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3.1.2 Der Kanun - Vorbemerkungen der Redaktion · zug des Islam gegen Ende des 15. Jahrhunderts...

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248 3.1.2 Der Kanun - Vorbemerkungen der Redaktion Seit 1999 sind österreichische Soldaten im Kosovo im Ein- satz. Sie haben dort mehr oder weniger engen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung, die überwiegend albanisch- stämmig ist. Um diese Menschen und ihr Verhalten zu ver- stehen, ist es geboten, ihre Rechtsnormen - geschrieben oder ungeschrieben - zu kennen. Nur so kann ein Einsatz, der Ruhe, Ordnung und Frieden ermöglichen soll, Erfolg haben. Das ungeschriebene Gewohnheitsrecht der Albaner, der Kanun, wird hier in den wichtigsten Zusammenhängen dargestellt. Seine Kenntnis ist für alle Kommandanten, aber ebenso für jeden einzelnen Soldaten bei diesen Einsätzen - auch für die eigene Sicherheit - entscheidend. Nachdem aber auch immer mehr Albaner aus dieser Region nach Österreich gelangen, könnte das Wissen um das Ge- wohnheitsrecht dieser Menschen auch in unserem Land an Bedeutung gewinnen. Die Redaktion
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3.1.2 Der Kanun -Vorbemerkungen der Redaktion

Seit 1999 sind österreichische Soldaten im Kosovo im Ein-satz. Sie haben dort mehr oder weniger engen Kontakt mitder einheimischen Bevölkerung, die überwiegend albanisch-stämmig ist. Um diese Menschen und ihr Verhalten zu ver-stehen, ist es geboten, ihre Rechtsnormen - geschriebenoder ungeschrieben - zu kennen. Nur so kann ein Einsatz,der Ruhe, Ordnung und Frieden ermöglichen soll, Erfolghaben. Das ungeschriebene Gewohnheitsrecht der Albaner,der Kanun, wird hier in den wichtigsten Zusammenhängendargestellt. Seine Kenntnis ist für alle Kommandanten, aberebenso für jeden einzelnen Soldaten bei diesen Einsätzen -auch für die eigene Sicherheit - entscheidend.Nachdem aber auch immer mehr Albaner aus dieser Regionnach Österreich gelangen, könnte das Wissen um das Ge-wohnheitsrecht dieser Menschen auch in unserem Land anBedeutung gewinnen.

Die Redaktion

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Der Kanun -das albanische Gewohnheitsrecht

Dem Soldaten, der bei seinem Einsatz im Kosovo zwangs-läufig in einen mehr oder weniger engen Kontakt zur Zivil-bevölkerung kommt, mögen manche Verhaltensweisen der al-banisch-stämmigen Volksgruppe seltsam und unverständlichanmuten. Die Ursachen dafür liegen in einem über Jahrhun-derte überlieferten und gewachsenen Gewohnheitsrecht, demKanun. Er ist ein Teil der Seele des albanischen Volkes, undjeder Soldat, der in das Kosovo geht, sollte dieses Wissenzum Verständnis der Vorgänge im Einsatzraum und zu seinereigenen Sicherheit im Hinterkopf haben.Der Kanun1) i Lek Dukaghinit2) (im Kosovo gültige Form)bzw. der Kanun i Papazhulit (gültig südlich des FlussesShkumb) ist das albanische Gewohnheitsrecht. Das WortKanun kommt aus dem Türkischen und bezeichnet das welt-liche (staatliche) Recht. Im folgenden Beitrag wird ein Über-blick über die wichtigsten Regelungen, die in dieser Rechts-form festgelegt sind, gegeben.Der Kanun regelt nicht nur seit vorrömischer Zeit die Ge-setze, sondern auch die Sitten und Gebräuche des albani-schen Volkes. Er war bis in die Mitte des 20. Jahrhundertsfür die Bevölkerung bindend. In der Gegend um Prizren hat-te der Kanun bis 1912 Gültigkeit; erst dann wurde das ser-bische Staatsgesetz eingeführt. Der Kanun ist somit kein of-fiziell gültiges Gesetz. Aber wie die Geschichte lehrt, gibt es

1) Godin, Marie Amelie Freiin von: Zeitschrift für vergleichende Rechts-wissenschaften, Band 56 (1953), Seite 1 - 46; ebenda, Band 57(1954), Seite 4 - 73; ebenda, Band 58, (1955), Seite 120 - 198.

2) Im folgenden Text nur mehr als Kanun bezeichnet.

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Der Kanun prägt alle jene Länder, wo albanisch-stämmigeLeute leben: In Albanien, im Kosovo, in Nordmazedonien undin den ethnischen Enklaven Serbiens.

gravierende Unterschiede zwischen dem staatlichen Rechtund dem Rechtsempfinden, wie es in der Bevölkerung ver-wurzelt ist. UN-Polizisten, die mit kosovo-albanischen Kol-

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legen zusammenarbeiten, berichten, dass deren Gesetzes-auslegung auch heute noch stark vom Kanun geprägt ist.Aus diesem Grund müssen westlich geprägte Exekutiv-organe besonders darauf achten, dass das Wertesystem, wiees die Vereinten Nationen vorgeben, nicht durch den Kanunausgehöhlt wird.Der Ursprung des Kanun ist bis heute unklar. Er wurde münd-lich vom Vater auf den Sohn überliefert und erst 1926 durchden Franziskanermönch Pater Stephan Gjetschow niederge-schrieben. Weder die wechselnde Herrschaft noch der Ein-zug des Islam gegen Ende des 15. Jahrhunderts taten der Gül-tigkeit des Kanun Abbruch. Es gilt somit für NATO-Kräfte zubedenken, dass sie im Kosovo auf ein Gesellschafts- undWertesystem stoßen, das krisenerprobt ist und sich erfolg-reich gegen den Einfluss verschiedener Kulturen behauptethat. Die aktuelle Situation, wie sie derzeit im Kosovo vor-herrscht, ist für die Bevölkerung nichts wirklich Neues. Siekann auf Erfahrungen zurückgreifen, die sich bereits bewährthaben. Die praktische Umsetzung unterliegt natürlich Schwan-kungen, aber wenn es um Traditionen und Werte geht, gel-ten auch heute noch dieselben Regeln.Der Kanun ist in zwölf Bücher unterteilt. Im folgenden Textist immer dessen Alter zu bedenken; die diversen Regelun-gen, die Wortwahl, mögliche Widersprüche etc. erscheinenanachronistisch. Der Leser ist daher gefordert, nicht nur dasgeschriebene Wort, sondern das zugrunde liegende Werte-system zu erfassen, das trotz vieler Geschehnisse auch heu-te noch seine Spuren im Denken und Handeln der albani-schen Bevölkerung hinterlassen hat.

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1. Buch: Die Kirche

Als der Kanun entstand, war das albanische Volk der christli-chen Religion zugehörig. Der Wechsel zum Islam erfolgte imLaufe des 15. Jahrhunderts. Ähnlich wie bei uns entzieht sichdie Kirche der weltlichen Gerichtsbarkeit und muss sich im All-gemeinen nur gegenüber den klerikalen Stellen verantworten.Im Kanun bedeutet dies, dass der Pfarrer der Schutzbefohle-ne der Pfarre ist, nicht unter das Blut3) fällt und nur in Aus-nahmefällen zum Eid4) aufgefordert wird. Sein Eid gilt dann so,wie der Eid von 24 Personen. Nur in schweren Ausnahmefäl-

3) Die Redewendung „fällt unter das Blut“ wird im Kanun für die Blut-rache verwendet.

4) Betroffene, Zeugen etc. schwören zu lassen, ist im Kanun ein pro-bates Mittel zur Bewertung der Glaubwürdigkeit.

Als der Kanun entstand, gehörte das albanische Volk zurchristlichen Religion - erst im 15. Jahrhundert erfolgte derWechsel zum ...

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len fällt der Priester unter die Gerichtsbarkeit des Kanun, diedann aber durch einen anderen Priester repräsentiert wird.Die Kirche selbst darf nicht zu Strafen greifen. Ein Schaden,welcher der Kirche entsteht, wird durch die Pfarrgemeindegeahndet. Wenn allerdings die Kirche einen Schaden verur-sacht, hat sie ihn wieder gut zu machen. Dasselbe gilt fürdie Diener und Arbeiter der Kirche.Wer gegen die Kirche schuldig wird, wird durch die Stammes-führer oder mitunter durch die Kirchenoberen bestraft.Die möglichen Strafen sind: Das Todesurteil, das Ausstoßen aus

dem Stamm - mit Angehö-rigen und Besitz -, dasVerbrennen des Hauses,das Brachlassen des Bo-dens oder das Abschnei-den der Fruchtbäume so-wie Buße durch Geld oderlebendes Vieh. Das Straf-maß richtet sich, wie üb-lich, nach der Art derSchuld.Fallbeispiel5): Zwei Bur-schen drangen in dasPfarrhaus von Oroshi einund stahlen dem Franzis-kaner ein Gefäß mit But-ter. Der Pfarrer war nichtzu Hause, und die Diener

waren bei der Arbeit. Als der Pfarrer heimkehrte, fand der Die-ner das Gefäß mit Butter nicht mehr im Speiseschrank und teil-

5) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58(1955), Seite 166 ff.

...Islam.

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te dies seinem Herrn sogleich mit dem Bemerken mit, es müsseentwendet worden sein. Pflichtgemäß ging der Pfarrer zumHäuptling und zeigte den Vorfall an. Der Häuptling versam-melte den Stamm, und da sich niemand meldete, der hätte an-geben können, wer das Gefäß gestohlen hatte, zeigte er es demOberhäuptling, Kol Prenga, aus dem Haus der Gjonmarku an.Der übernahm es selbst, den Verbrecher ausforschen zu lassen.Eines Tages befahl er, den ganzen Stamm auf dem Kirchfeld vonOroshi zusammenzurufen: „Ein Mann für jedes Haus, von jederSippe und allen Bannern“.Nachdem er jedermann im Kreise über den Diebstahl ausge-fragt hatte, keiner aber jemanden anzeigen konnte, sprachder Häuptling mit den Führern das Todesurteil und das Ver-treiben aus dem Stamm über den (unbekannten) Schuldigenaus; „Seine Erde sei brach!“Nicht lange nach diesem Urteilsspruch wurden die Diebeausgeforscht. Es waren zwei Jünglinge. Nach dem Befehldes großen Häuptlings Nikolaus Prong versammelte sichder Stamm abermals, ein Mann für jedes Haus.Nachdem das bereits gesprochene Urteil nochmals verkün-det worden war, brachte man die beiden Diebe in die Mittedes Feldes. Alle zielten auf die beiden - der eine mit derLangbüchse, der andere mit der Pistole - und warteten aufden Befehl des Kapedan zum Abfeuern.Das Unglück der beiden Burschen aber ging dem Franziska-ner so tief zu Herzen, dass er den Kapedan, die Häuptlingeund Führer sowie das Volk anflehte, ihm, dem Pfarrer, ihrLeben zu schenken. So wurde ihnen denn auch wirklich, umseinetwillen, das Leben geschenkt. Die Ehre der Kirche be-zahlten sie, das gestohlene Gut ersetzten sie im Verhältnis2:1, der Stamm nahm die Buße, die ihm gebührte, auf sich,und die beiden Burschen wurden mit ihren Angehörigen ausdem Stamm verstoßen.

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Jede Bruderschaft oder Sippe kann von der Kirche ein Graberstehen, das in weiterer Folge den Familienmitgliedern vor-behalten ist. Im Gegensatz zu unseren Gepflogenheiten be-stehen Gräber für die Ewigkeit und werden nicht nur für ei-nen bestimmten Zeitraum erworben.Derzeit entstehen im Kosovo viele Gedenkstätten und Grab-mäler. Die Bedeutung dieser - oft monumentalen - Grabstät-ten liegt im Wunsch, den Gefallenen ein ewiges Denkmal zusetzen und gleichzeitig in dem Versprechen, sie und ihrenKampf niemals zu vergessen.In Anbetracht dieser Einstellung wird klar, dass zur Zeit inder Bevölkerung kaum der Wunsch nach Vergebung oderdem Neubeginn eines friedlichen Nebeneinanders mit derserbischen Volksgruppe vorhanden ist.

2. Buch: Die Familie

Der Kanun definiert die Familie wie folgt: Die Familie isteine Gemeinschaft aus Gliedern, die unter einem Dach le-ben; eine Gemeinschaft, deren Zweck die Mehrung derMenschheit durch Heirat ist, die Entwicklung der Mensch-heit nach Körper und Geist. Die Familie begreift die Leutedes Hauses. Vermehren sie sich, so teilen sie sich inBrüderschaften, diese schließen sich zu Sippen zusammen,

Die Rechte und Pflichten der Kirche sind klar geregelt.- Rechte: Die Kirche hat das Recht auf Grundbesitz, An-

teil an den Bußgeldern der Pfarrgemeinde und dasRecht zum Handel. Der Besitz wird vom Pfarrer ver-waltet.

- Pflichten: Der Pfarrer ist in erster Linie zur Seelsor-ge verpflichtet und verantwortlich in Glaubensfragen.

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die Sippen zu Stämmen; und alle bilden eine große Fami-lie, die man Volk nennt und ein gemeinsames Vaterland hat,ein Blut, eine Sprache, einen Brauch6).Wenn der Kanun von Familie spricht, betrifft das ausschließ-lich die Männer eines Hauses; wenn auch Frauen betroffen

6) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 56 (1953),Seite 16.

Wenn der Kanun von Familie spricht, betrifft das ausschließlich dieMänner eines Hauses. Der Kanun betrachtet die Frauen als rechtlos.

sind, wird das explizit erwähnt, weil der Kanun die Frauenals rechtlos betrachtet.Die Rechte und Pflichten des Herrn des Hauses (in der Regelder Älteste) umfassen die wirtschaftliche, körperliche und seeli-sche Sicherheit aller Familienmitglieder. Seine Stellung kommt dereines Regenten gleich. Er trifft nicht nur jede grundlegende Ent-scheidung, sondern er vertritt die Familie auch nach außen undträgt die Verantwortung für alle. Die einzigen Bereiche, die sich

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dem Einfluss des Ältesten entziehen, sind die Waffen und dieTiere. Jedes Familienmitglied hat das Recht auf eigene Waffen,und für die Tiere gibt es einen direkt Verantwortlichen (z. B. denHirten). Der Bestand an Tieren darf jedoch ohne die Erlaubnisdes Hausherrn nicht verändert werden.Die Rechte und Pflichten der Frau des Hauses (der Frau desÄltesten) sind auf den Haushalt beschränkt. Sie ist dort dasausführende Organ des Hausherrn.Die Hausbewohner haben des Recht, den Herrn und die Fraudes Hauses abzuwählen, wenn diese nicht zum Besten des Hau-ses agieren. Die Familie als Ganzes hat das Recht auf eine Stim-me im Dorfrat und Anteil an Bußgeldern, Gemeindegut etc.Ebenso hat die Familie die Verpflichtung, ihre Aufgaben im Dorfzu erfüllen, sei es bei Arbeiten, im Kampf oder wenn es um Fra-gen der Ehre geht.Die Rechte und Pflichten der Dienerschaft erinnern in den Grund-zügen an unser Arbeitsrecht: Z. B. darf bei Fehlern kein Geldvom Lohn abgezogen werden, und es gibt Entschädigungen.Das Reglement ist zwar teilweise veraltet, aber entspricht un-serem Wertesystem und ist moderner als jene Regelungen, diein unserem Raum vor 2 000 Jahren Gültigkeit hatten.

3. Buch: Die Heirat

Sich nach dem Kanun zu verheiraten bedeutet, ein Haus zu grün-den oder das Haus um ein Glied zu vermehren, sowohl zum Zwe-cke der Arbeit als auch für die Vermehrung der Nachkommenschaft.Der Ehemann ist für die wirtschaftliche, körperliche und psychi-sche Sicherheit seiner Frau (und seiner Kinder) verantwortlich.Dieser Grundsatz ist im Zuge des Kosovo-Konfliktes stark insWanken geraten. Die Männer im Kosovo nehmen die oben erwähn-ten Pflichten sehr ernst. Durch ihre - tatsächliche oder vermutete -Aktivität bei der UCK haben sie ihre Familien in Gefahr gebracht.

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Viele Frauen erzählen, dass sie Repressionen von Seiten der Serbenausgesetzt waren, weil diese Informationen über die Aktivitäten oderden Aufenthalt ihrer Männer haben wollten. Das widerspricht ve-hement den Pflichten der Männer und hat deren Wertesystem starkdurcheinander gebracht. Die Unmöglichkeit, eine Arbeit zu finden,das In-Frage-Stellen von Prinzipien und Grundhaltungen, die unsi-chere politische Situation etc. führen in weiterer Folge zu einemdepressiven Stimmungsbild in der männlichen kosovo-albanischenBevölkerung. Hier wäre ein Engagement von Seiten der Hilfs-organisationen hilfreich und wünschenswert.Die Hochzeitsvorbereitungen liegen in den Händen der Väter vonBraut und Bräutigam. Ist der Bräutigam Waise, kann er dieHochzeitsvorbereitungen selbst bestimmen, bei der Braut überneh-men Brüder oder andere männliche Verwandte die Verantwortung.

In der Realität hat eine Witwe vier Möglichkeiten:1. Sie kann zu ihrer eigenen Familie zurückkehren. Das

bedeutet, dass sie auf ihre Kinder verzichtet, denn dieKinder gehören zur Familie des verstorbenen Mannes.

2. Sie kann wieder heiraten, wie der Kanun es gestat-tet, aber auch das bedeutet den Verzicht auf die Kinder.

3. Sie kann alleine mit ihren Kindern leben. Das bedeu-tet jedoch den Abstieg in die Isolation und in die Ar-mut. Die meisten Frauen haben keinen Beruf erlernt,und die Chancen auf Arbeit sind daher minimal.

4. Sie lebt weiterhin bei der Familie des verstorbenenMannes. Dafür entscheiden sich die meisten Frau-en. In diesem Fall übernimmt ein anderer Mann dieVerantwortung für ihre Sicherheit. Sie ist jedoch völ-lig von dessen Gutdünken abhängig, und die Lebens-umstände mancher kosovo-albanischer Frauen ent-behren daher jeglicher Menschenwürde.

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Der Kanun hält fest, dass verwitwete Eheleute sich wiederverheiraten und dabei sowohl Männer als auch Frauen au-tonom agieren dürfen.Es ist allerdings erstaunlich, dass diese Regelungen nur fürwenige Frauen ein Problem darstellen. Die meisten von ih-nen kennen nichts anderes und stellen diese Regeln dahernicht in Frage. Wenn man eine kosovo-albanische Frau nachihren Wünschen, Sehnsüchten oder Phantasien fragt, gibtes kein Bild, das nicht an ihre Söhne gebunden wäre.

Diese Strukturen verändern sich nach und nach. Die Arbeitin Westeuropa, die Anwesenheit der Mitarbeiter der Hilfsor-ganisationen, der Soldaten etc. hinterlassen ihre Spuren. Ingrößeren Orten suchen sich Frauen und Männer z. B. all-eine ihren Partner. Aber in den kleinen und armen Bergdörfernleben die Menschen, auch heute noch, nach tausenden Jah-ren alter Strukturen und Bräuchen.

Bei der Vorbereitung einer Hochzeit wird ein Vermittler be-stimmt. Dieser wird durch das Haus des Bräutigams bezahlt,und er spricht für den Bräutigam und dessen Familie.

Ehehindernisse sind z. B. Blutsverwandtschaft, Familienzu-sammengehörigkeit (und sei es im viertausendsten Grad),Blutsbrüderschaft etc.

Eine Hochzeit erfordert viele Zeugen. Zum einen wegen desstrengen Reglements, und zum anderen, weil die Hochzeit eingroßes Fest darstellt, bei dem in weiterer Folge Nachkommenzu erwarten sind. Beim albanischen Volk ist noch heute dieBedeutung dieses Aspektes weit größer als bei uns.

Die Liebe spielt eine untergeordnete Rolle. Je größer dieNachkommenschaft, umso ehrenvoller ist es für die Familie.Der kosovo-albanische Ehrbegriff beinhaltet auch, dass einIndividuum - ein Menschenleben - wenig zählt. Ein ehren-voller Tod wertet die Familie ebenfalls auf.

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Nachdem der Vermittler um die Hand des Mädchens gebetenhat, werden die Zeichen ausgetauscht. Das Zeichen ist einRing, und damit gehört die Braut bereits zum Bräutigam. Die-ser Ring kann weder getauscht noch zurückgeschickt werden.Wenn die Braut es sich anders überlegt, bedeutet das Blutra-che zwischen ihrer Familie und der des Bräutigams. Das Mäd-chen muss die Geschenke zurückgeben und darf sich, solan-ge der ehemalige Bräutigam lebt, nicht verheiraten. Der Ver-lobte kann sein Wort zurücknehmen, verliert aber den An-spruch auf Geschenke und bereits geleistete Zahlungen.Bereits zur Zeit der Verlobung übergeben die Eltern der Brautdem Bräutigam eine Patrone. Der Mann hat das Recht, sei-ner Braut/Frau mit dieser Patrone in den Rücken zu schie-ßen, ohne dass er die Blutrache durch ihre Familie befürch-ten muss, wenn sie ihn betrügt oder entehrt.

Sich nach dem Kanun zu verheiraten bedeutet, ein Haus zu grün-den oder das Haus um ein Glied zu vermehren. Der Mann ist fürdie Sicherheit seiner Frau und seiner Kinder verantwortlich.

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Als die Bindung der Treue gilt im Kanun jener Tag, an demdas Hochzeitsgeleit aufbricht, um die Braut in das Haus desBräutigams zu führen. Dieser Tag darf nicht verschoben unddas Hochzeitsgeleit nicht an seinem Weg gehindert werden.Für diese Tradition sieht der Kanun keine Ausnahme vor. Fürdie Braut ist ein Preis festgesetzt, der an diesem Tag bezahltwird. Zur Zeit der Übersetzung war der Brautpreis 1 500 Gro-schen, was in etwa dem Wert eines Maultieres entsprach.An dieser Stelle vermerkt der Kanun: Die albanische Frauhat kein Erbteil der Eltern, weder Grund noch Haus. DieFrau ist ein Überschuss, ein Anhängsel im Hause. Die El-tern haben keine Aussteuer, kein Heiratsgut für die Toch-ter zu bedenken; er, der sie nimmt, wird für sie sorgen. Die

Eltern des Jünglings, der das Mädchen nimmt, werden al-les bedenken, was für die Hochzeit nötig ist.7)

4. Buch: Die Hochzeit

Der Vater des Bräutigams ist der Herr der Hochzeit. Er lädtdie Gäste ein, stellt das Hochzeitsgeleit zusammen und wirdvor der Hochzeit beschenkt. Der Kanun regelt die Reihen-folge, in welcher die Gäste im Hause des Bräutigams eintref-fen, die Gästeliste, Dienerschaft, Speisen und Getränke.

Bereits zur Zeitder Verlobungübergeben die El-tern der Brautdem Bräutigameine Patrone.

7) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 56 (1953),Seite 28.

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Das Hochzeitsgeleit (der krush-ki) wird durch einen Mann auseiner anderen Sippe angeführt.Er wird durch den Herrn desHauses bestimmt, und auchdessen Auswahl unterliegtstrengen Regeln. Das Hoch-zeitsgeleit macht sich (in einerexakt festgelegten Reihenfol-ge) auf den Weg zur Brautund darf nicht angehaltenwerden.Es ist Gesetz und Pflicht, des-sen Nichtachtung dem Alba-ner unserer Berge schon vielUnheil, ja Untergang berei-tet hat: Kommen aus zweiWohnstätten Hochzeitszügeund einer gibt dem anderenden Weg nach Kanun undVortrittsrecht nicht frei, sowerden sie über einanderherfallen und einander tö-ten. In Korthpule z. B., Stammvon Dibra, sind die Gräberder Hochzeitsgeleite in derSchlucht von Rrosa.8)

Wenn das Hochzeitsgeleit imHaus der Braut anlangt, wird

gegessen (die Speisen werden mitgebracht), anschließend

Mit dem ersten Kindhat die Frau ihre Schuldenabgegolten.

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werden Geschenke verteilt, und dann zieht das Hochzeits-geleit mit der Braut wieder ab.Falls der Bräutigam stirbt, müssen die Eltern der Braut dasbereits erhaltene Geld zurückzahlen. Diese Regelung entfällterst ab dem ersten Kind (damit hat die Braut ihre Schuld ab-gegolten) oder nach dem dritten Ehejahr (da sieht der Kanunvor, dass sie ihre Schuld abgearbeitet habe). Der Tod derBraut innerhalb der ersten drei Ehejahre berechtigt die El-tern der Braut, deren Schmuck an sich zu nehmen.Frauen fallen nicht unter das Blut. Für die Schuld der Frau istimmer der Vater verantwortlich. Er muss die Konsequenzen tra-gen. Er muss aber auch jene bestrafen, die seiner Tochter Un-recht tun. Der Ehemann ist nur verpflichtet, für den Lebensun-terhalt seiner Frau zu sorgen. Das Blut des Mannes gilt immermehr als das Blut der Frau.Der Kanun schreibt: Die Frau ist „shakull“ (der Schlauch), indem die Ware transportiert wird, d. h. sie ist dazu bestimmt, dieKinder eines fremden Mannes (d. h. eines nicht Blutsverwand-ten) zu tragen, sonst aber, dem Blute nach, gehört sie ihrem El-ternhause, wohin sie als (kinderlose) Witwe wieder zurückkehrt9).

Es gibt zwei große Fehler, die eine albanische Ehe-frau vermeiden sollte, nämlich- Untreue und- Verletzung der Freundschaft.

8) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58 (1955),Seite 169.

9) Ebenda, Band 56 (1953), Seite 35.

Der Mann hat das Recht, sich von seiner Frau zu trennen.Das entsprechende Ritual ist das Abschneiden der Quaste(eines Haarbüschels). Die Ehe bleibt bestehen, und das

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Ehepaar darf sich nicht wieder verheiraten. Der Mann hatdas Recht, seine Frau wieder zurücknehmen.Falls sie gegen eine der beiden Regeln verstößt, wird ihr dieQuaste abgeschnitten, verstößt sie gegen beide Regeln, hates die Patrone im Rücken zur Folge (siehe 3. Buch).Wenn eine Frau verstoßen wird, verliert sie jeden Besitz undmuss zu den Eltern zurückkehren.10)

Der Ehemann hat das Recht:- die Frau zu tadeln und zu beraten;- die Frau zu schlagen und zu binden, wenn sie seinen

Anordnungen mit Spott begegnet.

10) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 56(1953), Seite 37 ff.

Der Vater hat das Recht:- über Leben und Lebensführung der Kinder;- zu schlagen, zu binden, gefangen zu setzen und zu töten;- zu verkaufen, zu kaufen, zu nehmen und zu geben;- den Sohn als Leibeigenen zu behandeln. Er kann ihn

auch zu anderen zur Arbeit schicken. Sein Einkommensteht dem Vater zu;

- den Sohn zu verbannen, falls sich dieser widersetzt.Er kann seinen Sohn jedoch nicht enterben.

Der Vater hat die Pflicht:- sich zum Besten der Kinder abzumühen;- den Söhnen Waffen zu kaufen, sobald sie waffenfähig sind;- keine Legate zu machen;- das Erbe den Söhnen zu gleichen Teilen zu hinterlassen.

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Wenn ein Mann eine Frau ohne Ehe zu sich nimmt, verliert er denAnspruch auf sein Eigentum, bis er die Frau wieder verlässt. Entstehtaus einer solchen Verbindung ein Kind, hat dieses keine Rechte.

Die Stellung der Mutter:- Der Mann hat kein Recht über das Leben der Frau.- Die Frau hat keine Rechte, weder über die Kinder

noch über das Haus.- Tötet der Sohn die Mutter, ziehen ihn deren Eltern zur

Verantwortung.- Schlägt, verletzt oder tötet ein Fremder die Frau, so

rächt der Mann ihre Ehre, ihre Eltern aber ihr Blut11).- Schlägt die Schwägerschaft die Ehefrau, so ist ihr

Ehemann für ihre Ehre verantwortlich, kommt er demnicht nach, sind in weiterer Folge ihre Eltern verant-wortlich.

- Stiftet die Mutter Unfrieden, verstößt der Sohn dieMutter und wird ihr Getreide für ein Jahr mitgeben.

11) Ist die Ehefrau verletzt, ist der Mann in der Pflicht, ist sie tot, sinddie Eltern zur Blutrache verpflichtet.

Die Stellung der Kinder:- Die Kinder zeigen den Eltern Gehorsam und Unter-

würfigkeit.- Sie bleiben unter dem Befehl des Vaters bis zu seinem Tod.- Sie dürfen ihm weder widersprechen noch ihn schlagen.- Sie werden sich in jeder Angelegenheit mit dem Vater

besprechen.- Sie dürfen ohne Erlaubnis des Vaters nirgendwo hin-

gehen, nichts kaufen, verkaufen oder tauschen.

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- Sie können nur Bürge sein, entsprechend der Anzahlan Waffen, die sie tragen.

- Sie können den Vater unter keinen Umständen ausdem Haus weisen.

- Der Vater ist für die Taten seines Sohnes verantwortlich.- Wenn der Sohn den Vater tötet, wird er von der Sippe

hingerichtet oder vertrieben.- Wenn der Sohn sich vom Vater trennt, verliert er je-

den Anspruch auf Besitz.

Jeder Besitz wird prinzipiell zu gleichen Teilen unterden Brüdern aufgeteilt. Die Ausnahmen sind folgende:- Das durch die Söhne gekaufte Land wird nach der

Anzahl der Gewehre, die sich im Besitz eines jedenEinzelnen befinden, verteilt.

- Berge und Almen werden nicht geteilt; sie werdengemeinsam besessen, sowohl für die Holzgewinnungals auch als Weide.

- Die Waffen gehören dem ältesten Bruder.- Alles, was gegessen oder getrunken werden kann, wird

nach Mündern verteilt, und daran haben auch dieFrauen Anteil.

Das Recht der Erstgeburt wirkt:- auf die Herrschaft im Haus, nach dem Tode des Va-

ters und auf alle anderen Positionen, die dieser inne-hatte (z. B. Dorfältester);

- auf Einbindung in alle Entscheidungen des Hauses.

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Die Stellung der Familienmitglieder ist im Kanun genau bestimmt10):Das Recht über das Leben der Frau hat ihr Vater. Ebenso ist es beiden Kindern, wobei die Stellung der Söhne zumindest gewisseZukunftsperspektiven gestattet, die eine Änderung versprechen.

5. Buch: Die Erbschaft

Der Kanun legt als Erben den legitimen Sohn fest. Frauenund uneheliche Söhne sind nicht erbberechtigt. Ein verwais-tes männliches Kleinkind wird z. B. von Verwandten aufge-zogen, und diese kümmern sich auch um seinen Besitz. Wennder Bub 15 Jahre alt ist, erkennt ihn das Gesetz als Mannan, und es wird ihm sein Besitz übergeben.Wenn eine Sippe ausstirbt, haben die nächsten Verwandten- unabhängig vom Verwandtschaftsgrad - Anspruch auf denBesitz des Toten. Die hinterbliebenen Frauen werdenweiterhin von den Erben versorgt.

Die Kinder dürfen ohne Erlaubnis des Vaters nirgendwo hin-gehen, sie dürfen nichts kaufen, verkaufen oder tauschen.

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Hat ein Vater keinen Sohn, besteht die Möglichkeit, durch ein Tes-tament die Kirche als Erben einzusetzen. Möchte ein Vater seinenTöchtern etwas vererben, so kann er es ihnen zu Lebzeiten schen-ken. Er hat kein Recht, sie per Testament als Erben einzusetzen.

6. Buch: Haus, Vieh und Landgut

Das HausDas Haus ist jener Platz, an dem ein Herd steht und Rauchablässt. Jedes Gebäude, das innerhalb eines Hofes steht, ge-hört zum Haus. Wer ein Haus betreten will, muss rufen unddann um Erlaubnis fragen. Alles andere verstößt gegen dieguten Sitten und ist durch den Kanun mit einer Buße belegt.

Das ViehDer Hirte hat die Pflicht, sich fürsorglich um die Herde zukümmern, aber bei Tod, Verlust oder Verletzung eines Tieresträgt er keine Verantwortung. Es gibt für ärmere Leute dieMöglichkeit, sich Vieh zu leihen. Alles Erwirtschaftete wirddann zwischen dem Besitzer und dem Lehen geteilt, das ersteKalb gehört dem Lehen. Dieser ist für die Unterbringung undVerpflegung der Tiere verantwortlich. Die Ausnahme ist dasHauptrind (bzw. adäquate Nutztiere anderer Rassen), dasimmer ganz dem Besitzer gehört.Der Kanun regelt sogar die Angelegenheiten des Hundes.Der Hund muss eine Hütte haben und darf nur nachts freilaufen; tagsüber ist er bei seiner Hütte angekettet. Er giltals der Wächter des Hauses. Priester dürfen Hunde halten,aber diese müssen immer an der Kette liegen, weil der Pries-ter immer für jedermann erreichbar sein muss.

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Wer ein Hausbetreten will,muss rufen unddannum Erlaubnisfragen. Alles ande-re verstößt gegendie guten Sitten.

Der Hirte hat die Pflicht, sich

fürsorglichum die Herde zu

kümmern (rechts).Der Kanun regeltsogar die Angele-

genheiten des Hun-des (unten).

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Die LandgüterEin Haus wird durch eine Herdstätte definiert und erstrecktsich über den gesamten Grundbesitz einer Familie. Jede Fa-milie hat Anteil am Gemeindegut. Eine Alm gilt als freiesGebiet. Wer freies Gebiet bestellt oder bebaut, besitzt es vonda ab und kann nicht vertrieben werden. Wenn eine Familiewegzieht, kann sie ihren Grund verkaufen; solange ihr eige-nes Haus steht, wird es ihr Haus bleiben, und niemand an-derer darf darin wohnen. Zu jedem Haus gehört automatischder Grund, der sich einen Steinwurf weit um das Haus be-findet. Ein Steinwurf ist auch die Größe eines Ackers, früherwurde die Axt geworfen.

Es gibt zwei Möglichkeiten der Grenzziehung:1. Grenzen können durch Gewichtssteine gewonnen

werden. Das stärkste Familienmitglied wird ausge-wählt und wirft einen Stein so weit als möglich. Woder Stein hinfällt, wird die Grenze gezogen.

2. Grenzen können durch die Axt bezeichnet werden.Wenn man auf fremdem Grund eine Axt in einenBaum schlägt und die Besitzer können sie bei ihremEintreffen nicht mehr herausziehen, ist der Stammdie Grenze.

Grenzziehung

Jemanden im Dorf zum Bruder machen, bedeutet die Möglich-keit, als Angehöriger einer fremden Sippe in ein Dorf aufgenom-men zu werden. Er kann dort leben und arbeiten, hat aber keinenAnteil an der Gemeinde, ihren Angelegenheiten und Gütern.

12) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 57(1954), Seite 17.

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Das Gemeindegut ist jener Grundbesitz, der den Stämmen gemein-sam gehört. Es umfasst Weiden, Holzgewinnung, Reisig, Jagd undanderes. Es ist unteilbar und jedes Haus hat Anspruch darauf.Grenzen werden durch große Spitzsteine (oder altes, gelager-tes Holz) gekennzeichnet. Um die Grenzsteine werden kleine-re Steine gelegt. Bei der Grenzziehung sollen so viele Gemein-demitglieder wie möglich anwesend sein. Die einmal festge-setzte Grenze wird nie mehr verändert12). Die Grenzziehungist ein feierliches Ritual und folgt einer festgelegten Eidesfor-mel, die durch den Ältesten gesprochen wird. Grenzen wer-den immer gerade gezogen, ohne Beachtung des Geländes.Wer unwissentlich eine fremde Grenze überschreitet und sich zu-rückzieht, sobald er erkennt, dass er auf fremdem Besitz steht, mussfür entstandenen Schaden keine Verantwortung übernehmen.

Das Gemeindegebiet ist jener Grundbesitz, der den Stämmen gemein-sam gehört, die Stammesweide ist allerdings nicht allen frei zugänglich.

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Grenzen werden laut dem Kanun wie tote Gebeine behan-delt: Sie dürfen niemals angerührt werden und bleiben bisin alle Ewigkeit liegen.Der Kanun sieht nur eine Möglichkeit vor, eine Grenze zu ver-ändern: Man kann Grenzen durch Blut gewinnen. Wenn beieinem Streit um die Grenzziehung ein Kontrahent tödliche Ver-letzungen erleidet, und es ihm noch gelingt, auf das fremdeGrundstück zu kriechen, so entsteht die neue Grenze an jenerStelle, an der er stirbt. Dort werden neue Grenzsteine (oderGedenkstellen) errichtet, die wieder als unverrückbar gelten.Diese Regel gilt jedoch nur dann, wenn der Streit um die Grenz-ziehung entbrannte und keinen anderen Auslöser hatte.

Die Straßen

Der Kanun bezeichnet Straßen als Adern der Erde. Die Breite,Einfriedung sowie die Entfernung zu anderen wichtigen Punk-ten (Haus, Brunnen etc.) sind im Kanun genau geregelt. Die Ein-friedung der Straßen erfolgt durch Mauern, Büsche, Hecken etc.

Die Stammesweide

Die Stammesweide ist jene Weide, die innerhalb der Gren-zen eines Stammes liegt und nicht für alle Gemeindemitglie-der frei zugänglich ist. Es gibt die Möglichkeit, jede Weidezu nutzen, indem man Weidegeld bezahlt, oder man entrich-tet an den Besitzer eine entsprechend höhere Strafe. DieHöhe richtet sich nach der Größe der Herde des Fremden.Wenn eine Straße durch ein Grundstück führt und den Be-sitzer an seiner Arbeit hindert, hat er das Recht, die Straßezu verschieben. Die Arbeit rückt den Durchlass13).Die Straße muss aber an anderer Stelle wieder errichtet werden.

13) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 57(1954), Seite 24.

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Der Lohnbauer

Als Lohnbauer wird jener Mann bezeichnet, der die Erde ei-nes anderen bebaut. Der Besitzer wird für ihn und seine Fa-milie eine Hütte errichten. Der Lohnbauer ist für alle anfallen-den aktuellen Arbeiten (z. B. Instandhalten der Werkzeuge)verantwortlich; der Herr für grundlegende Angelegenheiten(z. B. Gräben ausheben). Der Bauer spricht mit dem Herrenalle Angelegenheiten ab und teilt den Gewinn mit ihm, ent-sprechend der zu Beginn getroffenen Vereinbarung. Ein StückGarten steht dem Lohnbauern für den Eigenbedarf zur Verfü-gung.

Der Schmied

Der Schmied muss die Arbeit in der Reihenfolge des Auftrageserledigen und darf niemanden bevorzugen. Die Bezahlung richtetsich nach dem Besitz des Auftraggebers. Jeder bringt das Eisenfür sich selbst mit, und solange der Schmied dieses bearbeitet, sind

Straßen sind die Adern der Erde. Ihre Breite, die Anlage undAusführung sind im Kanun genau geregelt.

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ihm die Besitzer zu Nahrung und Arbeitslohn verpflichtet. DerSchmied und sein Haus sind vom Waffendienst befreit, er mussaber für zehn Dorfmitglieder Schwerter schmieden.

Die Mühle

Der Müller ist verantwortlich für das Getreide, das ihm über-geben wird, und er muss jeden Verlust ersetzen. Auch derMüller arbeitet entsprechend der Reihenfolge der Aufträge.Wenn ein Mühlbach mit umgebendem Land gekauft wurde,darf er nicht umgeleitet, trockengelegt etc. werden. Wenn dasumliegende Land aber nicht zum Fluss gehört, darf dieser zumBewässern der Felder abgeleitet werden. Einem Mühlbach

wird ein Mühlweg zugeordnet. Der Lohn des Müllers ist dasWassergeld, das nach Vorschrift des Kanun zu bezahlen ist.

Die BewässerungDer Wasserlauf wird von den Dorfbewohnern abgeschritten unddarf nicht verändert werden. Wenn das Wasser ein Gemeinde-mitglied schädigt, steht ihm Schadenersatz zu, aber der Lauf desWassers wird (egal, wie hoch der Schaden ist) nicht verändert.Der Kanun sagt: Das Dorfwasser ist mehr wert als die Wurzeleines Hauses14).

„Das Dorfwasserist mehr wertals die Wurzeleines Hauses.“

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Die JagdDie Jagd ist zu jeder Zeit frei, verboten allerdings auf fremdemGebiet. Eine Jagdgruppe wird die Beute immer sofort teilen. DerKanun legt genau fest, wer welche Teile des erlegten Wildes be-kommt. Verwundetes Wild darf über die Grenzen verfolgt wer-den.

Die FischereiDie Fischerei ist wie die Jagd zu jeder Zeit frei. Jeder Dorf-bewohner darf innerhalb der Dorfgrenzen fischen. Dort, woein Bach an der Grundmauer eines Hauses vorbeifließt, mussder Hausherr informiert werden. Wer beim Fischen mitgeht,hat Anspruch auf einen Anteil am Fang.

7. Buch: Der Handel

Der Kanun unterscheidet zwischen einer einfachen Abma-chung oder einer Abmachung vor Zeugen bzw. mit Anzah-lung. Mit der Anzahlung wird die Ware erworben.Ein Grundstück muss zuerst der Familie, in weiterer Folge demAnrainer und dann dem Dorf zum Kauf angeboten werden,

14) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 57(1954), Seite 28.

Laut Kanun i Papazhulit dürfen Waffen nur eingetauscht werden.

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erst danach steht es zum Verkauf für andere frei. Wenn dieseReihenfolge nicht eingehalten wird, ist der Verkauf ungültig.Waffen werden immer geladen gekauft. Der Kanun i Papazhulit siehtnicht vor, Waffen zu kaufen; sie können nur getauscht werden.Schäden, Bußen und Blut können nicht durch Geld abgegoltenwerden; nur durch Rinder, Erde oder Waffen. 1856 erließ die türki-sche Regierung ein Gesetz, wonach auch Blut mit Geld abgegoltenwerden konnte. Das Gesetz konnte aber nicht durchgesetzt werden.Darlehen werden immer zinsfrei gewährt. Es darf ein Pfandgenommen werden, das die Schuldhöhe übersteigen kann.Ein Darlehen ist immer an eine Frist gebunden.Das gesprochene Wort hat keine Konsequenzen. Wer eine Tat,einen Umstand ableugnet, kann nicht belangt werden, denndas Wort alleine ist nicht Beweis genug. Jener, der leugnet,muss sich allerdings rechtfertigen. In Ehrensachen bewirkt dasWort Blut. Zur Verdeutlichung dieser Regeln ein Fallbeispiel15):1926 hatte der Landrat von Dukat, selbst Häuptlingssohnaus dem Nachbartal, sich in der Herberge vor etwa zehn

Die Glaubenszeichen sind:1. der Stein: damit wurde das Wachs für die Kirchen-

kerzen gewogen;2. das Kreuz oder das Evangelium16).

Männern gebrüstet, dass eine Witwe aus Dukat sein Liebes-verhältnis sei. Der sechzehnjährige Sohn hörte davon undstellte die Mutter zur Rede, die ihm auf die Büchse des totenGatten ihre Unschuld beschwor. Darauf nahm sie diese selbe

16) Der islamische Glaube etablierte sich erst im 16. Jh., bis dahinwaren auch die Albaner christlich.

15) Ebenda, Band 58 (1955), Seite 172.

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Büchse und erschoss den Landrat in seiner Amtsstube ganzoffen. König Zogu verurteilte die Frau zu sieben Jahren Ker-ker, der Altenrat beider Täler aber trat zusammen, um dasBlut zu befrieden, und sprach die Frau frei mit dem Urteil:

Der Beschuldigte hat also drei Möglichkeiten:1. den Eid;2. das Gut zurückzuerstatten;3. den Täter zu nennen.

Die Strafe für Meineid umfasst- die Rückgabe des Gutes (soweit möglich) im Verhält-

nis 2:1,- das Schuhgeld17) für den Zeugen, der den Meineid auf-

deckt,- die Zahlung von 100 Hammeln und einem Ochsen,- die Auflage, mit den Eideshelfern zur Kirche zu ge-

hen und sich vom Meineid lossprechen zu lassen,- die Bezahlung eines stattlichen Geldbetrages für je-

den Eideshelfer und- Ehrlosigkeit über sieben Generationen.

„Geht es um die Ehre, bringt das Wort das Blut.“ Daraufbegnadigte der König die Frau.Das höchste Wort ist der Eid - mehr kann nicht verlangt wer-den, und er dient der Glaubwürdigkeit. Während der Eid ge-sprochen wird, wird ein Glaubenszeichen berührt. Zum ei-

17) Schuhe sind ein kostbares Gut und werden oft als Lohn gegeben.

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nen gilt Gott als Zeuge, zum anderen ist damit die ewigeStrafe vor Gott (und die zeitliche durch den Kanun) verknüpft.Der Eid steht nur dem Angeklagten zur Verfügung, nicht aberdem Kläger. Wenn jemand den Eid schwört, stehen ihm Ei-deshelfer bei, die ihre Hände auf die Glaubenszeichen legen.

Die Ehre wird dem Mann geraubt:- indem ihm jemand vor den im Rat versammelten

Männern sagt, dass er lügt;- indem man ihn bespuckt, bedroht, stößt oder schlägt;- indem man die Treue oder Vermittlung bricht;- indem man ihm die Frau schändet oder entführt;- indem man ihm die Waffen des Armes oder Gürtels

schändet;- indem man ihm das Brot schändet, durch Beleidigung

des Freundes, des Dieners;- indem man ihm das Haus aufbricht, die Hürde,

Scheune oder Milchkammer;- indem man ihm Darlehen oder Verpflichtung vorenthält;- indem man ihm die Herdplatte (den Herdstein) entfernt;- indem man ihm den Bissen vor dem Freunde be-

schmutzt und so dem Freund die Ehre raubt;- indem man vor dem Freund den Tisch schändet, wenn

der Herr des Hauses die Pfanne auskratzt oder denTeller ausleckt18).

18) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 57(1954), Seite 52.

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Frauen und Kinder sind vom Eid ausgenommen, und derHausherr schwört für sein ganzes Haus.Es ist auch möglich, auf das Haupt der Söhne zu schwören.Nach diesem Eid darf kein weiterer mehr gefordert werden.Mit dem Eid wird geschworen, dass man nicht nur selbst unschul-dig ist, sondern auch, dass man über den näheren Tatbestand kei-ne Angaben machen kann; das bezieht auch die Eideshelfer mitein. Wer einen solchen Eid nicht leisten kann, ist verpflichtet, seinWissen weiterzugeben. Der Kanun kennt keine Ausreden.

8. Buch: Die Ehre

Die persönliche EhreJeder hat die gleiche Ehre, und eine Verletzung kann nicht verzie-hen oder durch Buße abgegolten werden. Die beiden Möglichkei-ten zur Wiederherstellung der Ehre sind entweder durch Blut oderdurch Vergebung nach der Vermittlung durch enge Freunde.Der Geschändete hat die offene Tür. Sie wurde durch die Be-leidigung aufgestoßen. Das ist in Albanien die schlimmste Un-

Jener, dem die Tür geraubt wurde, gilt vor dem Kanun als tot.

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ehre. Pfand fordert er nicht. Älteste zieht er nicht zu. Jener, demdie Tür (die Ehre) geraubt wurde, gilt vor dem Kanun als tot.

Die gemeinsame Ehre

Der Freund kommt ins Haus, meldet sich im Hof, der Hausherrgeht ihm entgegen, begrüßt ihn, nimmt ihm die Waffen ab, istsomit für seine Sicherheit verantwortlich und führt ihn ins Haus.Der Freund ist immer willkommen, wird bewirtet, bekommt eineSchlafstelle und einen Ehrenplatz. Der Kanun ehrt ihn nicht nur,sondern so kann der Hausherr ihn auch im Auge behalten. DerFreund wird vom Hausherrn geleitet und untersteht seinen Re-geln. Solange er zu Gast ist, haben er und das Haus eine ge-meinsame Ehre, die Arbeit ruht in dieser Zeit. Wenn der Freundbittet, aus dem Haus begleitet zu werden, ist der Hausherr dazuverpflichtet, egal, wie weit der Weg führt. So lange die beidenzusammen sind, werden Ehre und Schande geteilt.Ein mik (Freund) ist jeder Schutz Suchende oder Gastfreund,unabhängig davon, welche Verbindung vorher bestand. Die Ehreeines Freundes muss unter allen Umständen wieder hergestelltwerden. Als treulos gilt, wer einem Schutz Suchenden Scha-den zufügt. Der Treulose wird hingerichtet, und sein Blut gehtverloren19). Auch Dörfer gelten untereinander als Freunde.Einer Verpflichtung, die aus Freundschaft erwächst, nichtnachzukommen, gilt als ehrlos. Den Stellenwert der Gast-freundschaft soll ein Beispiel verdeutlichen20):Im Jahre 1926 besuchte Ekrem Vlora, der Feudalherr von Valonaund den Bergen des Kurvelesh, das Dorf Smokthina. Aufs Bes-19) Es wird keine Blutrache gefordert.20) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58

(1955), Seite 173.21) Ebenda, Band 57 (1954), Seite 58.22) 2001 schien man sich in Mazedonien nicht an diese Bestimmung

zu erinnern - vielleicht, weil der Kanun grundsätzlich an Bedeu-tung verliert, oder nur dann, wenn andere Volksgruppen involviertsind.

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te wurde er von dem Haupt der dortigen Häuptlingsfamilie auf-genommen; während die Gattin des Häuptlings ihn im Frauen-hause bewirtete, wurde sie hinausgerufen. Nach einer Weilekehrte sie zurück und unterhielt sich weiter mit dem Gast. Alsdieser am nächsten Morgen weiter ritt, hörte er auf einige Ent-fernung hinter sich im Hause des Häuptlings die Totenklage.Er kehrte erstaunt zurück und erfuhr, dass, während ihn dieHäuptlingsfrau bewirtete, deren einziger Sohn erschlagen insHaus gebracht worden war. Um den Gast nicht zu betrüben,„hatte sie einen Stein in ihr Herz gestoßen“ und ihn unterhal-ten, als sei ihr nicht das größte Unheil widerfahren.Der Kanun regelt weiters genau das Benehmen des Hausherrngegen den Freund. Das umfasst Sitzordnung, Ess- und Trink-gewohnheiten sowie deren Abfolge. Diese Betragensvorschriftenscheinen wie Spiel, sie haben aber schon solchen Totschlag ver-ursacht, dass das Blut den Tisch wie Regen netzte21).Um einen Streit aus der Welt zu schaffen, kann ein Vermittlereingesetzt werden. Diese Rolle können Männer, Frauen, Kinderoder Priester übernehmen. Der Vermittler hat überall freien Zu-tritt und wird nicht angerührt. Der Kanun schreibt vor, dass mit

Es gibt drei Formen der Patenschaft:1. Die Taufpatenschaft,2. Die Ehepatenschaft,3. Patenschaft der Haare.

dem Auftreten eines Vermittlers sofort Waffenstillstand herrschenmuss.22) Die Vermittlung endet bei Sonnenauf- oder -untergang,und zu Beginn werden Pfänder ausgetauscht. Wenn die Vermitt-lung scheitert, gibt der Vermittler die Pfänder zurück und ist da-mit aus seiner Verpflichtung entlassen.Ein Bürge ist jemand, der einem Dritten gegenüber die Verant-wortung für eine Schuld übernimmt. Der Kanun sagt:

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Gebundene Hand - gebende Hand23). Der Bürge kann nicht zu-rücktreten.

Das Blut und die Verwandtschaft, die Brüderschaft undPatenschaft

Wer einmal mit einer Sippe eine Herdstelle teilt, gilt als zurSippe gehörend, auch wenn er wegzieht. Der Kanun unter-scheidet zwischen der Geschlechterfolge, die aus Blut, undjener, die aus Verwandtschaft entsteht.Die Geschlechterfolge des Blutes stammt von der Vaterseite,und man spricht vom Stammbaum des Blutes. Die Geschlech-terfolge der Verwandtschaft stammt von der Mutterseite, undman spricht vom Stammbaum der Milch (der Brust).Brüderschaft entsteht durch das Trinken von Blut, und dieserBrauch schließt zukünftige Heiraten zwischen den Sippen aus.1. Taufpatenschaft: Sie verhindert Verschwägerung, und das

betrifft sowohl den Taufpaten als auch jene, die das Kindan der Kirchentür wiegen.

2. Ehepatenschaft (Trauzeugen): Sie verhindert die Ver-schwägerung.

3. Patenschaft der Haare (ndrikulli): Auch diese Paten-schaft verhindert die Verschwägerung. Einem Kind dür-fen vor dem ersten Geburtstag die Haare nicht geschnit-ten werden.Nach dieser Frist schneidet ein Pate bzw. eine Patin dasHaar. Dieses Ritual darf nur bis zu fünf Tage nach demersten Geburtstag stattfinden. Der Pate bzw. die Patinkommt ins Haus des Kindes und wird dort bewirtet.

24) Der Kanun sieht in der Axt die Waffe der Frauen.

23) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 57(1954), Seite 60.

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Nach dem Essen schneidet er/sie die Haare in einer festgesetz-ten Reihenfolge schopfweise ab. Die Mutter hebt die Haare inihrer Truhe auf, der Pate/die Patin überreicht ein Geschenk, unddie Mutter des Kindes schickt ebenfalls Geschenke.Der Pate/die Patin übernachtet bei den Eltern des Kindes,und am nächsten Tag kommen Mutter und Kind für dreioder fünf Tage in sein/ihr Haus.

9. Buch: Die SchädenEin entstandener Schaden wird durch den Ältesten oderdurch zwei Gefährten geschätzt. Wenn eine Frau mit ihrer Axt24)

einen Schaden anrichtet, darf kein Mann die Axt berühren,sondern eine Frau aus der Sippe nimmt ihr die Axt ab.

Für Schäden, die von Kindern verursacht werden, müssensich deren Eltern verantworten.

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Wenn Tiere einen Schaden anrichten, muss dieser ersetzt wer-den, wobei die Tiere nicht als Schadenersatz gelten. Eine Aus-nahme bilden die Schweine, die erschossen werden dürfen;allerdings muss das Tier beim ersten Schuss tot sein, sonstmuss es ersetzt werden.Fallen dürfen nur nachts aufgestellt sein. Wenn eine Fallebei Tag im Dorf oder in der Umgebung aufgestellt ist, be-zahlt der Fallensteller den daraus entstandenen Schaden.Der Schaden, der aus Fallen im Umkreis fremder Häuserentsteht, muss im Verhältnis 2:1 abgegolten werden.

10. Buch: Der Kanun gegen das Verbrechen

Helfershelfer und Hehler

Wer einem anderen hilft, im eigenen Dorf ein Verbrechen zubegehen, wird bestraft. Je nach Delikt bekommt er eine Geld-strafe, oder er fällt ins Blut.An einem Diebstahl sind folgende Personen beteiligt: Der Dieb,der Helfer, der Hehler, und das Haus, in welchem der Dieb ver-pflegt wird. Sie alle tragen die gleiche Schuld. Wenn eine Spurverfolgt wird und in ein fremdes Dorf führt, muss der Verfolgersich an den Ältestenrat wenden, der dann vom Beschuldigten denEid fordert. Falls es keinen konkreten Beschuldigten gibt, musssich das Dorf verantworten. Für Schäden, die von Kindern verur-sacht werden, müssen sich deren Eltern (der Vater) rechtfertigen.Wenn eine Viehherde geraubt wurde, kann die Beute nurdurch andere Beute oder Waffengewalt zurückerstattet wer-den. Einen Beutezug richtet ein Dorf gegen ein Dorf, ein Stammgegen einen Stamm, ein Haus gegen ein Haus etc. Der Kanunregelt genau, wie hoch die Buße sein muss; ausschlaggebendsind dabei der Ort und der Grund des Beutezuges.

25) Der Kanun verwendet dafür die Bezeichnung das geschwärzteAntlitz.

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Wer einen Freund bestiehlt, wird aus dem Männerrat unddem Gericht geworfen25).Überall dort, wo der Kanun gilt, zählt das gestohlene Gut imVerhältnis 2:1, ausgenommen sind Hühner und Schweine;diese werden nur 1:1 zurückerstattet, ebenso Vieh, das aufdem Berg und nicht im Haus gestohlen wurde.

Wo immer der Bestohlene seinen Besitz findet, darf er ihnsofort an sich nehmen. Das gilt auch, wenn die gestohleneWare in der Zwischenzeit verkauft worden ist.

Wo immer der Bestohlene seinen Besitz findet, darf er ihn sofort an sichnehmen. Das gilt auch, wenn die gestohlene Ware verkauft worden ist.

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Der Mord

Für einen Hinterhalt wählt sich der Angreifer Männer einesanderen Stammes. Damit fällt nur er unter das Blut. Wenner hingegen Männer seines eigenen Stammes nehmen wür-de, würden alle unter das Blut fallen.

Der Anführer kann das Blut auf sich nehmen. Das bedeutet,selbst dann, wenn ein anderer den, dem aufgelauert wurde,erschießt, fällt der Anführer und nicht der Schütze unter dasBlut. Wer eine Waffe stiehlt und damit tötet, fällt unter dasBlut, nicht jedoch der Besitzer.

Wenn der Besitzer allerdings von der Tötungsabsicht wuss-te, fällt auch er unter das Blut. Ein grundlos gestellter Hin-terhalt lässt alle Beteiligten unter das Blut fallen.Fallbeispiel26): Dem Hüdeii Effende aus Kanin bei Valonawurde, mit ihrem Einverständnis, 1932 die Tochter durchihren Vetter von Mutterseite, Enver Resilia, entführt, dermit etlichen Gefährten des Nachts in ihr Elternhaus einge-stiegen war. Hüdeiis Gattin und besonders seine Muttertrieben den schon europäisch gebildeten Mann zur Rache,indem sie ihn schmähten und ihm die Speisen auf verächt-liche Weise reichten. Endlich ließ Hüdeii den Bruder desEntführers, der an der bösen Tat teilgenommen hatte, ausdem Hinterhalt erschießen.Süreya Bey Vlora, der Großfeudale jener Gegend, der mit seinemSohn Eqrem Bey als Ältester mit der Sache, die Angelegenheitzu befrieden, befasst war, begrüßte Hüdeii am Tag nach diesemMorde mit den Worten: „Ich sehe dich tot!“, weil statt des Tä-ters der Bruder getötet worden war; die Frauen hingegen waren

27) Der Kanun i Papazhulit sagt, dass auch in Gegenwart einer Fraunicht geschossen werden darf.

26) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58(1955), Seite 179.

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der Ansicht, nach dem Kanun sei Recht geschehen. Diese schonhalbverstädterten Frauen hatten nicht in Betracht gezogen, dass,nach dem Kanun, der Helfer nur in den ersten 24 Stunden nachdem Verbrechen - und nur nach dem eigentlichen Täter - getötetwerden durfte. In der Tat fiel Hüdeii kurz darauf, auf der Treppevor dem Rathaus in Valona, einer Kugel der Resilia zum Opfer,denn er hatte wider den Kanun Blut vergossen.Wird der Hinterhalt gestellt, um einem Urteil der Ältesten, dasdie Blutrache fordert, gerecht zu werden, zieht der Tod des Ver-urteilten keine Konsequenzen nach sich: Das Urteil wurde voll-streckt. Auch ein Hinterhalt, bei dem niemand durch den Schuss-wechsel getötet wurde, der aber keine Urteilsvollstreckung zurAbsicht hatte, zieht die Blutrache nach sich. In diesem Fall zähltdie Absicht und nicht das Ergebnis. Auf Frauen, Kinder, Häuserund Vieh27) wird nicht geschossen. Die Frau bietet in ganz Alba-nien Asyl. Wer mit ihr geht, darf nicht getötet werden.Wenn Männer mit der Absicht aufbrechen, einen Hinterhaltzu legen, und sie kehren bei einer Familie ein und werdenbewirtet, so fällt auch dieses Haus in das Blut.Der Täter wird, nachdem er getötet hat, der Familie des Totensofort Bescheid sagen und um Gottesfrieden (Besa) bitten. Er darfdie Waffen des Toten nicht an sich nehmen, sonst fällt er zweimalins Blut. Er hat bis zum nächsten Sonnenaufgang Zeit zur Flucht.Der Kanun führt an dieser Stelle die Person des Friedens-bringers ein. Dieser bittet an Stelle des Täters um Gottesfrieden.Das ist eine Frist der Freiheit und Sicherheit und erstreckt sich,bis die Ältesten den Fall untersucht haben. Er dauert vorerst 24Stunden. Den Gottesfrieden zu gewähren, ist eine männlichePflicht. Der Kanun sieht vor, dass der Täter an der Trauerfeierteilnimmt. Bleibt der Täter fern, gilt das zwar als weitere Schmach,verletzt aber die Ehre der Familie des Toten nicht zusätzlich. Nachdem Begräbnis übernimmt das Dorf den Gottesfrieden, und derdauert dann 30 Tage. Wenn die Familie des Toten dazu nicht

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bereit ist, werden der Täter und seine Familie ihr Grundstück nichtmehr verlassen. Dort darf der Täter nicht angerührt werden28).Die Familie des Täters kann durch Freunde um Gottesfriedenbitten, sich mit der Familie des Toten über Vermittler verständi-gen und wieder ihrer Arbeit nachgehen. Innerhalb der ersten 24Stunden ist die ganze Familie in Gefahr, da die Familie des Totenjeden beliebigen Mann töten darf. Sie nimmt damit nur ihr eige-nes Blut wieder. Der Täter kann sich nur nachts frei bewegen.Der Kanun sagt: Wenn der Mann ins Blut fällt, wird ihm Fluchtund Verbergen zur Pflicht29).Der Kanun kennt den Gottesfrieden für Vieh und Hirten. Dasist eine Regelung, die Reisende beschützen soll. Dabei verstän-digen sich zwei oder mehr Stämme verschiedener Dörfer undkommen zu einer Übereinkunft. Es werden Reiserouten, Unter-künfte etc. reglementiert, und dem Reisenden wird Schutz ge-währt. Dieser Brauch ist sehr alt, und der Kanun kannte ihn schonzu einer Zeit, als Schusswaffen in den albanischen Bergen nochunbekannt waren.

Das Blut

Einfach und klar regelt der Kanun auch den Wert eines Men-schenlebens: So viele Söhne geboren werden, so viele gel-ten für gut und werden nicht von einander unterschieden.Die Strafe ist immer gleich30). Ein Menschenleben ist in ers-ter Linie das Leben eines Mannes; unter Männern wird keinUnterschied gemacht. Ein Mann ist ein Mann.

30) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58(1955), Seite 129.

28) Vor dem Krieg fand man im Kosovo Männer, die seit Jahrzehntenihr Grundstück nicht verlassen hatten. Als der Krieg begann, be-schlossen die Ältesten, bestehende Blutrache auszusetzen, da esfür ein höheres Ziel zu kämpfen galt.

29) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58(1955), Seite 127.

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Der Kanun legt materielle Strafen für Tod und Verletzungenfest. Die Blutrache entsteht nicht aus dem Verbrechen selbstund dessen Konsequenzen, sondern aus der verletzten Ehre.Frauen und Priester sind von der Blutrache ausgenommen.Sie werden nicht getötet. Kinder sind zwar nicht explizit aus-genommen, wurden aber noch nie getötet. Wenn eine ganzeFamilie ins Blut fällt (also alle Männer), wird sie das Dorfverlassen, um der Gefahr der Tötung zu entkommen.Der frühe Kanun verfolgte nur den Täter selbst. Der späte-re Kanun begreift hingegen die ganze Männerschaft desMörderhauses als Täter, wenn auch nur für 24 Stunden.Wenn zwei sich gegenseitig töten, werden Vermittler einge-setzt, und der Fall ist damit erledigt. Wenn einer tot und einerverletzt ist, muss der Verletzte für das überschüssige, ver-gossene Blut aufkommen. Je nach Region kann eine Wundemit Geld abgegolten werden oder verlangt eine weitere

Die Korrektur der Mütze mit der Reitgerte wurde von demalbanischen Soldaten einem Schlag gleichgesetzt.

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Wunde. Die Rechnung muss aber immer aufgehen, und esdarf keine Differenz bleiben. Ein Toter zieht also einen To-ten nach sich, ein Verwundeter einen Verwundeten etc.Prinzipiell ist genau geregelt, wann Blutrache genommenwerden darf. Es ist auch festgehalten, dass man z. B. nie je-manden töten darf, weil er einen schlug. Andererseits ist einSchlag aber eine solche Beleidigung, dass der Albaner, dernicht tötet, als ehrlos gilt. Diese Regelungen lassen vielSpielraum, und der Ältestenrat entscheidet, wie gerechtfer-tigt die Tötung war. Dazu ein Fallbeispiel31):Als um 1904 deutsche Offiziere als Instrukteure nach Kon-stantinopel berufen waren, rückte ein deutscher Major beimAbgehen der Front mit der Reitgerte die Mütze eines alba-nischen Soldaten gerade. Der Soldat hob sofort das Gewehrund erschoss den Offizier. Das türkische Militärgericht ver-urteilte den Mörder zum Tode und das Urteil wurde vollzo-gen, obwohl die Frau des Delinquenten den Sultan um dasLeben des im Übrigen prächtigen Soldaten bat. Bei seinemSchlusswort sagte dieser: „Ich sehe ein, dass Ihr mich tötenmüsst, aber auch ich musste tun, was ich tat, denn er schlugmich, und ich konnte ohne Ehre nicht leben.“Der Kanun sagt: Der geschworene Feind, die geschändete Waf-fe und Frau fallen nicht unter den Kanun32). Der Kanun meintdamit ehebrecherische Frauen. Der Mann darf die Frau und denNebenbuhler töten, die Familie der Frau wird ihm die Patroneersetzen, sofern er nicht jene verwendete, die für solche Fällebereits vor der Hochzeit übergeben wurde, und die Eltern sa-gen: Deine Hand sei gesegnet33). Wenn die Eltern Zweifel ha-

32) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58(1955), Seite 133.

33) Ebenda.

31) Ebenda, Band 58 (1955), Seite 172.

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ben, kann der Ältestenrat dem Ehemann den Eid auferlegen.Wenn er diesen nicht leisten kann, fällt er selbst ins Blut.Der Totschlag ohne Absicht wird nicht mit Blutrache geahn-det. Die Strafe ist genau festgelegt. Wenn eine tote Frauschwanger war, muss auch für das Kind Strafe bezahlt wer-den, wobei die Tote geöffnet wird, um festzustellen, ob siemit einem Knaben oder einem Mädchen schwanger war, da

Die Versöhnung findet auf zwei Arten statt:- Die Herzensfreunde34) gehen in das Haus des Erschla-

genen und in das des Pfarrers.- Durch den Auszug der Häuptlinge, der Familie des

Gjonmarku35) und die Jungmannschaft des Stammes.

die Strafe für Knaben doppelt so hoch ist. Es wird keineGeldbuße, sondern mit Getreide, Vieh etc. bezahlt.Vermittlungen und Friedensstiftungen gehen immer über Bür-gen. Wenn ein solcher Pakt gebrochen wird, dann ist derBürge zum Eingreifen verpflichtet.Bei jeder Bestrafung bezieht der Ältestenrat den genauenAblauf in Betracht. Abgesehen von den Konsequenzen istdie erste Frage, wer mit dem Schusswechsel begonnen hat.Wenn der Konflikt ausufert, werden die Toten und Verletz-ten gezählt sowie deren Stellung im Haus (ein Hausherr zähltmehr) berücksichtigt. Die Schwere der Verletzungen u. ä.fließt in die Berechnung mit ein. Dann bemüht man sich umVermittlung und Ausgleich.

34) Herzensfreunde sind Männer, die der Familie des Täters nahe ste-hen und sich um Versöhnung bemühen.

35) Gjonmarku ist die Bezeichnung für einen der maßgeblichen Familien-clans dieser Region.

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(Anmerkung: Beim Durchlesen des Kanun kann man immeran das alte biblische Gesetz denken: Auge um Auge, Zahnum Zahn. Mit dieser Vorstellung im Hinterkopf ist jedes Re-glement absehbar und logisch.)Wer Selbstmord begeht, verliert sein Blut. Tötungen in derFamilie verlangen nach Blutrache durch die Sippe. Wird dieMutter/Ehefrau getötet, fällt der Täter mit ihren Eltern insBlut. Erschlägt die Ehefrau ihren Mann, fallen ihre Elternins Blut. Entsprechend der Stellung der Frau in der albani-schen Bevölkerung ist es nicht verwunderlich, dass Elternin diesem Fall zuweilen ihre Tochter töteten. Es besteht dieMöglichkeit, das Blut zu versöhnen. Das geschieht übereinen Vermittler, der dafür Lohn erhält.In beiden Fällen werden Bürgen aufgestellt. Der, dem dasBlut zusteht, darf sich die Waffe irgendeines Mannes aus-suchen, und der Täter muss sie ihm bringen. Das Haus desTäters wählt die Bürgen des Blutes. Sie sind dafür verant-wortlich, dass der Streit nicht neu entflammt.Das Haus des Erschlagenen wählt die Bürgen des Geldesfür das Blut. Die Ältesten bestimmen die Frist für die Zah-lung der Buße; diese Frist kann nicht verändert werden. DerBürge übergibt das Geld dem Haus des Erschlagenen.Danach gehen die Gefährten und Herzensfreunde des Erschlage-nen zur Tür des Täters, und zur Befriedung des Blutes essen siedas Mahl des versöhnten Blutes. Zum Zeichen des Friedens wirdin den Schwellenstein und die Balken zwischen den Flügeltürendurch den Herrn des Blutes (oberstes Familienmitglied aus derFamilie des Erschlagenen) ein Kreuz eingemeißelt. Der Meißel wirddanach über das Dach des Hauses des Täters geworfen.Im Anschluss trinken die Beteiligten wechselseitig ihr Blut.Im Süden ist das ein freiwilliges Ritual, im Norden ist es36) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58

(1955), Seite 139.

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Kanun. Man nimmt zwei kleine Gläser, füllt sie halb mitWasser, halb mit Branntwein, ein Freund verbindet diebeiden kleinen Finger (einen vom Täter, einen vom Herrndes Blutes), sticht beide mit einer Nadel und lässt je einenTropfen Blut in die Gläser fallen. Die Gläser werden geschüt-telt und getauscht. So trinkt jeder das Blut des anderen. Mit100 Freudenrufen schießen sie die Büchsen ab, und siewerden neue Brüder desselben Vaters, derselben Mutter.36)

11. Buch: Der Altenrat

Der Altenrat ist zum einen Gerichtsbarkeit und zum anderenGesetzgebung. Das durch ihn gefällte Urteil wird anerkannt,wenn sich der Spruch nach dem Kanun richtet und nach sorg-fältiger Prüfung der Umstände erfolgt ist. Bei ernster Bedrohungruft der Rat die Männer des Stammes zusammen, um Konfliktezu bereinigen. Es gibt für Stämme, Dörfer, Sippen etc. Ältes-tenräte. Sie werden gewählt (jedes Familienoberhaupt hat einRecht, gewählt zu werden) und haben das Recht, die anste-

Der Altenrat ist Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung zugleich.

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hende Angelegenheit zu einem Abschluss zu bringen. Es wirdihnen ein Pfand übergeben, das als Zeichen für die Anerken-nung ihres Spruches gilt. Das Pfand kann nicht zurückgenom-men und die Ältesten können nicht ausgetauscht werden.Wenn mehrere Dörfer, Stämme oder Sippen in einen Konfliktverwickelt sind, treffen sich die Ältesten zu einem Gedanken-austausch, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Wennsich ein Dorf gegen seine Ältesten erhebt, wird das dem Hausder Gjonmarku mitgeteilt. Dieses wichtige Haus wird dann fürOrdnung sorgen, die Angelegenheit bereinigen, und das Hausdes Schuldigen wird von seinem Grund verbannt. Falls einganzer Stamm involviert ist, wird der Grundbesitz aufgeteilt.Wenn ein Mitglied des Ältestenrates ehrlos wird, wird er aus-geschlossen und kann nie wieder aufgenommen werden.

Die Pfänder

Das einmal gegebene Pfand wird nicht mehr zurückgenom-men37). Ein Pfand ist ein hölzernes Zeichen, eine Waffe, einPatronengürtel oder eine Tabakdose. Ein Urteil, das ohnePfand gefällt worden ist, ist vor dem Kanun ungültig. DieÄltesten werden von allen in den Streit Involvierten bezahlt.Der Preis richtet sich nach dem Gewicht der Angelegenheit.

Eideshelfer sind:- Männer, die nie einen Meineid geleistet haben;- Männer, die in dem aktuellen Konflikt als unpartei-

isch gelten;- Männer, die nicht leichtsinnig sind;- Männer, die gerne ins Vertrauen gezogen werden.

37) Ebenda, Band 58 (1955), Seite 142.

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BerufungWenn man mit dem Urteil nicht zufrieden ist, kann man keineanderen Ältesten aus dem eigenen Dorf verlangen. Aber wennman es als ungerecht oder parteilich empfindet, muss der Äl-testenrat andere Älteste rufen, die das Urteil prüfen. DiesesVerfahren kann zweimal stattfinden. Die letzte Instanz ist dasHaus der Gjonmarku. Sie sind das Führergeschlecht seit demfrühen Mittelalter - die Grundlage des Kanun. Ein Urteil, dasdurch dieses Haus gefällt wurde, kann nicht mehr angezweifeltwerden. Das Haus untersteht zwar dem Kanun, er kommt abernicht zur Anwendung. Das Haus hat ein Anrecht auf jede Buße,in jedem Gericht das entscheidende Wort, darf Beratungen ein-berufen, sein Eid gilt für 12 Eide, und es hat jedes Recht, zuvernichten und zu verbannen. Bei Kampfhandlungen hat dasHaus Gjonmarku das Recht auf Führung und Oberbefehl.

Der Eideshelfer (Porote oder Poronike)

Er wird durch den Richter bestimmt, um den Eid zu leisten.Frauen können diese Rolle nicht ausfüllen. Ein Eid kann auchohne Eideshelfer gelten; aber es ist der Kanun, der verlangt,sie hinzuzuziehen. Priester werden nur selten gerufen undwenn doch, dann gilt ihr Eid für 24 Eide. Der Eid der Stammes-häuptlinge gilt für 12 Eide. Der Kanun sieht prinzipiell 100Eideshelfer vor. Eine Hälfte bestimmt das Gericht, die ande-re Hälfte bestimmt der Herr des Eides, also jener, der denEid schwören muss - der Angeklagte. Die Eideshelfer dür-fen ihren Eid bis zu einem Jahr hinausschieben, um die An-gelegenheit zu prüfen, bevor sie ihren Eid leisten.Alle Eideshelfer müssen bereit sein, zu schwören, sonst wirdder Angeklagte nicht freigesprochen. Die Eideshelfer treffensich, essen das Eidesmahl, und wer nichts isst, der leistetkeinen Eid. Mit dem Eid ist der Spruch der Ältesten gültig,und der Angeklagte ist frei.

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Der geheime AnklägerDer kepucar (Angeber) stellt Nachforschungen an und zeigtdann den Schuldigen an. Er bekommt dafür vom Geschädig-ten bzw. dessen Familie einen Auftrag und wird entlohnt. DerLohn ist im Kanun genau geregelt. Er wird den Verdächtigenmit zwei Gefährten stellen und ihn vor dessen Dorf anklagen.Eine Frau kann nicht als geheimer Ankläger auftreten.

Die AnklageempfängerEs ist ihr Amt, offizielle Nachforschungen anzustellen bzw.den Angeber genau zu befragen. Sie werden unter jenengewählt, die das Gericht auch als Eideshelfer anerkennt. DerAngeber wird vereidigt, und bis zu drei Anklageempfängerkönnen ihn befragen und seine Angaben überprüfen. DieBefragung ist immer geheim.

Die Männer der albanischen Berge in der BeratungDer Männerrat ist eine Gemeinschaft zum Zweck der Bera-tung oder zum Abschluss eines Gottesfriedens. Es gibt denTeilrat, der sich auf Dörfer oder Sippen beschränkt, und esgibt allgemeine Beratungen, Gerichtssitzungen und Unter-suchungen. Die Beratung findet entweder auf Gottesäckern,Ruinen alter Heiligtümer oder im Herzen eines Stammes-gebietes statt. Der Pleqni (Rat) versammelt sich im Halbkreis,die Männer sind bewaffnet. Weder öffentliche noch privateFragen werden unbewaffnet entschieden, und solange sieberaten, darf sich kein Fremder unter sie mischen.

Die Reihenfolge der Wortmeldungen entspricht ihrer Wich-tigkeit, wobei die Wichtigsten zuletzt sprechen. Fragen, dieeinen Stamm betreffen, werden in einer allgemeinen Beratung,ein Mann für jedes Haus, erörtert. Die Versammlungen sindklar reglementiert, niemand darf straflos geschmäht, der Lügebezichtigt oder mit der Waffe bedroht werden.

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Die Überältesten vertreten das Volk. Sie treten dort auf, wodas Volk unterdrückt wird bzw. ungesetzliche Urteile gespro-chen werden. Gemeinsam mit dem Volk und der Jungmann-schaft sind sie Bußeinnehmer.

Instanzen: Die Sippenhäupter sind die Obersten der Sippe, undsie müssen immer sesshaft sein. Andere Sippenhäupter dürfen sichin fremde Angelegenheiten nicht einmischen. Wenn sich jemandüber das Sippenoberhaupt beklagt, kommt die Angelegenheit vordas Dorf, und dort ist auch das Haus Gjonmarku vertreten.

Gründe, jemanden auszuschellen, sind:- wenn jemand sich mit dem Dorf oder Stamm nicht in

Treue verbinden will;- wenn jemand sein Dorf durch Hehlerei oder Verrat

verkauft;- wenn jemand einem Spruch des allgemeinen Dorfrates

nicht nachkommt;- wenn jemand im Dorf oder Stamm oder außerhalb

derselben eine schmähliche Schuld begeht und sichdem Gericht nicht unterwirft;

- wenn jemand außerhalb des Dorfes oder des Stammeseine Schandtat begeht.38)

Das Sippenoberhaupt hat nicht das Recht, niederzubrennen,zu vertreiben, zu vernichten oder hinzurichten. Für diese Ent-scheidungen braucht es das Haupt der Gjonmarku oderHäupter anderer Sippen.

Die Dorfältesten sind die Ältesten der Sippen. Sie haben das Recht,Beratungen einzuberufen. Sie dürfen niemanden ohne Zustimmungdes Volkes und der Überältesten büßen lassen oder ausschellen.

38) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58(1955), Seite 158.

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Weitere Strafen:- Es wird verbrannt, verwüstet, durch das Dorf hinge-

richtet und mit Sack und Pack vertrieben, wer denPriester verleumdet, die Hand an ihn legt, ihn er-schlägt.

- Wer den Freund, dem er Treue schuldet, erschlägt, derwird verbrannt, hingerichtet, gebüßt, aus dem Ort ver-trieben.

- Wer in der eigenen Sippe jemanden erschlägt, wirdverbrannt, gebüßt und vom Ort vertrieben.

- Wer nach Befriedung des Blutes erschlägt, wird ver-brannt, gebüßt und vom Ort vertrieben.

- Wer grundlos erschlägt, wird verbrannt, gebüßt undvom Ort vertrieben.

- Wer den Bluttäter, dem man den Gottesfrieden gewährthatte, erschlägt, der wird hingerichtet, verbrannt, ge-büßt, vom Ort vertrieben.

- Wer den Vetter erschlägt, um in Besitz seines Reich-tums zu kommen, wird hingerichtet, verbrannt, gebüßt,vom Ort vertrieben.

- Wer die Schuldigen des Stammes aufnimmt, wird ver-brannt, gebüßt, vom Ort vertrieben.

- Jene Sippe, die gegen die eigenen Schuldigen nichteingreift, wird gebüßt und ausgeschellt39).

Die Bußeinnehmer gehen zu dem Verurteilten und holen je-nes Vieh, das als Strafe festgesetzt wurde.

39) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften, Band 58(1955), Seite 160.

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StrafenAusschellen bedeutet, dass eine Familie aus der Fürsorge einerübergeordneten Gemeinschaft entlassen wird. Dem Haus wirdjedes Recht entzogen, und die Familie wird für vogelfrei erklärt.Das Dorf hat das Recht, auszuschellen, aber ohne die Zustimmungdes Stammes nicht das Recht, eine Familie aus dem Ort zu jagen.Ein Stamm kann auch ein ganzes Dorf ausschellen, wenn die-ses einen Übeltäter deckt. Wenn das Dorf sich dem Stammbeugt, wird das Haus des Schuldigen verbrannt, verwüstetund der Verursacher wird hingerichtet, sein Blut geht verlo-ren und die Angehörigen werden aus dem Ort vertrieben.Der bewegliche Besitz wird als Buße einbehalten, der unbe-wegliche bleibt brach bzw. dient dem Stamm als Weide.

40) Ebenda, Band 58 (1955), Seite 162 ff.

Die Nutznießer der Ausnahmen sind:- Die Kirche.- Der Priester: Wenn er ins Blut fällt, werden seine

Eltern und Angehörigen verfolgt,- Die Stammeshäupter: Ein Eid gilt für zwölf Eide.- Die Boten und die Schmiede: Sie sind vom Waffen-

dienst befreit.- Die Waisenknaben: Wer Haus und Mutter versorgt, ist

vom Waffendienst befreit.- Die Frau: Sie wird nicht anerkannt.- Die Jungfrauen: Mädchen, die Männerkleidung tra-

gen, haben die Freiheit, sich unter Männern aufzu-halten, sie haben aber keine Stimme im Rat.

- Der Tod: Die Befreiung gilt für eine Woche und betrifftalle Angelegenheiten des Dorfes.40)

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Eine Steigerungsform ist das Ausgraben der Ecksteine des Hau-ses: Sie reißen ihm den Grundstein aus (i ckulen themelin). Werweiterhin mit der Familie Kontakt hat, wird auch ausgeschellt.Die Vertreibung gilt für 15 bis 20 Jahre; eine Ausnahme bildetdas Erschlagen des Priesters; die Vertreibung gilt dann für immer.

Der Abgesandte

Ein Abgesandter spricht für ein Haus, ein Dorf, einen Stammund übermittelt Aufträge bzw. Nachrichten.Er übermittelt keine Antworten. Er darf nicht angegriffen wer-den. Falls er angegriffen wird, fällt er ins Blut des Hauses,das ihn aussandte.

Der Bote (Lajms)

Er übermittelt Botschaften oder Befehle des Sippenhauses.Das Amt ist erblich und an ein Grundstück geknüpft.Er überbringt jede Nachricht, ob Alarm oder ein Mann für je-des Haus. Er und sein Haus sind vom Waffendienst befreit.

12. Buch: Befreiungen und Ausnahmen

Der Kanun ist eine kompromisslose Gesetzgebung. DieRichtlinien sind klar, einfach und kennen insgesamt nur achtAusnahmen. Es bleibt daher nicht viel Spielraum, und einsolches Gesetz muss sich auf das Wesentliche beschränken.

Der Tod: Wenn jemand stirbt, laden Abgesandte zur Toten-feier. Die Männer zerkratzen sich. Da dieses Zerkratzen aus-artete, bis die Teilnehmer an einer Leichenfeier blutüber-strömt waren, hat die katholische Kirche das vor etwa 110Jahren unter Androhung schwerer Kirchenstrafen verboten;seitdem ist dieser Brauch bei den katholischen Stämmennicht mehr verbreitet. Die Frauen klagen.

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Die Männer bedecken ihre Köpfe, stöhnen beim Toten dreimalund sprechen neunmal die Worte: Qüqi une! (Ich Unglückli-cher!). Die Männer weinen nicht über den Tod ihrer Frauen,aber der Sohn weint um die tote Mutter und der Bruder umseine Schwester. Vom Grab geht man direkt zurück zum Hausdes Toten, und dort gibt es ein Totenmahl. Wer sein Gesichtzerkratzt hat, wäscht es erst, wenn er in seinem eigenen Hausist. Die Trauer wird für männliche Tote ein Jahr getragen, fürFrauen und Kinder gar nicht. Die Trauer wird für Feste mit Freun-den unterbrochen. Eine Frau, die verheiratet ist und ein Toten-mahl zubereitet, darf kein Hochzeitsmahl mehr vorbereiten.Wenn eine Frau - im ersten Ehejahr - beim Besuch ihrer El-tern stirbt, sind diese für das Begräbnis verantwortlich unddürfen die Leiche nicht an ihren Mann schicken.

Schlussbemerkungen

Dieser Beitrag soll einen Überblick über die wichtigsten Ge-setze, Bräuche und Strukturen geben. Für die österreichischenSoldaten sollte das hier vermittelte Wissen in die Einsatzvor-bereitung für kommende Kontingente im Kosovo mit einflie-ßen. Dieses Wissen ermöglicht ein besseres Verständnis fürdie noch heute herrschende Kultur und Mentalität derkosovo-albanischen Bevölkerung. Die klare, einfache undkompromisslose Haltung, die das Wertesystem kennzeichnet,gilt es auch im Einsatzraum zu bedenken. Der Kanun soll beider Planung und Zielsetzung des österreichischen Kosovo-Einsatzes nicht ganz außer Acht gelassen werden.Das albanische Volk hat über Jahrhunderte der Besetzunghinweg seine Identität bewahrt. Der Kanun ist Teil der See-le des albanischen Volkes, und jeder Soldat, der in denKosovo geht, sollte dieses Wissen zum Verständnis derVorgänge im Einsatzraum und zu seiner eigenen Sicherheitim Hinterkopf haben.

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