeil der Ressourcen (ein Viertel der Weltbe-völkerung verbraucht ungefähr drei Viertel derjährlich vermarkteten Rohstoffe und Energie)und verursacht damit zugleich den größtenTeil der Verschmutzung ... Die Brundtland-Kommission zeigt in ihrem Bericht auf ein-drucksvolle Weise, dass die Armut der DrittenWelt eine ebenso große Bedrohung für dieUmwelt darstellt wie der übersteigerte Kon-sum im reichen Westen. Weil Rohstoffvorräte,fossile Energiequellen und fruchtbare land-wirtschaftliche Flächen vor allem dem reichenTeil der Weltbevölkerung zu Diensten stehen,werden viele Staaten der Dritten Welt an denRand gedrängt ..." Sie sind daher genötigt,"durch Ausbeutung der 'kostenlos' zur Verfü-gung stehenden Ressourcen etwa der Wälderund landwirtschaftlicher Randflächen" ihre"Existenz aufzubauen" (S. 19).

4 Walzer, Michael: Zivile Gesellschaft und ame-rikanische Demokratie, Berlin 1992.

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Demokratie und Gesetzgebung im Prozess der Globalisierung

Urs Marti

Ist die ökonomische Globalisierung für einwachsendes Demokratiedefizit verant-wortlich? Die Beantwortung der Fragehängt natürlich davon ab, was unter De-mokratie verstanden wird. Wer Kriterienwie Rechtsstaatlichkeit, freie Wahlen undvielleicht zusätzlich ein steigendes Kon-sumniveau als hinreichend erachtet, wirdeher zu einer negativen Antwort neigen.Francis Fukuyama1 hatte in seinem 1992erschienenen Buch The End of History andthe Last Man – nicht nur, aber auch – denweltweiten Durchbruch der kapitalistischenKonsumkultur als ein Indiz zur Untermau-erung seiner These vom globalen Triumphder liberalen Demokratie angeführt. Werhingegen Kriterien wie Volkssouveränität,gleiche, umfassende Partizipationsrechteund -chancen, eine aufgeklärte Öffentlich-keit, soziale Inklusion sowie die Möglich-keit, zwischen alternativen Gesellschafts-modellen zu wählen, für unverzichtbareBedingungen hält, wird die Frage bejahen.Robert Cox2, der das letztgenannte Kriteri-um zu den Voraussetzungen demokrati-scher Politik zählt, spricht denn auch vonDemocracy in hard times. Eine andere Be-urteilungsgrundlage liefert die Unterschei-dung von Input- und Output-Legitimität,mit welcher in neueren Diskussionen, be-sonders in den Kontroversen um die de-mokratische Legitimation der EU, argu-mentiert wird. Gelten im ersten Fall politi-sche Entscheidungen dann als legitim,wenn sie auf die direkte oder indirekte Zu-stimmung des Volks zurückgeführt werdenkönnen, so gelten sie im zweiten Fall be-reits dann als legitim, wenn sie nicht vomVolk getroffen werden, aber doch Proble-me lösen sowie Interessen vertreten, dieden Mitgliedern des Gemeinwesens ge-meinsam sind3. Doch woher wissen dieInhaber der Entscheidungsgewalt, um wel-che Probleme und Interessen es sich dabei

handelt? Schon die Frage zeigt, dass Out-put-Legitimität von Input-Legitimität nichtvöllig losgelöst werden kann. Zu den Be-dingungen der Möglichkeit von Output-Legitimation gehören nach Fritz Scharpfinstitutionelle Mechanismen, die der Siche-rung gemeinwohlorientierter Entscheidun-gen dienen. Dazu zählen Mechanismen,deren Wirkung auf der direkten oder indi-rekten Abhängigkeit der Regierenden vonden Regierten beruht. Es genügt freilichnicht, dass die Regierenden auf bevorste-hende Wahlen antizipierend reagieren;vielmehr muss die Kommunikation zwi-schen den Entscheidungsträgern und demWahlvolk "unter der potenziellen Auf-merksamkeit einer politischen Öffentlich-keit stattfinden" und "über öffentliche An-gelegenheiten in der Öffentlichkeit mitBezug auf das gemeinsame Interesse dis-kutiert und gestritten werden" können4.

Nimmt man die input-orientierten Kriterienzum Maßstab, so bestätigt sich der Ver-dacht, die ökonomische Globalisierungprovoziere ein wachsendes Demokratiede-fizit. Zu erwähnen sind die in der jüngerenLiteratur oft beobachteten Verlagerungender effektiven Entscheidungsgewalt vonder Legislative zur Exekutive auf national-staatlicher Ebene sowie von staatlichenRegierungen zu internationalen Organisa-tionen vor allem in der Wirtschaftspolitik,das Fehlen einer politischen Öffentlichkeit,vor der globalpolitisch relevante Entschei-dungen gerechtfertigt werden müssen,ebenso die geringen Chancen, zwischenalternativen Gesellschaftsmodellen wählenzu können, wozu konkret die Bekehrungvieler sozialdemokratischer Parteien zurneoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitikbeigetragen hat. Ist also das "Ende derDemokratie", das Jean-Marie Guéhenno5

bereits 1993 verkündet hatte, nahe?

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24 Urs Marti

Guéhenno war von der problematischenAnnahme ausgegangen, Demokratie könnenur im Rahmen des Nationalstaats ver-wirklicht werden. Allerdings haben auchjene, die eine trans- oder supranationaleDemokratie für möglich halten, gegenwär-tig wenig Grund zum Optimismus. Wenndie Globalisierung die Macht der Men-schen, die Politik auf nationalstaatlicherEbene zu beeinflussen, vermindert hat, sohat sie damit gleichzeitig ein wachsendesBedürfnis nach demokratischen Institutio-nen auf supranationaler Ebene hervorgeru-fen; doch dieses Bedürfnis bleibt unbefrie-digt. "Regiert" wird zwar auch auf globalerEbene, aber bei dieser Tätigkeit handelt essich nicht mehr um "government", sondernum "governance". Theoretiker der "globalgovernance" wie James Rosenau gehendavon aus, dass bestimmte Aufgaben injedem funktionsfähigen System bewältigtwerden, unabhängig davon, ob es Instituti-onen speziell zu diesem Zweck ausgebildethat. Regelsysteme können, so die These,auch dann funktionieren, wenn eine recht-lich-politische Instanz, die die Regeln de-finiert und ihre Anwendung autorisiert,fehlt. Während "government" eine als Au-torität anerkannte und mit Sanktionsmachtausgestattete Vollzugsgewalt unterstellt,umfasst "governance" Aktivitäten, die sichnicht von formellen, gesetzlich festge-schriebenen Verantwortlichkeiten herleitenlassen und die ohne Sanktionsmöglichkei-ten erfolgreich sein können6.

1. GlobalpolitischeOrdnungsvorstellungen

Wie könnte nun das Problem der – um einaltes und heute wieder gerne gebrauchtesWort zu verwenden – Entfremdung zwi-schen den globalen Entscheidungsträgernund den von ihren Entscheidungen Betrof-fenen gelöst werden? Idealerweise mittelsder Errichtung einer Demokratie auf Welt-ebene, einer Weltrepublik, einer politi-schen Institution, die garantiert, dass dieEntscheidungsträger ihre Politik allen da-

von Betroffenen gegenüber zu verantwor-ten haben, dass sie einen gesetzgeberischenAuftrag erfüllen, der im Rahmen demo-kratischer Prozeduren formuliert wordenist und dass sie abgewählt werden können.Zwar wird ein solcher "Weltstaat" auchheute noch gerne als despotische Monstro-sität perhorresziert, doch fehlt es in derzeitgenössischen Literatur nicht an Ent-würfen für eine kosmopolitische Ordnung.Hier sei nur an drei erinnert, die repräsen-tativ sind für unterschiedliche Positionen.

Otfried Höffe7 hält die Weltrepublik für dievon der Vernunft gebotene Rechts- undStaatsform globaler menschlicher Koexis-tenz, und er kann sich dabei auf Kant beru-fen, der in seiner Friedensschrift trotz Be-denken festgestellt hatte, "nach der Ver-nunft" müssten die Staaten eine Weltrepu-blik gründen. Laut Höffe darf diese aller-dings bloß die Gestalt eines föderalenKomplementär- oder Minimalstaats an-nehmen, das Existenzrecht sowie die Ei-genverantwortung demokratischer Staatenmithin nicht negieren. Staatliche Aufgabenübernimmt sie nur dort, wo das Subsidia-ritätsprinzip dies zulässt. Zur Hauptsacheist sie zuständig für den internationalenFrieden sowie für das internationale Recht,hinsichtlich ökonomischer Regulierungund gerechter Gestaltung der Sozialord-nung kann ihr allenfalls bescheidene Kom-petenz zukommen. David Held8 geht voneinem radikaleren Demokratieverständnisaus. Politik bezeichnet in seiner Sichtweisenicht nur den Bereich von Staat und Regie-rung, sondern darüber hinaus sämtlicheBereiche, in denen Macht ausgeübt werdenkann, in denen also Individuen und Institu-tionen fähig sind, ihre natürliche und sozi-ale Umwelt zu erhalten und zu verwandeln.Das Ziel demokratischer Politik sollte lautHeld darin bestehen, den Menschen imHinblick auf die Gestaltung der Verhältnis-se, welche die Spielräume ihres Handelnsabstecken, gleiche Rechte und Pflichten zugarantieren. In der Wahl ihrer Lebensbe-dingungen sollen sie frei und gleich sein,natürlich unter der Bedingung, dass sie die

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Rechte der Anderen nicht negieren. DaMacht innerhalb nationaler Grenzen nurmehr beschränkt kontrollierbar ist, müssenderen verfassungsmäßige Strukturen wiezwischen Staaten garantiert sein. Das öf-fentliche Recht muss daher kosmopolitischwerden und sein Vollzug setzt die Schaf-fung neuer Formen transnationaler Demo-kratie voraus. Held entwirft ein dezentralesModell, welches einem sich verdichtendenNetzwerk entspricht, einer Gemeinschaftvon Staaten und weiteren Assoziationenzum Zweck der Wahrung des globalendemokratischen Rechts. Neuerdings fordertHeld9 in einem konkreteren Programm einesozialdemokratische Alternative zur langeZeit dominierenden Weltwirtschaftspolitikdes so genannten "Washington Consen-sus". Schließlich ist an den Ansatz vonRichard Falk zu erinnern, der sich seitJahrzehnten mit Problemen demokratischerWeltordnung und globaler Verfassung be-fasst. Die globalen Integrationstendenzender Gegenwart bezeichnet er als "geogo-vernance", worunter er eine Herrschafts-form versteht, die den Interessen dermächtigen Industriestaaten dient und denImperativen des kapitalistischen Welt-markts gehorcht. Eine Alternative dazusieht er in der Förderung der Menschen-rechte einschließlich ökonomischer undsozialer Rechte, in der Erweiterung vonPartizipationsmechanismen sowie in derStärkung der internationalen Gerichtsbar-keit, insbesondere in der Schaffung vonVerfahren, die es erlauben, globalpoliti-sche und globalökonomische Entschei-dungsträger zur Verantwortung zu ziehen.Die Chancen einer demokratischen Reformder UNO beurteilt Falk indes skeptisch.Bekanntlich ist ein Ausbau demokratischerStrukturen auf nationaler und internatio-naler Ebene aus der Sicht der neoliberalenWirtschaftsdoktrin dann nicht wünschbar,wenn damit eine stärkere Marktregulierungeinhergeht. Gerade die Unfähigkeit derUNO, in die Aktivitäten von Finanzmärk-ten und multinationalen Unternehmen re-gulierend einzugreifen, könnte aber gemäßFalk zu ihrer Marginalisierung beitragen10.

Wie die wenigen Hinweise zeigen, lässtsich die Vielfalt kosmopolitischer Visio-nen11 mit unterschiedlichen Auffassungenüber die Zuständigkeiten der Politik erklä-ren. Stark vereinfachend lassen sich zweiPositionen unterscheiden. Wer den Staatendie Zurücknahme ihrer "Kompetenzanma-ßung" nahe legt und annimmt, Demokratiefunktioniere auf nationaler Ebene mehroder weniger zufriedenstellend, die beste-hende politische Ordnung bedürfe alsolediglich einer Ergänzung auf supranatio-naler Ebene, aber keiner Veränderung,wird der globalen Politik eine eher be-scheidene Zuständigkeit einräumen. Werhingegen annimmt, die kapitalistische Glo-balisierung provoziere auf nationalstaatli-cher Ebene eine Krise demokratischer Po-litik und folglich gehe es darum, den aufdieser Ebene zu beobachtenden Verlustdemokratischer Handlungsmöglichkeitenauf globaler Ebene zu kompensieren, wirdfür sie umfassende Kompetenzen fordern.Die Debatten um die Globalisierung vonPolitik und Recht geben Gelegenheit,nochmals zu prüfen, welchen Versprechenmoderne, demokratische Institutionen ih-ren Legitimitätsanspruch verdanken. Wennder Zweck der Politik gemäß modernemVerständnis in der Garantie von Freiheits-rechten besteht, so ist die Frage nach demZuständigkeitsbereich demokratischer Po-litik stets zugleich die Frage, auf welcheFreiheiten sich diese Garantie erstreckensoll.

2. Legitimitätsgrundlagen dessouveränen Staats

Ich möchte diese Frage im Rahmen eineshistorischen Exkurses kurz erörtern12. Ein-sam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurzwäre das menschliche Leben, gäbe es keinstaatliches Gewaltmonopol, so urteilte be-kanntlich Thomas Hobbes. Der von ihm alspermanenter Krieg aller gegen alle be-schriebene Naturzustand bleibt zwar einGedankenexperiment, das der Warnungdienen soll, doch der Bürgerkrieg zwischen

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Angehörigen verfeindeter Stände, Parteienoder Konfessionen ist eine Realität, die dasElend der Anarchie demonstriert. DieVermeidung eines solchen Krieges erfor-dert für Hobbes wie für andere frühe Theo-retiker des neuzeitlichen Staats die Mono-polisierung der politischen Entschei-dungsmacht und der legislativen Kompe-tenz. Die Machtkonzentration beim monar-chischen Staat ist ein Faktor, der die lang-fristigen Prozesse der Säkularisierung, desAbbaus von Privilegien und der zuneh-menden Rechtsgleichheit der Untertanenermöglicht hat. Bereits für die von Hobbesvertretene absolutistische Variante desSouveränitätsgedankens gilt, dass alle Mit-glieder des politischen Gemeinwesens dengleichen Anspruch auf Rechtsschutz ha-ben, also auf die Ausübung staatlicherMacht zwecks Abwendung oder Sanktio-nierung der sie bedrohenden Gewalt.Selbstverständlich artikulieren sich in denneuzeitlichen Staatstheorien ebenfalls diespezifischen Bedürfnisse einer bürgerli-chen Gesellschaft, die vorrangig am Schutzdes privaten Eigentums interessiert ist.Dem Eigentum kommt – bereits bei Bodin,vor allem aber bei Locke – ein naturrecht-licher Status zu; dieses Naturrecht setzt derlegislativen und exekutiven Kompetenzdes Souveräns Grenzen. Der potenzielleVertragspartner der Sozialvertragstheorienist denn genau besehen auch nicht derMensch schlechthin, sondern der männli-che Besitzbürger. Kant kommt das Ver-dienst zu, mit aller Deutlichkeit ausgespro-chen zu haben, was seine Vorgänger mehroder weniger stillschweigend stetsschon vorausgesetzt haben: Bedingungdes Staatsbürgerstatus ist wirtschaftlicheSelbstständigkeit, mithin eine Situation,worin ein Mensch seine Existenz nicht derWillkür eines Anderen verdankt und inRechtsangelegenheiten nicht durch anderevertreten werden kann. Frauen und wirt-schaftlich unselbstständige Männer sindzwar keineswegs rechtlos, jedoch im Ge-gensatz zu den wirtschaftlich selbstständi-gen Männern nicht berechtigt, an der Ge-

setzgebung zu partizipieren, mithin ihreRechtsansprüche zu artikulieren.

Sozialvertragstheorien beanspruchen nicht,die Entstehung von Staaten zu erklären,sondern die Kriterien ihrer Legitimität zudefinieren. Die Anerkennung der Herr-schaft von Staat und Gesetz resultiert we-der auf einem Akt der Zustimmung allerRechtsunterworfenen noch auf der Bereit-schaft der staatlichen Autorität, die ele-mentaren Rechtsansprüche aller Gruppender Bevölkerung zu verteidigen. Die Ent-stehung der neuzeitlichen Staaten ist nur zuverstehen vor dem Hintergrund gesell-schaftlicher Transformationen und neuerKlassenkonflikte13. Zu den vorrangigenstaatlichen Aufgaben gehört die Verteidi-gung der ökonomischen Interessen und derdaraus hergeleiteten Rechtsansprüche jenerMitglieder des Gemeinwesens, die aufGrund ihrer materiellen Situation privile-giert sind; das Gesetz dient dem Zweck,Eigentum zu schützen und geordneteTauschbeziehungen aufrechtzuerhalten.Die von den Staaten errichteten Rechts-systeme wirken zwar insofern egalisierend,als sie allen Rechtsunterworfenen gleicheHandlungsmöglichkeiten unterstellen undnach deren Maßgabe eine gleiche Be-handlung zusichern, doch derart verschlei-ern sie das ungleiche Ausmaß an Wahl-freiheit, worüber die Rechtsunterworfenenverfügen. Sie versprechen allen MenschenVorteile, die nur bestimmte soziale Grup-pen nutzen können14. Die Zusicherung derVertrags- und Handelsfreiheit ändert nichtsan der realen Unfreiheit jener Mitgliederder Gesellschaft, die weder ausreichendeSubsistenzmöglichkeiten noch Produkti-onsmittel besitzen.

Die souveräne Macht der neuzeitlichenStaaten vermochte stabile Verhältnisse zugarantieren, innerhalb derer sich die kapi-talistische Produktion entwickeln und ka-pitalistische Märkte etablieren konnten.Auf eine solche Macht ist auch der moder-ne, liberale Staat angewiesen; es handelt

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sich um einen starken Staat, der zwar nichtin die Wirtschaft eingreift, aber die beste-hende Marktordnung schützt sowie darüberhinaus neue Märkte erobert und verteidigt.Vor dem Hintergrund dieser historischenFunktion des souveränen Nationalstaatslässt sich seine gegenwärtige und künftigeBedeutung in einer entgrenzten Ökonomieeinschätzen, einer Ökonomie freilich, dieauf den durch politische Institutionen ver-bürgten Schutz von Eigentumsrechten an-gewiesen bleibt. Zeitgenössische Kontro-versen um die Definition jener Rechte, dieder Staat zu schützen hat, reagieren aller-dings nicht ausschließlich und nicht unbe-dingt auf die durch die Globalisierung ge-schaffenen neuen Realitäten. So ist etwader derzeit wieder heftig geführte Streitdarüber, ob Staaten, wenn sie Eigentums-und Vertragsrechte im Namen demokrati-scher oder sozialpolitischer Anliegen rela-tivieren, ihre historisch gewachsene Recht-fertigung aufs Spiel setzen, bereits in denDebatten des ausgehenden 18. Jahrhun-derts angelegt. Gemäß klassischer liberalerAuffassung darf einzig Rechtssicherheit,nicht aber Existenzsicherheit Aufgabe desStaats sein. Der konservative Liberalismusverneint ein Recht auf materielle Unter-stützung auch deshalb, weil die Ursacheder Armut in seiner Perspektive allein inder moralischen Disposition der Armenliegt und die Gewährung eines solchenRechts zu deren moralischer Korruptionführen müsste15. Die neoliberale Sozial-staatskritik bedient sich bekanntlich ver-gleichbarer Argumente.

Die Legitimitätskriterien staatlicher Herr-schaft sind im Zuge von Demokratisie-rungsschüben, zuletzt der Expansion desWohlfahrtsstaats in der zweiten Hälfte des20. Jahrhunderts, mehrmals neu definiertworden. Zwar haben die Interessen derKapitaleigner in der Gesetzgebung moder-ner Nationalstaaten ihren Niederschlaggefunden, andere gesellschaftliche Grup-pen haben die Gesetzgebung jedoch zu-nehmend mitgestaltet. Die Staaten habennicht nur der kapitalistischen Produktion

und Marktwirtschaft einen rechtlichenRahmen verschafft, ihre Politik und Ge-setzgebung zielt seit dem ausgehenden 19.Jahrhundert überdies auf die Integrationunterprivilegierter Schichten mittels sozi-alen Ausgleichs. Nach dem Zweiten Welt-krieg beginnt sich schließlich in den In-dustriestaaten die Überzeugung durchzu-setzen, zu den Grundrechten, deren Garan-tie der Staat seine Anerkennung verdankt,gehörten auch soziale Rechte. Forderun-gen, das Privateigentum bedingungslos zuschützen, können mit Forderungen, fürsoziale Sicherheit zu sorgen, in Konfliktgeraten. Der wohlfahrtsstaatliche Ausbauder Demokratie, der die Anerkennung so-zialer Rechte ermöglicht, bedingt einewirtschaftspolitische Kontroll- und Inter-ventionstätigkeit des Staats, die einerseitsvon neoliberalen Doktrinen als unzulässigzurückgewiesen und andererseits durch dieÖffnung der Märkte erheblich erschwertwird. Erneut sind die Staaten somit in eineLegitimitätskrise geraten, muss doch ge-mäß dem modernen demokratischenStaatsverständnis ihr wirtschafts- und sozi-alpolitischer Rückzug als Weigerung er-scheinen, ihre Verantwortung wahrzuneh-men. Wenn Demokratiedefizite konstatiertwerden, liegt der Feststellung häufig derBefund einer Nichterfüllung staatlicherAufgaben zu Grunde, die im Rahmen einesdemokratischen Auftrags formuliert wor-den sind, nun aber im Namen ökonomi-scher "Sachzwänge" in Frage gestellt wer-den.

Die Entstehung des modernen Staates lässtsich auch interpretieren als Neuorganisati-on der Rechtsprechung, als Institutionali-sierung einer den partikularen gesell-schaftlichen Interessen übergeordneten,ihrem Anspruch nach unparteiischen rich-terlichen Instanz16. Gemäß der Definition,die Locke zu Beginn der zweiten Abhand-lung über die Regierung gibt, ist der Staatdie oberste richterliche Gewalt; politischeGewalt bedeutet das Recht, für die Rege-lung und Erhaltung des Eigentums Gesetzezu schaffen und diese notfalls unter An-

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drohung der Todesstrafe zu vollstrecken.Der Staat soll elementare und von allenbeanspruchte Rechte wie jene auf Leben,Sicherheit, Freiheit und Eigentum schüt-zen. Der moderne, demokratische Staatsieht sich mit einer komplizierteren Aufga-be konfrontiert, ist er doch zusätzlich im-mer stärker in die Rolle eines Schiedsrich-ters gewachsen, der nicht nur die Grenzenzwischen Recht und Unrecht zu ziehen,sondern auch zwischen konkurrierendenRechtsansprüchen zu entscheiden hat. DerEntscheidung sollte idealerweise die Ab-sicht zu Grunde liegen, soziale Gruppen,die unterschiedliche Ausgangspositioneneinnehmen und deshalb über unterschiedli-che Handlungsmöglichkeiten verfügen,mittels der Zusicherung von Rechten zuintegrieren. Solche Rechte können mithinsowohl den Zweck haben, bestehende, alsausreichend beurteilte Handlungsmöglich-keiten zu schützen, wie auch, ungenügendeHandlungsmöglichkeiten zu erweitern.

Mit Schutz, Partizipation und Inklusionwerden gemeinhin die Kernaufgaben be-zeichnet, die der moderne demokratischeStaat zu erfüllen hat. Die drei Aufgabengehören zwar notwendig zusammen undergänzen sich, aber sie können sich auchals widersprüchlich erweisen. Ein Blickauf die Entstehungsgeschichte des moder-nen Verfassungsstaats legt die Unterschei-dung der folgenden vier Entwicklungsstu-fen nahe. Zuerst hat der Staat den gesell-schaftlichen Frieden zu sichern. Er mussÜberlebens- und Sicherheitsrechte garan-tieren und benötigt zu diesem Zweck Sou-veränität im Sinne der Monopolisierungder legitimen physischen Gewaltmittel. Ineiner zweiten Phase garantiert er zusätzlichpersönliche Freiheitsrechte; er wandelt sichin den Verfassungsstaat, der die Machtaus-übung mittels Gewaltenteilung neu organi-siert sowie unveräußerliche Grund- undMenschenrechte anerkennt. In einer drittenPhase müssen sich die Rechte auch auf diepolitische Teilhabe und Mitwirkung erstre-cken; staatliche Herrschaft beruht nun aufdem Prinzip der Volkssouveränität und

garantiert das allgemeine, gleiche Wahl-recht. Schließlich tritt die Gewährleistungvon sozialen Bürgerrechten zu den ele-mentaren staatlichen Aufgaben hinzu; zurdemokratischen Qualifikation des Staatsgehören nun neben der Erfüllung rechts-staatlicher und politischer auch jene sozial-staatlicher Forderungen17.

Die Anerkennung sozialer Sicherheit alslegitimen Rechtsanspruch findet ihrenNiederschlag in einem neuen Verständnisdes staatsbürgerlichen Status. Dieserschließt in modernen Gesellschaften zu-sätzlich zu den bürgerlichen und politi-schen die sozialen Rechte ein, das heißtdas Recht auf ein Mindestmaß an wirt-schaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit so-wie auf ein Leben, das den geltenden ge-sellschaftlichen Standards entspricht18. Wiesolche Rechte begründet werden könnenund ob sie mit liberalen Prinzipien über-haupt kompatibel sind, ist bis heute Ge-genstand zahlloser Kontroversen. Sieht derklassische Liberalismus den Zweck vonRechten hauptsächlich in der Begrenzungstaatlicher Macht, liegt die Funktion sozi-aler Rechte in egalitär-liberaler odersozialdemokratischer Sichtweise in derKorrektur der durch die ungleiche Vertei-lung ökonomischer Macht verursachtenGefährdung individueller Selbstbestim-mung. Soziale Rechte lassen sich begrün-den als notwendige Voraussetzungen derSelbstbestimmung. Die Idee sozialer Si-cherheit impliziert die Korrektur der klas-sisch-liberalen Auffassung, wonach Frei-heit ein Privileg der ökonomisch Selbst-ständigen ist und Unselbstständige, weilsie dem ökonomischen Druck wehrlos aus-gesetzt sind, politisch nicht partizipierendürfen. Soziale Sicherheit stärkt die Positi-on der Unterprivilegierten, erweitert ihreOptionen und baut das Machtgefälle zwi-schen gesellschaftlichen Gruppen ab. DieErweiterung liberaler Freiheitskonzeptio-nen ist angesichts der über Gewaltanwen-dung hinausgehenden, soziale und ökono-mische Macht einbeziehenden Vielfaltmöglicher Gefährdungen individueller

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Selbstbestimmung logisch. Der Staat kanndie gleiche Freiheit nicht ausschließlichformal-rechtlich garantieren, er muss ge-sellschaftliche Macht kontrollieren undbegrenzen, soziale Voraussetzungen derFreiheitsrealisierung sichern und daraufhinwirken, dass die individuelle Realisie-rung der Freiheit allen im gleichen Maßemöglich ist19.

3. Globales Recht ohneglobale Demokratie

Die oben stichwortartig rekonstruierte Ent-stehungsgeschichte des modernen Staatszeigt Fortschritte hin zu größerer Rechtssi-cherheit und -gleichheit; von Demokratieim heute allgemein anerkannten Sinn kannaber natürlich erst die Rede sein, wenn diedritte Stufe erreicht ist, wenn die Legiti-mität der Gesetzesordnung nicht mehr aus-schließlich von ihrem Inhalt abhängig ist,sondern von der Art des Verfahrens, ausdem sie resultiert. Zwar ist der Streit dar-über, ob der Volkssouveränität oder denMenschenrechten der normative Vorranggebührt oder ob beide gar "gleichur-sprünglich"20 sind, bis heute nicht ent-schieden und es gibt gute Gründe, Volk-souveränität nicht zum einzigen Kriteriumlegitimer Politik zu erklären. Dennochwird niemand bestreiten, dass eine Gesetz-gebung den Ansprüchen der Betroffenendann am ehesten gerecht wird, wenn diesedirekt oder indirekt daran partizipierenkönnen. Was die gegenwärtige Situation inden Augen vieler Beobachter charakteri-siert, ist ein wachsendes Bedürfnis nachRechtssicherheit in Bereichen, für die na-tionale Gesetze nicht zuständig sind, aberauch ein wachsendes Bedürfnis nach Mit-wirkung bei der Gestaltung der dafür nöti-gen neuen Gesetze. Während das erste Be-dürfnis zumindest partikular, insbesonderefür privilegierte Akteure der Weltwirt-schaft, befriedigt wird, bleibt das zweiteunbefriedigt. Bisherige Versuche, dasPrinzip demokratischer Selbstgesetzge-bung zu verwirklichen, beschränken sich

auf nationalstaatlich verfasste Gesell-schaften. Die kritische oder skeptischeBeurteilung der gegenwärtigen Globalisie-rung ist häufig motiviert von der Befürch-tung, demokratische Verfahren würden,wenn auch nicht abgeschafft, so doch imHinblick auf die Gestaltung der nationalenwie supranationalen Ordnungen zuneh-mend bedeutungslos. Es mag übertriebensein, die Globalisierung mit einem neuenFeudalismus gleichzusetzen, geprägt voneinem unübersichtlichen Geflecht politi-scher und ökonomischer Machtzentrensowie nationaler und globaler Rechtsnor-men, in dem sich letztlich das Recht des –vor allem wirtschaftlich – Stärkeren durch-setzen wird. Wenn freilich die oben ange-gebene Abfolge der Entwicklungsstufendes modernen Staats als Fortschritt begrif-fen wird, so muss die heutige Phase desAuseinandertretens von Demokratie, Poli-tik und Gesetzgebung mit einem Rück-schritt gleichgesetzt werden.

An dieser Stelle sind zwei mögliche Ein-wände gegen diese Konklusion zu diskutie-ren. Zunächst ist festzuhalten, dass in derbisherigen Argumentation der Begriff derGlobalisierung nicht kritisch analysiertworden ist. Inwiefern die Transformations-prozesse der letzten Jahrzehnte die staatli-che Handlungsfähigkeit unterminiert ha-ben, bleibt umstritten21. Der "Rückzug" derStaaten und die wachsende Macht derMärkte22 lassen nicht zwingend auf einegenerelle Schwächung staatlicher Politikschließen. Angesichts der Tatsache, dassdie meisten multinationalen Unternehmenvon ihren Heimatstaaten abhängig bleiben,dass die ärmeren Staaten von der neuenWeltwirtschaft wenig profitieren und dassdie mächtigen Industriestaaten ihre Kon-troll- und Regulierungsfähigkeit nicht ein-gebüßt haben, beurteilen einige AutorenGlobalisierungstheorien skeptisch23. Aller-dings lässt sich aus der skeptischen Positi-on nicht folgern, die These eines wachsen-den Demokratiedefizits sei unbegründet.Zu konstatieren ist vielmehr, dass privateAkteure ihre Interessen zwar langfristig

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nur durchsetzen können, wenn es ihnengelingt, die nationale und internationalePolitik für ihre Zwecke zu instrumentali-sieren, dass aber auf Seiten nationalstaatli-cher Regierungen heute oft der politischeWille fehlt, staatliche Macht zum Zweckder Errichtung einer Weltwirtschaftsord-nung einzusetzen, die einer demokrati-schen Politik auf nationaler und gegebe-nenfalls auch supranationaler Ebene größe-re Chancen gibt. Zweitens lässt sich ein-wenden, die einflussreichen internationalenInstitutionen entbehrten ja nicht völlig ei-ner Input-Legitimation, da ihre Politikletztlich von Vertretern gewählter national-staatlicher Regierungen beschlossen wird.Das ist nicht falsch, allerdings kann nichtdie Rede davon sein, dass globalpolitischeEntscheidungen auf die direkte oder indi-rekte Zustimmung der davon Betroffenenzurückgeführt werden können; die demo-kratische Legitimationskette ist zerbro-chen. In den wirtschafts- und finanzpoliti-schen Organisationen hängt der Einflusseiner Regierung in der Regel von der wirt-schaftlichen Stärke ihres Landes ab; dieEntscheidungsmacht ist folglich ungleichverteilt. Überdies gehorcht die von Regie-rungsvertretern in diesen Organisationenverfolgte Politik oft nicht einem Wähler-auftrag, sondern partikularen Finanz- undHandelsinteressen. Schließlich fehlen Me-chanismen, die eine indirekte Abhängigkeitder global "Regierenden" von den global"Regierten" schaffen könnten. Ein Kritikerwie Joseph Stiglitz24 spricht in diesemKontext von globaler Politikgestaltungohne globale Regierung. Sie wird im Rah-men der Weltbank, des InternationalenWährungsfonds und der Welthandelsorga-nisation von wenigen staatlichen und pri-vaten Akteuren beschlossen, die den vonihren Entscheidungen Betroffenen keineRechenschaft schulden; diese verfügenihrerseits in ihrer Mehrheit über kein Mit-spracherecht.

Unbestritten ist, dass die Erzeugung neuerRechtsnormen zur Regelung globaler Ver-hältnisse von demokratischen Verfahren

weitgehend abgekoppelt ist. Im Prozess derEntstehung eines globalen Rechts25 spieltdie legislative Souveränität der Staaten nurnoch eine untergeordnete Rolle. Besondersdie im Bereich des Wirtschafts- und Han-delsrechts sich herausbildenden, auch als"proto-law" oder "soft law" bezeichnetenglobalen Normen werden von Institutionenerzeugt, die unter einem erheblichen De-mokratiedefizit leiden26. Wird die fehlendedemokratische Legitimation des globalenRechts kritisiert, ist freilich nicht nur ge-meint, dass es nicht aus Verfahren derSelbstgesetzgebung resultiert, sondern dasses für einen großen Teil der Bevölkerungauch häufig nicht einklagbar und erzwing-bar und überdies als Ausdruck der Interes-sen mächtiger Akteure unfähig ist, Un-gleichheit erzeugende gesellschaftlicheVerhältnisse zu zivilisieren27. Durchset-zungsschwaches Recht kann unter Bedin-gungen asymmetrischer Machtverteilungzum Privileg werden. Recht ist es gemäßdemokratischem Verständnis erst dann,wenn es auch für den Schwächsten ein-klagbar ist und wenn auch für ihn Instituti-onen bereitstehen, die es durchsetzen. DieGlobalisierung der Ökonomie hat bislangfreilich die Machtasymmetrien eher ver-größert als abgebaut und globale Rechts-normen zur Regelung von Handel und In-vestition scheinen oft wenig geeignet zusein, diesbezüglich korrigierend zu wirken.Wenn die "Sachzwänge" der Globalisie-rung die Staaten in ihrer Wirtschafts- undSozialpolitik einschränken, so spricht manheute in diesem Zusammenhang gerne vonder Anpassung an die – von neoliberalerSeite als ökonomisch notwendig und auflängere Sicht nützlich beurteilten – Impe-rative des Standortwettbewerbs. Im Urteilmancher Kritiker sind solche Anpassungenverantwortlich für einen Demokratiever-lust. Darunter ist nun jedoch zweierlei zuverstehen.

Zu den grundlegenden Legitimitätskrite-rien der Demokratie gehört das Prinzip derSelbstgesetzgebung; die Adressaten desRechts müssen zugleich dessen Autoren

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sein. Den Menschen stehen aktive Frei-heitsrechte zu. Sie haben das Recht, an derlegislativen Gewalt zu partizipieren und siemüssen reelle Chancen haben, dieses Rechtzu nutzen. Solchen Kriterien kann – auchwenn dies vorderhand reichlich utopischtönt – prinzipiell auch eine Weltrepublikgenügen. Die Legitimität des globalenRechts setzt voraus, dass seine Adressaten– die Gesamtheit der Bewohnerinnen undBewohner des Planeten – zugleich seineUrheber sind. Es genügt, auf das Problemhinzuweisen, um zu erkennen, welche tiefgreifenden Veränderungen der globalenVerhältnisse nötig sind, um die Bedingun-gen für einen kosmopolitischen Konstituti-onalisierungsprozess zu schaffen. Grund-sätzlich geht es darum, jenen Mechanismuszu durchbrechen, der bewirkt, dass globa-les Recht als Ausdruck der Interessen pri-vilegierter Akteure von der Weltbevölke-rungsmehrheit mangels fehlender Wahl-freiheit akzeptiert werden muss. EineWeltordnung kann erst dann als demokra-tisch gelten, wenn sie allen Erdenbürgerin-nen und -bürgern gleiche Freiheitsrechte,gleiche Partizipationschancen sowie diesozialen Bedingungen garantiert, die erfor-derlich sind, um diese Rechte und Chancennutzen zu können. Die zweifellos nötigenund spannenden Versuche, Formen supra-oder transnationaler Demokratie zu erfin-den, neigen leider meist dazu, die Frageauszublenden, wie soziale und ökonomi-sche Fremdbestimmung überwunden undderart die Voraussetzungen effektiverWahlfreiheit geschaffen werden könnte.

Damit lässt sich überleiten zum zweitenPunkt beziehungsweise zur vierten Ent-wicklungsstufe des modernen Staats. Ka-pitalistische Demokratien sind geprägt vonWohlstandsdisparitäten, diese haben aberin der Nachkriegszeit in den industriali-sierten Staaten mit Mitteln der Sozialpoli-tik partiell korrigiert werden können. DieLegitimität von Demokratien hängt auchdavon ab, ob sie auf die Sicherung vonsozialen Lebensbedingungen hinwirken,die allen Bürgerinnen und Bürgern die

gleiche Chance verschaffen, ihre Rechte zunutzen, das heißt, ob sie positive Freiheitengarantieren. Eine regulierende und umver-teilende Wirtschafts- und Sozialpolitik istdaher aus Legitimitätsgründen unverzicht-bar und müsste im Hinblick auf eine sup-ranationale Erweiterung der Demokratienicht abgebaut, sondern auf globaler Ebeneerneuert werden. Für ein solches Projektfehlt heute der nötige Konsens, wobei an-zumerken ist, dass ja auch nicht-exklusiveInstitutionen globaler Öffentlichkeit, worinsich ein solcher Konsens überhaupt anbah-nen könnte, fehlen. Je mehr sich die kapi-talistische Marktwirtschaft in ihrer globa-len Dimension entfaltet, desto deutlichertreten ihre durch den modernen Sozialstaatgezähmten destabilisierenden Energienhervor. Die ungleiche Verteilung ökonomi-scher Verfügungsmacht kann die Rechts-unsicherheit für viele Menschen verstär-ken. Korrekturmaßnahmen würden indesvon den Staaten in vielen Fällen eben jeneaktive Politik erfordern, die globaleRechtsnormen im Bereich von Handel undInvestition nicht mehr erlauben. Demokra-tische Politik müsste, so postuliert untervielen anderen auch Jürgen Habermas28,auf nationaler wie supranationaler Ebenedie Logik der Standortkonkurrenz durch-brechen, der deregulierten Weltwirtschafteinen politischen Rahmen geben, siemüsste mithin marktkorrigierend und um-verteilend eingreifen.

Eine derzeit verbreitete, tendenziell jedochidealisierende Sichtweise interpretiert densouveränen Nationalstaat als institutionelleBedingung der Möglichkeit der Garantiegleicher Freiheitsrechte, demokratischerVerfahren, politischer Partizipation undsozialer Sicherheit. Die Globalisierungwird dagegen als Prozess verstanden,worin politisch folgenreiche Entscheidun-gen zunehmend von internationalen Orga-nisationen getroffen werden, die, obwohlsie über keinen verfassungsmäßigen Auf-trag verfügen, der Welt, vor allem derWeltwirtschaft, eine neue "Verfassung" zugeben beabsichtigen. Die "unverfassten"

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ökonomischen Mächte sind, wie Kritikerder neoliberalen Globalisierung29 geltendmachen, auf die Legitimation durch dieGemeinschaft der Wählenden nicht ange-wiesen, verfügen aber gegenüber gewähl-ten Regierungen über ein beträchtlichesErpressungspotenzial und können die Le-bens- und Arbeitsbedingungen zahlloserMenschen massiv beeinflussen. Wird unterDemokratie der Anspruch verstanden, nurjenen Gesetzen gegenüber verpflichtet zusein, die man sich selbst gegeben hat, sostellt die Globalisierung des Rechts vor-derhand zumindest einen Demokratiever-lust dar. Doch können Rechtsnormen nichtauch legitim sein, weil sie, ohne aus demo-kratischen Gesetzgebungsverfahren zuresultieren, Rechtsbedürfnissen genügen,wenn ihnen also zwar keine prozedurale,aber doch eine materiale Legitimität zu-kommt? Legt man das Zweite, auf dievierte Entwicklungsstufe bezogene Legiti-mitätskriterium zu Grunde, so drängt sichangesichts der bisherigen Resultate derGlobalisierung des Rechts wohl eher einenegative Antwort auf, was insofern nichterstaunlich ist, als die Definition von Nor-men durch das gewählte Verfahrenbeeinflusst wird. Ich möchte abschließendzeigen, weshalb die Globalisierung desRechts in weiten Teilen inhaltlich einenRückschritt darstellt, der sich auch aus derEntkoppelung von Demokratie und Rechts-erzeugung erklärt.

4. Konturen einer globalenWirtschafts- und Sozial-ordnung

Die Idee eines historischen Fortschritts istzwar längst fragwürdig geworden, dennochscheint sie, wie ein Blick auf aktuelle Glo-balisierungsdiskussionen vermuten lässt,unverzichtbar zu sein. Wenn die Aufgabeder Politik im modernen Selbstverständnisbislang prinzipiell in der Zivilisierung derGewalt und praktisch in der Zivilisierungder Anarchie der Märkte bestanden hat, sokönnte die neuerliche "Entfaltung der Uto-

pie des reinen Marktes" eine erneute "Bar-barisierung" bewirken, wie Helmut Will-ke30 andeutet. Der "contrafaktische Gehaltder von Rousseau und Kant auf den Begriffgebrachten republikanischen Autonomie"habe sich, so schreibt Habermas31, nurdank der Institution des Nationalstaats be-haupten können; heute aber sei die natio-nale Konstellation, wie sie aus der Franzö-sischen Revolution hervorgegangen ist undim Sozialstaat ihre Vollendung gefundenhat, in Frage gestellt. Die im Zuge der zwi-schen- und überstaatlichen Konstitutionali-sierung entstandenen neuen "Verfassungs-regimes" resultieren, wie Hauke Brunk-horst formuliert, aus einer naturwüchsigenEvolution, der das Äquivalent jenes revo-lutionären Bewusstseins fehlt, ohne wel-ches demokratische Verfassungen nichtentstehen können. Während sich das Rechtglobalisiert und ein "hegemoniales Welt-recht" entsteht, gerät die Demokratie in dieDefensive, so lautet seine Diagnose32. Wieaber lässt sich – jetzt nur im Hinblick aufdie Institution des Rechts – erklären, wes-halb die Globalisierung bisher die unglei-che Verteilung von Handlungsmöglich-keiten eher verschärft denn vermindert hat?

Eine erste Antwort könnte lauten, die re-gulierende Macht des Rechts habe in denletzten Jahrzehnten generell abgenommen.Verschiedene Studien weisen darauf hin,dass vor allem die privilegierten Sektorender Weltwirtschaft von einem Recht profi-tieren, dem die Qualitäten der klassischenHerrschaft des Gesetzes fehlen33. So kom-men Prinzipien wie Allgemeinheit undÖffentlichkeit in der internationalen Wirt-schaftsschiedsgerichtsbarkeit kaum zumTragen. Überdies bevorzugen multinatio-nale Konzerne bei der Streitschlichtungnichtrechtliche Instrumente wie etwa dieMediation. Um die Durchsetzung strengerRichtlinien für Konzerne auf transnationa-ler Ebene abzuwenden, formulieren siefreiwillige Verhaltenskodizes. Für die neu-en Formen der "Selbstregulierung" istcharakteristisch, dass die Bestimmungenvage und die Durchsetzungsmechanismen

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schwach bleiben. In der Neugestaltung desinternationalen Vertragsrechts kommenBedürfnisse nach Flexibilität, Dynamik,Pragmatismus und weiten Ermessensspiel-räumen in der Rechtsprechung zum Aus-druck; gegen den Formalismus der Rechts-prinzipien werden die Anforderungen derGeschäftspraxis ausgespielt. Statt von ei-nem Funktionsverlust wäre hier eher voneiner Entformalisierung des Rechts zusprechen. Der "Bedeutungszuwachs derinternationalen Wirtschaftsschiedsgerichts-barkeit, die Verbreitung von soft law undSelbstkontrolle sowie die Errichtung derWTO stellen", wie William Scheuermannfesthält, "ehrgeizige Versuche dar, denpotenziellen Einfluss des demokratischenNationalstaates auf die Überwachung glo-bal operierender Unternehmen so weit wiemöglich zurückzudrängen"34. Wie erfolg-reich solche Versuche bisher gewesen sindund wie stark die rechtliche Gestaltung derglobalen sozioökonomischen VerhältnisseAusdruck politischer Kräfteverhältnisse istund partikularen Interessen dienen kann,zeigt ein Blick auf die Nachkriegsge-schichte. Hier müssen einige Stichwortegenügen.

Der in der Nachkriegszeit errichteten inter-nationalen Wirtschafts- und Sozialord-nung35 lag zunächst die Idee einer Arbeits-teilung zu Grunde. Während internationaleOrganisationen wie das Allgemeine Zoll-und Handelsabkommen (GATT), dieWeltbank und der Internationale Wäh-rungsfonds (IMF) für die wirtschaftlicheEntwicklung zuständig waren, blieb dieFörderung sozialer Gerechtigkeit denStaaten überlassen, die zu diesem Zweckauf währungs- und sozialpolitische Auto-nomie angewiesen waren. Angesichts derungleichen Verteilung von Nutzen undLasten des Freihandels innerhalb wie zwi-schen Staaten artikulierten sich dann aller-dings im Rahmen der UNO Forderungennach einer Politik, die auch auf internatio-naler Ebene korrigierend einzugreifen ver-mag. 1962 wurde die Welthandels- undEntwicklungskonferenz (UNCTAD) ge-

gründet. Die ihr zugedachte Aufgabe einerdie Aktivitäten von IMF und Welt-bank ergänzenden Weltwirtschaftsregelungkonnte sie jedoch nie wirklich erfüllen.Auch der Wirtschafts- und Sozialrat(ECOSOC), der neben dem Sicherheitsratzu den Hauptorganen der UNO gehört, istbis heute weitgehend machtlos geblieben.Seine Aufgabe besteht in der Förderungdes Friedens mittels präventiver Maßnah-men; dazu gehören die Verbesserung desLebensstandards, Vollbeschäftigung sowiewirtschaftlicher und sozialer Fortschritt.Dem ECOSOC kommen freilich nicht diegleichen Befugnisse zu wie dem Sicher-heitsrat, er kann lediglich Empfehlungenabgeben36. Theoretisch könnte die UNOsomit auf die Gestaltung der Weltwirt-schaftsordnung Einfluss nehmen, praktischist jeder diesbezügliche Versuch jedoch ander Konkurrenz zwischen den Industrie-staaten und den Entwicklungsländern ge-scheitert. Die UNO musste die wirtschafts-politische Definitions- und Entschei-dungsmacht an GATT und WTO abtreten.

Die UN-Generalversammlung kommt demIdeal einer Gemeinschaft gleichberechtig-ter souveräner Staaten näher als die inter-nationalen Handels- und Finanzorganisati-onen. Im Rahmen der UNO können sichgegensätzliche Interessen und Bedürfnisseartikulieren. Organisationen wie OECDoder GATT/WTO sind nicht im gleichenMaße repräsentativ für die unterschiedli-chen wirtschaftlichen und sozialen An-sprüche der gesamten Weltbevölkerung.Die Welthandelsorganisation erkennt zwarformell das Prinzip der souveränen Gleich-heit der Staaten an, ihre konsensorientier-ten Entscheidungsverfahren können aberim Urteil von Kritikern nicht als demokra-tisch gelten37. Angesichts des Beitritts zahl-reicher Entwicklungsländer seit den späten50er-Jahren haben die IndustriestaatenStrategien entwickelt, die es ihnen erlau-ben, unter Ausnützung ihrer größerenVerhandlungs- und Sanktionsmacht ihreHegemonie zu behaupten, ohne Verfah-rensregeln zu verletzen. Sie bestimmen bis

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heute die Tagesordnung der Verhandlungs-runden und können ihre Anliegen in derRegel gegen jene der ärmeren Länderdurchsetzen. Der anhaltende Widerstanddieser Länder gegen das Abkommen überhandelsrelevante Aspekte geistiger Eigen-tumsrechte (TRIPs) ist erfolglos geblieben,weil sie dem massiven Druck von Unter-nehmen und der Androhung von Handels-sanktionen wenig entgegenzusetzen ha-ben38. Entscheidend ist nun aber, dass demvon der WTO geschaffenen Recht vergli-chen mit jenem anderer internationalerOrganisationen der höchste Durchset-zungsgrad und die größte Wirksamkeitzukommen. Dieser Umstand verdankt sichvor allem dem sanktionsbewehrten Streit-schlichtungsverfahren; gegen ein verur-teiltes Land dürfen vom klagenden LandStrafzölle erhoben werden. Zu einem Ab-bau der Machtungleichgewichte hat dieWTO-Streitschlichtung jedoch nur in be-schränktem Ausmaß geführt. Die Verfah-ren sind meist für ärmere Länder zu auf-wändig und die Erhebung von Strafzöllenkann sich für kleine Volkswirtschaftenkontraproduktiv auswirken, während um-gekehrt eine reiche Klägerpartei Strafzöllerecht beliebig verhängen kann. Auch dievom IMF und der Weltbank erzeugtenRechtsnormen verfügen über beträchtlicheDurchsetzungskraft; Sanktionsmöglich-keiten ergeben sich hier vor allem aus derTatsache, dass viele Länder auf finanzielleUnterstützung angewiesen sind und dieKreditvergabe an wirtschaftspolitischeAuflagen gebunden ist. Im InternationalenWährungsfonds besitzt zwar jedes Mit-gliedsland eine gleiche Anzahl an Basis-stimmen, zusätzlich erhält es aber Stimm-rechte entsprechend der Kapitalquote, mitdem es zur Finanzierung des Fonds bei-trägt39. Seit den 50er-Jahren ist die Zahl derMitgliedsländer stetig gestiegen, währendder Anteil des Basisstimmrechts gesunkenist.

Die internationalen Finanz- und Handels-organisationen haben für die Weltwirt-schaft ein globales Recht geschaffen. Peter

Nahamowitz spricht von einem währungs-politischen Weltstabilisierungsrecht, einemstrukturpolitischen Weltentwicklungsrecht,einem Welthandelsrecht sowie einemWeltarbeitsrecht, das allerdings nach wievor durchsetzungsschwach ist40. Auch indiesem Kontext kann von einer – für dieArbeitnehmerseite freilich wenig vorteil-haften – Arbeitsteilung gesprochen wer-den. Wenn die Handlungsmöglichkeitender Staaten auf Grund des Wettbewerbsder "Standorte" in der Arbeits- und Sozial-gesetzgebung eingeschränkt werden, wäh-rend gleichzeitig die Unternehmen mehrAutonomie gewinnen und Investoren ge-setzliche Regelungen dieser Art als unzu-lässige Einschränkungen ihrer Handlungs-freiheit diskreditieren, wächst der Bedarfnach internationalen arbeits- und sozial-rechtlichen Regelungen. Die entsprechendeAufgabe kommt indes nicht der mächtigenWTO zu, sondern der relativ schwachenInternationalen Arbeitsorganisation ILO.Die ILO-Normen betreffen die Vereini-gungsfreiheit, das Recht auf Kollektivver-handlungen, Verbote von Zwangsarbeitund Diskriminierung, das Mindestaltersowie weitere Aspekte der Arbeitsbedin-gungen und der sozialen Sicherheit. DieOrganisation verfügt kaum über wirksameSanktionsmittel, im Fall von Verstößengegen ihre Übereinkommen kann sie allen-falls Öffentlichkeit herstellen und morali-schen Druck erzeugen. Überdies haben dieStaaten erst eine geringe Anzahl der Über-einkommen ratifiziert41.

Die Globalisierung des Rechts kann alsnotwendige Anpassung der rechtlichenRahmenbedingungen an die sich wandeln-den Bedürfnisse der wirtschaftlichen Ak-teure gedeutet werden. In dieser Interpre-tation wird jedoch ausgeblendet, dassRechtssysteme stets auch aus Machtver-hältnissen resultieren und diese zementie-ren können. Das im Entstehen begriffeneglobale Recht der Wirtschaft widerspiegeltdas Machtungleichgewicht zwischen rei-chen und armen Ländern sowie zwischenKapital und Arbeit. Multinationale Unter-

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nehmen können längst schon die handels-rechtliche Ausgestaltung nationaler Ge-setzgebungen mitbestimmen, mit Hilfelangfristiger Investitionsabkommen mitStaaten neue Völkerrechts-Regeln erzeu-gen und bei Vertragsverletzung durch dasGastland dank Intervention des Her-kunftslandes auch durchsetzen. Versucheausländischer Unternehmen, die Gesetzge-bung des Gastlands zu beeinflussen, habenim 20. Jahrhundert in vielen Fällen zumassivem Machtmissbrauch geführt. DieUNO hat seit den 70er-Jahren beharrlich,wenn auch erfolglos versucht, politischeAktivitäten multinationaler Unternehmenin Gastländern einzuschränken. Ein UN-Entwurf zu einem Verhaltenskodex fürtransnationale Unternehmen sah vor, dassdiese sich nicht in die inneren Angelegen-heiten des Gastlandes einmischen, die ein-heimischen Gesetze auch dort respektieren,wo sie regulierend eingreifen sowie diewirtschaftlichen und entwicklungspoliti-schen Zielsetzungen des Gastlandes unter-stützen. Gegen entsprechende Bestimmun-gen haben die multinationalen Unterneh-men, oft unterstützt von ihren Heimatlän-dern, erfolgreich opponiert. Die 1976 vonder OECD veröffentlichten Richtlinien fürmultinationale Unternehmen fordertengrößere Investitionsfreiheit und besserenSchutz der Vertrags- und Eigentumsrechte.Heute wird gerne vergessen, dass das vonden Entwicklungsländern in den 70er-Jahren ausgearbeitete Projekt einer neuenWeltwirtschaftsordnung neben anderen,teils auch fragwürdigen Zielen die Kor-rektur des Machtungleichgewichts zwi-schen multinationalen Unternehmen undarmen Staaten angestrebt hatte. Mit derCharta der wirtschaftlichen Rechte undPflichten der Staaten vom 12.12.1974 wur-den Rechte zur Regulierung ausländischerInvestitionen postuliert, insbesondere dasRecht, ausländisches Eigentum gegen an-gemessene Entschädigung zu verstaatli-chen, zu enteignen oder zu übertragen.Bekanntlich sind solche Projekte chan-cenlos geblieben. Längst ist klar geworden,dass der UNO die Macht fehlt, die Welt-

wirtschaftsordnung zu gestalten und dassdie im Entstehen begriffene neue Weltord-nung für Handel und Investition die Regu-lationsmöglichkeiten der Staaten stark ein-schränkt42. Wenn von Demokratiedefizitendie Rede ist, müssen diese heute weitge-hend verdrängten Zusammenhänge zurKenntnis genommen werden.

5. Muss die Demokratieneu erfunden werden?

Der globale Kapitalismus drängt nicht nurauf eine Privatisierung von Ressourcen,sondern auch von Entscheidungsmacht.Einer alten und heute wieder populärenIdeologie zufolge gedeiht die Wirtschaftdann am besten, wenn sich die Politik indie Aktivitäten ihrer Akteure nicht ein-mischt. Wenn mächtige wirtschaftlicheAkteure gegenüber politischen Institutio-nen möglichst umfassende Freiheiten be-anspruchen, dann ist klar, dass demokrati-sche Politik das Nachsehen hat. Ihre bereitsjetzt beträchtlichen Freiheiten verdankendiese Akteure übrigens gerade dem weitgehenden Fehlen von Demokratie auf glo-baler Ebene43. Von den Deliberations- undEntscheidungsprozessen, die zur Wahleiner globalen Wirtschaftspolitik führen,sind die Betroffenen in ihrer großen Mehr-heit ausgeschlossen. Gegen solche Befundeließe sich einwenden, dass doch gerade dieinternationalen Finanzinstitutionen imHinblick auf die demokratische Qualifika-tion von Ländern strenge Maßstäbe gesetzthaben. Dies trifft zwar zu, doch zeugendiese Maßstäbe von einem einseitigen De-mokratieverständnis, in dem etwa sozialeund wirtschaftliche Menschenrechte, zuderen Achtung die Staaten seit 1966 durcheinen völkerrechtlichen Vertrag verpflich-tet sind, fehlen. Ein anderer Einwandkönnte lauten, Demokratie müsse ohnehinangesichts der gegenwärtigen Transforma-tionen neu "erfunden" werden. Derzeitpopuläre Vorstellungen von Konsumenten-Demokratie oder "shareholder democracy"vermögen freilich nicht zu überzeugen, da

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sie kaum geeignet sind, die ungleicheVerteilung von Macht und Wohlstand zukorrigieren44. Auffallend ist, dass die Glo-balisierung des Rechts im Bereich derMärkte sehr viel größere Fortschritte ge-macht hat als in jenem von Arbeit undProduktion. Dieser Entwicklung entspre-chen neue Interpretationen der Rechtsidee,die gemessen am modernen demokrati-schen Rechtsverständnis, wie es sich seiteinem halben Jahrhundert herausgebildethat, einen Rückschritt darstellen. SolcheInterpretationen basieren auf einem kari-kierenden Menschenbild, das Handlungs-bedürfnisse und daraus abgeleitete Rechts-ansprüche weitgehend auf Markttätigkeitenzurückführt. In dieser Sichtweise sind freieMärkte notwendige und tendenziell auch

hinreichende Bedingungen individuellerFreiheit, während die Gewährung von so-zialen und wirtschaftlichen Rechten dieserFreiheit bedrohlich werden kann. Die Re-duktion des Menschen auf den Marktakteursowie der politischen Institutionen auf einDienstleistungsunternehmen für Klientenund Kunden wird jedoch modernen Auf-fassungen individueller Autonomie unddemokratischer Politik nicht gerecht. ImSinne solcher Ideale wäre eine Globalisie-rung des Rechts anzustreben, die auf dieVergrößerung der Selbstbestimmungs-chancen der Mehrheit der Weltbevölke-rung zielt und auch solche Rechte einbe-zieht, die die Handlungsmöglichkeitenjener Menschen erweitern, deren ökonomi-sche Macht gering ist.

Anmerkungen1 Fukuyama, Francis: The end of history and the

last man, New York 1992.2 Cox, Robert: Democracy in hard times: eco-

nomic globalization and the limits to liberaldemocracy, in: Anthony McGrew (ed.), TheTransformation of democracy? Globalizationand territorial democracy, Cambridge 1997,S.49-72.

3 Scharpf, Fritz: Demokratische Politik in derinternationalisierten Ökonomie, in: MichaelGreven (Hrsg.), Demokratie - eine Kultur desWestens? Opladen 1998, S.81-103, hier S.85-92.

4 Ebd., S.91.5 Guéhenno, Jean-Marie: La fin de la démocra-

tie, Paris 1993.6 Rosenau, James N.: Governance, order and

change in world politics, in:, James N. Rose-nau/Ernst-Otto Czempiel (ed.), Governancewithout government: Order and change inworld politics, Cambridge 1992, S.1-29, hierS.3-9; Rosenau, James : Governance and de-mocracy in a globalizing world, in: DanieleArchibugi/David Held/Martin, Köhler (ed.),Re-imagining political community. Studies incosmopolitan democracy, Cambridge 1998,S.28-57.

7 Höffe, Otfried: Demokratie im Zeitalter derGlobalisierung, München 1999.

8 Held, David: Democracy and the global order.From the modern state to cosmopolitan gover-nance, Cambridge 1995.

9 Held, David: Global covenant. The socialdemocratic alternative to the Washington Con-sensus, Cambridge 2004.

10 Falk, Richard: On humane governance. To-ward a new global politics, Cambridge 1995;Falk, Richard: The United Nations and cosmo-politan democracy: Bad dream, utopian fanta-sy, political project, in: Daniele Archibu-gi/David Held/Martin Köhler (ed.), Re-imagining political community. Studies incosmopolitan democracy, Cambridge 1998,S.309-331.

11 Marti, Urs: Kosmopolis – vom philosophi-schen Ideal zur politischen Herausforderung,in tsantsa – revue de la société suisse d'ethno-logie, 8/2003, S.28-35.

12 Vgl. Marti, Urs: Souveränität und Globalisie-rung, in: Georg Kohler/Urs Marti (Hrsg.),Konturen der neuen Welt(un)ordnung, Berlin2003, S.165-188.

13 Anderson, Perry: Die Entstehung des absolu-tistischen Staates (OA 1974), Frankfurt a.M.1979.

14 Neumann, Franz: Die Herrschaft des Gesetzes.Eine Untersuchung zum Verhältnis von politi-scher Theorie und Rechtssystem in der Kon-

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kurrenzgesellschaft (OA 1936), Frankfurt a.M. 1980.

15 Ewald, François: L'Etat providence, Paris1986.

16 Foucault, Michel: Dits et écrits I-IV, 1954-1988. Edition établie sous la direction deDaniel Defert et François Ewald, Paris 1994,S.538-646.

17 Guggenberger, Bernd: Demokratietheorien, inDieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.),Lexikon der Politikwissenschaft, Band 1,München 2002, S.125-133.

18 Marshall, Thomas H.: Bürgerrechte und sozi-ale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrts-staates, Frankfurt a. M. 1992, S.40.

19 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Verfas-sung, Demokratie. Studien zur Verfassungs-theorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1992, S.264-276.

20 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung.Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts unddes demokratischen Rechtstaats. Frankfurt a.M. 1992, S.134f.

21 Held, David/McGrew, Anthony/Goldblatt,David/Perraton, Jonathan: Global transforma-tions. Politics, economics and culture, Cam-bridge 1999, S.2-10.

22 Strange, Susan: The retreat of the state. Thediffusion of power in the world economy.Cambridge 1996.

23 Hirst, Paul/Thompson, Grahame: Globalizati-on in question. The international economy andthe possibilities of governance, Cambridge1996.

24 Stiglitz, Joseph: Die Schatten der Globalisie-rung, Berlin 2002, S.36.

25 Teubner, Gunther (ed.): Global law without astate, Aldershot 1997.

26 Scheuerman, William E.: Reflexive law andthe challenges of globalization, in: The Journalof Political Philosophy 9, 1/2001, S.81-102.

27 Brunkhorst, Hauke: Die Weltgesellschaft alsKrise der Demokratie, in: Deutsche Zeitschriftfür Philosophie, 45/1997, S.895-902.

28 29 Mahnkopf, Birgit: Probleme der Demokratie

unter den Bedingungen ökonomischer Globali-sierung und ökologischer Restriktionen, inGreven, Michael (Hrsg.), Demokratie. Eine

Kultur des Westens? Opladen 1998, S.55-79,hier S.60-68.

30 Willke, Helmut: Atopia. Studien zur atopi-schen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2001,S.13f.

31 Habermas, Jürgen: Die postnationale Konstel-lation, Frankfurt a. M. 1998.

32 Brunkhorst, Hauke: Solidarität. Von der Bür-gerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossen-schaft, Frankfurt a. M. 2002, S.171-184.

33 Scheuerman, William E.: Franz Neumann –Rechtstheoretiker der Globalisierung, in:Matthias Iser/David Strecker (Hrsg.), KritischeTheorie der Politik. Franz L. Neumann – eineBilanz, Baden-Baden 2002, S.143-162, hierS.150-154.

34 Ebd., S.156.35 Kapstein, Ethan B.: Distributive justice as an

international public good. A historical per-spective, in: Inge Kaul/Isabelle Grunberg/MarcA. Stern (eds.), Global public goods. Internati-onal cooperation in the 21st century, NewYork, 1999, S.88-115.

36 Kimminich, Otto/Hobe, Stephan: Einführungin das Völkerrecht, 7. Auflage, Tübingen/Basel 2000, S.341ff.

37 Steinberg, Richard H.: In the shadow of lawand power? Consensus-based bargaining andoutcomes in the GATT/WTO, in: InternationalOrganization, 56/2002, S.339-374.

38 Drahos, Peter/Braithwaite, John: The globali-sation of regulation, in: The Journal of Politi-cal Philosophy 9, 1/2001, S.103-128.

39 Nahamowitz, Peter: Der Internationale Wäh-rungsfonds im Prozess der Globalisierung, in:Peter Nahamowitz/Rüdiger Voigt (Hrsg.),Globalisierung des Rechts II. InternationaleOrganisationen und Regelungsbereiche, Ba-den-Baden 2002, S.147-196, hier S.157-161.

40 Nahamowitz, Peter: Globalisierung und Glo-balisierung des Rechts. Auf dem Weg zu ei-nem Weltrecht der Wirtschaft?, in, PeterNahamowitz/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Globali-sierung des Rechts II. Internationale Organisa-tionen und Regelungsbereiche, Baden-Baden2002, S.13-50, S.37.

41 Treutner, Erhard: Die ILO im Prozess derGlobalisierung. Chancen auf wirksame inter-nationale Arbeits- und Sozialstandards?, in:Peter Nahamowitz/ Rüdiger Voigt (Hrsg.),

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38 Urs Marti

Globalisierung des Rechts II. InternationaleOrganisationen und Regelungsbereiche, Ba-den-Baden 2002, S.257-278.

42 Vgl. Muchlinski, Peter: Global Bukowinaexamined, in: Teubner, Gunter (ed.), Global

law without a state, Aldershot 1997, S.79-108.43 Stiglitz, J.: Die Schatten, S.29-36.44 Scholte, Jan Aart: Globalization. A critical

introduction, London 2000, S.261-282.

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Der Verfassungs- und Rechtsstaat als unverzichtbareVoraussetzung einer erfolgreichen Demokratisierung

nach dem Kommunismus∗

Jerzy Maćków

1. Demokratie sowie Verfassungs-und Rechtsstaat

Für die westliche Demokratie sind sowohlder politische Wettbewerb als auch derVerfassungs- und Rechtsstaat konstitutiv.Erst das Zusammenfinden beider gibt denBemühungen um politische Gleichheit derBürger, Souveränität des Volkes sowieAchtung der Menschen- und BürgerrechteAussicht auf Erfolg. Die pluralistischeDemokratie des Westens hat sich nämlichaus dem autoritären Verfassungs- undRechtsstaat (aus der konstitutionellen Mo-narchie des 19. Jahrhunderts) heraus ent-wickelt, der nach und nach durch die de-mokratischen Verfahren des politischenWettbewerbs – allen voran durch die all-gemeinen, freien und demokratischenWahlen – verändert wurde. Nur wer dieseTatsachen übersieht, nennt jedes politischeSystem, in dem die demokratischen Wah-len Anwendung finden, "Demokratie".

Wo es um die Verinnerlichung der Verfah-ren und Normen der Verfassung schlechtbestellt ist, wird nicht nur die Demokratiezur Strecke gebracht. Nicht zuletzt die mo-derne deutsche Geschichte lehrt zwar, dassauch der funktionierende Verfassungs- undRechtsstaat keine Gewähr für die demo-kratische Entwicklung darstellt, doch ohneihn ist jede Demokratisierung zum Schei-tern verurteilt. Der Rechtsstaat kommt oftohne Demokratie aus, die Demokratie ohneRechtsstaat ist hingegen immer eine Sei-fenblase1. Dies gilt auch für die Transfor-mation der kommunistisch-totalitärenSysteme in Mittel-, Nordost-, Südost- undOsteuropa.

Beim postkommunistischen System-wechsel drängen sich in diesem Zusam-menhang zwei Fragen auf. Erstens: Kannein totalitäres System, das bekanntlich dasRecht missachtet und missbraucht, zueinem Verfassungs- und Rechtsstaat umge-wandelt werden, während freie WahlenAnwendung finden? Anders formuliert: Istein direkter Übergang vom Totalitarismusüberhaupt möglich? Zweitens: WelcheSysteme entstehen in jenen postkommu-nistischen Gesellschaften, die zwar denpolitischen Wettbewerb praktizieren, aberkeinen funktionierenden Verfassungs- undRechtstaat errichtet haben?

Was die erste Frage angeht, so wird sie inder politologischen Transformationsfor-schung normalerweise übergangen. VieleTransformations-Theoretiker lassen sichvom neuen Pluralismus und den demokra-tischen Ritualen blenden, obwohl die De-mokratien bekanntlich kein Monopol we-der auf den politischen Pluralismus nochauf Wahlen haben. Besonders der Plura-lismus wird im Autoritarismus zwar einge-schränkt, aber doch praktiziert. Wenn manzudem fälschlicherweise die kommunisti-schen Systeme nicht für totalitär, sondernfür autoritär hält, dann tendiert man auchdazu, den aus der Demokratisierung desautoritären Südeuropa in den Siebzigerjah-ren gewonnenen Optimismus auf die post-kommunistische Systemtransformation be-denkenlos zu übertragen.

Aber in der posttotalitären Transformationgeht es bekanntlich nicht bloß darum, dieautoritären Einschränkungen der gesell-schaftlichen Autonomie aufzuheben, son-

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dern vielmehr um eine radikale und tiefgreifende Umwandlung der bisher vonkommunistischen Machthabern gelenktenOrgane und Institutionen, die nun selbstbestimmt und im Einklang mit dem Gesetzfür die Gesetzgebung sorgen, die Staats-macht kontrollieren, Recht sprechen, miteiner bürgernahen Politik um Wählerstim-men werben sowie das Volk und den Staatvertreten sollen. Wenn ungeachtet dessenallen posttotalitären Gesellschaftenschnelle Demokratisierungsfähigkeit unter-stellt wird, ist die Gefahr groß, dass dasScheitern der posttotalitären Demokratisie-rung verschleiert wird. Auf die unvermeid-bare Frage, wie es dazu kommen kann,dass ein angeblich demokratisches System,das bereits gut eineinhalb Jahrzehnte (seit1989–1991) existiert, immer noch be-trächtliche, von der Transformationsfor-schung durchaus immer wieder beklagte"Demokratie-Defizite" aufweist, wird einenur vordergründig plausible Antwort gege-ben: Die Demokratie sei zwar "institutio-nalisiert", doch auf einigen Feldern – parti-zipatorische politische Kultur, Nachfragenach Recht und Angebot an Rechtsstaat,Entwicklung von Verbänden, Bekämpfungvon Korruption und organisierter Krimina-lität u. a. – bestünden noch "Konsolidie-rungsprobleme". Dies ist die Meinungnicht weniger Transformationstheoretiker,die bei der Beurteilung der "neuen Demo-kratien in Osteuropa" auf Konzepte der"Demokratien mit Adjektiven" und der"Polyarchie" zurückgreifen.

2. "Demokratien mit Adjektiven"und "Polyarchie"

Diejenigen Analytiker, die offenbar denfunktionsfähigen Verfassungs- und Rechts-staat nicht für das konstitutive Merkmalder Demokratie halten, setzen sich dafürein, jedes System, in dem freie und demo-kratische Wahlen abgehalten werden, füreine Demokratie zu halten. AutoritäreSysteme werden dann zu "Demokratienmit Adjektiven" umbenannt, und zwar mit

der Folge, dass man in der Literatur mitt-lerweile einigen Hundert davon begegnet.Leider dient diese fröhliche Erfindungs-sucht von "Subtypen der Demokratie" –"delegative Demokratien", "autoritäre De-mokratien", "Scheindemokratien", "elekto-rale Demokratien", "Pseudodemokratien","defekte Demokratien", "illiberale Demo-kratien", "exklusive Demokratien" u. a. –dem Ansehen der Politikwissenschaftnicht. Denn sie bringt den manchmal poli-tisch motivierten Wunsch zum Ausdruck,über die schwierigste Problematik derpostkommunistischen Transformation hin-wegzusehen: über den postkommunisti-schen Autoritarismus. Es ist insofern keinZufall, dass die Machthaber in den Staatender offensichtlich gescheiterten Demokra-tisierung auf die "Demokratien mit Adjek-tiven" zurückgreifen, wenn sie ihre Syste-me legitimieren. Es ist auch ihr Wunsch,der Frage zu entkommen, ob die nicht-rechtstaatlichen Systeme überhaupt "De-mokratien" genannt werden dürfen. Einegroße Popularität hat in diesem Zusam-menhang der aus der Umgebung von Vla-dimir Putin kommende Terminus "gelenkteDemokratie" errungen.

Juan J. Linz kritisiert zu Recht dieseVerwässerung des Demokratiebegriffs:"Die Tatsache, dass solche Regime["Demokratien mit Adjektiven" – J.M.]nicht in die Basistypen von nichtdemo-kratischer Politik passen, führt zu sol-chen Konzeptionalisierungen ... Wirsollen uns klar machen, dass ... [dieseRegime] keine Demokratien sind –selbst wenn wir nur minimale Stan-dards anlegen. Um Verwirrung zu ver-meiden, würde ich eher Adjektive vor'Autoritarismus' als vor 'Demokratie'setzen"2.

Linz beschwört die seit den 90er-Jahrenakute Gefahr, dass die Politikwissenschaftden in den vorangegangenen Jahrzehntenhart erarbeiteten Konsens darüber zerstö-ren könne, welche politischen Systeme als

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Der Verfassungs- und Rechtsstaat als unverzichtbare Voraussetzung 41

demokratisch zu gelten haben. Währenddes Kalten Krieges seien in der PolitologieZweifel darüber gesät worden, ob diekommunistischen Totalitarismen dochnicht einen Typus bzw. gar eine legitimeArt der Demokratie darstellen würden. ErstEnde der 80er-Jahre schienen diese Zwei-fel verschwunden. Heute schleiche sicheine neue Unsicherheit über das richtigeDemokratieverständnis ein3.

Aber auch der in der Politikwissenschaftseit langem bekannte Begriff der Polyar-chie wird häufig zur Bezeichnung derpostkommunistischen Systeme bemüht.Robert Dahl wollte mit diesem Konzepteigentlich den seiner Meinung nach nurvagen Demokratie-Begriff präzisieren, umder praktischen Bedeutung der analyti-schen Entscheidung darüber, ob ein Sys-tem demokratisch ist, Rechnung zu tragen4.Dabei versteht Dahl die Polyarchie als diein der Geschichte größte Annäherung andas demokratische Ideal. Indem er aller-dings zwischen "full polyarchies", "polyar-chies with minor restrictions" und "quasi-polyarchies (major restrictions)" unter-scheidet, ohne Kriterien dieser Unterschei-dung zu nennen, relativiert er selbst seinKonzept5. Unter den unverzichtbaren Vor-aussetzungen der Demokratie kommt derfunktionierende Rechtsstaat auch in einemspäteren Werk Dahls nicht vor6. Aus die-sen Gründen taugt auch die "Polyarchie"sehr gut dazu, den Unterschied zwischenDemokratie und Autoritarismus zu verwi-schen.

Der unverantwortliche Umgang mit demDemokratiebegriff hing immer schon mitdem Opportunismus einiger Intellektuellerzusammen. Wenn die Politiker dem Op-portunismus huldigen, ist das im Sinne derso genannten Verantwortungsethik häufignachvollziehbar (obwohl selten auch mo-ralisch entschuldbar7). Dass beispielsweiseder amerikanische Präsident nach dem 11.September Russland eine Zeit lang als eineDemokratie zu preisen pflegte, war unterdem Gesichtspunkt der politischen Taktik

verständlich, obwohl sachlich falsch. Dassaber nicht wenige Politikwissenschaftlerlange vor dem 11. September 2001 im po-litischen System der Russländischen Föde-ration eine Demokratie entdeckten, istnicht nur sachlich falsch, sondern auchnicht nachvollziehbar.

3. Demokratischer ErfolgMittel- und Nordosteuropas

Wendet man sich jedoch dem Verhältnisvon Verfassungs- und Rechtsstaat einer-seits sowie freien und demokratischenWahlen andererseits ernsthaft zu, musszunächst konstatiert werden, dass es inMittel- und Nordosteuropa doch gelungenist, den Verfassungs- und Rechtsstaat zuerrichten, ohne dass dabei auf freie unddemokratische Wahlen verzichtet werdenmusste. Worauf geht dieser Demokratisie-rungserfolg zurück?

Er geht gewiss nicht auf die schnelle Ent-stehung einer lebendigen und demokratischgesinnten Zivilgesellschaft zurück. Diepostkommunistischen Gesellschaften las-sen hinsichtlich der Organisationsfähigkeitund Aktivität immer noch zu wünschenübrig. Gegen die Behauptung, die post-kommunistischen Demokratien seien inlebendigen Zivilgesellschaften verankertund durch diese abgesichert, spricht auchdie Tatsache, dass diese Demokratien be-reits in den ersten 90er-Jahren recht passa-bel funktioniert hatten, d. h. noch bevorsich im Zuge der Systemumwandlung dieim Totalitarismus nicht existente Zivilge-sellschaft zu bilden begann8.

Vielleicht liegt aber der gelungenen De-mokratisierung ein schneller tief greifenderKulturwandel zu Grunde? Vielleicht wurdedie überkommene politische Kultur desSowjetmenschen rapide überwunden, so-dass die neuen Institutionen vom Geist derPartizipation und des demokratischen Kon-senses beseelt sind? Gegen diese Behaup-tung spricht nicht nur der bekannte Um-

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stand, dass Kulturwandel immer Zeitbraucht, ein tief greifender sogar sehr vielZeit, nämlich über Generationen hinweg.Auch die Tatsachen widersprechen dieserThese. Denn die meisten Menschen in denpostkommunistischen Systemen sind im-mer noch apathisch bzw. resigniert, sieerwarten viel vom Staat und verstehen denvonstatten gehenden Wandel kaum.

Und trotzdem kommt man nicht umhin, ein"unverzichtbares Minimum an Kulturwan-del" als die Voraussetzung der gelungenenDemokratisierung zu konstatieren. Über-zeugte Demokraten haben in der Phase desSystemumbruchs in jenen Ländern, wo sieausreichend stark waren, wichtige Postender politischen Elite (Regierung, Verwal-tung, Parlament, Medien) besetzt. Auchmuss es unter Richtern Menschen gegebenhaben, die mit der neuen Unabhängigkeitder Justiz umzugehen wussten. Sie allehaben offenbar entscheidend dazu beige-tragen, den vom alten System geerbtenRechtsnihilismus durch eine neue Rechts-kultur zu ersetzen, die auf dem Respekt fürdas Gesetz beruht. Selbst wenn dieserWandel zunächst nur auf die Schlüssel-stellen des neuen Systems beschränktblieb, hat er die Demokratie erst möglichgemacht.

Dies war wahrlich keine leichte Aufgabe,weil es vor allem der Regierung am An-fang der Systemtransformation schwerfallen musste, widerspruchslos Gesetze zubeachten, die noch aus dem alten Systemstammten und häufig absurd waren. DieRegierung war deshalb der Versuchungausgesetzt, in diktatorischen, vom Gesetzlosgelösten Entscheidungszügen akut an-stehende Probleme anzugehen. Auch derLegitimitätsvorschuss, den die neue politi-sche Führung im Umbruch und in der Peri-ode der "außergewöhnlichen Politik" ge-noss, erleichterte den Missbrauch und dieMissachtung des Gesetzes durch die Regie-renden. Schließlich konnten diese nicht

wissen, ob sich die politische Opposition,wenn sie an die Macht käme, auch an dierechtlichen Spielregeln halten würde.

Wo der Verfassungs- und Rechtsstaat eherrecht als schlecht funktioniert, überlässt diepostkommunistische Regierung die Öko-nomie dem Markt, indem sie einen mehroder weniger transparenten rechtlichenRahmen für die Privatisierung erarbeitetund nach Investoren sucht. Die Gefahr der"Privatisierung des Staates" wird durch dasRechtssystem trotz der durchaus verbrei-teten Korruption vermindert. Zugleichwollen die ökonomischen Profiteure desSystemwechsels zunehmend ihre neuenReichtümer absichern und entdecken dieVorzüge eines Systems, in dem teure An-wälte nützlich sein können. Der funktionie-rende Verfassungs- und Rechtsstaat hilftalso auch dabei, eine Autonomie von Wirt-schaft und Politik herbeizuführen.

Nirgendwo im Postkommunismus arbeitetder Verfassungs- und Rechtsstaat zufriedenstellend, weshalb die neuen Demokratienimmer noch für Korruption anfällig undvon der Seuche der Inkompetenz heimge-sucht werden. Es müssen Jahrzehnte ver-gehen, bis die überwiegende Mehrheit derBevölkerung im funktionierenden Verfas-sungs- und Rechtsstaat sozialisiert seinwird. Die neue Einstellung zum Recht wirddann aber nicht nur das politische System,sondern auch die Gesellschaft grundlegendverändert haben.

Wenn dagegen die scheinbar überzeugendeLogik des an das Gesetz nicht gebundenenHandelns zum Leitmotiv des politischenSystems wird, gewöhnen sich weder dieEliten noch das Volk an die normativeKraft des Gesetzes und die neuen Macht-haber entledigen sich ganz nebenbei derwichtigsten Schranke, die ihre Macht hättelimitieren können. Die Entwicklung hinzum posttotalitären Autoritarismus ist dannvorprogrammiert.

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Der Verfassungs- und Rechtsstaat als unverzichtbare Voraussetzung 43

4. Oligarchie desquasi-demokratischenAutoritarismus in Osteuropa

Da selbst in Alexander Lukašenkas Bela-rus, das ohne Zweifel kein demokratischesSystem hat, auf die demokratischen Rituale– Wahlen und Referenda – nicht verzichtetwird, sondern diese zur Legitimation desRegimes immer wieder missbraucht wer-den, ist der postkommunistische Autorita-rismus als quasi-demokratisch zu bezeich-nen. Demokratische Verfahren werdenmanipuliert, damit die Regierenden ihrevermeintliche Popularität im Volk unterBeweis stellen.

Was wiederum die deklarierten Ziele derSystemumwandlung in diesem neuen Au-toritarismus betrifft, so werden in regel-rechten Kraftakten ausschließlich jene,vorwiegend wirtschaftliche Minimalrefor-men implementiert, die für den Bestandund ggf. für die internationale Konkurrenz-fähigkeit des Staates als unverzichtbar er-achtet werden. Es gibt aber kein "ganz-heitliches" Programm für die Systemum-wandlung, geschweige denn für die Demo-kratisierung. Die politisch Verantwort-lichen finden sich mit dem bestehendenStaat, der trotz des neuen Pluralismus im-mer noch eine Mutation des kommunisti-schen Parteistaates darstellt, einfach ab.

Für politische Stabilität sorgen dann in-formelle Kompromisse innerhalb der Oli-garchie des neuen Systems, die manchmal"versteckte Partei der Macht" genanntwird. Es handelt sich dabei um die starkenAkteure staatlicher Institutionen (Medien,Wirtschaftsunternehmen, Geheimdienste,Justizapparat, Verwaltung) und der Privat-wirtschaft, die sich um die – meist – präsi-dentielle Exekutive scharen. Nun ist esauch in den westlichen Demokratien nichtaußergewöhnlich, dass politische Ent-scheidungen von informellen Gruppengetroffen oder zumindest beeinflusst wer-den. Die Besonderheit der verstecktenPartei der Macht besteht allerdings darin,

dass sie sich über die geltenden Gesetzehinwegsetzen kann. Folgerichtig agiert dieOligarchie nicht ausschließlich in jenenRäumen, die zum informellen Bargainingbestimmt sind, sondern sie sorgt vielmehrdafür, dass der Unterschied zwischen"formell" und "informell" nicht erkennbarwird.

Die postkommunistische Oligarchie kris-tallisierte sich in dem Maße heraus, in demdie kommunistische Partei als die leitendeKraft des Staatsapparates verdrängt wurde.Die Akteure der dadurch gestärkten origi-nären Staatsstrukturen – der Exekutive, derJustiz, der Medien, der Geheimdienste –"privatisierten" bzw. "stahlen" dann denStaat ("state capture"). Die Oligarchensamt ihrer Klientel pflegen ungeniert dasErbe des Totalitarismus, indem sie deneigenen Interessen auf Kosten der Gemein-schaft nachgehen. Hinter der als Erfolg derSystemtransformation gepriesenen Privati-sierung versteckt sich die Selbstbedienungder ehemaligen Nomenklatura. Was wie-derum die wenigen staatlichen Unterneh-men angeht, in denen Gewinne erwirt-schaftet werden, so wird innerhalb der Oli-garchie über die Verteilung der Beute ent-schieden. In einem solchen System derinformellen Entscheidungskanäle führt dasneue Privateigentum die Autonomie vonWirtschaft und Politik nicht herbei, weilgrundsätzlich weder Politik noch Wirt-schaft zur Selbsteinschränkung fähig undbeide aufeinander angewiesen sind.

Die Oligarchisierung der postkommunisti-schen Autoritarismen zeugt gewiss auchdavon, dass große politische Persönlich-keiten fehlen, die in die Rolle des "Vatersder Nation" hätten dauerhaft hineinschlüp-fen können. In erster Linie geht sie aberauf ein System zurück, in dem mündlicheBemerkung eines Parteisekretärs der Ent-scheidung eines Gerichts oder eines "Ma-nagers" vorausging. Insofern haben sichdie Höfe eines crony-capitalism, auf denenLoyalität gegenüber dem Oligarchen, Gierund Protz der Armani-Kleidung die Um-

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gangsformen bestimmen, aus den Cliquenprivilegierter Genossen in ihren schäbigenAnzügen heraus entwickelt.

5. Merkmale derpost-kommunistischenAutoritarismen

Auch der an die politische Führung gebun-dene Zwangsapparat gehört selbstver-ständlich dem neuen System an. Neben denSicherheitsdiensten spielen wichtige Ein-heiten des Militärs eine immer größerepolitische Rolle. Die Macht des ersten rus-sischen Präsidenten, Boris El'cin, wurdez.B. durch die ihm ergebenen Spezialein-heiten des Militärs gesichert. Sie stelltensich während des Putsches im August 1991nicht gegen ihn und standen ihm währendder Verfassungskrise im September/Oktober 19939 bereits mit Waffengewaltzur Seite. Die große Rolle der Sicherheits-dienste im politischen Prozess erklärt sichwiederum daraus, dass sie sowohl vomPräsidenten als auch von den Oligarchenzur Bekämpfung der Konkurrenz und derpolitischen Opposition benutzt werden (vorAuftragsmorden wird dabei nicht immergescheut).

Der politischen Opposition wird es schwergemacht, ihre Kritikfunktion auszuübenund die Kontrolle der Machthaber findetohnehin kaum statt. Die Regierenden len-ken die elektronischen Massenmedien. DasFernsehen stellt dabei die populärste In-formationsquelle und deshalb das wich-tigste Instrument zur Manipulation derÖffentlichkeit dar. Nicht nur die politischeOpposition, sondern auch unbequeme Ver-einigungen und Verbände werden ökono-misch, mit administrativen Mitteln odermit Polizeimaßnahmen unter Druck ge-setzt. Der Missbrauch der politisierten undkorrupten Justizorgane zur Bekämpfungvon politischen Gegnern ist ebenfalls be-kannt. Die postkommunistischen Autorita-rismen zeichnen sich deshalb durch eine

sehr eingeschränkte Meinungs-, Informa-tions- und Vereinigungsfreiheit aus.

Sieht man von den Unterschieden im län-derspezifischen Verständnis sowie in derjeweiligen Zusammensetzung der ver-steckten Partei der Macht ab, so ist sieauch insofern dem Erbe des alten Systemszuzurechnen, als die extreme Schwächeder gesellschaftlichen Organisationen ihreEntstehung begünstigt und vielleicht sogarmit erzwingt. Die "Mafiosierung" desschwachen Staates ruft in der Bevölkerungden Bedarf an einer "starken Hand" hervor,die für "Ordnung" sorgen soll. Ein schwa-cher Staat mit einer relativ "liberalen" po-litischen Führung fördert nämlich Anarchi-sierung, von der die Starken der Gesell-schaft profitieren. Die Anarchie geht des-halb für gewöhnlich in das "Zudrehen derSchraube" über: auf den unpopulär gewor-denen El'cin folgt der zunehmend beliebtePutin10. Der aus dem Totalitarismus undauch aus der vortotalitären Geschichte Ost-europas bekannte Wechsel von "liberalen"und "harten" Entwicklungsphasen setztsich somit fort. Er bringt zwar nicht mehrReformen, keinen Rückgang der Korrupti-on und auch nicht mehr Gerechtigkeit.Doch wird durch die Machtkonzentrationwährend der "harten" Phase der Eindruckerweckt, dass die Profiteure des Systemsdiszipliniert werden – der einzige Trost fürdie von der Transformation und der "De-mokratie" enttäuschte Bevölkerung. Dernächste Wechsel wird dann trotzdem allerVoraussicht nach unter der Losung "MehrFreiheit und Demokratie" stattfinden.

All die hier aufgezählten Merkmale derposttotalitären Autoritarismen – die unfai-ren Wahlen, die Oligarchie, die Politisie-rung des staatlichen Zwangsapparats, dieVerletzung von Bürgerrechten, die drasti-sche Zurückdrängung der Opposition, diefehlende Autonomie von Wirtschaft undPolitik, das "Auf- und das Zudrehen derSchraube" – hängen mit der Verhöhnungdes Verfassungs- und Rechtsstaates engzusammen. Deshalb wird die Demokrati-

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Der Verfassungs- und Rechtsstaat als unverzichtbare Voraussetzung 45

sierung dieser Systeme immer zum Schei-tern verurteilt sein, wenn ihr kein Aufbaudes Verfassungs- und Rechtstaates zuGrunde gelegt wird.

6. Die Orangene Revolution und dieDemokratisierung in Osteuropa

Die ukrainische Orangene Revolution vomNovember/Dezember 2004 stellt in diesemZusammenhang ein Ereignis von histori-scher Reichweite dar. Zum ersten Mal inder Geschichte Osteuropas mündete eineRevolution in einen Kompromiss, der aufrechtsstaatliche Garantien für demokrati-

sche Wahlen abzielte: das Gericht ent-schied in öffentlicher Sitzung darüber, wieauf die Wahlfälschung der Oligarchie zureagieren sei. Dieses Ereignis läutet denAbschied von der Willkürherrschaft überOsteuropa ein, der freilich Generationender Ukrainer beschäftigen wird. Denn erbasiert nur scheinbar auf der erfolgreichenDurchführung von freien und demokrati-schen Wahlen. Vielmehr erfordert er diemühevolle Umwandlung einer Gesell-schaft, in der seit dem 17. Jahrhundert dierechtlichen Normen stets der politischenMacht untergeordnet waren, in eine, in derVerfassung und Gesetze respektiert wer-den.

Anmerkungen∗ Dieser Aufsatz stellt eine leicht modifizierte

Fassung der Kapitel XVI. und XVII. desBuchs von Maćków, Jerzy: Totalitarismus unddanach. Einführung in den Kommunismus unddie postkommunistische Systemtransformati-on, Baden-Baden 2005, dar.

1 Über die Bedeutung der Rechtskultur für dieErrichtung eines Verfassungs- und Rechts-staates siehe ders., Russian legal culture, civilsociety and chances for westernization, in:Alexander J. Motyl/Blair A. Ruble/LiliaShevtsova (Hrsg.), Russia's engagement withthe West. Transformation and integration inthe twenty-first century, New York 2005,S.33-59. dort insbesondere S.33 u. Anm. 2 aufS.57.

2 Linz, Juan J.: Totalitäre und autoritäre Regime.Herausgegeben von Raimund Krämer, Berlin2000, S.XL.

3 Vgl. ebd.4 Robert Dahl, Democracy and its critics, New

Haven/London 1989, S.117.5 Ebd, S.241.

6 Vgl. Dahl, Robert: ders., On democracy,Yale/London 2000, S.83-99.

7 Gilt außerhalb der Politik tatsächlich die Ethikder Verantwortungslosigkeit?

8 Unter Zivilgesellschaft wird hier im Einklangmit der seriösen Forschung zu diesem Ge-genstand ein Gesellschaftstypus verstanden,der u.a. Autonomie von Wirtschaft und Politik,ideologischen Pluralismus, funktionstüchtigenVerfassungs- und Rechtsstaat sowie eine Viel-zahl von autonomen Akteuren kennt. DazuMaćków, Jerzy: Am Rande Europas? Nation,Zivilgesellschaft und außenpolitische Integra-tion in Belarus, Litauen, Polen, Russland undder Ukraine, Freiburg/Basel/Wien 2004, S.24-50.

9 El'cin löste damals mit einem verfassungswid-rigen Ukas das Parlament auf, das er anschlie-ßend beschießen ließ, wobei – nach offiziellenAngaben – ca. 140 Menschen getötet wurden.

10 Darüber ausführlich Shevtsova, Lilia: Putin'sRussia, Washington, D.C. 2005, 2. Aufl., S.7-103.

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Alexis de Tocqueville und die Vision einer postliberalen Demokratie

Oliver Hidalgo

Die aktuelle Debatte über die Zukunft derDemokratie ist zu einem großen Teil dengewandelten Herausforderungen geschul-det, mit denen sich die Politische Theorienach Ende des Systemgegensatzes zwi-schen Ost und West konfrontiert sieht.Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit undMarktwirtschaft avancieren seit dem Fallder Berliner Mauer zu einem Verfas-sungsmuster, dessen globaler Siegeszugunaufhaltsam scheint. Die neue Welle derDemokratisierung, welche die ehemaligenMitgliedstaaten des Warschauer Pakteserfasst hat, lässt andererseits aber aucherkennen, dass die inneren Widersprücheder liberalen Demokratie nach wie vornicht gelöst sind. Die traditionelle Konkur-renz zwischen (Basis-)Demokraten undLiberalen, zwischen dem Willen des Vol-kes und den Erfordernissen des Rechts-staates, findet hier eine prekäre Fortset-zung. Konnten schon die Revolutionärevon 1789 die Diskrepanz zwischen denLehren Rousseaus und John Lockes nichtauflösen, stehen die Demokraten in Mittel-und Osteuropa zu Beginn des 21. Jahrhun-derts vor ähnlichen Problemen. Wenn Re-ferenden wie in Weißrussland oder derUkraine dazu missbraucht werden, um diegeltende Verfassung auszuhebeln, erinnertman sich wieder daran, weshalb die Väterdes deutschen Grundgesetzes die Partizi-pationsmöglichkeiten des Volkes in engeGrenzen fassten: Die Gefahren der Dema-gogie sind ansonsten offenbar nicht zubannen. Gleichzeitig wird die gegenwärti-ge Krise der westlichen Demokratien zuRecht mit dem sinkenden Interesse an derPolitik und dem gestörten Verhältnis zwi-schen Wählern und Parteien, Staat undVolk in Verbindung gebracht. Abhilfe isthier nur zu erwarten, wenn den Bürgern

mehr Verantwortung eingeräumt wird, wasauch unter ökonomischen Gesichtspunktenunumgänglich ist. Immer deutlicher zeigtsich daher, dass der Oxymoron einer "re-präsentativen Demokratie", den ThomasPaine einst kreierte, um die Ansprüchezwischen politischer und privater Freiheit,Volksherrschaft und Rechtsstaatlichkeit zuversöhnen, selbst immer mehr in die Kritikgerät.

Auf der Suche nach Autoren, die ange-sichts des skizzierten Dilemmas Orientie-rung bieten könnten, ist vor allem Alexisde Tocqueville zu nennen. In Deutschlandrelativ unbekannt, sind dem französischenDenker und Politiker Mitte des 19. Jahr-hunderts Einsichten gelungen, die im Hin-blick auf die Zukunft der Demokratie vongrößtem Interesse sind. Dabei ist Tocque-ville ein Autor, der in jeder Hinsicht zwi-schen den Stühlen sitzt: Er hat geschrieben,um sich als Politiker zu empfehlen, seineeigentliche Stärke aber war die Theorie,was ihn selbst des Öfteren in Verzweiflungstürzte. Er war ein Aristokrat, der in derDemokratie sein Lebensthema gefundenhat und der so schonungslos ihre Schwä-chen aufdeckt, sodass man ihn oft als ihrenFeind empfunden hat – zu Unrecht! Er istein Franzose, der die Amerikaner so subtilkritisierte, dass sie es größtenteils gar nichtgemerkt haben1 – nicht zuletzt deshalb istseine Popularität in den USA ungebrochen.Auf Tocquevilles Hauptwerke "Über dieDemokratie in Amerika" und "Der alteStaat und die Revolution" haben sich dieunterschiedlichsten Autoren und Politikerberufen: Reaktionäre, Sozialisten, Liberale,Kommunitaristen, Konservative und Radi-kale. Sie alle wollten bei Tocqueville Ar-gumente finden, die ihre eigene Position

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unterstützten. Die logische Konsequenzwar eine äußerst selektive Lesart, aus derein reichlich verzerrtes Bild des Autorsresultierte. "Mein Buch sagt vielen Leutenunterschiedlicher Auffassung zu", schreibtTocqueville 1835 kurz nach Erscheinendes ersten Bandes der Demokratie an sei-nen Freund Eugène Stoffels" (OT V: 429).2

Gleichzeitig gibt er zu, sich unverstandenzu fühlen. Kurze Zeit später bezeichnet ersich als "Liberalen einer neuen Art (OT V:433), der sich keinem der gängigen politi-schen Lager zuordnen lasse. Mit dem Zen-suswahlrecht, der mangelnden sozialenKompetenz und rigiden Ordnungspolitikder liberalen "Doktrinäre"3 konnte er sichebenso wenig anfreunden wie mit den "ra-dikaldemokratischen" Utopien der linkenRepublikaner und Sozialisten. Tocque-villes Vorstellung einer freiheitlichen De-mokratie war seiner Zeit weit voraus. Um-so lohnender ist es heute, sich mit seinenThesen auseinander zu setzen.

1. Liberalismus versus Demokratie?

Das Amalgam einer "freiheitlich-demokratischen Grundordnung", wie esetwa das berühmte Urteil des Bundesver-fassungsgerichts von 1952 fordert, warMitte des 19. Jahrhunderts noch ein Ana-chronismus. Die liberalen Mitglieder derBourgeoisie wehrten sich vehement gegendas politische Mitspracherecht der unterenKlassen, während die republikanischen undsozialistischen Demagogen glaubten, ihreVisionen nur gegen das Konstrukt des libe-ralen Rechtsstaates verwirklichen zu kön-nen. Verteidigten die einen die (exklusi-ven) Grundrechte, das Privateigentum unddie institutionelle Zähmung der Macht,träumten die anderen von absoluterGleichheit und Gerechtigkeit.

Der historische Gegensatz, der zwischenLiberalismus und Demokratie bestandenhat, wurde von der Gleichheitsrhetorik derLiberalen nur unzureichend kaschiert. Alseiner der ersten Denker in der Ära nach der

Französischen Revolution wies Tocque-ville darauf hin, dass die Bourgeoisie vor1789 lediglich gezwungen war, "die allge-meine Idee der Gleichheit zu vertreten, umdie besondere Idee der Ungleichheit zubekämpfen, die man ihr entgegenhielt"(OC II 1: 46f.). Worum es dem liberalenBürgertum ging, war die Durchsetzungeiner marktwirtschaftlichen Organisationder Gesellschaft, die Ablösung des Prin-zips der Geburt durch das Prinzip derLeistung, die freie Entfaltungsmöglichkeitdes Individuums sowie eine angemessenepolitische Repräsentation. Der Ruf nachGleichheit und Bürgerrechten diente hierzuals Vehikel. Nachdem die Bourgeoisie denAdel als Führungsschicht abgelöst hatte,bemühte sie sich darum, die Fortentwick-lung der demokratischen Gleichheit aufzu-halten. Zensuswahl, eine eingeschränktePressefreiheit sowie die Eindämmung derSozialbewegung waren die Mittel, um derdemokratischen Verfügungsgewalt Fesselnanzulegen. Als liberale Schreckensszena-rien galten die "Tyrannei der Mehrheit",die Deformation der Demokratie zum So-zialismus oder auch einfach nur Anarchieund Chaos.

Der beispiellose Siegeszug, den die libe-rale Demokratie westlicher Prägung seitdiesen schwierigen Anfängen angetretenhat, beruht wesentlich darauf, dass die frü-hen Ressentiments abgebaut werdenkonnten. Als Kompromissformel fand mandie Unterscheidung zwischen der sozialen,leistungsfördernden Ungleichheit in Wirt-schaft und Gesellschaft und der Gleichbe-handlung der Bürger im politischen Be-reich. Sukzessive dehnte sich infolgedes-sen das demokratische Prinzip innerhalbder Politik aus, bis kein Bürgerrecht mehrauf Reichtum oder Geschlechtszugehörig-keit beruhte. Die liberale Version der De-mokratie, deren Linie sich von Tocquevillebis Rawls nachziehen lässt, hat es bis heutegeschafft, so gut wie alle autokratischenund systemischen Widersacher auf demFeld politischer Regimeformen aus demWeg zu räumen.

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Alexis de Tocqueville und die Vision einer postliberalen Demokratie 49

Gleichwohl ist die ideengeschichtlicheSpannung zwischen Liberalismus und De-mokratie keineswegs obsolet. In den Kri-senbeschreibungen der bürgerlichen Ge-sellschaft, die in den postmodernen Dis-kursen oder dem Kommunitarismusstreitsichtbar wurden, hat man wiederholt aufdiesen Gegensatz rekurriert. Mit PhilippeSchmitters Vision einer "postliberalenDemokratie"4 hat diese Debatte nunmehrein neues Stadium erreicht. Schmitter gehtdavon aus, dass die liberale Demokratienach Ende des Ost-West-Konflikts selbstunter Legitimationsdruck geraten ist, in-dem die Schwächen und Leistungsdefizitenun offener diskutiert werden können. Sei-ne These lautet, dass sich die Demokratiein eine postliberale Form weiterentwickelnwird und muss, weil die nach wie vor vor-handenen liberalen Begrenzungen des De-mokratischen ihren Grund verlieren.Schmitters postliberale Demokratie erin-nert sehr daran, was Benjamin Barber eine"starke Demokratie"5 nannte oder was mangemeinhin als deliberative Demokratiebezeichnet. Gemeint ist, dass neue Ver-mittlungsformen zwischen Bürgern undRegierenden gefunden werden müssen,nachdem das liberale System der checksand balances zum Reformstau geführt hat,die Verantwortlichkeit der Parteien und derpolitischen Entscheidungsträger durchständig neue Skandale in Frage gestelltwird, allenorts von "Politikverdrossenheit"die Rede ist und mancher Experte die Re-gierbarkeit des Nationalstaats im Zeitalterder Globalisierung überhaupt in Zweifelzieht.

Vorschläge, wie eine solche Reform derDemokratie aussehen könnte, gibt es zu-hauf: Diskutiert wird etwa

− das Demokratieprinzip auf private In-stitutionen der Wirtschaft oder der Inte-ressenverbände auszudehnen,

− die neuen technischen Möglichkeitenzu benutzen, um die Bürgerbeteiligungan der politischen Willensbildung zuerweitern,

− virtuelle Wählerschaften einzurichten(d.h. jeder Bürger wird Mitglied in ei-nem Fachausschuss, der mit echtenMitspracherechten ausgestattet ist),

− Repräsentationsgutscheine auszustel-len, mit denen die Bürger entscheiden,welche Regierungsprojekte und Insti-tutionen sie mit einem Teil ihrer jährli-chen Steuerschuld konkret unterstützenwollen,

− periodisch tagende Bürgerversamm-lungen zu organisieren, die sich derPrüfung von Gesetzesentwürfen wid-men,

− neue Rechtsfiguren wie die universelleStaatsbürgerschaft zu novellieren, diejedem Staatsbürger vom Zeitpunkt derGeburt an ein Wahlrecht zugesteht,selbst wenn es bis zur Mündigkeit vomgesetzlichen Vormund ausgeübt wird,

− ein zwischenstaatlicher Austausch vonRepräsentanten,

− schließlich eine weit reichende Reformder Parteienfinanzierung.

Eine solche "postliberale" Demokratiewürde nach Schmitter einerseits auf denErrungenschaften der liberalen Demokratieaufbauen, andererseits jedoch den Rechts-staat und das Repräsentativsystem substan-ziell reformieren, und zwar vor allem mitBlick auf den demokratischen Aktivbürger.Eine "freiheitliche" Demokratie, die einMaximum an Partizipationsmöglichkeitengewährt, wäre demnach postliberal zu den-ken.

Tocqueville hätte Schmitters Vision in-haltlich in vielen Punkten gutgeheißen.Begrifflich allerdings stellt der Franzosedie postliberale Demokratie auf den Kopfund leistet gerade damit einen höchst be-merkenswerten Diskussionsbeitrag. Nichtdie Chancen als vielmehr die Gefahren dermodernen Demokratie lassen sich beiTocqueville unter dem Label des "Postlibe-ralismus" subsumieren. Für den "Liberalen

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einer neuen Art" gilt es, ein alternativesVerständnis zum klassischen Liberalismuszu entwickeln, anstatt ihn auf Grund dervorhandenen Schwierigkeiten zu Grabe zutragen. Der Zielvorstellung einer "starken"Demokratie, die auf einer intakten Zivilge-sellschaft basiert und in der die Bürger einerhebliches Maß an Selbstverantwortungund politischer Gestaltungsfreiheit wahr-nehmen, könnte dabei von der Terminolo-gie Tocquevilles eher profitieren als vonder Begrifflichkeit Schmitters. Dies soll indrei Schritten demonstriert werden:

Im folgenden Kapitel werden zunächstzentrale Begriffe geklärt (Punkt 2).

Daran anschließend wird erläutert, weshalbes sinnvoll ist, dem Beispiel Tocquevilleszu folgen und nicht die liberale mit derpostliberalen Demokratie zu konfrontieren,sondern freiheitliche und despotische Formder Volksherrschaft einander gegenüber zustellen (Punkt 3).

Abschließend werden politiktheoretischeFolgerungen herausgearbeitet, die sich fürdie Zukunft der Demokratie ergeben(Punkt 4).

2. Der Begriff der Demokratie

Tocqueville hat an keiner Stelle seinesWerkes exakt definiert, was er unter demBegriff "Demokratie" versteht. Die Kritik,die er deshalb auf sich gezogen hat, istjedoch akademischer Natur. Inhaltlich be-stehen kaum Zweifel, was er meint. DieDemokratie bedeutet für Tocqueville denZustand einer modernen marktwirtschaft-lich organisierten Gesellschaft, in der vorallem eines gilt: Chancengleichheit aufBasis formaler Rechtsgleichheit. Der poli-tische Überbau des demokratischen Ge-meinwesens kann für Tocqueville hinge-gen recht heterogen ausfallen: Ob Monar-chie, Bundesrepublik oder ein despotischesRegime – all diese Systeme können mitdem Attribut "demokratisch" versehenwerden. Es lässt sich demnach eine interes-sante Veränderung der Terminologie imVergleich zum 18. Jahrhundert feststellen.Wie die folgende Skizze verdeutlicht, gingKant im Ewigen Frieden noch von der"Republik" und dem "Despotismus" alsden beiden grundsätzlichen Regierungsar-ten aus, deren herrschaftliche Organisationmonarchisch, aristokratisch oder demokra-tisch ausfallen konnte.

Kant

Forma regiminis

RepublikDespotismus

MonarchieAristokratieDemokratie

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Das platonisch-aristotelische Grundsche-ma, das den drei "guten" Verfassungen dreidespotisch "entartete" Formen gegenüber-stellt, ist hier noch klar erkennbar. FürKant (oder auch für Rousseau) aber wardie Herrschaftsform der Demokratie nichtnur eine Staatsform unter vielen, sondernim Zweifelsfall nicht einmal die Beste,weil eine "Volksherrschaft", die diesenNamen verdient, im modernen Flächen-staat kaum mehr zu verwirklichen war.Auch Sieyès und die französischen Revo-lutionäre sprachen lieber von der Republikals demjenigen System, das Volkssouverä-nität, Arbeitsteilung und Repräsentationintegriert und damit gegen den Anachro-nismus der "direkten Demokratie" gerich-tet ist, wie sie die Antike kannte.

Tocqueville als Denker des 19. Jahrhun-derts hat diesbezüglich einen völlig ande-ren Fokus. Wie oben erwähnt, begreift erdie Demokratie vorrangig als soziales Phä-nomen, zu dem es in der modernen Ärakeine Alternative gibt. Das Zeitalter derAristokratie ist passé. Eine natürlicheRangordnung und erbliche Privilegien ge-hören der Vergangenheit an, weil sie öko-nomisch ineffizient sind. Die moderne Ge-sellschaft löst folgerichtig die feudalenSozialbeziehungen ab. Durch Fleiß, Unter-

nehmergeist und ökonomisches Geschickerhält der Einzelne die Möglichkeit zumAufstieg, ganz egal in welche Familie ergeboren ist. Ob er diese Chancen in einer"demokratischen Monarchie" wie in Eng-land oder in einer "demokratischen Repu-blik" wie in den Vereinigten Staaten vonAmerika wahrnimmt, ist dabei weit weni-ger entscheidend als die Frage, ob dasSystem einen freiheitlichen oder despoti-schen Charakter besitzt. Die Verortung desdemokratischen Prinzips im sozialen Be-reich führt in diesem Zusammenhang dazu,dass Tocqueville die Freiheit – anders alsdie Denker des 18. Jahrhunderts – nicht sosehr in den richtigen Gesetzen und Institu-tionen als vielmehr in den Sitten und Ge-wohnheiten, den Ideen und der politischenKultur einer Nation entdeckt. Im Hinblickauf das Verfassungssystem aber gilt es, dieGeschichte und geostrategische Lage einesLandes zu beachten. Für die französische"Demokratie" hält Tocqueville beispiels-weise lange Zeit die "Monarchie" für diebeste Staatsform, weil sie auf eine langeTradition zurückblicken kann. Seine fle-xible Verfassungslehre ermöglicht es ihmjedoch, sich nach 1848 auch mit derZweiten Republik in Frankreich zu arran-gieren.

Tocqueville

Gesellschaft(état social)

Staat(état politique)

Es lässt sich damit konstatieren, dassTocqueville die Demokratie im Grunde mitder bürgerlichen Gesellschaft gleichsetzt.Das demokratische Prinzip der Chancen-gleichheit avanciert zur exklusiven Chiffredes modernen état social. Betrachtet man

die Geschichte der Demokratie, dann hatTocqueville für seine These durchaus guteArgumente. Die gesellschaftliche Basis,die er als "Demokratie" bezeichnete, um-reißt die noch heute gültige Struktur derOECD-Staaten. Marktwirtschaft und Bür-

Demokratie

Freiheit Despotismus

Monarchie

Republik

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gerrechte ermöglichen hier dem Einzelneneinen freien und individuellen Lebensent-wurf. Hingegen haben sich alle diejenigen"Demokratien" als Mogelpackungen er-wiesen, die jenseits der sozioökonomi-schen Basis einer freien oder sozialenMarktwirtschaft angesiedelt waren.

Auch Tocquevilles Verfassungslehre isterstaunlich aktuell geblieben. Bis heutegibt es in Europa und der Welt Monarchienund Republiken, parlamentarische undpräsidentielle Systeme, die in erste Linie"Demokratien" sind, eben weil sie sich inihrer sozioökonomischen Struktur ähneln,woran die unterschiedliche verfassungs-rechtliche Ausgestaltung des politischenSystems nichts ändert.

Von größter Brisanz ist jedoch heute dieTocquevillesche These, dass es zur bür-gerlich-demokratischen Grundstruktur derGesellschaft zwar keinerlei überzeugendeAlternative gibt, dass Demokratie undMarktwirtschaft aber selbst Probleme auf-werfen, die nur schwer zu lösen sind. Wasdie Demokratie für die Zukunft verspricht,hängt entscheidend davon ab, was die Bür-ger aus ihr machen. Mit anderen Worten,es gibt nicht nur wertindifferente demo-kratische Staatsformen, sondern auch zweinormativ besetzte Optionen der Demokra-tie: eine gute (die freiheitliche) und eineschlechte (die despotische), welche sichweitgehend unabhängig von den formalenInstitutionen etablieren.

3. Freiheit oder Despotismus

Anhand von Tocquevilles Verfassungs-schema lässt sich der Anspruch seiner Po-litischen Theorie ablesen: Die Ambivalenzder Demokratie macht es nötig, ihre Chan-cen und Risiken zu analysieren, um aus derunwiderruflichen Basis der Chancen-gleichheit nicht den Despotismus, sonderndie Freiheit hervorgehen zu lassen. "Einevöllig neue Welt bedarf einer neuen politi-schen Wissenschaft" (DA I: 15), schreibtTocqueville in der Einleitung der Demo-kratie in Amerika. Damit meint er, dassman zuerst die soziale Welt der Gleichheituntersuchen muss, um daraus die Auswir-kungen für das politische System der De-mokratie abzuleiten. Aus diesem Ver-ständnis heraus sollen die politischenHandlungsträger in die Lage versetzt wer-den, einen politischen Überbau zu kon-struieren, der ebenso die nationalen Be-sonderheiten berücksichtigt wie die Frei-heit bewahren hilft. Der fundamentale Zu-sammenhang zwischen état social und étatpolitique, Gesellschaft und Staat, Sittenund Institutionen, bedeutet insofern dasGrundaxiom von Tocquevilles sciencepolitique. Analog gestaltet sich der Aufbaudes zweiten Bandes der Demokratie inAmerika, in welchem die ersten drei Teiledie sittliche und moralische Verfassung derdemokratischen Gesellschaft beleuchten,bevor der vierte Teil die politischen Optio-nen verhandelt.

Die Demokratie in Amerika II (1840)

Gesellschaft Staat

Sitten Institutionen

a) Geistb) Gefühlslebenc) Gewohnheiten

d) Politische Organisation

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Alexis de Tocqueville und die Vision einer postliberalen Demokratie 53

Um transparent machen zu können, wes-halb Tocqueville für die demokratischeMarktwirtschaft die Gefahr des Despotis-mus gesehen hat, sind an dieser Stelle inder gebotenen Kürze die Ergebnisse seinerSoziologie der Gleichheit zu rekapitulie-ren:

− Im Hinblick auf das geistige Leben inder Demokratie stellt Tocqueville fest,dass der öffentlichen Meinung diehöchste Autorität zukommt. Je gleich-berechtigter und ähnlicher die Bürgerwerden, desto mehr steigt das Vertrau-en in die Ansichten der Masse undschwindet das Ansehen von Einzelnen.Die opinion publique löst sich entspre-chend als anonyme Gewalt von denSubjekten ab, wobei sie einen hohenKonformitätsdruck ausübt, mit dem siedas Denken und Verhalten der Bürgersteuert und manipuliert.

− Das Sozialgefühl der Demokratie wirdnach Tocqueville bestimmt durch denIndividualismus, gleich bedeutend mitder politischen Apathie des demokrati-schen Bürgers. Obwohl dieser dasRecht zur Partizipation hätte, vergisster in seiner rastlosen Jagd nach mate-riellem Wohlstand zumeist die Proble-me der Gesellschaft. Er konzentriertsich fast völlig auf seine private Exis-tenz. Für Tocqueville gehört demnachdie "Politikverdrossenheit", über dieheute so viele klagen, zu den natürli-chen Instinkten des homme démocrati-que.

− Der gewohnheitsmäßige Umgang zwi-schen den demokratischen Bürgernwird schließlich vom Prinzip der Ähn-lichkeit bestimmt. Die Lebensentwürfeder Individuen sind beileibe nicht sovielfältig, wie es die Emanzipation ausder Feudalstruktur nahe legt. Im Grun-de streben alle das Gleiche an, nämlichein Leben im Reichtum. Weil so dieUnterschiede zwischen den Menschenfast vollständig verwischen, kann sich

jeder Bürger mit dem anderen "identi-fizieren". Dies führt zu einem friedli-chen Miteinander, in dem Grausamkeitund Brutalität verpönt sind. Gleichzei-tig aber steigt infolge der sozialen Dy-namik des allgemeinen Auf- und Ab-stiegs die Sehnsucht nach Ruhe undStabilität. Dies impliziert das Risiko,dass die Demokratie am Ende in einerArt Friedhofsruhe erstarrt, da vieleBürger Angst davor haben, durch Re-formen oder Revolutionen ihre Besitz-stände zu verlieren.

− Eine solche demokratische Gesell-schaft, in der ein hoher Konformitäts-druck herrscht, die Bürger fast aus-schließlich mit privaten Unternehmun-gen beschäftigt sind und ein starkesBedürfnis nach Ordnung besteht, ver-langt logischerweise nach einem star-ken Staat. Anders als viele Zeitgenos-sen sieht Tocqueville keineswegs dieAnarchie als typisches Problem derDemokratie, sondern die überbordendeBürokratie. Diese kann sich etablieren,weil allein eine zentralisierte Verwal-tung einheitliche Rechtsvorschriftengarantiert und daneben auch die gestie-genen Bedürfnisse an die Infrastrukturund den sozialen Ausgleich erfüllt, dieaus einer komplexer werdenden Wirt-schaft resultieren.

Die Logik der demokratischen Bürokrati-sierung, die später auch Max Weber fest-stellte, folgt ganz den Imperativen der zu-vor erbrachten Gleichheitsanalyse. DieMacht wird anonym, der Einzelne zeigtkaum Interesse an der Politik und verlangtvom Staat keine Freiheit, sondern Sicher-heit und Berechenbarkeit. Ein solchesSystem, in dem die politische Kultur nahe-zu zum Erliegen kommt, während derWohlstand kontinuierlich steigt, erfüllt fürTocqueville die Kriterien eines demokrati-schen Despotismus Eine in dieser Art"postliberale" Demokratie bedeutet fürTocqueville die Quintessenz seiner Be-fürchtungen: "Ich erblicke eine Menge

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einander ähnlicher und gleichgestellterMenschen, die sich rastlos im Kreise dre-hen, um sich kleine und gewöhnliche Ver-gnügungen zu verschaffen, die ihr Gemütausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinze-lung dem Schicksal aller andern fremdgegenüber […] und bleibt ihm noch eineFamilie, so kann man zumindest sagen,dass er kein Vaterland mehr hat. Über die-sen erhebt sich eine gewaltige, bevormun-dende Macht, die allein dafür sorgt, ihreGenüsse zu sichern und ihr Schicksal zuüberwachen. Sie ist unumschränkt, insEinzelne gehend, regelmäßig, vorsorglichund mild. Sie wäre der väterlichen Gewaltgleich, wenn sie wie diese das Ziel ver-folgte, die Menschen auf das reife Altervorzubereiten; stattdessen aber sucht siebloß, sie unwiderruflich im Zustand derKindheit festzuhalten; es ist ihr Recht, dassdie Bürger sich vergnügen, vorausgesetzt,dass sie nichts anderes im Sinne haben, alssich zu belustigen. Sie arbeitet gerne fürderen Wohl; sie will aber dessen alleinigerBetreuer und einziger Richter sein; siesorgt für ihre Sicherheit, ermisst und si-chert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnü-gungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte,lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaf-ten, teilt ihren Nachlass; könnte sie ihnennicht auch die Sorge desNachdenkens unddie Mühe des Lebens ganz abnehmen?"(DA II: 463f.)

Dieses abschreckende Szenario einer"schönen neuen Welt" ist TocquevillesVision der "postliberalen" Demokratie oh-ne Freiheit. Bezeichnend ist der Grad derSelbstversklavung. Die Bürger schwimmenim materiellen Wohlstand, bleiben poli-tisch aber unmündig, woran die sporadi-sche Wahlakklamation nichts ändert.Volkssouveränität und Despotismus gehenfür Tocqueville durchaus zusammen. Dassalle Macht vom Volk ausgeht, dient derpolitischen Apathie oft sogar als Alibi.

"Sie nehmen die Bevormundung hin, in-dem sie sich sagen, dass sie ihre Vormün-der selbst ausgewählt haben. Jeder duldet,

dass man ihn fessle, weil er sieht, dass we-der ein Mann noch eine Klasse, sonderndas Volk selbst das Ende der Kette in Hän-den hält." (DA II: 465)

Fatal ist überdies, dass auf Grund dersanften, friedlichen Methoden der Unter-drückung kein Bewusstsein davon entsteht,vom Verwaltungsdespotismus geknechtetzu sein. Tocqueville hält deshalb fest: "EinVolk, das von seiner Regierung nichts for-dert als das Wahren der Ordnung, ist inseinem Inneren bereits Sklave; es ist Skla-ve seines Wohlergehens, und der Mann,der es in Ketten legen soll, kann auftreten."(DA II: 208f.)

Tocqueville hat sich selbst als "Liberaleneiner neuen Art" bezeichnet, um sich vondenjenigen abzuheben, die in der "libera-len" Demokratie in erster Linie die Herr-schaft der Ökonomie über die Politik unddes Privaten über das Öffentliche vermu-ten, womit sie der "postliberalen", despoti-schen Degeneration der Demokratie Vor-schub leisten. Wie später Hannah Arendtist Tocqueville ein Gegner jener Umkeh-rung, die sich von Aristoteles zu Lockevollzieht und die das Politische in denDienst des Privaten stellt statt umgekehrtdas Private in den Dienst des Politischen.

Allerdings war auch Tocqueville ein Libe-raler, der bestimmte Begrenzungen derDemokratie befürwortete. So trat er alsPolitiker lediglich für eine schrittweiseErweiterung des Wahlrechts ein, und eineGleichberechtigung der Frauen war ohne-hin jenseits seines Horizonts. Darüber hin-aus gehörte er auch zu denjenigen, die voreiner "Tyrannei der Mehrheit" warnten,weswegen nicht zu leugnen ist, dass einigewichtige Komponenten seines Ansatzesvon der Geschichte überholt wurden. Aufder anderen Seite bleibt er für die aktuelleDebatte interessant, weil er die "Freiheit"nicht auf die negative Freiheit des Privat-mannes, d.h. die Abwehrrechte des Indivi-duums gegen den Staat beschränkt, son-dern weil er dem Liberalismus eine spezi-

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Alexis de Tocqueville und die Vision einer postliberalen Demokratie 55

fisch politische Dimension verleiht. Dieser"politische" Liberalismus, der gegen denRuf nach einer "postliberalen" Demokratiegerichtet ist, lässt sich im Wesentlichenanhand von sechs Chiffren nachweisen:Erstens besteht in Tocquevilles Denken einNexus zwischen privater Autonomie undöffentlicher Freiheit. Die Privatexistenzdes Menschen ohne politische Dimensionbedeutet für ihn schlicht ein erniedrigtesLeben. Insofern kann er zweitens für libe-rale Grundrechte, Repräsentation, Gewal-tenteilung und Rechtstaatlichkeit plädierenund gleichzeitig drittens den Individualis-mus und die allumfassende Entpolitisie-rung kritisieren. Tocqueville ist damitviertens ein gutes Beispiel dafür, dass mannicht notgedrungen "postliberal" argumen-tiert, wenn man für eine vitale politischeKultur, Partizipation und Engagement so-wie gegen die Korrosion des Politischenund die Bevormundung durch die Büro-kratie wirbt. Um sein Projekt einer frei-heitlichen Reform der Demokratie zu ver-wirklichen, beschreitet Tocqueville viel-mehr fünftens den institutionellen Weg,indem er für lokale Selbstverwaltung, De-zentralisation und bürgerliches Assoziati-onswesen eintritt, und plädiert sechstensgleichermaßen für eine sittlich-moralischeWende. Der "konservative" LiberaleTocqueville beweist insgesamt eine enor-me Sensibilität dafür, wie unerlässlich diepsychische Affinität der Bürger zur politi-schen Freiheit ist, um den Gefahren derDemokratie zu begegnen. Um aktive, en-gagierte und tugendhafte Bürger zu be-kommen, die sich für die Belange des Ge-meinwesens engagieren, bedarf es der po-litischen Bildung im Sinne einer besonde-ren Schulung des demokratischen Geistes.

4. Die Zukunft der Demokratie

Als Folgerung aus dem Vergleich zwi-schen Schmitter und Tocqueville ist zuziehen, dass die Ähnlichkeiten in den Di-agnosen höchst bemerkenswert sind. Diemarktwirtschaftlich organisierte Demokra-

tie ist ein erfolgreiches, im Grunde konkur-renzloses Modell, zu dem keine systemi-sche Alternative existiert. Es muss sichandererseits in Richtung eines politischvitaleren Systems als bisher transformie-ren, um den Herausforderungen der Zu-kunft gewachsen zu sein. Diese Transfor-mation wird von Schmitter als postliberalbeschrieben, doch scheint dieser Begriffseinerseits prekär. Das Präfix "post" sugge-riert einen Bruch, der dringend vermiedenwerden sollte, wäre doch eine radikale Ab-sage an den liberalen Rechtsstaat äußerstkontraproduktiv.6 Nicht um eine wie im-mer geartete "antiliberale" Demokratiegeht es, sondern um eine Form, die liberaleGrundrechte ebenso unterstreicht wie dasMoment der politischen Partizipation undden aktiven Bürger. In diesem Punktscheint deshalb der "Liberale einer neuenArt", Tocqueville, eine überzeugendereBegrifflichkeit vorzuschlagen als seinKontrahent Schmitter. Tocquevilles Ansatzverlagert die prekäre Ambivalenz der mo-dernen Gesellschaft auf den Demokratie-begriff selbst, wogegen der Terminus des"Liberalismus" eben jene Reform der De-mokratie bezeichnet, die evoziert werdensoll – vorausgesetzt, dass man das "Libe-rale" tatsächlich politisch konnotiert undnicht als bloßes Synonym für "Marktwirt-schaft" begreift.

Die Relevanz dieses Ansatzes aus dem19. Jahrhundert ist dabei sowohl in natio-naler wie in internationaler Perspektivefaszinierend. Als Dilemma einer konsoli-dierten, rechtsstaatlich abgesicherten De-mokratie wie in Deutschland und in West-europa erweist sich der mögliche Pyrrhus-sieg der bürgerlichen Gesellschaft. WasModernisierungstheoretiker wie SeymourM. Lipset, Daniel Lerner oder Samuel N.Eisenstadt unter Berufung auf Tocquevillebegrüßten – den kausalen Zusammenhangzwischen Demokratisierung, Prosperitätund Stabilität –, das wird von diesem inWirklichkeit sehr skeptisch gesehen. Mö-gen auch "die großen Revolutionen" imZeitalter der Demokratie "selten werden"

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(DA II: 369ff.)7, so misstrauisch sieht Toc-queville den demokratischen Frieden, so-fern er mit der politischen Apathie deshomme démocratique erkauft ist. Ein Mehran Bürgernähe und politischer Selbstver-antwortung überwiegt in diesem Stadiumdas im Grunde verständliche Bedürfnisnach Sicherheit und Ordnung. Ihr sozialesProfil aber sollte die Gesellschaft ohnehinweitgehend unabhängig von der staatlichenBürokratie gewinnen.8 In den jungen, nochnicht gefestigten Demokratien, die sichheute im osteuropäischen Raum, aber auchin Asien oder Lateinamerika erheben, wäredas Spannungsfeld zwischen liberalemRechtsstaat und demokratischem Volks-willen indes nicht so einseitig aufzulösen.Tocqueville kannte die Gefahren, die derFreiheit durch Demagogen, den fehlenden

Schutz von Minderheiten und den Macht-potenzialen des modernen Staates erwach-sen können. Zu Beginn einer demokrati-schen Transformation erschien ihm des-halb eine konsequente Ordnungspolitikvollkommen legitim, was nicht zuletzt seinVerhalten als Politiker in der Zweiten Re-publik erklärt.9 Tocquevilles Werk führtden Demokraten in aller Welt jedoch eben-so vor Augen, dass eine erfolgreicheTransformation nicht das Ende aller Fragenbedeutet, sondern dass viele Probleme da-mit erst beginnen. Die Suche nach einereigenen politischen Kultur, einem eigenensozialen und politischen System, das diejeweiligen nationalen Besonderheiten re-flektiert, bleibt ohnehin keinem Land er-spart. Die Zukunft der Demokratie wirddaher stets offen bleiben.

Anmerkungen

1 Vgl. Pessen, Edward: Tocqueville's Misread-ing of America, America's Misreading ofTocqueville, in: Tocqueville Review, 4, 1982,S.5-22.

2 Das Sigel OT, Band römisch: Seitenzahl ara-bisch bezieht sich auf die erste, von Gustavede Beaumont verantwortete Gesamtausgabeder Schriften Tocquevilles (Paris 1861-1866).Die Gallimard-Standardausgabe der Œuvrescomplètes wird zitiert nach dem Schema OC,Band römisch, Teilband arabisch: Seitenzahlarabisch. Die Zitate aus der Demokratie inAmerika stammen aus der zweibändigen Aus-gabe des Manesse-Verlags, Zürich 1987 (ab-gekürzt DA I/II).

3 Ausführlich dazu Craiutu, Aurelian:Tocqueville and the Political Thought of theFrench Doctrinaires, in: History of PoliticalThought, 20/3, 1999, S.456-494.

4 Vgl. Schmitter, Philippe in: Claus Offe(Hrsg.), Die Demokratisierung der Demokra-

tie, Frankfurt/New York 2003, S.152-165.5 Siehe dazu das gleichnamige Buch Barber,

Benjamin: Starke Demokratie, Über die Teil-habe am Politischen, Hamburg 1994.

6 Dies räumt Schmitter selbst ein, ohne deshalbeine Revision seiner Terminologie für nötig zuerachten (vgl. Schmitter, Ph.: S.158f.).

7 Siehe dazu Drescher, Seymour: Why GreatRevolutions Will Become Rare, Tocqueville'sMost Neglected Prognosis, in: Journal ofModern History, 64/3, 1992, S.429-454.

8 Zu Tocquevilles komplexer Behandlung dersozialen Frage siehe Keslassy, Eric: Lelibéralisme de Tocqueville à l'épreuve dupaupérisme, Paris 2000 sowie Drolet, Michael:Tocqueville, Democracy and Social Reform,Basingstoke 2003.

9 Vgl. Herb, Karlfriedrich/Hidalgo, Oliver:Alexis de Tocqueville, Frankfurt/New York2005, S.93-97.

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Demokratie und Gemeinsinn oder Sozialmoralin homöopathischer Dosierung

Karsten Fischer

Die Konjunktion "Demokratie und Ge-meinsinn" geht leicht von den Lippen undmeint dabei zumeist "Demokratie brauchtGemeinsinn". Doch solche Formeln – umnicht zu sagen Floskeln – sind immer eherein Problem als eine Lösung, sodass esangezeigt ist, das Verhältnis zwischenDemokratie und Gemeinsinn in dreiSchritten etwas genauer und etwas kriti-scher zu behandeln. Erstens fragt sich, in-wiefern die Demokratie tatsächlich aufGemeinsinn angewiesen ist. Hiernach istzweitens zu klären, weshalb das Verhältniszwischen Demokratie und Gemeinsinndennoch kein unproblematisches ist. Undschließlich bedarf es drittens der Konzent-ration auf das Problem des Gemeinsinns inGestalt der Frage, wie ein demokratisches"Gemeinsinnmanagement" aussehen könn-te.

1. Die Angewiesenheit derDemokratie auf Gemeinsinn

Die Angewiesenheit der Demokratie aufGemeinsinn ist keineswegs ein postmoder-ner Einfall wohlfeiler politischer Sonntags-reden. Vielmehr handelt es sich hierbei umeine zentrale Einsicht von Charles-Louisde Secondat, Baron de la Brède et deMontesquieu (1689-1755), einem derwichtigsten Vordenker der modernen De-mokratie. Auf Montesquieu geht nämlichnicht nur die Idee der Gewaltenteilungzurück, sondern auch die Erkenntnis, dassDemokratien, anders als alle anderenStaatsformen, auf sozialmoralische Quali-täten ihrer Bürgerinnen und Bürger ange-wiesen sind. Alle Regimeformen haben, soMontesquieu im dritten Buch seines"Ésprit des lois", eine bestimmte Grundla-

ge, modern gesprochen, ein bestimmtesFunktionsprinzip. So beruht die Monarchieauf der sozialintegrativ wirkenden Ehre,und die Diktatur beruht, wie wir geradeheutzutage wissen, auf dem Schrecken. DieDemokratie aber, so betont Montesquieu,beruht auf dem Prinzip der Tugend ihrerBürger. Als Gesellschaft rein egoistischerNutzenmaximierer könne sie nicht funkti-onieren, so Montesquieu, denn eine Repu-blik erfordere "eine unablässige Entschei-dung für das öffentliche Wohl unter Hint-ansetzung des Eigenwohls" (IV, 5), undzwar ohne dass dies durch staatlichenZwang herbeigeführt wird. Denn demo-kratische Republiken wollen auf Repressi-on ja gerade verzichten. Folgt man Mon-tesquieu, bedeutet demokratische politi-sche Tugend also, dass die Bürgerinnenund Bürger ihren ansonsten legitimen Ei-gennutz zumindest dann freiwillig demAllgemeinwohl unterordnen, wenn andern-falls die Gemeinschaft insgesamt Schadennähme, beispielsweise in ökologischerHinsicht oder durch den nachhaltigenMissbrauch von Sozialversicherungssys-temen. Kurz gefasst: Politische Tugend inder Demokratie bedeutet, freiwillig Ge-meinsinn zu praktizieren.

Damit ist ein weiterer Begriff eingeführt,der beim Thema Demokratie und Gemein-sinn stets mitschwingt, und zwar derjenigedes Gemeinwohls.

Bis in die Neuzeit hinein waren Gemein-wohl und Eigeninteresse – mit einem Be-griff von Reinhart Koselleck – asymmetri-sche Gegenbegriffe, das heißt binäre Be-griffe "von universalem Anspruch, die dar-auf angelegt sind, eine wechselseitige An-erkennung auszuschließen": Entweder man

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58 Karsten Fischer

verfolgte seinen eigenen, privaten Nutzen,oder man verzichtete auf diese natürlicheNeigung und handelte stattdessen absicht-lich und asketisch gemeinwohlorientiert.Dies änderte sich, als der Leitbegriff desalteuropäischen Republikanismus, nämlichdie gerade erläuterte Idee der politischenTugend, an der Schwelle zur 1789 mit derFranzösischen Revolution einsetzendenModerne ersetzt wurde durch das Paradig-ma rationalen, wohlverstandenen Eigenin-teresses. So setzt die Mehrzahl der neu-zeitlichen Vertragstheorien darauf, dass derMarkt als Institution die egoistischenHandlungskalküle der Einzelnen so mit-einander verbinden kann, dass daraus dasallgemeine Beste resultiert. An die Stelleder sozialmoralischen Intentionalität derBürger rücken damit institutionelle Me-chanismen.

Beispielhaft finden wir dies bei ImmanuelKant und bei Adam Smith. "Das Problemder Staatserrichtung", so Kant in seinerSchrift "Zum ewigen Frieden", sei "selbstfür ein Volk von Teufeln" lösbar, "wennsie nur Verstand haben". Damit entsprichtKant der berühmten Überlegung desschottischen Moralphilosophen AdamSmith, einem der wichtigsten Vordenkerder kapitalistischen Marktwirtschaft. Inseiner "Untersuchung über den Wohlstandder Nationen" behauptete Smith nämlich,dass dank einer "unsichtbaren Hand" einumso größeres Wohl der Allgemeinheitentstehe, je stärker sein Gegenteil, der Pri-vatnutzen, erstrebt werde. Denn, so Smith,"nicht vom Wohlwollen des Metzgers,Brauers und Bäckers" erwarten wir, "waswir zum Essen brauchen, sondern davon,dass sie ihre eigenen Interessen wahrneh-men", das heißt: nach Gewinn streben.Indem jeder sein Eigeninteresse verfolgt,soll es also dank eines wundersamenMarktmechanismus zum allgemeinenWohl kommen. Mit diesem Vertrauen hatSmith gleichsam den semantischen Coupdes Liberalismus vollzogen, Eigeninteresseund Gemeinwohlorientierung miteinander

zu verschränken und deren traditionelleGegenbegrifflichkeit aufzulösen.

Doch unabhängig davon, ob man Mecha-nismen des Marktes vertraut, wie Smith,oder Mechanismen politischer Institutio-nen, verbunden mit Rationalität, wie Kant,entscheidend ist, dass hiermit das Ge-meinwohlideal von der Intentionalität ge-sellschaftlicher Akteure, von ihrem Ge-meinsinn, entkoppelt und einem Automa-tismus überantwortet wird, den man alsinnersten Kern des politischen Denkens derModerne bezeichnen kann: dass man näm-lich auf die guten Absichten gesellschaftli-cher Akteure, auf ihren Gemeinsinn, ver-zichten könne, solange nur das "institutio-nelle Design" stimmt. Claus Offe hat dieseinmal mit dem schönen Bild beschrieben,der Kapitalismus sei ein Theaterstück, dassich auch dann aufführen lasse, wenn alleHauptrollen mit Schurken besetzt seien. Inder Konsequenz des Kantischen Denkenskönnte man dies sogar auf die Demokratieübertragen.

Die von Montesquieu ausgehende und inDeutschland von Hegel fortgesetzte Tradi-tion des politischen Denkens sieht das in-dessen anders und beharrt darauf, dass dieDemokratie nicht existieren kann ohne denfreiwilligen, bewussten Gemeinsinn imSinne eines liminalen Eigeninteressever-zichts.

2. "Beziehungsprobleme" zwischenDemokratie und Gemeinsinn

Die Angewiesenheit der Demokratie aufGemeinsinn im Sinne der freiwilligen Ori-entierung an Gemeinwohlbelangen führtallerdings zu neuen Problemen. Denn,recht überlegt, treten Gemeinwohl undGemeinsinn damit in ein zirkuläres Ver-hältnis: Der Begriff Gemeinwohl bezeich-net den normativen Orientierungspunktsozialen Handelns, und der Begriff Ge-meinsinn die Bereitschaft der sozial Han-

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Demokratie und Gemeinsinn oder Sozialmoral in homöopathischer Dosierung 59

delnden, sich an diesem normativen Idealtatsächlich zu orientieren. Das normativeGemeinwohlideal sagt uns also, wie vielund welchen Gemeinsinn wir aufbringensollen; umgekehrt ist aber das Vorhanden-sein eines Minimums an Gemeinsinn dievorgängige, motivationale Voraussetzungdafür, dass überhaupt die Bereitschaft zurOrientierung am Gemeinwohlideal besteht.

Nun könnte man dieses zirkuläre Verhält-nis einfach in einer Ökonomie des Ge-meinsinns beschreiben und danach fragen,wie Gemeinsinn entsteht, vergeht und ge-sichert werden kann. Doch wenn man überdas Verhältnis von Demokratie und Ge-meinsinn nachdenkt, liegt gerade hier eineschwierige Problematik. Die Demokratiesteht nämlich nicht nur vor dem Problem,dass Gemeinsinn eine unsichere, vergäng-liche sozialmoralische Ressource ist, ob-wohl sie so vital notwendig ist für die De-mokratie. Noch schwieriger wiegt eineParadoxie, die Ernst-Wolfgang Böckenför-de formuliert und zu beträchtlicher Be-rühmtheit gebracht hat. Sie lautet, dassfreiheitliche Demokratien von sozialmora-lischen Voraussetzungen leben, die sie umihrer Freiheitlichkeit willen nicht selberreproduzieren dürfen. Um sicher zu wis-sen, wie viel Freiraum er seinen Bürgerin-nen und Bürgern lassen kann – wie stark ersich etwa, um noch einmal diese Beispielezu bemühen, darauf verlassen kann, dassökologische Belange beachtet und die So-zialversicherungssysteme nicht miss-braucht werden –, müsste der demokrati-sche Staat den jeweils aktuellen Pegelstanddes Gemeinsinns kennen, was aber nurmögliche wäre, wenn er die Gesinnungseiner Bürgerinnen und Bürger kontrol-lierte, und dann wäre er eben kein freiheit-lich-demokratischer Staat mehr.

Die Demokratie ist also auf ihr nicht zu-gängliche und ihrer Verfügung entzogene,sozialmoralische Ressourcen angewiesen,in denen sich Gemeinsinn reproduziert.Ohne hierauf näher eingehen zu können,sind zwei Bereiche zu nennen, die dafür

besonders wichtig sind: zum einen, wievon Böckenförde betont, die Religion undzum anderen die Politische Bildung, dieder demokratische Staat fördert, aber ebennicht kontrolliert, sondern pluralistischorganisiert.

Dies führt zu der abschließenden Frage,wie ein demokratisches Gemeinsinnmana-gement auszusehen hat.

3. Demokratisches Gemeinsinn-management

Dass ein solches demokratisches Gemein-sinnmanagement nur darin bestehen kann,Sozialmoral in homöopathischer Dosierungzu verabreichen, ergibt sich aus der Bö-ckenförde-Aporie, mithin aus unmittelbarfreiheitlich-demokratischen Erfordernis-sen. Es gibt aber noch weitere Gründe, undsie liegen in der motivationalen Fragilitätvon Gemeinsinn begründet. Der amerika-nische Sozialwissenschaftler Albert O.Hirschman hat gezeigt, dass die Bürgerstets zwischen Engagement und Enttäu-schung, zwischen Gemeinwohl- und Ei-gennutz-Orientierung schwanken und dassder Gemeinsinn also keine konstante Grö-ße ist. In der Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland findet sich dies bestätigt,denn auf eine Phase privater Orientierungin der Zeit des Wirtschaftswunders folgtedie Extrempolitisierung der "68er"-Bewe-gung, die bis zu den Bürgerinitiativen, An-ti-Atom- und Friedensbewegungen derAchtzigerjahre reichte, während seit Mitteder 1990er-Jahre wieder eher eine priva-tistische Abwendung von der Politik zubeobachten ist.

Angesichts von Hirschmans so nachvoll-ziehbarer Entdeckung erscheint es angera-ten, jegliche Beanspruchung der fragilenRessource Gemeinsinn, mit einem WortAlfred Gierers, gleichsam einem Unterfor-derungscheck wie auch einem Überforde-rungscheck zu unterziehen. Denn bemühtman den Gemeinsinn der Bürgerinnen und

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Bürger zu wenig, kann die Bereitschaft zusozialmoralischem Verhalten verkümmern;strapaziert man sie aber zu häufig, zu starkoder auf unglaubwürdige Weise, ist dieGefahr ihrer Erosion ebenso stark.

Ein solches Erosionsproblem könnte bei-spielsweise entstehen, wenn die Größejenes Gemeinwesens, das die Zielgruppevon Gemeinwohlorientierung bilden soll,definitorisch ausgeweitet wird und ur-sprünglich national oder regional begrenzteGemeinwohlvorstellungen und Gemein-sinnressourcen auf eine für das individuelleErleben weniger nachvollziehbare undweniger identifikationsträchtige, supranati-onale Ebene erweitert werden. Abstraktformuliert: Gemeinsinn verhält sich umge-kehrt proportional zur Größe der ihm an-empfohlenen politisch-sozialen Einheit: Jegrößer die Bezugsgruppe von Gemein-

wohlorientierung definiert wird, desto ge-ringer droht der Gemeinsinn auszufallen.Zugespitzt könnte man von einer Dialektikvon Gemeinwohl und Gemeinsinn spre-chen: Je stärker Gemeinwohlpostulate zurAktivierung von Gemeinsinn bemüht wer-den und je anspruchsvoller diese ausfallen,desto mehr droht eine Erosion sozialmora-lischer Ressourcen, d.h. ein Rückschlagvon Gemeinsinn in egoistische oder dochzumindest partikulare Nutzenmaximierung.

Die komplexe Angewiesenheit der Demo-kratie auf Gemeinsinn einerseits zu beto-nen, bedeutet andererseits also gleich inmehrererlei Hinsicht, Sozialmoral in ho-möopathischer Dosierung zu verabreichen:Es ist eine notwendige Medizin für diefreiheitlich-demokratische Gesellschaft,aber Risiken und Nebenwirkungen sindgenauestens auszutarieren.

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Die Zukunft der Mediendemokratie

Christoph Bieber

Politik und Medien, Medien und Politik.Zwei Seiten einer Medaille, Gegen- oderMitspieler, Akteur und Beobachter – diewechselseitige Bezugnahme der beidenBereiche beschäftigt seit Jahren nicht mehrnur die jeweiligen Protagonisten, sondernauch die Wissenschaft. Mit dem Begriffder "Mediendemokratie" drückt sich dieimmer größere Nähe und bisweilige Ver-wachsung von "Politik" und "Medien" nunauch wörtlich unmittelbar aus. Zugleichsind jedoch moderne Massenmedien einemstetigen technologischen Wandel unterle-gen, zuletzt am deutlichsten sichtbar ge-worden mit dem Aufkommen des Internetund der damit verbundenen "Interaktivie-rung" medialer Kommunikation.1

Vor diesem Hintergrund skizziert der nach-folgende Beitrag ausgewählte Entwicklun-gen, die vor allem aus der Nutzung neuerMedien durch politische Akteure erfolgtsind. Dazu wird zunächst knapp die Dis-kussion um den Begriff der Mediendemo-kratie zusammen gefasst – als wesentlicherBestandteil wird dabei neben den Stan-dard-Akteuren Politik und Medien auchdas Publikum bzw. die Bürgerschaft be-rücksichtigt (1). Mit Blick auf technologi-sche Neuerungen im Mediensektor werdendadurch entstehende Innovationspotenzialeim Bereich der Politik skizziert – exempla-risch beschrieben werden dabei so ge-nannte "digitale Politikprozesse", die sichseit Mitte der 90er-Jahre entwickelt haben(2). Schließlich werden solche "politischenInnovationen" auf ihre Bedeutung für einezukünftige Entwicklung der Mediendemo-kratie überprüft (3).

1. Mediendemokratie –Entwicklung und Diskussiondes Begriffs

Nicht erst mit der Etablierung von "SabineChristiansen" als sonntägliche Verlänge-rung von Kabinetts- und Plenardebattenoder dem großen Quoten-Erfolg des Fern-sehduells zwischen Gerhard Schröder undEdmund Stoiber im Herbst 2002 ist dasBeziehungsgeflecht zwischen Politik undMedien in aller Munde. Auch die Ankün-digung vorgezogener Neuwahlen durchFranz Müntefering und Gerhard Schröderam 22. Mai 2005 war zunächst einmal"nur" ein medial vermitteltes Kommunika-tionsmanöver zur Eindämmung des öffent-lichen Flurschadens anlässlich der deutli-chen Niederlage der SPD bei den Land-tagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Bevorüberhaupt mit der Abarbeitung der politi-schen Prozesskette begonnen werdenkonnte, an deren Ende die Auflösung desBundestages durch den Bundespräsidentenund die Verfassungsklagen in Karlsruhestanden2, nutzte die SPD-Doppelspitze dieMedienöffentlichkeit zur kommunikativenEntgegnung auf die an der Wahlurne geäu-ßerten "Stimme des Volkes". Bereits hierwird deutlich, dass gängige Beschreibun-gen der Mediendemokratie gerne ein zen-trales Element dieser Akteurskonstellationunterschlagen: die Wählerschaft, bezie-hungsweise das Publikum.

Zerlegt man den Begriff der Mediendemo-kratie nämlich in seine bedeutungstragen-den Bestandteile, so findet man hier nichtzwei, sondern drei relevante Einheiten: die

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"Medien", das "Volk" (demos) und das"Herrschen" (kratein). Zuallererst wärealso fest zu halten, dass bei einer Betrach-tung des Gegenstandes nicht allein die Be-reiche "Medien" und "Politik" – und ihrerProtagonisten, den Politikern und Journa-listen – in den Blick genommen werden,sondern stets auch die Rezeptionsebenemitgedacht werden muss. In vielen Textenzum Thema ist dies jedoch nicht der Fall,das Publikum wird nur selten beachtet,obwohl es Medien und Politik miteinanderverklammert: es nutzt sowohl die Ange-bote der Medienanbieter (dann in seinerursprünglichen Publikumsrolle) wie auchdie der Politiker (nicht nur, aber vor allemin seiner Rolle als Wählerschaft). For-schungspraktisch kann dieser Befund kaumüberraschen, ist es doch weit wenig-er schwierig, Untersuchungsgegenstände,Materialien und Experten aus den promi-nenten Systemen Medien und Politik zugewinnen – dem stets etwas amorphenPublikum ist dagegen weniger gut aufanalytischem Wege beizukommen.

Dennoch hat vor allem die "PolitischeKommunikationsforschung" die zuneh-mende Verschränkung des politischen mitdem medialen System heraus gearbeitetund auf ganz unterschiedlichen Wegenzeigen können, dass die Nutzung vonKommunikationskanälen aller Art sichnicht nur episodisch auf einzelne Personen,Prozesse und Ereignisse beschränkt. Viel-mehr sind inzwischen alle relevanten Un-tersuchungsebenen von Politik in unter-schiedlicher Intensität mit medialen Ober-flächen und Hintergründen verbunden. DerBegriff der "Mediendemokratie" ist folge-richtig längst als wichtiges Segment indiesen noch eher jungen Forschungsbe-reich der Politikwissenschaft integriertworden.

Angesichts von Fernsehduellen und Talk-shows sowie dem allgemeinen Trend zum"Politainment" (Andreas Dörner) kannohne allzu große Mühe konstatiert werden,dass Politik – zumindest in den Demokra-

tien westlichen Typs – nahezu durchgängigmedienvermittelt ist. Allerdings darf auchein überreicher Beispielvorrat nicht dazuverleiten, "Bild, BamS und Glotze" (Ger-hard Schröder) zu sehr ins Zentrum wis-senschaftlicher Analyse zu rücken. Diematerielle Vorbereitung, Diskussion, Aus-handlung und schließlich die "Herstellungkollektiv verbindlicher Entscheidungen"(Niklas Luhmann) ist und bleibt ein hochkomplexer Prozess, der bis auf weiteresnur innerhalb komplizierter Akteursge-flechte stattfindet. Die Medien, die nichtausschließlich, aber doch wesentlich aufden Bereich von Politikdarstellung undihrer Vermittlung ausgerichtet sind, stellendamit einen wichtigen Komplementär zumpolitischen Administrations- und Entschei-dungsapparat dar. Auch über die Funktio-nalität eines solchen Gegenstücks zumpolitischen System gibt es reichhaltigeMaterialien – die Zuschreibung als "VierteGewalt", die als eine Art Spiegel das Ge-schehen beobachtet und es zugleich kon-trolliert, kann als populärste Variante derBeschreibung des Beziehungsgeflechtsgelten. Doch gerade neuere Untersuchun-gen zeigen, dass eine eher simple Strukturaus (politischem) "Reiz" und (medialer)"Reaktion" längst nicht mehr ausreicht, umdie Topografie moderner "Mediendemo-kratien" zu beschreiben.3

Vieles spricht dafür, dass die Entwicklungdes Fernsehens zum so genannten "Leit-medium" großen Anteil daran hatte, dienoch vergleichsweise klare Positionierungder Medien als "Vierte Gewalt" allmählichzu überwinden. In den Zeiten des öffent-lich-rechtlichen Rundfunk-Monopols undden eher langsam-räsonnierenden Printme-dien schien die Rollenverteilung relativklar: die Politiker agierten, die Journalistenreagierten.4 Aus der kontinuierlichen Beo-bachtungssituation "von außen" ist all-mählich ein Wachposten entstanden, derstets ein oder mehrere Augen auf das poli-tische Entscheidungshandeln geworfenhatte. Mit dem Aufkommen des privatenRundfunks, der Explosion der Programm-

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angebote und schließlich der weiterentechnologischen Entwicklung hin zu denneuen, computervermittelten Medien wan-delte sich die zuvor noch übersichtlichePolitik- und Medienlandschaft sukzessivein ein komplexes Beziehungsgeflecht, indem keineswegs von vornherein geklärt ist,wer agiert und wer reagiert.

Die Debatte um das Verhältnis von Politikund Medien ist kompliziert und längstnicht abgeschlossen: wie die Literaturlagezeigt, ist "Mediendemokratie" ein offenes,flexibles Konstrukt, das sich mit dem– in welche Richtung auch immer – fort-schreitenden Wandel gesellschaftlich rele-vanter Medientechnologien stets weiter-entwickeln wird.

Mit Blick auf die vorliegende Literatur isteine kontinuierliche Entwicklung desBegriffs der "Mediendemokratie" kaumnachzuzeichnen. Grund dafür ist die fas-settenreiche, diskontinuierliche Bearbei-tung der Thematik, die zudem über ver-schiedene Disziplinen gestreut ist. Daherhaben sich bislang weder ein festerBegriffsapparat noch ein zugehörigerAnalyserahmen entwickelt, der die syste-matische Erschließung von Forschungser-gebnissen erleichtern könnte – diese Situa-tion hält viele Protagonisten jedoch nichtdavon ab, die Chiffre rege zu gebrauchen:Politiker, Medienvertreter, Journalistenwetteifern geradezu um den Einsatz derVokabel, ein Verweis auf die Begriffs-karriere oder eine Definition findet sich inden seltensten Fällen.

Im Groben teilt sich die akademische Be-arbeitung der Thematik vor allem in eineher politikwissenschaftlich und ein eherkommunikations- bzw. medienwissen-schaftlich geprägtes Lager. Die ertrag-reichsten Arbeiten entstanden freilich ander Schnittstelle dieser "disziplinären Ver-werfungslinie", wo sich inzwischen auchprofessionelle Bearbeitungsinstanzen her-aus gebildet haben.5 Die dauerhafte Ausei-nandersetzung mit Fragen aus dem Bereich

Medien und Politik garantieren darüberhinaus spezialisierte Forschungseinrich-tungen, Institute und Zentren, die sich derThematik angenommen haben. Auffälligist dabei, dass erst vergleichsweise spät dieersten Monografien und Sammelbändeveröffentlicht wurden, die sich ausführlichmit dem Verhältnis von Politik und Me-dien als eigenständige, gesellschaftlicheTeilsegmente auseinander gesetzt haben.6

Bei einer knappen historischen Rückschaudarf man vermuten, dass die "Konjunktur-schwankungen" der Forschungs- und Pub-likationstätigkeit zur Mediendemokratieentlang politischer und technologischerWegmarken verlaufen sind. So gab derAufbruch des öffentlich-rechtlichen Sen-dermonopols durch die Einführung privaterFernsehsender im Jahr 1984 indirekt denStartschuss für eine Intensivierung auchder akademischen Auseinandersetzung.7

Doch erst zu Beginn der 90er-Jahre, als dieZahl der privaten Fernsehkanäle massivanstieg und dadurch das Programmangebotdeutlich erweitert wurde, erschienen dieersten Sammelbände und Monografien, dieeine systematische Verbindung von Politikund Medien untersuchten.8

Zu einer vertieften Behandlung des Ge-genstandes führte auch die Tagung derDeutschen Gesellschaft für Politikwissen-schaft aus dem Jahr 1996, die sich derThematik "Demokratie und Politik in derInformationsgesellschaft" gewidmet hatte.9

Durch solch kollektive Auseinanderset-zungen steigt häufig auch die fachwissen-schaftliche Akzeptanz von Forschungs-themen,10 sodass in der Folge zahlreicheArbeiten aus der politischen Kommunika-tionsforschung sowie Medien- und Publi-zistikwissenschaft die ökonomisch-systemische und prozessuale Verflechtungvon Politik und Medien untersuchten.11

Im Zuge einer kontinuierlichen Auseinan-dersetzung erfolgte fast zwangsläufig auchdie Ausdifferenzierung und Spezialisierungder Forschung: medienorientierte Karriere-

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verläufe von Politikern12 oder die rechtli-che Dimension der Mediendemokratie13

rückten in das wissenschaftliche Interesse.Zudem schilderten auch vermehrt Politikerihre Wahrnehmung der medialen Dauerbe-obachtung.14

Schließlich markiert mindestens seit demEnde der 90er-Jahre die sogenannte "En-tertainisierung" der Politik einen Schwer-punkt der Analysen, wobei vor allem eineAuswanderung der Politik(er) aus den"harten" Nachrichten in "weiche" Unter-haltungsformate diagnostiziert wird.15 Dar-über hinaus gehend wurde auch die Ver-flechtung von Politik mit fiktionalen Me-dienumgebungen thematisiert, die in denBereich der politischen Kultur einwirkenund der Unterhaltungsorientierung Vor-schub leisten können.16

Schließlich brachte das Wahljahr 2002 dieendgültige Etablierung des Begriffs derMediendemokratie mit sich, der gleich inmehreren Sammelbänden Titelstatus er-langte17 und zudem als Angelpunkt zahlrei-cher wissenschaftlicher Konferenzveran-staltungen fungierte.18 Den bislang aus-führlichsten und systematischsten Versuch,das umfangreiche Feld zu bearbeiten, un-ternimmt jedoch der Sammelband "Politi-sche Kommunikation in der demokrati-schen Gesellschaft", ein "Handbuch mitLexikonteil", das von einem prominentenHerausgebergremium entwickelt und koor-diniert wurde. Ein wesentliches Ziel dabeiwar, die besondere Relevanz politischerKommunikation sowohl für die Forschungwie auch für die praktische Anwendung –eben in "Politik und Medien" – deutlich zumachen. Die Herausgeber stießen dabei aufmassive Probleme, weil "[d]ivergierendenormative Anforderungen, spezifische the-oretische Ausgangspunkte, unterschied-lichste Untersuchungsgegenstände, fach-systematische Routinen und Methodensowie abweichende empirische Befunde"19

eine konsistente Systematisierung er-schwerten.20

Ähnliche Probleme bei Herleitung undSystematisierung stellen sich natürlichauch im Rahmen einer ungleich knapperenAbhandlung – eine schlüssige, sozialwis-senschaftlich wie medienhistorisch ab-gesicherte Herleitung des Begriffs der"Mediendemokratie" wartet noch immerauf die Bearbeitung im Rahmen einerselbstständigen Untersuchung. Vor dieserEntwicklung lassen sich also mit den tech-nischen Grundentwicklungen, professio-nellen Verflechtungen zwischen Politikund Medien, der Ausbildung medialerKernformate verschiedene "Bausteine derMediendemokratie"21 unterscheiden, vondenen nachfolgend lediglich ein einzigerheraus gegriffen werden soll – die allmäh-liche Digitalisierung der Mediendemokra-tie, die sich in der wachsenden Bedeutungdes Internet für politische Prozesse undStrukturen nachweisen lässt.

2. Digitale Politikprozesseund politische Innovationen

Wie bereits angedeutet, haben technologi-sche Innovationen im Medienbereich stetsfür wesentliche Veränderungen im Bezie-hungsgeflecht zwischen Politik und Me-dien gesorgt: so erfolgte Mitte des 20.Jahrhunderts im Zuge verbesserter Aus-strahlungs- und Übertragungsentwicklun-gen die sukzessive Ausbildung "mehrglei-siger" Mediensysteme – als Produkt reichtdie institutionelle Verankerung und Kon-trolle öffentlich-rechtlicher und privaterRundfunkanbieter bis in die Gegenwartpolitisch-medialer Arrangements.22 DasAufkommen neuer Produktions- und Emp-fangstechniken rund um den Prozess der"Digitalisierung" liefert seit Mitte der 90er-Jahre Impulse für eine fortgesetzte Moder-nisierung der Massenmedien. Anders alsbei bisherigen Entwicklungssprüngen der"Medienevolution" steht dabei jedoch we-niger die senderseitige Übertragungsinfra-struktur im Mittelpunkt, sondern eine Viel-zahl von Endgeräten auf Empfän-

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gerseite, die im Verbund mit der neuenKommunikationsumgebung Internet zu-nehmend auch dazu geeignet sind, als"Sendestationen" eingesetzt zu werden.Diese "Änderung des Schaltplans" (PeterGlotz) im Gefüge der Massenmedien be-reitet schließlich den Boden für explizitpolitische Impulse der Mediennutzung –nötigenfalls auch außerhalb der etabliertenStrukturen politischer Akteure.23

Während sich die Verflechtungsthesen derMediendemokratie-Debatte nahezu aus-schließlich um die "alten elektronischenMassenmedien" gruppieren, geraten dieVeränderungen im Beziehungsgeflechtzwischen Politik und "neuen Medien" bis-lang nur selten in den Blick. Unstrittig sindverschiedene Auswirkungen digitaler, in-teraktiver Kommunikationsformen aufzahlreiche Bereiche des politischen Sys-tems. Gemeint ist damit zumeist, dass sichdurch die Nutzung neuer Medien Beteili-gungschancen eröffnen, neue politischeAkteure entstehen, bekannte Verfahren undMechanismen des politischen Arbeitsall-tags werden mal behutsam, mal radikalrenoviert werden oder politische Regulie-rungsinteressen gänzlich neue Betätigungs-felder erfassen. Unklar ist dagegen die je-weilige "Wirkungstiefe" der digitalen Neu-erungen – meist wird die "Digitalisierung"lediglich als ein Oberflächenphänomenwahr genommen, aus dem einige neue po-litische Kommunikationsprozesse hervor-gegangen sind. Mehr jedoch nicht – gravie-rende Auswirkungen auf "Systemebene"werden dagegen nicht vermutet, das Inter-net gilt noch immer als eher kurzlebigesModephänomen mit begrenzter Reichweiteund Einflusskraft.

Ein präziser politikwissenschaftlich gelei-teter Blick auf und hinter die Phänomen-ebene kann jedoch verdeutlichen, dass inden vergangenen Jahren zahlreiche "digi-tale Politikprozesse" entstanden sind, derenInnovationspotenzial längst nicht auf derOberfläche verbleibt, sondern massiv in

die Vorbereitung, Organisation und Um-setzung politischen Handelns hinein wirkt.

Exemplarisch lässt sich dies mit der Skiz-zierung verschiedener "digitaler Politik-prozesse" verdeutlichen, die in unter-schiedlichen Ausprägungen auf der Ak-teurs- und Prozessebene von Politik ent-standen sind.24

Als typische "digitale Politikprozesse"können gelten:

− die wachsende Bedeutung digi-taler Parteienkommunikation (Etablie-rung von Parteien- und Politiker-Websites, Erweiterung von Bürger-Politiker-Kommunikation, Rekrutierung/Mobilisierung von Unterstützergruppenetc.)

− die Möglichkeiten digitaler Parteienor-ganisation (Entstehung virtueller Partei-gliederungen, Durchführung von Inter-net-Parteitagen etc.)

− digitale Parlamentskommunikation(Modernisierung von institutionsinter-nen Kommunikationswegen und me-diengestützte Organisation verschiede-ner parlamentarischer Arbeitsprozesse)

− digitale Regierungskommunikation(gestufte Adressierung unterschiedlicherZielgruppen zum Zweck der Politik-vermittlung, allmähliche Ablösung be-währter Kooperationsstrukturen durcheigenständige Medienservices)

− die Etablierung von Online-Wahl-kämpfen (Aufbau und Pflege vonWahlkampf-Websites, Wahlkampffi-nanzierung via Internet, Entstehung di-gitaler Kampagnenformate etc.)

− digitale Bürgerbeteiligung (Entstehung"digitaler Bürgervereine", Etablierungbürgerorientierter Online-Angebote,Einflussnahme auf politisches Agenda-Setting etc.)

− Online-Gesetzgebung (Vorbereitung,Beratung, Diskussion, Publikation undRevision von Gesetzesvorlagen und-texten im Internet)

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− Online-Wahlen (Entwicklung, Erpro-bung und Einführung der Möglichkeitendigitaler Stimmabgabe)

− Online-Protest (Reaktion auf tagespo-litische Ereignisse, Organisation undDurchführung von Online-Protest-aktionen im Rahmen von Kampagnen(z.B. Informationsfreiheit, Urheber-recht, Globalisierungskritik).

Diese knappe Auflistung stellt gewisser-maßen eine systematisierte Bilanz derWirkungen von Online-Kommunikationdar – kann dabei allerdings nur den aktu-ellen Stand der Entwicklung wiedergebenund ist bei künftigen technologischen In-novationen stets zu aktualisieren.25

Auch wenn es sich bei einer Einschätzungder Auswirkungen neuer Medientechnolo-gien auf politische Prozesse nur um eine"Momentaufnahme" handeln kann – nachgut zehn Jahren scheinbar pausenloserProduktion kommunikationstechnischerInnovationen ist eine nüchterne Betrach-tung von Reichweite und Nachhaltigkeitangezeigt. Dabei zeigt sich recht schnell,dass viele dieser "Internet-Impulse" aufdeutlichen Widerstand innerhalb des politi-schen Systems gestoßen sind. Die nachfol-gend skizzierten Beispiele aus dem viel-schichtigen Prozess-Reservoir sollen illus-trieren, welche innovativen Elementeüberhaupt zu beobachten waren und wo-durch sie limitiert und eingegrenzt wurden.

Für eine nähere Diskussion ausgewähltwurden Beispiele, die verschiedene Akteu-re, Prozesse und Kommunikationsformendes politischen Systems umfassen. So il-lustriert der Einfluss neuer Medien auf dieOrganisations- und Kommunikationsarbeitder großen Mitgliederparteien den notwen-digen Reformprozess eines traditionsrei-chen Trägers politischen Engagements(2.1), während der Bereich der digitalenBürgerarbeit (2.3) auf mögliche Konkur-renten außerhalb der etablierten Institutio-nenlandschaft verweist. Die digitaleStimmabgabe (2.2) ist dagegen als typi-

scher Politikprozess zu werten, der unterden Bedingungen neuer Medien eine Mo-dernisierung zu erfahren scheint. Weblogs(2.4) markieren schließlich auf einer Mik-roebene die Veränderungen politischerKommunikationsvorgänge aus ganz unter-schiedlichen Perspektiven, da sie sowohlals Verlautbarungsorgan von (Partei-)Eliten, als Korrektiv von der Basis oder alsunabhängige "Stimme von außen" einge-setzt werden können.

2.1 Digitale Parteienorganisation

Der Begriff der "digitalen Parteienorgani-sation" bezeichnet die Entstehung unter-schiedlicher, internet-basierter Parteiorga-ne als Ergänzung zur klassischen hierarchi-schen Mitgliederstruktur. Typische Bei-spiele hierfür stellen der Virtuelle Ortsve-rein der SPD (www.vov.de), der Landes-verband Internet der FDP (www.fdp-lv-net.de), aber auch die Durchführung virtu-eller Parteitage durch den LandesverbandBaden-Württemberg von Bündnis90/DieGrünen (www.virtueller-parteitag.de) dar.Als "innovativ" gilt dabei insbesondere dieortsunabhängige Organisation der Mitwir-kung innerhalb der Parteistrukturen – an-ders als bei den konventionellen Ortsverei-nen findet eben keine lokale und regionaleZuordnung interessierter Bürger statt, son-dern die Gruppenbildung erfolgt entlangeines Themas sowie über den ausschließ-lich über die Website möglichen Zugang.Reagiert wird damit auf den sich verän-dernden Bedarf zur stärkeren räumlichenwie zeitlichen Flexibilisierung des partei-bezogenen Engagements – virtuelle Partei-strukturen ermöglichen insbesondere imFalle der virtuellen Ortsvereine oder Lan-desverbände eine zeitliche Entzerrung derAktivitäten und beschränken sie nicht aufeinen fest gelegten Regeltermin. Dies giltauch bei den notwendigerweise zeitlichbegrenzten virtuellen Parteitagen – derDiskussionszeitraum ist gegenüber denmeist auf wenige Tage ausgelegten "nor-malen" Parteitagen deutlich ausgeweitet

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und erlaubt in der Regel eine mehrwöchigeEntscheidungsvorbereitung.26

Mit Blick auf die Nutzer der digitalen Par-teienkommunikation fällt die Rekrutierungvorwiegend junger Teilnehmer auf – einwichtiges Projekt des virtuellen Ortsve-reins der SPD befasste sich folgerichtig mitder nachlassenden Beteiligung Jugendli-cher innerhalb und außerhalb der Parteien(www.vov.de/projekt-jugend/). Nicht zu-letzt bieten virtuelle Parteiorgane wichti-gen Raum für die Erprobung digitaler Ent-scheidungskommunikation, etwa internenDiskussionen, Umfragen oder Abstim-mungen. Insgesamt haben derartige Struk-turen bereits einen großen Beitrag zur Mo-dernisierung innerparteilicher Kommuni-kation geleistet, unter anderem auch durchdie Präsentation des Internet als neuen po-litischen Diskursraum anlässlich "realer"politischer Großereignisse wie etwa denBundesparteitagen der großen Volkspartei-en.27

Auf Grund der Vorgaben der Parteisatzun-gen und des Parteiengesetzes (§ 7, Gliede-rung), die eine "gebietliche Gliederung"auf physischer Basis erfordern, haben vir-tuelle Parteistrukturen bislang nicht denStatus vollwertiger "Parteigliederungen"erhalten können. Dieser enorme struktu-relle Nachteil gegenüber den ordentlichverfassten Parteigliederungen hat zu einemallmählichen "Austrocknen" der digitalenStrukturen geführt. Zwar sind sowohl der"Virtuelle Ortsverein" der SPD wie auchder "landesverband-net" der FDP nochaktiv, doch stagnieren die Mitgliederzahlenund auch der Einfluss auf die herkömmli-chen Parteistrukturen beginnt in Zeiteneiner "Normalisierung" des Internet nach-zulassen. Ein geeigneter Ausweg aus demparteiintern durchaus thematisierten Di-lemma von realer Mitgliedschaft und virtu-eller Organisation ist bislang noch nichtgefunden. Die fehlende Anerkennungdurch die Parteistatuten wurde bislangmeist über organisatorische Kniffe wie dieEinrichtung parteinaher Arbeits- oder Be-

ratungsgremien unter der Patenschaft vonBundespolitikern kompensiert, doch einedauerhafte Einbettung der Aktivitäten imDatenraum konnte dadurch nicht gewähr-leistet werden.28

Somit sind die virtuellen Parteistrukturenseit Gründung und Boom in den mittlerenbis späten 90er-Jahren zu "zahnlosen Ti-gern" geworden – das digitale Engagementarrangiert sich nur noch um wenige inter-netbezogene Themen (z.B. Urheberrecht,Datenschutz), scheint jedoch im organisa-torischen Abseits zu versanden.

2.2 Online-Wahlen

Die Einführung internet-basierter Verfah-ren zur Stimmabgabe bei politischenWahlen steht ebenfalls seit Beginn desgroßen Internet-Booms im Mittelpunkt derDebatte um die "Digitalisierung von Poli-tik". Ähnlich wie im Falle virtueller Partei-strukturen können auch hier einige Ele-mente ausgemacht werden, die Online-Wahlen als innovativen digitalen Politik-prozess kennzeichnen. Zu beachten sinddabei zunächst wiederum die durch dieMöglichkeiten des Internet gegebenenVeränderungen des individuellen Kommu-nikations- und Beteiligungsverhaltens: soist mit Blick auf Online-Wahlen nun diezeitliche und räumliche Flexibilisierungder Stimmabgabe denkbar, da der E-Mail-Versand von Wählerstimmen den Weg insWahllokal innerhalb eines eng definiertenZeitfensters ersetzen kann. Prinzipiell stelltdieses Verfahren lediglich die Aktualisie-rung und Beschleunigung des längst reali-sierten Briefwahlverfahrens dar und könntesomit eine Anpassung an das tatsächlicheWahlverhalten vieler Bürger erkennen las-sen, die zunehmend Wahllokal und Urnemeiden und stattdessen von unterwegs oderzu Hause per Post abstimmen. Neben die-sen nutzerseitigen Veränderungen ist durchdie zunehmende Technisierung des Ver-fahrens von einer Beschleunigung desAuszählungsverfahrens auszugehen, die

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einher gehen kann mit zusätzlichen Über-prüfungsmöglichkeiten nach der Wahl.Erfahrungen mit dem Einsatz digital ge-stützter Abstimmungssysteme aus derSchweiz zeigen darüber hinaus, dass dieTechnisierung des Verfahrens durchauseine Alternative zu personellen Engpässenbei der Rekrutierung von WahlhelferInnendarstellt.29

Den positiven Erfahrungen zum Trotz –die größtenteils auch nur in nicht öffentli-chen Wahlsituationen wie Betriebsrats-oder Hochschulparlamentswahlen gemachtwurden – dominieren noch immer grundle-gende Sicherheitsbedenken und das Ge-spenst der digitalen Wahlfälschung oder-manipulation die Debatte. Die Entwicklervon Online-Wahlsystemen setzen dagegenauf die Nutzung sicherer Verschlüsse-lungstechniken und eine zukünftig flä-chendeckende Verbreitung digitaler Sig-naturen zur eindeutigen Identifizierung derWählerschaft.30

Durchaus begründete Kritik an Online-Wahlen liefert dagegen ein Blick auf denUmgang mit den grundgesetzlich festge-schriebenen Wahlrechtsgrundsätzen derallgemeinen, freien, gleichen, geheimenund unmittelbaren Wahl. Diese Perspektivemacht schnell deutlich, dass bei einer Ein-führung von Online-Wahlen insbesondereder Grundsatz der geheimen Wahl nichtmehr uneingeschränkt garantiert werdenkann. Durch die Ermöglichung der digita-len Stimmabgabe über "virtuelle Wahlka-binen", die potenziell nicht nur auf demheimischen PC, sondern auch auf mobilenKommunikationseinrichtungen installiertwerden könnten, ist nicht mehr gewähr-leistet, dass Wähler und Stimme im Au-genblick der Stimmabgabe "mit sich allei-ne sind". Stattdessen könnte der Wahlgangstärker als eine Form der "politischenGruppenaktivität" rekonstituiert werden.31

Einen weitaus praxisorientierteren Hemm-schuh stellen dagegen die aktuelle Wahlge-setzgebung sowie Verordnungen über den

Einsatz technischer Wahlhilfen dar. Schondie Zuständigkeit der Wahlorganisation aufkommunaler Ebene verlagert die finan-zielle Dimension auf Städte und Gemein-den, darüber hinaus sind wichtige Beg-riffsbezeichnungen noch viel zu unklar, umauf digitalisierte Wahlverfahren übertragenzu werden.32 Ein letztes Hindernis bei derEinführung von Online-Wahlen stellenschließlich die unterschiedlichen politi-schen Einschätzungen über die Folgen ei-ner Einführung solcher Verfahren für dieWahlbeteiligung dar. Ein derartiges"Klienteldenken" vermutet einerseits beijüngeren Wählerschichten eine höhere Af-finität für die Formen digitaler Stimmab-gabe, während andererseits die Furcht be-steht, dass ältere Menschen von solchenAngeboten nicht profitieren könnten.33

Abschließend gilt auch hier festzuhalten,dass sich die "politische Innovationskraft"internet-gestützter Verfahren zur Stimm-abgabe keinesfalls ungehindert entfaltenkann, sondern auf eine Vielzahl von Limi-tierungen innerhalb des politischen Sys-tems gestoßen ist. Des Weiteren ist davonauszugehen, dass die Einführung von On-line-Wahlen nicht allein von der technolo-gischen Leistungsfähigkeit der Systemeoder der Akzeptanz in der Wählerschaft,sondern auch von Modernisierungsbereit-schaft und -wille politischer Akteure ab-hängt.

2.3 Digitale Bürgerarbeit

Geradezu als Innovationskatalysator hatdie Kommunikationsumgebung Internetbei der Entstehung neuer Politikakteuregewirkt. Seit der Ausbreitung des Netzesüber die grafische Oberfläche des WorldWide Web sind zahlreiche Ein-Themen-Organisationen entstanden, die nicht nurzur horizontalen Vernetzung politikinteres-sierter Bürger, sondern auch zur Einbin-dung bürgerseitiger Expertise in laufendePolitikprozesse geführt hat. Typischerwei-se bilden sich derartige Kommunikations-

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gemeinschaften entlang akuter Problemla-gen oder Interessenstrukturen und führenzunächst zu einer wechselseitigen Infor-mation über ein bestimmtes Thema, die ineiner zweiten Phase stärkere Kommunika-tions- oder auch Kampagnenanteile enthält.Beispielhaft wäre etwa die Beteiligung anlokalen Planungs- oder Mediationsverfah-ren im Rahmen städtischer Bau- und Ent-wicklungsprojekte. Netzakteure überneh-men dabei nicht selten eine Rolle als Kor-rektiv gegenüber anderen Akteuren impolitischen Prozess (Parteien, Unterneh-men, Verbänden, Interessenvertretungen)und führen bürgerseitige Meinungen undExpertise in meist lokal, häufiger aber auchthematisch begrenzte Diskussionsstruktu-ren. Aktuell können etwa die öffentlicheDebatte um die Modernisierung des Urhe-berrechts, der Streit um die Einführungeines Informationsfreiheitsgesetzes odergenerelle Fragen des Datenschutzes alsexemplarische Aktionsfelder für eine"digitale Bürgerbeteiligung" gelten.34

Nach der anfangs häufig losen Organisa-tion entlang eines Themenfeldes ist inzwi-schen in mehreren Fällen die allmählicheVerstetigung der Diskussion und die For-malisierung der Aktivitäten im Rahmenverfasster Strukturen zu beobachten. Re-sultate einer kontinuierlichen "digitalenBürgerteiligung" in Deutschland sind imRegelfall die Gründungen so genannter"Netzvereine". Diese eingetragenen Verei-ne lenken die Bürgeraktivitäten im Internet– zumindest formal – in geregelte Bahnenund bieten den Akteuren ein Mindestmaßan Organisationssicherheit und auch Aner-kennung innerhalb des jeweiligen politi-schen Aktionsbereiches. Gegenstand derVereinstätigkeit sind dann zumeist der Be-trieb einer thematisch ausgerichteten In-formations- und Kommunikationsplatt-form, die bisweilen auch die Organisationvon Online-Aktionen und -Kampagnenumfasst.

Die solchermaßen "digital" organisierteBürgerarbeit wirkt auf die Inhalte öffentli-

cher Diskussionen um Internet-bezogenePolitikbereiche ein und beeinflusst durchgezielte Aktionen und beständige Informa-tionsbereitstellung die Agenda der politi-schen Akteure und leistet inzwischen einennicht zu unterschätzenden Beitrag zur In-formations- und Meinungsvermittlung ausder "politischen Öffentlichkeit" in den po-litischen Entscheidungsbereich hinein.Immer häufiger erhalten Vertreter aus sol-chen Netzvereinen als Themenanwälte undExperten auch einen direkten Zugriff aufaktuelle Politikprozesse, etwa im Rahmenregulärer Parlaments- und Ausschussarbeitoder in der Arbeit spezialisierter Gremienwie Kommissionen oder Räten.35

Diesen in den letzten Jahren massiv gestie-genen Beteiligungschancen stehen jedochabermals Probleme und Grenzen gegen-über. Zuvorderst beschränkt der bei dauer-hafter Auseinandersetzung notwendigehohe Ressourceneinsatz die Leistungsfä-higkeit der Akteure – dabei ist weniger derBedarf an Finanzmitteln ausschlaggebend(in dieser Hinsicht hat das Internet ressour-censchonende Wirkung), häufiger fehlt esan der für eine erfolgreiche Arbeit benö-tigten Zeit, da die meisten Bürger ihr En-gagement für Netzvereine auf ehrenamtli-cher Basis leisten. Hinderlich und motiva-tionshemmend wirkt sich darüber hinausdas bislang geringe Interesse und die man-gelnde Anerkennung seitens etablierterpolitischer Akteure für diese neuartigeForm bürgerseitiger Beteiligung aus. Den-noch scheinen sich die Netzvereine alsdauerhafter Impulsgeber für den politi-schen Prozess etablieren zu können, nichtzuletzt, da sie als flexible Strukturen gutauf thematisch und zeitlich wechselndeBeteiligungsinteressen einzelner Bürgerreagieren können. Zu fragen bleibt, inwie-fern zukünftig ein produktiver Austauschmit etablierten Akteuren im Kernbereichpolitischer Systeme oder auch mit anderen

Akteursformen, etwa aus dem Umfeld so-zialer Bewegungen oder "herkömmlichen"

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Nichtregierungsorganisationen, entstehenkann.

2.4 Weblogs

Nicht nur in institutioneller oder organisa-torischer, auch in technologischer Hinsichtlassen sich noch weitere "politische Inno-vationen" skizzieren: so war im Rahmender Vorwahlen im US-Präsidentschafts-wahlkampf im Frühjahr 2004 erstmals dieRede von sogenannten "Politiker-Weblogs". Der demokratische AspirantHoward Dean hatte mit dem Angebot blog-foramerica.com damals neue Maßstäbe inder Wahlkampfkommunikation eines Ein-zelkandidaten gesetzt. Technisch gesehenhandelt es sich bei den Weblogs um einebesondere Form des "digitalen Tagebuch-schreibens" – auf einer derartigen Schreib-und Leseplattform gibt in der Regel eineinzelner Autor den kommunikativen Taktvor und publiziert meist knappe Texte, diehäufig um einen thematischen Mittelpunktkreisen. Durch ihre besondere technologi-sche Beschaffenheit ermöglichen Weblogsden Lesern eine automatisierte Mitwirkungan der Entwicklung eines Textkörpers mitquasi-kollektiver Autorenschaft.36

Da sich Wahlkampagnen zuletzt immermehr als "Countdown zum Wahltag" ent-wickelt haben und die Aktivität der Kandi-daten von den Medien "von Tag zu Tag"begleitet wird, können Weblogs tatsächlichals äußerst adäquate Werkzeuge zur Be-reitstellung von Kampagneninformationgelten. Wichtig für die Einordnung im Ge-füge des Online-Wahlkampfs ist die starkePersonalisierung von Weblogs – in denmeisten Fällen steht eine Einzelperson imZentrum der Schreibtätigkeiten, die mitihren Berichten, Reportagen oder auch nuroriginellen Info-Fundstücken eine Struktu-rierung der Kommunikation vornimmt.Zwar sind dauerhaft funktionierendeWeblogs auf die Mitwirkung der Leser-schaft angewiesen, doch kommt derBetreiberrolle zentrale Bedeutung für den

Erfolg (oder Misserfolg) solcher Angebotezu. Diese Struktur begünstigt demnach denEinsatz von Weblogs als Kampagnenin-strument für einzelne Kandidaten und we-niger im Rahmen einer übergreifendenParteistrategie.

War der Europawahlkampf 2004 nur einschwacher Vorlauf zum Einsatz politischerWeblogs, so gibt der verkürzte Wahlkampfzur vorgezogenen Bundestagswahl 2005einen präziseren Eindruck von denEinsatzmöglichkeiten dieses neuen politi-schen Kommunikationsformates. Aller-dings war die Option des vollwertigen Po-litiker-Weblogs Deanscher Prägung wäh-rend der Phase der Neuwahldiskussionrund um das Misstrauensvotum vom 1. Juli2005 nicht die erste Wahl in der deutsch-sprachigen "Blogosphäre". Der Regelfalldes unverhofften Wahlsommers warendagegen eher "Sammel-Weblogs" in jour-nalistisch orientierten Umfeldern: so hattenbeispielsweise die Internet-Plattformenfocus.de und politikerscreen.de parteiüber-greifende Autorenteams gebildet, derenErfahrungen aus dem Wahlkampf für einenbegrenzten Zeitraum auf den Seiten derdigitalen Mediendienstleister zusammengefasst wurden. Damit wurden jedoch le-diglich alte Formate im neuen technischenGewand frisch aufgewärmt: das Muster dernach Parteienproporz engagierten Gast-Kolumnisten hatte sich bereits in der Be-richterstattung zu den Bundestagswahlen1998 und 2002 gefunden. Allerdings deu-ten selbst diese "unechten" Weblog-Angebote bereits die zu erwartende Flutpolitikbezogener Erlebnisberichte an – diekommunikationstechnischen Erleichterun-gen des Weblog-Schreibens werden füreine weitere Explosion des verfügbarenMaterials aus dem Wahlkampf sorgen undInformationsrecherche und Navigation fürAußenstehende nicht gerade leichter ma-chen. Die entscheidende Rolle für eineinnovative Nutzung dürfte dabei die Ver-netzung der Weblogs untereinander dar-stellen – wird das eigene Format lediglichals weiterer "top-down"-Kanal zur Vertei-

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lung von Inhalten genutzt, geraten die ei-gentlich spannenden Funktionen zur Ver-netzung von Diskussionssträngen ver-schiedener Weblog-Angebote in den Hin-tergrund.

In einer nur vorläufigen Zusammenfassungkönnen Kandidaten-Weblogs dennoch alsinnovative Form der Bürgeradressierungverstanden werden. Ähnlich wie Politiker-Chats, die eine Direktansprache der Bür-gerschaft vorbei an klassischen Mittler-strukturen ermöglichen, stellen Weblogseinen neuen medialen "Vertriebsweg" fürpolitische Akteure dar. Insbesondere zuWahlkampfzeiten erscheint das personen-bezogene Weblog, das den individuellenVerlauf der Kampagne nachzeichnet unddabei der Leserschaft Möglichkeiten zueiner Art "textueller Beteiligung" bietet,als zeitgemäßes Werkzeug zur Gestaltungvon Wahlkampfkommunikation.

Auffällig präsent im "ad-hoc-Wahlkampf"des Jahres 2005 waren dagegen unabhän-gige, "zivilgesellschaftliche" Weblogs, dieden Wahlkampf aus einer partei-externenPerspektive im Weblog-Format begleitet,beobachtet und kommentiert haben. Auchhierbei waren unterschiedliche Ausprägun-gen zu notieren, neben Angeboten, dieausschließlich von Einzelautoren verfasstwurden, kamen auch zahlreiche "Grup-penblogs" zum Einsatz. Dabei beteiligtensich i.d.R. mehrere Autoren unterschiedli-cher Provenienz an der gemeinschaftlichenErstellung eines wahlbezogenen Angebotesund beleuchteten Wahlkampfverlauf und-ereignisse aus je verschiedenen Perspekti-ven.37

Neben den wahlkampforientierten Web-logs hat das Kommunikationsformat desWeblog jedoch auch als neuartiger Kanalder Bürgerkommunikation für Furore ge-sorgt. Die technologisch bedingt hoheKontrolle über die Inhalte, die der oderdie Autoren über das KollektivproduktWeblog haben, ermöglicht in besonderenKonstellationen die Produktion einer alter-

nativen Medienöffentlichkeit. Besondersdeutlich sichtbar wurde dies im Falle desprominenten Berichterstatters "SalamPax", der zu Zeiten des Irak-Krieges miteinem Weblog an den restringierten Kanä-len des "Pool-Journalismus" vorbei überdie "wahren Begebenheiten" in Bagdadberichtete38. Ähnliches konnte für den un-mittelbaren Zeitraum nach der umstrittenenStichwahl zur Präsidentschaftswahl in derUkraine im November und Dezember 2004beobachtet werden – hier hat sich einekleine Gruppe von Internet-Aktivisten derErstellung "digitaler Augenzeugenberich-te" von der Situation in der Ukraine undvor allem der Hauptstadt Kiew verschrie-ben. Dabei wurden nicht allein Texte vonalltäglichen Erlebnissen vor dem Parla-ment oder bei Protestaktionen dokumen-tiert, sondern durch die Verwendung vonBildmaterialien ein vergleichsweise kon-kretes Bild von der unklaren Situation zwi-schen manipulierter Stimmabgabe, Ver-weigerung der Anerkennung der Wahl undmöglicher Organisation einer Wahlwieder-holung gezeichnet. Die Möglichkeit zurweitgehend ungefilterten Publikation vonNachrichten "aus erster Hand" wurde zurStärkung und Reichweitensteigerung derOppositionsarbeit genutzt und diente derHerstellung von Transparenz und öffentli-cher Kontrolle in einer unübersichtlichenpolitischen Krisensituation.39

Inwiefern Weblogs als politisches Kom-munikationsformat ebenfalls an Grenzenstoßen, ist bislang noch schwer einzuschät-zen. Vor allem in Deutschland befindetsich dieses Format der politischen Online-Kommunikation noch in der Test- und Ex-perimentierphase und wird insbesonderedurch den vorgezogenen Wahlkampf zu-nächst einen ersten, weitgehend ungestör-ten "Boom" erleben. In den USA sind in-zwischen längst professionelle Weblog-Angebote entstanden, die eigenes publizis-tisches Gewicht gewonnen haben und fol-gerichtig zu Arrangements mit politischenAkteuren geführt haben.40 Dass Weblogsdurchaus in der Lage sind, innerhalb der

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Medienlandschaft für Aufmerksamkeit undAufregung zu sorgen, hat das so genanntenBILDblog (www.bildblog.de) unter Be-weis gestellt. Das Angebot beobachtet undkommentiert verkürzt formulierte oderschlicht falsche Artikel der BILD-Zeitungund hat sich so bereits als "mediales Kor-rektiv" etablieren können. Ähnliche Funk-tionen (und Problempotenziale) sind auchfür politik-orientierte Weblogs denkbar,wenn etwa einzelne Politikerinnen oderPolitiker auf persönlichen Seiten dezidiertvon der Parteimeinung abweichende Posi-tionen beziehen oder Kritik an Konkur-renten oder Parteifreunden üben.

3. Neue Medien –Neue Mediendemokratie?

Vor der Hintergrund der skizzierten Bei-spiele "politischer Innovationen" durchneue Formate und Anwendungen von On-line-Kommunikation sollen nun abschlie-ßend mögliche Konsequenzen für die Aus-prägung der Mediendemokratie untersuchtwerden. Grundsätzlich basieren dabei jeg-liche Überlegungen auf der zunehmendenBedeutung medialer Präsentationsflächenfür politische Inhalte, Prozesse und Struk-turen. Insofern erscheint es nur logisch,dass jeder mediale Wandel auch Verände-rungen "mediendemokratischer Struktu-ren" nach sich ziehen muss. Damit gerätnun die technologische Dimension derMediendemokratie in den Blick.

3.1 Was sind "neue Medien"?

Unter dem Sammelbegriff der "neuen Me-dien" wurde seit Mitte der 1990er Jahreeine Vielzahl von Medienumgebungenzusammen gefasst, die insbesondere ausder Annäherung und dem allmählichenVerwachsen "alter Medien" (v.a. Fernse-hen/Video, Rundfunk, Print) mit Tele-kommunikationsanwendungen (Telefon,Datenfernübertragung, Mobilfunk, u.a.)sowie verschiedenen Produkten der Infor-

mationstechnik (v.a. Personal Computerund zugehörige Peripherie) entstandensind. Eine systematische Klassifizierungund Unterscheidung "alter" und "neuer"Medien ist angesichts eines permanenten,schnellen und dabei sprunghaften Ent-wicklungsprozesses kaum möglich undauch nur bedingt sinnvoll. Gleichwohl ha-ben viele – i.d.R. medienhistorisch vorge-hende – Untersuchungen immer wiederversucht, Trennlinien einzufügen und dabeinicht selten übersehen, dass alle Medien imKontext ihrer jeweiligen Entstehung immerauch "neue Medien" waren.

Bei den zahlreichen Klassifizierungsversu-chen wurden meist eher technische Maß-stäbe angelegt, so galt die Entwicklungdigitaler Produktions-, Sende- und Emp-fangseinheiten als (letzter) wesentlicherScheidepunkt zwischen "alten" und "neu-en" Medienumgebungen. Die Möglichkei-ten zur Umwandlung analoger in digitaleSignale erleichterte einerseits die Speicher-und Kopierfähigkeit von Medieninhaltenund leistete auch der inzwischen längstweltweit möglichen Übertragung von In-formationen Vorschub. Die Ausweitungdieser Technologie auch auf die Produkti-onsweise "alter" Medien wie Zeitungen(digitale Satz- und Reproduktionsmöglich-keiten), Rundfunk ("Digital Audio Broad-casting") und Fernsehen (Digital-TV, "pay-per-view") macht auch diese Unterschei-dung jedoch zunehmend unbrauchbar.

Ebenso wenig ist eine Trennung entlangder Kategorien "Massen-" und "Individu-alkommunikation" haltbar, denn auch hierscheint die Kombination massenmedialerFormate (Fernsehen, Rundfunk, Zeitung)mit individuellen Nutzungs- und Gestal-tungsmöglichkeiten (Speicherung und zeit-versetzte Rezeption durch Videoaufzeich-nungen, "pay-per-view"-Verfahren, Abrufvon Informationen aus Datenbanken, indi-viduelle Rückkanal-Angebote) möglicheTrennlinien aufzulösen. In diesem Zusam-menhang hat sich als weitere Beschrei-bungsmöglichkeit die Unterscheidung von

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"push" und "pull"-Medien heraus gebildet.Kennzeichnend ist hier insbesondere derModus der Informationsbereitstellung:Während "push"- bzw. Verteilmedien In-halte an das Publikum verbreiten, domi-niert bei den "pull"- bzw. Nachfrageme-dien der Modus der Informationsabfragedurch die Benutzer. Innerhalb des – ver-kürzenden – Schemas von "alten" bzw."neuen Medien" gelten Verteilmedien alsalte, Nachfragemedien als Repräsentantenneuer Medienstrukturen.

Fest zu halten bleibt, dass in diesem konti-nuierlichen Prozess medialer Innovationimmer deutlicher der Begriff der "Medien-umgebung" zum Tragen kommt, der einintegriertes Verständnis von Medienpro-duktion, -übertragung und -nutzung nahelegt. Generell scheinen "neue Medien"in dieser Kommunikationslandschaft dieRolle der Nutzer stärker zu bewerten sowieoffener für neue Rezeptionsmuster und –strukturen zu sein. Dies bedeutet mit Blickauf die Konstruktion aktueller Medienöf-fentlichkeiten vor allem eine Aufwertungdes Publikums, das nun nicht mehr nur aufden passiven "Gebrauch" vorproduzierterMedieninhalte beschränkt zu sein scheint.

3.2 Was ist "neue Mediendemokratie"?

An dieser Stelle liegt ein Anknüpfungs-punkt zum Ausgangspunkt der Überlegun-gen. Wird der Begriff der "Mediendemo-kratie" ernst genommen, dann muss auchin einer analytischen Perspektive das Pub-likum eine relevante Rolle einnehmen.Dabei leistet das Aufkommen digitaler,interaktiver Medienumgebungen eine Art"empirischer Schützenhilfe". Die zahlrei-chen neuen politischen Kommunikations-angebote, die seit Ende der 90er-Jahre vor-nehmlich zum Einsatz im Internet konzi-piert worden sind, unterscheiden sich vonanderen medialen Formaten vor allemdurch die Einbeziehung der Nutzer in denKommunikationsprozess41. Die typischenErscheinungsformen der Mediendemokra-

tie "alten Typs" waren stets als reine "Sen-deformate" gestaltet, da die medientechni-sche Basis der traditionellen Massenme-dien kaum etwas anderes zuließ. Erst dievielfältigen Online-Angebote politischerAkteure erlauben eine offenere Struktur,die auch den Nutzern Beteiligungs- undGestaltungsmöglichkeiten an mediende-mokratischen Prozessen eröffnet.

Im Spiegel einer ebenso nüchternen wiekritischen Betrachtung offenbaren die mitviel Euphorie und Vorschusslorbeerenausgestatteten Online-Projekte verschie-denster Prägung zahlreiche Mängel (vgl.Abschnitt 2). Die nicht selten prognosti-zierte "Beteiligungsrevolution" durch dasInternet ist bislang ausgeblieben, der An-bruch eines "neuen athenischen Zeitalters"(Al Gore) mit einer Wiederbelebung desdemokratischen Diskurses auf der digitalenAgora ist bis auf weiteres nicht in Sicht.Stattdessen haben sich viele der nur ver-meintlich nutzer-orientierten und damit"interaktiven" Online-Projekte lediglich als"alter Wein in neuen Schläuchen" entpuppt– eine "Bürgersprechstunde" wird nichtallein dadurch besser und zielorientierter,dass sie als Online-Chat im Internet stattfindet. Partei- oder Wahlprogramme wer-den nicht wirksamer, wenn sie ganz mo-dern als "Download" auf einer Wahl-kampf-Website bereit gestellt werden. Undauch die Akzeptanz von Politikern steigtnicht deshalb an, weil eine wichtige Redeoder Ansprache auch als Video-Botschaftauf Partei-Homepage oder Weblog nach-zulesen sind. Häufig haben die institutio-nellen Anbieter politischer Online-Kommunikation die Möglichkeiten einesneuen Kommunikationsumfeldes schlicht-weg verkannt und nutzen das Internet nochimmer im Stile eines herkömmlichen"Verteilmediums". Dabei nähern sich eini-ge Formate der Online-Kommunikation antypische Erscheinungsformen der Medien-demokratie an: vor allem die ereignisbezo-genen Politiker-Chats werden längst stär-ker zur Selbstdarstellung der prominentenChat-Gäste genutzt, als zur ergebnisorien-

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tierten Diskussion mit einer interessiertenBürgerschaft.42 Auch die Präsentation vonParteien und einzelnen PolitikerInnendurch aufwändig gestaltete Websitesnimmt immer stärker die Züge eines "poli-tischen Anzeigenwesens" an, das von Pla-katwänden, Print-Anzeigen oder TV-Spotssattsam bekannt ist. Statt stärker auf Nut-zer- oder diskussionsbezogene Bestandteilezu setzen, überwiegt bei vielen politischenAngeboten im Internet der Trend zurdurchgestylten Oberfläche, bei gleichzeitiggeringer Publikumsorientierung.

Damit soll jedoch keinesfalls der neuenMedienumgebung die Fähigkeit zur Mo-dernisierung der Mediendemokratie abge-sprochen werden, denn es gibt durchausAnlass zur Hoffnung. Selbstverständlichfinden sich auch bürgerorientierte undwenn man so will, im besten Sinne demo-kratische Angebote im Netz. Allerdingssind solche "Graswurzel-Projekte" nichtmehr allzu leicht zu finden. Zumeist sindes Bürgerprojekte oder Protestkampagnen,die das eigentliche politische Potenzial desInternet immer wieder neu ausloten undnutzen. Allerdings wird es in der zuneh-mend kommerziell geprägten Internet-Landschaft für solche Projekte immerschwerer, sich gegen die professionellenAnbieter politischer Online-Informationenzu behaupten – dies sind in erster Linie dieüblichen Verdächtigen: die Online-Ablegergroßer Medienkonzerne, öffentlich-rechtliche Dienstleister und nicht zuletztdie politischen Akteure selbst.

Allmählich zeichnet sich dabei eine ähnli-che Entwicklung wie in den "alten Me-dien" ab – professionelle politische Kom-munikation gewinnt an Bedeutung und esherrscht ein gesteigerter Konkurrenzkampfzwischen Medien- und Politikanbietern.Die Aufgabenbereiche der Politikberaterschließen längst den Kommunikationsraum

Internet mit ein, während politische Akteu-re verstärkt nach der Hoheit im medialenDarstellungs- und Deutungskampf suchen.Allein – Leid Tragender ist einmal mehrdas Publikum oder in der politischen Vari-ante, die Bürger- und Wählerschaft. Den-noch darf an dieser Stelle nicht in ein La-mento verfallen werden, von einer "Kolo-nisierung der Politik durch die Medien"wie sie Thomas Meyer in seiner Untersu-chung der "Mediokratie" festgestellt hat43,kann mit Blick auf das Internet aller skiz-zierten innovationsfeindlichen Tendenzenzum Trotz nicht die Rede sein. Dazu han-delt es sich beim digitalen, interaktivenKommunikationsraum Internet um einallzu flexibles, vernetztes und – nicht zu-letzt – nutzerorientiertes Medium.

Einer technischen Struktur, die tendenzielljeden Teilnehmer mit "Senderechten" aus-statten kann, ist mit den üblichen Kon-trollmechanismen und -bestrebungen nichtbeizukommen. Auch innerhalb einer zu-nehmend kommerzialisierten Netzstrukturbieten sich immer wieder technologischeund inhaltliche Lücken, in die eine imbesten Sinne bürgerorientierte Kommuni-kation schneller stoßen kann als die hochgerüsteten Apparate von Politik und Me-dien. Aktuelle Beispiele liefern etwadie zutiefst "individuell" ausgerichteten"Weblogs", die längst auf dem Weg zueiner sozialen Bewegung befindliche"Open Source"-Kultur44 oder die Verfech-ter "freier Netzwerke"45, die eine offeneFlanke der digitalen Mediendemokratiemarkieren. Entlang dieser Bruchlinie zwi-schen Politik- bzw. medienorientierter An-bieterkultur und einem zunehmend selbst-bewusster agierenden "Publikum" wirdsich die Mediendemokratie weiter entwi-ckeln. Der aktuelle Zustand ist – wie stetsin der bisherigen Entwicklungsgeschichteder Mediendemokratie – nicht mehr alseine Momentaufnahme.

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Bibliographie

Bieber, Christoph: Parteienkommunikationim Internet, in: Oscar W. Gab-riel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss(Hrsg.), Parteiendemokratie inDeutschland, Bundeszentrale für poli-tische Bildung, Bonn 2002, S.555-572.

Leggewie, Claus/Bieber, Christoph: De-mokratie 2.0. Wie tragen neue Medienzur demokratischen Erneuerung bei?,in: Claus Offe (Hrsg.): Demokratisie-

rung der Demokratie. Diagnosen undReformvorschläge, Frankfurt 2003,S.124-151.

Sarcinelli, Ulrich: Von der Parteien-zur Mediendemokratie. Das BeispielDeutschland, in: Heribert Schatz/Otfried Jarren/Brigitte Knaup (Hrsg.),Machtkonzentration in der Multime-diagesellschaft? Beiträge zu einerNeubestimmung des Verhältnisses vonpolitischer und medialer Macht, Opla-den 1997, S.34-45.

Anmerkungen

1 Bieber, Christoph/Leggewie Claus (Hrsg.):Interaktivität. Ein transdisziplinärer Schlüssel-begriff, Frankfurt/New York 2004.

2 Eckpunkte der verkürzten und daher unterbesonderer medialer Beobachtung stehendenPhase der Wahlorganisation lieferten dieLandtagswahlen in Nordrhein-Westfalen mitder Ankündigung des Vorziehens der Bundes-tagswahl (22. Mai), das von Gerhard Schröderinitiierte Misstrauensvotum (1. Juli), die Bun-destagsauflösung und Ansetzung der Neuwahlauf den 18. September durch BundespräsidentHorst Köhler (21. Juli) sowie die Verhandlungüber die Verfassungsklagen von WernerSchulz (B'90/Die Grünen) und Jelena Hoff-mann (SPD) im August.

3 Meyer, Thomas: Was ist Politik? Opladen2000, S.179f.

4 Eine theoretische Entsprechung findet diesesModell vor allem in den Überlegungen vonJürgen Habermas, der die medienvermittelteKonstruktion von Öffentlichkeit als "Bühnen-modell” skizziert hat; vgl. Habermas, Jürgen:Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frank-furt/M. 1990; Habermas, Jürgen: Faktizität undGeltung. Beiträge zur Diskurstheorie desRechts und des demokratischen Rechtsstaats,Frankfurt/M. 1992.

5 Als federführend gilt hier der Arbeitskreis"Politik und Kommunikation”, der zahlreicheForscherInnen aus den entsprechenden Fach-verbänden "Deutsche Vereinigung für Politi-sche Wissenschaft " (DVPW) und "DeutscheGesellschaft für Publizistik und Kommunika-tion” (DGPuK) zusammen führt. Regelmäßigveranstaltet der Arbeitskreis Tagungen, Konfe-renzen und Workshops, die sich jeweils aufspezielle Fragestellungen konzentrieren. Die

daraus entstehenden Publikationen können alswichtige Wegmarken der Politischen Kommu-nikationsforschung gelten (vgl. dazu auchwww.phil.uni-passau.de/politik/apuk/).

6 Selbstverständlich haben mit der Verbreitungder Massenmedien stets herausragende Me-dienereignisse (für die Politik v.a. Wahlkämp-fe) die wissenschaftliche Aufmerksamkeit aufsich gezogen, doch die Vermutung eines Sys-temzusammenhangs von Politik und Medienfindet sich erst seit den 90er-Jahren in regel-mäßiger Folge in der deutschsprachigen Lite-ratur.

7 Im Bereich der Politischen Kommunikations-forschung zeigte dieser "epochale Bruch” al-lerdings erst in den frühen 90er-Jahren Wir-kung, als größere Studien eine Verflechtungoder gar das Zusammenwachsen der beidenBereiche diagnostizierten. Die eigentlichenUmstände und Bedingungen dieses funda-mentalen "Medienwandels” wurden nur inAusnahmefällen zeitnah bearbeitet, vgl.Kubicek, Herbert : Kabel im Haus – Satellitüberm Dach. Ein Informationsbuch zur aktu-ellen Mediendiskussion, Reinbek 1984, Jäckel,Michael/Schenk, Michael (Hrsg.): Kabelfern-sehen in Deutschland: Pilotprojekte, Pro-grammvermehrung, private Konkurrenz. Er-gebnisse und Perspektiven, München 1991 undmussten daher in aufwändigen Archivarbeitenrekonstruiert werden, vgl. Bleicher, JoanKristin (Hrsg.): Programmprofile kommer-zieller Anbieter: Analysen zur Entwicklungvon Fernsehsendern seit 1984, Opladen 1997.Ein wesentlicher Schritt in Richtung "Medien-demokratie” wurde also beinahe übersehen.

8 Böckelmann, Frank E. (Hrsg.): Medienmachtund Politik. Mediatisierte Politik und Werte-wandel, Berlin 1989; Boventer, Hermann

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(Hrsg.): Medien und Demokratie: Nähe undDistanz zur Politik, Konstanz 1993; Jäckel,Michael/Winterhoff-Spurk, Peter (Hrsg.): Po-litik und Medien. Analysen zur Entwicklungder politischen Kommunikation, Berlin 1994;Jarren, Otfried/ Schatz, Heribert/ Weßler,Hartmut (Hrsg.): Medien und politischer Pro-zess. Politische Öffentlichkeit und massenme-diale Politikvermittlung, Opladen 1996;Marcinkowski, Frank: Publizistik als autopoi-etisches System: Politik und Massenmedien;eine systemtheoretische Analyse, Opladen1993; Merten, Klaus/ Schmidt, Siegfried J./Weischenberg, Siegfried (Hrsg.): Die Wirk-lichkeit der Medien, Opladen 1994.

9 Rohe, Karl (Hrsg.): Politik und Demokratie inder Informationsgesellschaft, Baden-Baden1997.

10 Im Falle der "Mediendemokratie” gilt diesnoch immer: so veranstaltete die Deutsche Ge-sellschaft für Publizistik und Kommunikati-onswissenschaft (DGPuK) 2002 ihre internati-onale Jahrestagung in Dresden zum Thema"Chancen und Gefahren der Mediendemo-kratie" (vgl. die Beiträge zur Tagung inDonsbach, Wolfgang/Jandura, Olaf (Hrsg.):Chancen und Gefahren der Mediendemokratie,Konstanz 2003.

11 Marcinkowski, Frank (Hrsg.): Die Politik derMassenmedien, Köln 2001; Sarcinelli,Ulrich/Schatz, Heribert (Hrsg.): Mediendemo-kratie im Medienland? Inszenierung und The-mensetzungsstrategien im Spannungsfeld vonMedien und Parteieliten am Beispiel der nord-rhein-westfälischen Landtagswahl im Jahr2000, Opladen 2000.

12 Jäckel, Michael/Winterhoff-Spurk, Peter(Hrsg.): Politische Eliten in der Mediengesell-schaft. Rekrutierung – Darstellung – Wirkung,München 1999; Leggewie, Claus: "You – justdo it." Der unglaubliche Donald Trump oder:Unternehmer als Politiker als Fernsehheldenin: Berliner Debatte Initial. Zeitschrift für so-zialwissenschaftlichen Diskurs 11, 1/2000,S.9-18; Voigt, Rüdiger: Phönix aus der Asche.Die Geburt des Staates aus dem Geist der Po-litik, Baden-Baden 2003, S.99-127.

13 Hoffmann-Riem, Wolfgang: Mediendemokra-tie als rechtliche Herausforderung, in: DerStaat, .2/2003. S.193-223; Voigt, Rüdiger: DieGesetze der Mediendemokratie, in: Hoch-schulkurier der Universität der BundeswehrMünchen 6/1999.

14 Schäuble, Wolfgang: Mediendemokratie – dieSicht des Politikers. Vortrag zum 32. Cappen-

berger Gespräch der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Berlin 2001. Online unterwww.wolfgang-schaeuble.de/reden/pdf/medi-endemokratie.pdf, zuletzt gesehen am 16.2.06;Geißler, Heiner: Unterhalten statt überzeugen?Politik als Entertainment, in: Ulrich Sarcinel-li/Jens Tenscher (Hrsg.), Machtdarstellung undDarstellungsmacht. Beiträge zu Theorie undPraxis moderner Politikvermittlung, Baden-Baden 2003; Hoffmann-Riem, Wolfgang: Po-litiker in den Fesseln der Mediengesellschaft,in: Politische Vierteljahresschrift 41, 1/2000,S.107-127.

15 Holtz-Bacha, Christina: Entertainisierung derPolitik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 31,1/2000, S.156-166; Leggewie, Claus: Bimbesund Brimborium. Das Ventura-Phänomen o-der: Politiker als Prominente, in: Kursbuch139: Die neuen Eliten, März, Berlin 2000,S.147-164.

16 Vgl. Dörner, Andreas: Politische Kultur undMedienunterhaltung. Zur Inszenierung politi-scher Identitäten in der amerikanischen Film-und Fernsehwelt, Konstanz 2000; Dörner,Andreas: Politainment. Politik in der medialenErlebnisgesellschaft, Frankfurt/Main 2001.

17 Alemann, Ulrich v./Marschall, Stefan (Hrsg.):Parteien in der Mediendemokratie. Wiesbaden;Rössler, P./Schatz, H./Nieland, J.-U. (Hrsg.):Politische Akteure in der Mediendemokratie.Neue Anforderungen an die politische Kom-munikation, Wiesbaden 2002 vgl. auchSarcinelli, Ulrich/Tenscher, Jens (Hrsg.):Machtdarstellung und Darstellungsmacht.Beiträge zu Theorie und Praxis moderner Po-litikvermittlung, Baden-Baden 2003.

18 Auch der verkürzte Bundestagswahlkampf2005 wird eine ausführliche Betrachtung derEreignisse aus sozial- und kommunikations-wissenschaftlicher Perspektive nach sich zie-hen, in den Mittelpunkt rücken dürfte dabeidas Fernsehduell. Vgl. zur Premiere diesesneuen "Kernformats" der Mediendemokratieim Jahr 2002 die Beiträge in Maurer, Mar-cus/Reinemann, Carsten (Hrsg.): Schröder ge-gen Stoiber. Nutzung, Wahrnehmung undWirkung der TV-Duelle, Wiesbaden 2003.

19 Jarren, Otfried/Sarcinelli, Ulrich/Saxer, Ulrich(Hrsg.): Politische Kommunikation in der de-mokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mitLexikonteil, Opladen/Wiesbaden 1998, S.13.

20 Die Herausgeber sahen sogar von der Auf-nahme des Begriffs im Lexikonteil ab, wenn-gleich zahlreiche verwandte Begriffe sehrwohl Erwähnung finden, wie etwa "Medien-

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system”, "Publikum”, "Öffentlichkeit” oderdiverse Kommunikationsvorgänge auf unter-schiedlichen politischen Akteurs-Ebenen.

21 Zur näheren Bestimmung solcher "Bausteine"vgl. insbesondere Bieber, Christoph: Bausteineder Mediendemokratie. Ein Werkstattbericht,in: Politische Bildung, 4/2003. S.8-22., diesebreit angelegte Übersicht und Bestandsauf-nahme fungiert als Basis für die Überlegungenin Abschnitt 1 des vorliegenden Textes.

22 Zur Ausgestaltung moderner Mediensystemeinternational vergleichend siehe Jarren,Otfried/Donges, Patrick u.a. (Hrsg.): Der öf-fentliche Rundfunk im Netzwerk von Politik,Wirtschaft und Gesellschaft. Eine komparativeStudie zu Möglichkeiten der Absicherung desPublic Service, Baden-Baden 2001, Hans-Bredow-Institut (Hrsg.): Internationales Hand-buch Medien 2004/2005, Baden-Baden 2004,für Deutschland einführend: Meyn, Hermann:Massenmedien in Deutschland. Konstanz2004, Strohmeier, Gerd: Politik und Massen-medien. Eine Einführung, Baden-Baden 2004.

23 Präziser zur Bedeutung medialer und sozialerEntwicklung siehe auch Bieber, Christoph:Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit,Frankfurt/New York 1999, S.58-89 und 186-199.

24 Eine ausführlichere Herleitung, insbesondereeine aufschlussreiche Chronologie einzelnerProzessphasen sowie Querverbindungen zwi-schen den hier heuristisch voneinander ge-trennten Teilbereichen, kann an dieser Stellenicht geleistet werden. Vgl. dazu grundlegendBieber, C.: Politische Projekte und Leggewie,Claus/Bieber, Christoph: Interaktive Demo-kratie. Politische Online-Kommunikation unddigitale Politikprozesse, in: Aus Politik undZeitgeschichte, 41-42/2001, S.37-45.

25 Mit Blick auf die aktuell zu beobachtendenNeuerungen im Umfeld der "Digitalisierungvon Medien" ist insbesondere von Auswirkun-gen durch Weblogs (siehe Abschnitt 2.4), kol-laborative Arbeitsumgebungen (z.B. wikipe-dia), der Open Source-Bewegung oder "FreienNetzen" (WLAN-Netzwerken) auszugehen.

26 Hebecker, Eike: Digitale Delegierte. Funktio-nen und Inszenierungsstrategien virtuellerParteitage, in: Alemann, Ulrich v./Marschall,S. (Hrsg.), Parteien in der Mediendemokratie,Wiesbaden 2002, S.232-255.

27 Thimm, Caja/Brauer, Andreas/Figura, Imke/v.Wülfing, Jessica: "Schön dass es trotz allerTechnik noch menschelt." Partizipationsprofi-

le, Argumentationsstrukturen und kommuni-kative Stile des virtuellen Parteitages, in: Hein-rich Böll Stiftung (Hrsg.): www.virtueller-parteitag.de. Untersuchungen zum 1. virtuellenParteitag von Bündnis90/Die Grünen in Ba-den- Württemberg am 24.11.-3.12.2000, 2001,S.18-36; Westermayer, Till: Zur Funktions-weise Virtueller Parteitage, in: ChristophBieber (Hrsg.), ParteiPolitik 2.0. Der Einflussdes Internet auf parteiinterne Kommunikati-ons- und Organisationsprozesse, Bonn 2001,S.48-71.

28 Allerdings deutet sich eine Wiederkehr der"parteilichen Vernetzung" in Form technolo-gieorientierter Arbeitskreise wie etwa den"Websozis" (www.websozis.de) an, einem Zu-sammenschluss sozialdemokratischer Web-master. Darüber hinaus könnten sich auch imUmfeld parteipolitisch orientierter Weblogswieder Online-Gemeinschaften formieren, diein ähnlicher Weise wie virtuelle Gliederungenauf parteiinterne Kommunikations- und Orga-nisationsprozesse einwirken.

29 Die Literatur zur Diskussion um die Imple-mentation von Online-Wahlen ist beständigangewachsen. Eine politikwissenschaftlichfundierte Einführung in die Thematik liefernfür Deutschland insbesondere die Beiträge inNeymanns, Harald/Buchstein, Hubertus(Hrsg.): Online-Wahlen, Opladen 2002, einenpraxisorientierten Vergleich internationalerAnsätze zum E-Voting liefert das Projekt"Vote électronique" der Schweizerischen Bun-deskanzlei (Online-Materialien unter www.admin.ch/ch/d/egov/ve/). Einschlägig für dieauf den Einsatz von Wahlmaschinen fokus-sierte US-amerikanische Situation sind die Ar-beiten im Rahmen des Caltech/MIT VotingTechnology Project (Online-Materialien unterwww.vote.caltech.edu/).

30 Einblicke in die praxisorientierte Beschäfti-gung mit der Thematik Online-Wahlen lieferninsbesondere die Projekte und Experimentemit der digitalen Wahl- und Abstimmungs-technologie. Exemplarische Pilotprojekte inDeutschland sind u.a. www.i-wahlen.de (e-Wahl/Steinbeis Transferzentrum Multimedia)oder www.i-vote.de (Universität Osnabrück).

31 Vgl. Buchstein, Hubertus: Präsenzwahl,Briefwahl, Onlinewahl und der Grundsatz dergeheimen Stimmabgabe, in: Zeitschrift fürParlamentsfragen, 4/2000. S.886-902.

32 Vgl. Kubicek, Herbert/Wind, Martin: Elektro-nisch wählen. Unterschiede und Gemeinsam-keiten von Online-Wahlen zum Studierenden-parlament und zum Bundestag, in: Verwaltung

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und Management. Zeitschrift für allgemeineVerwaltung, 3/2001, S.132-141.

33 In diese Richtung wies auch die Diskussionrund um die verbindliche Einführung vonE-Voting bei Regionalwahlen in Estland imMai 2005, vgl. dazu Gehrmann, Alva: E wieelektronisch, E wie Estland, in: Das Parlament,4.7.2005.

34 Allmählich bilden sich jedoch auch stärkerpolitik-fokussierte Akteure – ein Beispiel fürDeutschland liefert etwa die Kampagnenplatt-form campact e.V. (www.campact.de), die sichder digitalen Unterstützung verschiedener po-litischer Themen und Anliegen verschriebenhat.

35 Typische Beispiele für derartige Netzvereinesind etwa poldi-net. e.V., mikro e.V. oderFoeBuD e.V. Für eine ausführlichere Portrai-tierung derartiger Akteure vgl. Bieber, Chris-toph: Nutzungsbedingungen der neuen Infor-mations- und Kommunikationstechnologienfür bürgerschaftliches Engagement, in: En-quete-Kommission Zukunft des Bürger-schaftlichen Engagements" des DeutschenBundestages (Hrsg.): Bürgerschaftliches En-gagement und Zivilgesellschaft, 2001, S.241-249.

36 Die bislang vorliegende Literatur zu Techno-logie und Anwendungsmöglichkeiten vonWeblogs ist zuletzt sprunghaft angestiegen, ei-nen guten Überblick und Einstieg gibt Möller,Erik: Die heimliche Medienrevolution – WieWeblogs, Wikis und freie Software die Weltverändern, Hannover 2004.

37 In derartigen Gruppen-Weblogs war auch dieMitwirkung selbst "wahlkämpfender" Politi-ker- und Politikerinnen nicht unüblich. Bei-spiele für solche populären "Bundestagswahl-Weblogs" waren www.wahlblog.de, www.wahlblog05.de oder http://wahlen2005.blogspot.com/. Grundlegende Überlegungen zurZukunft politik-bezogener Weblogs formuliertSchmidt, Jan: Wahlkampf '05 in der Blo-gosphäre, in: politik-digital, 26.5.2005. Onlineunter www.politik-digital.de/edemocracy/wahlkampf/wahlkampf_blogosphere050525.shtml.

38 Pax, Salam: The clandestine diary of an ordi-nary Iraqi, New York 2003.

39 Dieses Muster der Weblog-Nutzung als Ergän-zung oder Korrektiv zur herkömmlichen Me-dienberichterstattung fand sich auch im Um-feld der Terroranschläge von London im Juli

2005 wieder. Unmittelbar nach den Bomben-anschlägen in öffentlichen Nahverkehrsmittelnberichteten zahlreiche Augenzeugen mittelsWeblog-Einträgen über persönliche Eindrückeund Erfahrungen. Zugleich wurden Weblogsauch als Medium zur individuellen Verarbei-tung der Anschläge genutzt, als Bürger dieMöglichkeit hatten, durch Weblog-Einträgeoder online veröffentlichte Fotos symbolischeUnterstützung für die Opfer zu artikulieren.

40 Ein Beispiel war die erstmalige Zulassung vonWebloggern als offiziell akkreditierte Journa-listen bei den Wahlparteitagen im Präsident-schaftswahlkampf 2004.

41 Bieber, C.: Politische Projekte, S.35-38 und186-200.

42 Diekmannshenke, Hajo: "Das ist aktive Poli-tik, Danke und Tschüss Franz". Politiker imChatroom, in: Michael Beißwenger (Hrsg.),Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion,Sozialität und Identität in synchroner compu-tervermittelter Kommunikation, Stuttgart2001, S.227-254.

43 Meyer, Thomas: Mediokratie. Die Kolonisie-rung der Politik durch die Medien, Frank-furt/M. 2001.

44 Hinter dem Begriff "Open Source" verbergensich Überlegungen zur gemeinschaftlichen Ar-beit an unterschiedlichen Projekten aus demBereich der IuK-Technologien. Entstanden istdie inzwischen weit reichende Bewegung vorallem aus der Praxis, den Quellcode ("Source")von Computerprogrammen öffentlich zu ma-chen und dadurch deren gemeinschaftlicheWeiterentwicklung zu ermöglichen. Inzwi-schen umfasst der Bereich auch Fragen ausden Bereichen geistiges Eigentum, digitalesUrheberrecht oder Inhaltsentwicklung, vgl.Grassmuck, Volker: Freie Software – zwi-schen Privat- und Gemeineigentum, Bonn2002.

45 Kennzeichnend für "freie Netze" ist vor allem,dass Bürgerinnen und Bürger die technologi-sche Vernetzung selbst in die Hände nehmen.So sollen eigene Kommunikationsstrukturenaufgebaut werden, die möglichst frei vonstaatlichen und privatwirtschaftlichen Zwän-gen sind. Inzwischen wird zu diesem Zweckhäufig auf die Technologie der Wireless LocalArea Networks (WLAN) zurückgegriffen, vgl.Medosch, Armin: Freie Netze – Die Ge-schichte, Politik und Kultur offener WLAN-Netze, Hannover 2003.

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Autorenverzeichnis

Bieber, Christoph, Dr.Wissenschaftlicher Assistent am Zentrumfür Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Gießen

Fetscher, Iring, Prof. Dr.Professor em. für Politikwissenschaft derUniversität Frankfurt am Main

Fischer, Karsten, Dr.Wissenschaftlicher Assistent am Institutfür Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin

Herb, Karlfriedrich, Prof. Dr.Lehrstuhl für Politische Philosophie undIdeengeschichte der Universität Regens-burg

Hidalgo, Oliver, Dr.Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr-stuhl für Politische Philosophie und Ideen-geschichte der Universität Regensburg

Maćków, Jerzy, Prof. Dr.Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissen-schaft (Schwerpunkt Mittel- und Ost-europa) der Universität Regensburg

Marti, Urs, PD Dr.Privatdozent am Philosophischen Seminarder Universität Zürich

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Verantwortlich:Dr. Reinhard C. Meier-WalserLeiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung

Herausgeber:Prof. Dr. Karlfriedrich HerbLehrstuhl für Politische Philosophie und Ideengeschichte der Universität Regensburg

Dr. Oliver HidalgoWissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Philosophie und Ideengeschichteder Universität Regensburg

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"Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen"

bisher erschienen:

Nr. 1 Berufsvorbereitende Programme für Studierende an deutschen Universitäten (vergriffen)

Nr. 2 Zukunft sichern: Teilhabegesellschaft durch Vermögensbildung (vergriffen)

Nr. 3 Start in die Zukunft – Das Future-Board (vergriffen)

Nr. 4 Die Bundeswehr – Grundlagen, Rollen, Aufgaben (vergriffen)

Nr. 5 "Stille Allianz"? Die deutsch-britischen Beziehungen im neuen Europa (vergriffen)

Nr. 6 Neue Herausforderungen für die Sicherheit Europas (vergriffen)

Nr. 7 Aspekte der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union (vergriffen)

Nr. 8 Möglichkeiten und Wege der Zusammenarbeit der Museen in Mittel- und Osteuropa

Nr. 9 Sicherheit in Zentral- und Südasien – Determinanten eines Krisenherdes

Nr. 10 Die gestaltende Rolle der Frau im 21. Jahrhundert (vergriffen)

Nr. 11 Griechenland: Politik und Perspektiven

Nr. 12 Russland und der Westen (vergriffen)

Nr. 13 Die neue Familie: Familienleitbilder – Familienrealitäten (vergriffen)

Nr. 14 Kommunistische und postkommunistische Parteien in Osteuropa – AusgewählteFallstudien (vergriffen)

Nr. 15 Doppelqualifikation: Berufsausbildung und Studienberechtigung – Leistungsfähige in derberuflichen Erstausbildung

Nr. 16 Qualitätssteigerung im Bildungswesen: Innere Schulreform – Auftrag für Schulleitungenund Kollegien (vergriffen)

Nr. 17 Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Westeuropa – Bilanz und Ausblick amBeginn des 21. Jahrhunderts (vergriffen)

Nr. 18 Auf der ewigen Suche nach dem Frieden – Neue und alte Bedingungen für die Friedens-sicherung (vergriffen)

Nr. 19 Die islamischen Staaten und ihr Verhältnis zur westlichen Welt – Ausgewählte Aspekte(vergriffen)

Nr. 20 Die PDS: Zustand und Entwicklungsperspektiven (vergriffen)

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Nr. 21 Deutschland und Frankreich: Gemeinsame Zukunftsfragen (vergriffen)

Nr. 22 Bessere Justiz durch dreigliedrigen Justizaufbau? (vergriffen)

Nr. 23 Konservative Parteien in der Opposition – Ausgewählte Fallbeispiele

Nr. 24 Gesellschaftliche Herausforderungen aus westlicher und östlicher Perspektive –Ein deutsch-koreanischer Dialog

Nr. 25 Chinas Rolle in der Weltpolitik

Nr. 26 Lernmodelle der Zukunft am Beispiel der Medizin

Nr. 27 Grundrechte – Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung

Nr. 28 Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung des zwanzigsten Jahrhunderts

Nr. 29 Spanien und Europa

Nr. 30 Elternverantwortung und Generationenethik in einer freiheitlichen Gesellschaft(vergriffen)

Nr. 31 Die Clinton-Präsidentschaft – ein Rückblick (vergriffen)

Nr. 32 Alte und neue Deutsche? Staatsangehörigkeits- und Integrationspolitik auf demPrüfstand (vergriffen)

Nr. 33 Perspektiven zur Regelung des Internetversandhandels von Arzneimitteln

Nr. 34 Die Zukunft der NATO (vergriffen)

Nr. 35 Frankophonie – nationale und internationale Dimensionen (vergriffen)

Nr. 36 Neue Wege in der Prävention (vergriffen)

Nr. 37 Italien im Aufbruch – eine Zwischenbilanz (vergriffen)

Nr. 38 Qualifizierung und Beschäftigung

Nr. 39 Moral im Kontext unternehmerischen Denkens und Handelns

Nr. 40 Terrorismus und Recht – Der wehrhafte Rechtsstaat

Nr. 41 Indien heute – Brennpunkte seiner Innenpolitik

Nr. 42 Deutschland und seine Partner im Osten – Gemeinsame Kulturarbeit im erweitertenEuropa

Nr. 43 Herausforderung Europa – Die Christen im Spannungsfeld von nationaler Identität,demokratischer Gesellschaft und politischer Kultur

Nr. 44 Die Universalität der Menschenrechte

Nr. 45 Reformfähigkeit und Reformstau – ein europäischer Vergleich

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Nr. 46 Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Direkte Demokratie inder Diskussion

Nr. 47 Die Zukunft der Demokratie – Politische Herausforderungen zu Beginn des21. Jahrhunderts

Ab der Ausgabe Nr. 14 stehen unsere Hefte unter www.hss.de auch zum Download zur Verfügung.


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