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Archiv_fur_Strafrecht (-) 2013, 1

Date post: 06-Jan-2016
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derecho penal aleman

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  • ISSN 0017-1956 Goltda m mer's Archiv fr Strafrecht Herausgegeben von Jrgen Wolter, Paui-Gnter Ptz, Wilfried Kper, Michael Hettinger ./

    Aus dem Inhalt

    _. 160 Jahre Goltdammer's Archiv fr Strafrecht -300 Jahre R.v. Decker's Verlag Jrgen Wolter/Wilfried Kper

    W Willensfreiheit, Kausalitt und Determination Christion Jger

    Humanistischer Kompatibilismus Eduardo Demetrio Crespo

    1/2013 160. Jahrgang Seiten 1-72

    Ist das Konzept strafrechtlicher Schuld nach 20 StGB durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften widerlegt? Bettina Weier

    Grenzen richterlicher Unabhngigkeit im Strafverfahren Hans-Heiner Khne

    Strafrechtliche, strafprozessuale und kriminologische Aspekte in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaftem< Heinz Mller-Dietz

    ' R. v. Decker

  • Goltdammer's Archiv fr Strafrecht (GA) Herausgegeben von Prof. Dr. Jrgen Wolter Universitt Mannheim (Schriftleitung) PauiGnter Ptz Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz a. D., Wachtberg Prof. Dr. Wilfried Kper Universitt Heidelberg Prof. Dr. Michael Hettinger Universitt Mainz

    Stndige Mitarbeiter: Ministerialdirigent Prof. Dr. F. Arloth, Mnchen Prof. Dr. Dres. h.c. M. Cancio Melid, Madrid Prof. Dr. M. Diaz y Garda Conlledo, Le6n Prof. Dr. A. Englnder, Passau Prof. Dr. G. Freund, Marburg Prof. Dr. W. Frisch, Freiburg i. Br. Prof. Dr. Dr. h.c. K. H. Gssel, Richter am BayObLG a. D., Mnchen Prof. Dr. Dr. h. c. W Gropp, Gieen Dr. H. Hilger, Ministerial-direktor im BMJ a. D., Bonn Prof. Dr. T. Hmle, Berlin Prof. Dr. A. Hoyer, Kiel Prof. Dr. C. Jger, Bayreuth Prof. Dr. Dr. h.c. H. Jung, Saarbrcken Prof. Dr. C. Kre LL.M., Kln Prof. Dr. Dr. h.c. mult. H.-H. Khne, Trier Ministerialdirigent Prof. Dr. M. Lemke, Potsdam Prof. Dr. Dr. h.c. D.-M. Luz6n Pefia, Alcali:i (Madrid) Rechtsanwalt Prof. Dr. H. Matt, Frankfurt/M. Prof. Dr. V. Militello, Palermo Prof. Dr. Dr. h.c. S. Mir Puig, Barcelona Prof. Dr. Dr. h.c. H. Mller-Dietz, Saarbrcken Vorsitzen-der Richter am BGH A. Nack, Karlsruhe Prof. Dr. H.-U. Paeffgen, Bonn Prof. Dr. M. Pawlik LL.M., Regensburg Richter am BGH Prof. Dr. H. Radtke, Karlsruhe Generalstaatsanwalt Dr. E. C. Rauten-berg, Brandenburg a.d.H. Prof. Dr. F. Riklin, Fribourg Prof. Dr. K. Rogall, Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. mult. C. Roxin, Mnchen Prof. Dr. K. Schmoller, Salzburg Prof. Dr. H. Schch, Mnchen Prof. Dr. Dres. h.c. F.-C. Schroeder, Regensburg Prof. Dr. Dr. h.c. mult. B. Schnemann, Mnchen Prof. Dr. Dr. h.c. J.-M. Silva Sdnchez, Barcelona Prof. Dr. P. de Sousa Mendes, Lissabon Richter am OLG Prof. Dr. J. Vogel, Tbingen Prof. Dr. M. Walter, Kln Rechtsanwalt Dr. K. Wasserburg, Mainz Prof. Dr. E. Welau, Bremen Prof. Dr. W Wohlers, Zrich Richter am OLG Prof. Dr. G. Wolters, Bochum Prof. Dr. R. Zaczyk, Bonn Prof. Dr. F. Zieschang, Wrzburg Prof. Dr. M. Zller, Trier

    Goltdammer's Archiv rlir Strafrecht (Zitierweise: GA) erscheint monatlich und ist durch den Buchhandel oder vom Ver-lag zu beziehen. Abonnementsbedingungen: Bezugspreise: Inland jhrlich 345,95 inkl. Versandspesen; Ausland jhrlich 351.95 inkl. Versandspesen. Einzelheft 28,95; Kndigungen sind jeweils 2 Monate vor Ende des Kalenderjahres mg-lich und dem Verlag schriftlich mitzuteilen, ansonsten verlngern sich Abonnements um ein Jahr. Die Abonnementsgelder werden jhrlich im Voraus in Rechnung gestellt, wobei bei Teilnahme am Lastschriftabbuchungsverfahren ber Bank-institute eine vierteljhrliche Abbuchung mglich ist. Bei Neubestellungen kann der Abonnent seine Bestellung inner-halb von 7 Tagen schriftlich durch Mitteilung an Hthig Jehle Rehm GmbH, Abonnementsservice, widerrufen. Zur Frist-wahrung gengt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs (Datum des Poststempels). Schriftleitung: Prof. Dr. ]rgm Wolter Redaktion Abhandlungen, Praxis, Berichte

  • 160 Jahre Goltdammer's Archiv fr Strafrecht -300 Jahre R. v. Decker's Verlag

    In diesem Jahr wird Goltdammer's Archiv fr Strafrecht 160 Jahre alt, und der Verlag der Zeitschrift- heute R. v. Decker, Verlagsgruppe Hthig Jehle Rehm GmbH, bei der Grndung des Archivs 1853 noch Verlag der Deckersehen Geheimen Ober-Hofbuchdru-ckerei - blickt auf eine zumindest 300-jhrige Geschichte zurck. ber die geschichts-trchtigen Wege von Archiv und Verlag ist- auch von den Unterzeichneten - schon hufi-ger berichtet worden. 1 Schon deshalb mgen heute einige wenige >>Erinnerungen>Knigliche Geheime Ober- und HofbuchdruckereiGe-dichte>Petrarca und Laura - ein Schauspiel in fnf Akten>Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen>Archivs fr Preuisches Strafrecht>150 Jahre Goltdammer's Archiv fr Strafrecht>Schrifttum

  • 2 Jrgen Wolter/Wilfried Kper GA2013

    Strafrechtslehre, Strafrechtspflege und Strafgesetzgebung (die die deutsche, europische und internationale Strafrechtswissenschaft mit der Praxis verbindet und als Mittler die Be-lange von Strafverteidigung, Verfassungs- und Polizeirecht besonders bercksichtigt). 8 Das breite Spektrum, auch mit dem Ziel einer wissenschaftlichen Europisierung des Straf- und Strafprozessrechts mit internationaler Strafrechtsdogmatik, wird durch den groen Kreis der Stndigen Mitarbeiter des Archivs erffnet, die dann auch manchen Besonderheiten der Zeitschrift den Weg ebnen- etwa der Rubrik >>Recht und Literatur9, dem Abdruck von Gesetzgebungsberichten und Gesetzentwrfen 10 und dem eigentlichen Dialog mit den Straf-rechtswissenschaften im Ausland, namentlich Spanien und Portugal - dann auch Latein-amerika-, ferner Italien, Griechenland und Japan. 11 Das Archiv versteht sich aber, unabhn-gig von der Vorbegleitung der Strafrechtslehrertagungen, auch als Heimat einer >>Wissen-schaftlichen Strafrechtsfamilie, so dass - wenn bei Autor und/oder geehrter Persnlichkeit eine Verbundenheit mit der Zeitschrift besteht - auf Geburtstagsgaben und Glckwnsche ebenso wie andererseits auf Worte des Gedenkens Bedacht genommen wird. 12

    Fr alle diese Kennzeichen und fr das weitere >>Markenzeichen des Archivs, die Buchbesprechungen 13, machen die Hefte 1/2013 und 2/2013, die ursprnglich zu einer groen Jubilumsausgabe zusammengefhrt werden sollten, erneut die Probe aufs Exem-pel. So enthlt das kommende Heft 2/2013 eine kleine Gedchtnisschrift fr den bedeu-tenden Strafrechtslehrer Detlef Krau (mit Beitrgen von Hrnte, Pieth, Dnkel/Morgen-stern, Jung, Marxen und Stratenwerth). Und das vorliegende Heft 112013 beginnt mit drei Abhandlungen (von Jger, Demetrio Crespo, Weij3er), die aus zwei Tagungen in den Jahren 2010 und 2011 ber >>Strafrecht und Neurowissenschaften in Barcelona und To-ledo hervorgegangen sind - wobei zugleich der spanisch-deutsche Wissenschaftsdialog fortgefhrt wird, der bei den Schwerpunkten des Archivs schon erwhnt worden ist. Die Rubrik >>Praxis wird mit einem Beitrag ber die >>Grenzen richterlicher Unabhngigkeit im Strafverfahren bereichert (Khne). Auch ist es kein Zufall, dass das Heft in der Ru-brik >>Recht und Literatur mit einer Abhandlung von Mller-Dietz ber >>Strafrechtliche, strafprozessuale und kriminologische Aspekte in Musils Roman >Der Mann ohne Eigen-schaften>mehreren Criminalisten (1880--1886) und Suppes (1897), ferner Kahler als erstem Stndigen Mitarbeiter (1898/ 1899): Bruns/Creifelds/Oeh/er/Wolter (Fn 1), VII.

    8 Zu den durchgehenden Leitmotiven und den wechselnden Schwerpunkten des Archivs in den Halbjahr-hundenen 1853-1899, 1900--1933/1944, 1953-2001 und nunmehr ab 2002 Wolter/KperGA 2003,2 ff., 11, 861; 2005, 1.

    9 Vgl. z. B. M/ler-Dietz GA 2003, 269, 907; 2005, 719; 2009, 699; 2011, 34; Kper GA 2003, 503; 2011, 706.

    10 AE-StB GA 2005, 553; AE-Leben GA 2008, 193. 11 Vgl. zuletzt etwa GA 2010,305 ff.; 2011,255 ff.; 2011,462 ff.; 2011,557 ff. Die Verstrkung der Verant-

    wonlichen von GA ab 2013 durch Professor Dr. Dres. h.c. Manuel Cancio Melia ist deshalb sehr will-kommen.

    12 Nheres ergibt ein Blick in die Jahresregister von 2003-2012 (das Inhaltsverzeichnis zum Jahrgang 2012 liegt an).

    13 Ab 2005 gepflegt von unserem Mitherausgeber Michael Hettinger; ein Verzeichnis ab 2005 ist abrufbar unter www.hjr-verlag.de/zeitschriftenGoltdammersArchivfrStrafrecht!Produktservice.

    14 Namentlich Hettinger, Englnder in Heft 1/2013 und Hettinger, Kre, Wasserburg, Zieschang in Heft 2/2013.

  • Willensfreiheit, Kausalitt und Determination Stirbt das moderne Schuldstrafrecht durch die moderne Gehirnforschung? *

    Von Professor Dr. Christian Jger, Bayreuth

    Die Schuldfrage ist ein ewiges Thema des Strafrechts und sein eigentliches Hauptproblem. 1 Mit der modernen Gehirnforschung sind dabei Erkenntnisse in unseren Gesichtskreis getreten, deren Bedeutung fr die Schulddiskussion nicht hoch genug eingeschtzt werden kann. In der zutreffenden berzeugung, dass der Blick des Juristen angesichts aktueller Befunde der Neurowissenschaft ber sein eigenes Gebiet hinausgehen msse, hat mein Freund und Kollege Eduardo Derne-trio Crespo, Professor an der Universitt Castilla-La Mancha (Toledo), im Jahr 2009 ein vom spanischen Ministerium fr Innovation und Wissenschaft gefrder-tes Forschungsprojekt unter dem Generalthema Neurociencia y Derecho penal: nuevas perspectivas en el ambito de Ia culpabilidad y tratamiento jurfdico-penal de la peligrosidad ins Leben gerufen. Hhepunkt dieses Projekts waren zwei in Barcelona und Toledo veranstaltete Tagungen, die einen einzigartigen interdiszip-linren Diskurs zwischen Neurowissenschaftlern, Psychologen und Juristen er-mglichten. Mit diesem und den beidenfolgenden Abhandlungen von Bettina Wei-er und Eduardo Demetrio Crespo werden nun bereits vor dem fr das Jahr 2013 geplanten Erscheinen des spanischen Tagungsbandes drei Beitrge vorab verf-fentlicht, in denen zum Teil brisante und hochaktuelle Aussagen der modernen Gehirnforschung nher beleuchtet werden.

    I. Einfhrung

    Ebenso wie technologische Gegebenheiten, so sind es gewiss auch biologische Realitten, die geeignet sind, dem Recht Grenzen zu setzen. 2 Durch die Leugnung menschlicher Willensfreiheit rttelt die moderne Gehirnforschung an den Grund-festen unseres Schuldstrafrechts und berhrt mit ihren neuartigen Thesen auch unsere Kausallehren. Denn ~~die neuronalen Prozesse, die bewusstem Erleben zu-grunde liegen, hngen danach allein mit den unbewussten neurobiologischen Prozessen zusammen ohne irgendeine Lcke, in der eine ~rein mentale< Aktivitt stattfinden knnte. 3

    Im Strafrecht wird seit jeher zwischen physisch und psychisch vermittelter Kausalitt unterschieden. 4 Man muss sich diesbezglich bewusst machen, dass die Verwendung dieses Begriffspaars nur sinnvoll sein kann, wenn man davon

    * Der Beitrag ist Herrn Professor Dr. Eduardo Demetrio Crespo als bescheidenes Zeichen des Dankes fr die von ihm in den Jahren 2010 und 2011 organisierten Tagungen in Barcelona und Toledo gewidmet.

    I So ausdrcklich Roxin, Bockelmann-FS, 1979, S. 279. 2 Dazu bereits Deutsch, Festschrift aus Anla des 10-jhrigen Bestehens der Deutschen Richterakademie,

    1983, S. 94. 3 G. MerkeVG. Roth, Freiheitsgefhl, Schuld und Strafe, in: Grn/Friedmann/Roth (Hrsg.), Entmoralisie-

    rung des Rechts, 2008, S. 62. 4 Erstmals verwendete diese Unterscheidung Frank, StGB, I. Aufl. 1897, 1 Anm. V 2.

  • 4 Christion Jger GA2013

    ausgeht, dass eine vollstndige naturgesetzliche Erklrung der menschlichen Wil-lensentschlieung zu verneinen ist. 5

    Die Antwort hierauf wird mageblich durch die Vorfrage bestimmt, ob die mo-derne Gehirnforschung zutreffend von einer mglichen vollstndigen neuronalen Fremdsteuerung menschlichen Verhaltens durch das Gehirn ausgeht. Ganz in die-sem Sinn wird aus neueren Untersuchungen tatschlich gefolgert, dass das limbi-sehe System das menschliche Verhalten vollstndig steuere. 6 Danach ist zwar das subjektive Erleben selbstbestimmten Verhaltens nicht prinzipiell in Frage zu stel-len. Jedoch sei dieses Empfinden eine reine Selbsttuschung, so dass sich der Mensch nur einbilde, fr sein eigenes Verhalten verantwortlich zu sein, ohne dass dies der Wirklichkeit entspreche.

    Modeme Vertreter dieser Auffassung sind insbesondere die Neurowissenschaftler Ger-hard Roth, Wolf Singer und Hans Markowitsch. 7 Den Kern ihrer Forschungen am menschlichen Gehirn bildet die Schlussfolgerung, dass sich das, was gemeinhin als Wil-lensfreiheit empfunden wird, ohne Widerspruch als physische Zustnde auffassen las-se. 8 Danach ist die Determination des Willensentschlusses durch neuronale Vorgnge im Gehirn eine Tatsache, die zu einer Verneinung von Willensfreiheit und Verschulden im herkmmlich verstandenen Sinn berechtige. Dennjede Person tat was sie tat, weil sie im fraglichen Augenblick nicht anders konnte.9 Roth schlussfolgert hieraus, dass insbeson-dere Gewaltstraftter fr ihr Handeln nicht zur Verantwortung gezogen und nach Schuld-kategorien bestraft werden drfen. 10 Aber auch unter den Juristen finden sich neuerdings Vertreter dieser Ansicht. 11 Ihre Intention ist dabei durchaus begrenswert: Die moderne Gehirnforschung soll belegen, dass der Straftter nicht einfach der Strafe unterworfen werden drfe, sondern gerade wegen seiner Unfhigkeit zum Andershandeln einer inten-siveren Betreuung im Vollzug bedrfe- vergleichbar mit den Forderungen, die der EuGH und das BVerfG fr die Sicherungsverwahrung aufgestellt haben. 12

    Ein frher Reprsentant dieser Strmung war der amerikanische Wissenschaftler Ben-jamin Libet. 13 Die Vertreter des Determinismus berufen sich zum Beweis der neuronalen

    5 Zutreffend Rothenfuer, Kausalitt und Nachteil, 2003, S. 35. 6 Vgl. zu deren Thesen im Einzelnen: Prinz, in: Hillenkarnp (Hrsg.), Neue Hirnforschung- Neues Straf-

    recht?, 2006, S. 51 ff.; ders., in: Cranach/Foppa (Hrsg.), Freiheit des Entscheidensund Handelns, 1996, S. 86 ff.; Roth, Denken, Fhlen, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, 2003, S. 494 ff.; Singer, Simon-FS, 2005, S. 532 ff.; ders., in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, 2004, S. 30 ff.; G. Merke/, Herzberg-FS, 2008, S. 3 ff.; R. Merke/, Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, 2008, S. 114 f. (dagegen aber Zaczyk GA 2009, 371); Schiemann NJW 2004, 2056 ff.; Spilgies HRRS 2005, 43 ff.; ders. ZIS 2007, !55 ff.; Wittmann, Szwarc-FS, 2009, S. 147 ff.

    7 Vgl. Roth (Fn 6) S. 250 ff.; Markowitsch, in: Magazin Focus Nr. 41, 2007 (Tatort Gehirn), S. 104, 112; Singer, Ein neues Menschenbild? Gesprche ber die Hirnforschung, 2003, passim.

    8 So Roth (Fn 6) S. 250. 9 Nachweis bei Kriele ZRP 2005, 185.

    10 Roth/Lck/Strber, in: Barton (Hrsg.), >>weil er fr die Allgemeinheit gefahrlieh ist!, Prognosegutachten, Neurobiologie, Sicherungsverwahrung, Interdisziplinre Studien zu Recht und Staat, Bd. 39, 2006, s. 335,337.

    II Vgl. etwa Grischa Detlefsen (nunmehr Grischa Merke{), Grenzen der Freiheit- Bedingungen des Han-deins-Perspektivedes Schuldprinzips, 2006; Schiemann NJW 2004, 2056 f. Neuerdings auch Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, passim.

    12 Vgl. G. Merkel/Roth (Fn 3) S. 85 ff. Zur Sicherungsverwahrung EGMR NJW 2010, 2495; EuGRZ 2011, 255; BVerfGE 109, 133; 109, 191; BVerfG NJW 2011, 1931; siehe auch BGH NStZ 2010, 567; NJW 2011, 240; NJW-Spezial2011, 408. - Grundlegend Drenkhahn/Morgenstem ZStW 124 (2012), 132; Hrnie NStZ 2011, 488, 489; Hffler/Kaspar ZStW 124 (2012), 87; Rissing-van Saan, Roxin-FS II, Bd. 2, 2011, S. 1173 ff.; Schch, Roxin-FS II, Bd. 2, S. 1193 ff.

    13 Libet, The Behavioral and Brain Sciences, Bd. 8, 1985, S. 29 ff.

  • GA 2013 Willensfreiheit, Kausalitt und Determination 5

    Bedingtheitall unseren Tuns bis heute auf die Untersuchungen dieses Neurophysiologen aus den 1980er Jahren. Die amerikanischen Wissenschaftler Haggard und Eimer haben erst vor wenigen Jahren dieses Experiment erneut unter verfeinerten Bedingungen durch-gefhrt und die Ergebnisse von Libet dem Grunde nach besttigt. 14

    Ausgangspunkt der Untersuchungen Libets waren die Entdeckungen des deutschen Forschers Komhuber und seines AssistentenDeecke im Jahr 1965, die den Zusammen-hang zwischen willkrlichen Hand- und Fubewegungen und elektrischen Wellenmus-tern im Gehirn untersucht haben. Komhuber und Deecke konnten aufzeigen, dass- bevor die eigentliche Handlung einer Versuchsperson eingesetzt hat (einfache Handlungen, wie z. B. Bewegungen mit Hand oder Fu) -an den Potenzialschwankungen zu erkennen war, dass sich im Gehirn etwas ereignet hat. Dies bezeichneten sie als Bereitschaftspoten-zial. Dass den Handlungen ein Bereitschaftspotenzial vorausgeht, war dabei schon lange vermutet worden. berraschend war aber, dass zwischen dem Einsetzen des Bereit-schaftspotenzials und der Handlung durchschnittlich 0,8 Sekunden liegen. Diese Entde-ckung war fr die Neuroforscher Veranlassung zu der These, dass eine Handlung schon nahezu eine Sekunde lang im Gehirn initiiert ist, bevor der Mensch sich fr sie ent-scheidet. 15

    Libet schloss daraus, dass der bewusst empfundene Entschluss die Handlung weder ge-whlt noch eingeleitet haben konnte. 16 Den von seinen Testpersonen gekennzeichneten Entschluss, eine Handlung vorzunehmen, bezeichnete Libet als Willensruck. Allerdings gehe diesem Willensruck- so Libet- das sog. Bereitschaftspotenzial voraus, das die Ver-suchsperson weder wahrgenommen noch beeinflusst haben konnte. Daraus folgerte Libet, dass der Wille der Testpersonen in Wirklichkeit nicht frei, sondern der Willensruck durch das zeitlich vorgelagerte Bereitschaftspotenzial tatschlich bereits vorbestimmt ge-wesen sein muss, so dass das Gehirn der Testpersonen eine Autonomie ihrer Willensent-scheidung und der ihr nachfolgenden Willensbettigung nur vorgetuscht habe. 17

    Interessant ist jedoch, dass Libet selbst darauf hingewiesen hat, dass seine Experi-mente nicht den freien Willen widerlegen, sondern lediglich erklren, wie dieser im Rahmen der Versuchsanordnung funktioniert. 18 Insbesondere ist Libet davon ausgegan-gen, dass es ein Vetorecht gebe, das die in Gang gesetzten Handlungen noch aufhalten knne. Die Unterdrckung eines Handlungsdrangs sei eine allgerneine Erfahrung, die insbesondere dann auftrete, wenn die intendierte Handlung als sozial inakzeptabel ange-sehen wrde, nicht im Einklang mit der Gesamtpersnlichkeit stnde oder eigenen Wer-ten widersprche. I9

    In den Aussagen der modernen Hirnforschung wird dieses Vetorecht allerdings nicht nher untersucht. Stattdessen wird pauschal darauf hingewiesen, dass auch einem solchen Veto eine messbare Vernderung des Bereitschaftspotenzials vorausgehe, 20 und es wird

    14 Vgl. Haggard/Eimer, On the relation between brain potentials and awareness of voluntary movements. ExperimentalBrain Research, 126 (1999), S. 128 ff.; dazu Hillenkamp JZ 2005,318.

    15 Vgl. Komhuber/Deeke, Hirnpotentialvernderungen bei Willkrbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale, Pflgers Archiv fr die gesamte Physio-logie; nher dazu Grischa Detlefsen (Fn II) S. 271 f.; Siesel, Das Strafrecht, die Neurophysiologie und die Willensfreiheit: Unrecht, Schuld und Vorsatz im Lichte neuerer Erkenntnisse der Himforschung, 2009, s. 47 f.

    16 Vgl. Reineil NJW 2004, 2792 ff.; vgl. zu den Libet-Experimenten auch Grischa Detlefsen (Fn 11) s. 278 ff.

    17 Vgl. Siesei (Fn 15) S. 48 f. 18 Vgl. hierzu Roxin, AT/I, 4. Auf!. 2006, 19 Rn 45; siehe auch Libet, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung

    und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, 2004, S. 287. 19 Vgl. Siesei (Fn 15) S. 51. 20 Krauledat, Dornhege, Blankertz, Losch, Curio, Mller, Vortrag, 26th Annual International Conference

    IEEE EMBS on Biomedicine, San Francisco; nachgewiesen bei G. MerkeVG. Roth (Fn 3) S. 62.

  • 6 Christian Jger GA2013

    betont, dass die limbisehen Zentren das erste und das letzte Wort haben, 21 so dass die Letztentscheidung eine bis zwei Sekunden fllt, bevor wir die Entscheidung wahrneh-men. Wegen dieser neuronalen Vorsteuerung werde Willensfreiheit daher in Wahrheit verwechselt mit einen Willen haben. 22

    Angemerkt sei hier, dass die moderne Gehirnforschung selbstverstndlich auch Ge-fhlsregungen anderer Art als ausschlielich neuronal bestimmt begreift. So lesen wir etwa bei Roth: 23 Verliebtsein wird in vielen Kulturen als Krankheit angesehen. Dieser Zustand hat in der Tat mit der Stressreaktion vieles gemein, nmlich Schlaflosigkeit, Unruhe, Schweiausbrche, trockener Mund, Hnde- und Kniezittern, Eintrbung der Gedanken und Konzentrationsschwche. Verliebtheit wird weitgehend von unbewusst wirkenden Reizen bestimmt, wozu Achselschwei als Pheromon, die emotionale Tnung der Stimme, das Aussehen, die Krperhaltung, Augen und Blick gehren. Wesentlich an der Verarbeitung dieser Reize beteiligt ist die mediale Amygdala. Dort sitzen Pheromon-ebenso wie Sexualstoffrezeptoren, und zwar in enger Nachbarschaft zu Stressreaktions-Rezeptoren. Die Beschwingung und Betrung, die sich einstellen ... , werden durch Phe-nylethylamin (PEA) bewirkt, eine krpereigene Substanz. PEA wird in den Gehirnen ver-liebter Personen ausgeschttet, wenn sie sich tief in die Augen schauen ... . Hier wird deutlich, dass die moderne Gehirnforschung die gesamte menschliche Psyche als rein physischen Vorgang begreift, so dass auch die Willensfreiheit in einem solchen modernen Menschenbild keinen Platz mehr hat.

    II. Willensfreiheit als notwendige Voraussetzung persnlicher Schuld Im Bereich der strafrechtlichen Verschuldeoshaftung ist die Frage der Existenz

    von Willensfreiheit gesetzlich vorentschieden. 24 20 StGB schreibt der einzelnen Person die Fhigkeit der freien Willensbestimmung zu, solange diese Person bei vollem Bewusstsein und geistig gesund ist. 25 Die neueren neurologischen Er-kenntnisse bringen dieses Weltbild allerdings ins Wanken.

    Allerdings gilt: Sofern ein Handelnder fr sein Verhalten verantwortlich ge-macht werden soll, muss diesem zwingend Willensfreiheit zugesprochen werden. Andernfalls wre jedes Geschehen Teil der Wirklichkeit, die sich ohne ein der Person zuzuschreibendes Verhalten realisiert. Der Einzelne knnte ohne die Exis-tenz einer Willensfreiheit keinen eigenen Beitrag zu einem Geschehen liefern, da er gnzlich fremdgesteuert ttig werden wrde. 26

    Im Gegensatz hierzu geht das Strafgesetzbuch in seinen Regelungen ber die Schuld von einem freien Willen aus und unterstellt darber hinaus, dass der Ein-zelne nicht nur grundstzlich zur freien Willensbestimmung faltig, sondern prinzi-piell auch in der Lage ist, sich an den Erwartungen zu orientieren, die der Gesetz-geber an den Einzelnen stellt.

    21 Roth, Willensfreiheit als soziale Institution, in: Hillenkarnp (Hrsg.), Neue Hirnforschung - Neues Straf-recht?, 2006, S. 52.

    22 Boetticher, in: Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009, S. 112. 23 Roth (Fn 6). 24 A.A. Herzberg (Fn II) S. 62 mit einerneuen Lesart des 20 StOB; gegen ihn aber zu Recht R. Merke!

    Roxin-FS II, Bd. 1, S. 741 ff. (vgl. dazu bei Fn 41). 25 Vgl. dazu Dreher, Die Willensfreiheit. Ein zentrales Problem mit vielen Seiten, 1987, S. 29 ff.; Rothen-

    fuer (Fn 5) S. 36. 26 Zutreffend hier und im Folgenden Rothenfuer (Fn 5) S. 36.

  • GA2013 Willensfreiheit, Kausalitt und Determination 7

    111. Willensbildung als kausaler Vorgang jenseits des Determinismus Auch wenn es sich bei der Informationsaufnahme und der Informationsverar-

    beitung im Gehirn sicherlich um naturgesetzliche Vorgnge handelt, setzt Wil-lensfreiheit des Einzelnen dennoch voraus, dass diese Vorgnge - sei es auch nur zum Teil - nicht deterministisch erklrt werden knnen. Frei zu sein, heit in die-sem Sinn: zum einen die Fhigkeit zur Entscheidung, welche Handlung der Ein-zelne unter verschiedenen denkbaren Verhaltensweisen vornehmen mchte, und - worauf Rothenfuer hingewiesen hat - zum anderen die Fhigkeit, in Reaktion auf uere Gegebenheiten zu handeln. 27

    Dabei widersprechen sich Freiheit der Willensbildung und Kausalitt in Wahr-heit nicht. Kausalitt wird nmlich bereits dadurch begrndet, dass der Einzelne in Reaktion auf uere Gegebenheiten ttig wird. Kausalitt setzt daher im psy-chischen Bereich die Freiheit des Handlungsentschlusses voraus. Viel zu wenig beachtet wurde in der Vergangenheit, dass die Leugnung der Willensfreiheit nicht nur unser Schuldprinzip, sondern auch das geltende Kausalprinzip ins Wanken bringen wrde. Ein richtig verstandenes Kausalprinzip ndert insofern nichts an der Mglichkeit einer Willensfreiheit, sondern Willensfreiheit erlaubt vielmehr auch die Existenz eines psychisch vermittelten Kausalprinzips. Mglich ist dies allerdings nur, wenn man fr die Kausalitt keine gesetzmigen oder gar deter-ministischen Verknpfungen verlangt.

    IV. Handlungsfreiheit und Determinismus

    Wir hatten soeben gesehen, dass das Postulat der Kausalitt nicht zur Negation der Willensfreiheit fhren muss. Im Gegenteil: Die Mglichkeit, auf uere Ein-flsse zu reagieren, begrndet vielmehr die psychisch vermittelte Kausalitt.

    Im Gegensatz hierzu schliet das Postulat der Determination das Vorliegen von Willensfreiheit eindeutig aus. Dies hat bereits Wittgenstein gesehen. Bei ihm heit es: >>Willensfreiheit besteht darin, dass knftige Handlungen jetzt nicht gewusst werden knnen. Nur dann knnten wir sie wissen, wenn die Kausalitt eine innere Notwendigkeit wre, wie die des logischen Schlusses.28 Wrde man eine solche Determiniertheit annehmen, so wre es nicht einmal mglich, dass sich der Ein-zelne in seinen Entscheidungen nach zurckliegenden Erfahrungen richtet.

    Hierzu ein Beispiel: A will eine Bank ausrauben. Bei seiner Ankunft bemerkt er, dass sich in der Bank drei Polizeibeamte befinden. Seine Etfahrungen als Verbrecher sagen ihm, dass eine Auseinandersetzung mit drei Polizisten vermutlich kein gutes Ende haben wird. Aus Furcht vor einer mglichen Schieerei und damit zusammenhngender Verhaf-tung verlsst er daher den gewhlten Tatort unverrichteter Dinge.

    Im konkreten Beispiel hat der Tter gewiss mehrere Handlungsmglichkei-ten: 29 So kann er etwa die offene Konfrontation suchen und unter Vorhalten der Waffe sowohl den Bankangestellten als auch die drei Polizisten in Schach halten, um an das gewnschte Geld zu gelangen. Der Tter whlt aber eine andere Hand-

    27 Hier und im Folgenden Rothenfuer (Fn 5) S. 37 ff. 28 Vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Nachdruck Frankfurt a.M. 1963,5.1362. 29 Ein Alltagsbeispiel ohne strafrechtlichen Hintergrund liefert auch Rothenfuer (Fn 5) S. 38.

  • 8 Christian Jger GA2013

    lungsmglichkeit, nmlich einer solchen Konfrontation aus dem Weg zu gehen und ohne Beute den Tatort zu verlassen. Wer in diesem Beispielsfall Detennina-tion annehmen mchte, muss davon ausgehen, dass der Tter nicht einmal in Re-aktion auf Erfahrungen handeln kann, sondern jeder Entschluss nur spontan im Inneren seines Gehirns erzeugt wird.

    Fraglich ist diesbezglich, ob Libets Untersuchungen des menschlichen Ge-hirns tatschlich zu einer solchen Annahme Berechtigung geben. Rufen wir uns deshalb noch einmal die Erkenntnisse von Libet in Erinnerung, mit denen die mo-derne Gehirnforschung bereinstimmt: Er hatte festgestellt, dass der Weg von der Absicht, eine Handbewegung auszufhren, bis zur tatschlichen Handlung fast eine Sekunde dauert. Eine Sekunde zwischen Absicht und Tun widersprach aber allen Erkenntnissen des Alltags. Aus den Untersuchungen musste daher geschlos-sen werden, dass das Gehirn die Willensbildung selbststndig in Gang setzt, bevor der Mensch sich dieses Willens berhaupt bewusst wird. Fraglich ist freilich, ob damit der Beweis der Detenniniertheit des Entscheidungsprozesses bereits er-bracht ist.

    Tatschlich wird man eine solche Schlussfolgerung verneinen mssen. Wichtig an den Untersuchungen Libets und auch an nachfolgenden Gehirnforschungen ist nmlich, dass zwischen der Bildung des Bereitschaftspotenzials und der Kogni-tion, d. h. der bewussten Wahrnehmung als freier Wille, eine halbe Sekunde und mehr liegen kann. Libet selbst hat hieraus geschlossen, dass es immer noch die Mglichkeit fr den Einzelnen gibt, Handlungen zu unterbinden. 30 Selbst wenn es daher keinen freien Willen gibt, knnte man insoweit immerhin von einem freien Unwillen sprechen, 31 durch den es ermglicht wird, das Schlimmste noch zu verhten. Gerade diese Erkenntnis Libets ist durch die moderne Gehirn-forschung nicht widerlegt worden.

    Dass die Existenz eines derartigen freien Vetorechts im menschlichen Ent-scheidungsprozess verankert ist, zeigen uns auch unsere tglichen Erfahrungen, wonach wir stndig Handlungsimpulse erleben, denen wir teilweise nachgeben, die wir zum Teil aber auch unterdrcken. Beispielhaft: Jeder unter uns drfte be-reits beim Verspren von Hunger und Durst den Impuls erlebt haben, zum Khl-schrank zu gehen oder sich ein Glas Wasser zu holen. Dennoch unterdrcken wir derartige Impulse nachtrglich vielfach wieder, weil wir andere Ttigkeiten (etwa die Fertigstellung eines Strafrechtsbeitrags zur Gehirnforschung) als vorrangig er-achten. Schon hieraus wird erkennbar, dass das Vorliegen von Handlungs- und Willensimpulsen nicht auf eine vollstndige Determiniertheit des Willensbil-dungsprozesses schlieen lsst.

    Noch bemerkenswerter sind allerdings Hypnosemechanismen, die seltsamer-weise in die Diskussion um die neueren Gehirnforschungen - soweit ersichtlich -noch viel zu wenig Eingang gefunden haben. Auffllig ist hier, dass es auch unter Hypnose nach mehrheitlicher Auffassung nicht mglich ist, einen Menschen dazu

    30 Dazu Libet (Fn 18) S. 284 ff. 31 So Richard David Precht, Wer bin ich- und wenn ja, wie viele?, 2007, S. 154. Das Zitat Prechts weist

    Herzberg (Fn 11) S. 24 Fn 28 nach, der allerdings fr ausgeschlossen hlt, dass es einen freien Unwillen geben kann, wenn kein freier Wille existiert. Dazu sogleich bei Fn 33.

  • GA2013 Willensfreiheit, Kausalitt und Determination 9

    zu bringen, einen nahen Angehrigen oder Freund zu tten. Zumindest wird eine solche Mglichkeit verneint, wenn der Hypnotisierte nicht ohnehin bereits eine grundstzliche Bereitschaft zur Ttung des Opfers aufweist. 32 Dies zeigt, dass das von Libet angenommene Vetorecht in Wahrheit viel strker ist und offenbar auch unser Unterbewusstsein betrifft. Und dieses Vetorecht scheint umso intensiver zu sein, je mehr der Entscheidungsprozess inhaltlich bedeutsame Vorgnge anbe-langt, wie etwa die Begehung von Straftaten an Angehrigen und Freunden.

    Es ist daher auch Herzberg nicht zuzustimmen, wenn er es fr eine seltsame Vorstellung hlt, dass ein Alkoholabhngiger zwar unfrei sei bei seiner ersten Willensbildung und Entscheidung, dem Alkohol zu entsagen und den Schnaps auszugieen, aber frei, wenn er vor der Ausfhrung >Stopp!< sagt und die Flasche zum Mund fhrt. 33 Denn gerade bei komplexen, moralisch aufgeladenen Ent-scheidungen entspricht eine solche Mglichkeit den menschlichen Erfahrungen und wird durch die Hypnoseforschung besttigt. Denn der Hypnotiseur kann zwar bei einfachen Vorgngen einen Impuls geben, der dann tatschlich befolgt wird (etwa zu bellen wie ein Hund); jedoch ist dieser erste Impuls des Hypnotiseurs offenbar nicht stark genug, wenn es sich um Vorgnge von besonderer moralisch-ethischer Tragweite handelt (etwa die Ttung eines Menschen). Im brigen ist bemerkenswert, dass Herzberg das suggestive Beispiel eines Alkoholikers bringt, dessen Wille ohnehin nicht ohne weiteres als frei zu bezeichnen ist.

    Zu erwhnen ist in diesem Zusammenhang auch, dass es dem Einzelnen selbst im Schlaf nicht mglich ist, seinen eigenen Tod zu trumen. Auch hier wird deut-lich, dass der Einzelne sogar im Traum offenbar die Mglichkeit hat, Impulse (hier den Impuls zur Ttung der eigenen Person34) zurckzunehmen. All dies spricht aber eher fr das Vorhandensein eines freien Willens und gegen eine voll-stndige Determiniertheil der Entscheidungsprozesse.

    Problematisch ist insbesondere, dass alle Gehirnforschungen, aus denen die Unfreiheit des Willens gefolgert wird, nur einfachste menschliche Verrichtungen zum Gegenstand haben. So betreffen die Forschungen vor allem das Bewegen der eigenen Hand. Die dafr erforderlichen Fhigkeiten werden aber im sog. >>proze-duralen Gedchtnis gespeichert. Komplexere und moralisch beladene Entschei-dungsvorgnge sind dagegen dem sog. >>episodischen Gedchtnis zuzuordnen. 35 Die moderne Hirnforschung hat sich gerade mit diesem Unterschied noch nicht hinreichend befasst und gibt daher, fr sich gesehen, noch nicht Anlass dazu, dass das Strafrecht die Existenz eines freien Willens von vornherein zu leugnen hat. 36 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Libet selbst, trotz der

    32 V gl. hierzu www.focus.de/wissen!wissenschaft/menschlinterview _aid_l2200 l.html (zuletzt abgerufen am 19.10.2012). Dagegen wird die Veranlassung zu sonstigen Handlungen durch Hypnose allgemein durchaus fr mglich erachtet.

    33 Herzberg (Fn 11) S. 24. 34 Dass ein solcher Impuls im Schlaf teilweise existiert und wieder aufgehoben wird, zeigt sich daran, dass

    Schlafende sich im Traum zwar etwa von einem Hochhaus strzen knnen, vor dem Aufprall aber regel-mig erwachen.

    35 Dazu hltp://videoonline.edu.lmu.de/wintersemester-2006-2007/02 (zuletzt abgerufen am 19.10.2012). 36 V gl. zur fehlenden Tauglichkeit der bisherigen Untersuchungen auch Burkhardt, Eser-FS, 2005, S. 86 ff.;

    Hassemer ZStW 121 (2009), 840; Lampe ZStW 118 (2006), 8; Lackner/Khl, StGB, 27. Auf!. 2011, vor I Rn 26; Streng, Jakobs-FS, 2007, S. 684 f.; ders., in: Mnchener Kommentar zum StGB, 2. Auf!. 2011, 20 Rn 62; T. Walter, F.-C. Schroeder-FS, 2006, S. 140 f.

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    von ihm durchgefhrten Experimente, die Existenz eines freien Willens als eine genauso gute, wenn nicht bessere wissenschaftliche Option als ihre Leugnung durch die deterministische Theorie bezeichnet hat. 37

    Die Untersuchungen der modernen Hirnforschung weisen daher insgesamt gesehen nur die Existenz neuronaler Verknpfungen und damit zusammenhn-gender naturgesetzlicher Teilkausalitten nach. Die Tatsache, dass derartige neu-ronale Vorgnge existieren und naturgesetzlich erklrbar sind, darf demgegenber jedoch nicht zu dem zwingenden Schluss verleiten, dass das menschliche Verhal-ten in allen Einzelheiten determiniert sei. Zum einen widerspricht dem bereits die Tatsache, dass nach den Untersuchungen Libets der Mensch auch ein Vetorecht hat. Zum anderen kann auch das Bereitschaftspotenzial, das dem Handlungswil-len vorausgeht, einen derartigen Determinismus nicht belegen. Denn ob dieses Bereitschaftspotenzial seinerseits durch einen dem Unterbewusstsein zuzuord-nenden freien Willen erzeugt wird, lsst die moderne Gehirnforschung offen. Dass es einen derartigen, im Unterbewusstsein liegenden freien Willen geben kann, zeigen aber gerade die oben angefhrten Erkenntnisse der modernen Hyp-nose- und Traumforschung.

    V. Folgen einer vollstndig fehlenden Willensfreiheit

    Der herkmmlichen Vorstellung entspricht es, dass Strafe und Schuld ihrerseits Willensfreiheit voraussetzen. Zu fragen ist daher, ob eine Strafsanktion berhaupt noch zu rechtfertigen wre, wenn eine Willensfreiheit, wie es die moderne Hirn-forschung zum Teil behauptet, in Wahrheit nicht existiert. 38

    Die deutsche Rechtsprechung steht hier seit der Entscheidung BGHSt 2, 194 auf einem eindeutigen Standpunkt. Danach hat der Mensch seine Handlungen zu verantworten, weil er auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung an-gelegt und deshalb befhigt ist, sich fr das Recht und gegen das Unrecht zu ent-scheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden. 39 Ausgehend hiervon wird in der Li-teratur zum Teil eine auf Schuld basierende Strafe wegen der Nichtbeweisbarkeit der Willensfreiheit von vornherein abgelehnt. 40 Dem widerspricht es, wenn fr den Bereich der zivilrechtliehen und strafrechtlichen Verschuldenshaftung die Frage normativ gegenteilig entschieden ist. Insbesondere aus der Regelung der Schuldfhigkeit in 827 I 1 BGB und in 20 StGB ergibt sich nmlich, dass dem Menschen, soweit er bei Bewusstsein und geistig gesund ist, vom Gesetz die F-higkeit zur freien Willensbestimmung schlicht zugeschrieben wird. Zwar bestrei-tet dies neuerdings Herzberg, 41 der davon ausgeht, dass diese Zuschreibung auch

    37 Vgl. hierzu Iibet (Fn 2) S. 287; Lenckner/Eisele, in: Schnke/Schrder, StGB, 28. Auf!. 2010, vor 13 ff. Rn lJOa; Roxin, ATII, 19 Rn 45.

    38 Vgl. zu den mglichen strafrechtlichen Optionen im Umgang mit den Hypothesen der Hinforschung auch K. Gnther, in: Schleim/Spranger/Walter (Hrsg.), Von der Neuroethik zum Neurorecht, 2009, S. 214, 230 ff.

    39 Vgl. BGHSt 2, 200. 40 Baumumn, Zweckrationalitt und Strafrecht, 1987; Foth, Tatschuld und Charakter, Schopenhauer-Jahr

    buch fr das Jahr 1997, S. 148 ff.; Karg!, Kritik des Schuldprinzips, 1982; Scheffler, Kriminologische Kritik des Schuldstrafrechl~, 1985. Kritisch hierzu Jescheck JBl. 1989,617 f.; Roxin, AT !I, 19 Rn 51 ff.

    41 Herzberg (Fn II) S. 90 ff.

  • GA2013 Willensfreiheit, Kausalitt und Determination 11

    ohne Willensfreiheit mglich sei. Er begrndet dies damit, dass die Zuerkennung von Lob und Dank fr die gute Tat selbst dann fr mglich erachtet werde, wenn es sich bei dem Gelobten um eine geisteskranke, willensunfreie Person handle. Auch der strenge Determinist halte ein solches Lob fr geboten. Dann aber msse entsprechend auch Tadel und Schuld trotz Willensunfreiheit zugeschrieben wer-den knnen.

    Hiergegen hat jedoch Reinhard Merke! zutreffend eingewandt, dass die von Herzberg behauptete Symmetrie von guter und bser Tat sowie von Lob und Tadel in Wahrheit nicht existiert. 42 Denn Lob und Dank bedrfen als Wohltaten keiner besonderen Grnde. Tadel und Strafe als belszufgungen bedrfen einer solchen Begrndung dagegen sehr wohl. Gerade deshalb ist davon auszugehen, dass die in 20 StGB vorausgesetzte Willensfreiheit notwendige Strafbarkeitsbe-dingung ist.

    Solange die moderne Gehirnforschung eine absolute Determiniertheit des menschlichen Handlungsvollzugs aufgrund neuronaler Vorgnge im Gehirn bei komplexeren Vorgngen nicht nachweisen kann, ist gegen diese gesetzgebensehe Einschtzungsprrogative nichts einzuwenden.

    Eine Vernderung dieser berkommenen Auffassung knnte erst dann geboten sein, wenn die Gehirnforschung eine vollstndige Determiniertheil des Hand-lungsvollzugs nachweisen und eine vor- bzw. nachbewusste Willensfreiheit tat-schlich sicher ausgeschlossen werden knnte. Denn dann gbe es in Wahrheit nichts, was der Handelnde durch sein Verhalten der Wirklichkeit noch selbst hin-zufgen knnte. Ohne einen solchen eigenen Beitrag wrde aber die Grundlage dafr fehlen, den Einzelnen fr ))seine Handlungen verantwortlich zu machen. 43

    Ob in diesem Fall eine Strafe i. S. einer Schuldzurechnung noch mglich wre, hinge davon ab, wie man die Begriffe der Schuld und Strafe im Einzelnen versteht. Insoweit liee sich die Strafe nicht mehr ber eine an der Person anknpfende Schuldzurechnung rechtfertigen, sondern allenfalls in Form einer kollektiven, den Strafbedrfnissen der Allgemeinheit entsprechenden Schulddeutung. 44 Dagegen werden individuelle Schuldbegriffe bei Annahme einer vollstndigen Determi-niertheit der Handlungsprozesse vor unlsbare Probleme gestellt. Dies gilt auch fr den Schuldbegriff Roxins, der sich auf einen agnostischen Standpunkt zurck-zieht und in der Schuld unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit sieht, bei der der Tter als frei behandelt wird. 45 Vor dem Hintergrund eines be-weisbaren absoluten Determinismus wre diese Schuldposition nicht mehr haltbar, da sich erwiesene Unfreiheit und fingierte Freiheit gegenseitig ausschlieen.

    42 Vgl. R. Merke/ (Fn 24) S. 744 f. 43 Die Folgerungen der Gehirnforschung unterlgen dann auch keinem Kategorienfehler, wie dies Hassemer

    (FAZ vom 15.6.2010) und Miiller-Dietz (GA 2006, 341) behauptet haben. Insoweit zutreffend gegen Has-semer G. MerkeVRoth (FAZ vom 26.6.2010); im Ergebnis ebenso T Wa/ter, F.-C. Schroeder-FS, S. 142 f.

    44 Hierzu Streng ZStW 92 (1980), 637 (657), bei dem Schuld eine bloe Spiegelung emotionaler Bedrf-nisse der Urteilenden ist; ders., in: Mnchener Kommentar zum StGB, 20 Rn 23 f.; kritisch Griffel MDR 1991, 109; Maiwald, Lackner-FS, 1987, S. 154 ff.

    45 Vgl. Roxin, AT/I, 19 Rn 36 ff.; Bocke/mann ZStW 75 (1963), 348 ff.; Engisch, Die Lehre von der Wil-lensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 1%5, S. 65; Krmpelmann, GA 1983, 837; Maiwald, Lackner-FS, S. 154 ff.; Neumann ZStW 99 (1987), 587 ff.; Schmidhuser, AT. 2. Auf!. 1984, 10/6; Walter, in: Leipziger Kommentar, 12. Auf!. 2007 vor 13 ff. Rn 164.

  • 12 Christian Jger GA2013

    Selbst eine rein repressive Wirkung der Strafe i. S. einer reziproken Bewertung der Handlung als Unrecht liee sich dann nur noch schwer vertreten. Denn die Repression setzt in ihrem Kern Verantwortlichkeit voraus, da man die Bestrafung auch hier auf die Nichteinhaltung der Steuerung des Verhaltens trotz Mglichkeit hierzu zurckfhren msste.

    Strafe liee sich daher allenfalls noch vor einem rein generalprventiven Hin-tergrund rechtfertigen. Schuld msste dann mit Jakobs allein als Derivat der Ge-neralprvention verstanden werden. 46 Allerdings knnte Strafe auch in diesem Fall nur noch der Erhaltung des allgemeinen Normvertrauens bzw. der abstrakten Wiederherstellung des Normbefehls dienen. Sofern man dagegen als Ausdruck der Generalprvention auch die Einbung in Rechtstreue versteht, liee sich ein derartiger Strafzweck allenfalls noch ber den sog. relativen Indeterminismus be-grnden, wonach der Mensch als vielschichtiges Wesen zur berdetermination kausaler Determinanten in der Lage ist.

    Dagegen liee sich ein gesellschaftlicher Lenkungseffekt der Strafe mit der Be-hauptung uneingeschrnkter Determination nicht mehr vereinbaren. Denn da der Mensch hiernach in seinem Handeln als vollstndig vorherbestimmt zu gelten htte, wre ein durch Strafe erzeugter Lenkungseffekt des Einzelnen und der All-gemeinheit nur noch schwer begrndbar.

    Aus einem so verstandenen vollstndigen Determinismus ergbe sich aber ein Weiteres: Mehr noch als die strafrechtlichen Vorschriften wrden die zivil-rechtlichen Regelungen der Verschuldeoshaftung in sich zusammenbrechen. 47 Denn die dort vorgesehene Schadensersatzpflicht resultiert daraus, dass das Handlungsrisiko dem Inhaber des Rechtsguts abgenommen und statt dessen dem Handelnden zugewiesen wird. 48 Ohne Willensfreiheit lsst sich aber eine solche Zuweisung im Zivilrecht nicht denken, ohne dass die Verschuldeoshaftung in eine reine menschliche Zustandsverantworlichkeit mutiert. Denn anders als das Straf-recht knpft die zivilrechtliche Schadensersatzfolge in Wahrheit an der Zustn-digkeit und damit viel strker am Verschulden fr eine Rechtsgutsverletzung, keinesfalls aber am Aspekt der Prvention an. 49 Letztere setzt tatschlich nicht notwendig persnliche Verantwortlichkeit voraus, auch wenn sich die Grenzen zwischen Strafe und Maregel der Sicherung und Besserung bei einem Verzicht auf persnliche Verantwortlichkeit praktisch auflsen wrden. Die Strafe msste sich dann nmlich in die Richtung der Sicherungsverwahrung bewegen, und zwar in der Form, wie sie der EGMR und das BVeifG in ihren jngsten Entscheidun-gen 50 gefordert haben. Wer eine solche Richtungsnderung erreichen will, muss

    46 Jakobs, AT, 2. Aufl. 1991, Kap. 22. 47 Es verwundert insofern, dass in der strafrechtlichen Literatur bislang lediglich auf die aus der Hirnfor-

    schung resultierenden zivilrechtliehen Probleme der Vereinsfreiheit, Vertragsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Ehefreiheit und Testierfreiheit hingewiesen wird (vgl. insoweit T. Walter, F.-C. Schroeder-FS, S. 139; ebenso Laufs MedR 2011, 4). Das eigentliche Problem betrifft in Wahrheit die zivilrechtliche Verschul-denshaftung.

    48 Hier und im Folgenden Rothenfuer (Fn 5) S. 37. 49 Wie hier auch Jakobs ZStW 117 (2005), 247 ff., der allerdings Verhaltenszustndigkeit ohne Willensfrei-

    heit flir ohne weiteres mglich hlt (vgl. Jakobs, in: Schleim/Spranger/Walter [Hrsg.], Von der Neuro-ethik zum Neurorecht, 2009, S. 243, 259 ff.).

    50 EGMR NStZ 2010, 263 ff. mit Bspr. Jung GA 2010, 639; Radtke NStZ 2010, 537; Rissing-van Saan, Roxin-FS Il, Bd. 2, S. 1173; Schch, Roxin-FS II, Bd. 2, S. 1202; Frommet NK 2010, 82 sowie BVerfG

  • GA2013 Willensfreiheit, Kausalitt und Determination 13

    jedoch nicht notwendig die Existenz der Willensfreiheit leugnen, sondern kann trotz vorausgesetzter Willensfreiheit eine Vernderung des Strafvollzugs einfor-dern.

    Dagegen birgt die Leugnung der Willensfreiheit i. S. des strengen Determinis-mus die erhebliche Gefahr der Auflsung der Menschenwrde, die ohne Freiheit nur schwer existieren kann. Denn die Zuschreibung von Schuld trotz fehlender Verantwortlichkeit kann am Ende doch nur auf generalprventiven Grnden beru-hen, und dies fhrt bekanntlich dazu, dass der Einzelne Gefahr luft, als verfg-bares Mittel fr gesellschaftliche Zwecke eingesetzt zu werden. Deshalb gilt: Eine Vernderung des Strafvollzugs setzt keine Vernderung des Menschenbilds voraus.

    VI. Resmee

    Der Beitrag sollte zeigen, dass sich das Strafrecht den Erkenntnissen der mo-dernen Gehirnforschung nicht lnger verschlieen darf. 51 Willensfreiheit und Kausalitt sind jedoch keine sich ausschlieenden, sondern im Gegenteil im Rah-men der psychischen Kausalitt sich gegenseitig bedingenden Begriffe. Denn psychische Kausalitt ist nur erklrbar, wenn der Einzelne in Reaktion auf uere Einflsse zu handeln vermag.

    Willensfreiheit und uneingeschrnkte Determination i. S. einer Voraussagbar-keit menschlichen Handeins stehen dagegen zueinander in einem unvershn-lichen Widerspruch.

    Der gegenwrtige Stand der Gehirnforschung berechtigt jedoch keineswegs zur Bejahung der Existenz vollstndiger Determination des menschlichen Willens. Aber selbst wenn die knftigen Forschungsergebnisse hier zu einer nderung der Einschtzung fhren sollten, liee sich die Strafe auf einer prventiven Grundlage jenseits einer Vergeltungssanktion immer noch erklren. Freilich wre dann eine personalisierte Schuldstrafe kaum mehr zu rechtfertigen. Die Strafsanktion mss-te de lege ferenda in einem solchen Fall vielmehr zu einer reinen Zweckstrafe ohne jeden Vergeltungscharakter mutieren. 52 Eine Unterscheidung zwischen einer Strafe, die Zurechnungsfhigkeit voraussetzt, und einer Maregel, die auch bei fehlender Zurechnungsfhigkeit verhngt werden kann, wrde sich dann aller-dings praktisch erbrigen. 53

    Die zivilrechtliche Verschuldeushaftung wre dagegen in einem solchen Fall vor geradezu unberwindliche Hindernisse gestellt. Vielleicht hat das Zivilrecht dies zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal erkannt. Immerhin liee sich so er-

    NStZ 2011, 450 mit Bspr. Drenkhahn!Morgenstem ZStW 124 (2012), 132; Hrnie NStZ 2011, 488; Hffler/KasparZStW 124 (2012), 87; Khne ZRP 2012, 89; G. Merket ZIS 2012,521.

    51 Dies rumt letztlich auch Hassemer ein, wenn es bei ihm polemisch heit: >>Die Strafrechtler haben die Sirenen der Neurowissenschaften nicht herbeigesehnt, die meisten von uns sind auch nicht schtig nach ihren Liedern, aber ihr Gesang ist mittlerweile so angeschwollen, dass wir die Ohren vor ihm nicht mehr verschlieen knnen>Angemessenheit der strafenden Antwort auf die Straftat

  • 14 Christian Jger GA2013

    klren, dass die Gehirnforschungsdebatte das Brgerliche Recht bis heute nicht einmal ansatzweise erreicht hat.

    Nebenbei sei hier noch bemerkt, dass die Leugnung von Willensfreiheit auch fundamentale Auswirkungen auf unsere Sprache htte, da diese, worauf Schne-mann hingewiesen hat, in vielfltiger Weise an der Existenz von Willensfreiheit anknpft. 54 Schon die Aussage Mein Standpunkt ist ein detenninistischer wre bei Leugnung von Willensfreiheit nicht frei von sprachlichem Widerspruch. Denn wenn das Gehirn alle Entscheidungen vorgibt, lsst sich auch ein freies Bekennt-nis zum Determinismus i. S. eines eigenen, nicht fremdgesteuerter Willens kaum noch formulieren. Diesem Aspekt kann im hier gesteckten Rahmen jedoch nicht mehr weiter nachgegangen werden.

    Auch wenn das Alte den Keim des Neuen nicht vernichten darf, gibt die moder-ne Gehirnforschung in Bezug auf das Strafrecht jedenfalls keinen Anlass dazu, bereits heute von einem neuen Menschenbild auszugehen. Komplexe Entschei-dungsvorgnge sind hierfr nach wie vor viel zu wenig erforscht. Die Leugnung der Willensfreiheit gleicht damit der Leugnung einer gttlichen Existenz. Denn das Bereitschaftspotenzial mag den Willensentschluss ebenso auslsen, wie der Urknall das Universum erschaffen hat. Was jedoch das Bereitschaftspotenzial selbst auslst, bleibt weiter im Verborgenen. Damit aber stehen wir doch wieder amAnfang.

    54 Vgl. dazu Schanemann, in: Schnemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 163 ff.; vgl. auch Mal/er-Dietz GA 2006, 341.

  • Humanistischer Kompatibilismus Ein Vershnungsvorschlag zwischen Neurowissenschaften und Strafrecht*

    Von Professor Dr. Eduardo Demetrio Crespo, Toledo

    Dieser bescheidene Beitrag ist Professor Dr. lose Ram6n Serrano-Piedecasas anlsslich seiner Emeritierung als Professor fr Strafrecht in Zuneigung und Dankbarkeit gewidmet. Wie er selbst1 hervorhebt, ist die Gerichtspraxis voller Apriorismen, wie die unantastbare Idee der Handlungsfreiheit und der vorher-gehenden Willensfreiheit. Ich werde versuchen zu zeigen, dass weder die Neu-rowissenschaften noch das Strafrecht fr die Lsung dieses Problems auf die Phi-losophie verzichten kann und beide daher verpflichtet sind, sich gegenseitig zu verstehen. Die Einflussmglichkeiten der Neurowissenschaften auf das Strafrecht difen nicht unterschtzt werden. Dies heit jedoch nicht, dass man sie gutheien msse, vielmehr kann und muss dieses neue Szenarium 2 mit der Lupe des kriti-schen Denkens betrachtet werden, wie es die Strmung der Critical Neurosci-ence3 bereits tut. - Trotz der zahlreichen Einflsse der Neurowissenschaften auf das Strafrecht ist es unwahrscheinlich, dass die sog. meurowissenschaftliche Revolution einen kulturellen Paradigmenwechsel i. S. des Kuhnschen>freien Willen basierende reine Indetemzinis-mus eine angemessene Antwort auf das strafrechtliche ProblemAuf dem Weg zu einer Kompatibilittstheorie zwischen Determinismus und Schuld im Straf-recht (Symposium Strafrecht und Neurowissenschaften- Hanse-Wissenschaftskolleg, Delmenhorst [Bre-men], am 5.6.2010, welchem ich fr das Stipendium zur Durchfhrung eines Forschungsaufenthalts in der genannten Einrichtung danke) und La duda determinista y el concepto de cnlpabilidad> komplexes Denken und Strafrecht, in: Demetrio Crespo (Hrsg.), Neurociencias y Derecho penal. Nuevas perspectivas en el ambito de Ia culpabilidad y tratamiento jurfdico-penal de Ia peli-grosidad, 2013 (im Druck).

    2 Schleim, Die Neurogesellschaft Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert, 2011. 3 Slaby Phenom Cogn Sei 9/2010, 397-416; Choudhury/Siaby (Hrsg.), Critical neuroscience: a handbook of

    the social and cultural contexts of neuroscience. 2012. Siehe auerdem die monografische Ausgabe >>Kriti-sche Philosophie der Neurowissenschaften

  • 16 Eduardo Demetrio Crespo GA2013

    I. Zum Neurodeterminismus

    1. Versuche zur berwindung des kartesianischen Dualismus a) Jede Annherung an die Grundlagen der Neurophilosophie muss auf den

    kartesianischen Dualismus, d. h. den Unterschied zwischen Krper und Geist, verweisen. Hiergegen erhebt sich in jngerer Zeit der sog. Materialismus oder die univoke Auffassung beider Dinge, wobei Geist als Gehirn5 verstanden wird. Letz-terer wirft das Dogma des eliminativen Reduktionismus der sog. >>Alltagspsycho-logie auf, aufgrunddessen unsere Vorstellungen, Wnsche und Absichten kausal gesehen unwirksam sind. 6

    Eine friedliche Einigung ist in dieser verworrenen Frage nicht mglich. Tatschlich wurde diese Dichotomie zwischen Dualismus einerseits und Geist als Gehirn andererseits als falsch beanstandet. So erklren Pardo und Patterson, 7 dass Materialisten wie Goode-nough bei der Verortung des Geistes im Gehirn unbewusst die kartesianische Struktur beibehalten haben. Nach den genannten Autoren msse man den Geist als eine Gesamt-heit verschiedener, von einer Person ausgebter Fertigkeiten begreifen, wie die Empfin-dungen, Wahrnehmungen, Erkenntnisse und das Wollen. Hiernach ergbe die Frage nach der Verortung des Geistes keinen Sinn, da es sich nicht um empirische, sondern um kon-zeptuelle Fragen handelt, die die logischen Zusammenhnge zwischen Konzepten betref-fen.8

    b) Die genannte berwindung der Dichotomie knnte von dieser Unterscheidung zwi-schen empirischen und konzeptuellen Fragen ausgehen. Hiermit haben sich Maxwell Bennett und Peter Hacker intensiv beschftigt. 9 Whrend die ersten Generationen von Neurowissenschaftlern gem der Metaphysik von Descartes zwischen Geist und Gehirn unterschieden, lehnte die dritte Generation besagten Dualismus ab. In einer Art mutierter Form des Kartesianismus schrieben sie die psychologischen Attribute nicht mehr dem Geist, sondern direkt dem Gehirn zu. Letzteres ist in der Neurowissenschaft unter dem Namen mereologische Tuschung bekannt. Dies heit, dass die psychologischen Aus-sagen, die nur auf einen Menschen in seiner Gesamtheit angewandt werden knnen, nicht auf verstndliche Weise fr seine Teile gebraucht werden knnen. 10 Diese Autoren folgen in diesem Punkt der Idee Wittgensteins. 11 Fr Bennett und Hacker 12 ist das Gehirn kein Subjekt, das logisch fr psychologische Aussagen geeignet ist, und daher ergibt es keinen Sinn, ihm diese zuzuschreiben.

    c) Jedoch wurde dieses monumentale Werk von Bennett und Hacker berzeugend von Daniel Dennett und lohn Searle kritisiert. Ersterer erhebt Anspruch auf die Idee, dass dem Gehirn keine psychologischen Aussagen zugesprochen werden knnen. Diese fhrt

    5 Levy Neuroethics 112008, 69-81; Greene/Cohen, Law and the Brain, Nr. 1451, 359/2004, 1775-1785; Damasio, Descarte's Error. Emotion, Reason and the Human Brain, 1994.

    6 Churchland The Journal of Philosophy 78/1981, 67-90; Lel/ing University of Pennsylvania Law Review 14111992, 1471-1564.

    7 Pardo/Patterson InDret 2/2011, 6-7. 8 Pardo/Patterson InDret 2/2011, 8. 9 Bennett!Hacker, Philosophical foundations of neuroscience, 2003; dies., in: Bennett/Dennett/Hackerl

    Searle, Neuroscience and Philosophy. Brain, Mind, and Language, 2007, S. 3-48 und S. 127-162. 10 BennetriHacker (Fn 9) 2007, S. 15 ff. II >Aber kommt, was du sagst, nicht darauf hinaus, es gebe, z. B., keinen Schmerz ohne Schmerzbeneh-

    men?

  • GA2013 Hul1Ulnistischer Kompatibilismus 17

    er auf seine Unterscheidung zwischen der persnlichen und der unterpersnlichen Erkl-rungsebene zurck. 13 Fr Dennett lassen sich die konzeptuellen Fragen sehr wohl auf die wissenschaftliche Untersuchung und Erprobung bertragen. 14 Auerdem sei der Satz was die Wahrheit und die Falschheit fr die Wissenschaft sind, sind Sinn und Unsinn fr die Philosophie falsch. Die empirische Untersuchung knne nicht jedwedes philosophi-sche Problem lsen, es aber sehr wohl begrnden, anpassen und berprfen. 15 Diese Ar-gumentationen von Dennett fhren logischerweise zur Untersuchung bestimmter Aspekte der Sprachphilosophie und der Natur des Bewusstseins. 16 Konkret prangert Dennett 17 die Behauptung an, dass die Grenzen des Sinns sich aus der Untersuchung des Wortge-brauchs ergeben.

    lohn Searle verteidigt das Phnomen des Bewusstseins als biologisches Phnomen. 18 Fr Searle begehen Bennett und Hacker einen schwerwiegenden Fehler, da sie die Ver-haltenskriterien fr die Zuschreibung von psychologischen Aussagen mit den wegen der Letzteren zugeschriebenen Taten verwechseln. 19 Damit will Searle die Idee widerlegen, dass das Bewusstsein nicht im Gehirn angesiedelt werden kann. Er meint, sie verwechsel-ten die Regeln des Wortgebrauchs mit der Ontologie, indem sie eine Art logischen, witt-gensteinschen Konduktivismus anwenden. 20 Was Bennett und Hacker mereologische Tuschung nennen, ist fr Searle ein Kategorienfehler im Ryle'schen Sinn. 21

    2. Die Grundlagen des Neurodeterminismus

    a) Der >>Neurodeterrninismus ist keine einheitliche Strmung, sondern es werden, ausgehend von der Ablehnung der Willensfreiheit, unterschiedliche Konsequenzen aus der Verantwortlichkeit der Personen gezogen.

    b) Fr Gerhard Roth22 ist der freie Wille nicht mehr als eine Illusion, da das emotiona-le Erfahrungsgedchtnis das Auftreten von Wnschen und Vorstzen bestimmt und die getroffenen Entscheidungen im limbisehen System stattfinden, bevor wir sie bewusst wahrnehmen knnen.

    Wolfgang Prinz23 versteht die Willensfreiheit als eine soziale Institution, die nicht der wissenschaftlich beweisbaren Realitt entspricht. Die Antwort auf die Frage, wie es mg-lich ist, dass die Menschen spren und glauben, sie seien frei, obwohl sie es berhaupt nicht sind, erfordere es, ber die Untersuchung von kognitiven und volitiven Funktionen hinauszugehen und die Wahrnehmung dieser Funktionen zu betrachten.

    13 Dennett, in: Bennett/Dennett/Hacker/Searle (Fn 9) 2007, S. 73 ff. 14 Dennett (Fn 13) S. 80. Fr Hacker verdient dieser Ansatz die Bezeichnung >>quinescher Naturalismus Kategorienfehler>It represents the facts of mentallife as if they belonged to one 1ogical type or category [ or range of types or categories] when they actually belang to another

  • 18 Eduardo Demetrio Crespo GA2013

    Wolf Singer24 betont ebenfalls die Vorstellung, dass die Wahrnehmungen, die wir als objektiv erleben, nur das Ergebnis von konstruktiven Prozessen seien. Wir mssten diese Prmisse auf die gleiche Weise akzeptieren, wie wir keine Probleme haben anzuerken-nen, dass das Verhalten von Tieren vllig determiniert ist. 25

    Fr Francisco Rubia kann die Existenz der Willensfreiheit nur ein subjektiver Ein-druck sein und der freie Wille eine Illusion, die nur vom kartesianischen Dualismus aus erklrbar sei. 26 Hiernach gibt es kein immaterielles Gebilde (die Seele oder den Geist), das frei von den deterministischen Gesetzen ist, die das Universum regeln.

    3. Kritik am Neurodeterminismus als einer Form des wissenschaftlichen Determinismus

    Im Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit knnte die mereologische Tu-schung, ausgehend von den berhmten Untersuchungen von Libet, 27 zur Auflsung der Un-terscheidung zwischen gewollten und ungewollten Handlungen fhren. So zeigt Denno auf, dass Gehirn und Krper unbewusst Informationen entdecken, die das bewusste Gehirn nicht erkennt, was andeutet, dass der bewusste Geist keine volle Kontrolle ber die individuellen Handlungen und Wahrnehmungen ausbt. 28 In den Worten des Strafrechts wrde ein solcher Beweis bedeuten, die kategorische Dichotomie bewusst/unbewusst anzuzweifeln. 29

    II. Zum Indeterminismus 1. Die Unzulnglichkeit der subjektiven Wahrnehmung der Freiheit

    Das Argument, die subjektive Wahrnehmung der Freiheit und unser Selbst-verstndnis als freie Wesen bedeute, dass wir i. S. der Zurechnung von strafrecht-licher Verantwortlichkeit frei sind, unabhngig davon, ob wir es wirklich sind, 30 kann nicht berzeugen. 31 Obwohl diese Vorstellung den in der Neurowissenschaft gefundenen Beweisen frontal gegenbersteht, haben viele Strafrechtler sie vertei-digt. So ist fr Bjrn Burkhardt nicht die objektive Freiheit, sondern die Perspek-tive der ersten Person im Strafrecht und die subjektive Freiheit oder die Erfah-rung von Freiheit entscheidend. 32 Jedoch ist die subjektive Wahrnehmung nicht ausreichend fr die rechtliche Fremdzuschreibung. 33 Auerdem gibt es keine Ver-bindung zwischen Wahrheit und subjektiven Empfindungen. 34

    24 Singer, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, 2004, S. 30-65, insbes. S. 31. 25 Ibidem S. 35. 26 Rubia, in: Rubia (Hrsg.), EI cerebro: avances en neurociencia, 2009, S. 97-102. 27 Libet Behavioral and Brain Seiences 8/1985, 529-539; ders. Behavioral and Brain Seiences 10/1987,

    783-786. In den erwhnten Experimenten bat Libet die Probanden, ihre Hand zu bewegen, whrend er die elektrische Aktivitt des Gehirns ma. Hierbei entdeckte er, dass ungefahr eine Drittelsekunde, bevor die Probanden sich ihrer Absicht bewusst waren, die Bewegung auszufhren, die mit der Handbewegung assoziierten Gehirnimpulse der Probanden begannen. Spter wurden hnliche Versuche von Patrick Hag-gard, Martin Eimer und John-Dylan Haynes durchgefhrt, die die Ergebnisse Libets besttigen. Es wurde jedoch mit Recht u. a. von Billenkamp JZ 2005, 318 ff., eingewandt, dass diese Experimente nicht repr-sentativ genug seien, um aus ihnen definitive Konsequenzen zu ziehen.

    28 Denno Minesota Law Review 87/2002, 269-399. 29 Ibidem, S. 325. 30 Vgl. Hirsch ZlS 2010,61. 31 Demetrio Crespo lnDret 2/2011, 15m. w. N. 32 Vgl. Burkhardt, in: Burkhardt/Gnther/Jakobs, EI problema de Ia libertad de acci6n en el Derecho penal,

    2007, S. 32, 45; ders., FS Maiwald, 2010, S. 82 ff. 33 G. MerkeVRoth, in: Grn/Friedman!Roth (Hrsg.), Entmoralisierung des Rechts. Mastbe der Hirnfor-

    schung fr das Strafrecht, 2008, S. 65. 34 Feijoo Sanchez InDret 2/2011,25.

  • GA2013 Humanistischer Kompatibilismus 19

    2. Freiheit als Selbstdetermination

    a) Seit Langem ist fraglich, ob der reine Indeterminismus wirklich vollzogen werden kann, da die Entscheidungen dann nicht bedingt durch Motive und vor-hergehende Konditionierungen, sondern als frei in einem idealen Sinn erscheinen. Das kantianische Verstndnis der Willensfreiheit geht von der sog. ~~mentalen Motivation aus, wonach der Wille selbst eine Kausalkette in Gang setzen kann, was voraussetzt, dass er selbst nicht determiniert, sondern frei ist. Diese Konzep-tion sieht sich seit Kurzem in der Philosophie des Geistes schwerwiegenden Ein-wnden ausgesetzt, da nicht klar ist, wie sich von einer nicht gttlichen Instanz aus Konsequenzen auf eine vllig bedingungslose Weise entwickeln knnen. 35

    Heute wissen wir, dass die Willensbildung psychologisch und neurologisch ge-sehen von zahlreichen Faktoren abhngt und dass man nicht von einer festen Kor-relation zwischen einem Willenszustand und ~~einer bestinunten Handlung sprechen kann. Auch steht die Bildung des Willens unter dem Einfluss unbewuss-ter Motive, die vom limbisehen System herrhren.

    b) Gegenber dem Indeterminismus ist es mglich, im kompatibilistischen Zu-sammenhang ein minimales Freiheitskonzept in dem Sinn einer intersubjektiv verstandenen Selbstdetermination zu vertreten, welches mit der deterministischen Hypothese kompatibel ist. Dies wurde von Michael Pauen vertreten, nach wel-chem sich die Selbstdetermination ausgehend vom Autonomieprinzip und dem Tterschaftsprinzip erklren lsst. 36 Hiernach geht der Handelnde, der fhig ist, eine freie Handlung auszuben, von bestinunten rationalen und emotionalen Wnschen, Stinunungen und Vorstellungen aus, ohne welche es keinen Sinn erg-be, von einem Tter zu sprechenY Dies nennt Pauen die Vorlieben des Tters. Nach der so verstandene Selbstdetermination ist eine Handlung in diesem mini-malen Sinn frei, wenn sie unter Hinweis auf die Vorlieben des Tters erklrt wer-den kann. Hieraus kann nach Pauen abgeleitet werden, dass die Determination nicht in die Fhigkeit eingreift, selbstdeterminierte Handlungen durchzufhren. 38 Entscheidend ist also nicht die Frage, ob unsere Handlungen determiniert sind -sie sind es -, sondern wie die besagte Determination eintritt.

    Mit dieser Konzeption kann das Strafrecht umgehen, nicht aber mit dem star-ken Konzept des freien Willens i. S. des Andershandelnknnens. Wie Engisch aufgezeigt hat, kann nicht empirisch bewiesen werden, dass eine Person in einer konkreten Situation auf andere Weise htte handeln knnen, als sie es getan hat. 39

    Nicht einmal ein Verteidiger des ~~freien Willens wie Hans Welzel ging vom Indeterminismus aus: Wenn der Willensakt des Menschen durch nichts bestinunt sein soll, dann kann der sptere Willensakt nicht mit dem frheren irgendwie zu-

    35 G. Merkel/Roth (Fn 33) S. 57. 36 Pauen, in: Rubia (Hrsg.), EI cerebro: avances en neurociencia, 2009, 135-152. 37 lbidem S. 140. 38 lbidem S. 142. 39 Hierzu msste man sich in die gegebene Situation zurckversetzen und beobachten, ob besagte Mglich-

    keit ex..istiert. Dieses Experiment ist jedoch undurchfhrbar, weil die Person schon eine andere wre, da sie in der spteren Situation nicht auf ihre erlebten Erinnerungen verzichten knnte; so Engisch, Die Leh-re von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 2. Auf!. 1965, s. 23 ff.

  • 20 Eduardo Demetrio Crespo GA2013

    samrnenhngen, weder unmittelbar noch ber ein identisches Subjekt, weil er ja sonst durch etwas determiniert wre. 40 Willensfreiheit ist die Fhigkeit, sinn-mig sich bestimmen zu knnen. ( ... ). Sie ist nicht- wie der Indeterminismus meint - die Freiheit, anders (also auch schlechter oder sinnwidrig) handeln zu knnen, sondern die Freiheit zu sinnmigem Handeln. 41

    111. Humanistischer Kompatibilismus und strafrechtliche Verantwortlichkeit

    1. berwindung des Indeterminismus desfreien Willens und des mechanischen Determinismus

    M. E. kann weder der ~>Neurodeterminismus noch der Indeterminismus des freien Willens eine angemessene Antwort auf dem Gebiet des Strafrechts liefern, weswegen ich den Kompatibilismus als einen guten Ausweg ansehe. 42 Die-ser steht zwischen dem strengen Determinismus und dem reinen Indeterminismus und kann als eine Kompromisslsung angesehen werden.43 Er bedeutet einer-seits die berwindung des reinen lndetel7ninismus des freien Willens im oben be-schriebenen Sinn, der sich als falsch herausgestellt hat; und andererseits die berwindung des rein mechanistischen Determinismus, der auf gewisse Weise im Bereich der Wissenschaftsphilosophie und der Quantenphysik durch das Unsi-cherheitsprinzip enthllt und dazu benutzt wurde, die Entscheidungsprozesse zu erklren, die sich aus der Funktionsweise der rcklufigen neuronalen Netze des Gehirns ergeben. 44

    2. Vergeltungsrechtlicher Syllogismus und die Beweislast der Freiheit

    Im Strafrecht vom >>freien Willen auszugehen, wird auf vereinfachende Weise damit bersetzt, alle zweifelhaften Flle in den Bereich der Schuld einzuschlie-en. weil die Beweislast auf Seiten des Determinismus liegt. 45 Ginge man hin-gegen von seiner Ablehnung aus, wrde dies gerade zum Ausschluss dieser Flle fhren (in dubio pro reo). Die sich hieraus ergebenden Syllogismen sind vllig unterschiedlich. Der Syllogismus des freien Willens lautet ungefhr: (a) Die Person konnte anders handeln, daher ist die Strafe legitim, es sei denn, irgendeine Krankheit hat zur Handlung beigetragen; (b) es ist gerechtfertigt zu bestrafen, so-lange wir keine Gewissheit darber haben, dass die Person nicht anders handeln konnte. Aufgrund seines Vergeltungscharakters ergibt sich (c): Immer wenn die Person als schuldig angesehen wird, muss bestraft werden, weil die Schuld als ein Gebot verstanden wird, die Personen gem ihren willentlichen Handlungen zu

    40 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 146. 41 Ibidem S. 148. 42 Zugunsren der Vereinbarkeil von Determinismus und Handlungsfreiheit

  • GA 2013 Humanistischer Kompatibilismus>Andershandelnknnens, um welches die Idee der Unzurechnungsf-higkeit kreist. ohne sich hierbei jedoch bewusst zu werden, dass die Strafrechts-wissenschaft schon vor langer Zeit versucht hat, den Ausgangspunkt des freien Willens in ihrer Formulierung des strafrechtlichen Schuldkonzepts zu verndern. 51

    Selbstverstndlich handelt es sich bei dem bsartigen Gebrauch, den bestimmte Anstze machen, um etwas anderes, auch wenn die Geschichte des 20. Jahrhun-derts zeigt, dass die Biopolitik allein fr diese Vorschlge schon ausreichen wr-de. 52 Jedenfalls mssen die Mahnungen zu den Fortschritten der Soziobiologie und einer Art biologischem und/oder tiologischem Determinismus, die zu fa-talen Konsequenzen im politischen Bereich fhren knnten, bercksichtigt wer-den. 53 Wie Romeo unterstrichen hat, darf fr die Genetik und Biotechnologie

    46 Anschaulich Stinchez Ltizaro InDret 4/201 1, 13. 47 Vgl. Roxin, FS Kaufmann, 1993, S. 522. 48 Vgl. Demetrio Crespo InDret 2/2011,20 ff., insbes. 23-24 m. w. N. 49 Vgl. Hirsch ZIS 2/2010,61. 50 In diesem Sinn ist die Argumentation von Prinz Psychologische Rundschau (55/4) 2004, 199 ff., sehr be-

    zeichnend, der an erster Stelle die Idee der Willensfreiheit verneint, welche in der Wissenschaftspsycho-logie keinen Raum htte, dann die Freiheit als ein Produkt der sozialen Interaktion und Kornmunikation erklrt und zuletzt die Freiheit rhmt, da sie wichtige soziale Funktionen erfilllt, indem sie mittels der subpersonalen Reprsentationsmechanismen der Individuen in der Kollektivittsstruktur handeln, in wel-cher diese sich sozialisieren und wo die wahre psychehistorische Daseinsberechtigung der Freiheit wurzele.

    51 Wie Romeo Casabona (Fn 44), S. 401, in Erinnerung ruft. war Lombroso, L'Uomo delinquente, I. Aufl., 1876, hierbei der Erste. Obwohl seine Theorie vom geborenen Verbrecher schnell widerlegt und aufgege-ben wurde, bestand ihre Bedeutung darin, es zu ermglichen, zum ersten Mal den absoluten Indetermin-simus (den freien Willen) und die Schuld als Grundlage des Strafrechts infrage zu stellen.

    52 Portilla Contreras, in: Serrano-Piedecasas!Demetrio Crespo (Hrsg.), Terrorismo y Estado de Derecho, 2010, s. 227 ff.

    53 Aniyar De Casrro Cap. Crim. (36/4) 2008, 23.

  • 22 Eduardo Demetrio Crespo GA2013

    nicht auer Acht gelassen werden, dass das Strafrecht von bestimmten Grundprin-zipien (wie dem geringsten Eingriff, der Subsidiaritt und ultima ratio) flankiert wird, die seine Prsenz begrenzen und gleichzeitig seinen Eingriff rechtfertigen. 54 Der gleiche allgemeine Rahmen muss bezglich eventueller Eingriffe in das Ge-hirn anwendbar seih, die Heilungs- oder Besserungszwecken dienen (>>Neuroen-hancement) und logischerweise entscheidende ethische Auswirkungen mit sich bringen. 55

    c) Auch die Existenz willentlicher Handlungen wird nicht geleugnet- was das Strafrecht impraktikabel machen wrde-, vielmehr wird der Akzent auf die unbe-wusste (im limbisehen System stattfindende) Konditionierung derselben gelegt. Dabei leugnen die Neurowissenschaftler nicht allgemein die Fhigkeit, langfristig bestimmten Absichten zu folgen und eine gewisse Kontrolle ber die Impulse auszuben, womit sie indirekt einen engen und sozial unvermeidlichen Frei-heitsrahmen abgrenzen. Dies ist m. E. eine intersubjektiv zu verstehende mini-male Fhigkeit der Selbstdetenninierung. 56 Dieser Rahmen stellt keinen Beweis fr die Willensfreiheit dar, ist aber genau das, was das Strafrecht bentigt_57

    4. Hauptforderungen a) Die Wahl des besten Strafrechtsmodells zum Versuch der optimalen Erfl-

    lung der Aufgabe, das Zusammenleben durch den Schutz der wichtigsten Rechts-gter gegen die unertrglichsten Angriffe zu ermglichen, darf nicht von einer metaphysischen Prmisse wie der Willensfreiheit abhngig gemacht werden. An-dererseits muss ein Strafrecht ohne Willensfreiheit nicht notwendigerweise schlechter sein. So argumentiert Chiesa, dass ein Strafrecht, welches sich auf die wahrscheinliche Richtigkeit des Determinismus sttzt, nicht unbedingt weniger attraktiv oder weniger garantistisch sein muss. 58

    Die Neurowissenschaften scheinen aber auch nicht in der Lage zu sein, das Freiheitsproblem in seiner Gesamtheit anzugehen, da rein empirische Methoden wahrscheinlich nie endgltige und erst recht keine ausreichend berzeugenden Ergebnisse gewinnen werden, ohne die entsprechenden Brcken zu bestimmten philosophischen, kulturellen und soziohistorischen Prmissen zu schlagen.

    b) Es handelt sich nicht darum, die Mglichkeit willentlicher Handlungen zu leugnen, und auch nicht darum, nicht zu strafen, sondern dies ggf. auf andere Weise zu tun (frei nach Radbruch, mglicherweise auf eine humanere und intelli-gentere Weise). Diese humanere und intelligentere Weise ist m. E. kein (Straf-)-Recht der Sicherungsmanahmen, sondern ein Recht, das weniger invasiv und besser in der Lage ist, die enorme Vielfalt der Situationen zu betrachten, denen sich der Mensch gegenbersieht Konkret erachte ich die- wenn auch mglicher-

    54 Romeo Casabona (Fn 44), S. 53. 55 R. Merke/ ZStW 121 (2009), 919-953. 56 Feijoo Sdnchez InDret 212011, 42. 57 Hierbei muss frei nach Gnther KJ 3912006, 120, klar sein, dass die Verwandlung dieses Rahmens in ein

    >>Nadelhr>Eingangstor

  • GA2013 Humanistischer Kompatibilismus 23

    weise gut gemeinte - Vision eines Strafrechts, das sich auf die Behandlung und nicht die Strafe sttzt, fr ziemlich naiv. Auf einen therapeutischen Gebrauch des Strafrechts i. S. der positiven Spezialprvention zu vertrauen, ist im gegenwrti-gen Kontext der Ausweitung des Gefhrlichkeitskonzepts als einer unbestimmten und ungenauen Grundlage der )) Verlngerung der Strafe wahrscheinlich wenig realistisch.

    Andererseits hat die Strafrechtswissenschaft seit Jahrzehnten einen Gutteil ih-rer Anstrengungen auf die Ausarbeitung eines Schuldprinzips/-konzepts konzen-triert, das frei von metaphysischen Konnotationen ist und einem doppelten syste-matisch-garantistischen Zweck dient. M. E. ist es mglich, ein ))Tatschuld-Kon-zept zu vertreten, das diese Funktion erfllt, ohne auf indeterministische Prmis-sen zurckzugreifen. 59

    c) Die Argumentation des Indeterminismus, es sei notwendig, die Freiheit als ein grundlegendes Prinzip zu verteidigen, das das Zusammenleben und den Grundpfeiler der Rechtsordnung leitet, kann vllig von uns geteilt werden, die wir den ))freien Willen als metaphysische (oder blo linguistische) Prmisse zur Be-grndung der Strafe ablehnen. Es handelt sich gerade darum, die Freiheit des In-dividuums als einen Teil seiner Wrde als Mensch anzusehen. Gerade weil die Idee der Freiheit absolut respektiert wird, wird nicht von der Existenz des ))freien Willens ausgegangen, um diese Freiheit zu entziehen.

    d) Hieraus ergibt sich, dass die Erkenntnisse der Biologie zum menschlichen Verhalten nur durch die Respektierung der Menschenwrde ))gefiltert berck-sichtigt werden knnen. Wie schon Gnther dargelegt hat, wre es eine tragische Ironie, den Menschen im Namen einer humaneren Behandlung von Strafttern als eine Gesamtheit von Grnden und Konsequenzen anzusehen, welche der Staat zu Erreichung bestimmter Folgen kausal beeinflussen msse. 60 Dies wrde einen gi-gantischen Rckschritt in der philosophischen und sozialen Evolution der Moder-ne darstellen.

    e) Von dem ))humanistischen Kompatibilismus aus hat die Bercksichtigung der neurowissenschaftlichen Beitrge zur Erklrung des menschlichen Verhaltens eine begrenzte Reichweite. Sie bedeutet nur, sich intensiv mit den Grnden zu be-schftigen, die seit Lngerem gerade zur Erreichung eines demokratischeren Strafrechts verfochten werden.

    5. Methodologische Verankerungen

    a) Die dargelegte Perspektive sttzt sich an erster Stelle auf eine Strafz:wecktheorie, die die Vergeltung als Strafzweck in einem demokratischen Strafrecht ablehnt. 61 Neben die-sem Hinweis hat Perez Manzano auf die unvollstndigen Untersuchungen der Neurowis-senschaftler aufmerksam gemacht, die nur die Begrndungsdefizite der Vergeltungskon-zeptionen beachten, ohne die prventiven Rechtfertigungen zu behandeln. 62 Wie die Au-torin erklrt, gibt es gengend Argumente fr die Vereinbarkeit der negativen General-

    59 Vgl. Demetrio Crespo, FS Roxin, 2011, S. 693 ff. 60 Gnther KJ 39/2006, 133. 61 Vgl. Feijoo Sdnchez, Retribuci6n y prevenci6n general, 2007. 62 Perez Manzano Revista de Occidente 356/2011,49.

  • 24 Eduardo Demetrio Crespo GA 2013

    prvention (oder Einschchterung) mit dem detenninistischen Modell. 63 Unabhngig von der Reichweite, in welcher man eine neurologische Behandlung mit prventivem oder therapeutischem Zweck in Zukunft als anwendbar ansehen knnte, muss diese Behand-lung inuner an erster Stelle die Menschenwrde schtzen.

    b) Hier wird kein rein normativistisches, sondern ein durchlssiges Strafrechtswissen-schaftsmodell verfochten, welches gegenber neuen Kenntnissen ber das menschliche Verhalten offen und anpassungsfahig ist. Folgte man der ersten Option, wrde das gesam-te Problem auf einen Streich beseitigt. Daher kann Gnther Jakobs behaupten: Eine Person ist fr hinreichende Rechtstreue zustndig - fr diesen hermetisch-normativen Zusammenhang bedarf es weder einer Willensfreiheit, noch wird er durch die physische Kausalitt der Hirnstrme oder die psychische Detennination durch Lust und Unlust ge-strt, durchaus vergleichbar einem Spiel mit eigenen Regeln.64 Wie Romeo jedoch in Erinnerung ruft, darf der trotz der Unkenntnis und Verachtung der Rechtstheoretiker stattfindende Einfluss der empirischen Wissenschaften auf die Rechtswissenschaft nicht auer Acht gelassen werden. 65

    c) Es wrde- wie gesagt- ausreichen, auf den narrnativistischen Ausweg zurckzugreifen, um das Problem zu beseitigen, nicht aber um es zu lsen, weil immer die Frage offenbliebe, ob unsere Regeln weiterhin aufrechterhalten wer-den knnen. Insofern ist das von Hassemer angefhrte Argument des Kategorien-fehlers kritisch zu sehen, welcher fr ihn in der Verletzung eines Prinzips der Erkenntnistheorie besteht, wonach jede Wissenschaft sich nur mit den Dingen beschftigen solle, fr die ihr ihre Werkzeuge den Zugang erlauben. Seiner Ansicht nach besteht der Kategorienfehler in der Annahme, dass die mit empirischen Me-thoden arbeitenden Wissenschaften in der Lage seien zu entscheiden, ob die Frei-heit existiert oder nicht. 66 M. E. ist dieser methodologische Standpunkt nicht berzeugend, da es sich um die Festlegung handelt, welches der angemessene Ge-genstand der wissenschaftlichen Kenntnis ist, und nicht um eine bloe Diversifi-kation gem den Disziplinen. 67 Es muss daran erinnert werden, dass das Straf-recht immer die hinter seinen Regelungen stehenden Phnomene beachten muss, welche nicht nur in der angeblichen Vereinbarung ber die Willensfreiheit bestehen.

    Hassemers berlegung offenbart ein tief gehendes Unbehagen gegenber der aus einem anderen wissenschaftlichen Sektor stammenden Fragestellung, was vom Standpunkt der Erkenntnis aus zumindest kontraintuitiv ist. 68 Etwas ganz anderes ist die Feststellung, ob die immer zahlreicheren69 Reaktionen der Straf-rechtswissenschaft in die richtige Richtung gehen oder nicht. Tatschlich ist die Debatte m. E. bis jetzt nicht vllig vergeblich gewesen, wie er zu denken scheint, sondern sie hat bestndige Probleme der Legitimierung der Strafe auf-gegriffen, wobei die Neurowissenschaftler selbst ihre Ansichten oft angepasst

    63 Ibidem S. 51. 64 Jakobs ZStW 117 (2005), 263. 65 Romeo Casabona (Fn 44), S. 408. 66 Ibidem S. 847. 67 Hirsch ZIS 212010, 62. 68 Hassemer InDret 212011, 4. 69 Unter der schon umfassenden Bibliografie muss beispielhaft das von Duttge herausgegebene kollektive

    Werk hervorgehoben werden: Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn. Die Herausforderung der neuro biologischen Forschung fr das (Straf-)Recht, 2009.

  • GA2013 Humanistischer Kompatibilismus 25

    und Hypothesen formuliert haben, die den bestehenden Strafzwecktheorien ent-sprechen. 70

    Was legitimiert also unsere Aussage, dass die Neurowissenschaften sich nicht zu den Grundlagen der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit uern drften? Was verleitet uns zu dem Gedanken, dass sie sich mit ihren eigenen An-gelegenheiten beschftigen sollten und wir uns mit unseren? Ich glaube, dass wir verpflichtet sind, ntigenfalls unsere Betrachtungsweisen zu berprfen und neue Antworten anzubieten. Dies unterstreicht logischerweise Hassemers richtige Aus-sage, dass bei jeglicher berlegung ber den Menschen, die Gesellschaft und den Staat die Menschenwrde entscheidend ist. 71

    IV. Schlussfolgerungen

    1. Gegenwrtig ist weder der Indeterminismus des freien Willens noch der mechanistische Neurodeterminismus haltbar. Beide Extreme wrden die absolute Unmglichkeit der Kommunikation zwischen Neurowissenschaften und Straf-recht bedeuten.

    2. Neurowissenschaften und Strafrecht mssen den Menschen in das Zentrum ihrer berlegungen stellen. Insbesondere ein postmetaphysisches Verstndnis des Strafrechts erfordert es, den freien Willen nicht als Grundvoraussetzung der Stra-fe anzusehen. Diesbezglich ist die Perspektive der dritten Person nicht nur recht-lich wirksamer als die introspektive Perspektive der ersten Person, sondern auer-dem mit dem Rest der Sozialwissenschaften kohrent.

    3. Auf der Grundlage eines humanistischen Kompatibilismus wird eine ver-mittelnde Lsung zwischen der Biologie und dem Strafrecht vorgeschlagen.

    4. Die Folgen des humanistischen Kompatibilismus bestehen fr den Bereich der Schuld in Folgendem: a) Falls neue empirische Erkenntnisse zeigen, dass das kriminelle Verhalten auf Gehirnschden beruhte, muss dies zugunsten des Tters bercksichtigt werden. Hchstwahrscheinlich werden die neuen Kenntnisse zu einer Erweiterung der Flle der Schuldunfhigkeit und verminderten Schuldfhig-keil fhren. 72 b) Jedwede Alternativmanahme zur traditionellen Strafe sollte die gleichen materiellen und prozessualen Grenzen und Garantien einhalten, die die im Rahmen des Rechtsstaats als schuldig angesehenen Personen schtzen.

    5. Der vorgeschlagene Standpunkt geht von einigen methodologischen Veran-kerungen aus, wie die Ablehnung des >>Vergeltungsrechts-Syllogismus, eine nicht funktionalistische, durchlssige Auffassung der Strafrechtswissenschaft und die Suche nach einheitlichen wissenschaftlichen Antworten bezglich desselben Kenntnisgegenstands.

    70 G. Merkel/Roth (Fn 33); Pauen/Roth, Freiheit, Schuld und Verantwonung. Grundzge einer naturalisti-schen Theorie der Willensfreiheit, 2008. Zu diesem methodologischen interdisziplinren Vorgehen hatte brigens Ha.~semer in vergangeneo Zeiten auf sehr fruchtbare Weise beigetragen, als es sich darum han-delte, das Strafrecht nicht aus dem Zusammenhang der Sozialwissenschaften zu isolieren.

    71 Ha.rsemerlnDret2/2011, 8. 72 Feijoo Sanchez InDret 212011,39.

  • Ist das Konzept strafrechtlicher Schuld nach 20 StGB durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften widerlegt?

    Von Professorin Dr. Bettina We!er, Mnster

    Neurowissenschaftler liefem Forschungsergebnisse, die die Vermutung nahe legen, menschliche Handlungen seien nicht durch Willensentscheidungen, son-dern ausschlielich durch neuronale Prozesse im Gehirn gesteuert. Ist dadurch das Konzept der Schuld widerlegt, weil die in 20 StGB vorausgesetzte Steue-rungsfhigkeit des Menschen eine Illusion ist? Der folgende Beitrag komnzt zum gegenteiligen Ergebnis und begrndet dies mit einem normativen Fundament des strafrechtlichen Schuldvorwuifs.

    I. Das Problem

    Das Handeln eines Menschen beruht nicht auf seinen freien Willensentschei-dungen, sondern es ist im limbisehen System des menschlichen Gehirns angelegt. Dort wird das gesamte menschliche Erleben gespeichert. Das limbisehe System nimmt seine Arbeit bereits im Mutterleib auf und ist schon in frhester Kindheit weitgehend festgelegt. Alle Empfindungen des Menschen und damit auch sein ge-samtes Erfahrungswissen, seine Bedrfnisse und Wnsche gehen auf die im lim-bisehen System gespeicherten Informationen zurck. Darum ist alles, was wir tun, mitnichten durch freie Willensentscheidungen hierftir veranlasst - auch wenn wir das so empfinden mgen. 1 Unsere vermeintlich frei getroffenen Entscheidungen sind schlicht Ergebnisse neuronaler Prozesse im Gehirn. 2 Als freie Willensent-schlieung empfundene Prozesse sind in Wahrheit durch den Aufbau sog. Bereit-schaftspotenziale im Gehirn determiniert. 3 Der vermeintliche Willensentschluss zur - auch strafbaren - Handlung stellt lediglich den Vollzug des bereits durch neuronale Prozesse festgelegten Handlungsprogramms dar. 4 Das bedeutet: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern es ist nur unser subjektives Empfinden, das uns

    I Prinz, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung- Neues Strafrecht? (2006), S. 51 ff. (54); ders., in: v. Cranach/Foppa (Hrsg.), Freiheit des Entscheidensund Handeins (1996), S. 86 ff. (92, 98, 100); Singer, in: Stompe/Schanda (Hrsg.), Der freie Wille (2010; im Folgenden zitiert: >>Der freie Wille

  • GA 2013 Strafrechtliche Schuld nach 20 StGB und Neurowissenschaften 27

    diesen - aus Sicht der Neurowissenschaften sachlich unzutreffenden - Eindruck vermittelt. Die Idee eines freien Willens des Menschen, der all seine Handlungen steuert, ist damit eine illusion. 5 So weit die Erkenntnisse mancher Neurowissen-schaftler6 in den einfachen Worten einer Fachfremden.

    Was bedeutet das fr das Strafrecht? Es ist nicht berraschend, dass aus der Vor-stellung, der Mensch werde vollstndig durch neuronale Prozesse - und eben nicht durch seinen Willen - gesteuert, geschlossen wird, ein Schuldvorwurf hinsichtlich rechtswidrigen Tuns knne nicht begrndet werden; 7 sei doch der Handelnde letzt-lich nur Opfer seiner durch den Willen nicht beherrschbaren Hirnttigkeit 8

    TI. Lsungsangebote

    Die Frage, ob das deutsche Schuldstrafrecht damit ad acta gelegt werden muss, 9 ist seit einiger Zeit Gegenstand einer heftigen und teilweise hoch emotio-nalen Debatte. 10 Es bieten sich verschiedene Mglichkeiten, auf die neurowissen-schaftlichen ))Angriffe gegen die strafrechtliche Schulddogmatik zu reagieren: Man kann sich auf den Standpunkt zurckziehen, dass die Rechtswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft ein ganz anderes Erkenntnisziel verfolge und daher auch gnzlich andere Denkkategorien aufweise als die Naturwissenschaften und dass infolgedessen neurowissenschaftliche Erkenntnisse fr die strafrechtliche Definition der Schuld keinerlei Bedeutung htten. 11 Eine andere Mglichkeit be-steht darin, die Validitt der neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse fr die menschliche Willensfreiheit oder das strafrechtliche Schuldprinzip anzuzwei-feln 12 - etwa indem die These aufgestellt wird, dass ein in einem Sekundenbruch-teil bestehendes Bereitschaftspotenzial keine verlssliche Aussage ber das Nicht-/Bestehen einer finalen Determinierung menschlicher Handlungen liefern knne. 13 Beide Standpunkte erklren damit im Ergebnis neurowissenschaftliche Erkenntnisse als fr die strafrechtliche Schuldlehre unbeachtlich.

    5 Prinz, in: Rillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung - Neues Strafrecht?, S. 51 ff. (59); Roth (Fn 2), S. 445; Singer, Ein neues Menschenbild (2003), S. 20 f., 31 f.; ders., in: Himforschung, S. 30 ff. (62 f.).

    6 Stellvertretend Roth (Fn 2), S. 435 ff., 443; Singer, in: Der freie Wille, S. 15 ff. (23); Grischa MerkeV Roth, in: Der freie Wille, S. 143 ff. (149).

    7 Singer, in: Der freie Wille, S. 15 ff. (22 f.), pldiert dafr, in der Praxis

  • 28 Bettina Weier GA2013

    Wagt man sich demgegenber an eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Konsequenzen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse fr die strafrechtliche Schuldlehre, so kann man zunchst entsprechend der eingangs geschilderten Ar-gumentationslinie den Abschied vom Schuldstrafrecht in Erwgung ziehen: 14 Wenn Strafe Schuld voraussetzt, Schuld wiederum den freien Willen voraus-setzt 15 und die Beweislast fr beides bei den Strafverfolgungsorganen liegt, so liegt der Schluss nahe, dass bei Anwendung des Zweifelssatzes Strafe mangels begrndbarer Schuld nicht mehr legitimierbar ist. Dann bliebe nur die Flucht in ein Schutz- oder Sicherungsrecht. Mittel der Wahl wren dann allein auf Prventionszwecke ausgerichtete >>Manahmen

  • GA2013 Strafrechtliche Schuld nach 20 StGB und Neurowissenschaften 29

    krzt wiedergegeben, erfolgt die Abgrenzung zwischen den vier schuldausschlieenden Phnomenen des 20 StGB wie folgt:

    Krankhafte seelische Strungen sollen psychische Beeintrchtigungen sein, die auf or-ganischen Ursachen beruhen. 20 Darunter werden nicht nur die klassischen Beispiele des Gehirntumors oder der Demenz gefasst, sondern auch Depressionen, Schizophrenie oder die Manie - obwohl die organischen Ursachen dieser Krankheiten bislang nicht geklrt sind. Sogar der Alkohol- oder Drogenrausch kann bei hinreichender Intensitt in die Fall-gruppe der seelischen Strung fallen. 21 Eine tiefgreifende Bewusstseinsstrung hingegen beruht nicht auf organischen Ursachen - sie e.rfasst etwa den situationsbedingten verant-wortungsausschlieenden Affekt, aber auch extreme bermdungs- oder Erschpfungszu-stnde. 22 Der schlimme Ausdruck des Schwachsinns bezeichnet eine gravierende Intelli-genzschwche, die nicht auf organische Ursachen zurckzufhren ist. 23 Durch einen Krankheitsprozess (etwa einen Sauerstoffmangel unter der Geburt) erworbene Intelligenz-schwchen sollen demgegenber als krankhafte seelische Strung eingeordnet werden. 24 Das vierte Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit schlielich bildet ein Sammelbecken fr andere psychische Strungen wie Neurosen, Triebstrungen oder Sch-te, die nicht als Folge eines organischen Krankheitsprozesses angesehen werden knnen. 25

    Diese bunte Reihe mglicher Schuldausschlussgrnde lsst den Gesetzesanwender ei-nigermaen ratlos zurck, und auch ein Rckgriff auf andere Wissenschaften wie etwa die Medizin verspricht keinen Erken


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