304
§ 23 Fourier-Reihen
In diesem letzten Paragraphen behandeln wir die wichtigsten Tatsachen aus der Theo-rie der Fourier-Reihen. Es handelt sich dabei um die Entwicklung von periodischenFunktionen nach dem Funktionensystem cos kx, sinkx, (k ∈N). Im Unterschied zu denTaylor-Reihen, die im Innern ihres Konvergenzbereichs immer gegen eine unendlichoft differenzierbare Funktion konvergieren, konnen durch Fourier-Reihen z.B. auchperiodische Funktionen dargestellt werden, die nur stuckweise stetig differenzierbarsind und deren Ableitungen Sprungstellen haben.
Periodische Funktionen
Eine auf ganz R definierte reell- oder komplexwertige Funktion f heißt peri-odisch mit der Periode L > 0, falls
f (x+L) = f (x) fur alle x ∈ R .
Es gilt dann naturlich auch f (x +nL) = f (x) fur alle x ∈ R und n ∈ Z. Durcheine Variablen-Transformation kann man Funktionen mit der Periode L auf sol-che mit der Periode 2π zuruckfuhren: Hat f die Periode L, so hat die FunktionF , definiert durch
F(x) := f
(L2π
x
)die Periode 2π. Aus der Funktion F kann man f durch die Formel
f (x) = F
(2πL
x
)wieder zuruckgewinnen. Bei der Behandlung periodischer Funktionen kannman sich also auf den Fall der Periode 2π beschranken. Im Folgenden verste-hen wir unter periodischen Funktionen stets solche mit der Periode 2π.
Spezielle periodische Funktionen sind die trigonometrischen Polynome. EineFunktion f :R→ R heißt trigonometrisches Polynom der Ordnung n, falls siesich schreiben laßt als
f (x) =a0
2+
n
∑k=1
(ak coskx+bk sinkx)
mit reellen Konstanten ak,bk. Die Konstanten sind durch die Funktion f ein-
O. Forster, Analysis 1, Grundkurs Mathematik DOI 10.1007/978-3-658-00317-3_23, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
§ 23 Fourier-Reihen 305
deutig bestimmt, denn es gilt
ak =1π
2πZ
0
f (x)coskxdx fur k = 0,1, . . . ,n ,
bk =1π
2πZ
0
f (x)sinkxdx fur k = 1, . . . ,n .
Dies folgt daraus, dass2πZ
0
coskxsin lxdx = 0 fur alle naturlichen Zahlen k und l,
2πZ
0
coskxcos lxdx =2πZ
0
sinkxsin lxdx = 0 fur k = l,
2πZ
0
cos2 kxdx =2πZ
0
sin2 kxdx = π fur alle k � 1 .
Es ist haufig zweckmaßig, auch komplexwertige trigonometrische Polynomezu betrachten, bei denen fur die Konstanten ak,bk beliebige komplexe Zahlenzugelassen sind. Unter Verwendung der Formeln
cosx = 12
(eix + e−ix) , sinx = 1
2i
(eix− e−ix)
lasst sich das oben angegebene trigonometrische Polynom f auch schreibenals
f (x) =n
∑k=−n
ckeikx,
wobei c0 = a02 und
ck = 12(ak− ibk) , c−k = 1
2(ak + ibk) fur k � 1 .
Um in diesem Fall die Koeffizienten ck durch Integration aus der Funktion f zuerhalten, brauchen wir den Begriff des Integrals einer komplexwertigen Funk-tion. Seien u,v: [a,b]→ R reelle Funktionen. Dann heißt die komplexwertigeFunktion ϕ := u+ iv: [a,b]→C integrierbar, falls u und v integrierbar sind und
306 § 23 Fourier-Reihen
man setztbZ
a
(u(x)+ iv(x))dx :=bZ
a
u(x)dx+ i
bZ
a
v(x)dx .
Speziell fur die Funktion ϕ(x) = eimx, m = 0, ergibt sichbZ
a
eimxdx =1
imeimx∣∣∣ba
,
also insbesondere2πZ
0
eimxdx = 0 fur alle m ∈ Z�{0} .
Damit erhalt man fur das trigonometrische Polynom f (x) = ∑nk=−n ckeikx
ck =1
2π
2πZ
0
f (x)e−ikxdx fur k = 0,±1, . . . ,±n ,
da f (x)e−ikx = ∑nm=−n cmei(m−k)x.
Definition. Sei f :R→ C eine periodische, uber das Intervall [0,2π] integrier-bare Funktion. Dann heißen die Zahlen
ck :=1
2π
2πZ
0
f (x)e−ikxdx , k ∈ Z ,
die Fourier-Koeffizienten von f , und die Reihe
F[ f ](x) :=∞
∑k=−∞
ckeikx,
d.h. die Folge der Partialsummen
Fn[ f ](x) :=n
∑k=−n
ckeikx, n ∈N ,
heißt Fourier-Reihe von f .
Die Fourier-Reihe lasst sich auch in der Forma0
2+
∞
∑k=1
(ak coskx+bk sinkx)
§ 23 Fourier-Reihen 307
schreiben, wobei
ak =1π
2πZ
0
f (x)coskxdx , bk =1π
2πZ
0
f (x)sinkxdx .
Bemerkung. Ahnlich wie bei der Taylorreihe einer Funktion ist nicht garan-tiert, dass die Fourierreihe einer Funktion f konvergiert und dass sie im Falleder Konvergenz gegen f konvergiert.
Folgendes lasst sich aber leicht feststellen: Wenn die Funktion f sich uberhauptin der Gestalt
f (x) =∞
∑k=−∞
γkeikx
mit gleichmaßig konvergenter Reihe darstellen lasst, dann muss diese Reihedie Fourier-Reihe von f sein. Weil namlich gleichmaßige Konvergenz vor-liegt, kann man bei der Berechnung der Fourier-Koeffizienten Integration undLimesbildung vertauschen und man erhalt
ck =1
2π
2πZ
0
( ∞
∑m=−∞
γmeimx)
e−ikx dx
=1
2π
∞
∑m=−∞
2πZ
0
γmei(m−k)x dx = γk .
Im Allgemeinen konvergiert jedoch die Fourier-Reihe von f weder gleich-maßig noch punktweise gegen f . Den Fourier-Reihen ist ein anderer Konver-genzbegriff besser angepasst, die Konvergenz im quadratischen Mittel. Umdiesen Begriff einzufuhren, treffen wir zunachst einige Vorbereitungen.
Skalarprodukt fur periodische Funktionen
Im Vektorraum V aller periodischen Funktionen f :R→ C, die uber das Inter-vall [0,2π] Riemann-integrierbar sind, fuhren wir ein Skalarprodukt ein durchdie Formel
〈 f ,g〉 :=1
2π
2πZ
0
f (x)g(x)dx fur f ,g ∈V .
Folgende Eigenschaften sind leicht nachzuweisen ( f ,g,h ∈V , λ ∈ C):
308 § 23 Fourier-Reihen
a) 〈 f +g,h〉= 〈 f ,h〉+ 〈g,h〉,b) 〈 f ,g+h〉= 〈 f ,g〉+ 〈 f ,h〉,c) 〈λ f ,g〉= λ〈 f ,g〉,d) 〈 f ,λg〉= λ〈 f ,g〉,e) 〈 f ,g〉= 〈g, f 〉.
Fur jedes f ∈V gilt
〈 f , f 〉= 12π
2πZ
0
| f (x)|2dx � 0 .
Aus 〈 f , f 〉= 0 kann man jedoch i.Allg. nicht schließen, dass f = 0. Ist z.B. fim Intervall [0,2π] nur an endlich vielen Stellen von null verschieden, so gilt〈 f , f 〉= 0. Fur stetiges f ∈V folgt jedoch aus 〈 f , f 〉= 0, dass f = 0. Man setzt
‖ f‖2 :=√〈 f , f 〉.
Fur diese Norm gilt die Dreiecksungleichung
‖ f +g‖2 � ‖ f‖2 +‖g‖2 , vgl. (18.6).
Definiert man die Funktion ek : R→C durch
ek(x) := eikx,
so lassen sich die Fourier-Koeffizienten einer Funktion f ∈V einfach schreibenals
ck = 〈ek, f 〉 , k ∈ Z .
Die Funktionen ek haben die Eigenschaft
〈ek,el〉= δkl =
{0, falls k = l,
1, falls k = l,
sie bilden also ein Orthonormalsystem.
Hilfssatz 1. Die Funktion f ∈V habe die Fourier-Koeffizienten ck, k∈Z. Danngilt fur alle n ∈N∥∥∥∥ f −
n
∑k=−n
ckek
∥∥∥∥2
2= ‖ f‖2
2−n
∑k=−n
|ck|2.
Beweis. Wir setzen g := ∑nk=−n ckek. Dann gilt
§ 23 Fourier-Reihen 309
〈 f ,g〉=n
∑k=−n
ck〈 f ,ek〉=n
∑k=−n
ckck =n
∑k=−n
|ck|2
und 〈ek,g〉= ck, also
〈g,g〉=n
∑k=−n
ck〈ek,g〉=n
∑k=−n
|ck|2.
Daraus folgt
‖ f −g‖22 = 〈 f −g, f −g〉= 〈 f , f 〉−〈 f ,g〉−〈g, f 〉+ 〈g,g〉
= ‖ f‖22−
n
∑k=−n
|ck|2−n
∑k=−n
|ck|2 +n
∑k=−n
|ck|2
= ‖ f‖22−
n
∑k=−n
|ck|2, q.e.d.
Satz 1 (Besselsche Ungleichung). Sei f :R → C eine periodische, uber dasIntervall [0,2π] Riemann-integrierbare Funktion mit den Fourier-Koeffizien-ten ck. Dann gilt
∞
∑k=−∞
|ck|2 � 12π
2πZ
0
| f (x)|2 dx .
Beweis. Aus Hilfssatz 1 folgtn
∑k=−n
|ck|2 � ‖ f‖22
fur alle n ∈ N. Durch Grenzubergang ergibt sich die Behauptung.
Definition. Seien f :R→C und fn:R→C, n ∈N, periodische, uber das Inter-vall [0,2π] Riemann-integrierbare Funktionen. Man sagt, die Folge ( fn) kon-vergiere im quadratischen Mittel gegen f , falls
limn→∞
‖ f − fn‖2 = 0 ,
d.h. wenn das quadratische Mittel der Abweichung zwischen f und fn, namlich
12π
2πZ
0
| f (x)− fn(x)|2 dx
fur n→ ∞ gegen 0 konvergiert.
310 § 23 Fourier-Reihen
Man sieht unmittelbar: Konvergiert die Folge ( fn) gleichmaßig gegen f , soauch im quadratischen Mittel. Die Umkehrung gilt aber nicht. Eine im quadra-tischen Mittel konvergente Funktionenfolge braucht nicht einmal punktweisezu konvergieren.
Bemerkung. Der Hilfssatz 1 sagt, dass die Fourier-Reihe von f genau dann imquadratischen Mittel gegen f konvergiert, wenn
∞
∑k=−∞
|ck|2 = ‖ f‖22 ,
d.h. wenn die Besselsche Ungleichung zu einer Gleichung wird. Das Bestehendieser Gleichung bezeichnet man auch als Vollstandigkeitsrelation.
Hilfssatz 2. Sei f :R → R eine periodische Funktion, so dass f∣∣ [0,2π] eine
Treppenfunktion ist. Dann konvergiert die Fourier-Reihe von f im quadrati-schen Mittel gegen f .
Beweis
a) Wir behandeln zunachst den speziellen Fall, dass fur f gilt
f (x) =
{1 fur 0 � x < a,
0 fur a � x < 2π,
wobei a ein Punkt im Intervall [0,2π] ist. Die Fourier-Koeffizienten ck dieserFunktion lauten
c0 =a
2π,
ck =1
2π
aZ
0
e−ikx dx =i
2πk
(e−ika−1
)fur k = 0 .
Fur k = 0 gilt
|ck|2 =1
4π2k2
(1− eika
)(1− e−ika
)=
1− coska2π2k2 ,
also∞
∑k=−∞
|ck|2 =a2
4π2 +∞
∑k=1
1− coskaπ2k2
=a2
4π2 +1π2
∞
∑k=1
1k2 −
1π2
∞
∑k=1
coskak2
§ 23 Fourier-Reihen 311
=a2
4π2 +16− 1
π2
((π−a)2
4− π2
12
)=
a2π
,
wobei (21.9) benutzt wurde. Es gilt deshalb
∞
∑k=−∞
|ck|2 =a
2π=
12π
2πZ
0
| f (x)|2 dx = ‖ f‖22 .
Nach Hilfssatz 1 folgt daraus die Konvergenz der Fourier-Reihe im quadrati-schen Mittel.
b) Ist f | [0,2π] eine beliebige Treppenfunktion, so gibt es Funktionen f1, . . .,fr der in a) beschriebenen Gestalt und Konstanten γ1, . . . ,γr, so dass
f (x) =r
∑j=1
γ j f j(x)
fur alle x ∈R mit evtl. Ausnahme der Sprungstellen. Fur die n-ten Partialsum-men Fn[ f ] bzw. Fn[ f j] der Fourierreihen von f und f j gilt
Fn[ f ] =r
∑j=1
γ jFn[ f j] ,
also
‖ f −Fn[ f ]‖2 =∥∥∥∥ r
∑j=1
γ j(
f j−Fn[ f j])∥∥∥∥
2�
r
∑j=1|γ j| ·
∥∥ f j−Fn[ f j]∥∥
2 .
Nach Teil a) konvergiert dies fur n→ ∞ gegen 0.
Satz 2. Sei f :R→ C eine periodische Funktion, so dass f∣∣ [0,2π] Riemann-
integrierbar ist. Dann konvergiert die Fourier-Reihe von f im quadratischenMittel gegen f . Sind ck die Fourier-Koeffizienten von f , so gilt die Vollstandig-keitsrelation
∞
∑k=−∞
|ck|2 =1
2π
2πZ
0
| f (x)|2 dx .
Beweis. Es genugt den Fall zu behandeln, dass f reellwertig ist und der Ab-schatzung | f (x)|� 1 fur alle x ∈ R genugt.
Sei ε > 0 vorgegeben. Dann gibt es periodische Funktionen ϕ,ψ:R→ R mitfolgenden Eigenschaften:
a) ϕ| [0,2π] und ψ| [0,2π] sind Treppenfunktionen,
312 § 23 Fourier-Reihen
b) −1 � ϕ � f � ψ � 1,
c)
2πZ
0
(ψ(x)−ϕ(x))dx � π4
ε2.
Wir setzen g := f −ϕ. Dann gilt
|g|2 � |ψ−ϕ|2 � 2(ψ−ϕ) ,
also
12π
2πZ
0
|g(x)|2 dx � 1π
2πZ
0
(ψ(x)−ϕ(x))dx � ε2
4.
Fur die Partialsummen Fn[ f ], Fn[ϕ] bzw. Fn[g] der Fourier-Reihen von f , ϕbzw. g gilt
Fn[ f ] = Fn[ϕ]+Fn[g] .
Nach Hilfssatz 2 gibt es ein N, so dass∥∥ϕ−Fn[ϕ]∥∥
2 � ε2
fur alle n � N .
Fur alle n gilt nach Hilfssatz 1∥∥g−Fn[g]∥∥2
2 � ‖g‖22 � ε2
4.
Daher gilt fur alle n � N∥∥ f −Fn[ f ]∥∥
2 �∥∥ϕ−Fn[ϕ]
∥∥2 +∥∥g−Fn[g]
∥∥2 � ε
2+
ε2
= ε ,
die Fourier-Reihe konvergiert also im quadratischen Mittel gegen f . Wie schonbemerkt, folgt daraus, dass aus der Besselschen Ungleichung eine Gleichungwird.
Bemerkung. Schreibt man die Fourier-Reihe einer periodischen Funktion f inder Form
a0
2+
∞
∑k=1
(ak coskx+bk sinkx),
so lautet die Vollstandigkeitsrelation
12 |a0|2 +
∞
∑k=1
(|ak|2 + |bk|2) =1π
2πZ
0
| f (x)|2dx.
Dies ergibt sich durch einfaches Umrechnen der Koeffizienten ck in ak und bk.
§ 23 Fourier-Reihen 313
Beispiele
(23.1) Wir betrachten die schon in Beispiel (21.2) untersuchte periodischeFunktion σ : R→R mit
σ(x) =π− x
2fur 0 < x < 2π, σ(0) = 0.
Die Berechnung der Fourier-Koeffizienten ergibt
c0 =1
2π
2πZ
0
σ(x)dx = 0
und fur k = 0
ck =1
2π
2πZ
0
π− x2
e−ikxdx =− 14π
2πZ
0
xe−ikxdx = [Partielle Integration]
=1
4ikπ
(xe−ikx
∣∣∣2π
0−
Z 2π
0e−ikxdx︸ ︷︷ ︸=0
)=
12ik
.
Die Fourier-Reihe von f lautet daher∞
∑k=1
12i
(eikx
k− e−ikx
k
)=
∞
∑k=1
sinkxk
.
Damit haben wir die Reihe wiedergefunden, von der wir bereits in (21.2) ge-zeigt haben, dass sie uberall punktweise und in jedem Intervall [δ,2π− δ],(0 < δ < π), gleichmaßig gegen σ(x) konvergiert. Einige Partialsummen derFourier-Reihe sind in Bild 23.1 dargestellt.
Nach Satz 2 konvergiert die Reihe auch im quadratischen Mittel gegen σ unddie Vollstandigkeitsrelation liefert
∞
∑k=1
1k2 =
1π
2πZ
0
|σ(x)|2dx =1π
2πZ
0
∣∣∣π− x2
∣∣∣2dx =1
4π
πZ
−π
x2dx =π2
6,
was uns schon aus (21.9) bekannt ist.
(23.2) Wir haben in (21.9) hergeleitet, dass fur 0 � x � 2π gilt
(π− x)2
4=
π2
12+
∞
∑k=1
coskxk2 =
π2
12+
∞
∑k=1
12k2
(eikx + e−ikx
). (∗)
314 § 23 Fourier-Reihen
�
�
0 π 2π
π2
–π2
S10S3
S1
Sn(x) =n
∑k=1
sinkxk
Bild 23.1 Zur Fourier-Entwicklung der Funktion σ
Die Reihe (∗) konvergiert gleichmaßig, stellt also die Fourier-Reihe derjenigenperiodischen Funktion f :R→ R dar, die fur x ∈ [0,2π] mit (π− x)2/4 uber-einstimmt, vgl. Bild 23.2.
�x
�y
π2/4
0−π π 2π 3π 4π
���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������
������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������
�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������
Bild 23.2 Die periodisch fortgesetzte Funktion y = (π−x)2
4 , 0 � x � 2π
Die Vollstandigkeitsrelation liefert
π4
144+2
∞
∑k=1
14k4 =
12π
2πZ
0
(π− x)4
16dx =
π4
80,
also∞
∑k=1
1k4 =
π4
90
in Ubereinstimmung mit Satz 11 aus §22.
§ 23 Fourier-Reihen 315
Die Formeln fur die Fourier-Reihen ∑∞1
sinkxk und ∑∞
1coskx
k2 aus (23.1) und (23.2)sind nur die ersten Glieder einer ganzen Folge von Fourier-Reihen, die mit densog. Bernoulli-Polynomen zusammenhangen. Diese besprechen wir jetzt.
(23.3) Bernoulli-Polynome. Fur n ∈ N ist das n-te Bernoulli-Polynom ist de-finiert als
Bn(x) :=n
∑k=0
(nk
)Bk xn−k,
wobei Bk die in (22.10) definierten Bernoulli-Zahlen sind. Bn(x) ist ein Po-lynom n-ten Grades mit Bn(0) = Bn. Die Bernoulli-Polynome vom Grad � 6lauten:
B0(x) = 1,
B1(x) = x− 12 ,
B2(x) = x2− x+ 16 ,
B3(x) = x3− 32x2 + 1
2x,
B4(x) = x4−2x3 + x2− 130 ,
B5(x) = x5− 52x4 + 5
3x3− 16x,
B6(x) = x6−3x5 + 52x4− 1
2x2 + 142 .
Wir zeigen jetzt folgende Eigenschaften der Bernoulli-Polynome:
i) B′n(x) = nBn−1(x) fur alle n � 1,
ii) Bn(0) = Bn(1) fur alle n � 2,
iii)R 1
0 Bn(x)dx = 0 fur alle n � 1.
Beweis. Zu i) Unter Benutzung der Gleichung (n−k)(n
k
)= n(n−1
k
)erhalt man
B′n(x) =n−1
∑k=0
(n− k)(
nk
)Bk xn−1−k
= nn−1
∑k=0
(n−1
k
)Bk xn−1−k = nBn−1(x).
Zu ii) Die Rekursionsformel fur die Bernoulli-Zahlen (22.10) ist aquivalent zu∑n−1
k=0
(nk
)Bk = 0 fur n � 2. Daraus folgt
Bn(1) =n−1
∑k=0
(nk
)Bk +Bn = Bn = Bn(0) fur n � 2.
316 § 23 Fourier-Reihen
Zu iii)
(n+1)Z 1
0Bn(x)dx =
Z 1
0B′n+1(x)dx = (Bn+1(1)−Bn+1(0) = 0, q.e.d.
Wir definieren jetzt fur n � 1 periodische Funktionen Bn : R→ R mit der Pe-riode 1 durch
B1(x) = B1(x) fur 0 < x < 1, B1(0) = 0,
Bn(x) = Bn(x) fur 0 � x < 1, (n � 2)
und
Bn(x+m) = Bn(x) fur alle x ∈R, m ∈ Z, n � 1.
Die Funktionen Bn sind fur n � 2 stetig und (n−2)-mal stetig differenzierbar.
Durch die Variablen-Transformation x �→ 2πx erhalt man aus den Beispielen(23.1) und (23.2) die Formeln
B1(x) =−2∞
∑m=1
sin(2πmx)2πm
und B2(x) = 4∞
∑m=1
cos(2πmx)(2πm)2 .
Dies verallgemeinert sich wie folgt:
B2k+1(x) = (−1)k−12(2k +1)!∞
∑m=1
sin(2πmx)(2πm)2k+1 , (k � 0),
B2k(x) = (−1)k−12(2k)!∞
∑m=1
cos(2πmx)(2πm)2k , (k � 1).
Beweis. Wir bezeichnen fur n = 2k + 1 bzw. n = 2k die rechten Seiten derFormeln mit βn(x). Man sieht unmittelbar
β′n+1(x) = (n+1)βn(x) undZ 1
0βn(x)dx = 0
fur alle n � 2 (da gliedweise Differentiation bzw. Integration erlaubt ist). Die-selben Beziehungen gelten fur die Funktionen Bn(x). Da Bn(x) = βn(x) furn = 1,2, folgt durch vollstandige Induktion uber n, dass Bn(x) = βn(x) fur allen � 1, q.e.d.
Bemerkung. Setzt man in der Formel fur B2k(x) die Variable x = 0, so erhaltman wieder die Werte fur ζ(2k) aus §22, Satz 11.
§ 23 Fourier-Reihen 317
Setzt man dagegen x = 14 in die Formel fur B2k+1(x), so ergibt sich als Verall-
gemeinerung der Leibniz’schen Reihe (Fall k = 0)∞
∑n=0
(−1)n
(2n+1)2k+1 = (−1)k−1 (2π)2k+1
2(2k +1)!B2k+1(1
4).
Fur k = 1,2 erhalt man wegen B3(14) = 3
64 und B5(14) =− 25
1024∞
∑n=0
(−1)n
(2n+1)3 =π3
32und
∞
∑n=0
(−1)n
(2n+1)5 =5π5
1536.
Wir kommen nun zu einer großen Klasse von Funktionen, deren Fourier-Reihegleichmaßig konvergiert.
Satz 3. Es sei f :R→C eine stetige periodische Funktion, die stuckweise stetigdifferenzierbar ist, d.h. es gebe eine Unterteilung
0 = t0 < t1 < .. . < tr = 2π
von [0,2π], so dass f | [tk−1, tk] fur k = 1, . . . ,r stetig differenzierbar ist. Dannkonvergiert die Fourier-Reihe von f gleichmaßig gegen f .
Ein Beispiel fur Satz 3 ist die in (23.2) untersuchte Funktion.
Beweis. Es sei ϕk : [tk−1, tk]→ C die stetige Ableitung von f | [tk−1, tk] undϕ : R → C diejenige periodische Funktion, die auf [tk−1, tk[ mit ϕk uberein-stimmt. Fur die Fourier-Koeffizienten γn der Funktion ϕ gilt nach der Bessel-schen Ungleichung
∞
∑n=−∞
|γn|2 � ‖ϕ‖22 < ∞ .
Fur n = 0 lassen sich die Fourier-Koeffizienten cn von f wie folgt durch parti-elle Integration aus den Fourier-Koeffizienten γn von ϕ gewinnen:
tkZ
tk−1
f (x)e−inx dx =in
tkZ
tk−1
f (x)d(e−inx)
=in
(f (x)e−inx
∣∣∣tktk−1
−tkZ
tk−1
ϕ(x)e−inxdx)
.
Da wegen der Periodizitat von fr
∑k=1
(f (x)e−inx
∣∣∣tktk−1
)=− f (t0)e−int0 + f (tr)e−intr = 0,
318 § 23 Fourier-Reihen
folgt
cn =1
2π
2πZ
0
f (x)e−inxdx =1
2π
r
∑k=1
tkZ
tk−1
f (x)e−inxdx
=−i2πn
2πZ
0
ϕ(x)e−inxdx =−iγn
n.
Wegen der fur alle a,b ∈R gultigen Ungleichung ab � 12(a2 +b2) ergibt sich
|cn|= |γn||n| � 1
2
(1|n|2 + |γn|2
).
Weil∞∑
n=1
1n2 und
∞∑
n=−∞|γn|2 konvergent sind, folgt
∞
∑n=−∞
|cn|< ∞ .
Die Fourier-Reihe ∑∞n=−∞ cneinx von f konvergiert also absolut und gleich-
maßig gegen eine (nach §21, Satz 1) stetige Funktion g. Somit konvergiertdie Fourier-Reihe im quadratischen Mittel sowohl gegen f als auch gegen g,woraus folgt
‖ f −g‖2 = 0 .
Da f und g stetig sind, folgt daraus, dass f und g ubereinstimmen. Satz 3 istdamit bewiesen.
Bemerkung. Satz 3 lasst sich auf unstetige Funktionen verallgemeinern, vgl.Aufgabe 23.6.
(23.4) Die Fresnelschen Integrale. Als eine Anwendung von Satz 3 berech-nen wir die uneigentlichen IntegraleZ ∞
0cos(x2)dx =
Z ∞
0sin(x2)dx =
√π
2√
2.
Diese Integrale spielen in der Optik in der Fresnelschen Beugungstheorie eineRolle.
Man kann sich leicht uberlegen, dass die Integrale konvergieren, vgl. Aufgabe20.6. Zu ihrer Berechnung betrachten wir folgende Funktion F : [0,2π]→ C
F(x) := eix2/2π = cos( x2
2π
)+ isin
( x2
2π
).
§ 23 Fourier-Reihen 319
Da F(0) = F(2π) = 1, lasst sich F zu einer auf ganz R stetigen und stuckweisestetig differenzierbaren periodischen Funktion F : R → C fortsetzen, derenFourier-Reihe
F(x) = ∑n∈Z
cneinx
nach Satz 3 gleichmaßig gegen F konvergiert. Insbesondere gilt ∑n∈Z
cn = 1.
Die Fourier-Koeffizienten von F sind
cn =1
2π
Z 2π
0eix2/2πe−inxdx.
Nun ist
eix2/2πe−inx = exp( i
2π(x2−2πnx)
)= exp
( i2π
(x−πn)2)
exp(− iπ
2n2)
= ιn exp( i
2π(x−πn)2
)mit
ιn :={
1, falls n gerade,−i, falls n ungerade.
Es folgt
cn =ιn
2π
Z 2π
0ei(x−πn)2/2πdx =
ιn
2π
Z (2−n)π
−nπeix2/2πdx.
Summation uber alle geraden und alle ungeraden n ergibt
1 = ∑n∈Z
cn =1
2π
Z ∞
−∞eix2/2πdx− i
2π
Z ∞
−∞eix2/2πdx,
also Z ∞
−∞eix2/2πdx =
2π1− i
= π(1+ i).
Die Variablen-Substitution t = x/√
2π liefertZ ∞
−∞eit2
dt =1√2π
Z ∞
−∞eix2/2πdx =
√π
1+ i√2
,
woraus sich durch Trennung in Real- und Imaginarteil die behaupteten Werteder Fresnelschen Integrale ergeben.
320 § 23 Fourier-Reihen
AUFGABEN
23.1. Man berechne die Fourier-Reihe der periodischen Funktion f :R→R mit
f (x) = |x| fur −π � x � π .
23.2. Man berechne die Fourier-Reihe der Funktion f (x) = |sinx|.
23.3. Man beweise: Ist f :R → R eine gerade (bzw. ungerade) periodischeFunktion, so hat die Fourier-Reihe von f die Gestalt
a0
2+
∞
∑k=1
ak coskx bzw.∞
∑k=1
bk sinkx .
23.4. a) Man zeige: Jede stetige periodische Funktion f :R → R lasst sichgleichmaßig durch stetige, stuckweise lineare periodische Funktionen appro-ximieren. Dabei heißt eine stetige periodische Funktion ϕ:R→ R stuckweiselinear, wenn die Funktion f
∣∣ [0,2π] stuckweise linear im Sinne der Definitionin Aufgabe 11.8 ist.
b) Man beweise mit Teil a) und Satz 3, dass sich jede stetige periodische Funk-tion f :R→ C gleichmaßig durch trigonometrische Polynome approximierenlasst (Weierstraß’scher Approximationssatz fur periodische Funktionen).
23.5. Sei f : R→C eine stetige periodische Funktion mit Fourier-Koeffizientencn, n ∈ Z. Man beweise:
a) Ist f k-mal stetig differenzierbar, so folgt
cn = O( 1|n|k)
fur |n| → ∞.
b) Falls
cn = O( 1|n|k+2
)fur |n| → ∞,
so ist f k-mal stetig differenzierbar und die Fourier-Reihe konvergiert gleich-maßig gegen f .
23.6. Die periodische (nicht notwendig stetige) Funktion f :R→ C sei stuck-weise stetig differenzierbar, d.h. es gebe eine Unterteilung
0 = t0 < t1 < .. . < tr−1 < tr = 2π,
§ 23 Fourier-Reihen 321
so dass sich die Funktionen f | ]t j−1, t j[ zu stetig differenzierbaren Funktionenf j : [t j−1, t j]→C fortsetzen lassen ( j = 1, . . . ,r). Es seien
f+(t j) := limt↘t j
f (t) und f−(t j) := limt↗t j
f (t)
die rechts- bzw. linksseitigen Grenzwerte von f an den Stellen t j und
γ j := f+(t j)− f−(t j)
die Sprunghohen von f an diesen Stellen. Man beweise:
a) Die Funktion F : R→ C,
F(t) := f (t)−r
∑j=1
γ j
πσ(t− t j),
wobei σ : R→ R die in Beispiel (23.1) betrachtete Funktion ist, ist stetig undstuckweise stetig differenzierbar.
b) Die Fourier-Reihe von f konvergiert auf jedem kompakten Intervall [a,b]⊂R, das keine Unstetigkeitsstelle von f enthalt, gleichmaßig gegen f . An denStellen t j konvergiert die Fourier-Reihe von f gegen den Mittelwert
12( f+(t j)+ f−(t j)).
23.7. Sei a ∈ R�Z und f : R→C die periodische Funktion mit
f (x) = eiax fur 0 � x < 2π, f (x+2πn) = f (x), (n ∈ Z).
Man berechne die Fourier-Reihe von f und bestimme ihr Konvergenzverhalten(vgl. Aufgabe 23.6).
Was ergibt sich fur x = 0 ?
23.8. In dieser Aufgabe werden die Bernoulli-Polynome aus (23.3) benutzt.
Man zeige:
a) Sei f : [0,1]→ R eine stetig differenzierbare Funktion. Dann gilt
12( f (0)+ f (1)) =
Z 1
0f (x)dx+
Z 1
0B1(x) f ′(x)dx.
b) Ist f : [0,1]→ R sogar 2r-mal stetig differenzierbar (r � 1), so giltZ 1
0B1(x) f ′(x)dx =
r
∑j=1
B2 j
(2 j)!
(f (2 j−1)(1)− f (2 j−1)(0)
)−
Z 1
0
B2r(x)(2r)!
f (2r)(x)dx.
322 § 23 Fourier-Reihen
c) Seien m < n ganze Zahlen und f : [m,n]→ R eine 2r-mal stetig differen-zierbare Funktion. Dann gilt die Euler-MacLaurinsche Summationsformel
n
∑k=m
f (k) = 12( f (m)+ f (n))+
Z n
mf (x)dx
+r
∑j=1
B2 j
(2 j)!
(f (2 j−1)(n)− f (2 j−1)(m)
)+R2r
mit
R2r =−Z n
m
B2r(x)(2r)!
f (2r)(x)dx und |R2r|� |B2r|(2r)!
Z n
m| f (2r)(x)|dx.
23.9. Zur Berechnung der Euler-Mascheronischen Konstanten
γ = limN→∞
( N
∑n=1
1n− logN
)werte man fur M � 1 und r � 1 den Limes
limN→∞
( N
∑n=M
1n−
Z N
M
dxx
)mithilfe der Euler-MacLaurinschen Summationsformel aus und beweise dieNaherungs-Formel
γ =( M
∑k=1
1k− logM
)− 1
2M+
r−1
∑j=1
B2 j
2 j· 1
M2 j + θ ·(B2r
2r· 1
M2r
)mit 0 � θ � 1.
i) Durch geeignete Wahl von M und r berechne man γ auf 50 Dezimalstellengenau.
ii) Fur jedes feste M � 1 gilt limr→∞
(B2r
2r· 1
M2r
)= ∞.
iii) Wie kann man M und r wahlen, um γ auf 1000 Dezimalstellen genau zuberechnen ?