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1 2016 DEUTSCHES TECHNIKMUSEUM BERLIN - sdtb.de · 2 1 | 2016 DEUTSCHESTECHNIKMUSEUM BERLIN Inhalt...

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THEMENHEFT: Alles Zucker! – Die neue Dauerausstellung im DTM Vom Luxusgut zum Rohstoff – Zucker im Industriezeitalter Die Medizin lernt den Zucker-Code – Zuckermoleküle im Menschen Mein Leben mit dem Zucker – Fabrikarbeit um 1950 DEUTSCHES TECHNIKMUSEUM BERLIN 1 2016 Zeitschrift der Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin und der Freunde und Förderer des DTMB e.V. 32. (56.) Jahrgang · Preis: 5,00
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Page 1: 1 2016 DEUTSCHES TECHNIKMUSEUM BERLIN - sdtb.de · 2 1 | 2016 DEUTSCHESTECHNIKMUSEUM BERLIN Inhalt Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe Andrea Grimm · Abteilung Manufakturelle Schmuckproduktion

THEMENHEFT: Alles Zucker! – Die neue Dauerausstellung im DTMVom Luxusgut zum Rohstoff – Zucker im Industriezeitalter

Die Medizin lernt den Zucker-Code – Zuckermoleküle im MenschenMein Leben mit dem Zucker – Fabrikarbeit um 1950

DEUTSCHESTECHNIKMUSEUM

BERLIN

1 2016

Zeitschrift der Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin und der Freunde und Förderer des DTMB e. V. 32. (56.) Jahrgang · Preis: 5,00

Page 2: 1 2016 DEUTSCHES TECHNIKMUSEUM BERLIN - sdtb.de · 2 1 | 2016 DEUTSCHESTECHNIKMUSEUM BERLIN Inhalt Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe Andrea Grimm · Abteilung Manufakturelle Schmuckproduktion

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Inhalt

Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Andrea Grimm · Abteilung Manufakturelle Schmuckproduktion

Dipl.-Ing. Günter Jakobiak · Vorstandsvorsitzender des Fördererkreises Zucker-Museum e.V.

Dr. Volker Koesling · Leiter Naturwissenschaft und Messtechnik

Eva Kudraß · Leiterin Mathematik und Informatik

Dipl.-Ing. Herbert Liman · Ehrenmitglied des FDTM

Bernd Lüke · Leiter Kommunikation und Medien

Dr. Felix Lühning · Leiter der Archenhold-Sternwarte

Prof. Dr. Dirk Schaal · Hochschule für Technik, Wirt-schaft und Kultur Leipzig

René Spierling · Zucker-Museum, Projekt Neu-gestaltung der Ausstellung

Zu dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Alles Zucker! Nahrung – Werkstoff – Energie Die neue Dauerausstellung im Deutschen Technikmuseum . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Ein Haus des Zuckers Erster deutscher Wissenschaftspark in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10Vom Strandgewächs zur Königin der Feldfrüchte Die Rübe im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14Vom Luxusgut zum Rohstoff Zuckerkonsum und Wirtschaft im Industriezeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18Was Zucker mit Bioenergie zu tun haben Nachwachsende Rohstoffe als Zukunftsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Kunststoffe aus Zuckern Sind alle Materialien umweltverträglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Die Medizin lernt den Zucker-Code Zuckermoleküle im Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32Lückenlose Überwachung in der Zuckerfabrik Das Instrumentarium der Zuckeranalytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36Der Zuckerrübenanbau im Wandel der Technik Ein Erlebnisbericht aus den 1930er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Mein Leben mit dem Zucker Schilderung eines Fabrikarbeiters Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 42Zucker und Ernährung Die wichtigsten Fragen und Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Objekt des Monats Januar, Februar, März . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

Neu im „Netz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Herausgeber:Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin (SDTB) und Freunde und Förderer des Deutschen Technikmuseums Berlin e. V. (FDTM) V. i. S. d. P.: Prof. Dr. Dirk Böndel (Vorstand der SDTB) und Wolfgang Jähnichen (Vorsitzender des FDTM)

SDTB Trebbiner Straße 9, 10963 Berlin Tel.: (030) 90 25 40, Fax: (030) 90 25 41 75 Homepage: www.sdtb.de E-Mail: [email protected]

FDTM Trebbiner Straße 9, 10963 BerlinTel.: (030) 262 20 31, Fax: (030) 26 55 81 85Homepage: www.fdtmb.deE-Mail: [email protected] Vom Finanzamt für Körperschaften Berlin als besonders förderungswürdig anerkannt. Steuernummer: 27/655/52092Newsletterbestellung über E-Mail:[email protected] der Verkehrsvereine Berlin und Brandenburg auch unter: www.hivbb.de

Die Geschäftsstelle im Stellwerk ist donnerstags von 10 –13 Uhr geöffnet.

Erscheinungsweise: Die Zeitschrift erscheint mindestens viermal im Jahr. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen die Meinung des Autors/der Autorin dar. Nachdruck, auch auszugsweise, nur unter An-gabe der Quelle und Zusendung eines Beleg-exemplars gestattet.

Redaktion: Michael Ahrendt (FDTM), Dr. Maria Borgmann (stellv. Chefredakteurin SDTB), Andreas Curtius (SDTB), Reinhard Demps (Chefredakteur FDTM), Astrid Venn (SDTB) Dr. Tiziana Zugaro (stellv. Chefredakteur SDTB) E-Mail: [email protected]

Redaktionsbeirat: Prof. Joseph Hoppe (SDTB), Dr. Volker Koes-ling (SDTB), Herbert Liman (FDTM), Dr. Felix Lühning (SDTB), Dr. Christian Neuert (SDTB), Achim Pohlman (FDTM), Dr. Jürgen Rose (För-derverein der Archenhold-Sternwarte), Jörg Schmalfuß (SDTB), Claudia Schuster (SDTB), Barbara Senst (FDTM)

Design:Rainer J. Fischer (Konzeption), Lennart Fischer (Gestaltung)

Druck: DBM Druckhaus Berlin-Mitte GmbH, Wilhelm-Kabus-Straße 21–35, 10829 Berlin

Verkaufspreis:Mitglieder des FDTM erhalten die Zeitschrift im Rahmen ihrer Mitgliedschaft. Abonnementpreis einschließlich Versandkosten 20,00 € pro Jahr. Be stellung beim FDTM. Die Lieferung nach Vor auszahlung des Betrages auf das Konto 0620005432 bei der Berliner Sparkasse, BLZ 100 500 00.IBAN DE43100500000620005432BIC BELADEBE

Auflage: 2 400 Exemplare

Titelbild:Blick in die neue Ausstellung „Alles Zucker!“ mit dem Bereich „Werkstoffe aus Zuckern“. © SDTB/Foto: C. Kirchner

Verkaufspreis für diese Ausgabe:Einzelpreis 5,00 €, Versandkosten 1,65 €

ISSN: 1869 – 1358

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Pyramiden aus Zuckerwürfeln treffen sie im zentralen Bereich der Ausstellung erstaunt auf eine japanische Riesenkrabbe, eine große Baumscheibe nebst Blätterdach und einen Pilz.

Hier sollen sie zunächst ihr Alltagsver-ständnis vom Zucker ablegen und sich von der Universalität dieser Substanzklasse überzeugen lassen. Eine Vitrine mit fast

Die Frage, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, ist schon oft gestellt wor-den, vielerlei Antworten wurden gefunden. Das Deutsche Technikmuseum gibt mit seiner neuen Ausstellung „Alles Zucker! Nahrung – Werkstoff – Energie“ eine sicher überraschende Antwort: Diese Welt be-steht aus Zucker!

Zucker sind überallZucker ist der Ursprung allen Lebens, denn die Pflanzen wandeln die Sonnenenergie in Glukose um, besser bekannt als Trauben-zucker. Diesen verknüpfen sie zu langen Ketten, der Zellulose, woraus sie ihre Zell-wände bauen. Das Zuckerpolymer Stärke dient ihnen als Energiespeicher. In Form von Saccharose wird der Zucker als Ener-gieträger in der Pflanze transportiert. Die

Alles Zucker! Nahrung – Werkstoff – Energie Die neue Dauerausstellung im Deutschen Technikmuseum

Blick in die Ausstellung mit Erläuterungen zu Zuckern und der Hörstation von Emil Fischer, dem „Vater der Zuckerchemie“. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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Glukose selbst ist an vielen Stoffwechsel-vorgängen beteiligt.

Insekten, Spinnen und Krebstiere bauen ihre Außenskelette ebenfalls aus Ketten-molekülen, die aus abgewandeltem Trau-benzucker bestehen. Auch zahlreiche Pflanzeninhaltsstoffe bestehen zum Teil aus Zucker. Im menschlichen Körper sind Zu-cker die Grundlage vieler Verbindungen mit speziellen Stoffwechselfunktionen.

Seit jeher dienen Zucker dem Menschen als Nahrung, und er nutzt sie als Werkstoff und zur Energiegewinnung. Die Anzahl der Mitglieder der Zuckerfamilie ist Legion und sie bilden den größten Teil der Biomasse unseres Planeten.

Mit solchen Aussagen empfängt die neue „Zuckerausstellung“ ihre Besucher. Anstatt auf die sonst üblichen Zuckerhüte oder

vierzig verschiedenen Zuckern zeigt neben Haushaltszucker, Fruchtzucker, Traubenzu-cker und Milchzucker noch zahlreiche an-dere. Eine Medienstation lädt zum tieferen Eintauchen in die Welt der Zucker ein und bietet eine Fülle von Informationen zu all diesen unterschiedlichen Zuckern.

Vom Luxusgut zur MassenwareAuf die „klassischen“ Fragen, die ein Besu-cher üblicherweise an ein Zuckermuseum stellt, findet er im ersten Komplex der Aus-stellung zur Geschichte und Verwendung des Zuckers Antworten. Die zehntausend-jährige Geschichte des Süßungsmittels Saccharose, das nach seiner langen Reise über China, Indien und Persien Europa zur Zeit der Kreuzritter ab dem 11. Jahrhundert

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bus brachte es dann auf seiner zweiten Amerika-Reise 1493 in die Karibik. Zucker wurde eines der ersten Produkte, deren Herstellung in den überseeischen Kolonien vor allem zur Amortisierung europäischen Kapitals diente. Die Gier wohlhabender Kreise nach diesem neuen Genuss legte ab der Mitte des 16. Jahrhunderts die Grund-lage für den Reichtum europäischer Han-

verzierten silbernen Zuckerdosen und -ge-rätschaften rufen Bewunderung hervor.

Genuss und ElendDer Anbau von Zuckerrohr war aus klima-tischen Gründen zunächst auf den Mittel-meerraum und die Afrika vorgelagerten Kanarischen Inseln Azoren, Madeira und Sao Tomé im Atlantik beschränkt. Kolum-

als Luxusgut erreichte und heute ein allge-genwärtiges Alltagsprodukt ist, wird in all ihren Facetten ausgebreitet. Um die Wert-schätzung, die einst dem Zucker entgegen-gebracht wurde, auch heutigen Besuchern zu vermitteln, wird die Silbersammlung des Zucker-Museums in einem separaten Kabi-nett in Form einer Schatzkammer präsen-tiert. Die aufwendig gearbeiteten und reich

Historische Objekte aus dem Zucker-Museum und dem Zuckerinstitut. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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Der Panzer der Riesenkrabbe besteht wie der von Insekten und Spinnen aus Chitin, einem Zuckerpolymer. © SDTB/Foto: C. Kirchners

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Die europäische AlternativeAb Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Preußen im Rahmen der Suche nach Ersatz-stoffen für teure Kolonialwaren wie Tabak, Kaffee oder Gewürze, die den Staatshaus-halt über Gebühr belasteten, auch ein Er-satz für den Kolonialzucker entwickelt: Zu-cker aus der heimischen Zuckerrübe. Diese Entwicklung wird nicht nur wegen ihres ausgeprägten Berlin-Bezugs in der Ausstel-lung dargestellt. Sie steht vor allem am Beginn des Siegeszugs eines neuen Genuss-

Der Besucher findet in diesem Bereich eine Vitrine mit unterschiedlichen Mache-ten, Beilen und anderen Hackwerkzeu-gen, die zur Zuckerrohrernte benutzt wurden. Eine hölzerne Zuckerrohrmühle diente dazu, den Saft aus den Rohren zu pressen. Vier Kanonenkugeln, wie sie gegen die anrückenden Truppen Napole-ons eingesetzt werden sollten, sind Sym-bolobjekte für das Ende der kolonialen Ausbeutung der versklavten schwarzen Bevölkerung Haitis.

delshäuser. Das Heer der verschleppten und versklavten Afrikaner steht am Beginn der Einführung frühkapitalistischer, ar-beitsteiliger Produktionsweisen auf den Plantagen und in den angeschlossenen Zuckermühlen. Die in den überseeischen Provinzen herrschenden unmenschlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse führten schließlich zur ersten erfolgreichen Skla-venrevolution in Haiti. Der wichtigste Zu-ckerlieferant für Europa fiel von einem auf den anderen Tag aus.

Frühe mechanisierte Ackergeräte zur Rübenernte, dahinter eine Vitrine mit Handgeräten. © SDTB/Foto: C. Kirchner

Schlegler und Roder eines modernen Rübenvollernters. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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Panorama zur Erläuterung der Zuckerextraktion in der Fabrik. © SDTB/Foto: C. Kirchners

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zweite große Ausstellungskomplex zeigt den wachsenden Einsatz von Zuckern auf Gebieten jenseits der Verwendung als Le-bensmittel. Hier werden vor allem drei Be-reiche genauer beleuchtet: Werkstoffe, Energie und Information.

Werkstoffe Von der Verwendung der Zellulose in Form von Holz und Textilien aus Pflanzenfasern, neben Stein die am längsten vom Men-schen genutzten Materialien, spannt sich der Bogen über die frühen Kunststoffe – Zelluloid und andere Zelluloseester – bis hin zu neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet. Die innovativen Materialien werden heute nicht mehr aus Erdöl, sondern aus nachwachsenden Rohstoffen gewonnen. Das heißt: aus Zuckern. Darüber hinaus haben die „echten“ Bio-Kunststoffe unter ihnen den Vorteil, oft auch biologisch ab-baubar zu sein.

Vier Vitrinen voller alltäglicher und auch unerwarteter Objekte laden dazu ein, die Vielfalt möglicher Werkstoffe zu studieren wie den Korpus einer Violine, ein Hornis-sennest, Vulkanfiberkoffer, Lineale, Brillen-gestelle, Werkzeuggriffe, Computertasta-turen oder Verpackungsmaterialien. Überraschend: Sogar Textilien aus Algenfa-sern und Lautsprechermembranen aus Chitin sind hier zu entdecken.

Energie aus ZuckernDie energetische Nutzung von Holz und anderer Biomasse ist ebenso alt wie die Verwendung als Werkstoff. Diese Stoffe werden seit Urzeiten zur Erzeugung von behaglicher Wärme und von Licht ver-brannt. Daran anknüpfend zeigt die Aus-stellung aber auch neuere Methoden, wie die Nutzung von Biogas, aus Zuckern ge-wonnenem Alkohol oder Biodiesel als Al-ternativen zu fossilen Brennstoffen. In ei-

Landwirtschaft seit Mitte der 1950er Jahre veranschaulichen in der Ausstellung Schlegler und Roder eines modernen Rü-benvollernters. Ein Video zeigt dessen Funktion. Die Ausmaße der Gesamtmaschi-ne können an Hand eines daneben aufge-stellten Modells erahnt werden.

Der Vergleich dieses beeindruckenden Maschinenteils mit den Rodespaten, Rode-gabeln, Hacken und Rübensicheln aus der Zeit der Handarbeit macht deutlich, welche grundlegenden Veränderungen sich auch im Bereich der Landwirtschaft mit der Voll-mechanisierung vollzogen haben.

Die Zuckerfabrik als BioraffinerieDie Ausstellung lässt keinen Zweifel zu: Zu-cker ist ein Naturprodukt, das Pflanzen auf dem Feld produzieren. In den Zuckerfabriken wird er lediglich aus den Rüben herausge-löst. Die Darstellung des Extraktionsprozes-ses rundet diesen von den Besuchern sicher erwarteten „klassischen“ Ausstellungsbe-reich ab. Die einzelnen Arbeitsschritte wer-den mit kurzen Texten ausführlich erläutert und mit historischen technischen Zeichnun-gen illustriert. Proben der Zwischenprodukte veranschaulichen die Veränderungen wäh-rend des Produktionsprozesses. Es wird deutlich, dass in einer modernen Zuckerfab-rik keine Abfälle anfallen, sondern alles einer sinnvollen Verwendung zugeführt wird, zum Beispiel als Viehfutter oder Dünger.

Auf einem historischen Arbeitstisch aus einem Labor des Instituts für Zuckerindus-trie aufgestellte Instrumente und erläu-ternde Texte informieren über die wichtigs-ten Verfahren der Zuckeranalytik.

Zucker statt ErdölDer Themenkanon der neuen Zuckeraus-stellung geht über den klassischen Bereich der Zuckerproduktion weit hinaus. Der

mittels, das schon bald für breite Bevölke-rungsschichten verfügbar wurde. Sowohl die Entdeckung des Zuckers in der Runkel-rübe durch den Direktor der physikalischen Klasse der Preußischen Akademie der Wis-senschaften, Andreas Sigismund Marggraf (1709 – 1782) als auch deren züchterische Weiterentwicklung zur Zuckerrübe durch dessen Schüler und Nachfolger Franz Carl Achard (1753 – 1821) fanden in Berlin und seinen Vororten statt.

Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich diese neue Feldfrucht einen festen Platz auf den Äckern erobert. Am Ende des Jahrhunderts war der Rübenzucker wich-tigster Exportartikel des Deutschen Reiches.

Die „Königin der Feldfrüchte“ An Hand der verwendeten Geräte und Maschinen wird in der Ausstellung die Ar-beit auf dem Rübenfeld ausführlich darge-stellt. Der immense Bedarf an Arbeitskräf-ten, der bis in die 1950er Jahre hinein Anbau und Verarbeitung der Zuckerrübe prägte, wurde zu verschiedenen Zeiten aus unterschiedlichen Quellen gedeckt. Waren dies bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben ortsansässigen Lohnarbeitern und Schulklassen vor allem Wanderarbeiter aus den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches oder aus armen, östlichen Nachbar-ländern, so deckten während des Zweiten Weltkriegs Zivilarbeiter, Zwangsverpflichte-te und Zwangsarbeiter den Bedarf. Auch von der Front freigestellte Soldaten arbeite-ten auf den Feldern und in den Fabriken, besonders wenn es sich dabei um Spezialis-ten wie Zuckersieder, Maschinenführer oder sogar „Geschirrsattler“ handelte.

Als Beispiele früher Mechanisierung der 1920er und 1930er Jahre finden sich in der Ausstellung ein Rübenköpfschlitten, ein Rodepflug, ein Furchenzieher und ein Ein-kornsägerät. Die Vollmechanisierung der

Das Nasspräparatekabinett in der Ausstellung. © SDTB/Foto: C. Kirchner

Ein Teil der Schaukästen mit Nützlingen und Schädlingen der Zuckerrübe. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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spezielle Zuckerketten erzeugen lassen. Sie bilden die Grundlage neuartiger Impfstoffe oder Medikamente. Entwickelt wurde die-ses Gerät von Professor Peter Seeberger am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge/Massachusetts, der heute am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam-Golm arbeitet. Das Gerät wird inzwischen in Serie produziert und in alle Welt expor-tiert. Der Prototyp steht in der Ausstellung im Deutschen Technikmuseum.

Weddinger WurzelnHistorisch Interessierten bietet die neue Ausstellung auch Informationen zum alten Zucker-Museum und zur Geschichte des Instituts für Zuckerindustrie. Diese Instituti-on war die Keimzelle für die Forschungen auf dem Zuckergebiet, die heute von ande-ren Einrichtungen in erweiterter Form fort-gesetzt werden. Lag zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Schwerpunkt auf der Nutzung von Rohr und Rübe als Nahrungs-mittel, so hat sich heute das Interesse der Forscher auf die Materialforschung ver-

sich eine eigene, fundierte Meinung zu bilden.

Information oder: den Zuckercode lesen Dass Zucker auch Informationen enthal-ten können, wird in diesem Bereich der Ausstellung viele überraschen. Alle Zellen unseres Körpers und auch von Mikroorga-nismen sind mit einem „Pelz“ aus Zucker-ketten umgeben. Mit Hilfe dieser Zucker-sequenzen kommunizieren die Zellen miteinander und tauschen Informationen aus. So findet der Kontakt zwischen Ei und Samenzelle vor allem auf dieser Ebe-ne auf der Zelloberfläche statt. Die ver-schiedenen Blutgruppen manifestieren sich ebenfalls in unterschiedlichen Abfol-gen der Zuckerbausteine.

Die in den Zuckerketten codierte Informa-tion bildet den Ausgangspunkt für neue Tendenzen in der Biologie und medizini-schen Forschung. Bei der Bekämpfung von Krankheiten können die Mediziner dieses Wissen nutzen. Eines der spektakulärsten Exponate in der Ausstellung ist ein Oligo-saccharidsynthesizer, mit dem sich gezielt

nem speziellen Kabinett werden zwei „exotischere“ Verfahren vorgestellt: die Wasserstoffproduktion aus Zucker mithilfe von Mikroorganismen und der Kraft der Wüstensonne oder die Alkoholproduktion aus Meerwasser, Kohlendioxid und dem verschwenderischen Sonnenschein südli-cher Strände. Ob diese Verfahren mehr als nur Visionen sind, wird die Zukunft zeigen.

Energie für den MenschenDie Darstellung der Ernährungs- und Ge-sundheitsthemen fällt häufig etwas plaka-tiv aus. Im Deutschen Technikmuseum wurde bewusst eine sehr sachliche Form gewählt. In einem mannshohen Monitor-turm werden die Fragen dieses Komplexes auf drei Seiten in Form von animierten Zeichentrick-Filmsequenzen behandelt. Diese stellen Zucker und Zuckeraustausch-stoffe vor, zeigen, wie sie in unserem Körper abgebaut und umgesetzt und in welcher Form sie auf Lebensmittelpackun-gen benannt werden. So können und sol-len sich die Besucher mit den nötigen Hintergrundinformationen versorgen, um

Vitrinen mit verschiedenen zuckerbasierten Werkstoffen. © SDTB/Foto: C. Kirchner

Der Monitorturm mit den Ernährungs- und Gesundheits-themen, an der Wand dahinter der Bereich Information und neue Medizin. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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Gerätschaften zur Zerkleinerung des Hutzuckers im Haushalt. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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Südamerikanische Dreiwalzen-Zuckerrohrmühle. Im Hintergrund die Vitrine mit Macheten und anderen Hackwerkzeugen. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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leuchtungselementen. Die Aufteilung des Raums geschieht ausschließlich durch die Objekte und Vitrinen, so dass der Weg durch die Ausstellung frei gewählt werden kann. Im Raum hängende Leuchtschriften setzen Akzente und leiten hin zu den ein-zelnen Ausstellungsthemen. Medienstatio-nen, Infografiken und Modelle vermitteln vertiefte Einblicke in die aufregende Welt der Zucker. Damit die Besucherinnen und Besucher entspannt alle Medienangebote nutzen können, ohne vorzeitig zu ermü-den, wurde der Raum mit eigens dafür hergestellten Hockern reichlich bestückt. Diese greifen die Fünf- und Sechseckform vieler Zuckermoleküle auf.

Die Ausstellung hat zum Ziel, den Blick der Besucher auf neue, interessante und für viele sicher überraschende Themen zu len-ken, die mit dem alltäglichen Nahrungs- und Genussmittel Zucker verbunden sind. Sie möchte darüber hinaus das große Zu-kunftspotenzial der Gesamtheit der Zucker vermitteln – weit über die Kaffeetafel oder den Coffee to go hinaus!

VOLKER KOESLING

Achard, der „Vater der Zuckerrübe“, Emil Fischer, der Begründer der Zuckerchemie, und eine Teilnehmerin eines „Damenkur-ses“ für Fabrik-Chemikerinnen von 1917. Der Besitzer einer Zuckerrohrplantage zu Beginn des 17. Jahrhunderts kommt eben-so zu Wort wie der Führer des Sklavenauf-standes auf Haiti von 1791. Auch moderne Werkstoffwissenschaftler vom Max-Planck-Institut in Golm oder der technische Leiter der Biogasanlage der Berliner Stadtreini-gung (BSR) nehmen Stellung. Die einzelnen Facetten ergeben ein Gesamtbild von der Vielschichtigkeit der Zucker.

Die neue Sicht auf den Zucker aus vielen Blickwinkeln Bei der Gestaltung der Ausstellung wurde bewusst auf Stellwände und Raumteiler verzichtet. Von jedem Punkt aus ist der gesamte Raum zu überblicken, ohne dass die Vielzahl der unterschiedlichen Eindrü-cke verwirrt. Wichtigstes Gestaltungsele-ment ist die den gesamten Raum umschlie-ßende Panoramawand mit allen Texten und Abbildungen sowie strukturierenden Be-

schoben. In beiden Fällen sind die For-schungsinstitute aber Teil eines größeren Forschungsverbundes. Das Institut in der Amrumer Straße in Berlin war damals Teil des Wissenschaftsparks der Landwirt-schaftlichen Hochschule, das Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenfor-schung heute ist Teil des Wissenschaftsparks in Potsdam-Golm.

Um an die Bedeutung des Zucker-Muse-ums als Schau- und Lehrsammlung des In-stituts für Zuckerindustrie zu erinnern, präsentiert die Ausstellung einen großen Teil der Nasspräparatesammlung in einem separaten Kabinett. Dort sind auch Schau-kästen zu den wichtigsten Schädlingen und Nützlingen der Rübe zu sehen, die 1929 speziell für den Unterricht im Institut ange-fertigt wurden.

Zeitreise für die OhrenAn 17 Hörstationen erläutern historische Persönlichkeiten und lebende Zeitgenossen ihren Bezug zum Zucker. Hier äußern sich der Entdecker des Zuckers in der Rübe, Andreas Sigismund Marggraf, Franz Carl

Installation zur Veranschaulichung der Alkoholproduktion aus Meerwasser und Sonnenlicht. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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Objekte aus der Zuckerfabrik, an der Wand dahinter Erläuterungen zum Rübenanbau. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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Ausschnitt aus der Silber-Vitrine in der Ausstellung. © SDTB/Foto: C. Kirchner

Hörstationen zu Marggraf und Achard im Übergang vom Rohr- zum Rübenzucker. © SDTB/Foto: C. Kirchner

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Rübe ist nicht gleich RübeRübe im Allgemeinen und im SpeziellenFür den Botaniker ist die Rübe im Grunde nichts anderes als eine zum Speicherorgan verdickte Hauptwurzel. Es gibt also viele verschiedene Rüben, die aber nicht beson-ders nah mit der Zuckerrübe verwandt sind. So haben beispielsweise Mohrrüben, Steck-rüben und Mairüben mit Zuckerrüben im Wesentlichen nur das namensgebende Speicherorgan gemein. Im engeren Sinn werden als Rüben aber auch Pflanzen aus der Gattung Beta bezeichnet. Die Zuckerrü-be und ihre nahen Verwandten gehören in diese Gattung. Die Rübe, Speicherorgan von Pflanzen der Gattung Beta, hat einen beson-deren Aufbau und fällt im Querschnitt durch konzentrische Ringe auf.

Zuckerrübe und VerwandtschaftNahe Verwandte der Zuckerrübe sind Fut-terrübe, Stiel- und Blattmangold sowie Rote Bete. Diese Kulturpflanzen stammen ursprünglich von der Wilden Rübe ab. Sie ist eine relativ unscheinbare Pflanze, die natürlicherweise in Europa, Nordafrika und Vorderasien vorkommt. In Europa sind die Küstenbereiche des Mittelmeeres typische Standorte für die Wilde Rübe. In Deutsch-land ist sie recht selten. Die Zuckerrübe hingegen wird intensiv in Deutschland und allgemein in den gemäßigten Breiten ange-baut. Falls nicht explizit beschrieben, ist im Folgenden mit „Rübe“ immer die Zucker-rübe beziehungsweise ihre nähere Ver-wandtschaft gemeint.

Die Sache mit der SüßeEntdeckung des RübenzuckersVon Natur aus bildet die Wilde Rübe nur eine recht mickrige Wurzel. So wurden wohl auch die ersten aus ihr entstandenen Kul-tursorten als Blattgemüse angebaut. Den-noch kamen auch Formen mit vergrößerter Wurzel auf, die als Wurzelgemüse und spä-ter vor allem als Viehfutter genutzt wurden. Erst 1747 berichtete der Berliner Chemiker Andreas Sigismund Marggraf von einer Entdeckung, die eine andere Nutzung der Rübe in Aussicht stellte. Auf der Suche nach einer heimischen Quelle für einen Ersatz des Rohrzuckers nahm er verschiedene süßlich schmeckende Wurzelgemüse im wörtlichen Sinne unter das Mikroskop. An getrockne-ten Rübenwurzelstücken erblickte er auf diese Weise Saccharose-Kristalle.

Entwicklung des RübenzuckersMarggrafs Schüler Franz Carl Achard griff diesen Nachweis auf und machte sich ab 1782 daran, geeignete Methoden für An-

aus Saccharose. Andere Pflanzen, aus de-nen Saccharose gewonnen wird, sind weit weniger bekannt. Wer hat etwa schon einmal von Zuckerhirse gehört? Neuerdings macht aus Maisstärke gewonnener Sirup Rohr und Rübe Konkurrenz.

Die Rübe wurde in Berlin als Zuckerpflan-ze entdeckt. Hier vollzog die Zuckerrübe auch die ersten Schritte auf dem Weg zur Nummer zwei der Haushaltszuckerquellen gleich nach dem Zuckerrohr.

Die neue Ausstellung „Alles Zucker!“ des Deutschen Technikmuseums zeigt, dass Pflanzen zum großen Teil aus Zuckermole-külen bestehen. Die als Haushaltszucker bekannte Saccharose wird aber nur aus wenigen Pflanzen gewonnen. Der „Markt-führer“ ist hier immer noch das Zuckerrohr. Wer kulinarisch aber nur etwas über den Tellerrand schaut, kennt Palm- und Ahorn-zucker. Genau wie Rohr- und Rübenzucker bestehen diese Zuckerarten hauptsächlich

Vom Strandgewächs zur Königin der FeldfrüchteDie Rübe im Wandel der Zeit

Das Aquarell von Wilhelm Raatz, entstanden um 1900, zeigt eine zuckerreiche Zuckerrübe. © SDTB/Foto: Historisches Archiv, Bestand Zucker-Museum

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und Verarbeitung reibungslos ablaufen kann. Außerdem behindern manche In-haltsstoffe der Rübe, die „Melassebildner“, die Extraktion der Saccharose in der Zucker-fabrik. Den Anteil dieser Stoffe gilt es zu minimieren. Zu beachten ist außerdem, dass der Ertrag, also wieviel Kilogramm Rübe pro Fläche geerntet werden, und der Zuckergehalt oft im Gegensatz zueinander stehen. Ein hoher Zuckergehalt reduziert den Ertrag, und ein hoher Ertrag geht zu Lasten des Zuckergehalts. So ordnete Wil-helm Raatz Rübensorten nach dem Verhält-nis von Ertrag und Zuckergehalt in „E“ = ertragsreich, „N“ = normal, „Z“ = zucker-reich, „ZZ“ = besonders zuckerreich“.

Einsamigkeit spart ArbeitEine Besonderheit in der Zuchtgeschichte der Zuckerrübe ergab sich durch ein lästi-ges Erbe der Wilden Rübe. Während der Samenbildung verwachsen dort benach-barte Blüten zu einem holzigen Knäuel. Da

Mangold, vielleicht auch einer besonders zuckerreichen Wilden Rübe, abstammt.

Achard setzte den Grundstein zur Steige-rung des Saccharose-Gehaltes in der Rübe. Bei Marggraf waren noch etwa 1,6 Prozent Saccharose in der Frischmasse das Höchste der Gefühle. Dank fortgesetzter Züch-tungsbemühungen können es heute um die 20 Prozent sein!

Nicht nur der Zucker zählt bei der RübenzuchtZuchtzieleAußer dem Saccharosegehalt gibt es für die Zuckerrübenzucht noch mehr zu berück-sichtigen. Neben allgemein in der Pflanzen-zucht üblichen Zielen wie einem kräftigen Wuchs, Krankheitsresistenz, Toleranz wid-riger Umweltbedingungen und Lagerfähig-keit bestehen für die Zuckerrübe darüber hinaus spezielle Zuchtziele. So muss ihre Wuchsform einer gewissen Norm entspre-chen, damit die stark industrialisierte Ernte

bau und Zuckerextraktion zu entwickeln und Rüben mit möglichst hohem Zuckerge-halt zu selektieren. Nach Untersuchungen mit Rüben unterschiedlicher Herkunft in Kaulsdorf und später Französisch Buch-holz – damals noch Vororte Berlins – sowie Versuchen zur Rübenzuckerfabrikation im Labor der Akademie der Wissenschaften in der Dorotheenstraße 10 setzte Achard den Rest seiner Bemühungen um Zuckerrübe und Rübenzucker weiter weg von Berlin fort. Auf einem Gut in Cunern im damaligen Schlesien begann er 1802 mit der Rüben-verarbeitung. Koppy, sein Mitstreiter, baute 1805 eine ähnliche Zuckerfabrik im schlesi-schen Krayn auf. Darum wird jene von Achard selektierte und auch von Koppy und seinem Sohn weiter verbreitete „Ur-Zucker-rübe“ oft als (Weiße) Schlesische Rübe be-zeichnet. Sie scheint vor allem auf eine Rü-benvariante aus dem Halberstädter Raum zurückzugehen, die wohl ursprünglich von einer Kreuzung zwischen Futterrübe und

Impressionen von Rübenfeldern aus verschiedenen Blickwinkeln und zu unterschiedlichen Tageszeiten. © Fotos: KWSs

Moderne Züchtungsarbeit findet nicht nur auf dem Feld, sondern auch im Labor statt. Hier sind auf speziellem Nährmedium künstlich herangezogene Zuckerrübenpflanzen zu sehen. © Fotos: KWS

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sich hier um konventionelle Methoden der Pflanzenzüchtung. GentechnikGentechnische Eingriffe gehen noch darü-ber hinaus und fanden auch bei der Zucker-rübe statt. So wurde ihr mit Hilfe der Gen-

Moderne PflanzenzüchtungKonventionelle PflanzenzuchtDie für die Zuckerrübe angewandten Zuchtverfahren haben sich von der einfa-chen Selektionszucht zu Achards Zeiten bis heute enorm weiterentwickelt. Die An-wendung der mendelschen Vererbungsre-geln ermöglichte gezielte Kreuzungen verschiedener Rüben. Inzwischen findet Pflanzenzucht nicht nur auf dem Feld, sondern auch im Labor statt. Sie hat sich zu einem komplexen Spezialgebiet entwi-ckelt. Wie bei vielen anderen Nutzpflanzen sind bei der Zuckerrübe inzwischen poly-ploide Sorten und Hybridsorten die Norm. Polyploidie, also das Vorhandensein des Chromosomensatzes (Chromosomen sind die Träger der Erbinformation) in mehr als zweifacher Ausführung, kommt zwar auch natürlich vor, kann aber ebenso künstlich im Labor erzeugt werden. Hybridsorten werden hergestellt, indem separate Zucht-linien zur Saatgutproduktion gekreuzt werden. Die aus diesen Samen keimenden Hybriden sind produktiver als ihre Eltern. Polyploidie geht ebenso mit einer Steige-rung der Produktivität einher. Es handelt

Zuckerrübensaatgut ursprünglich diese Ei-genschaft teilte, sprossen aus einem Saat-korn oft mehrere Keimlinge. So eng zusam-men stehende Pflänzchen würden zu stark konkurrieren. Daher musste auf dem Feld per Hand „vereinzelt“ werden, sodass nur eine Pflanze pro Knäuel stehen blieb.

Eine Zeit lang sparte man sich diese Arbeit dadurch, dass die Knäule vor der Aussaat mechanisch zerteilt wurden. Dieses Verfah-ren ist aber aufwendig und die Keimfähig-keit leidet darunter. In den 1930er Jahren aber entdeckte man in der damaligen So-wjetunion Rüben, die die Eigenschaft, mehrsamige Knäule zu produzieren, verlo-ren hatten. Aufgrund der politischen Um-stände konnte das Forscherehepaar Savits-ky die Erforschung und Nutzbarmachung dieser genetisch einsamigen Rüben aber nicht in der Heimat fortsetzten. Schließlich fand Dr. Savitsky dann in den USA 1948 erneut Rüben mit dem begehrten Saattyp, ganze fünf Exemplare auf einem Feld mit etwa 300 000 Pflanzen! Unabhängig von den Savitskys entdeckte man auch andern-orts entsprechende Rübenvarianten und begann mit Zuchtprogrammen. Schließlich konnten Rüben mit genetisch einsamiger Saat in produktive Zuckerrübenzuchtlinien eingekreuzt werden.

Das Saatgut heutiger Zuckerrüben kommt ohne mechanische Zerteilung aus. Es kann direkt mit einer Hüllmasse umgeben wer-den, die für einheitliche Größe und gleich-mäßige Rundung sorgt. Auf diese Weise entsteht ein standardisiertes Pillensaatgut, das bei der industriellen Aussaat durch die Sägeräte rollt. Die Erschaffung dieses optimierten Saatgutes ermöglichte effizi-ente Aussaat und machte eine spätere Vereinzelung überflüssig. Dies mag wie ein kleiner Schritt erscheinen, war aber ein wichtiger Faktor für das Wachstum der Rübenzuckerindustrie.

Hier werden an Blütenständen von Zuckerrübenpflanzen gezielte Kreuzungen vorbereitet. © Fotos: KWS

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Einsamiges Zuckerrübensaatgut vor der Verarbeitung zu Pillensaatgut. © Foto: R. Spierling

Geschnitzter „Rübengeist“, traditions-reicher Vorläufer der Halloween-Kürbisse. © Foto: G. Hidde

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Symbolgrafik zur Züchtung von ein-samigem Saatgut aus den 1960er Jahren von Gerda Kubigk. Die Züchter-hand bringt die Veränderung. © Foto: KWS

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sicht auf den Gehalt an Melassebildnern genommen werden. Es erfolgt ja keine Zuckerextraktion, sondern sie kommen im Ganzen in die Biogasanlage oder werden zuvor als Silage gelagert. Bei Biogas-Ener-gierüben ist der Ertrag, also wie viel Kilo-gramm Rübe pro Fläche geerntet werden, entscheidender als der Saccharosegehalt. Weil vom Winterrübenanbau insbesondere eine Ertragssteigerung erwartet wird, ist die Winter-Energierübe eine interessante Zukunftsperspektive.

AusblickeDie Rübe hat ein spezielles Eigenaroma und ist darum als Gemüse oder Sirup nicht je-dermanns Sache. Für diese erdige Note ist eine Substanz namens Geosmin verant-wortlich, die man sonst von Bodenbakteri-en kennt. Könnte man der Rübe das Geos-min wegzüchten, würde vielleicht auch brauner Rübenzucker massentauglicher.

Auch unerwartete neue Produkte aus der Rübe sind möglich. So konnte man bei-spielsweise gentechnisch Zuckerüben er-zeugen, die dank Topinambur-DNS statt Saccharose das Polysaccharid Inulin in ihrer Rübe speichern. Inulin wird unter anderem in der Lebensmitteltechnik als Ballaststoff-zusatz und medizinisch zur Nierenfunkti-onsprüfung verwendet.

Seit 2014 kennt man die Buchstaben-Reihenfolge der Rüben-Erbinformation, denn das Genom der Zuckerrübe wurde sequenziert. Diese Kenntnis kann auch dabei helfen, gezielt die genetische Vielfalt der Wilden Rübe für die Rübenzüchtung zu nutzen.

Die Rübe: Vom unauffälligen Strandge-wächs über Viehfutter und Notfallgemüse in Mangelzeiten zur hochgezüchteten Grundlage einer ganzen Industrie. Was mag die Zukunft bringen?

RENÉ SPIERLING

dann den Zucker selbst verbraucht, statt ihn brav bis zur Ernte zu speichern. Diese rebellischen Rüben fallen durch ihre hohen Blütenstände schon bei der flüchtigen Vorbeifahrt an Rübenfeldern auf. Wenn der Schosser bis zur Samenreife stehen bleibt, können sich aus den wild verstreu-ten Samen Unkrautrüben bilden. Diese konkurrieren dann mit den regulär ge-pflanzten Rüben um Platz, Wasser, Sonne und Nährstoffe.

Die Tendenz zum Schossen hat eine ge-netische Grundlage. So schossen Wilde Rüben schon im ersten Jahr. Im Zuge der Domestikation, also der Zähmung der Wil-den Rübe, kam die Zweijährigkeit der Kul-turrüben zustande. Auch bei diesen kann aber unter bestimmten Umweltbedingun-gen die Tendenz zum Blühen im ersten Jahr erhöht werden. Um die Wahrscheinlichkeit der Rüben-Revolution auf dem Acker zu vermindern, gilt es die Schossfreudigkeit durch Zucht weiterhin niedrig zu halten.

Der wichtigste Umweltfaktor zum Auslö-sen des Schossens der Zuckerrübe ist ein Kältereiz. Gelingt es den Pflanzenzüchtern, diesen „Schalter“ zu entfernen, könnten die Zuckerrüben auch über den Winter hinweg angebaut werden. Dazu wird als zweites wichtiges Zuchtziel eine Verbesse-rung der Winterhärte angestrebt. Solche Winterrüben würden dann schon im Spät-sommer oder Herbst ausgesät werden. Sie hätten im kommenden Frühjahr einen Ent-wicklungsvorsprung und könnten eine längere Phase effektiv für Wachstum und Zuckerproduktion nutzen.

EnergierübenZuckerrüben lassen sich aber nicht nur zur Gewinnung von Saccharose nutzen. Es gibt bereits spezielle Energierüben, die für die Erzeugung von Biogas optimiert wurden. Bei ihnen muss in der Züchtung keine Rück-

technik unter anderem ein bestimmtes Gen eines Bakteriums eingebaut, das sie un-empfindlich gegenüber einem speziellen Pflanzenschutzmittel macht. Dadurch sol-len beim Herbizideinsatz nur die Unkräuter angegriffen werden, nicht aber die Rüben. Die meisten der aktuell in den USA ange-bauten Zuckerrüben sind solche herbizidre-sistenten „Gen-Rüben“. Gentechnisch veränderte Rüben konnten sich bisher auf dem deutschen Markt nicht durchsetzen, und auf den Feldern deutscher Landwirte wachsen immer noch konventionell ge-züchtete Zuckerrübensorten.

Eben weil die Gentechnik mitunter beson-ders kritisch beäugt wird, werden auch für die Rübe alternative Verfahren entwickelt und eingesetzt, die das Einfügen fremder Gene umgehen, aber gleiche oder zumin-dest ähnliche Ergebnisse erzielen. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass nicht nur gentechnische Verfahren Risiken und Pro-blematiken bergen können. Auch mit den klassischen und alternativen Methoden in der Pflanzenzucht darf nicht unkritisch umgegangen werden.

Die Zukunftsrübe WinterrübenZwei wichtige Zuchtziele für neue Zucker-rübensorten haben mit deren Lebenszyklus zu tun. In ihrem ersten Jahr wächst die Zuckerrübe heran und produziert Zucker durch Photosynthese. Sie speichert ihn als Saccharose in der namengebenden Rübe. Im zweiten Jahr widmet sie sich der Ver-mehrung und bildet mit Hilfe dieses Zu-ckervorrats einen recht imposanten Blü-tenstand aus. Man spricht von Schossern und sie „schießen“ in der Tat ziemlich nach oben, bis zu mannshoch können sie wer-den. Es kommt vor, dass Zuckerrüben schon im ersten Jahr schossen. Das ist schlecht für den Landwirt, weil die Pflanze

Solche hochgewachsenen Schosser im Rübenfeld sieht der Landwirt nicht gern. © Foto: KWS

s Eine junge Energierübe wächst heran. © SDTB/Foto: R. Spierling

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Mahlzeitenhierarchie hoch bewertet. Als Abschluss einer Festmahlzeit erhielt das Dessert einen eigenständigen Rang. Likör, Limonade, Speiseeis und Pralinés verbreite-ten sich vom kulturprägenden französischen Hof aus als deliziöse Varianten der Zucker-verwendung. Die lange Zeit als luxuriös geltenden Heißgetränke Schokolade, Tee und Kaffee süßte man ab Ende des 17. Jahr-

Orient wurde seit etwa 600 n. Chr. durch Kristallisation in Hutformen fester Zucker gewonnen und von dort erstmals als Zu-ckerhut über weite Distanzen gehandelt. In Europa diente dieses kostbare Fernhan-delsgut zunächst als Gewürz und Medizin, zunehmend auch als Dekor, Konservie-rungsmittel sowie als formbare Masse für repräsentative Tafelkunst.

Zuckerhandel und -konsum nahmen spürbar zu, nachdem die Europäer den Zuckerrohranbau und die Rohrzuckerge-winnung in die eigene Hand genommen und die Zuckerrohrpflanze nebst Anbau- und Gewinnungstechnik aus dem Mittel-meerraum in die Neue Welt gebracht hat-ten. In der Karibik bauten sie eine auf Sklavenhandel und -arbeit basierende Zu-ckerwirtschaft auf.

Mit dem nun stetig wachsenden Zuckeran-gebot vervielfachten sich die Verwendungs-möglichkeiten des Zuckers, sein Gebrauch differenzierte sich, und er wurde zuneh-mend in das moderne Leben eingebettet. Im 16. Jahrhundert fand Zucker Eingang in die europäische Hofkultur und wurde wichtiger Bestandteil der barocken Tafelkunst. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden an den Höfen Verzehrformen und -regeln für den Zucker entwickelt, süße Speisen kreiert und in der

Seit rund 800 Jahren ist Zucker in Europa bekannt, aber erst in den letzten 300 Jah-ren wurde er in unser Nahrungssystem eingebunden. In dieser Zeit änderten sich Bedeutung und Funktion des Zuckers vom exotischen Luxusgut zum Genuss- und Grundnahrungsmittel sowie schließlich zum Rohstoff für die Nahrungsmittelwirt-schaft. Dieser Wandlungsprozess ist ein europäisches Phänomen und eng mit dem Entstehen unserer Industriegesellschaften verbunden. Kulturelle Muster, die Zucker bis heute attraktiv machen, wurden aller-dings bereits in der höfischen Kultur der Neuzeit gelegt. Durch den demonstrativen Konsum des Adels entstanden Begehrlich-keiten, durch die Nachahmung adligen Konsumverhaltens konnte der Zucker „sozial herabsinken“ und so im Industrie-zeitalter eine zentrale Rolle im Ernährungs-wandel spielen. Die Ausweitung des Zu-ckerkonsums folgte dabei der Logik des Marktes und wurde von der Politik, der Wissenschaft und dem Marketing mit beeinflusst.

Zucker als Luxusgut … Zunächst war der Zuckersaft aus dem asi-atischen Zuckerrohr nicht mehr als ein in-teressanter Gaumenkitzel. Im vorderen

Vom Luxusgut zum Rohstoff Zuckerkonsum und Wirtschaft im Industriezeitalter

hunderts mit Zucker, band sie in die Tisch-kultur ein und hob sie mit speziellem Ge-schirr hervor. Der Stellenwert des Zuckers wurde auf der Tafel betont: Die Zuckerdose ist bis heute fester Bestandteil der Kaffeeta-fel, Schalen und Bonbonieren zur Präsenta-tion von Backwaren oder Pralinen sind uns noch vertraut. Dieser demonstrative Zucker-luxus wertete den Zucker symbolisch auf und weckte Begehrlichkeiten.

… und verbreitetes Genussmittel Mit der Verbreitung des Tee- und Kaffeekon-sums, dessen Integration in den Tagesablauf und mit der Imitation von Konsumformen kulturprägender Gesellschaftsgruppen ge-wöhnten sich im 18. Jahrhundert immer mehr Europäer an einen regelmäßigen Zu-ckerkonsum. Der süße Tee war Medium der Teestunde im bürgerlichen Haushalt – mit Zwieback konnte er für den Arbeiter auch eine preiswerte Morgenmahlzeit sein, zu der er sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts entwickelte. Gleiches gilt für den Kaffee – die Kaffeevisite mit Kuchen im bürgerlichen Haushalt fand später ihre Nachahmer im gesüßten Surrogatkaffee mit Marmeladenbrot des Arbeiters als schneller Pausenmahlzeit und Energiezufuhr.

Rositzer Zuckerraffinerie, um 1905. © SDTB/Foto: Historisches Archiv, Bestand Zucker-Museums

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gezahlte Steuer aus. Technikeinsatz, die Verlagerung der Zuckergewinnungsprozes-se in geschlossene Systeme, das kontinuier-liche Senken des Energieeinsatzes, die Ver-besserung von Zuckergewinnungsverfahren und eine durchgehende Betriebsüberwa-chung bewirkten, dass aus „Etablisse-ments“ moderne Zuckerfabriken entstan-den. Verbesserte Anbaumethoden und Züchtung führten außerdem zu einem er-höhten Zuckergehalt in den Rüben. Die Rübenzuckergewinnung entwickelte sich zu einer der bedeutendsten Agrarindustrien.

Orientierung auf den Weltmarkt Die Produktivitätsgewinne wurden aller-dings nicht an die Konsumenten weiterge-geben. Während der Pro-Kopf-Verbrauch daher zwischen 1840 und 1860 nur lang-sam von zwei auf vier Kilogramm wuchs, nahm die angebotene Zuckermenge weit-aus schneller zu. Bereits um 1860 wurde nahezu der gesamte deutsche Zuckerbedarf mit Rübenzucker gedeckt. Erstmals drohte eine Überproduktionskrise. Gegenmaßnah-men waren nicht etwa sinkende Preise und die Ausweitung der Konsumentenschich-ten. Die politisch einflussreiche und gut or-ganisierte Branche erreichte, dass bei Export die Steuer zurückgezahlt wurde. So wurde der Zucker auf den Weltmarkt gelenkt, die wichtigsten Erzeugerländer, insbesondere Deutschland und Österreich-Ungarn, aber auch Belgien und Frankreich, wurden zu bedeutenden Zuckerexporteuren. Da für die Steuer die verarbeiteten Rüben den Aus-schlag gaben, für die Steuerrückzahlung jedoch der Zucker als Berechnungsgrundla-

entwickeln konnte, ist verschiedenen Fak-toren zuzuschreiben. Zunächst musste der Rübenzucker von den Konsumenten ak-zeptiert werden. Ausschlaggebend hierfür war nicht etwa sein „moralischer Vorteil“ gegenüber dem in Sklavenarbeit gewonne-nen „Blutzucker“, wie Zucker aus den Kolonien auch polemisch bezeichnet wur-de, sondern die Herstellung eines mit dem Rohrzucker identischen Produktes zum selben Preis.

Industriefreundliche Steuerpolitik und technische Innovationen Die unternehmerischen Anreize lieferten die hohen Gewinnmargen beim Genuss-mittel Zucker sowie dessen fiskalische Be-handlung. Mit ihrem Bedeutungsgewinn geriet die Rübenzuckergewinnung um 1840 erstmals in den Fokus der Steuerbe-hörden, die den Rückgang der Einnahmen aus dem Zuckerzoll über die Besteuerung des Rübenzuckers auszugleichen versuch-ten. Unter Mitwirkung der in dieser Zeit entstandenden Zuckerlobby handelten die meisten Länder ein System aus Einfuhrzöl-len und einer Rohmaterialsteuer aus: Be-steuert wurden die zur Verarbeitung gelan-genden Zuckerrüben und nicht der gewonnene Zucker. Das schützte die Rü-benzuckerwirtschaft vor der Konkurrenz des Rohrzuckers und regte ihre technische Entwicklung an.

Durch technische Innovationen konnten die Zuckerausbeute erhöht und so die Steu-erlast minimiert werden. Je größer die ge-wonnene Zuckermenge war, desto geringer fiel die auf die verarbeitete Rübenmenge

Durch den regelmäßigen Zuckerverzehr sank der Status des Zuckers vom kostbaren Luxusgut zum Genussmittel auch für das Bürgertum herab. Zuckerimporte machten inzwischen einen bedeutenden Posten in den Handelsbilanzen der europäischen Staaten aus, weshalb merkantilistisch ein-gestellte Ökonomen forderten, dass dieses Geld doch besser im Lande bleiben sollte. In Zucker importierenden Ländern suchte man daher seit dem 18. Jahrhundert inten-siv nach Alternativen zum Rohrzucker. Wissenschaftliche Neugier, Spekulations- und Unternehmergeist sowie – am Rande der Diskussion – auch Kritik an der Sklave-rei beflügelten die Suche.

Entwicklung der Zuckerindustrie Bereits 1747 hatte der preußische Chemi-ker Andreas Sigismund Marggraf den Nachweis eines mit dem Rohrzucker iden-tischen Zuckers in der heimischen Runkel-rübe erbracht. Ernst zu nehmender Kon-kurrent für das Zuckerrohr wurde der Rübenzucker allerdings erst ab den 1830er Jahren. Der Wirtschaftsmodernisierung verpflichtete Wissenschaftler, Agrarökono-men und -unternehmer sahen in der Run-kelrübe und ihrer Weiterverarbeitung zu Zucker im landwirtschaftlichen Nebenge-werbe eine Möglichkeit, Importe durch heimische Produkte zu ersetzen, die Agrar-wirtschaft zu modernisieren sowie die Er-träge und nicht zuletzt die eigene Grund-rente zu steigern.

Dass sich die Rübenzuckergewinnung im 19. Jahrhundert zu einer der bedeutends-ten Industrien der Ernährungswirtschaft

Bild links: Titel der ersten Ausgabe der Zeitschrift des Vereins für die Rübenzuckerindustrie von 1851. Bild rechts: Werbeanzeige für Dampfpflüge der Firma John Fowler & Co. in Magdeburg. © SDTB/Foto: Historisches Archiv, Bestand Zucker-Museum

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fanden Landwirte im Zuckerrübenanbau eine lukrative Alternative. In dieser stärks-ten Gründungsphase von Zuckerfabriken um 1880 breitete sich die Zuckerrübenkul-tur in ganz Europa aus. Zeitgleich expan-dierte auch die Rohrzuckerindustrie in Amerika und Ostasien. Die rasante Zunah-me der weltweit angebotenen Zuckermen-ge mündete 1884/85 in eine erste globale Überproduktionskrise.

Die Konzentration der Agrarwirtschaft auf den Rübenanbau, die zentrale Rolle der Zuckerrübe in den landwirtschaftlichen Betrieben und der vergleichsweise hohe Kapital- und Arbeitseinsatz brachten die Gefahr ungenügender Flexibilität in Krisen-zeiten mit sich. Zucker wurde in Europa zu einem zentralen Thema der Agrarpolitik.

Vom Genuss- zum GrundnahrungsmittelDas Zuckerangebot und die Überprodukti-onskrisen führten erstmals in der Geschich-te zu einem spürbaren Sinken der Zucker-preise. Durch diese Preissenkungen und

Die Einbindung der Zuckerrübe in die mo-derne Fruchtwechselwirtschaft, die ertrags-steigernden Effekte durch den arbeitsinten-siven Rübenanbau auch für Folgekulturen, die Verwertung der Nebenprodukte als Viehfutter und Dünger sowie nicht zuletzt der Zuckerverkauf hoben die Grundrenten spürbar an: Die Zuckerrübe galt als „Köni-gin der Feldfrüchte“ und Leitkultur der modernen, kapitalistischen Landwirtschaft. Agrarunternehmer, die zugleich Rübenzu-ckerfabrikanten waren, hatten an diesem Transformationsprozess den stärksten An-teil und zählten in den Zentren der Rüben-zuckerindustrie zur Wirtschaftselite.

Die weitere technische Entwicklung hin zum nach wissenschaftlichen Methoden geführten Großbetrieb und weitere Fort-schritte in Saatzucht und Rübenkultur er-möglichten die Ausweitung des Zuckerrü-benanbaus auch auf Regionen, in denen Klima und Bodenqualität für den Rübenan-bau bislang als ungeeignet galten. Nach dem Preisverfall für Getreide, Hauptauslö-ser für die Agrarkrise der 1870er Jahre,

ge genommen wurde, war für effiziente Unternehmen eine Mehrzahlung möglich, die sich zu einer indirekten Exportprämie auswuchs. Diese zusätzliche Gewinnoption führte zu einer Beschleunigung der techni-schen Entwicklung und einer stärkeren Orientierung hin auf den Weltmarkt.

Leitkultur der modernen LandwirtschaftDie Rübenzuckerindustrie erlebte ihre Gründerzeit Mitte der 1830er bis Anfang der 1870er Jahre und damit in der ersten Phase der Industrialisierung. In einigen Regionen war sie die erste nennenswerte Industrie überhaupt und hier Auslöser für weitere wirtschaftliche Entwicklungspro-zesse. Der Arbeitsmarkt erhielt Impulse durch den höheren Arbeitsaufwand beim Zuckerrübenanbau und der im Herbst und Winter erfolgenden Rübenverarbeitung in den Zuckerfabriken. In den Zentren der Rübenzuckerindustrie entstand ein bedeu-tender Spezialmaschinenbau für Zuckerge-winnungstechnik.

Bild links: Werbeanzeige der Maschinenfabrik Halle. Bild rechts: Propagierung des Zuckers als Energiespender „Zucker gibt Kraft“. Motiv einer Plakatkampagne des Vereins der deutschen Zuckerindustrie, eingesetzt 1900 – 1918. © SDTB/Foto: Historisches Archiv, Bestand Zucker-Museum

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Durch den Ernährungs- und Kulturwandel im Industriezeitalter wurde Zucker in diesen Jahren vom Genuss- zum Grundnahrungs-mittel umdefiniert. Dabei spielten verschie-dene Faktoren eine Rolle. So stiegen im 19. Jahrhundert die Kosten für Nahrung – nur der Zuckerpreis sank beständig –, so dass Zucker zunehmend andere Kalorien ersetzte. Zu einer Aufwertung zuckerhalti-ger Speisen führte auch die Bedeutung des Faktors Zeit, der in den Industriegesell-schaften zur Zubereitung der Nahrung nun zur Verfügung stand. Eine zentrale Rolle spielte auch das Zuckermarketing. Zielte die Zuckerwirtschaft mit ihren ersten Mar-ketingaktivitäten lediglich darauf ab, die Konkurrenz des 1878 entdeckten Saccha-rins auszuschalten, griff sie angesichts der Überproduktionskrisen in den 1880er Jah-ren bereits die Erkenntnisse der noch jun-gen Ernährungswissenschaft auf, um ge-zielt neue Konsumentenschichten zu erschließen.

Führende Mediziner propagierten den Zucker als preiswerten Energielieferanten und zentralen Baustein der menschlichen Ernährung. Ende des 19. Jahrhunderts wurde so der Topos vom „Energielieferan-ten Zucker“ geboren und in wissenschaft-lichen Publikationen, Schul- und Kochbü-chern sowie der Reklame verbreitet. Aufgegriffen wurden diese Erkenntnisse auch durch den Staat, der Zucker ab Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend in der Armen-, Gefängnis- oder Armeespeisung einsetzte. Immer breitere Bevölkerungs-schichten gewöhnten sich so an den alltäg-lichen Zuckerkonsum.

Auch die Industrie stellte sich mehr und mehr auf die Verbraucher ein. Der harte Zuckerhut, von dem man mühsam Zucker-brocken absägen oder abhacken musste, wurde mit Hilfe neuer Kristallisationsver-fahren durch verbraucherfreundlichen Kris-tallzucker sowie ab den 1880er Jahren durch preiswerten Würfelzucker ersetzt.

Europäischer Binnenmarkt, neue KonsumentenschichtenDie Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Konzentration der europäischen Zuckerpro-duzenten auf ihren Binnenmarkt verstärkte sich nach der 1902 abgeschlossenen Brüs-seler Zuckerkonvention. Mit diesem Han-delsabkommen beendeten die wichtigsten Zuckerproduzenten der Welt einen seit der globalen Zuckerkrise 1884/85 anhaltenden ruinösen Wettbewerb. Überschüsse – das Deutsche Reich exportierte Mitte der 1890er Jahre fast doppelt soviel Zucker als seine Bevölkerung konsumierte – wurden bis da-

War der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland zunächst moderat von rund zwei Kilogramm 1840 auf fünf Kilogramm 1870 und knapp sieben Kilogramm am Vorabend der Zuckerkrise von 1884/85 angestiegen, schnellte er 1890 auf über zehn Kilogramm hoch, um sich bis zum Ersten Weltkrieg nochmals zu verdoppeln.

einen in dieser Zeit wachsenden Wohlstand in den Industriestaaten konnten sich nun immer mehr Menschen Zucker überhaupt erst leisten. Ab den 1880er Jahren wurde Zucker zum Grundnahrungsmittel umge-deutet und spielte bei der Umstellung der Ernährung breiter Bevölkerungsschichten im Industriezeitalter eine zentrale Rolle.

Grafik zur Preisentwicklung des Zuckers 1800–1914. © Grafik: D. Schaal nach Jacobs, A./Richter, H.: Die Großhandelspreise in Deutschland von 1792 bis 1934. Berlin 1935

Konsum und Absatzentwicklung auf dem deutschen Zuckermarkt. © Grafik: D. Schaal nach Bartens/Mosolf: Zuckerwirtschaft in Europa; F. O. Licht, Weltzucker-Statistik

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porte nach dem Ersten Weltkrieg und eine zunehmende Überproduktion. Der Ver-band bestimmte 1927 seine Ziele und Maßnahmen zur Hebung des Zuckerver-brauchs neu und legte sein Marketing in die Hände von Werbefachleuten. Erstmals wurde 1929 in den USA und seit 1931 auch in Deutschland Marktforschung betrieben, und darauf aufbauend wurden Marketing-konzepte entwickelt. Zentrale Strategien waren die „Aufklärung“ über die Bedeu-tung des Zuckers für die Ernährung und die Propagierung von Verwendungsmöglich-keiten des Zuckers im Haushalt, insbeson-dere dem Konservieren von Obst und Früchten durch Einkochen.

Das Marketing beschränkte sich nicht nur auf Plakatkampagnen und Annoncen, in denen Zucker als Energiespender und Grundnahrungsmittel propagiert wurde. Im Auftrag oder unter Mitwirkung der Zu-ckerwirtschaft wurden „Kulturfilme“ für Kino- und Schulaufführungen produziert. In Schulbüchern finden sich Inhalte des Zuckermarketings und der Ernährungswis-senschaft wieder, ebenso in Rezeptbüchern und Hausfrauenkursen. In der Mangel- und Autarkiewirtschaft waren die Grenzen zwischen Industrie- und Staatspropaganda fließend. Ab 1933 bettete der nationalso-zialistische Reichsnährstand das Thema Zucker in seine Autarkie- und Agrarpropa-ganda ein.

Europäische und globale Agrarpolitik Das Zuckermarketing stand auch nach dem Zweiten Weltkrieg im Dienst der staatli-chen Agrar- und Versorgungspolitik und nicht etwa einer gesundheitsorientierten und sozialen Ernährungspolitik. So zielte die 1968 eingeführte EU-Zuckermarktord-nung in erster Linie darauf ab, den Rüben-bauern ein gesichertes und planbares Einkommen zu bieten, die Bevölkerung zuverlässig mit Zucker zu versorgen und Überproduktionskrisen zu vermeiden. Bis heute wird das Thema Zucker in Europa in erster Linie agrarpolitisch bewertet. Auf dem europäischen Zuckermarkt haben Agrarlobby und Politik mehr Einfluss auf die Agrar- und Verbrauchergesetzgebung als Verbraucherorganisationen. Die Agrar-politik trägt dadurch wenig dazu bei, er-nährungspolitische Ziele umzusetzen. Auch die stufenweise Abschaffung der Europäischen Zuckermarktordnung und Öffnung des europäischen Marktes für Zuckerimporte seit 2006 verfolgt keine ernährungspolitischen Ziele, sondern ist Teil weltweiter Handelsabkommen.

Unmittelbar nach 1902 ist auch ein Grün-dungsboom zuckerverbrauchender Indust-rien wie der Marmeladen- und Süßwaren-herstellung zu verzeichnen. Zucker war spätestens auf den Lebensmittelmarken im Ersten Weltkrieg auch offiziell zum Grund-nahrungsmittel „herabgesunken“.

Überproduktion und modernes Marketing Ende der 1920er Jahre weitete die deut-sche Zuckerwirtschaft über ihren Branchen-verband das Zuckermarketing aus. Anlass waren die erstmals stark rückläufigen Ex-

hin zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt gelenkt. Alle Markteilnehmer zahlten indi-rekte oder direkte Exportprämien, die wie-derum durch hohe Inlandspreise finanziert wurden. Mit der Brüsseler Zuckerkonvention wurden Exportprämien verboten, zugleich aber die nationalen Zuckermärkte vor aus-ländischer Konkurrenz geschützt. Wollte die Zuckerwirtschaft nicht schrumpfen, musste sie sich neue Konsumentenschichten auf ihrem jeweiligen Binnenmarkt erschließen. Was sie auch tat: So stieg in Deutschland der Pro-Kopf-Verbrauch von 13 Kilogramm (1900) auf über 21 Kilogramm (1910) an.

Rezeptbroschüre der Zuckerindustrie zur Verbreitung von Zuckerspeisen, 1928. © SDTB/Foto: Historisches Archiv, Bestand Zucker-Museum

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als Symbol für falsche Ernährung herhalten. Wurden in den 1970er Jahren die künstli-chen Süßstoffe, einst Surrogat für den teuren Zucker, zum Symbol für gesund-heitsbewusstes Leben umgedeutet, gilt heute unraffinierter, brauner Zucker in ei-nigen Kreisen als gesund, ökologisch und als Alternative zum weißen „Industriezu-cker“ – einst stand weißer Zucker für Qua-lität, Reinheit und Unverfälschtheit.

Zucker dient heute auch wieder der (mo-ralischen) Distinktion. In den Großstadtmi-lieus, in Kaffeebars, Szenelokalen, Bio-Geschäften, ja mittlerweile sogar in klassischen Kaffeehäusern wird heute Rohrzucker, entweder teilweise oder nicht raffiniert, angeboten. Einst haben die Bauern in Pieter Bruegel d. Ä. Gemälde „Bauernhochzeit“ von 1568 nicht voll-ständig gereinigten braunen Zucker auf ihren Hirsebrei gestreut, um sichtbar zu machen, dass man den teuren Zucker be-nutzt. Heute wird über den „richtigen“ Zuckerkonsum demonstriert, dass man sich zur gesellschaftlichen Avantgarde, zum konsumkritischen, verantwortungs-vollen Teil der Gesellschaft zählt. Durch den eigenen Verbrauch von Rohrzucker oder von aus der Steviapflanze gewonne-nem Süßstoff wird auch Kritik geübt und eher symbolisch versucht, faire Wirt-schaftsbeziehungen mit der Dritten Welt herzustellen. Interessant ist dabei, dass das Süßen als solches damit nicht in Frage gestellt wird.

DIRK SCHAAL

LiteraturLippmann, Edmund O. von: Geschichte des Zu-ckers seit der ältesten Zeit bis zum Beginn der Rübenzucker-Fabrikation. Ein Beitrag zur Kul-turgeschichte. 2. Aufl. Leipzig 1929 (Nachdr. 1970).

Mintz, Sidney W.: Die süße Macht. Kulturge-schichte des Zuckers. Frankfurt/M., New York 1987.

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Wiegelmann, Günter: Zucker und Süßwaren im Zivilisationsprozeß der Neuzeit. In: Unsere tägli-che Kost. Geschichte und regionale Prägung, hg. v. Hans-Jürgen Teuteberg u. Günter Wie-gelmann. Münster 1988 (S. 135–153).

land bei 36 Kilogramm eingepegelt, in der Schweiz liegt er bei 46, in Australien bei 60 Kilogramm – führend sind Brasilien mit 64 und Kuba mit 70 Kilogramm. Kulturen, in denen Zucker bislang keine Rolle spiel-te, imitieren mit zunehmendem Wohl-stand europäische Konsummuster: So ist China derzeit ein Wachstumsmarkt für die Süßwarenindustrie.

In unserer Überflussgesellschaft ist Zucker kulturell entwertet worden und hat sich zur Projektionsfläche für Kulturkritik entwi-ckelt. Er wird als Krankmacher, Suchtmittel oder Dickmacher angeprangert und muss

Zucker als RohstoffIn den letzten 45 Jahren hat sich die Ver-brauchsstruktur in den Industriestaaten grundlegend gewandelt. Der Markt für Haushaltszucker wuchs in Deutschland zwar noch bis Ende der 1970er Jahre, je-doch explodierte der Zuckerverbrauch in der Nahrungsmittelindustrie geradezu. Zucker ist heute ein Rohstoff für die industrielle Herstellung von Getränken, Süß- und Dau-erbackwaren oder Fertiggerichten, er süßt, konserviert und dient als Geschmacksträger.

In den letzten fünfzehn Jahren hat sich der Jahres-Pro-Kopf-Verbrauch in Deutsch-

Titelblatt der satirischen Zeitschrift „Der wahre Jacob“ vom 31. März 1896. © SDTB/Foto: Historisches Archiv, Bestand Zucker-Museum

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