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Ein Schnupperkurs in Sachen ÖkonomieEin Schnupperkurs in Sachen Ökonomie
INITIATIVEKOMPAKT
Das kleine 1 x 1 der Sozialen MarktwirtschaftDas kleine 1 x 1 der Sozialen Marktwirtschaft
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Inhalt
Vorwort 2
Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft 4
Die Marktwirtschaft und die unsichtbare Hand 9
Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren 12
Ist Wirtschaft + Politik = Wirtschaftspolitik? 18
Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis 26
Die Börse: Wo sich DAX und Schweinebäuche treffen 32
Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile 36
www.globalisierung.insm.de – Freiheit statt Staatsgläubigkeit 42
Für Neugierige: Lesetipps, Internetadressen und Projekte 50
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Vor zweihundert Jahren erzähl-
te Johann Peter Hebel in seinen
„Kalendergeschichten“ von der
Reise eines armen deutschen
Handwerksburschen aus Tutt-
lingen nach Amsterdam. Tief
beeindruckt von der großen
und reichen Handelsstadt er-
kundigt er sich bei einem Ein-
heimischen danach, wem denn
„dieses wunderschöne Haus“
gehöre. „Kannitverstan“, be-
kommt er zu hören. Dann
fragt er einen Amsterdamer
nach dem Besitzer des präch-
Ökonomie? Kannitverstan!Vorwort
tigen Schiffs im Hafen und
erfährt: „Kannitverstan.“
„Wenn ich’s doch nur auch
einmal so gut bekäme, wie
dieser Herr Kannitverstan es
hat“, denkt sich der Hand-
werksbursche und erblickt im
gleichen Moment einen Lei-
chenwagen, begleitet von
einem langen Zug aus Ver-
wandten und Bekannten des
Verstorbenen. „Das muss wohl
ein guter Freund von Euch
gewesen sein“, sagt er zu einem
der Trauernden und bekommt
zur Antwort: „Kannitverstan.“
Da schießen dem Burschen die
Tränen in die Augen. „Armer
Kannitverstan, was hast du nun
von allem deinem Reichtum?“,
klagt er und geht zurück in
seine Herberge. „Und wenn es
ihm wieder einmal schwer
fallen wollte“, so endet die
Geschichte, „dass so viele Leute
in der Welt so reich seien und
er so arm, so dachte er nur an
den Herrn Kannitverstan in
Amsterdam, an sein großes
Haus, an sein reiches Schiff
und an sein enges Grab.“
Die Moral von der Geschicht’
ist, im besten Sinne, eine dop-
pelte: Zum einen zeigt sie, dass
Sprache und Worte weit weni-
ger selbstverständlich sind, als
wir gemeinhin annehmen. Die
Amsterdamer verstehen den
Handwerksburschen nicht, und
der Handwerksbursche versteht
die Amsterdamer falsch. Zum
anderen lässt das traurige Ende
des vermeintlichen Herrn Kan-
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haben Ein-Euro-Jobs. Wer
gestern noch ein Mannesmann
war, arbeitet heute schon für
Vodafone und morgen viel-
leicht für – wer weiß das
schon?
Das ist Marktwirtschaft, heißt
es; die Fachleute aus Wirtschaft
und Politik reden von Globali-
sierung und Gewinnmaximie-
rung, von Investitionen und
Produktivität, von Wettbewerb
und Wachstumsraten, von
Bemessungsgrenzen und
Grenzsteuersätzen, von Infl ati-
on und Defl ation, von Struk-
turwandel und Steuervergüns-
tigungsabbaugesetzen.
Kannitverstan?„Das kleine 1 x 1 der Sozialen
Marktwirtschaft“ will das
ändern. Es richtet sich an alle
ökonomischen Laien, die gerne
etwas mehr von dem verstehen
möchten, was tagtäglich in der
Wirtschaft passiert. Und weil
die Menschen das meiste davon
aus dem Fernsehen oder der
Zeitung erfahren, macht sich
auch diese Broschüre die Medi-
en zunutze: Wo immer es geht,
greifen wir für unsere Reise in
die weite Welt der Ökonomie
auf TV- und Presse-Berichte
zurück – sie dienen uns als
gemeinsame Diskussionsgrund-
lage.
„Das kleine 1 x 1 der Sozialen
Marktwirtschaft“ will und
kann kein umfassendes Lexi-
kon sein. Schon aus Platzgrün-
den mussten wir viele Themen,
die direkt oder indirekt mit der
Wirtschaft zu tun haben, gänz-
lich aussparen. Das gilt zum
Beispiel für den Umweltschutz,
für die Bildung und den zu-
nehmenden Einfl uss der EU
auf die nationale Wirtschafts-
politik. Andere Themen, wie
die Börse, die internationalen
Kapitalverfl echtungen und das
weite Feld der seit 2008 gras-
sierenden Finanz- und Wirt-
schaftskrise, konnten wir ledig-
lich anreißen. Auch hatten wir
nicht die Absicht, ein Lehr-
buch im Miniformat zu schrei-
ben. Deshalb fi nden Sie auf
den folgenden Seiten weder
komplizierte Formeln noch
langatmige Theorien und auch
keine unverständlichen Statis-
tiken. Ganz ohne Zahlen geht
es allerdings auch nicht, doch
keine Angst vor Kannitverstan:
Wer das kleine 1 x 1 und das
ABC beherrscht, der versteht
auch diese Broschüre.
nitverstan den Burschen aus
Tuttlingen sein eigenes Schick-
sal mit anderen Augen sehen.
Er hat, dank Kannitverstan,
etwas verstanden – und sei es
nur, dass alles und jeder ver-
gänglich ist.
In der modernen Variante die-
ser Geschichte düsen Millionen
junger und jung gebliebener
Frauen und Männer aus Tutt-
lingen, Dresden oder Hamburg
via Flugzeug oder Internet
durch die globalisierte Welt,
und auch sie kommen aus dem
Staunen nicht mehr heraus.
Wie schnell sich doch alles
verändert! Noch ihre Elternge-
neration schrieb eine einzige
Bewerbung im Leben, die Zu-
kunft war planbar und die
Rente sicher, denn „made in
Germany“ hielt das Wachstum
auf Trab und die Konkurrenz
in Grenzen. Heute kommen
die T-Shirts aus China, die
MP3-Player aus Japan, die
Software aus Indien, die Äpfel
aus Neuseeland, der Deutsche-
Bank-Chef aus der Schweiz
und der Pizza-Bäcker aus Wan-
ne-Eickel. Es gibt keine D-
Mark mehr, keine lebenslangen
Jobs, keine Grenzen. Die einen
machen Millionen, die anderen
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4
Daniel Deutsch kann es ein-
fach nicht lassen. Der gute
Mann, dessen richtiger Name
hier nichts zur Sache tut, ist
Inhaber und Geschäftsführer
einer kleinen Unternehmens-
beratung in Bayern und hat es
sich offenbar zur Lebensauf-
gabe gemacht, Deutschland
zu retten. Er verfolgt dieses
hehre und ehrgeizige Ziel unter
anderem dadurch, dass er mit
wahrlich missionarischem Eifer
Leserbriefe schreibt – lange,
mit kräftigen Worten gespickte
Abhandlungen, die er mal an
diese, mal an jene Zeitung
schickt und die sich haupt-
sächlich um eine Frage drehen:
Warum gibt es in Deutschland
so viele Arbeitslose?
Die Sache ...
Daniel Deutsch hat dazu eine
gewagte These aufgestellt.
„Kein Unternehmer auf der
Welt hat den Wunsch, Arbeits-
plätze zu schaffen“, behauptet
er. Stattdessen würden die
Chefi nnen und Chefs lieber ge-
nau das tun, was schon jedem
Wirtschaftsstudenten auf der
Universität eingetrichtert wer-
de und was auch der „gesunde
Menschenverstand“ empfehle,
nämlich „mit dem geringsten
Aufwand den größten Gewinn
zu erzielen“.
Tja, Herr Deutsch, mit dem
gesunden Menschenverstand ist
das manchmal so eine Sache.
Er ist, um es mit Albert Ein-
stein zu sagen, „eine Sammlung
von Vorurteilen, die man bis
zum achtzehnten Lebensjahr
erworben hat“. Und Sie, lieber
Daniel Deutsch, sind einem
davon aufgesessen. Denn „mit
dem geringsten Aufwand den
größten Gewinn zu erzielen“
– an dieser Aufgabe wäre wohl
selbst Albert Einstein verzwei-
felt.
Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft
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... mit den Kartoffeln
Das glauben Sie nicht? Gut,
dann wollen wir Ihre Theorie
einmal in der Praxis überprü-
fen. Stellen Sie sich vor, Herr
Deutsch, Ihre Frau schickt Sie
auf den Markt, um Kartoffeln
zu holen. Und weil die Gattin
um Ihre Vorliebe für alles Öko-
nomische weiß, präzisiert sie
ihren Auftrag: „Hol’ für mög-
lichst wenig Geld möglichst
viele Kartoffeln!“ Was tun Sie
jetzt, Herr Deutsch? Und wie
würden Sie, liebe Leser, diese
Aufgabe lösen? Denken Sie
mal ein paar Sekunden darüber
nach: Wie kauft man mit mög-
lichst wenig Geld möglichst
viele Kartoffeln?
Und, alles klar?
Richtig, dieser Auftrag ist
reichlich absurd. Denn konse-
quent zu Ende gedacht würde
er im Extremfall bedeuten,
mit nichts („möglichst wenig
Geld“) alles („möglichst viel
Kartoffeln“) kaufen zu kön-
nen. Diese Idee ist zwar aus
verständlichen Gründen höchst
beliebt und weit verbreitet,
doch hat sie mit der ökono-
mischen Wirklichkeit genauso
wenig zu tun wie die Zahl der
Störche mit der Geburtenrate.
In Wahrheit funktioniert der
Kauf von Kartoffeln so, wie
(fast) alles in der Wirtschaft
– nach dem Ökonomischen
Prinzip:
Zur Ehrenrettung von Herrn
Deutsch sei noch hinzugefügt,
dass seine Idee, mit möglichst
wenig Einsatz möglichst viel
Gewinn herauszuholen, zumin-
dest in der Theorie existiert. In
der Praxis allerdings stößt diese
Mini-Max-Methode schnell
an ihre Grenzen. Denn wer so
vorgeht, dem fehlt es entweder
an klaren Vorgaben oder an
klaren Zielen – und beides
führt, auf Ökonomen-Deutsch,
zu „ungeplantem Handeln“.
Oder im Klartext: ins Chaos.
Brutto oder netto?
Und noch etwas müssen wir
Herrn Deutsch zugutehalten:
Die Wirtschaft(swissenschaft)
ist heutzutage derart komplex,
dass sich zuweilen selbst Fach-
leute in ihren Fangstricken
verheddern. So blamierte sich
einst der ehemalige FDP-Wirt-
schaftsminister Günter Rex-
rodt, als er nicht wusste, wie
viele Nullen eine Billion hat
(nämlich zwölf ). Unvergessen
auch der Wahlkampf 2005, als
die CDU-Kanzlerkandidatin
Angela Merkel gleich mehrmals
brutto und netto verwechselte
und sich daraufhin vom po-
litischen Gegner so manchen
höhnischen Kommentar anhö-
ren musste. Dabei offenbarte
die SPD selbst gravierende
Wissenslücken: „Ich koste zwei
Prozent mehr“, hieß es auf
den Wahlkampfplakaten der
Genossen mit Hinweis auf die
geplante Mehrwertsteuerer-
höhung der Union. Richtig
hätte es jedoch heißen müssen:
„Ich koste zwei Prozentpunkte
Das Ökonomische PrinzipWir wissen zwar nicht, wer eigentlich dafür verantwort-
lich ist – der liebe Gott oder Mutter Natur? – fest steht
jedoch: Fast alles, was den Menschen lieb und teuer
ist, ist leider auch knapp. Ob Gold oder Geld, ob Ar-
beitsplätze oder Autos, ob Seide oder Saftpressen – die
Bedürfnisse der Menschheit sind schier unbegrenzt,
nicht aber ihre Mittel. Was also tun? Ganz einfach: Wir
müssen die knappen Güter „bewirtschaften“, sprich:
möglichst sinnvoll und effi zient damit umgehen. Genau
dieses Ziel verfolgt das Ökonomische Prinzip. Danach
hat Daniel Deutsch zwei Möglichkeiten, den Auftrag
seiner Frau zu erfüllen:
• Das Minimalprinzip. Bei dieser Methode, auch Spar-
prinzip genannt, soll ein vorgegebenes Ziel mit mini-
malem Einsatz erreicht werden. Der Auftrag von Daniel
Deutsch könnte also lauten: Kauf zwei Kilo Kartoffeln
für möglichst wenig Geld.
• Das Maximalprinzip. Hier ist es umgekehrt: Mit einem
vorgegebenen Einsatz soll ein maximales Ziel erreicht
werden. Daniel Deutsch könnte also losgehen, um für
fünf Euro möglichst viele Kartoffeln zu kaufen.
Was ist das?
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mehr“ – ein kleiner, aber fei-
ner Unterschied (siehe Kasten
oben).
Natürlich kann man über solch
vermeintliche Kleinigkeiten
auch lächelnd hinwegsehen
– zumal sie doch zeigen, dass
auch „ganz oben“ nur mit
Wasser gekocht wird. Doch
Hand aufs Herz: Wenn schon
die grundlegendsten Dinge wie
Kraut und Rüben durcheinan-
dergehen – wie soll dann erst
das große Ganze aussehen? Es
mag ja sein, dass die Beschäfti-
gung mit Themen wie Wachs-
www.wichtige-wirtschafts-wörter.deIn den Wirtschaftsnachrichten tauchen immer wieder Begriffe
auf, die zwar alle zu kennen meinen, die aber ein ums andere
Mal für Verwirrung und Verwechslungen sorgen:
Prozent/Prozentpunkte: Angenommen, ein Produkt kostete
100 Euro plus 16 Prozent Mehrwertsteuer, also insgesamt 116
Euro. Nun wurde die Mehrwertsteuer auf 19 Prozent erhöht
(also um 3 Prozentpunkte), also steigt der Gesamtpreis auf
119 Euro. Die Differenz zwischen 116 und 119 Euro aber
beträgt nicht 3 Prozent, sondern knapp 2,6 Prozent.
Brutto/netto: Im Gegensatz zu brutto bezeichnet netto eine
Residualgröße, also eine Art „Rest“: So ist der Nettolohn das,
was vom Bruttolohn nach Abzug von Steuern und Sozialabga-
ben übrig bleibt.
Nominal/real: Nominal bedeutet in der Wirtschaft „zum
Nennwert“. So ist zum Beispiel der Nominallohn nichts
anderes als der Betrag, der auf dem Gehaltszettel steht (also
„genannt“ wird). Der Reallohn gibt dagegen an, wie sich die
tatsächliche („reale“) Kaufkraft des Nominallohns entwickelt
hat – und wird berechnet, indem man die Nominallohnent-
wicklung um die Infl ationsrate bereinigt.
Steuern/Abgaben: Steuern sind Geldleistungen an den Staat,
für die dieser keine konkreten Gegenleistungen zu erbringen
hat – die Kfz-Steuer etwa muss nicht für den Bau von Straßen
eingesetzt werden. Abgaben wie Gebühren und Beiträge sind
dagegen an Gegenleistungen geknüpft – wer Rentenbeiträge
entrichtet, erwirbt damit auch einen Rentenanspruch.
Strukturell/konjunkturell: Wenn zum Beispiel von der struk-
turellen Arbeitslosigkeit die Rede ist, dann ist damit jene
Erwerbslosigkeit gemeint, die auf die wirtschaftspolitischen
Rahmenbedingungen zurückzuführen ist, also etwa auf die
zu hohen Arbeitskosten oder die mangelnde Ausbildung.
Konjunkturell bedingt ist Arbeitslosigkeit dagegen, wenn die
Unternehmen zum Beispiel aufgrund schlecht ausgelasteter Ka-
pazitäten Personal abbauen, das wieder eingestellt wird, sobald
es wirtschaftlich wieder aufwärtsgeht.
Effektiv/effi zient: Effektiv bedeutet, dass etwas wirkt, dass eine
Sache also einen Effekt hat; effi zient bedeutet, dass eine Sache
wirtschaftlich ist, dass sie sich also lohnt. So kann es zwar ef-
fektiv sein, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen – effi zient
aber ist es bestimmt nicht.
tumsraten, Arbeitslosenquoten
oder Steuersätzen den meisten
Menschen nicht gerade Freu-
dentränen in die Augen treibt,
doch was, bitte, wäre denn die
Alternative?
Wichtige Entscheidungen ...
Es gibt keine, denn die Wirt-
schaft geht uns alle an. Sie
ist, wie es Walther Rathenau,
Sohn des AEG-Gründers und
in den zwanziger Jahren des
20. Jahrhunderts deutscher
Außenminister, einmal aus-
drückte, „unser Schicksal“. Ob
als Unternehmer, als Freiberuf-
ler, als Angestellte, als Käufer,
als Rentnerin, als Student, als
Wähler, als Sparer oder als Ar-
beitsloser – alle Menschen tref-
fen permanent ökonomische
Entscheidungen. Meist betref-
fen sie „nur“ den heutigen Tag,
oft genug aber stellen sie die
Weichen für viele Jahre oder
gar das ganze Leben: Welchen
Beruf wähle ich? Wie sorge ich
fürs Alter vor? Gehe ich zu Aldi
oder in den Feinkostladen?
Reicht mein Geld für eine grö-
ßere Wohnung? Wollen wir ein
zweites Kind? In welcher Stadt
wollen wir wohnen? Soll ich in
Aktien investieren oder in eine
Lebensversicherung? Welcher
Anbieter hat die günstigsten
Handy-Tarife? Und so weiter
und so weiter und so fort.
Wirtschaftliche Überlegungen,
das mag man gutheißen oder
auch nicht, bestimmen unser
Leben heutzutage mehr als
jemals zuvor in der Mensch-
heitsgeschichte.
Eine der wichtigsten Entschei-
dungen aber scheint auf den
ersten Blick nicht allzu viel mit
Ökonomie zu tun zu haben:
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Welcher Partei gebe ich meine
Stimme? Doch „gerade in
Zeiten, in denen die Sozialord-
nung unseres Landes aufgrund
des gewaltigen demografi schen
Wandels zunehmend belastet
wird, ist die Wahrnehmung der
politischen Verantwortung als
Wähler wichtig“, warnt Rü-
diger von Rosen. Der Wirt-
schaftsprofessor kritisiert seit
Jahren, dass Deutschland die
schulische Ausbildung in Sa-
chen Wirtschaft geradezu sträf-
lich vernachlässigt – ohne öko-
nomische Grundkenntnisse
aber ist eine fundierte Ausein-
andersetzung mit den Strate-
gien der Parteien unmöglich.
... fürs Portemonnaie
Noch drastischer ausgedrückt:
Wer sich im Zeitalter der Glo-
balisierung und eines geradezu
mörderischen Wettbewerbs
nicht wenigstens mit den wich-
tigsten Spielregeln der Wirt-
schaftswelt auskennt, der darf
sich kaum Hoffnungen ma-
chen, ein eigenverantwortliches
Leben in Wohlstand zu führen.
Dies gilt umso mehr, als die
Zeiten einer quasi lebenslangen
Rundumversorgung durch den
Arbeitgeber und den Staat
defi nitiv vorbei sind.
Nein, wir wollen hier weder
Panik noch Ängste schüren.
Aber wir wollen und dürfen
auch nichts beschönigen.
Denn ganz egal, ob es nun um
Arbeitsmarktpolitik, um Bil-
dung, um die Finanzierung der
Sozialsysteme, um Steuern, um
die Europäische Union oder
um Subventionen geht, nahezu
alles hat einen mittelbaren oder
unmittelbaren Einfl uss auf das
Leben und das Portemonnaie
eines jeden Einzelnen.
Ein Beispiel: Es vergeht kein
einziges Jahr, in dem die Nach-
richtensendungen nicht min-
destens einmal über die
Tarifverhandlung en zwischen
Arbeitgebern und Gewerk-
schaften berichten. Was die
„Tagesschau“ oder „N24“ dann
vermelden, klingt irgendwie
immer gleich, nämlich unge-
fähr so: „Im Tarifstreit der
Metall- und Elektro-Industrie
sind am Freitag die Verhand-
lungen ergebnislos vertagt wor-
den. Der Verhandlungsführer
der Arbeitgeber sagte, die völlig
überzogene Forderung der
IG Metall nach fünf Prozent
mehr Lohn und Gehalt trage
nicht dazu bei, Arbeitsplätze
im Land zu halten. Dagegen
verwies der Verhandlungsfüh-
rer der Gewerkschaft auf die
gute wirtschaftliche Entwick-
lung der Metallbranche sowie
auf die allgemein schwache
Konsumnachfrage. Nur wenn
die Verbraucher wieder mehr
Geld in der Tasche hätten,
könne auch die Gesamtwirt-
schaft wieder wachsen.“
Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft
Und nun stellen Sie sich vor,
Sie sitzen vor dem Fernseher
und hören diese Meldung. Was
denken Sie, welche der beiden
Seiten hat recht? Klingen nicht
beide Argumentationen irgend-
wie einleuchtend? Es stimmt
doch, dass die Unternehmen
aufgrund der hohen Arbeits-
kosten in Deutschland immer
ArbeitskostenDie Arbeitskosten setzen sich aus zwei Komponenten
zusammen. Teil eins umfasst den Stundenlohn ein-
schließlich der Zuschläge für Überstunden und Schicht-
zulagen. Ökonomen sprechen deshalb vom „Direktent-
gelt für tatsächlich geleistete Arbeit“. Entgegen der weit
verbreiteten Meinung sind die Stundenlöhne in Deutsch-
land aber nur ein Teil des Problems – Länder wie Däne-
mark, Norwegen und die Schweiz zahlen höhere. Dass
Deutschland dennoch regelmäßig zu den Ländern mit
den weltweit höchsten Arbeitskosten zählt, liegt vielmehr
an den sogenannten Personalzusatzkosten. Diese zweite
Komponente der Arbeitskosten besteht im Wesentlichen
aus Sonderzahlungen wie dem 13. Monatsgehalt, dem
Urlaubsgeld, dem Lohn für bezahlte Freizeit sowie aus
den Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung, der
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und anderen sozialen
Extras wie der betrieblichen Altersversorgung. Dieser
„zweite Lohn“ ist in Westdeutschland höher als in
jedem anderen Industrieland der Welt. Wenn deutsche
Unternehmen also ihre Produktion zum Beispiel nach
Tschechien verlagern, dann unter anderem auch deshalb:
Dort kostet eine Arbeiterstunde in der Industrie nicht
einmal ein Sechstel dessen, was hierzulande fällig ist –
Autos oder Maschinen bauen können die Tschechen aber
genauso gut wie die Deutschen.
mehr Arbeitsplätze ins billigere
Ausland verlagern; aber wahr
ist doch auch, dass die Unter-
nehmen seit Jahren einen Ex-
portrekord nach dem anderen
feiern, während die Nachfrage
im Inland brachliegt und das
gesamtwirtschaftliche Wachs-
tum deshalb bei Weitem nicht
ausreicht, um neue Arbeitsplät-
ze zu schaffen – oder?
Was ist das?
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Des Tarifrätsels Lösung liegt
nicht auf der Hand, sondern
im Kopf: Denn wer entschei-
den will oder muss, wie hoch
die Lohnerhöhungen in einer
Branche oder einem Unterneh-
men ausfallen dürfen, damit
sowohl Arbeitnehmer als auch
Arbeitgeber „überleben“, der
kann sich ja schlecht auf sein
persönliches „Bauchgefühl“
verlassen – das schreit immer
nach mehr, mehr, mehr. Statt-
dessen braucht man Fakten,
Fakten, Fakten. In unserem
Tarifbeispiel muss man eben
wissen, was die Löhne mit den
Preisen und der Beschäftigung
zu tun haben. Man muss
wissen, was passiert, wenn an
dieser oder jener Stellschraube
gedreht wird. Und vor allem
muss man das große Ganze im
Blick haben – nicht umsonst
reden wir von Volks-Wirt-
schaft.
Nun defi niert der Begriff
Volkswirtschaft zwar das WER
und WO, nicht aber das WIE.
Auch die frühere DDR und
die UdSSR waren Volkswirt-
schaften, allerdings bestimm-
ten dort allein die Planer der
VolkswirtschaftUnter einer Volkswirtschaft versteht man einen Wirt-
schaftsraum (üblicherweise also ein Land), in dem alle
Akteure (die Haushalte, die Unternehmen und der Staat)
wirtschaftlich miteinander verbunden und voneinander
abhängig sind. Und da heutzutage praktisch alle Länder
mit anderen Staaten Handel treiben, spricht man auch
von offenen Volkswirtschaften. Ohne den Außenhandel
(Ausfuhren und Einfuhren) wäre eine Volkswirtschaft
dagegen geschlossen – mit gewissen Einschränkungen
traf dies früher auf kommunistische und sozialistische
Staaten wie die DDR oder die UdSSR zu.
Regierung, welche Waren und
Dienstleistungen angeboten
werden, wer sie produziert und
wer wie viel davon bekommt.
Deshalb werden solche Wirt-
schaftssysteme Plan- oder
Zentralverwaltungswirtschaft
genannt. Die politisch-ideolo-
gische Idee dahinter ist, dass
allein die Regierung alle volks-
wirtschaftlichen Aktivitäten
so organisieren und steuern
kann, dass es allen Beteiligten
gut geht – gleich gut, um es
im Kommunisten-Deutsch zu
sagen. Tatsächlich aber führt
die Zentralverwaltungswirt-
schaft dazu, dass es allen gleich
schlecht geht – denn sie ist
vor allem durch eines geprägt:
den Mangel.
Was ist das?
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Die Volkswirtschaft Deutsch-
lands dagegen ist, wie praktisch
alle anderen auch, eine Markt-
wirtschaft. Selbst China, neben
Kuba und Nordkorea eines
der wenigen noch kommunis-
tischen Länder, bekennt sich
heute zumindest in Ansätzen
zu marktwirtschaftlichen Prin-
zipien.
Die Marktwirtschaft und die unsichtbare HandIm Gegensatz zur Planwirt-
schaft, in der alle volkswirt-
schaftlichen Entscheidungen
allein vom Staat getroffen
werden, haben in einer Markt-
wirtschaft die Haushalte und
die Unternehmen das Zepter in
der Hand. Die Betriebe allein
entscheiden, mit wie vielen
Leuten sie welche Waren oder
Dienstleistungen wie und wo
produzieren und zu welchem
Preis sie diese anbieten. Die
Haushalte (Arbeitnehmer,
Sparer, Verbraucher) wiederum
entscheiden, wo und für wen
sie arbeiten und wofür sie ihre
Einkommen ausgeben. Der
„Ort“, an dem sich Unterneh-
men und Haushalte treffen, ist
der Markt. Besser gesagt: die
Märkte, denn es gibt Waren-
märkte, Dienstleistungsmärkte,
Arbeitsmärkte, Kapitalmärkte
und andere mehr. Und auf
jedem einzelnen Markt geht es
darum, Angebot und Nachfra-
ge miteinander in Einklang zu
bringen. Dies geschieht über
den Wettbewerb, also letztlich
über die Qualität und den
Preis.
Wenn wir von einer freien
Marktwirtschaft reden, dann
ist damit in der reinen Lehre
eine Wirtschaft gemeint, in
der sich der Staat praktisch aus
allem heraushält. Tatsächlich
aber spielt der Staat natürlich
sehr wohl eine Rolle. Zum
einen tritt er selbst als aktiver
Marktteilnehmer auf, indem
er zum Beispiel Arbeitsplätze
bietet oder Straßen bauen lässt.
Zum anderen und vor allem
aber fungiert er als eine Art
Schiedsrichter: Der Staat legt
nämlich die Rahmenbedin-
gungen fest, also jene Spielre-
geln, an die sich alle Markt-
teilnehmer halten müss(t)en.
Dazu zählt selbstverständlich in
erster Linie das Grundgesetz,
aber auch Regelungen wie die
Gewerbeordnung, das Eigen-
tums- und Wettbewerbsrecht
sowie die Sozialordnung.
Staat und Markt
Apropos sozial: In Deutschland
reden wir nicht von einer freien
Marktwirtschaft, sondern viel-
mehr von der „Sozialen Markt-
wirtschaft“. Auf einen Nenner
gebracht ist damit gemeint,
dass die größtmögliche Freiheit
der Märkte mit einer sozialen
Komponente verbunden wird.
Das Grundgesetz formuliert
das in Artikel 20 so: „Die Bun-
desrepublik Deutschland ist ein
demokratischer und sozialer
Bundesstaat.“
Im Unterschied zur reinen
Marktwirtschaft greift der Staat
in der Sozialen Marktwirtschaft
deshalb in vielfältiger Form
ins Wirtschaftsgeschehen ein.
So erhebt er zum Beispiel
Steuern und Abgaben, um das
Geld dann unter anderem in
Form von Sozialleistungen an
die Haushalte bzw. in Form
von Subventionen an die Un-
ternehmen zurückzugeben
– oder „umzuverteilen“, wie
Ökonomen sagen. Mit die-
ser Umverteilung (auf deren
Sinn oder Unsinn wir später
noch ausführlich zu sprechen
kommen) und mit seinen
zahlreichen Gesetzen und
Verordnungen will der Staat
die in einer reinen Marktwirt-
schaft unweigerlich auftre-
tenden Härten abmildern. Er
versucht dies, indem er zum
Beispiel dafür sorgt, dass das
Existenzminimum eines jeden
Einzelnen gesichert ist, dass
jeder die Chance erhält, durch
eigene Leistung am Wohlstand
teilzuhaben und dass niemand
seine Marktmacht missbraucht,
sodass ein fairer Wettbewerb
stattfi ndet. All diese Aufgaben
muss der Staat allerdings nicht
selbst erledigen, einige werden
von anderen Institutionen
übernommen. So kümmern
sich zum Beispiel die Arbeitge-
berverbände und die Gewerk-
schaften in den Tarifverhand-
lungen um die Lohnpolitik,
und die Sozialversicherungen
sind für die Bereiche Rente,
Gesundheit und Arbeitslosig-
keit zuständig.
„Die Soziale Marktwirtschaft vollzieht sich nicht in Gesetzbüchern, sondern im Denken und Handeln der Menschen.“
Richard von Weizsäcker
Nun wissen wir zwar, was eine
Marktwirtschaft ist – wie aber
kann solch ein System über-
haupt funktionieren? Wie kann
es sein, dass Millionen von
Haushalten und Unternehmen
individuelle, sprich egoistische
Entscheidungen treffen und
das Ganze trotzdem nicht im
Chaos endet?
Die bis heute gültige Antwort
auf diese Frage stammt von
Adam Smith. Der schottische
Ökonom und Moralphilosoph
lebte im 18. Jahrhundert und
gilt als Vater der Marktwirt-
schaft. Als glühender Verfech-
ter einer freien Wirtschaft und
einer „natürlichen Ordnung
der Gesellschaft“ hegte Smith
nicht nur eine gehörige Portion
Misstrauen gegenüber dem
Staat, sondern auch gegenüber
Leuten, „die so tun, als han-
delten sie aus reinem Edelmut
Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft
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und nicht aus Eigennutz.“ Die-
se erfrischend ehrliche Grund-
haltung des Schotten gipfelte
in einem Satz, den noch heute
jeder Wirtschaftsstudent im
Schlaf herunterbeten kann:
„Nicht vom Wohlwollen der
Metzger, Bäcker und Brauer
erwarten wir das, was wir zum
Leben brauchen, sondern weil
diese ihre eigenen Ziele ver-
folgen.“ Smith, der schon mit
27 Jahren zum Professor für
Logik ernannt wurde, betonte
ausdrücklich, dass die Men-
schen in aller Regel weder das
Gemeinwohl im Auge haben
noch wissen, ob und wie sie
es fördern. Dass sie es de facto
dennoch tun, erklärte er mit
der „unsichtbaren Hand“,
einer Art kapitalistischen Ge-
meinschaftswohlmaschine:
Man kippt oben Eigeninteresse
hinein – und schwups, kommt
unten Gemeinwohl heraus.
Grenzenlose Chancen
Zugegeben, das klingt ziem-
lich verrückt. Aber prinzipiell
stimmt es. Nehmen wir zum
Beispiel einen der reichsten
Männer der Welt, Bill Gates:
Mit 20 Jahren brach er sein
Studium in Harvard ab und
gründete 1975 zusammen
mit Paul Allen die Microsoft
Corporation in Redmond,
nahe Seattle. Im ersten Monat,
so wird berichtet, teilten sich
die beiden einen Verdienst von
1.516 Dollar – inzwischen
beschäftigen sie knapp 60.000
Mitarbeiter und erwirtschaf-
ten einen Umsatz von fast 40
Milliarden Dollar. Wer quasi
aus dem Nichts heraus 60.000
Arbeitsplätze geschaffen hat,
der muss seinen Beitrag zum
Gemeinwohl eigentlich nicht
mehr unter Beweis stellen, Bill
Gates aber tut es trotzdem.
Zusammen mit seiner Frau
gründete er die „Belinda and
Bill Gates Foundation“, eine
Stiftung, in die er mehr als
29 Milliarden Dollar seines
Privatvermögens steckte und
die sich unter anderem um
Gesundheitsprojekte in Afrika
und Asien kümmert.
Im Jahr 2006 gesellte sich der
US-Milliardär und Finanz-
Guru Warren Buffet hinzu und
verdoppelte das Stiftungsver-
mögen. Mit insgesamt rund
60 Milliarden Dollar verfügt
die nun größte private Chari-
ty-Organisation der Welt über
ein fünfmal so hohes Kapital
wie das Budget der Vereinten
Nationen. Übrigens: Bill Gates
will nach eigenen Angaben
bis zu seinem Tod 90 bis 95
Prozent seines Gesamtvermö-
gens spenden. Einen Egoisten,
eine „Heuschrecke“ oder einen
„Raubtier-Kapitalisten“ stellt
man sich doch irgendwie an-
ders vor – oder?
Ja, ja, schon gut, wir ahnen,
was die Markt-Kritiker sagen
wollen: Natürlich sind Bill
Gates und Warren Buffet abso-
lute Ausnahmeerscheinungen.
Wer 50 Milliarden Dollar auf
dem Konto hat, der kann lo-
cker auch 99,9 Prozent davon
verschenken und behält noch
immer viel, viel mehr übrig
(nämlich 50 Millionen Dol-
lar), als ein Normalverdiener
in einem ganzen Arbeitsleben
verdienen könnte. Doch darum
geht es gar nicht. Es geht, wie
es so schön heißt, ums Prinzip,
in diesem Fall also darum,
dass in einer Marktwirtschaft
grundsätzlich jeder die Chance
hat, förmlich alles zu erreichen
– und dies kann nun wirklich
kein anderes Wirtschaftssystem
für sich in Anspruch nehmen.
Was der Einzelne aus dieser
Chance macht, steht selbst-
verständlich auf einem ganz
anderen Blatt.
Ich, du, er, sie, wir sind die
Wirtschaft – aber leider lässt
sich über die Wirtschaft nun
mal schlecht reden, ohne Zah-
len zu nennen. Bevor wir also
auf den nächsten Seiten ans
Eingemachte gehen, hier ein
paar grundlegende Daten und
Fakten über ich, du, er, sie, wir.
Alle Angaben stammen aus
dem Frühjahr 2009 und ge-
ben den jeweils neusten Stand
wieder:
„Der Mensch an sich ist nichts. Er ist nur eine grenzenlose Chan-ce. Aber er ist der grenzenlos Verant-wortliche für diese Chance.“
Albert Camus
In Deutschland leben rund 82,2 Millionen Menschen
• Es gibt 39,1 Millionen Privathaushalte; davon sind
– 37 Prozent Single-Haushalte
– 25 Prozent Ehepaare ohne Kinder im Haushalt
– 24 Prozent Ehepaare mit Kindern im Haushalt
– 8 Prozent nichteheliche Lebensgemeinschaften
– 6 Prozent Alleinerziehende
• Es gibt 43,3 Millionen Erwerbspersonen, davon sind
– 3,6 Millionen erwerbslos (internationale Defi nition)
– 39,7 Millionen erwerbstätig, davon arbeiten
– 68 Prozent als sozialversicherungspfl ichtig
Beschäftigte, davon
– 67 Prozent im Dienstleistungssektor
– 32 Prozent im Produzierenden Gewerbe
– 1 Prozent in der Landwirtschaft
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Ich, du, er, sie, wir sind die Wirtschaft
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Mehr als zehn Millionen Millionäre weltweit
Die Zahl der Dollar-Millionäre ist weltweit drastisch gestiegen. Im vergangenen Jahr waren es
mit 10,1 Millionen sechs Prozent mehr als im Vorjahr, wie aus einer veröffentlichten Studie der
Consulting-Firma Capgemini und der Investmentbank Merrill Lynch hervorgeht.
Der Kreis der besonders Wohlhabenden mit mehr als 30 Millionen Dollar Vermögen erweiterte
sich noch schneller: um mehr als 8,8 Prozent auf 103.320 Menschen. […] Das durchschnittliche
Vermögen der Reichen übersprang 2007 erstmals die Marke von vier Millionen US-Dollar. Zu-
sammen verfügten sie über 40,7 Billionen Dollar (26,2 Billionen Euro) – ein Plus von 9,4 Prozent
gegenüber 2006.
[…] Nach der Studie dürfte sich das Vermögen der Millionäre bis 2012 um jährlich 7,7 Prozent
auf dann 59,1 Billionen US-Dollar erhöhen.
Angebot trifft Nachfrage:Wie Märkte (nicht) funktionieren
Im August 2008 veröffent lichte
die Hamburger Wochenzeit-
schrift „Die Zeit“ in ihrer
Online-Ausgabe folgende
Meldung (Auszüge):
Weltbank-Studie: 1,4 Milliarden Menschen sind arm
Noch immer lebt ein Viertel der Menschheit in Armut, schätzt die Weltbank. Während in Asien
der Wohlstand wächst, hungern die Menschen in weiten Teilen Afrikas weiter.
Trotz Fortschritten im Kampf gegen die globale Armut schätzt die Weltbank die Zahl der Armen
rund um den Erdball auf 1,4 Milliarden und damit ein Viertel der Weltbevölkerung. Allerdings sei
durch neue Daten über die Preisentwicklung die Armutsgrenze angehoben worden, heißt es in
einer am Dienstagabend veröffentlichten Studie der Entwicklungshilfeorganisation. Danach gilt
als arm, wer im Durchschnitt von weniger als 1,25 Dollar am Tag (rund 85 Cent) leben muss.
Bisher war es ein Dollar. „Die Entwicklungsländer sind ärmer, als wir bisher angenommen ha-
ben“, heißt es in der Untersuchung.
Dennoch komme der Kampf gegen die weltweite Armut voran. Die Zahl der Menschen, die von
weniger als 1,25 Dollar am Tag leben müssen, habe sich zwischen 1981 und 2005 um 500 Mil-
lionen verringert. […] Die Fortschritte seien jedoch sehr ungleich verteilt. Die größten Erfolge
habe es in Asien gegeben. Dort hätten 1981 noch 80 Prozent der Bevölkerung mit weniger als
1,25 Dollar am Tag auskommen müssen. 2005 seien es nur noch 18 Prozent gewesen. Allein in
China hätten 600 Millionen Menschen den Sprung über die Armutsschwelle geschafft. Dagegen
lebe in Afrika südlich der Sahara weiterhin etwa die Hälfte der Bevölkerung in extremer Armut.
Im Juni 2008 veröffentlichte
das Internetportal „T-Online“
folgende Meldung:
„Die Unterschiede im Lebens-
standard rund um die Welt
sind erschütternd“, bestätigt
der Harvard-Professor Nicholas
wie kann das sein? Wieso muss
ein Viertel der Weltbevölke-
rung mit je 1,25 Dollar am
Tag auskommen, während die
10 Millionen Millionäre (das
sind 0,15 Prozent der Welt-
bevölkerung) insgesamt mehr
als 40 Billionen Dollar auf
ihren Konten haben? Warum
erwirtschaften die Menschen
in Sierra Leone oder Malawi
ein Bruttoinlandsprodukt von
Gregory Mankiw in seinem
Standardwerk „Die Grundzüge
der Volkswirtschaftslehre“ (das
übrigens auch interessierten
Nicht-Ökonomen empfohlen
sei; siehe Literaturliste). Doch
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Produktivität„Er war heute wieder besonders produktiv“ – solche
Aussagen hören wir zwar fast jeden Tag, doch mit der
Produktivität im ökonomischen Sinne hat das nur wenig
zu tun. Produktiv sein, darunter versteht der Volksmund
meist, „besonders viel getan zu haben“ oder „besonders
kreativ“ zu sein. Die Volkswirtschaftslehre aber defi niert
Produk tivität so:
Output
Input
Produktivität ist also das Verhältnis zwischen der produ-
zierten Menge und den dafür eingesetzten Mitteln. Öko-
nomen kennen drei Produktivitäten:
• Die Arbeitsproduktivität gibt an, welche Menge an
Gütern und Dienstleistungen (Output) pro eingesetzte
Arbeitsstunde (Input) produziert wird.
• Die Kapitalproduktivität gibt an, welche Menge an
Gütern und Dienstleistungen (Output) im Verhältnis
zum eingesetzten Kapital (Input) erwirtschaftet wird.
• Die Faktorproduktivität berücksichtigt beides, Arbeit
und Kapital. Sie gibt also an, welche Menge an Gütern
und Dienstleistungen (Output) im Verhältnis zur ein-
gesetzten Arbeit und zum eingesetzten Kapital (Input)
produziert wird.
Was ist das?
Investitionen„Ich hab’ heute in ein neues Fahrrad investiert“ – auch
das ist ein Satz, den Bodo und Berta Bundesbürger so
und so ähnlich tagtäglich sagen, der aber die wahre Be-
deutung von Investitionen verkennt. Denn als Investi-
tion gelten nur Ausgaben, die darauf abzielen, zukünftig
Erträge zu erwirtschaften. Der Kauf eines Fahrrads wäre
also nur dann eine Investition, wenn man mit diesem
Fahrrad Geld verdienen will – zum Beispiel als Fahrrad-
Kurier.
In einer Volkswirtschaft gibt es verschiedene Investiti-
onen: Sachinvestitionen in Maschinen, Werkhallen oder
die Infrastruktur sollen die Leistungs- und Wettbewerbs-
fähigkeit erhöhen. Werden lediglich alte durch neue
Maschinen ersetzt, spricht man von Ersatz investitionen.
Kommt zu den vorhandenen Maschinen noch eine wei-
tere hinzu, wird also der Kapitalstock erweitert, so nennt
man das Erweiterungsinvestitionen. Werden noch funkti-
onstüchtige, aber technisch veraltete Anlagen gegen mo-
derne ausgetauscht, dann sind das Rationalisierungsin-
vestitionen. Außerdem gibt es noch Finanzinvestitionen,
zum Beispiel der Kauf von Aktien, sowie Bildungsinves-
titionen, zum Beispiel in neue Hochschulen. Darüber
hinaus unterscheidet man noch zwischen staatlichen und
privaten (unternehmerischen) Investitionen.
Was ist das?
gen) ausgestattet sind bzw. das
Land über mehr Wissen und
Know-how verfügt als Land B.
Warum investieren?
Das ist auch der Grund dafür,
dass in den meisten modernen
Volkswirtschaften die Arbeits-
produktivität langfristig steigt,
während die Kapitalproduktivi-
tät stagniert oder sogar fällt.
Wenn nun die Beschäftigten
standards sind fast gänzlich
den Unterschieden in der Pro-
duktivität geschuldet.
Wenn Ökonomen von unter-
schiedlichen Produktivitäten
reden, dürfen wir das aber
keinesfalls missverstehen. Eine
höhere Arbeitsproduktivität in
Land A bedeutet nicht, dass
die Beschäftigten dort „fl ei-
ßiger“ sind als die in Land B,
sondern nur, dass die Arbeits-
plätze in Land A mit einem
leistungsfähigeren Kapitalstock
(das sind Maschinen und Anla-
rund 300 Dollar pro Kopf und
Jahr, die Luxemburger aber
mehr als 80.000 Dollar?
Lassen wir einmal alle soziolo-
gischen, kulturellen, religiösen
und ideologischen Erklärungen
beiseite und konzentrieren uns
ganz auf das Ökonomische,
dann ist die Antwort auf diese
Fragen „überraschend einfach“,
wie Ökonom Mankiw sagt:
Die Unterschiede der Lebens-
in Land A eine größere Güter-
menge pro Zeiteinheit herstel-
len können als die Menschen
in Land B, dann erzielen sie
auch höhere Einkommen,
sprich einen höheren Lebens-
standard. Für die Wirtschafts-
politiker in Land B kann das
also nur heißen: Sie müssen die
Produktivität erhöhen, indem
sie zum Beispiel für bessere Bil-
dung und eine bessere Ausstat-
tung mit Produktionsmitteln
wie Anlagen und Maschinen
sorgen. Kurzum: Land B muss
seine Investitionen erhöhen.
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Um zu sehen, wie überlebens-
wichtig Investitionen für eine
Volkswirtschaft sind, müssen
wir aber nicht nach Afrika oder
in all die anderen bettelarmen
Staaten dieser Welt schauen,
sondern können uns getrost
an die eigene Nase fassen. Für
das Jahr 2006 hatte die deut-
sche Bundesregierung zum
wiederholten – und vorerst
letzten – Mal in Folge einen
verfassungswidrigen Haushalt
aufgestellt. Dies ist nach Ar-
tikel 115 des Grundgesetzes
immer dann der Fall, wenn der
Staat in einem Jahr mehr neue
Schulden macht, als er für neue
Straßen, Forschungsprojekte,
Universitäten und andere
Inves titionsprojekte ausgibt.
Die Folgen der rasant stei-
genden Staatsverschuldung
werden uns auf unserer Reise
durch die Marktwirtschaft
leider noch oft begleiten. An
dieser Stelle aber geht es erst
einmal „nur“ um die Auswir-
kungen der Verschuldung auf
die Leistungsfähigkeit der deut-
schen Volkswirtschaft.
Ein kurzer Rückblick: Jahr-
zehntelang war „made in
Germany“ so etwas wie eine
Garantie für Wachstum und
Wohlstand. Deutsche Waren,
insbesondere Maschinen, Anla-
gen und Autos, waren weltweit
so begehrt, dass es sich die Volks-
wirtschaft Deutschland schein-
bar locker leisten konnte, den
Beschäftigten immer höhere
Löhne zu zahlen und der Be-
völkerung immer umfassendere
Sozialleistungen zu gewähren.
Wie wir bereits gesehen haben,
hat dies unter anderem dazu
geführt, dass sich Deutschland
schon mehrmals mit dem un-
rühmlichen Titel des „Arbeits-
kosten-Weltmeisters“ schmü-
cken musste. Die hohen Löhne
und Gehälter waren so lange
kein Problem, wie Deutschland
mit einer entsprechend hohen
Produktivität dagegenhalten
konnte.
Im Nachhinein lässt sich kaum
exakt sagen, wann der deutsche
Produktivitätsvorsprung verlo-
ren gegangen ist, doch datieren
wir die „Wende“ der Einfach-
heit halber auf die wohl größte
(wirtschafts-)politische Zäsur
nach dem Zweiten Weltkrieg:
den Fall der Berliner Mauer,
also den Zusammenbruch des
Ostblocks und den dadurch
ausgelösten gewaltigen Globa-
lisierungsschub. Auch wenn es
das Phänomen der Globalisie-
rung in Wahrheit schon früher
gegeben hat – was sich seit dem
Zusammenbruch des Kommu-
nismus und der Planwirtschaft
in der Wirtschaftswelt abspielt,
ist in der Tat einmalig.
Nehmen wir nur das Beispiel
der EU-Erweiterung um die
osteuropäischen Staaten im
Jahr 2005: Mit einem Schlag
ist die europäische Staatenge-
meinschaft um 75 Millionen
Menschen gewachsen – und
diese 75 Millionen Menschen
sind auch Konkurrenten.
Deutsche Unternehmen (aber
natürlich auch britische, fran-
zösische, spanische und viele
andere) bauen Produktions-
stätten in Polen, Ungarn oder
Lettland. Dort werden mit
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• Im Mai 2006 ist die Verschuldung der öffentlichen Haus-
halte in Deutschland erstmals über die Marke von 1,5 Billi-
onen Euro gestiegen. Bis zum Frühjahr 2009 kamen weitere
36 Milliarden Euro hinzu – ein Grund dafür waren die Kon-
junkturpakete, mit denen die Bundesregierung die Folgen der
weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise abfedern will.
• Statistisch gesehen belasten die Staatsschulden jeden ein-
zelnen Bundesbürger mit fast 19.000 Euro. Um ein weiteres
Ausufern der Staatsverschuldung zu verhindern, hat der
Gesetzgeber eine „Schuldenbremse“ beschlossen: Demnach
gilt ab 2016 (Bund) bzw. 2020 (Länder) ein sogenanntes
Neuverschuldungsverbot.
• Nach Angaben des Bundes der Steuerzahler wächst der
öffentliche Schuldenberg in jeder einzelnen Sekunde um
mehr als 4.400 Euro. Allein in der Zeit, die Sie für das Lesen
dieses kleinen Kastens brauchen, steigt die Staatsverschul-
dung um mehr als 100.000 Euro.
???Hätten Sie,s gewusst
Die Kennzeichnung „made in Germany“ wurde Ende des
19. Jahrhunderts in Großbritannien erfunden – und zwar aus
einem ganz bestimmten Grund: Die Briten, aber auch andere
europäische Industrienationen, wollten sich damit gegen
„minderwertige Nachahmungsprodukte“ schützen, wie es im
Handelsmarkengesetz von 1887 hieß. Die Kennzeichnung
„made in Germany“ sollte es der britischen Bevölkerung
leichter machen, die Waren des Gegners zu erkennen und zu
boykottieren. Zwar wurde die Kennzeichnung auch nach
dem Krieg beibehalten – allerdings entpuppte sie sich schnell
als Eigentor: Weil nämlich die Qualität der Waren aus
Deutschland in der Regel sehr gut war, entwickelte sich
„made in Germany“ in kurzer Zeit zu einem weltweit aner-
kannten Qualitätssiegel.
???Hätten Sie,s gewusst
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modernster Technik (wir erin-
nern uns: mit einem leistungs-
fähigen Kapitalstock) Autos,
Maschinen, Handys und viele
andere Produkte hergestellt,
die sich durch zweierlei aus-
zeichnen: Zum einen sind sie
qualitativ genauso gut wie die
in Deutschland hergestellten
Waren – vor allem aber können
sie aufgrund der wesentlich
niedrigeren Löhne zu viel
niedrigeren Kosten hergestellt
werden. So muss ein Unterneh-
men für einen westdeutschen
Arbeitnehmer rund 3.800 Euro
im Monat aufbringen, Polen
oder Tschechen erledigen den
gleichen Job für 800 Euro.
Teufelskreis Verschuldung
Lange Rede, kurzer Sinn: Die
Volkswirtschaft Deutschland
kann ihre exorbitant hohen
Löhne nicht mehr mit einer
entsprechend hohen Produk-
tivität erwirtschaften und
müsste, um wieder konkur-
renzfähig zu werden, dringend
investieren – sehr dringend.
Und genau hier liegt der Hase
im Pfeffer: Statt zum Beispiel
in neue Technologien zu in-
vestieren, statt also Geld aus-
zugeben, um künftig Erträge
zu erzielen, hat Deutschland
in den vergangenen Jahr-
zehnten immer mehr Geld
„verfrühstückt“, sprich für
soziale Wohltaten ausgegeben.
Zwischen 1960 und 2006 sind
die Sozialausgaben je Einwoh-
ner von knapp 600 Euro pro
Jahr auf 8.500 Euro gestie-
gen – ein Zuwachs von rund
1.300 Prozent. Machten die
Sozialleistungen damals noch
rund 21 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts (BIP) aus, so
sind es inzwischen schon über
30 Prozent, also fast ein Drittel
all dessen, was jedes Jahr er-
wirtschaftet wird.
Nun muss man eigentlich
nicht Adam Riese heißen, um
zu erkennen, dass das beim
besten Willen nicht gutgehen
konnte. Doch ob nun Konrad
Adenauer, Ludwig Erhard,
Kurt Georg Kiesinger, Willy
Brandt, Helmut Schmidt,
Helmut Kohl oder Gerhard
Schröder: Bis auf wenige Aus-
BIP und BSP„Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“
– mit diesem Ohrwurm eroberte die Gruppe „Geier Sturzfl ug“ 1983 nicht nur Platz eins
der deutschen Hitparade, der Song „Bruttosozialprodukt“ eroberte auch Platz eins in
Österreich und der Schweiz und wurde zudem ins Französische, Englische und Nieder-
ländische übersetzt. Doch was ist eigentlich das Bruttosozialprodukt (BSP) und wie unter-
scheidet es sich vom Bruttoinlandsprodukt (BIP)?
• Das Bruttoinlandsprodukt gibt den Marktwert aller Güter (wie Möbel oder Autos) und
aller Dienstleistungen (wie einen Friseurbesuch oder eine Autoreparatur) an, die in einem
Land in einem bestimmten Zeitabschnitt hergestellt werden. Wichtig ist dabei die Eingren-
zung „in einem Land“: Denn arbeitet zum Beispiel ein Türke vorübergehend in Deutsch-
land, zählt seine Leistung auch zum deutschen Bruttoinlandsprodukt; dagegen zählt das,
was ein deutscher Staatsbürger mit seinem Betrieb in der Türkei herstellt, zum türkischen
BIP. Das Bruttoinlandsprodukt ist also ein INLANDskonzept: Es misst die gesamte
Produktion in einem Land, unabhängig davon, welche Staatsangehörigkeit die Produ-
zenten haben.
• Das Bruttosozialprodukt, heute Bruttonationaleinkommen genannt, erfasst grundsätz-
lich das Gleiche wie das BIP, allerdings mit einem Unterschied: Während das BIP auf das
Inland abzielt, geht es beim BSP um die INLÄNDER: Es misst den Marktwert aller Waren
und Dienstleistungen, die von Personen erbracht werden, die dauerhaft in einem Land
leben. Wenn also ein türkischer Staatsbürger nur vorübergehend in Deutschland arbeitet,
zählt seine Leistung nicht zum deutschen BSP, sondern zum türkischen. Und das, was ein
deutscher Staatsbürger mit seinem Unternehmen in der Türkei herstellt, erhöht das deut-
sche BSP, nicht aber das türkische.
Der Unterschied zwischen BIP und BSP in Zahlen: Im Jahr 2007 betrug das deutsche BIP
2.423,8 Milliarden Euro, das BSP war mit 2.446,4 Milliarden Euro um 22,6 Milliarden
Euro oder 0,9 Prozent höher.
Was ist das?
nahmejahre haben alle bishe-
rigen Bundeskanzler und ihre
Ministerriegen stets wesentlich
mehr Geld ausgegeben als sie
an (Steuer-)Einnahmen verbu-
chen konnten. Allein seit der
Wiedervereinigung haben sich
die Bundesschulden mehr als
verdreifacht.
Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren
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Hier schließt sich also der Teu-
felskreis: Weil der Staat sich
immer mehr verschuldet und
das geliehene Geld noch nicht
einmal investiert, sondern
sprichwörtlich auf den Kopf
gehauen hat, ist dem Wachs-
tum förmlich der Boden unter
den Füßen weggebrochen.
Konnte die Bundesrepublik
diese fatale Wirtschaftspolitik
in den Jahren nach der Wieder-
vereinigung noch kaschieren
– man nahm einfach noch
mehr und noch mehr Kredite
auf – setzte der Europäische
Stabilitätspakt dem Treiben
enge Grenzen.
Wohin die angeblich so sozi-
ale Marktwirtschaft geführt
hat, zeigt die Entwicklung der
wichtigsten ökonomischen
Kennziffern in den neunziger
Jahren. Dieses Jahrzehnt, in
dem praktisch die gesamte
Wirtschaftswelt neu defi niert
worden ist, muss für Deutsch-
land als verlorenes Jahrzehnt
gelten. Denn:
Die Wachstumsrate der
deutschen Volkswirtschaft ist
seit 1993 (davor gab es noch
einen zweijährigen „Wieder-
vereinigungs-Boom“) in jedem
einzelnen Jahr unter dem euro-
päischen Durchschnitt geblie-
ben. Gleich mehrmals landete
Deutschland, immerhin die
größte Volkswirtschaft Euro-
pas, sogar auf dem letzten Platz
der damals 15 EU-Mitglieder.
Die Einkommen je Einwoh-
ner sind von 1991 bis 2003
zwar um 41 Prozent auf umge-
rechnet 27.350 Dollar pro Jahr
Der Europäische StabilitätspaktIm Jahr 1991 beschloss die Europäische Union im hollän-
dischen Maastricht die Einführung des Euro. Da die da-
mals 15 Mitgliedsstaaten aber die Hoheit über ihren Staats-
haushalt behalten haben und die Stabilität einer Währung
nicht zuletzt von der Haushaltsdisziplin abhängt, müssen
die einzelnen Staatshaushalte seitdem bestimmte Anfor-
derungen erfüllen, die sogenannten Maastricht-Kriterien.
Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) darf danach
• die Gesamtverschuldung maximal 60 Prozent betragen
und
• die jährliche Neuverschuldung maximal 3 Prozent
ausmachen.
Was ist das?gestiegen. Doch was auf den
ersten Blick noch recht pas-
sabel aussieht, entpuppt sich
im internationalen Vergleich
als äußerst dürftig: Erstens ist
Deutschland mit diesem Ein-
kommensniveau von Platz vier
auf Platz acht in der EU-15
abgerutscht; zweitens haben
selbst die einstigen europä-
ischen „Armenhäuser“ Irland
(153 Prozent), Griechenland
(60 Prozent) und Portugal (57
Prozent) besser abgeschnitten;
und drittens belegen die Deut-
schen mit ihrem Zuwachs von
41 Prozent ebenfalls den letz-
ten Platz im EU-Ranking.
Die Arbeitslosenquote lag im
Jahr 2005 nach internationaler
Defi nition bei 9,5 Prozent
und damit deutlich über dem
EU-Durchschnitt von 8,8 Pro-
zent. Länder wie Luxemburg,
Irland, die Niederlande und
Österreich hatten sogar nur
Quoten von höchstens 5 Pro-
zent. Umgekehrt musste sich
die Bundesrepublik zusammen
mit Dänemark und Italien bei
einem Plus von rund 3 Prozent
mit dem niedrigsten Beschäf-
tigungszuwachs seit 1990
zufriedengeben – Irland und
Luxemburg dagegen konnten
die Zahl der Arbeitsplätze
jeweils um rund die Hälfte
erhöhen.
Und was lernen wir daraus?
Also renn’, Deutschland, renn’.
Nur: wohin? Oder anders
gefragt: Wenn die Wirtschafts-
politik der vergangenen Jahr-
zehnte offensichtlich falsch
war, wie sieht dann die richtige
aus? Was müssen wir tun,
damit die deutsche Volkswirt-
schaft wieder wächst, damit
neue Arbeitsplätze entstehen
und der Wohlstand steigt?
Zugegeben, den meisten Bun-
desbürgern geht es nach wie
vor vergleichsweise gut. Doch
selbst die größten Optimisten
müssen eingestehen: Es geht
in geradezu atemberaubendem
Tempo bergab. Hier nur drei
Beispiele, die im wahrsten
Sinne des Wortes zeigen,
wie arm es um die Zukunft
„Jeden Morgen er-wacht in Afrika eine Gazelle. Sie weiß, dass sie schneller sein muss als der schnellste Löwe. Jeden Morgen er-wacht in Afrika ein Löwe. Er weiß, dass er nicht langsamer sein darf als die langsamste Gazelle. Egal ob wir Gazelle sind oder Löwe – wir müssen rennen!“
Heinz Dürr
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Deutschlands bestellt ist, wenn
wir nicht grundlegend umsteu-
ern:
▼ Nach Angaben der Bundes-
agentur für Arbeit hat sich die
Zahl der Kinder, die auf Sozial-
hilfeniveau leben, von 2004 bis
Mitte 2006 auf 2,5 Millionen
verdoppelt.
▼ Nach dem jüngsten
Armutsbericht der Bundes-
regierung ist die Zahl der
Haushalte, die unterhalb der
Armutsgrenze leben, von 12,2
Prozent im Jahr 1989 auf
inzwischen 17,3 Prozent ge-
stiegen.
▼ Nach den Ergebnissen der
PISA-Studie hängen die Bil-
dungschancen der jungen Ge-
nerationen in keinem anderen
Land so sehr von der sozialen
Herkunft ab wie in Deutsch-
land. Im beschämenden Klar-
text: Arbeiterkinder werden
Arbeiter, Chefarztkinder wer-
den Chefarzt.
Wir haben nicht umsonst drei
Beispiele gewählt, die direkt
oder indirekt mit dem Nach-
wuchs zu tun haben. Denn so
wie die fehlenden Investitionen
dem Wachstum den Boden
entziehen, krankt auch der
deutsche Arbeitsmarkt an einer
wegbrechenden Basis – und
das gleich doppelt: Einerseits
werden immer weniger Kin-
der geboren; andererseits hat
die Gesellschaft offensichtlich
enorme Probleme, die jünge-
ren Generationen adäquat auf
die Herausforderungen der
Zukunft vorzubereiten. So
schneiden deutsche Schüler bei
internationalen Leistungsver-
gleichen wie dem PISA-Test
erschreckend schlecht ab; und
jedes Jahr bekommen Zehntau-
sende von Jugendlichen keine
Ausbildungsstelle, weil sie
einfach nicht die nötigen schu-
lischen und persönlichen Vor-
aussetzungen für eine Ausbil-
dung mitbringen. Im einstigen
Land der Dichter und Denker
sind die Defi zite an Bildung,
Leistungsbereitschaft und so-
zialer Kompetenz inzwischen
so groß, dass sich Gesellschaft
und Politik ernsthaft Sorgen
machen müssen, ob sich die
jungen Generationen auf den
durch und durch von harten
Konkurrenzkämpfen geprägten
Märkten noch behaupten
können.
„Die Wettbewerbs-fähigkeit eines Landes beginnt nicht in der Fabrik-halle oder im For-schungslabor. Sie beginnt im Klassen-zimmer.“
Henry Ford
Also zurück auf die Schulbank.
Thema heute: Wirtschaftspo-
litik. Daniel Deutsch, erklären
Sie uns doch mal, was Wirt-
schaftspolitik überhaupt ist
und welche Arten es gibt.
„Die Unternehmen wollen
mit dem geringsten Einsatz
den größtmöglichen –“ ...
Schluss! Aus! Ende! So wird
das nichts. Also: Als Erstes
brauchen wir einen Plan, eine
Strategie. Wir müssen uns ein
Ziel setzen und dann überle-
gen, wie wir es erreichen. Das
Ziel ist wohl allen klar: Wir
wollen, dass die Wirtschaft
wieder nachhaltig wächst, dass
also neue Arbeitsplätze ge-
schaffen werden und möglichst
viele Menschen am Wohlstand
teilhaben können. Bleibt die
Frage, wie wir das erreichen
können. Hat jemand dazu
irgendwelche Vorschläge?
„Wir könnten die Löhne al-
ler Beschäftigten verdoppeln.
Dann können die Leute mas-
senhaft Geld ausgeben, also
steigt die Nachfrage, die Wirt-
schaft wächst wieder und die
Unternehmen schaffen neue
Arbeitsplätze.“
So, so – und wer bezahlt das al-
les? Wo soll denn zum Beispiel
der Bäcker um die Ecke das
Geld dafür hernehmen, seinen
Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren
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Angestellten von heute auf
morgen das doppelte Gehalt
zu zahlen? Dieses Geld muss
der Bäcker doch erst einmal
verdienen – müsste er dann
nicht auch die Preise für seine
Brötchen und seinen Kuchen
verdoppeln?
„Tja … äh …“
Nun gut, wir ahnen schon
– ganz so einfach ist die Sache
mit der Wirtschaftspolitik
nicht. Deshalb schlagen wir
jetzt einmal das Lehrbuch auf
und schauen nach, ob und mit
welchen Maßnahmen der Staat
die Konjunktur steuern kann.
Und ob er das überhaupt soll.
Ist Wirtschaft + Politik = Wirt-schaftspolitik?Mal steigen die Preise, mal fal-
len sie; das eine Unternehmen
muss alle seine Mitarbeiter ent-
lassen, ein anderes sucht hän-
deringend Facharbeiter; dem
Häuslebauer sind die Zinsen
zu hoch, dem Sparbuchbesitzer
zu niedrig; der eine verdient
Millionen, der andere muss mit
einem Niedriglohn zurecht-
kommen – die Marktwirtschaft
ist das perfekte Spiegelbild
des richtigen Lebens: Der eine
will dies, der andere das; mal
regnet es, dann wieder scheint
die Sonne. Doch so banal diese
Erkenntnis auch sein mag,
den meisten Menschen ist das
ewige Auf und Ab ein Graus.
Stattdessen wollen sie am liebs-
ten heute schon wissen, was
morgen passiert – sie sehnen
sich nach Stabilität und Sicher-
heit. So gesehen ist staatliche
Wirtschafts- oder Konjunktur-
politik im Grunde genommen
nichts anderes als der Versuch,
das Sicherheitsbedürfnis der
Menschen zu befriedigen.
Nun muss man kein Nobel-
preisträger für Wirtschafts-
wissenschaften sein, um zu
erkennen, dass dieser Versuch
wahrlich einer Sisyphus-Auf-
gabe gleicht. Denn egal ob es
um die Produktion geht, um
die Beschäftigung, die Einkom-
men oder die Preise – in einer
Marktwirtschaft ist alles einem
permanenten Wandel unter-
worfen. Trotzdem (oder gerade
deshalb?) geben sich die Re-
gierungen auf der ganzen Welt
alle erdenkliche Mühe, die an
sich unausweichlichen Schwan-
kungen im Konjunkturzyklus
zu glätten.
In Deutschland hat man dazu
sogar eigens das „Stabilitäts-
und Wachstumsgesetz“ erfun-
den. Es beginnt mit einem
recht unscheinbaren Satz:
„Bund und Länder haben bei
ihren wirtschafts- und fi nanz-
politischen Maßnahmen die
Erfordernisse des gesamtwirt-
schaftlichen Gleichgewichts
zu beachten.“ Doch dieses
„gesamtwirtschaftliche Gleich-
gewicht“ ist nicht ohne – es
hat (siehe Kasten unten) sogar
etwas Magisches an sich.
Das „Magische Viereck“ ist ein
Paradebeispiel für das Grund-
problem einer jeden Wirt-
Gesamtwirtschaftliches GleichgewichtMan nehme vier Zutaten: ein stabiles Preisniveau, eine
hohe Beschäftigung, ein außenwirtschaftliches Gleichge-
wicht sowie ein angemessenes und stetiges Wirtschafts-
wachstum – und fertig ist das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht. So jedenfalls stellte es sich die damalige
Bundesregierung unter Kurt Georg Kiesinger vor, als sie
im Jahr 1967 das „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“
aus der Taufe hob. Unter Ökonomen sind die vier in
§1 formulierten wirtschaftspolitischen Ziele auch als
„Magisches Viereck“ bekannt. Zu Recht, denn tatsächlich
würde es schon an Zauberei grenzen, wenn alle vier Ziele
gleichzeitig erreicht würden. Das kann schon deshalb
nicht funktionieren, weil sie teilweise in Konkurrenz
zueinander stehen.
Solch ein Zielkonfl ikt ergibt sich zum Beispiel dann,
wenn ein Staat versucht, gleichzeitig eine hohe Infl ation
(Ziel: Preisstabilität) und eine hohe Arbeitslosigkeit (Ziel:
hohe Beschäftigung) zu bekämpfen. Stark vereinfacht
dargestellt besteht das Dilemma in diesem Fall darin: Um
den Preisanstieg zu bremsen, verkleinert die Europäische
Zentralbank (das ist sozusagen die Bundesbank der EU)
die Geldmenge. Sie tut das, indem sie die Zinsen erhöht,
sodass die Verbraucher und die Unternehmen weniger
Kredite aufnehmen. Dadurch haben die Menschen logi-
scherweise weniger Geld, das sie ausgeben können. Das
wiederum führt zu weniger Umsatz bei den Unternehmen
und, im schlimmsten Falle, zu Entlassungen. Zumindest
für eine gewisse Zeit wird also das Ziel Preisstabilität mit
einer höheren Arbeitslosigkeit „erkauft“ – sprich das Ziel
einer hohen Beschäftigung verfehlt.
Was ist das?
schaftspolitik: Welches Ziel
sie auch immer verfolgt und
welche Maßnahmen sie auch
immer dafür einsetzt – da es
die eierlegende Wollmilchsau
nun einmal nicht gibt, hat alles
immer zwei Seiten: Chance
und Risiko, Gewinner und
Verlierer, Pro und Contra. An-
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schauungsmaterial dafür liefert
der Alltag zuhauf: Wir können
nicht einerseits die Steuern
massiv senken und andererseits
die staatlichen Leistungen
erhöhen. Wer niedrigere Sozi-
albeiträge fordert, kann nicht
auf steigende Rentenzahlungen
hoffen. Kürzere Arbeitszeiten
und gleichzeitig mehr Lohn
– wie soll das gehen? Geiz mag
für die Verbraucher geil sein,
für den kleinen Einzelhändler
um die Ecke kann er das Aus
bedeuten.
Damit erst gar kein Miss-
verständnis aufkommt: Die
Tatsache, dass praktisch jede
wirtschaftspolitische Maßnah-
me für den einen oder anderen
auch unerwünschte Nebenwir-
kungen hat, darf keineswegs
als Bankrotterklärung der
Marktwirtschaft interpretiert
werden. Nein, es ist sogar um-
gekehrt: Die Marktwirtschaft
lebt geradezu davon! Gewinne
hier, Verluste da; eine Firma
bekommt den Auftrag, die
andere geht leer aus; ein Land
ist Wachstumsweltmeister, ein
anderes hält die rote Laterne
– die Marktwirtschaft ist wie
die Fußballbundesliga oder
„Deutschland sucht den Su-
perstar“ oder das Leben über-
haupt: Sie lebt vom Wettbe-
werb, denn sie ist Wettbewerb.
Doch um zu gewinnen, muss
man eine Niederlage riskieren.
Wettbewerb ist nichts Verwerf-
liches, sondern geradezu natür-
Ordnungspolitik„Ordnung ist das halbe Leben – woraus mag die andere Hälfte bestehen?“ Zumindest
in Sachen Wirtschaftspolitik können wir diese eher rhetorische Frage von Heinrich Böll
leicht beantworten: Die andere Hälfte, das sind all jene Maßnahmen, mit denen die Wirt-
schaftspolitik kurzfristig in den Verlauf des Geschehens eingreift. Zu dieser Ablauf- oder
Prozesspolitik gehört zum Beispiel alles rund ums Geld, also etwa die Themen Steuern
und Preise.
Bei der Ordnungspolitik dagegen geht es um die langfristige Wirtschaftspolitik, also da-
rum, eine dauerhafte marktwirtschaftliche Ordnung (auch Rahmenbedingungen genannt)
zu organisieren und zu erhalten. Weil dies vor allem durch Gesetze geschieht, ist Ord-
nungspolitik eine Aufgabe der Legislative, in erster Linie also der Parlamente auf Bundes-
und Landesebene. Das Kernstück der Ordnungspolitik ist die Wettbewerbspolitik. Sie soll
dafür sorgen, dass die marktwirtschaftlichen Prinzipien nicht ausgehebelt werden. Ord-
nungspolitik setzt auf den freien Wettbewerb und die „unsichtbare Hand“ des Marktes,
um Wohlstand für alle zu schaffen.
Ordnungspolitische Prinzipien
• Der Staat hat den freien Wettbewerb der Individuen und Gruppen zu gewährleisten,
indem er zum Beispiel Preisabsprachen oder Kartelle unterbindet (wenn Unternehmen
mit dem Zweck kooperieren, den Wettbewerb zu verhindern oder zu beschränken).
• Die staatliche Sozialpolitik hat dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe (Subsidiaritäts-
prinzip) zu entsprechen. Das heißt: Die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen hat
Vorrang vor dem staatlichen Handeln – auf Deutsch: Was der kleine oder große Mann
selbst erledigen kann, daraus soll sich der Staat raushalten.
• Subventionen, also staatliche (Finanz-)Hilfen, dürfen nur ausnahmsweise und vor-
übergehend gewährt werden; sie dienen als Anpassungshilfe, nicht aber zur Erhaltung
von Wirtschaftsstrukturen oder -zweigen.
Beispiele ordnungspolitischer Maßnahmen
• Die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes 1998, die das Monopol der Tele-
kom im Festnetz abschaffte.
• Die Novelle der Handwerksordnung 2004, die den Meisterzwang in vielen Handwerks-
bereichen abschaffte.
• Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der ehemaligen DDR im Jahr 1990.
• Der Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im
Jahr 1957 und die Mitunterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) im
Jahr 1986, die den europäischen Binnenmarkt schafften.
• Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz) im Jahr 1957 und dessen
Novellierung sowie die Einführung der Fusionskontrolle im Jahr 1973.
• Die Errichtung einer politisch unabhängigen Notenbank (Deutsche Bundesbank) im
Jahr 1957, die der Geldwertstabilität verpfl ichtet ist.
Was ist das?
Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren
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lich: Kleinkinder messen ihre
Kräfte im Spiel, Hunde laufen
um die Wette, Pfl anzen wett-
eifern ums Sonnenlicht. Wett-
bewerb ist die Suche nach dem
Besseren, nach Fortschritt und
Erkenntnis – ohne dieses Stre-
ben säße der Mensch noch heu-
te auf den Bäumen und würde
die Erde noch immer für eine
Scheibe halten. Doch so wie
die Natur bestimmten Gesetzen
unterliegt, so braucht auch die
Marktwirtschaft Regeln. Damit
sind wir bei einem Schlüssel-
begriff der Wirtschaftspolitik
angelangt: der Ordnungspolitik
(siehe Kasten Seite 19).
Politik und Ordnung
Man kann es Ironie des Schick-
sals nennen oder einfach nur
kurios – fest steht: Sowohl den
Begriff als auch das Konzept
der Ordnungspolitik gibt es nur
in Deutschland. Und dennoch
haben deutsche Bundesregie-
rungen nichts so oft und so
sträfl ich vernachlässigt wie die
ordnungspolitischen Prinzipien.
Wer wissen will, warum sich
die größte Volkswirtschaft
Europas heute in einem derart
miserablen Zustand befi ndet,
der braucht lediglich in die
Archive der deutschen Gesetz-
gebung einzutauchen. Dort
befi ndet sich das „Gruselkabi-
nett der deutschen Ordnungs-
politik“, wie die Tageszeitung
„Die Welt“ die lange Liste der
Verfehlungen einmal so tref-
fend genannt hat. Praktisch in
1972 verschlimmbesserte
Arbeits- und Sozialmini-
ster Walter Arendt (SPD)
Adenauers dynamische Rente
durch die Einführung einer
fl exiblen Altersgrenze. Binnen
zehn Jahren sank dadurch das
durchschnittliche Rentenalter
um 2,5 Jahre – und bis heute
werden ältere Arbeitnehmer
auf Kosten der Sozialkassen aus
dem Arbeitsmarkt gedrängt.
1985 sorgten Sozialpolitiker
wie Norbert Blüm (CDU)
dafür, dass das Arbeitslosen-
geld auf zwei Jahre verlängert
wurde – eine Maßnahme, die
Arbeitslosen lange Zeit den
Anreiz nahm, sich einen neuen
Arbeitsplatz zu suchen.
1991 erfand Heinrich Franke,
Chef der Bundesanstalt für Ar-
beit, die Arbeitsbeschaffungs-
maßnahmen (ABM). Wenn
die Privatwirtschaft nicht
genügend Jobs schaffe, müsse
eben der Staat einspringen,
so die Idee. Doch obwohl die
Sinnlosigkeit von ABM längst
bewiesen ist, werden sie auch
heute noch praktiziert – auf
Kosten der Beitragszahler.
1995 rief Arbeitsminister
Norbert Blüm (CDU) die Pfl e-
geversicherung ins Leben. Doch
statt sie durch private Absiche-
rung (Kapital) zu fi nanzieren,
baute Blüm sie gegen alle
ökonomische Vernunft in das
ohnehin überforderte umlagefi -
nanzierte Sozialsystem ein. Mit
fatalen Folgen für die Arbeits-
kosten: Ohne Reformen werden
die Pfl ege-Beiträge von heute
1,7 Prozent des Bruttolohns auf
6 Prozent im Jahr 2040 steigen.
2002 schwieg Verkehrsmi-
nister Manfred Stolpe (SPD)
beharrlich zu den Zweckent-
fremdungen der Gelder aus
dem Solidarpakt durch die
ostdeutschen Ministerpräsi-
denten. Leidtragende sind die
Steuerzahler, die die Milliar-
den-Lasten schultern.
2008/09 2008/2009 wurden
für einige Branchen Mindest-
löhne eingeführt. Diese staat-
lich festgelegten Löhne sind ein
Eingriff in die Tarifautonomie.
Artikel 9 Absatz 3 des Grund-
gesetzes garantiert nämlich die
Koalitionsfreiheit, gibt also den
Tarifparteien (das sind in der
Regel die Arbeitgeberverbände
und die Gewerkschaften) das
Recht, ihre Tarifverträge frei
von staatlichen Eingriffen ab-
zuschließen.
2009 wurde in der gesetz-
lichen Krankenversicherung
der Gesundheitsfonds einge-
führt. Seitdem gilt ein kassen-
einheitlicher Beitragssatz von
15,5 Prozent – damit wird der
Wettbewerb unter den Kran-
kenkassen geschwächt. Zwar
können die Beitragssätze durch
Rückerstattungen und Zusatz-
beiträge weiterhin variieren,
weil diese beiden Instrumente
aber stark beschränkt sind, ist
jeder Legislaturperiode haben
Politiker und Funktionäre die
grundlegenden Regeln der
Marktwirtschaft missachtet –
angeblich stets „zum Wohle
der Bürger“, doch tatsächlich
zu deren Schaden. Hier einige
Beispiele:
1955 sorgte Agrarminister
Heinrich Lübke (CDU) mit
seinem „Landwirtschaftsgesetz“
dafür, dass fortan Produktions-
mittel wie Dünger und Diesel
sowie Endprodukte wie Milch
und Eier subventioniert wur-
den. Im Jahr 1957 folgte die
„Gemeinsame Agrarpolitik“ des
EG-Vertrages; seither bestim-
men Preiseingriffe, Ausgleichs-
zahlungen, Stützungskäufe,
Flächenstilllegungsprämien
und Direktzahlungen das Ge-
schehen auf den europäischen
Agrarmärkten – alles Subventi-
onen, die den Strukturwandel
behindern, den Wettbewerb
verzerren und zudem für
überhöhte Lebensmittelpreise
sorgen.
1967 initiierte Wirtschafts-
minister Karl Schiller (SPD)
das „Stabilitäts- und Wachs-
tumsgesetz“, mit dem der Staat
praktisch verpfl ichtet wurde,
bei einer schwachen privaten
Nachfrage einzugreifen und
z. B. Konjunkturprogramme
aufzulegen. Es dauerte aller-
dings nicht lange, bis Schiller
selbst einsah, dass das Konzept
der Globalsteuerung mehr
Probleme schafft als es löst.
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die potenzielle Beitragsspanne
wesentlich geringer als vorher:
Konnten die Versicherten vor
Einführung des Einheitssatzes
durch einen Kassenwechsel bis
zu 1.800 Euro jährlich einspa-
ren, so sind es jetzt nur noch
1.000 Euro.
Wie kann so etwas passieren?
Wie kann es sein, dass Politiker
aller Parteien einerseits lauthals
das Loblied der Marktwirt-
schaft singen, andererseits aber
immer und immer wieder
Gesetze verabschieden und
Maßnahmen ergreifen, die
offenbar einzig und allein das
Ziel haben, die Menschen vor
genau dieser Marktwirtschaft
„zu schützen“? Eine Antwort
darauf ist die geradezu para-
noide Angst der Deutschen vor
vermeintlichen Ungerechtig-
keiten und davor, als „Kleiner“
von den „Großen“ gefressen zu
werden.
„Wenn der Deut-sche hinfällt, dann steht er nicht auf, sondern schaut, wer schadens-ersatzpfl ichtig ist.“
Kurt Tucholsky
Ein Musterbeispiel für die
Haltung, sich möglichst gegen
alles und jeden abzusichern,
ist die deutsche Interpretation
der Freiheits- und Eigentums-
rechte. In Großbritannien und
den USA sind diese Rechte
geradezu heilig, in Deutsch-
land aber werden sie schon
vom Grundgesetz drastisch
eingeschränkt: In Artikel 14
Absatz 2 heißt es: „Eigentum
verpfl ichtet. Sein Gebrauch soll
zugleich dem Wohle der Allge-
meinheit dienen.“ Zugegeben,
dieses Gebot ist ohne Zweifel
gut gemeint, doch von einer
freiheitlichen Wirtschafts-
verfassung zeugt es nun wirk-
lich nicht. Man stelle sich
nur einmal vor, Artikel 14
Absatz 2 würde, entsprechend
abgewandelt, auch im Sport
gelten: „Siege verpfl ichten. Ihr
Erringen soll zugleich dem
Wohle der Allgemeinheit die-
nen.“ Was könnte das bedeu-
ten? Hätte sich Michael Schu-
macher absichtlich von seinen
Konkurrenten überholen lassen
müssen? Oder hätte er seine
Gagen mit dem Formel-1-
Publikum teilen sollen? Oder
mit allen Autofahrern, allen
Italienern, allen Deutschen?
Wohin solche inhaltlichen
Ungereimtheiten und Wider-
sprüche in der Praxis führen,
spüren wir alle Tag für Tag am
eigenen Leib. In dem Wahn,
es möglichst allen recht zu
machen, verheddert sich die
deutsche Wirtschaftspolitik seit
Jahrzehnten in einem Gestrüpp
aus Widersprüchen.
Drei Beispiele:
▲ Die eine Regierung (Kohl)
führt in die Rentenversiche-
Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren
weniger Auto fährt, gefährdet
die Rente seiner Oma.
▲ Auch mit der Tabaksteuer
verfolgt der Staat zwei wider-
sprüchliche Ziele: Einerseits
soll sie dem Finanzminister
möglichst viel Geld zur De-
ckung des Staatshaushalts ein-
bringen, andererseits sieht das
Gesundheitsministerium
darin eine sogenannte Len-
kungssteuer, die den Tabak-
konsum bremsen soll. Völlig
absurd war dann die Erhöhung
der Tabaksteuer im Jahr 2003:
Die Mehreinnahmen von jähr-
lich ca. 3 Milliarden Euro fl ie-
ßen in vollem Umfang an die
Krankenkassen, um das Ge-
sundheitssystem zu entlasten
– im Klartext: Je mehr die Leu-
te rauchen, desto besser ist
das für die Krankenkassen.
rung eine Klausel ein, nach
der die älteren Generationen
einen Teil der durch die demo-
grafi sche Entwicklung stei-
genden Lasten tragen sollen,
die nächste Regierung (Schrö-
der) schafft diese Klausel
um gehend wieder ab – um sie
dann zwei Jahre später unter
anderem Namen (Nachhaltig-
keitsfaktor) wieder aufl eben zu
lassen.
▲ Die Öko-Steuer soll angeb-
lich den Energieverbrauch und
damit die Umweltverschmut-
zung reduzieren, gleichzeitig
werden die Einnahmen daraus
aber zur Auffüllung der leeren
Rentenkasse gebraucht. Mit
anderen Worten: Wer jetzt
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Beispiele wie diese zeigen uns
in aller Deutlichkeit, was aus-
ländische Experten meinen,
wenn sie sagen: Die meisten
der deutschen Probleme sind
hausgemacht, sprich selbstver-
schuldet. Und in der Tat: Auch
andere Industrieländer haben
mit der demografi schen Ent-
wicklung zu kämpfen, auch sie
stehen im harten Gegenwind
der Globalisierung – doch im
Gegensatz zu Deutschland
haben sie die Zeichen der Zeit
erkannt und frühzeitig umge-
steuert. Deutschland dagegen
sucht erstens die Schuldigen
und gründet zweitens eine
Kommission. Oder einen Run-
den Tisch. Wahlweise auch ein
Bündnis, einen Vermittlungs-
ausschuss, eine Schlichterstelle
oder irgendein anderes Gre-
mium, in dem hoch bezahlte
Experten eine Lösung ausbal-
dowern – die wird dann aber
nicht eins zu eins umgesetzt,
sondern in den Mühlen der
Parteipolitik bis zur Unkennt-
lichkeit zermahlen.
Von Ego und Ismus
Doch Vorsicht! Wenn wir von
Parteipolitik sprechen, dann
meinen wir keineswegs nur die
Parteien selber, sondern auch
und vor allem jene gesellschaft-
lichen Gruppen, die sich von
den jeweiligen Parteien vertre-
ten fühlen. Es ist ein offenes
Geheimnis: In Deutschland
kann praktisch kein Gesetz-
entwurf, keine Reform und
erst recht kein Vorschlag eines
einzelnen Experten so umge-
setzt werden wie geplant. Ob
Steuerreform, Arbeitsmarktre-
form oder Gesundheitsreform:
Immer fühlt sich irgendeine
Gruppe benachteiligt, also
werden die ursprünglichen
Konzepte den unterschied-
lichen Egoismen entsprechend
Das Gefangenen-DilemmaZwei Männer, nennen wir sie Ego und Ismus, werden von der Polizei gefangen genommen.
Der Staatsanwalt wirft ihnen vor, gemeinsam mehrere Überfälle begangen zu haben. Da er
jedoch keine Beweise hat und die beiden alles vehement abstreiten, bietet er ihnen unabhängig
voneinander einen Handel an: „Wir haben genug Indizien in der Hand, um euch beide jeweils
für zwei Jahre hinter Gitter zu bringen, falls ihr weiterhin schweigt. Wenn du aber deinen
Kollegen verrätst und alles zugibst, dann lassen wir dich zur Belohnung frei und dein Kollege
bekommt fünf Jahre Strafe.“ Und wenn beide die Überfälle zugeben, so der Staatsanwalt weiter,
„dann können wir uns eine Menge Arbeit sparen und jeder bekommt eine mittelschwere Strafe
von vier Jahren“.
Ego und Ismus, die sich ja nicht miteinander beraten können, überlegen. Jeder von ihnen hat
zwei Strategien: gestehen oder schweigen. Insgesamt stehen ihnen also vier Möglichkeiten zur
Verfügung:
Ego Ismus Strafe für Ego Strafe für Ismus Strafe insgesamt
schweigt schweigt 2 Jahre 2 Jahre 4 Jahre
schweigt gesteht 5 Jahre frei 5 Jahre
gesteht schweigt frei 5 Jahre 5 Jahre
gesteht gesteht 4 Jahre 4 Jahre 8 Jahre
So weit, so schlecht – denn nun kommt das Dilemma: Keiner von beiden weiß, was der jeweils
andere tun wird. Weil jedoch beide so glimpfl ich wie möglich davonkommen wollen, be ginnt
das große Rechnen. Für Ego ist die Sache schnell klar: „Wenn Ismus schweigt, muss ich geste-
hen, dann bin ich frei. Wenn er jedoch gesteht, muss ich ebenfalls gestehen, denn dann bekom-
me ich nur vier statt fünf Jahre. Also bin ich – egal was Ismus macht – am besten dran, wenn
ich gestehe.“ Dummerweise ist aber auch Ismus nicht dumm – er kommt, ganz der Logik
folgend, zu demselben Ergebnis wie Ego.
Also kommt, was kommen musste: Am Ende gestehen beide und wandern für insgesamt
acht Jahre hinter Gitter – die höchste aller möglichen Strafen. Hätten sie sich dagegen abspre-
chen können, dann hätten beide geschwiegen und wären mit insgesamt 4 Jahren davongekom-
men – vorausgesetzt natürlich, beide hätten sich auch an die Absprache gehalten.
angepasst – und zwar selbst
dann, wenn dadurch nicht nur
einzelne, sondern sogar alle
verlieren.
Ja, auch so etwas gibt es in
einer Marktwirtschaft: Ent-
scheidungen, bei denen alle
verlieren. Zwar ist eine gesunde
Portion Egoismus für eine
funktionierende Marktwirt-
schaft nicht nur wünschens-
wert, sondern geradezu über-
lebenswichtig, doch Egoismus
gepaart mit Unwissen kann
ganz schön in die Hose gehen
– wie die höchst interessante
Geschichte zweier kleiner Gau-
ner zeigt:
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Wir ahnen schon: Mit ein
bisschen Phantasie lässt sich
das Gefangenen-Dilemma
auf unser Thema, die Wirt-
schaftspolitik, übertragen. Ein
aktuelles Beispiel dafür ist die
Gesundheitsreform: Ego und
Ismus heißen hier Unionspar-
teien und Sozialdemokraten
– und weil beide Seiten der
jeweils anderen nicht so recht
über den Weg trauten, ist am
Ende, trotz einiger Fortschritte,
eine ziemlich schlechte Lösung
herausgekommen: Statt das
Gesundheitssystem effi zienter
zu machen, müssen die Versi-
cherten nun höhere Beiträge
und die Unternehmen höhere
Arbeitskosten tragen; statt we-
niger Bürokratie gibt es mehr
(allein der Gesetzentwurf ist
mehr als 500 Seiten stark);
und die einstige Idee von
einem kostensparenden Wett-
bewerb ist sogar in ihr genaues
Gegenteil verkehrt worden –
alle Krankenkassen erheben
seit Januar 2009 ein- und
denselben Beitragssatz.
Einmal mehr müssen wir uns
fragen, wie so etwas passieren
kann. Warum bringt Deutsch-
land in schöner Regelmäßigkeit
Reformen auf den Weg, die
das Problem nicht beseitigen,
sondern eher noch verschärfen?
Und das, obwohl sich im Vor-
feld doch eigentlich alle (Poli-
tik, Wirtschaft, Wissenschaft
und die Bevölkerung) darüber
einig waren, dass es so wie bis-
her nicht weitergehen kann.
Angebots- und NachfragepolitikOb in den alljährlichen Tarifverhandlungen oder in den öffentlichen Diskussionen über
die Steuer-, Renten- oder Gesundheitsreform: Beim Streit um die richtige Wirtschaftspolitik
kristallisieren sich fast immer zwei gänzlich gegensätzliche Argumentations linien heraus:
• Die Anhänger der Nachfragepolitik sind davon überzeugt, dass wirtschaftliche Pro-
bleme vor allem durch Schwankungen der Nachfrage verursacht werden – eine Theorie,
die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts von dem britischen Ökonomen John
Maynard Keynes entwickelt wurde und deshalb Keynesianismus genannt wird. Leidet
eine Volkswirtschaft zum Beispiel unter einem schwachen Wirtschaftswachstum, plädie-
ren die Keynesianer für eine Stärkung der Binnennachfrage durch den Staat. Er soll sich
bei schwacher Konjunktur verschulden, also Kredite aufnehmen, und mit dem Geld dann
die Nachfrage ankurbeln, indem er zum Beispiel mehr staatliche Aufträge vergibt. Läuft
dann die Konjunktur wieder auf Hochtouren, kann der Staat seine Ausgaben reduzieren
und die Schulden zurückzahlen.
Diese „antizyklische“ Wirtschaftspolitik wurde insbesondere in den sechziger und sieb-
ziger Jahren auch in Deutschland praktiziert, einer Zeit, in der die Bundesrepublik nach
dem Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre die ersten großen Konjunkturkrisen zu be-
wältigen hatte. Dass die Nachfragepolitik aber offenbar nicht der Weisheit letzter Schluss
ist, liegt vor allem an einem Phänomen: Politiker tun sich zwar leicht, neue Kredite auf-
zunehmen und ihren Wählern damit möglichst viele Wünsche zu erfüllen – mit der Rück-
zahlung der Schulden dagegen haben die wenigsten etwas am Hut. Ein Beispiel: Allein
von 1960 bis 1982 (dem Jahr des Regierungswechsels von Helmut Schmidt auf Helmut
Kohl) verzehnfachte sich die Staatsverschuldung von 29 auf 311 Milliarden Euro.
• Die Anhänger der Angebotspolitik dagegen sehen die Ursachen für eine Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vor allem darin, dass sich die marktwirtschaftlichen
Kräfte und der Wettbewerb nicht ungehindert entfalten können. Statt mehr Staat fordern
sie also mehr Markt, sprich mehr private und unternehmerische Eigeninitiative. Die Ange-
botspolitik zielt vor allem auf höhere Investitionen und plädiert deshalb für Maßnahmen
wie eine Vereinfachung des Steuersystems, eine Senkung der Steuern und der Staatsquote
(das sind die Staatsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) sowie für weniger
Sozialleistungen, sprich mehr private Vorsorge. Auch die Angebotspolitik hat allerdings
ihre Schattenseiten.
Während staatliche Ausgabenprogramme schnell zu organisieren sind und deshalb beim
Wähler (als Nachfrager) entsprechend gut ankommen, entfaltet sich der Segen von ange-
botsorientierten Maßnahmen nur langsam – im Zweifel kann also die Ernte erst dann ein-
gefahren werden, wenn jene, die die Saat ausgelegt haben, gar nicht mehr im Amt sind.
Zu den bekanntesten politischen Verfechtern der Angebotspolitik gehören der frühere
US-Präsident Ronald Reagan und die Ex-Premierministerin des Vereinigten Königreichs,
Margaret Thatcher.
Was ist das?
Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren
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Neben den bereits genannten
Gründen (die Eigeninteres-
sen der jeweiligen Gruppen)
kommt hier ein weiteres
Dilemma zum Vorschein:
Nämlich die schwierige Ent-
scheidung, welche wirtschafts-
politische Strategie eine Re-
gierung/Gesellschaft verfolgen
soll. Grundsätzlich gibt es heu-
te in der Marktwirtschaft zwei
unterschiedliche Denkschulen
– die Angebotspolitik und die
Nachfragepolitik (siehe Kasten
Seite 23).
Wie es die Parteien in Deutsch-
land mit der Angebots- bzw.
Nachfragepolitik halten, ist
nicht ganz leicht zu beantwor-
ten. Nimmt man die Partei-
und Grundsatzprogramme als
Maßstab, ergibt sich noch ein
relativ klares Bild: Danach ver-
tritt die „Freie Demokratische
Partei“ (FDP) noch am ehesten
eine stringente angebotsorien-
tierte Politik; die „Christlich
Demokratische Union“ (CDU),
die „Christlich Soziale Union“
(CSU) sowie die „Sozialdemo-
kratische Partei Deutschlands“
(SPD) praktizieren jeweils
unterschiedliche Mischformen,
wobei die beiden Unionspar-
teien eher der Angebotspolitik
und die Sozialdemokraten eher
der Nachfragepolitik zuneigen;
„Bündnis90/Die Grünen“
haben mehr nachfrage- als
angebots orientierte Ansätze im
Programm und vertreten eine
Symbiose aus Ökologie und
Ökonomie; „Die Linke“ gibt
sich nachfrageorientiert, besteht
aber immer noch aus vielen
Kommunisten oder Sozialisten,
also aus mehr oder weniger
großen Skeptikern der Markt-
wirtschaft.
Politischer Mischmasch
Im politischen Alltag jedoch
sind diese – ohnehin stark
vereinfachten – Zuordnungen
praktisch gar nichts mehr wert.
Nur in 3 der 16 Bundesländer
regiert derzeit (Frühjahr 2009)
eine Partei allein, in allen ande-
ren gibt es entweder große Ko-
alitionen (aus CDU und SPD)
oder kleine Koalitionen (CDU
oder SPD mit einer oder meh-
reren anderen Parteien). In
dieser Gemengelage haben die
einzelnen Parteien praktisch
keine Chance, „ihre“ Wirt-
schaftspolitik durchzusetzen.
Diese Tatsache gilt erst recht
für die derzeitige Bundesregie-
rung: Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) führt ein Kabi-
nett an, das aus fünf Bundes-
ministern von der CDU, zwei
von der CSU und acht von der
SPD besteht. Viele wirtschafts-
politische Entscheidungen
dieser Regierung sind deshalb
politische Kompromisse, die
weder der Nachfrage- noch
der Angebotspolitik gerecht
werden und deshalb, streng
ökonomisch gesehen, ziemlich
faul sind.
Zum Glück gibt es die Wirt-
schaft aber auch ohne Poli-
tik. Statt um Angebots- und
Nachfragepolitik kümmern wir
uns jetzt um die Essenz: um
Angebot und Nachfrage. Und
die wollen bekanntlich ausge-
glichen sein. Das wiederum
geschieht vor allem über den
Preis. Womit wir bei einem
unheimlich spannenden The-
ma wären: Geld.
„Im Deutschen reimt sich Geld auf Welt: Es ist kaum möglich, dass es einen vernünftigeren Reim gebe.“
Georg Christoph Lichtenberg
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Angebot trifft Nachfrage: Wie Märkte (nicht) funktionieren
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Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis
Ach ja, das liebe Geld! Erstaun-
lich viele (wenn nicht alle)
Menschen haben ein recht son-
derbares Verhältnis dazu. Für
die einen ist Geld der Grund
all ihres Strebens, sie messen
ihren Erfolg, ihr Prestige, ja ihr
Glück daran. Für die anderen
ist es der Mangel an Geld, der
sie umtreibt – und kurioserwei-
se messen auch diese Menschen
ihren Erfolg, ihr Prestige und
ihr Glück daran. Kurzum:
Egal, wer wir sind und wo wir
leben, eines haben offenbar
(fast) alle Menschen gemein-
sam: zu wenig Geld.
„Geld macht nicht glücklich. Aber wenn man unglück-lich ist, ist es schöner, in einem Taxi zu weinen als in einer Straßen-bahn.“
Marcel Reich-Ranicki
Dass den Deutschen ein be-
sonders schwieriges Verhältnis
zum Geld nachgesagt wird, hat
einen ganz eigenen Grund.
Wie keine zweite Nation auf
dieser Welt haben die Deut-
schen ihr Selbstwertgefühl als
Volk bis vor wenigen Jahren
mit ihrer Währung verbunden:
Die D-Mark, das war für die
Bundesbürger 50 Jahre lang
nicht einfach nur ein Zah-
lungsmittel, sondern in erster
Linie ein Symbol dafür, dass
Deutschland seine dunkelste
Zeit, das nationalsozialistische
Regime, ein für alle Mal hinter
sich gelassen und einen neuen
Platz in der Weltgemeinschaft
gefunden hat. Mögen die Fran-
zosen auf ihre Kultur stolz sein,
die Italiener auf ihren Fußball,
die Briten auf ihr Königshaus
und die Amerikaner auf ihre
unbegrenzten Möglichkeiten
– die Deutschen hatten (bis zur
Einführung des Euro) ihre
Mark, ein in Metall gegossenes
und auf Papier gedrucktes Sy-
nonym für Stabilität, Sicherheit
und den berühmten „Wohl-
stand für alle“.
Das Pathos um das liebe Geld
fi ndet sich auch in der Sprache
wieder. Während die prag-
matischen Amerikaner Geld
einfach „machen“ (to make
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Der Lebenslauf des Euro1995 beschließt der Europäische Rat den Namen der neuen
Währung.
1996 werden die ersten Entwürfe der Geldscheine präsen-
tiert.
1997 fällt die Entscheidung über die Gestaltung der Münz-
Vorderseiten.
1998 legt der Europäische Rat in Zusammensetzung der
Staats- und Regierungschefs der damals 15 EU-Mitglieder
fest, welche Länder 1999 in die Währungsunion starten:
Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien,
Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Spa-
nien. Nicht dabei sind vorerst Großbritannien, Dänemark
und Schweden (diese Länder wollen – noch – nicht) sowie
Griechenland, das als einziges Land die Maastricht-Kriterien
nicht erfüllt. Im selben Jahr wird die Europäische Zentral-
bank (EZB) mit Sitz in Frankfurt am Main gegründet.
1999 wird der Euro als Buchgeld eingeführt und es beginnt
die Produktion der Münzen und der Banknoten.
2001 wird der Euro zum „Kennenlernen“ u. a. an Banken,
den Einzelhandel und die Industrie ausgegeben. Einzelne
Länder beginnen aus dem gleichen Grund mit der Ausgabe
sogenannter „Starterkits“.
2002 löst der Euro die bisherigen nationalen Währungen als
alleiniges Zahlungsmittel ab.
money) und die kühl-distan-
zierten Briten es ebenso einfach
„ernten“ (to earn money), müs-
sen es sich die Deutschen müh-
sam „verdienen“. Und so kann
es eigentlich auch niemanden
verwundern, dass es natürlich
die Deutschen waren, die dem
Euro schon kurz nach seiner
Geburt ein hässliches Etikett
angeklebt haben: Teuro.
„Hat eigentlich schon jemand
vorgeschlagen, den Euro mit
dem Oscar auszuzeichnen?“,
fragte das Magazin „Stern“ im
März 2003 mit einer gehörigen
Portion Zynismus. Immerhin
sei es die „beste schauspiele-
rische Leistung“, die eine Wäh-
rung erbracht habe. „Ständig
tut er so unschuldig und be-
hauptet, dass mit ihm keines-
wegs alles teurer geworden sei.
Eine glatte Lüge. […] Wo man
auch hinschaut: überall saftige
Preiserhöhungen.“ Was folgt,
ist eine lange Infl ations-Liste
an Beweisen: Bienenhonig plus
39 Prozent, Eier plus 15 Pro-
zent, Rasierklingen plus 14
Prozent, eine Stunde Autorepa-
Infl ation und Defl ationWir schreiben das Jahr 1921: Wer sich damals in Deutsch-
l and eine Tageszeitung kaufte, musste dafür 30 Pfennige
auf den Tisch legen – kurze Zeit später, im November
1922, kostete die gleiche Zeitung 70 Millionen Mark.
Und auch für alle anderen Waren schossen die Preise ins
Unermessliche. Der Hintergrund für diese Hyperinfl ation
waren übrigens die Schulden, die der Erste Weltkrieg
hinterließ: Um sie zu fi nanzieren, warf die Reichsregie-
rung der Weimarer Republik einfach ihre Geldpressen an
und druckte schiere Unmengen an Geld. Und wie immer,
wenn Angebot und Nachfrage nicht zueinanderpassen,
regelte sich das Ganze über den Preis – in diesem Falle
über eine „galoppie rende“ Infl ation.
Heute geht es dagegen gemäßigter zu. Der deutsche
„Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haus-
halte“, so die offi zielle Bezeichnung für das bekannteste
Infl ationsmaß, weist schon seit mehr als zehn Jahren le-
diglich einen jährlichen Anstieg der Verbraucherpreise
zwischen rund 0,5 und 2 Prozent aus. Die Ursachen für
einen Preisanstieg reichen von Preissteigerungen im Aus-
land, die zum Beispiel über Importe von Öl ins Inland
kommen (importierte Infl ation) über Kostensteigerungen
im Inland (wie höhere Löhne) bis hin zu einem Nachfra-
geboom (wenn also das Warenangebot kleiner ist als die
Nachfrage). Defl ation ist, vereinfacht gesagt, die Negation
von Infl ation: Alles wird immer billiger, das Preisniveau
sinkt. Nun könnte man meinen, eine Defl ation sei für die
Verbraucher das Paradies – doch weit gefehlt. Defl ation
ist wie Hyperinfl ation ein Horrorszenario und kann die
gesamte Weltwirtschaft ins Chaos stürzen. So geschehen
1930: Ein – zunächst nur leichter – Wachstumsrückgang
der US-Wirtschaft ließ den spekulativ überbewerteten
Aktienmarkt im Oktober 1929 zusammenbrechen. Von
heute auf morgen wurden Gelder, die zuvor in andere
Volkswirtschaften investiert worden waren, abgezogen. In
Europa und anderswo brach die ohnehin schwache Wirt-
schaft zusammen – allein in Deutschland verloren mehr
als sechs Millionen Menschen ihren Job.
Was ist das?
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ratur plus 13 Prozent, eine
Kinokarte plus 8 Prozent –
insgesamt, so zitierte der
„Stern“ eine Studie des Insti-
tuts für Angewandte Verbrau-
cherforschung, seien 46 von
100 ausgesuchten Waren und
Dienstleistungen um mehr als
fünf Prozent teurer geworden.
„Gefühlte“ Infl ation
Zum Glück haben die Stern-
Redakteure dann aber doch
noch die Kurve gekriegt und
jene gefragt, die sich von
Berufs wegen mit Preisen
beschäftigen: die Fachleute
vom Statistischen Bundesamt
in Wiesbaden. Und siehe da:
„Unser Geld hat durch die
Euro-Einführung nichts an
Wert verloren“, behaupteten
die Wiesbadener damals (wie
auch heute) und legten ihrer-
seits Beweise vor. So sei der
Verbraucherpreisindex, mit
dem das Statistische Bundes-
amt jeden Monat die durch-
schnittliche Preisentwicklung
von 750 Waren und Dienstleis-
tungen nachzeichnet, im Jahr
2003 lediglich um 1,1 Prozent
gestiegen – das sei immerhin
die niedrigste Infl ation seit vier
Jahren.
Also was denn nun? Wie
kann so vieles so viel teurer
werden, ohne dass die Le-
benshaltung insgesamt teurer
wird? Schuld daran ist die
„gefühlte“ Infl ation, also die
subjektive Preiswahrnehmung
der Menschen. Die Statistiker
aus Wiesbaden erklären das
so: Teurer geworden sind nach
der Euro-Einführung vor allem
kleinere Dienstleistungen wie
der Besuch von Kino, Kneipe
und Friseur; alles Leistungen,
die wir traditionell bar bezah-
len und deren Preisanstieg wir
deshalb besonders stark wahr-
nehmen. Wie sehr allerdings
die „gefühlte“ Infl ation täu-
schen kann, zeigt die Tatsache,
dass der Durchschnittsdeutsche
gerade mal 3 Prozent seines
Budgets für den Besuch von
Restaurants, Cafés und Imbiss-
buden ausgibt und auch nur
1 Prozent seines verfügbaren
Einkommens beim Friseur
lässt. Ganz anders dagegen un-
sere Aufmerksamkeit für Preise
wie die Miete: Weil sie auto-
matisch vom Konto abgebucht
wird, bekommen die wenigsten
Menschen mit, dass dieser
große Kostenblock (er macht
30 bis 35 Prozent eines durch-
schnittlichen Monatsbudgets
aus) nach der Euro-Einführung
kaum oder gar nicht teurer
geworden ist. Der gleiche Ef-
fekt greift bei Dingen, die wir
eher selten kaufen. Wer sich
zum Beispiel einen Computer
oder einen Fernseher zulegt,
der tut dies höchstens ein paar
Mal im Leben – auf jeden Fall
zu selten, um sich der Tatsache
bewusst zu werden, dass die
Preise für langlebige Konsum-
güter tendenziell eher fallen als
steigen.
„Geiz ist geil“, dieser Wer-
beslogan einer bundesweit
agierenden Elektro-Kette ist
längst zur Einkaufsmaxime der
meisten Bundesbürger gewor-
den. Ob im Internet, im Fern-
sehen oder in den Printmedien
– überall wimmelt es geradezu
vor Preisvergleichen, die den
Leuten haarklein vorrechnen,
wo und wie sie noch den ei-
nen oder anderen Cent sparen
können. Die Schnäppchenjagd
ist nicht nur zum Volkssport
geworden, sie ist geradezu des
Bürgers erste Pfl icht – denn
sonst, so glauben jedenfalls
viele, werden sie doch nur wie-
der abgezockt.
Wie wenig belastbar die
Theorie von der „gefühlten“
Infl ation ist, zeigt ein Kauf-
kraftvergleich. Diese recht ein-
fache Methode zeigt, wie lange
jemand arbeiten muss, um
sich eine bestimmte Menge an
Waren oder Dienstleistungen
leisten zu können. Ein Beispiel:
Im Jahr 1960 verdiente ein
westdeutscher Arbeitnehmer
umgerechnet 1,27 Euro netto
pro Stunde. Weil ein Fernseher
damals rund 450 Euro kostete,
musste man also gut 350 Stun-
den arbeiten, um in die Röhre
gucken zu können. Heute ver-
dienen Arbeitnehmer ungefähr
13,55 Euro netto pro Stunde
und ein Fernseher ist schon für
gut 300 Euro zu haben – ist
also schon in rund 22 Stunden
verdient. Die folgenden Bei-
spiele zeigen, dass es sich mit
den meisten Gütern ganz ähn-
lich verhält:
Die Kaufkraft der Lohnminute
1960 2007
Preis in Euro Arbeitszeit Preis in Euro Arbeitszeit
1 kg Mischbrot 0,41 20 Min. 2,36 10 Min.
10 Eier 1,07 51 Min. 1,60 7 Min.
1 Damenkleid 33,64 1.588 Min. 91,29 404 Min.
1 l Normalbenzin 0,31 14 Min. 1,33 6 Min.
1 Kühlschrank 198,89 9.390 Min. 327,83 1.452 Min.
1 Paar Herrenschuhe 15,65 739 Min. 68,47 303 Min.
1 Monat Tageszeitung 2,13 101 Min. 22,01 97 Min.
200 kWh Haushaltsstrom 12,86 607 Min. 43,56 193 Min.
Arbeitszeit: bei einer Nettolohn- und Gehaltssumme je geleistete Arbeitsstunde von 1,27 Euro im Jahr 1960 und 13,55 Euro im Jahr 2007; Ursprungsdaten: Statistisches Bundesamt, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
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Eine kurze Geschichte über das GeldEs muss so 5.000 bis 6.000 Jahr her sein, da machten unsere
Vorfahren einen riesigen Sprung. Zwar hatten sie noch keinen
blassen Schimmer von Produktivität und solch modernen Sa-
chen, dennoch brachten sie eines Tages deutlich mehr Fleisch,
Felle und Früchte nach Hause, als die Sippe essen oder lagern
konnte. Also kamen sie auf die Idee, ihre Überproduktion be-
nachbarten Familien anzubieten. Weil es aber damals noch kein
Geld gab, tauschten sie Trommeln gegen Töpfe, Eisendolche
gegen Pelze, Esel gegen Ziegenböcke. Der Naturaltausch hatte
allerdings auch so seine Tücken: Da waren nicht nur das Trans-
portproblem (Esel können sehr störrisch sein!) sowie die
S chwierigkeit, einen Tausch partner zu fi nden, der genau das
hatte, was man haben wollte und gleichzeitig auch genau das
wollte, was man selbst anzubieten hatte; nein, das größte Kopf-
zerbrechen bereiteten Fragen wie diese: Wie viel Sack Gerste ist
denn ein Esel wert? Und selbst wenn die Antwort gefunden war
(sagen wir: 20 Sack Gerste sind 1 Esel), blieb immer noch ein
Fragezeichen: Was, wenn der Eselbesitzer nur 5 Sack Gerste
braucht?
Es dauerte nicht lange, da hatten die Menschen eine rettende
Idee: Sie benutzten Gebrauchs- und Schmuckgegenstände wie
Beile, Ringe und Perlen als Zwischentauschmittel und hatten
damit das Naturalgeld erfunden. Dessen großer Vorteil: Der
Wert der Tauschgegenstände war allgemein bekannt und aner-
kannt, zudem waren sie meist leicht zu transportieren und zu
teilen. Noch Anfang des 15. Jahrhunderts gab es eine englisch-
isländische Marktordnung, wonach zum Beispiel 48 Ellen Tuch
120 Stockfi sche wert waren, während eine halbe Tonne Tran
schon für 15 Stockfi sche zu haben war. Die bekannteste Form
des Naturalgeldes ist übrigens noch heute ein gültiges Zahlungs-
mittel: Auf den melanesischen Inseln in der Südsee zahlen die
Menschen mit „Diwarra“ oder „Tambu“ – und das sind nichts
anderes als Kaurimuscheln.
Irgendwann dann entdeckten die Menschen ihre Vorliebe für
Gold, Silber und Kupfer – das Metallgeld war geboren. Um et-
was zu bezahlen, wurden die Metalle abgewogen, ein Umstand,
dem übrigens das britische Pfund seinen Namen verdankt.
So ungefähr 650 Jahre vor Christus wurde das Metall dann in
Formen gegossen und geprägt, es entstand das erste Münzgeld.
Zunächst fertigte man ausschließlich Münzen, deren Metallwert
dem aufgeprägten Wert entsprach (Kurantmünzen) – allerdings
bereicherte sich so mancher Fürst dadurch, dass er Münzen in
Umlauf brachte, bei denen der aufgeprägte Wert höher war als
der tatsächliche. Später prägte man nur noch solche „unterwer-
tigen“ Münzen, sie werden bis heute Scheidemünzen genannt
(übrigens: auch im Euro ist lange nicht das drin, was draufsteht).
Mit dem Münzgeld entstand auch das Gewerbe der Geldwechs-
ler. Sie hatten die Aufgabe, die vielen unterschiedlichen Münzen
voneinander zu unterscheiden und ihren Wert zu schätzen – ein
Job, der übrigens viele von ihnen steinreich gemacht haben soll.
Je nachdem, wie viel man zu bezahlen hatte, konnte der Trans-
port des Münzgelds allerdings ganz schön in die Arme gehen.
Was lag also näher, als eine Erfi ndung der Chinesen zu nutzen:
das Papiergeld. Marco Polo, so wird berichtet, soll auf seinen
Reisen im Jahr 1276 die kaiserlichen Banknoten entdeckt haben,
manche Geschichtsbücher nennen auch den Schweden Johan
Palmstruch als Erfi nder des Papiergelds. Doch wie auch immer:
Fest steht, Papiergeld braucht Vertrauen, nämlich darauf, dass es
von jedermann zu jeder Zeit in Waren oder andere Vermögens-
werte umgetauscht wird. Früher wurde dies dadurch gewährleis-
tet, dass das Geld einer Nation vollständig durch Gold gedeckt
war, heute haben wir es ausschließlich mit sogenannten „freien
Währungen“ zu tun.
Oder auch nicht, denn tatsächlich spielt Geld heutzutage keine
große Rolle mehr. Zumindest nicht in Form von Bargeld: So
gibt es in Deutschland derzeit nur ca. 204 Milliarden Euro, da-
von 200 Milliarden Euro als Banknoten und 4 Milliarden Euro
als Münzen. Das Bargeld macht nur etwa 12 Prozent des gesam-
ten Geldumlaufs aus – der große Rest befi ndet sich als Buchgeld
auf den Konten und wird von Bankkonto zu Bankkonto weiter-
gegeben, weshalb es auch Giralgeld heißt (vom italienischen giro
= der Kreis). Buchgeld hat gegenüber allen früheren Geldformen
entscheidende Vorteile: Es ermöglicht einfache und schnelle
Zahlungen, ist leicht zu transportieren, haltbar – und: Es stinkt
nicht. Diese Feststellung stammt angeblich von Kaiser Vespasi-
an, der kurz nach Christi Geburt eine Steuer für Bedürfnisan-
stalten eingeführt hatte und deswegen von seinem Sohn Titus
zur Rede gestellt worden war. Der Kaiser hielt seinem Sohn die
ersten Steuereinnahmen unter die Nase und forderte ihn auf zu
riechen – und tatsächlich: Pecunia non olet – Geld stinkt nicht.
Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis
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Wer Preise miteinander verglei-
chen will, der darf aber nicht
nur auf die Preisschilder schau-
en, sondern muss auch die
Waren bzw. Dienstleistungen
selber genau in Augenschein
nehmen. Um unser Beispiel
vom Fernseher noch einmal
aufzugreifen: Zwar kostet eine
Flimmerkiste heute im Durch-
schnitt genauso viel oder wenig
wie vor 50 Jahren, die Qualität
aber ist viel besser als damals:
Aus den klobigen Schwarz-
Weiß-Geräten mit drei oder
vier Bedienungsknöpfen sind
Farbfernseher mit Fernbedie-
nung und automatischem Sen-
dersuchlauf sowie zahlreichen
anderen Funktionen geworden.
Oder nehmen wir das Auto:
Wer sich einmal die Mühe
macht, die Ausstattung eines
Autos aus den sechziger Jahren
mit der von heute zu verglei-
chen, wird in Sachen Qualität
regelrechte Quantensprünge
feststellen. Und trotzdem arbei-
tet der Durchschnittsdeutsche
heute für einen 15.000-Euro-
Wagen mit Airbag und ABS
lediglich 1.115 Stunden, wäh-
rend die 2.000 Euro teure Stan-
dardversion des VW-Käfer im
Jahr 1960 mit 1.600 Stunden
Arbeit verdient werden musste.
Ein Ding – viele Preise
Der wohl größte Unterschied
zwischen den Preisen von
1960 und heute aber betrifft
ihre Anzahl: Für ein und das-
selbe Produkt oder ein und
dieselbe Dienstleistung gibt es
heute nicht einen, nicht zwei,
sondern viele verschiedene
Preise. Wer zum Beispiel von
Hamburg nach München fl ie-
gen will, der hat nicht nur die
(Preis-)Auswahl zwischen ver-
schiedenen Fluglinien, auch ein
und dieselbe Fluggesellschaft
bietet diesen Flug zu verschie-
denen Preisen an. Je nachdem,
wer (Vielfl ieger oder nicht) das
Ticket wie (im Reisebüro oder
im Internet) und wann (lange
im Voraus oder Last Minute)
kauft, kann es 19 Euro oder
auch 450 Euro kosten.
„Alles im Leben hat seinen Preis; auch die Dinge, von denen man sich einbildet, man kriegt sie geschenkt.“
Theodor Fontane
Wie aber entstehen Preise über-
haupt? Und welche Funktion
haben sie in einer Marktwirt-
schaft? Die Grundregel für die
Preisbildung ist relativ simpel,
denn sie folgt dem Gesetz von
Angebot und Nachfrage: Da-
nach erhöhen Haushalte und
Unternehmen mit steigenden
Preisen ihr Angebot (die einen
bieten ihre Arbeitskraft an, die
anderen Waren und Dienstleis-
tungen) und verringern ihre
Nachfrage. Umgekehrt gilt,
dass bei sinkenden Preisen das
Angebot eingeschränkt und die
Nachfrage ausgedehnt wird.
So weit, so theoretisch. In
der Praxis aber ist es keines -
wegs so, dass Angebot und
Nachfrage immer zueinander-
fi nden, sprich ausgeglichen
sind. In solchen Fällen bleibt
ein Unternehmen auf seinen
Produkten sitzen oder es kann
nicht genug davon liefern. Soll
der Tauschhandel doch noch
zustande kommen, müssen
Anbieter und Nachfrager ihre
Preisvorstellungen korrigieren
– je nach Lage der Dinge ent-
weder nach oben oder nach
unten. Der so entstehende
Preis ist der Marktpreis.
Viele Preise – ein Markt
Dieser Markt- oder Preisme-
chanismus kann allerdings
nur funktionieren, wenn sich
die Preise frei bilden können
– das aber ist bei Weitem
nicht immer der Fall. Wer
einmal mit dem Herzen eines
Schnäppchenjägers und der
Sicht eines Ökonomen durch
die große bunte Warenwelt
geht, der kann sich manchmal
nur die Augen reiben. In Groß-
städten wie Köln zum Beispiel
kann man jeden beliebigen
Supermarkt zu jeder beliebigen
Jahreszeit betreten – ein Ki-
logramm Äpfel kostet immer
und überall 1,99 Euro. Auch
die für Autofahrer ärgerlichen
Benzinpreiserhöhungen – im-
mer pünktlichst zu Ferienbe-
ginn – lassen schon mal Zwei-
fel über die freie Preisbildung
aufkommen.
Ein Paradebeispiel für das
Zustandekommen von Markt-
preisen liefert die Telekommu-
nikations-Branche. Nachdem
im Jahr 1998 das Monopol der
Deutschen Telekom endgültig
gebrochen worden ist, dürfen
auch andere Unternehmen
sogenannte „Sprachdienste
außerhalb geschlossener Benut-
zergruppen“ anbieten – und
die neuen Anbieter schossen
wie die berühmten Pilze aus
dem Boden. Für den einstigen
Monopolisten weht seitdem
ein rauer Wind. In Großstäd-
ten wie Hamburg beherrscht
die Konkurrenz inzwischen
60 Prozent des Marktes, bun-
desweit verliert die Telekom
in manchen Monaten bis zu
100.000 Kunden. Die markt-
wirtschaftliche Folge: Im
August 2006 kündigte die Te-
lekom kräftige Preissenkungen
an – die Verbraucher wird’s
freuen.
Geschichten wie diese zeigen,
welche Funktionen der Preis in
einer Marktwirtschaft im Ideal-
fall erfüllt, nämlich diese:
Information. Preise informie-
ren uns darüber, ob ein Gut
knapp ist oder nicht. Steigen
zum Beispiel die Preise für
heimisches Gemüse, dann spie-
gelt sich darin – wie im Jahr
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2006 – das Wetter wider: Die
Rekordtemperaturen des Juli
haben vielerorts die Felder aus-
gedörrt, die Bauern konnten
entweder nur wenig oder sogar
nichts ernten. Preise geben aber
auch Auskunft über die soziale
Wertschätzung einzelner Güter
– zum Beispiel, wenn wir für
Bio-Gemüse mehr zu zahlen
bereit sind als für Gemüse aus
konventionellem Anbau.
Koordination. Preise koordi-
nieren Angebot und Nachfrage.
Da sich die Bedürfnisse ständig
wandeln, ist diese Ausgleichs-
funktion der Preise ein per-
manenter Prozess. Bringt ein
Unternehmen zum Beispiel
eine technische Innovation
wie den Flachbildfernseher auf
den Markt, wird zunächst die
Nachfrage wesentlich höher
sein als das Angebot – also sind
Flachbildfernseher teuer. Weil
die hohe Nachfrage jedoch
nach und nach auch andere
Hersteller zur Produktion von
Flachbildschirmen animiert,
steigt das Angebot – und die
Preise fallen.
Lenkung. Preise lenken die
Produktionsfaktoren (Arbeit
und Kapital) in jene Bereiche,
in denen die Nachfrage und
die zu erzielenden Einkommen
bzw. Gewinne am höchsten
sind – und das ist immer dort
der Fall, wo die Knappheit am
größten ist. Preise setzen also
Anreize: Gibt es beispielsweise
in einer Volkswirtschaft zu we-
nige Ingenieure, dann können
diese entsprechende Gehälter
verlangen (auch der Lohn ist
ein Preis). Das wiederum wird
viele Abiturienten dazu veran-
lassen, ein Ingenieurstudium
aufzunehmen. Die Folge: Ein
„Mit scharfem Blick, nach Kennerweise seh’ ich zunächst mal nach dem Preise.Und bei genauerer Betrachtungsteigt mit dem Preise auch die Achtung.“
Wilhelm Busch
Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis
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paar Jahre später gibt es dann
„plötzlich“ zu viele Ingenieure
– und deren Löhne werden
tendenziell sinken.
Auslese. Preise sind gnaden-
los: Auf der einen Seite teilen
sie das vorhandene Angebot
jenen Nachfragern zu, de-
ren Zahlungsbereitschaft am
höchsten ist; ganz nach dem
bekannten Ebay-Motto: drei,
zwei, eins – meins. Auf der
anderen Seite können nur jene
Anbieter überleben, die ihre
Waren und Dienste zumindest
kostendeckend an den Mann
bringen. Unternehmen, die das
nicht schaffen, werden aus dem
Markt gedrängt.
Insbesondere die Auslesefunk-
tion der Preise können und
müssen wir seit einigen Jahren
hautnah miterleben. Wer mag,
sollte zum Beispiel einmal
durch die Abteilungen des
schwedischen Modehauses
H&M (oder irgendeines ande-
ren) gehen und sich die Etiket-
ten in den Kleidungsstücken
genauer anschauen. Fast auf
jedem steht entweder „made in
China“, „made in Bangladesh“
oder „made in Turkey“. Doch
„made in Sweden“ oder gar
„made in Germany“ – Fehlan-
zeige. Das mögen die Schwe-
den verschmerzen (sie haben
mehr als 1.200 Filialen in 22
Ländern), doch für die deut-
sche Textil- und Bekleidungs-
industrie ist es alles andere als
lustig. Im Jahr 1950 war die
Branche einer der wichtigsten
Industriezweige in West-
deutschland, rund 700.000
Menschen waren dort beschäf-
tigt. Heute zählt die Branche
bundesweit gerade einmal
135.000 Mitarbeiter, allein seit
dem Jahr 2000 sind 50.000
Arbeitsplätze weggefallen. Und
„schuld“ an allem sind – die
Preise: Eine chinesische Nä-
herin bekommt umgerechnet
etwa 50 Cent die Stunde – da
können Betriebe in Deutsch-
land auch beim besten Willen
nicht mehr mithalten.
Gnadenlose Auslese
Die Textilindustrie ist die Au-
toindustrie ist die Elektronikin-
dustrie ist die Chemieindustrie
– nahezu in jeder Branche sind
die deutschen Unternehmen
einem zunehmend härteren
Konkurrenz- und Preisdruck
ausgesetzt. Selbst Traditions-
unternehmen sind nicht mehr
davor gefeit, den Kampf um
die Kunden zu verlieren und
sang- und klanglos vom Markt
geschluckt zu werden. Doch
bevor wir uns im nächsten
Kapitel ausführlich mit den
Gründen und Hintergründen
dieser Entwicklung beschäf-
tigen, bevor wir uns also dem
spannenden Thema Globalisie-
rung widmen, wollen wir ab-
schließend noch einen kurzen
Blick auf einen ganz beson-
deren Markt werfen. Er (oder
besser gesagt: sie) ist sozusagen
die Mutter aller Märkte: die
Börse.
Die Börse: Wo sich DAX und Schweine-bäuche treffenVor rund 500 Jahren trafen
sich in Brügge einige eifrige
Männer regelmäßig zur Mit-
tagszeit im Haus der Patri-
zierfamilie van der Beurse,
um Münzen zu tauschen und
Handel zu treiben. Das war
die Geburtsstunde dessen, was
wir heute die Börse nennen.
Auf diesem Markt der Märkte
wird beinahe alles gehandelt:
Aktien, Anleihen, Fonds,
Optionen und Devisen, aber
auch Erdnussöl, Molybdän-
oxyd und Schweinebäuche.
Die acht deutschen Börsen
sitzen in Berlin, Bremen, Düs-
seldorf, Hamburg, Hannover,
München, Stuttgart und
Frankfurt/Main, dem wohl
bekanntesten Börsenplatz. Was
dort und auf dem internationa-
len Parkett geschieht, kennen
die meisten Bundesbürger nur
aus dem Fernsehen: Der DAX,
so melden die Nachrichten
zum Beispiel, habe „leichter
geschlossen“, dagegen tendiere
der Dow-Jones „freundlich“
und der Nikkei mache eine
„Seitwärtsbewegung“. Und
dann erzählt uns der beredte
Börsen-Korrespondent noch
irgendwas von institutionellen
Anlegern, von Bullenmärkten,
sinkenden Umlaufrenditen und
bevorstehenden Zinsschritten
der Fed.
Fed? Nikkei? Bullenmarkt?
„Wovon reden die bloß?“, fra-
gen sich wohl Millionen von
Bundesbürgern. Und weil der
eine oder andere es vielleicht
genau wissen will, nimmt er
die Zeitung zur Hand, schlägt
den Börsenteil auf – und liest
dann doch lieber den Sportteil.
Denn wo für Profi s ein kurzer
Blick genügt, um festzustellen,
ob gerade der pessimistische
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Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis
Das kleine Börsen-Lexikon• Aktie. Die Aktie ist ein Anteilsschein an einer Aktiengesell-
schaft (AG). Ihr Nennwert gibt an, mit welchem Anteil sie am
Grundkapital einer AG beteiligt ist – zum Beispiel 50 Euro.
Diese 50 Euro sind jedoch nicht zu verwechseln mit dem Ak-
tienkurs – der kann sowohl höher als auch niedriger liegen.
Die meisten Aktien sind Stammaktien – hier haben die Akti-
onäre alle üblichen Rechte, vor allem also das Stimmrecht auf
der Hauptversammlung und das Recht auf einen Dividenden-
anteil. Bei Vorzugsaktien entfällt das Stimmrecht, dafür gibt
es meist eine höhere Dividende. Stückaktien sind Aktien ohne
Nennwert; Inhaberaktien sind solche, die beim Verkauf ohne
Formalitäten den Eigentümer wechseln können, während bei
Namensaktien die persönlichen Daten des Aktionärs in ein
Aktienregister eingetragen werden.
• Anleihen. Das sind festverzinsliche Wertpapiere – der Käu-
fer verleiht sein Geld, bekommt dafür einen festen jährlichen
Zins und erhält am Ende der Laufzeit sein Kapital zurück.
Bundesanleihen werden von der Bundesrepublik Deutschland
als Staatsanleihen herausgegeben. Ihre Laufzeit beträgt in der
Regel 10 bis 30 Jahre. Ein Kursrisiko, wie bei Aktien, hat der
Käufer nur, wenn er sie zwischenzeitlich verkauft – auch Anlei-
hen werden nämlich an der Börse gehandelt. Bundesobligati-
onen unterscheiden sich von Bundesanleihen im Wesentlichen
nur durch ihre kürzere Laufzeit von 5 Jahren. Nicht nur der
Bund, auch Bundesländer, Städte oder Sonderinstitute wie die
Deutsche Ausgleichsbank geben Anleihen heraus. Diese öffent-
lichen Anleihen unterscheiden sich von den Bundespapieren
meist nur durch ihre Ausgabevolumina.
• DAX. Der deutsche Leitindex wurde 1988 eingeführt und
startete mit 1.000 Punkten. Die im DAX vertretenen 30 größ-
ten deutschen Aktiengesellschaften (auch Blue Chips genannt)
sind nach ihrem Börsenwert gewichtet – die Spanne reicht
derzeit von 0,11 Prozent (Infi neon AG) über 4,71 Prozent
(Daimler AG) bis 9,27 Prozent (Siemens AG). Weitere wich-
tige deutsche Indizes sind der MDAX (das M steht für Mid
cap, also mittelgroße Aktienwerte), der SDAX (S wie small,
also klein) sowie der TecDAX (Technologieunternehmen).
• Investmentfonds. In einem Investmentfonds bündelt eine
Fondsgesellschaft das Kapital der Anleger, um es in verschie-
dene Vermögenswerte (Aktien, Anleihen, Festgelder) zu inve-
stieren. Wer Fondsanteile kauft, hat also nicht eine Aktie
oder eine Anleihe im Depot, sondern ist – je nach Fonds –
an Dutzenden oder gar Hunderten Wertpapieren prozentual
beteiligt und streut damit sein Anlagerisiko.
• Kurszusätze. In vielen Tageszeitungen sind hinter den Ak-
tienkursen verschiedene Kürzel angegeben, die wichtige Infor-
mationen liefern. B bedeutet Brief – zu diesem Kurs wurden
zwar Aktien angeboten, gekauft hat jedoch niemand. G bedeu-
tet Geld – es lagen zwar Kaufwünsche vor, verkauft hat jedoch
zu diesem Kurs niemand. bB bedeutet bezahlt Brief – zwar
wurden zu diesem Kurs einige Aktien verkauft, aber nicht alle
Angebote fanden einen Abnehmer. bG bedeutet bezahlt Geld
– wiederum wurden zwar Papiere verkauft, diesmal ging aber
ein Teil der Käufer leer aus. T bedeutet Taxkurs – das ist ein
vom Aktienmakler geschätzter Kurs, der zeigt, dass die Aktie
an diesem Tag keinen Umsatz hatte; ex bedeutet ausschließlich
– und weist darauf hin, dass es sich um den ersten Kurs nach
der Hauptversammlung einer AG handelt; an diesem Tag wird
der Kurs abzüglich der Dividende angegeben.
• Rendite. Sie errechnet sich aus Dividende plus Kursanstieg
bezogen auf das eingesetzte Kapital. Wer also eine Aktie für
100 Euro gekauft hat und dafür 2 Euro Dividende erhält,
kommt bei einem Kursanstieg auf 105 Euro auf eine Jahres-
rendite von 7 Prozent.
• Stoppmarken. Um Verluste zu begrenzen (oder auch
Gewinne zu sichern) kann man Stoppmarken setzen. Dabei
gibt man der Bank einen bestimmten Kurs an – sobald die
Aktie unter diesen Kurs fällt, wird sie ohne Wenn und Aber
verkauft.
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Bär (er steht an der Börse für
Kursrückgänge) oder der opti-
mistische Bulle (er symbolisiert
den Aufschwung) regiert,
müssen Otto und Lieschen
Normalbürger meistens passen:
Sie können den Buchstaben-
und Zahlensalat im Börsenteil
zwar lesen, aber nicht wirklich
verstehen. Das ist schade, denn
wie wir gleich sehen werden
– sooo schwer ist es nun auch
wieder nicht. Und es ist jam-
merschade, weil es zeigt, dass
das Gros der Deutschen mit
der Börse ausgerechnet jenen
Teil der Wirtschaft völlig au-
ßer Acht lässt, der wie kaum
ein anderer über ihre Zukunft
entscheidet.
Das ist keineswegs übertrieben:
Denn jeder, wirklich jeder hat
direkt oder indirekt etwas mit
Aktien, Anleihen oder dem
Ölpreis zu tun. Die einen, weil
sie selbst, ihr Vater oder ihre
Mutter bei einem Unterneh-
men arbeiten, das an der Börse
notiert ist; die anderen, weil ihr
Arbeitgeber der größte Zuliefe-
rer eines DAX-Unternehmens
ist; wieder andere, weil sie
selbst Aktien oder Fonds ge-
kauft haben – und alle zusam-
men, weil der Wechselkurs des
Euro für die heimische Wirt-
schaft von genauso essenzieller
Bedeutung ist wie der Ölpreis;
weil eine so sehr exportori-
entierte Volkswirtschaft wie
Deutschland auf stabile Börsen
(sprich eine stabile Wirtschaft)
in ihren Abnehmerländern
geradezu angewiesen ist. Und
vor allem, weil die staatliche
Rentenversicherung bekannt-
lich nur noch einen kleinen
Teil dessen leisten wird, was die
Rentnerinnen und Rentner von
morgen zum Leben brauchen.
Der weitaus größere Teil aber
wird an der Börse verdient.
Denn egal, bei welcher Gesell-
schaft der Einzelne für seine
private Altersvorsorge einzahlt
– Allianz, Hamburg-Mannhei-
mer, Axa & Co. erwirtschaften
die versprochenen Gewinnbe-
teiligungen fast ausschließlich
an der Börse.
Der inzwischen verstorbene
Börsen-Altmeister André
Erläuterungen am Beispiel der Adidas-Aktie
Div. steht für Dividende. Die Angabe 0,33 bedeutet, dass Adi-das im abgelaufenen Geschäftsjahr pro Aktie einen Gewinnan-teil von 0,33 Euro ausgeschüttet hat. Gelegentlich gibt es auch Angaben wie „5 +2“, das heißt dann, für diese Aktie gab es 5 Euro Dividende plus einen Bonus von 2 Euro.
22.8. Schluss heißt, die Aktie wurde zum Börsenschluss am 22. August zu einem Kurs von 37,66 Euro notiert. 21.8. Schluss gibt, zum Vergleich, den Kurs vom Vortag an. Veränderung in % drückt den Unterschied zwischen diesen beiden Schluss-kursen in Prozent aus, in diesem Fall plus 0,7 Prozent.
Tages-Eröffnung/Hoch/Tief zeigt den Kursverlauf einer Aktie während eines Handelstages. Am 22. August betrug der Eröff-nungskurs der Adidas-Aktie also 37,65 Euro, der höchste Kurs notierte bei 37,85 Euro, der niedrigste bei 37,21 Euro. 52 Wo-chen Hoch/Tief informiert über die Entwicklung der Aktie in den vergangenen 52 Wochen. Die Adidas-Aktie war in dieser Zeit höchstens 43,58 Euro und mindestens 34,16 Euro wert.
KGV 2006 ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis für das Jahr 2006. Diese Kennzahl gibt an, in welchem Verhältnis der erwartete Gewinn einer Aktiengesellschaft zu ihrer aktuellen Börsenbe-wertung steht. Errechnet wird das KGV, indem man den aktu-ellen Kurs einer Aktie durch den für das nächste Jahr erwarteten
Div. 22.8. 21.8. Veränd. Tages- 52-Wochen KGV Gesamt- Markt- ISIN Schluss Schluss in % Eröff./Hoch/Tief Hoch/Tief 2006 umsatz Kapital.
Adidas 0,33 37,66 37,40 +0,70 37,65/37,85/37,21 43,58/34,16 15 43532 6,85 DE0005003404
Allianz 2 130,10 131,24 -0,87 131,48/131,85/128,88 139,53/103,10 11 421179 51,51 DE0008404005
Gewinn pro Aktie teilt. Bei einem niedrigen Kurs-Gewinn-Ver-hältnis gilt eine Aktie als günstig, bei einem hohen KGV als un-günstig, sprich zu teuer. Als Vergleichsmaßstäbe für das KGV gelten vor allem die KGVs vergleichbarer Unternehmen (glei-che Branche), historische Durchschnitts-KGVs (im deutschen Aktienmarkt ca. 15) sowie bei Wachstumswerten die erwartete Wachstumsrate.
Der Gesamtumsatz ist die Summe aller Umsätze, die mit ei-ner Aktie an allen deutschen Börsen einschließlich des elektro-nischen Handels (des sogenannten Xetra-Handels) an diesem Tag gemacht wurden, angegeben in tausend Euro.
Die Marktkapitalisierung gibt den Börsenwert einer Aktienge-sellschaft in Milliarden Euro an. Sie errechnet sich aus der Zahl der Aktien multipliziert mit dem aktuellen Kurs.
ISIN steht für „International Securities Identifi cations Number“, eine Art Code, mit dem sich jedes Wertpapier eindeutig iden-tifi zieren lässt.
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Kostolany erklärte das Ganze
einmal so: „Mit der Wirtschaft
und der Börse verhält es sich
wie mit dem Mann und sei-
nem Hund beim Spaziergang.
Der Mann läuft langsam und
gleichmäßig weiter. Der Hund
läuft vor und zurück. Aber
beide bewegen sich in die glei-
che Richtung. Der Mann ist
die Wirtschaft, der Hund die
Börse.“
Egal ob Mann oder Frau – fol-
gen wir einmal dem Hund und
schauen, wie sich sein Vor und
Zurück im Börsenteil einer
Tageszeitung darstellt und was
die Angaben bedeuten (siehe
Kasten Seite 34):
„Der Oktober ist einer der besonders gefährlichen Monate, um mit Wert-papieren zu spekulieren. Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Februar.“
Mark Twain
10 goldene Börsenregeln▲ Kaufen Sie nie ein Wertpapier, das Sie nicht verstehen.
▲ Kaufen Sie nichts, ohne die Alternativen geprüft zu haben.
▲ Überprüfen Sie Ihre Informationen.
▲ Nutzen Sie das Internet – aber überprüfen Sie anonyme Hinweise.
▲ Spekulieren Sie nur mit Geld, das Sie langfristig nicht brauchen – und niemals auf Kredit.
▲ Keine Panik und nervöse Reaktionen – The trend ist your friend!
▲ Beobachten Sie die Aktien in Ihrem Portfolio.
▲ Laufen Sie nie einem heißen Tipp hinterher.
▲ Streuen Sie Werte und Branchen in Ihrem Depot, verzetteln Sie sich nicht mit vielen
kleinen Positionen.
▲ Setzen Sie sich immer ein Limit – und setzen Sie Stopps.
Quelle: Börse Düsseldorf
War es das Desaster mit der
T-Aktie, die im Jahr 1996 fast
zwei Millionen Bundesbürger
zum Preis von 28,50 DM
(14,57 Euro) zeichneten, und
die dann binnen vier Jahren auf
104 Euro hochschoss – um
schon im nächsten Jahr auf
15 Euro abzustürzen? Oder
sind die Deutschen von Natur
Er hat ja so recht, dieser Mark
Twain – das zumindest scheint
das Gros der Deutschen zu
denken. Nur jeder Achte besitzt
Aktien oder Fonds, allein im
zweiten Halbjahr 2007 haben
sich fast 400.000 Bundesbürger
von ihren Wertpapieren ge-
trennt. Warum, darüber ist
schon viel spekuliert worden.
Geld regiert die Welt: Jedes Ding hat seinen Preis
aus Aktienmuffel? Oder haben
sie, wie eine Studie des Bun-
desverbandes Deutscher In-
vestmentgesellschaften nahe-
legt, einfach zu wenig Ahnung?
Es klingt unglaublich, aber
tatsächlich weiß nicht einmal
ein Drittel der Fondsbesitzer,
was ein Fonds überhaupt ist.
Wenn Sie nur die erste der
folgenden Regeln beachten,
kann Ihnen das schon nicht
mehr passieren.
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Nun haben wir schon so viel
von der Wirtschaft gesprochen
– doch wer ist eigentlich „die
Wirtschaft“? Sicher: Ich, du, er,
sie, wir alle sind die Wirtschaft,
das stimmt schon. Doch Hand
aufs Herz: Wenn die Nachrich-
ten melden, „mit der deutschen
Wirtschaft geht es wieder
bergauf“ oder „die Wirtschaft
fordert von der Bundesregie-
rung eine Reform der Unter-
nehmenssteuern“ – fühlen Sie
sich dann angesprochen?
Die Wirtschaft:Über Gewinne und andere Vorurteile
Eben. Und genauso geht es den
meisten Bundesbürgern. Wür-
de man sie auf der Straße ein-
fach mal auffordern, ein paar
aktuelle Namen zu nennen, die
ihnen im Zusammenhang mit
„der Wirtschaft“ einfallen, die
meisten würden wohl antwor-
ten: „Der von der Deutschen
Bank, wie heißt er noch? Ach
ja, Ackermann.“ Dem einen
oder anderen Bahnpendler
käme vielleicht auch der Name
Mehdorn über die Lippen.
Und wer einmal eine T-Aktie
hatte, für den ist bestimmt
Ron Sommer so ein Name aus
der Wirtschaft, wer sie immer
noch hält, kennt wohl eher
dessen (inzwischen ebenfalls
abgelösten) Nachfolger, Kai-
Uwe Ricke. Und sonst? Wer
fällt Ihnen noch ein? Wie heißt
zum Beispiel der amtierende
Bundeswirtschaftsminister?
O.K., lassen wir das und fragen
stattdessen nach Firmennamen.
Welche deutschen Unterneh-
men kennen Sie?
Deutsche Bank, Daimler,
Siemens, Telekom, VW,
BASF, Lufthansa, Allianz,
Eon, Bayer, BMW, Henkel,
Philips …
Stopp! Philips ist ein nieder-
ländisches Unternehmen,
aber ansonsten: alle Achtung!
Kommt ja wie aus der Pis-
tole geschossen. Eines fällt
allerdings auf: Alle genannten
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deutschen Unternehmen sind
im DAX vertreten, gehören
also zu den 30 größten deut-
schen Aktiengesellschaften.
Na und, werden Sie vielleicht
sagen, das sind doch deutsche
Unternehmen. Stimmt. Aber
selbst wenn wir alle 30 DAX-
Konzerne aufzählen, haben wir
lediglich 0,00001 Prozent aller
deutschen Unternehmen bei-
sammen. Ja, Sie haben richtig
gelesen: Null Komma null null
null null eins Prozent! Sogar
wenn wir alle anderen AGs und
die Kommanditgesellschaften
auf Aktien (KGaA) hinzuzäh-
len, stellen die insgesamt knapp
7.200 Aktiengesellschaften le-
diglich 0,2 Prozent aller Unter-
nehmen in Deutschland – „die
Wirtschaft“ repräsentieren sie
also nun wirklich nicht.
Dieser Titel gebührt eindeutig
dem Mittelstand. Das sind
jene Betriebe, die weniger als
500 Mitarbeiter beschäftigen
und maximal 50 Millionen
Euro Jahresumsatz haben. Ins-
gesamt stellt der Mittelstand
in Deutschland nach den
jüngsten Zahlen (2007):
• 99,7 Prozent aller Unterneh-
men
• 83,0 Prozent aller Auszubil-
denden
• 70,6 Prozent aller Beschäf-
tigten
• 47,2 Prozent der gesamten
Nettowertschöpfung
• 38,3 Prozent aller Umsätze
Warum aber viele Bundesbür-
ger die wenigen großen DAX-
Konzerne fälschlicherweise mit
„der Wirtschaft“ gleichsetzen,
ist schnell erklärt: So wird es
ihnen von vielen Medien sug-
geriert.
Insbesondere die Boule-
vardpresse sowie die ähnlich
bunten und vereinfachenden
TV-Magazine lechzen geradezu
nach schlagzeilenträchtigen
Nachrichten und marktschreie-
rischen Superlativen – und die
liefern die international tätigen
30 DAX-Konzerne nun einmal
eher als die „übrigen“ rund
3,5 Millionen Betriebe.
Ein typisches Beispiel für die
selektive Wahrnehmung „der
Wirtschaft“ ist die Berichter-
stattung zum heiklen Thema
Gewinne. Verfolgt man die
Regenbogenpresse der vergan-
genen ein, zwei Jahre, dann
könnte man fast den Eindruck
gewinnen, die deutsche Wirt-
schaft bestehe ausschließlich
aus „Managern ohne Moral“
und „Turbo-Kapitalisten“, die
alle nur eines im Kopf hätten:
sich selbst und die Aktionäre so
reich wie möglich zu machen
– koste es so viele Arbeitsplät-
ze, wie es wolle.
Den Hintergrund für solch
populistische Vereinfachungen
bilden Unternehmensmel-
dungen wie die von Josef
Ackermann Anfang Mai 2006:
Damals verkündete der Chef
der Deutschen Bank, sein Haus
habe gerade das erfolgreichste
Quartal der Firmengeschichte
absolviert – der Gewinn vor
Steuern sei um sage und schrei-
be 46 Prozent gestiegen.
Gleichzeitig hielt Ackermann
aber an dem Plan fest, insge-
samt 6.400 Mitarbeiter zu
entlassen. Ähnliche Entwick-
lungen gab und gibt es beim
Reifenhersteller Continental,
bei Siemens, bei der Telekom –
kurzum: bei vielen DAX-Un-
ternehmen. Sie machen Ge-
winnsprünge von 20 Prozent
und mehr, gleichzeitig aber
werden Zigtausende Mitarbei-
Deutsche Wirtschaft: Einzelunternehmen dominieren
Zahl der Unternehmen
Einzelunternehmen 2.253.131
Personengesellschaften wie Offene Handelsgesellschaften (OHG) undKommanditgesellschaften (KG) 407.412
Kapitalgesellschaften wie Aktiengesellschaften (AG) und Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) 573.985
Sonstige Rechtsformen 232.597
Insgesamt 3.467.125
Stand: 31.12.2007; Sonstige Rechtsformen: Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, Betriebe gewerblicher Art von Körperschaften des öffentlichen Rechts; Quelle: Statistisches Bundesamt
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ter entlassen oder müssen zu-
mindest empfi ndliche fi nan-
zielle Einbußen hinnehmen.
Wenn „der kleine Mann auf
der Straße“ dann noch hört
oder liest, dass so manches
Unternehmen angeblich über-
haupt keine Steuern mehr zahlt
und so mancher Spitzenmana-
ger in einem einzigen Jahr
mehr Geld bekommt, als ein
Durchschnittsverdiener in 200
oder 300 Jahren verdienen
könnte, kocht nicht nur der
Unternehmen, Unternehmer und die SteuernAnfang 2005 meldete die „Netzeitung“, die Steuereinnahmen in Deutschland seien deutlich
gesunken. „Größere Unternehmen haben statt Steuern zu zahlen sogar Geld vom Staat zurück-
erstattet bekommen.“ Ökonomische Laien interpretieren solche Meldungen allerdings oft an-
ders, als sie gemeint sind. Sie glauben doch tatsächlich, Unternehmer und Manager würden ihre
(Millionen-)Gehälter einfach kleinrechnen (Stichwort: Steuerschlupfl öcher) und so am Finanz-
amt vorbeischleusen. Der Grund für dieses Missverständnis ist ein einziger Buchstabe, nämlich
der Unterschied zwischen Unternehmen und Unternehmer.
• Unternehmen sind rechtlich, wirtschaftlich und fi nanziell selbstständige Wirtschaftseinheiten,
die in zwei verschiedenen Rechtsformen geführt werden können: als Einzelunternehmen oder
als Gesellschaftsunternehmen. Bei einem Einzelunternehmen sind Unternehmen und Unter-
nehmer identisch, bei Gesellschaftsunternehmen unterscheidet man zwischen Personenunter-
nehmen und Kapitalgesellschaften. Während Personenunternehmen wie Einzelunternehmen
der Einkommenssteuer unterliegen, zahlen Kapitalgesellschaften Körperschaftssteuer. Wenn
also die Aktiengesellschaft X angeblich keine Steuern mehr zahlt, dann ist damit ausschließlich
die Körperschaftssteuer gemeint. Die Einkommen des Vorstandsvorsitzenden und der Manager
aber unterliegen, wie die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer auch, der Einkommenssteuer.
• Unternehmer sind nach amtlicher Lesart Selbstständige. Dazu zählen alle, die „einen Betrieb
oder eine Arbeitsstätte gewerblicher oder landwirtschaftlicher Art wirtschaftlich und organisato-
risch als Eigentümer oder Pächter leiten (einschließlich selbstständiger Handwerker) sowie alle
freiberufl ich Tätigen, Hausgewerbetreibende und Zwischenmeister“. Besonders wichtig ist dabei
folgende Unterscheidung: Ein Unternehmer ist (Mit-)Eigentümer eines Unternehmens, er oder
sie leitet also einen Betrieb eigenverantwortlich und übernimmt dabei ein persönliches Risiko.
Dem Manager dagegen fehlt die typische Voraussetzung des klassischen Unternehmers: der
Besitz, das Kapital. Ein Manager arbeitet also nicht „in seinem“ Betrieb, sondern „für einen“
Betrieb – und er zahlt, wie jeder Arbeitnehmer, Einkommenssteuer.
Volkszorn so richtig hoch –
auch die Vorurteile schießen
ins Kraut.
Was nun die Gewinne „der
Wirtschaft“ angeht, so haben
viele Bundesbürger geradezu
abenteuerliche Vorstellungen.
Als das Meinungsforschungs-
institut Emnid vor ein paar
Jahren einmal fragte, wie viel
Gewinn einem Unternehmen
wohl von 100 Euro Umsatz
übrig bleibt, antwortete fast
jeder Zweite: mindestens
5 Euro. Jeder sechste Deutsche
war sogar davon überzeugt,
dass die Betriebe die Hälfte
ihres Umsatzes als Gewinn
einstreichen. Tatsächlich aber,
das belegen die Zahlen der
Deutschen Bundesbank vom
Juni 2006, bleiben den Unter-
nehmen von 100 Euro Umsatz
im Durchschnitt nur 2,90 Euro
Gewinn.
„Das schlimmste Verbrechen gegen die arbeitende Bevölkerung ist es, keine Profi te zu machen.“
Samuel Gompers
Warum aber braucht eine
Volkswirtschaft überhaupt Ge-
winne – und vor allem: hohe
Gewinne? Warum muss das
eine Unternehmen unbedingt
eine höhere Rendite erzielen
als das andere? Wäre es nicht
einfacher und gerechter, wenn
alle (Volkswirtschaften, Bran-
chen, Unternehmen, Manager,
Arbeitnehmer) zu gleichen
Teilen profi tieren würden?
Eine rhetorische Gegenfrage:
Wollen Sie immer das glei-
che Gehalt bekommen, egal,
welche Ausbildung Sie haben,
welchen Beruf Sie ausüben,
wie viel Sie arbeiten und wie
gut Ihre Leistungen sind?
Konkurrenz belebt das Ge-
schäft, sagt der Volksmund,
und in einer Marktwirtschaft
gilt diese Regel allemal. Denn
tatsächlich braucht der Markt
das Konkurrenzprinzip so
nötig wie der Ottomotor das
Benzin, nur dass der Treibstoff
des Marktes die Gewinne sind.
Sie signalisieren: Hier lohnt
es sich zu investieren! Hier ist
Geld zu verdienen! Hier entste-
hen neue Arbeitsplätze!
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Gewinn: Was vom Umsatz übrig bleibt
in Euro
Umsatz 100,00
+ Übrige Erträge 4,61
= Gesamterträge 104,61
– Materialaufwand 62,40
– Personalaufwand 18,00
– Abschreibungen 3,04
– Zinsaufwendungen 1,09
– Betriebssteuern 1,81
– Übrige Aufwendungen 14,52
= Jahresergebnis vor Gewinnsteuern 3,75
– Steuern vom Einkommen und Ertrag 0,84
= Jahresergebnis (Gewinn) 2,91
Stand: 2004; Umsatz: einschließlich Bestandsveränderungen; Übrige Erträge: zum Beispiel Zinserträge; Ursprungsdaten: Deutsche Bundesbank 2006
Das Konkurrenzprinzip funkti-
oniert so: Angenommen, das
Unternehmen X bringt ein
innovatives Produkt auf den
Markt, also etwas, was es bis
dahin so nicht gegeben hat
– wie zum Beispiel seinerzeit
den Walkman. Weil es diese
Innovation anfangs nur bei
diesem Unternehmen gibt,
kann es hohe Preise verlangen
und macht auch entsprechend
hohe Gewinne (der erste Walk-
man kam übrigens 1979 unter
dem Namen TPS-L2 heraus,
kostete 200 Dollar und wurde
weltweit 330 Millionen Mal
verkauft). Wow! sagt sich
nun die Konkurrenz – und
schwups, schon kommen die
ersten Nachahmer aus ihren
Startlöchern, um die erfolg-
reiche Idee zu kopieren oder zu
imitieren. Aus marktwirtschaft-
licher Sicht ist dabei Folgendes
passiert: Durch die Innovation
wurden Investitionsentschei-
dungen ausgelöst – das knappe
Kapital wurde quasi automa-
tisch (wir erinnern uns: die
„unsichtbare Hand“ des
Marktes) in jene Bereiche ge-
lenkt, die den größten Gewinn
versprechen. Logisch, dass
gleichzeitig Kapital aus weniger
lukrativen Feldern abgezogen
wird – denn für die Wirtschaft
gilt genau dasselbe wie für je-
den Einzelnen: Jeder Euro kann
nur einmal ausgegeben werden.
„Die Lust am Geld-verdienen ist für die wirtschaftliche Entwicklung der Welt ebenso not-wendig wie die Lust am Beischlaf für die Volksvermeh-rung.“
Eugen Schmalenbach
Jetzt haben wir zwar mit dem
Vorurteil exorbitanter Gewinne
aufgeräumt, was aber ist dran
an der Behauptung, die Unter-
nehmen würden ihre Strategie
der „Gewinnmaximierung“
auf Kosten angeblich gesunder
Arbeitsplätze durchsetzen?
Konkret gefragt: Warum will
die Deutsche Bank 6.400
Mitarbeiter entlassen, wenn
sie doch ihren Gewinn kräftig
steigern konnte? Und warum
will die Telekom sogar 32.000
Beschäftigte vor die Tür setzen?
Die Antwort auf diese durch-
aus berechtigte Frage ist alles
andere als einfach. Bleiben wir
einmal bei der Telekom, dann
zählen zu den Gründen für den
geplanten Jobabbau einerseits
die bekannten Fakten – also
die scharfe Konkurrenz durch
neue Anbieter mit der Folge
sinkender Preise, Umsätze und
Gewinne. Auf der anderen
Seite aber sind gerade Global
Player wie die Telekom auch
einem Wettbewerbsdruck aus-
gesetzt, der weniger von außen
als vielmehr von innen kommt:
durch Finanzinvestoren.
Was diese, von manchen als
„Heuschrecken“ abgekanzelten
Investoren bewirken können,
beschrieb „Der Spiegel“ im
August 2006 so: „… der Tele-
kom-Chef hat in den Reihen
der Kontrolleure [gemeint ist
der Aufsichtsrat] neuerdings
einen mächtigen Gegenspieler:
den Finanzinvestor Blackstone.
Das auf Firmenübernahmen
und anschließende Zerlegung
spezialisierte Unternehmen war
im April bei der Telekom ein-
gestiegen. […] Für einen Preis
von 14 Euro je Aktie kaufte
Blackstone 4,5 Prozent der
Telekom-Anteile – und sitzt
nach dem gewaltigen Kurs-
rutsch nun auf Verlusten von
inzwischen rund 500 Millionen
Euro. Das ist für das erfolgs-
verwöhnte US-Unternehmen
nicht nur äußerst peinlich.
Es könnte, befürchtet man
in Bonn [dem Hauptsitz der
Telekom], auch dazu führen,
dass der von Blackstone in den
Telekom-Aufsichtsrat entsandte
Lawrence Guffey auf deutlich
weitreichendere Änderungen
pocht, als Ricke sie bisher plant
– und dafür bei anderen Kon-
trolleuren auch Unterstützung
fi ndet.“
Das große Fressen
Was auch immer „deutlich
weitreichendere Änderungen“
konkret bedeuten mögen, eines
zeigt das Telekom-Beispiel son-
nenklar: Es gibt keine „deut-
schen“ Konzerne mehr, son-
dern allenfalls noch Konzerne
in Deutschland. Und es ist
auch (fast) egal, wie groß oder
wie traditionell ein Unterneh-
men ist – im Zeitalter der Glo-
balisierung gibt es immer noch
einen größeren Fisch, der sich
den kleineren gerne einverleibt.
Die Liste der prominenten
Gefressenen jedenfalls wird von
Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile
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40
Jahr zu Jahr länger: Der Indus-
trieriese Mannesmann, bis zum
Jahr 2000 ein DAX-Schwer-
gewicht, wurde vom britischen
Mobilfunkanbieter Vodafone
übernommen; der seit Anfang
2009 insolvente Modellbahn-
hersteller Märk lin gehörte zu-
vor ebenfalls einem britischen
Finanzinvestor; Apollinaris ist
vom US-Konzern Coca-Cola
geschluckt worden und die
Hypo-Vereinsbank gehört der
italienischen Unicredito.
Ausverkauf Deutschland?
Doch das war erst der An-
fang. „Es rollt ein Tsunami
auf uns zu“, warnt Kai Lucks.
Der Übernahmeexperte von
der Siemens AG prophezeit
Deutschland eine regelrechte
Übernahme- und Fusions-
welle, bei der die Käufer aus
Ländern kommen werden, von
denen die meisten Deutschen
bislang wohl kaum gedacht
hätten, dass sie einmal eine
ernsthafte Konkurrenz darstel-
len könnten: Brasilien, Russ-
land, Indien und China – die
sogenannten BRIC-Länder.
Vor allem im Reich der Mitte
gibt es inzwischen viele große
Staatsunternehmen und zuneh-
mend auch schlagkräftige Pri-
vatunternehmen, die sich erst
zusammenschließen, um dann
ihre Fühler nach internationa-
len Konkurrenten auszustre-
cken. Fusions-Experte Lucks:
„Die chinesische Führung
hat in ihren Zwei-, Drei- und
Fünfjahresplänen Deutschland
als Zielland genannt.“
Und was heißt das für die
Unternehmen in Deutschland,
insbesondere die Global Player?
Sagen wir es ohne Umschwei-
fe: Entweder sie passen sich
dem internationalen Markt an
– oder sie werden angepasst.
Und das schließt durchaus die
Möglichkeit ein, von einem
ausländischen Konkurrenten
oder Finanzinvestor übernom-
men zu werden, ein Risiko,
dem sich selbst so potente Un-
ternehmen wie etwa die Deut-
sche Bank stellen müssen.
Wenn wir dieses Szenario ernst
nehmen, und das sollten wir,
dann erscheinen die Diskussi-
onen um Gewinnmaximierung
und Verlagerung von Arbeits-
plätzen ins Ausland in einem
anderen Licht. Die Manager
großer Konzerne peilen zwei-
stellige Renditen nicht deshalb
an, um sich selbst die Taschen
vollzustopfen (obwohl es auch
solche schwarzen Schafe gibt),
sondern um ihre Unterneh-
men so weit zu „mästen“, dass
sich potenzielle Aufkäufer die
Zähne an ihnen ausbeißen.
Gelingt das den Unterneh-
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Nettoumsatzrenditen: Deutschland unter ferner liefen
Jahresüberschuss 2007 nach Steuern in Prozent des UmsatzesRussland 15,4
Indien 11,5
Brasilien 11,4
Schweiz 10,9
Norwegen 9,9
Vereinigtes Königreich 9,1
Spanien 8,6
Dänemark 8,4
Belgien 8,4
Schweden 7,9
Portugal 7,8
China 7,7
Finnland 7,5
Kanada 7,2
Österreich 6,6
Italien 6,6
Niederlande 6,5
Frankreich 6,1
Griechenland 6,0
USA 5,8
Deutschland 5,0
Japan 3,6
Jahresüberschuss: Konzerne der gewerblichen Wirtschaft ohne Banken und Versicherungen; Ursprungsdaten: Osiris-Datenbank (Bureau van Dijk)
men nicht, werden sie an den
Finanz märkten abgestraft: Der
Aktienkurs sinkt und mit ihm
der Übernahmepreis für po-
tenzielle Aufkäufer. Wie nötig
eine Gewinn-Mastkur ist, zeigt
ein internationaler Vergleich
der Nettoumsatzrenditen, also
des Gewinns nach Steuern in
Prozent des Umsatzes: Danach
erwirtschaften die Konzerne
in Deutschland die zweitnied-
rigsten Gewinne von 22 groß-
en Industrienationen.
Arbeitsplatzverlagerungen
ins Ausland dienen (auch,
aber nicht nur) dem gleichen
Zweck: Gewinne machen, also
auch Kosten senken, um im
harten Wettbewerb zu beste-
hen. Da die Arbeitskosten in
Deutschland aber bekanntlich
zu den höchsten der Welt zäh-
len, bleibt vielen Unternehmen
nur eine Alternative: Entweder
sie machen weiter wie bisher
und gehen sehenden Auges un-
ter, oder sie verlagern zumin-
dest die besonders arbeits- und
damit kostenintensiven Pro-
duktionsbereiche in Länder wie
Tschechien, Rumänien oder
Ungarn, wo eine Arbeitsstunde
für einen Bruchteil der deut-
schen Kosten zu haben ist. So
bitter das für die betroffenen
Mitarbeiter in Deutschland
auch ist, aus volkswirtschaft-
licher Sicht ist dieser Weg
immer noch der bessere. Denn:
standsvorsitzender so unglaub-
lich viel Geld verdienen und
gleichzeitig Zigtausende seiner
Mitarbeiter vor die Tür setzen?
Oder müsste der Staat als
Gesetzgeber dem nicht einen
Riegel vorschieben und die
[…] „Zum Beispiel Adidas, das Musterexemplar eines globalen Unternehmens: Herzogenaurach, wo die Marke einst erfunden wurde, ist zwar immer noch Stammsitz des Konzerns und wird es nach Ansicht des Vorstandschefs Herbert Hainer auch bleiben. Aber der weltweite Einkauf wird in Hongkong erledigt, das Marketing in Amsterdam, der Großteil der Produktionsentwicklung im amerika-nischen Portland und das Design unter anderem in Tokio und New York. Hergestellt werden die Schuhe und Trikots zu 95 Prozent in Asien. […] Dennoch zeigt Adidas, dass Global Player mit Sitz in Deutschland auch hierzulande neue Jobs schaffen können, wenn sie erfolgreich sind. In den vergangenen zehn Jahren hat der Sportartikelhersteller die Zahl seiner Beschäftigten in Deutschland von 1200 auf 2580 mehr als verdoppelt. In diesem Jahr sollen nochmals 150 Stellen, vor allem im Marketing und Vertrieb, dazu-kommen.“
Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile
Jobverlagerungen ins Ausland
schaffen und sichern auch
Arbeitsplätze in Deutschland –
wie obenstehende Geschichte
aus dem Nachrichtenmaga-
zin „Der Spiegel“ (Ausgabe
17/2005) belegt.
Ach ja, und dann sind da noch
die Millionen-Gehälter der
Manager. Knapp 12 Millionen
Euro, so stand es überall zu
lesen, soll zum Beispiel Josef
Ackermann bekommen. Zwölf
Millionen in einem einzigen
Jahr – dafür müsste ein Durch-
schnittsverdiener mit 13 Mo-
natsgehältern von rund 2.700
Euro brutto 340 Jahre arbeiten.
Darf das sein? Darf ein Vor-
Manager-Gehälter auf, sagen
wir, 2 Millionen Euro pro Jahr
begrenzen? Beantworten wir
die letzte Frage einmal mit Ja.
Und dann? Wenn wir die Ma-
nager-Gehälter deckeln, was
machen wir dann zum Beispiel
mit …
… Michael Schumacher? Der
Formel-1-Rekordweltmeister
verdiente angeblich (offi zielle
Angaben gibt es keine) zwi-
schen 50 und 100 Millionen
Euro – pro Saison.
… Michael Ballack? Der Kapi-
tän der Fußballnationalmann-
schaft verdiente in seiner Bay-
ern-Zeit angeblich 6,5 Millio-
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nen Euro im Jahr. Und bei
seinem neuen Club, dem FC
Chelsea, sollen es 200.000
Euro sein – pro Woche.
… dem 41-jährigen Kranken-
pfl eger aus Nordrhein-Westfa-
len? Er hat im Oktober 2006
den größten Lotto-Jackpot aller
Zeiten geknackt und 37,6 Mil-
lionen Euro gewonnen.
Damit keine Missverständnisse
aufkommen: Selbstverständlich
darf und muss eine demokra-
tische und pluralistische Ge-
sellschaft darüber diskutieren,
wie sie ihren erwirtschafteten
Wohlstand verteilt. Aber die
Gesellschaft muss sich auch
entscheiden, was sie will:
Marktwirtschaft oder Sozialis-
mus? Und wenn sie sich, wie
Deutschland, für die Markt-
wirtschaft entschieden hat,
dann gelten auch deren Regeln.
Im Klartext: Ob Josef Acker-
mann 12 oder 2 Millionen
Euro bekommt, entscheidet
einzig und allein der Aufsichts-
rat der Deutschen Bank. Denn
laut Gesetz ist der Aufsichtsrat
die Kontrollinstanz einer Kapi-
talgesellschaft – er überwacht
die Geschäftsführung, bestellt
die Vorstandsmitglieder und
bestimmt deren Gehalt. Und
nicht zu vergessen: Der Auf-
sichtsrat wird von der Haupt-
versammlung gewählt – dort
kann jeder einzelne Aktionär
seine Stimme erheben.
Und noch ein Letztes muss
zum Thema Millionen-Gehäl-
ter und Spitzenverdiener gesagt
werden: Es mag ja sein, dass bei
dem einen oder anderen Maß
und Ziel verloren gegangen
sind; und es mag auch sein,
dass die (übrigens vom Ge-
setzgeber selbst eingerichteten)
sogenannten Steuerschlupfl ö-
cher zuweilen recht schamlos
ausgenutzt werden.
Wahr ist aber auch: Das Gros
der Topverdiener in Deutsch-
land zahlt brav und ehrlich
seine Einkommenssteuern
– und das nicht zu knapp: Fakt
ist, dass im Jahr 2004 nach An-
gaben des Bundesfi nanzminis-
teriums die 5 Prozent der Steu-
erpfl ichtigen mit den höchsten
Einkommen für mehr als 40
Prozent der gesamten Einnah-
men aus der Einkommenssteu-
er sorgten. Auf der anderen
Seite trugen die 50 Prozent der
Steuerpfl ichtigen mit den nied-
rigsten Einkommen lediglich
etwas mehr als 8 Prozent zum
Steueraufkommen bei.
„Es ist nichts falsch daran, dass Menschen Reich-tümer besitzen, falsch wird es, wenn Reichtümer Menschen besitzen.“
Billy Graham
www.globalisie-rung.insm.de –Freiheit statt Staatsgläubigkeit„Kapitalismus? Find ich schei-
ße.“ Mit diesen brachialen
Worten reagierte ein junger
Mann aus Bayern im August
2006 auf die Titelgeschichte
des „Spiegel“ über die „Gene-
ration Praktikum“. Darin ging
es um Berufseinsteiger, die
einfach keinen festen Job mehr
fi nden können – und das,
obwohl sie so gut ausgebildet,
mobil und fl exibel sind wie
keine Generation vor ihnen.
„Stattdessen“, so das Nach-
richtenmagazin, „hangeln sich
heute immer mehr Berufsan-
fänger als Praktikanten, Mehr-
fachjobber oder Honorarkräfte
durch die neue Arbeitswelt, mit
befristeten Verträgen oder ganz
ohne, mit schlechter oder gar
keiner Bezahlung […]“.
„Wir sind die Generation des
Nichts“, schreibt der junge
Mann aus Bayern in seinem
Leserbrief weiter. „Für viele
geht es nur noch ums mo-
mentane Überleben. Und
das nutzen die Unternehmen
gnadenlos aus.“ Andere Leser
und Leserinnen pfl ichten ihm
bei und schreiben vom „Grund-
übel der Ausbeutung“ und von
den „Schattenseiten der Globa-
lisierung“.
Globalisierung. Kaum ein an-
deres Wort aus der Wirtschaft
verunsichert die Menschen
heute so sehr wie dieses. Viele
verbinden damit ausschließlich
Negatives: permanente Angst
um den eigenen Arbeitsplatz,
zunehmenden Leistungsdruck,
fi nanzielle Existenznöte und
eine Gesellschaft, in der das
Soziale auf dem Altar der
Ökonomie geopfert wird.
Das Phantom Globalisierung
erschreckt aber keineswegs
nur die „kleinen Leute“, auch
prominente Wissenschaftler
kommen zuweilen ins Grübeln.
„Der Markt erdrückt den so-
zialen Ausgleich und vielerorts
die Justiz. Das ‚Recht des Stär-
keren‘ obsiegt. Damit gerät die
freiheitliche Marktwirtschaft in
eine Glaubwürdigkeitskrise“,
schreibt zum Beispiel Ernst
Ulrich von Weizsäcker, Neffe
des ehemaligen Bundespräsi-
denten Richard von Weizsäcker
und Dekan an der University
of California, in der Wochen-
zeitung „Die Zeit“.
Verzagte Deutsche
Ohne Frage: Viele der Ängste
und Sorgen sind nachvoll-
ziehbar. Wer trotz guter
Ausbildung und trotz viel
persönlichen Engagements im
Extremfall von Hartz IV und
einem Ein-Euro-Job leben
muss, der hat wahrlich Grund
genug, an der Marktwirtschaft
und der Globalisierung zu
zweifeln. Fatal aber wird es
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immer dann, wenn die be-
rechtigten Sorgen der konkret
Betroffenen in kollektive Angst
umschlagen und selbst jene
Menschen in Weltuntergangs-
stimmung versetzen, die objek-
tiv betrachtet gar keinen Anlass
dazu haben. Und das ist – auch
das gehört zu einer fairen Dis-
kussion über Globalisierung
und Marktwirtschaft – immer
noch die große Mehrheit: Nach
einer Studie der Europäischen
Union sind in Deutschland
zum Beispiel nur 6 Prozent der
Bevölkerung von „dauerhafter
Armut“ betroffen, das heißt, sie
mussten oder müssen mindes-
tens drei Jahre lang mit einem
Jahreseinkommen von weniger
als 10.000 Euro auskommen
– besser schneiden von den
15 „alten“ EU-Staaten nur
noch die Niederlande ab.
Warum aber sind dann gerade
die Deutschen so verzagt? Laut
der Online-Umfrage „Perspek-
tive Deutschland“, an der sich
im Jahr 2004 mehr als eine
halbe Million Bundesbürger
beteiligte, glauben gerade
einmal 28 Prozent der Bevölke-
rung, dass man in fünf bis zehn
Jahren noch gut in Deutsch-
land leben kann. Sechs von
zehn Bürgern fürchten einen
fi nanziellen Abstieg, vier von
zehn machen sich ernsthafte
Sorgen um ihren Job – in an-
deren Umfragen sind es sogar
doppelt so viele. Und meist
heißt der Grund für all diese
Ängste: Globalisierung.
„Furcht besiegt mehr Menschen als irgendetwas anderes auf der Welt.“
Ralph Waldo Emerson
Nun wollen wir es uns nicht
allzu einfach machen und die
Verantwortung für die kollek-
tive Depression in Deutschland
pauschal den Politikern, den
Machern aus der Wirtschaft
oder den Medien in die Schuhe
schieben. Trotzdem muss die
Frage erlaubt sein, warum
ausgerechnet jene, die doch
eigentlich das große Ganze im
Blick haben sollten, immer
wieder Sätze wie diesen sagen:
„Die Globalisierung ist nicht
aufzuhalten.“ Mit Verlaub, aber
was für ein Quatsch! Wer so
etwas behauptet, unterstellt,
dass die Globalisierung etwas
Gottgegebenes ist – eine Ent-
wicklung, der die Menschen so
hilfl os ausgesetzt sind wie einer
Naturkatastrophe. In Wahr-
heit aber gibt es keine einzige
Facette der Globalisierung,
die nicht einzig und allein von
Menschenhand gemacht ist.
Ich, du, er, sie, wir alle machen
die Globalisierung – wer denn
auch sonst?
Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile
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Sozialdumping und Jobverlagerungen? „Selbst schuld!“Im September 2006 stellte „Die Zeit“ eine These auf: „Ob
Niedriglöhne, Stellenabbau oder Umweltzerstörung: Was
uns als Bürger empört, fördern wir als Kunden.“
[…] „Der Mensch ist schlecht. Ein Homo oeconomicus.
Und noch viel Schlimmeres. Wir wissen von unseren Verge-
hen. Vor allem in dem Bereich, in dem wir täglich wählen:
dem des Konsums. […] Wir buchen Flüge zu Preisen, von
denen wir wissen, dass sie auf Niedriglöhnen und Stellenab-
bau beruhen. Wir kaufen ein in Supermärkten, deren Preise
angemessene Gewinne für die Produzenten ausschließen
– ebenso wie eine umwelt- und tiergerechte Produktion. Wir
haben gelesen, dass den Angestellten hinter der Kasse landes-
übliche Rechte vorenthalten werden. Wir wissen, dass Hosen
und Pullover, Computer und DVD-Player, die wir zu Spott-
preisen kaufen, nicht in Deutschland, sondern im Ausland
gefertigt werden, in sogenannten Niedriglohnländern.
Sozialdumping, Stellenabbau, Verlagerungen der Produk-
tion ins Ausland – als Kunde fördern wir alles, was uns als
Bürger empört. Wir tun genau das, was wir Politikern und
Managern vorwerfen. Wie die Manager an der Spitze der
Konzerne treiben wir Globalisierung und Deregulierung
voran. Die Manager schauen auf jeden Cent und nehmen
nur das Billigste? Genau das tun wir, als fortwährend rech-
nende und vergleichende Kunden, als knallharte Manager
unserer Lebenshaltung. Wir drücken die Preise, bis als Pro-
duktionsstandort unserer Waren nur noch Fernost infrage
kommt. Wir sind die globalen Heuschrecken. Volk und Elite
sind sich einig in ihrem radikalen Ökonomismus. Und wie
die Elite sind wir teils getrieben, teils Treibende. […] Wir
schimpfen über die Schließung deutscher Standorte und
kaufen am selben Tag eine Hose für 30 Euro, die in Bangla-
desch genäht wurde. […] Als Bürger sind wir Sozialisten –
Verfechter der alten sozialen Errungenschaften. Als Kunden
sind wir Neoliberale. Marktradikale. Uns ist recht, was billig
ist.“
Bleibt die Frage, wie wir das,
was wir Globalisierung nen-
nen, gestalten wollen. Wer sich
jetzt der Hoffnung hingibt, auf
diese Frage eine allgemeingül-
tige Antwort zu bekommen,
den müssen wir enttäuschen:
Nicht dass es keine Antworten
gäbe, weit gefehlt. Es gibt viel-
mehr Milliarden Antworten,
nämlich genau so viele, wie es
Menschen auf der Welt gibt!
Denn genau das ist die Crux
an der Globalisierung und an
der Marktwirtschaft und an
Wie man aus 32 Dollar 23 Milliarden Dollar machtIm Jahr 1891 zieht es einen gewissen William Wrigley Jr. von
Philadelphia an den Lake Michigan. Gerade einmal 29 Jahre
alt und mit 32 Dollar in der Tasche, will er in Chicago sein
Glück als Handelsvertreter versuchen und gründet die Wrig-
ley Jr. Company. Seife – William Wrigley Jr. produziert und
verkauft Seife, wie sein Vater. Doch weil der Junior fremd ist
in Chicago und weil aller Anfang bekanntlich schwer ist, legt
er in jede Lieferung, die seine Firma verlässt, zwei Päckchen
Backpulver. Es dauert nicht lange, da interessieren sich die
Leute mehr für das kleine Werbegeschenk als für die Seife.
Also lässt Wrigley Seife Seife sein und verkauft fortan lieber
Backpulver – natürlich nicht, ohne jede seiner Lieferungen
mit einer kleinen Gratisbeigabe zu versüßen. Diesmal ist es
eine Kugel Kaugummi. Der Rest von diesem wahr gewor-
denen Märchen ist schnell erzählt: Von wegen Backpulver –
die Leute reißen sich nur noch um das Kaugummi. Also wid-
met Wrigley seine Firma ein zweites Mal um und bringt nur
zwei Jahre nach seiner Ankunft in Chicago das mittlerweile
weltberühmte „Wrigley’s Spearmint“ auf den Markt.
Auch heute noch sitzt ein gewisser William Wrigley Jr.,
Urenkel des gleichnamigen Gründers, im Aufsichtsrat der
Firma. Sie ist im Oktober 2008 von der Mars Incorporated
übernommen worden. Kaufpreis: 23 Milliarden Dollar.
der Demokratie: Jeder ist seines
Glückes Schmied. The sky is
the limit – alles ist möglich.
Vorbild Irland
Zugegeben, Karrieren wie die
von William Wrigley Jr. oder
Bill Gates sind eher Einzelfälle.
Das heißt aber keineswegs, dass
Globalisierung und Markt-
wirtschaft nur für Einzelne
von Vorteil sind. Ganz im
Gegenteil: Wenn ich, du, er,
sie, wir alle mitmachen, dann
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profi tieren auch alle (na ja,
jedenfalls fast alle) davon. Ein
Paradebeispiel dafür ist Irland:
Noch zu Beginn der neunziger
Jahre zählte die grüne Insel zu
den Armenhäusern Europas.
Irland galt als rückständig, der
Staat war hoch verschuldet,
die Arbeitslosenquote und die
Armutsquote waren zweistellig
und immer mehr junge Leu-
te kehrten ihrem Land den
Rücken und wanderten aus.
Heute ist das irische Brutto-
inlandsprodukt je Einwohner
höher als das in Deutschland,
die Wirtschaft wächst seit Jah-
ren um durchschnittlich real
6 Prozent, die Arbeitslosen-
quote sowie die Armutsquote
liegen deutlich unter 5 Prozent
und es zieht immer mehr
qualifi zierte Arbeitskräfte und
Investoren auf die Insel.
Möglich war dieser Um-
schwung, weil es die Iren ver-
standen haben, die Chancen
der Globalisierung zu nutzen.
Statt pauschal auf die „Heu-
schrecken“ zu schimpfen,
ließen die Iren ausländische
Investoren ins Land. Und statt
weiterhin auf Pump zu leben,
schlossen Regierung, Arbeit-
geber und Gewerkschaften ein
Abkommen: Einerseits wurden
die staatlichen Ausgaben ge-
kürzt und die Gewerkschaften
verpfl ichteten sich zu Lohn-
zurückhaltung; andererseits
senkte der Staat die Steuern
und Abgaben, sodass die Net-
toeinkommen trotz staatlicher
Globalisierung – Milliarden neuer KonkurrentenKennen Sie Chongqing? Die Stadt am Yangtze ist eine von
derzeit insgesamt 52 chinesischen Millionenstädten und
zählt nach der Zusammenlegung mit umliegenden Regionen
und Kleinstädten mehr als 30 Millionen Einwohner. Und
jedes Jahr kommen 200.000 weitere hinzu, um an dem
schier unaufhaltsamen Aufstieg der Metropole im Süden
Chinas teilzuhaben. Denn in Chongqing, so heißt es, hat
die Privatwirtschaft den staatlich gelenkten Sektor längst
überholt. Die Stadt investiert gewaltige Summen in die
Bildung und die Wissenschaft, die Absolventen der Wirt-
schaftsuniversität haben beste Aussichten auf eine steile Kar-
riere, die medizinische Hochschule leistet Pionierarbeit in
der Krebsforschung und Yin Mingshan, Nummer eins unter
den chinesischen Motorrad- und Automobilherstellern, hat
vor kurzem einen umweltfreundlichen Kleinwagen auf den
Markt gebracht, der sogar in den USA verkauft werden soll.
Chongqing, die „Stadt der Wissenschaft“, ist ein Paradebei-
spiel für den Aufstieg Chinas zur größten Wirtschaftsnation
der Welt. Heute erwirtschaften die 1,3 Milliarden Chinesen
ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von umgerechnet 9,4 Bil-
lionen Dollar und liegen damit noch knapp hinter Westeu-
ropa (11,8 Billionen Dollar) und den USA (12,3 Billionen
Dollar). Bis zum Jahr 2050 werden die Chinesen ihr BIP
fast verfünffacht haben – damit wird ihre Wirtschaftskraft
fast genauso stark sein wie die der USA und Westeuropas
zusammen.
Nicht weniger ambitioniert ist das zweite Milliardenvolk, die
Inder. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Einwohner von
heute gut 1 Milliarde auf dann 1,6 Milliarden steigen; und
das indische BIP wird sich im gleichen Zeitraum von heute
3,6 Billionen Dollar auf fast 28 Billionen Dollar verachtfa-
chen. Damit werden die Inder Westeuropa abhängen und
fast auf Augenhöhe mit den US-Amerikanern sein.
Ausgabenkürzungen und
schmaler Lohnzuwächse stie-
gen. Was Irland kann, sollte
Deutschland eigentlich auch
können – kann es aber offen-
bar nicht. Denn egal, welche
Kriterien wir heranziehen
– ob Wirtschaftswachstum,
Erwerbstätigenquote, Einkom-
menszuwachs oder Bildungs-
niveau – bei internationalen
Vergleichen landet die größte
Volkswirtschaft Europas schon
seit Jahren regelmäßig auf hin-
teren Plätzen.
Nachzügler Deutschland
Was ist der Grund für diese
Rückständigkeit? Lassen wir
einmal die konkreten Einzelur-
sachen beiseite und konzentrie-
ren uns mehr auf das Allgemei-
ne, auf das „typisch Deutsche“,
dann ist das Kernproblem
schnell gefunden: Die Deut-
schen, so scheint es, haben eine
besonders ausgeprägte Angst
vor Veränderungen; stattdessen
leben und lieben sie den Kon-
sens, das Alles-bleibt-wie-es-ist.
Wie stark dieses stoische Be-
harren ausgeprägt ist, zeigte im
Jahr 2004 eine Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts
Forsa: Danach würde ein Fünf-
tel der Bundesbürger (12 Pro-
zent im Osten und doppelt so
viele im Westen) sogar am
liebsten die Mauer wieder auf-
bauen. Die Deutschen: Wo
andere Chancen sehen, wittern
sie nur Risiken.
Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile
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„Wer jedes Risiko ausschalten will, der zerstört auch alle Chancen.“
Hans-Olaf Henkel
Wie wäre es denn, wenn wir
stattdessen mal etwas Neues
wagen würden? Wir könnten
uns zur Abwechslung einmal
dazu durchringen, das Konzept
der Marktwirtschaft auch wirk-
lich umzusetzen – und nicht
immer nur eine abgespeckte
Variante davon. Mehr Markt-
wirtschaft, das hieße vor allem:
weniger Staat. Doch warum
eigentlich? Warum soll sich der
Staat soweit es geht zurück-
ziehen und dem Markt Platz
machen?
Die Antwort lautet: 8. Juli
2008, 7 Uhr 57. Das nämlich
war nach Berechnungen des
Bundes der Steuerzahler exakt
der Zeitpunkt, bis zu dem
alle Deutschen ihr gesamtes
Einkommen, das sie bis dahin
in diesem Jahr erwirtschaftet
hatten, in Form von Steuern
und Sozialabgaben an die
Staatskassen abführten. Von
den 366 Tagen des Jahres 2008
arbeiteten wir also 190 Tage
ausschließlich für den Staat –
und nur 176 Tage fürs eigene
Portemonnaie. Oder anders
gerechnet: Von jedem einzel-
nen Euro Verdienst geht mehr
als die Hälfte an den Staat.
Keine Frage, ohne Staat geht
es auch nicht. Wir, die Gesell-
schaft, brauchen die Polizei,
die Bundeswehr, Ämter und
Behörden, die Justiz, Universi-
täten, Straßen und dergleichen
mehr. Das alles kostet Geld.
Was aber ist mit jenen Aber-
milliarden Euro, die der Staat
und die Sozialkassen jedes Jahr
von den Bundesbürgern und
den Unternehmen einsam-
meln, nur um sie dann – im
Namen der Gerechtigkeit –
über Subventionen und Sozial-
leistungen wieder an die Bürger
und Betriebe zurückzugeben?
Ist diese Umverteilung, wie
Ökonomen das Ganze nennen,
überhaupt noch sinnvoll?
Machen wir die Probe aufs
Exempel: Das deutsche Sozial-
budget hat sich seit 1960 von
damals rund 33 Milliarden
Euro auf mittlerweile fast 700
Milliarden Euro erhöht. Dieses
Die Sozialausgaben pro Einwohner sind in Deutschland
von 588 Euro im Jahr 1960 auf 8.500 Euro im Jahr 2006
gestiegen. Damit erhöhte sich die Sozialquote (Sozialaus-
gaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) von 21,1 auf
30,3 Prozent. Die Sozialausgaben des Jahres 2006 stammten
aus folgenden Quellen:
27,1 Prozent von den privaten Haushalten
26,2 Prozent von den Unternehmen
24,8 Prozent vom Bund
10,5 Prozent von den Ländern
9,5 Prozent von den Gemeinden
1,4 Prozent von privaten Organisationen
0,4 Prozent von den Sozialversicherungen
???Hätten Sie,s gewusst
Geld fl ießt in die Renten-,
Kranken-, Pfl ege-, Unfall- und
Arbeitslosenversicherung, es
wird ausgegeben für Beam-
tenpensionen, Altershilfen für
Landwirte, die Entgeltfortzah-
lung bei Krankheit, Kinder-
geld, Erziehungsgeld, soziale
Entschädigungen, Wohngeld,
Jugendhilfe und Sozialhilfe.
„Ich weiß, der Staat kann einem nichts geben, was er einem nicht vor-her genommen hat. Das ist nur recht und … nein, also billig ist es nicht.“
Karl Farkas
Jahr für Jahr gibt Deutschland
mehr und mehr Geld dafür
aus, die Risiken des Lebens
abzusichern und abzufedern.
Mit Erfolg? Mitnichten! Die
Rentenversicherungen hangeln
sich von Monat zu Monat;
die Pfl egeversicherung ist
ein fi nanzielles Desaster; das
deutsche Gesundheitssystem
verschlingt Milliarden, gilt
aber nach internationalen
Maßstäben als ineffi zient; die
Arbeitslosigkeit ist trotz ABM,
Frühverrentung und all der
anderen Programme gestiegen
und gestiegen; und die Förde-
rung der Familie über Kinder-
und Erziehungsgeld hat alles
Mögliche bewirkt – nur nicht
den dringend benötigten An-
stieg der Geburtenrate und der
Frauenerwerbstätigkeit.
Was für die Bürger die Sozi-
alleistungen sind, sind für die
Unternehmen die Subventi-
onen. Und auch für diesen
Bereich gilt: Gut gemeint, aber
meistens schlecht gemacht.
Es ist nun einmal unsinnig,
nicht konkurrenzfähige Un-
ternehmen oder sogar ganze
Branchen mit viel Geld künst-
lich am Leben zu erhalten.
Das verzögert nicht nur den
notwendigen Strukturwandel
(darunter versteht man zum
Beispiel den Wandel von der
Industrie- zur Dienstleistungs-
oder Wissensgesellschaft), es
führt auch zu solch absurden
Ergebnissen wie dem, dass
wettbewerbsfähige Unterneh-
men von subventionierten
verdrängt werden.
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Welch groteske Ausmaße die
deutsche Subventionspolitik
zuweilen annimmt, zeigt ein
Beispiel aus Brandenburg. Dort
hat die Landesregierung im
Jahr 2006 die Kampagne
„Brandenburg soll rauchfrei
werden“ gestartet – und gleich-
zeitig subventioniert sie die
Ansiedlung einer neuen Ziga-
rettenfabrik mit insgesamt
13 Millionen Euro aus Steuer-
geldern. Dazu die Landesmi-
nisterin für Gesundheit im
ARD-Magazin „Kontraste“:
„Es ist nicht die tollste Lösung.
Aber wir haben eine Förder-
richtlinie, die eine Gleichbe-
handlung erfordert und des-
halb sind die Kriterien Arbeits-
plätze schaffen und so höher zu
bewerten im Moment als die
gesundheitsschädigende Wir-
kung der Produkte, die dort
hergestellt werden.“
Nicht minder abstrus ist die
Begründung, warum sich auch
der Bund mit 3,25 Millionen
Euro an den brandenbur-
gischen Subventionen beteiligt:
„Wenn wir das jetzt sehen, dass
dort wie gesagt Arbeitsplätze
geschaffen werden, Raucher
weiter den Tabak, die Zigaret-
ten dort konsumieren, dann
muss man sich die Frage stel-
len: Würden die wirklich alle
aufhören, wenn wir jetzt dort
nicht subventionieren wür-
den?“ Diese Worte stammen,
man glaubt es kaum, von der
damaligen Drogenbeauftragten
der Bundesregierung im Bun-
desgesundheitsministerium.
„Alle menschlichen Einrichtungen sind unvollkommen – am allermeisten staatliche.“
Otto von Bismarck
Wenn man vom Staat redet,
sind die Bürokraten nicht weit.
Nein, keine Sorge, wir wollen
jetzt nicht die Abschaffung des
Beamtentums fordern (obwohl
es zumindest in einigen Berei-
chen gute Gründe dafür gibt);
wir wollen auch nicht darauf
herumreiten, dass die Be-
diensteten von Bund, Ländern
und Gemeinden Jahr für Jahr
etliche Milliarden an Steuer-
geldern regelrecht zum Fenster
hinauswerfen (zum Beispiel
jene 35 Millionen Euro für
den Ausbau des Flughafens
Schwerin-Parchim, der im Jahr
2004 ganze 4.671 Fluggäste
zählte); müßig auch darüber zu
diskutieren, warum die neue
Bundesregierung drei Staats-
sekretäre mehr braucht als die
alte (nach Berechnungen des
Steuerzahlerbundes kostet jeder
Staatssekretär den Steuerzahler
Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile
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eine halbe Million Euro pro
Jahr) – nein, lassen wir das
und lesen stattdessen einen
süffi santen Artikel aus dem
„Spiegel“ (Ausgabe 18/2006).
Darin geht es, am Beispiel der
Mehrwertsteuererhöhung, um
die Frage, wie viel Staat wir
eigentlich brauchen. Und vor
allem: welchen?
Natürlich könnte man sich
über solche Eskapaden förm-
lich totlachen – wenn, ja wenn
es nicht so ernst wäre. Und
nicht so teuer. Und nicht so
widersinnig. Denn, man kann
es nicht oft genug wiederholen:
Das alles geschieht „unter dem
Gesichtspunkt der sozialen
Balance“, wie es der Bundesfi -
nanzminister formulierte.
Freiheit gewinnt
Doch ist es nicht genau um-
gekehrt? Ist nicht die soziale
Balance in Deutschland gerade
deshalb aus den Fugen geraten,
WEIL wir – der Staat, die Ge-
sellschaft – krampfhaft versu-
chen, die Schicksale von mehr
als 80 Millionen Menschen in
ein einziges, nämlich das vom
Staat vorgegebene Korsett zu
zwängen? Und muss dieses
Einheits-Korsett nicht zwangs-
läufi g so geschneidert sein, dass
es letztlich keinem passt?
Übrigens: Man ist weder Mo-
ralapostel noch Neoliberaler
oder gar ein Gegner des Staa-
tes, wenn man die wahnwitzige
staatliche Umverteilung an den
Pranger stellt.
Denn es sind schließlich wir,
die Steuerzahler, die dafür
aufkommen müssen, dass es
sich einzelne Unternehmen
oder ganze Wirtschaftszweige
in der aus Subventionen ge-
strickten Hängematte nur allzu
bequem machen. Und unser
aller Geld ist es auch, mit
dem es sich zum Beispiel jene
junge Frau gutgehen lässt, die
seit Jahren jeden Job ablehnt
und in einem RTL-Magazin
auch noch damit prahlte, sie
mache halt „einen auf Hartz
IV“, arbeite „noch ’n bisschen
schwarz“ und verbringe anson-
sten etliche Monate im Jahr an
der Südküste der Türkei – wo
sie sich, jung und hübsch wie
sie ist, ebenfalls auf Kosten
anderer Leute durchs Leben
schmarotzt.
„Im steten Bemühen, das Steuerrecht möglichst exakt der Lebenswirklichkeit anzupassen, haben sich die Spitzen-beamten des Bundesfi nanzministeriums gründlich in die Pferdematerie eingearbeitet. Es geht um die Frage, welches Tier bei einem Kauf mit dem normalen Mehrwertsteuersatz zu belegen ist und welches mit dem ermäßigten Satz. […] Klar ist: Pferd ist nicht gleich Pferd. Während für „Hengste, Wallache, Stuten, Fohlen“ grundsätzlich der ermäßigte Steu-ersatz gelte, sei auf „Przewals ki-Pferde, Tarpane (Mongolei) sowie Zebras und Zebroide“ der volle Satz anzuwenden. „Kreuzungen zwischen Eselhengst und Pferdestute (Maul-tier) sowie zwischen Pferdehengst und Eselstute (Maulesel) werden steuerlich gefördert, der einfache Esel hingegen nicht – jedenfalls nicht zu Lebzeiten. Geschlachtet und zum Verzehr bestimmt, erfreut auch er sich der steuerlichen Be-günstigung. […] Auch die Verarbeitung von Lebensmitteln ist für die Steuerbehörde von allergrößter Bedeutung. Solange Gewürze wie „Spargelmehl, Knoblauchschrot und Majoran (gerebelt oder gemahlen)“ sauber voneinander getrennt sind,
ist alles in Ordnung. Der Staat gewährt einen Steuernachlass. Doch wehe, es handelt sich um „zusammengesetzte Würz-mittel“ oder gar „getrocknete Erzeugnisse für Zwecke der Medizin“. Dann schlägt der Fiskus mit dem vollen Satz zu. […] Ziermais wird vom Staat gefördert, Zuckermais nicht. Pilze und Trüffel werden subventioniert, sofern sie nicht in Essig eingelegt wurden. Die Umsatzsteuer auf Leitungswasser ist ermäßigt, nicht aber die Steuer auf Abwasser. […] Malbücher für Kinder? Werden gefördert – aber nur, wenn auszuschließen ist, dass „auf mehr als der Hälfte der Seiten“ eine Bastelsche-re zum Einsatz kommen soll. Beinprothesen? Die Grundaus-stattung wird subventioniert, die Ersatzteilbeschaffung hinge-gen nicht. […]„Ein Irrsinn“, schlussfolgert denn auch FDP-Politiker Wissing. Die Beamten des Finanzministeriums hingegen scheint das Kompendium des Mehrwertsteuerwahns mit einigem Stolz zu erfüllen. „Der Gesetzgeber“, heißt es in ihrem Schreiben, habe „ein Gesamtkonzept für alle Bereiche des täglichen Lebens entwickelt“.
Ich, du, er, sie, wir alle ver-
stoßen gegen die Regeln der
Wirtschaft, wenn wir diese Art
„Fürsorge“ auch noch fi nan-
zieren. Mit sozialer und freier
Marktwirtschaft jedenfalls hat
das nichts zu tun. Wer einen
Sozialstaat will, der muss sich
auch sozial verhalten. Und wer
frei sein will, der darf sich seine
Freiheit nicht durch die Unfrei-
heit anderer erkaufen.
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Hier einige Superlative aus der Wirtschaft; die Angaben geben den jeweils jüngsten Stand sowie in Klammern das dazugehörende Land wieder:
Kriterium Höchster Wert Niedrigster Wert
• BIP in $ 14,5 Billionen (USA) 112 Millionen (Kiribati)
• BIP je Einwohner in $ 70.145 (Luxemburg) 103 (Kongo)
• Wirtschaftswachstum in % 22,2 (Aserbaidschan) –5,0 (Simbabwe)
• Agrarproduktion je Einwohner in $ 4.089 (Island) 24 (Eitrea)
• Industrieproduktion je Einwohner in $ 31.339 (Katar) 18 (Äthiopien)
• Dienstleistungen je Einwohner in $ 67.713 (Luxemburg) 51 (Burundi)
• BIP-Anteil der Landwirtschaft in % 56,0 (Myanmar) 0,2 (Katar)
• BIP-Anteil der Industrie in % 88,8 (Äquatorialguinea) 8,0 (Myanmar)
• BIP-Anteil der Dienstleistungen in % 84,6 (Luxemburg) 8,2 (Äquatorialguinea)
• Infl ationsrate in % 184,2 (Simbabwe) –0,5 (Garbun)
• Arbeitskräfte absolut 819.800.000 (China) 10.000 (Palau)
• Arbeitslosigkeit absolut 75.421.600 (China) 440 (Palau)
• Arbeitslosigkeit in % 82,0 (Simbabwe) 0,9 (Usbekistan)
• Staatshaushalt, Einnahmen in $ 2,4 Billionen (USA) 57,0 Millionen (Gambia)
• Staatshaushalt, Ausgaben in $ 2,7 Billionen (USA) 67,8 Millionen (Gambia)
• Staatsausgaben in % des BIP 90,6 (Äquatorialguinea) 8,3 (Afghanistan)
• Staatsverschuldung in $ 78,8 Billionen (USA) 666,4 Millionen (Estland)
• Staatsverschuldung % des BIP 192,2 (Libanon) 4,4 (Estland)
• Staatsverschuldung je Einwohner in $ 66.690 (Japan) 75 (Nigeria)
• Exporte in $ 1,2 Billionen (Deutschland) 50.000 (Nauru)
• Importe in $ 2,1 Billionen (USA) 6,0 Millionen (Nauru)
• Außenverschuldung in $ 9,6 Billionen (USA) 202 Millionen (Malta)
• Gold und Währungsreserven in $ 1,3 Billionen (China) 30,8 Millionen (Eritrea)
Quelle: www.welt-in-zahlen.de
???Hätten Sie's gewusst
„Die Freiheit ist ein wundersames TierUnd manche Menschen haben Angst vor ihrDoch hinter Gitterstäben geht sie einDenn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein.“
Georg Danzer
Die Wirtschaft: Über Gewinne und andere Vorurteile
„Lasst uns mehr Freiheit wa-
gen“, forderte im November
2005 auch Angela Merkel in
ihrer Regierungserklärung.
Dem ist eigentlich nichts
hinzuzufügen – außer vielleicht
das:
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Für Neugierige: Lesetipps, Internetadressen und Projekte
Die folgenden Empfehlungen an Büchern, Artikeln und Inter-
netadressen richten sich an Interessierte mit unterschiedlichem
Vorwissen – vor allem aber an Lernende und Lehrende.
Bücher und Artikel
Beck, Hanno: „Der Alltags-Ökonom – Warum Warteschlangen effi zient sind. Und wie man das Beste aus seinem Leben macht“, F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und Medieninforma-tionen GmbH, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-89981-032-5
Der Spiegel: „Kapitalismus total global“, zehnteilige Serie, begin-nend in der Ausgabe 17/2005
Die Zeit: „Wie werden wir die nächsten hundert Jahre überleben? Zehn deutsche Wissenschaftler antworten“, unter www.zeit.de/online/2006/34/bildergalerie-ueberleben
Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.): „Soziale Marktwirtschaft – Elemente einer erfolgreichen Wirtschaftsord-nung“, Deutscher Instituts-Verlag GmbH, Köln 1997, ISBN 3-602-14436-4
Jeske, Jürgen / Barbier, Hans D.: „So nutzt man den Wirt-schaftsteil einer Tageszeitung“, Societäts-Verlag, Frankfurt 2000, ISBN 3-7973-0744-6
Lekachman, Robert / van Loon, Boris: „Kapitalismus für An-fänger“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1982, ISBN 3-499-17540-1
Mankiw, Nicholas Gregory: „Grundzüge der Volkswirtschafts-lehre“, Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 2004; ISBN 3-7910-1853-1
von Rosen, Rüdiger: „Was geht uns das Thema Wirtschaft eigentlich an?“ Essay unter www.bpb.de/Themen/Wirtschaft/Wirtschaftsordnung (Bundeszentrale für politische Bildung)
Internetadressen
www.bpb.de (Bundeszentrale für politische Bildung): Unter der Rubrik Themen/Wirtschaft fi nden sich zahlreiche Schwer-punktthemen, Dossiers, Aufsätze, Zahlen und Fakten sowie Unterrichtsmaterial für Lehrer.
www.destatis.de (Statistisches Bundesamt Deutschland): Wer Zahlen und Fakten über die deutsche Wirtschaft sucht – hier fi ndet sich praktisch alles.
www.netschool.de: Die virtuelle Schule vermittelt das Thema Wirtschaft mit einem ganzheitlichen pädagogischen Ansatz für alle Altersstufen und Bildungsgänge. Außerdem können dort Unternehmen ihre Informationen zu Stellenangeboten, Praktika, Workshops usw. anbieten.
www.welt-in-zahlen.de: Ein Muss für alle, die umfangreiche Informationen aller Art (Wirtschaft, Politik, Geografi e, Geschichte) über praktisch jedes Land der Welt suchen.
www.wigy.de (Wirtschaft & Gymnasium): In dem eingetragenen Verein engagieren sich mehr als 400 Schulen und Unternehmen für die ökonomische Bildung an allgemeinbildenden Schulen. In dem Internetauftritt fi nden sich u. a. ein Wirtschaftslexikon sowie aktuelle Meldungen und Artikel aus dem „Handelsblatt“, aufbe-reitet für den Wirtschaftsunterricht.
www.wirtschaftundschule.de: Die Website ist ein Angebot der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und vertritt partei- und branchenübergreifend die ordnungspolitischen Grundgedanken der Sozialen Marktwirtschaft.
http://titan.bsz-bw.de/bibscout (Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg): Unter der Rubrik Wirtschaftswissenschaf-ten fi nden sich ca. 200.000 Bücher zum Thema Wirtschaft.
Projekte
www.juniorprojekt.de: Das vom Institut der deutschen Wirt-schaft Köln (IW) initiierte Projekt wendet sich an Schülerinnen und Schüler ab der 9. Klasse. Jeweils 10 bis 15 Schüler gründen für eine bestimmte Zeit ein Unternehmen, bei dem sie alle Funk-tionen bis hin zum Vorstandsvorsitzenden selbst besetzen und so an unternehmerisches Denken und Handeln herangeführt wer-den. Der Wettbewerb fi ndet seit 1994 jährlich statt, er startet in den Bundesländern, geht dann als Bundeswettbewerb weiter und endet schließlich auf internationaler Ebene. Auf der Junior-Homepage fi nden sich auch die Links zu den Partnerprojekten „fi t für die Wirtschaft“ (ein modulares Unterrichtskonzept für Schülerinnen und Schüler der 8. und 9. Klasse) und „Go! to school“ (hier bekommen Schüler die Chance, Selbstständigkeit als Berufsperspektive zu entdecken).
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Stichwortverzeichnis
Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich jeweils auf die Textstellen,
wo das Stichwort ausführlich behandelt wird.
Aktie 33
Angebotspolitik 23
Anleihen 33
Arbeitskosten 7
Börse 32
Bruttoinlandsprodukt/Bruttosozialprodukt 15
Defl ation 27
Deutscher Aktienindex (DAX) 33
Euro 27
Europäischer Stabilitätspakt 16
Geld 26
Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 18
Gewinne 38
Globalisierung 42
Infl ation 27
Investitionen 13
Kaufkraft 28
Konkurrenzprinzip 38
Marktwirtschaft 9
Mittelstand 37
Nachfragepolitik 23
Ökonomisches Prinzip 5
Ordnungspolitik 19
Personalzusatzkosten 7
Preise 30
Produktivität 13
Sozialausgaben 46
Steuern 46
Subventionen 46
Umverteilung 46
Unternehmen 38
Unternehmer/Manager 38
Verschuldung 15
Volkswirtschaft 8
Wirtschaftspolitik 18
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3., überarbeitete Aufl age
© 2009 Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)
Gustav-Heinemann-Ufer 84-88
50968 Köln
www.insm.de
Erschienen im Deutschen Instituts-Verlag GmbH
Text und Redaktion: Andreas Wodok
ISBN 978-3-602-14752-6
Postfach 51 06 70, 50942 Köln
Telefon: 0221 4981-452
Fax: 0221 4981-445
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Gestaltung und Produktion:
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Fotos: DDP, MEV, project photos
Illustrationen: Dirk Meissner, Ulf K
Druck: Warlich Druck Meckenheim GmbH
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Die mit Förderung der Initiative Neue Soziale Marktwirt-
schaft (INSM) entstandene Broschüre „Das kleine 1 x 1
der Marktwirtschaft“ richtet sich an Leser, die mit dem
Thema Wirtschaft bisher noch wenig vertraut sind. Auf
unterhaltsame und allgemeinverständliche Weise wird
erklärt, wie die Soziale Marktwirtschaft funktioniert und
wie Wett bewerb zum Nutzen aller wirkt. Das Heft thema-
tisiert anschaulich und kompakt die aktuellen Probleme
in unserem Wirtschafts- und Sozialsystem und zeigt auf,
was mehr Wachstum und Beschäftigung entgegensteht.
Behandelt werden auch Arbeitsplatzverlagerungen ins
Ausland und die in der Öffentlichkeit oft umstrittenen
Gewinne der Unternehmen. Aktien und Börse sind
Thema eines Erklärstücks. Zum Schluss widmet der Autor
auch der Globalisierung ein Kapitel. Es soll Mut machen,
sich auf die neuen Herausforderungen einzulassen: Denn
die grenzüberschreitende Freiheit eröffnet neue wirt-
schaftliche Chancen – vor allem für jene Menschen, die
die Zukunft mit Eigeninitiative und dem Glauben an die
eigene Leistung optimistisch angehen.
Die INSM wendet sich auch im Internet mit wirtschafts-
bezogenen Bildungs- und Informationsangeboten an die
Öffentlichkeit.
www.insm.de www.wohlstandsbilanz-deutschland.de www.wirtschaftundschule.de
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