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Vorlesung „Ethische Begründungsansätze“: SoSe 2009 – PD Dr. Dirk Solies
Begleitendes Thesenpapier – nur für Studierende gedacht!
Friedrich Nietzsche
Moralkritik als Moralbegründung
„Immoralismus“ als Anti-Moral?
Herren- und Sklavenmoral (Jenseits von Gut und Böse)
Historie als Subversion: Genealogie der Moral
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Nietzsches frühe „Artisten-Metaphysik“ (in der Geburt der Tragödie):
„Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“.1
Sinnproblematik hier als Rechtfertigungsproblem interpretiert
nur durch Kunst und Poesie zu leisten:
Verklärung der Welt
apollinisch – dionysisch
„Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“
1 GT KSA 1, 47
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FW, Viertes Buch, 125:
Der tolle Mensch. — Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne
anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ — Da dort gerade
Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er
denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er
sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? — so schrieen und lachten
sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin
ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!
Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm,
um den ganzen Horizont wegzuwischen? *…+ Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und
Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, — wer wischt diess Blut von
uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden
wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern
werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, — und wer nur immer nach uns
geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ —
Tod Gottes als Ereignis (nicht etwa als vorsätzliche Tat des tollen Menschen)
wird nachträglich festgestellt
„toller“ Mensch – Gottsucher (i. d. 1. Fassung: Zarathustra)
Die anderen Menschen: Spott, Hohn – aber auch Mörder Gottes
Das Motiv „Gottes Tot“ im Zarathustra
Was bedeutet der Tod Gottes?
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Die Gefangenen. — Eines Morgens traten die Gefangenen in den Arbeitshof; der Wärter fehlte. Die Einen von
ihnen giengen, wie es ihre Art war, sofort an die Arbeit, Andere standen müssig und blickten trotzig umher. Da
trat Einer vor und sagte laut: „Arbeitet, so viel ihr wollt oder thut Nichts: es ist Alles gleich. Eure geheimen
Anschläge sind an’s Licht gekommen, der Gefängnisswärter hat euch neulich belauscht und will in den
nächsten Tagen ein fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr kennt ihn, er ist hart und
nachträgerischen Sinnes. Nun aber merkt auf: ihr habt mich bisher verkannt; ich bin nicht, was ich scheine,
sondern viel mehr: ich bin der Sohn des Gefängnisswärters und gelte Alles bei ihm. Ich kann euch retten, ich
will euch retten; aber, wohlgemerkt, nur Diejenigen von euch, welche mir glauben, dass ich der Sohn des
Gefängnisswärters bin; die Uebrigen mögen die Früchte ihres Unglaubens ernten.“ „Nun, sagte nach einigem
Schweigen ein älterer Gefangener, was kann dir daran gelegen sein, ob wir es dir glauben oder nicht glauben?
Bist du wirklich der Sohn und vermagst du Das, was du sagst, so lege ein gutes Wort für uns Alle ein: es wäre
wirklich recht gutmüthig von dir. Das Gerede von Glauben und Unglauben aber lass’ bei Seite!“ „Und, rief ein
jüngerer Mann dazwischen, ich glaub’ es ihm auch nicht: er hat sich nur Etwas in den Kopf gesetzt. Ich wette,
in acht Tagen befinden wir uns gerade noch so hier wie heute, und der Gefängnisswärter weiss Nichts.“ „Und
wenn er Etwas gewusst hat, so weiss er’s nicht mehr“, sagte der Letzte der Gefangenen, der jetzt erst in den
Hof hinabkam; „der Gefängnisswärter ist eben plötzlich gestorben“. — Holla, schrien Mehrere durcheinander,
holla! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erbschaft? Sind wir vielleicht jetzt deine Gefangenen? — „Ich
habe es euch gesagt, entgegnete der Angeredete mild, ich werden Jeden freilassen, der an mich glaubt, so
gewiss als mein Vater noch lebt“. — Die Gefangenen lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und liessen
ihn stehen.2
Parabel – Problem von Nihilismus und Sinnhaftigkeit 2 MA II, WS 84
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„Gott ist todt“:
Problem des „Schwergewichts“ (ewiger Wiederkehr)
Problem der Moral:
Projekt der „Genealogie der Moral“:
Vorrede:
„Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe
nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine
Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich
entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als
Krankheit, als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als
Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt
worden ist.“3
Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht«.
Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes.
Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?
Genealogie nicht als wissenschaftliche Methode, sondern als Methode der Subversion!
3 KSA 5, S. 253.
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Oberflächlichkeit des Bewusstseins:
„Alles, was in Bewußtsein tritt, ist das letzte Glied einer Kette, ein Abschluß. Daß ein Gedanke
unmittelbar Ursache eines anderen Gedankens wäre, ist nur scheinbar. Das eigentlich verknüpfte
Geschehen spielt <sich> ab unterhalb unseres Bewußtseins: die auftretenden Reihen und
Nacheinander von Gefühlen Gedanken usw. sind Symptome des eigentlichen Geschehens! – Unter
jedem Gedanken steckt ein Affekt. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jeder Wille ist nicht geboren aus
Einem bestimmten Triebe, sondern er ist ein Gesamtzustand, eine ganze Oberfläche des ganzen
Bewußtseins und resultirt aus der augenblicklichen Macht-Feststellung aller der uns constituirenden
Triebe – also des eben herrschenden Triebes sowohl als der ihm gehorchenden oder
widerstrebenden. Der nächste Gedanke ist ein Zeichen davon, wie sich die gesammte Macht-Lage
inzwischen verschoben hat.“4
► Mensch wird zum Zuschauer einer Aufführung, deren Gründe und Hintergründe ihm
prinzipiell unzugänglich sind
► N.s Kritik des „Ich denke“ (Descartes‘ Cogito)
► Subversierende Kritik von Rationalität und Intellekt
4 KSA 12, 1 [61], S. 26.
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Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz zum Irrthum, sondern die Stellung gewisser
Irrthümer zu anderen Irrthümern, etwa daß sie älter, tiefer einverleibt sind, daß wir ohne
sie nicht zu leben wissen und dergleichen.5
Wahrheit und Irrtum
»Gut und Schlecht« - Moral der Vornehmen, „Herrenmoral“
»Gut und Böse« - Sklavenmoral, „moralisierend“ – Ressentiment
5 KSA 11, 34 [247], S. 504 (die zitierte Stelle ist als Anmerkung in Klammern dem laufenden Text hinzugefügt).
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Götzen-Dämmerung: Die vier grossen Irrthümer
Vom Traume auszugehn: einer bestimmten Empfindung, zum Beispiel in Folge eines fernen Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache untergeschoben (oft ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Träumende die Hauptperson ist). Die Empfindung dauert inzwischen fort, in einer Art von Resonanz: sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu treten, – nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als „Sinn“. Der Kanonenschuss tritt in einer causalen Weise auf, in einer anscheinenden Umkehrung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelnheiten, die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss folgt…6
„Ursachentrieb“: „Die Vorstellungen, welche ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als Ursache
desselben missverstanden“.7
Leibliches „Sichbefinden“ ist das Primäre
Gedanken das Sekundäre
„Es genügt uns niemals, einfach bloss die Thatsache, dass wir uns so und so befinden,
festzustellen: wir lassen diese Thatsache erst zu, – werden ihrer bewusst –, wenn wir ihr eine Art
Motivirung gegeben haben“.8
Bewusstsein als Ordnungs- und Orientierungsfunktion 6 Götzen -Dämmerung , KSA 6, S. 92. 7 Götzen -Dämmerung , KSA 6, S. 92. 8 Götzen -Dämmerung , KSA 6, S. 92.
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Nietzsches Projekt einer Umwertung der Werte:
Zarathustra:
Die drei Verwandlungen:
Kamel → Löwe → Kind
„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, - ein Seil über
einem Abgrunde.“
Aufbruchsmetaphorik
Riskiertheit, Gefährdetheit des Menschen
Transitorische Bestimmung
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Nietzsches Programm der „Umwerthung aller Werthe“
urspr. »Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums« erscheint als »Umwertung
aller Werte I«
Nietzsches Werteproblematik:
„Tod Gottes“ meint immer auch Obsoletwerden von moralischen Vorstellungen
Nihilismusproblematik
Nihilismus der Stärke – Nihilismus der Schwäche:
Den „Schatten Gottes“ besiegen:
„endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist,
endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes
Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen
da, vielleicht gab es noch niemals ein so "offnes Meer." —9
Wagnis, Aufbruch, Heiterkeit, Kampf gegen „die Schwere“
9 FW 343
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Nietzsches radikale Kritik der christlichen Moral (Antichrist 15):
Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christenthume mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit.
Lauter imaginäre Ursachen („Gott“, „Seele“, „Ich“ „Geist“, „der freie Wille“ — oder auch „der unfreie“); lauter
imaginäre Wirkungen („Sünde“, „Erlösung“, „Gnade“, „Strafe“, „Vergebung der Sünde“). Ein Verkehr zwischen
imaginären Wesen („Gott“ „Geister“ „Seelen“); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropocentrisch; völliger
Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen) eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Missverständnisse,
Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus
sympathicus mit Hülfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie, — „Reue“, „Gewissensbiss“,
„Versuchung des Teufels“, „die Nähe Gottes“); eine imaginäre Teleologie („das Reich Gottes“, „das jüngste
Gericht“, „das ewige Leben“). *…+ — jene ganze Fiktions-Welt hat ihre Wurzel im Hass gegen das Natürliche (—
die Wirklichkeit! —), sie ist der Ausdruck eines tiefen Missbehagens am Wirklichen… Aber damit ist Alles
erklärt. Wer allein hat Gründe sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der
Wirklichkeit leiden heisst eine verunglückte Wirklichkeit sein… Das Übergewicht der Unlustgefühle über die
Lustgefühle ist die Ursache jener fiktiven Moral und Religion: ein solches Übergewicht giebt aber
die Formel ab für décadence…
Pessimismusproblem (Schopenhauer) kulturkritisch gewendet
Positive Geltung des Pessimismus vs. Weltflucht, „Hinterweltlerei“
beruht auf Selbstmissverständnissen!
Rolle der Naturwissenschaft – Aufklärung!
Zum Teil Anerkennung der hist. Gestalt Jesu, aber auf dessen Inkonsequenz hingewiesen
Im AC auch teilweise Anerkennung des Buddhismus, aber Weltflüchtigkeit kritisiert
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Tugenden und Laster:
Wer da segnen lehrte, der lehrte auch fluchen: welches sind in der Welt die drei bestverfluchten
Dinge? Diese will ich auf die Wage thun.
Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht: diese Drei wurden bisher am besten verflucht und am
schlimmsten beleu- und belügenmundet, — diese Drei will ich menschlich gut abwägen. *…+
Wollust: allen busshemdigen Leib-Verächtern ihr Stachel und Pfahl, und als „Welt“ verflucht bei
allen Hinterweltlern: denn sie höhnt und narrt alle Wirr- und Irr-Lehrer. *…+
Wollust: für die freien Herzen unschuldig und frei, das Garten-Glück der Erde, aller Zukunft
Dankes-Überschwang an das Jetzt.
Wollust: nur dem Welken ein süsslich Gift, für die Löwen-Willigen aber die grosse Herzstärkung,
und der ehrfürchtig geschonte Wein der Weine. *…+
Herrschsucht: doch wer hiesse es Sucht, wenn das Hohe hinab nach Macht gelüstet! Wahrlich,
nichts Sieches und Süchtiges ist an solchem Gelüsten und Niedersteigen! *…+
Oh wer fände den rechten Tauf- und Tugendnamen für solche Sehnsucht! „Schenkende Tugend“
— so nannte das Unnennbare einst Zarathustra.
Und damals geschah es auch, — und wahrlich, es geschah zum ersten Male! — dass sein Wort
die Selbstsucht selig pries, die heile, gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt: —
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Zarathustras „Seligsprechung“ der Selbstsucht:
— aus mächtiger Seele, zu welcher der hohe Leib gehört, der schöne, sieghafte, erquickliche, um
den herum jedwedes Ding Spiegel wird:
— der geschmeidige überredende Leib, der Tänzer, dessen Gleichniss und Auszug die selbst-
lustige Seele ist. Solcher Leiber und Seelen Selbst-Lust heisst sich selber „Tugend.“
Mit ihren Worten von Gut und Schlecht schirmt sich solche Selbst-Lust wie mit heiligen Hainen;
mit den Namen ihres Glücks bannt sie von sich alles Verächtliche.
Von sich weg bannt sie alles Feige; sie spricht: Schlecht — das ist feige! Verächtlich dünkt ihr der
immer Sorgende, Seufzende, Klägliche und wer auch die kleinsten Vortheile aufliest.
Sie verachtet auch alle wehselige Weisheit: denn, wahrlich, es giebt auch Weisheit, die im
Dunklen blüht, eine Nachtschatten-Weisheit: als welche immer seufzt: „Alles ist eitel!“
Das scheue Misstrauen gilt ihr gering, und Jeder, wer Schwüre statt Blicke und Hände will: auch
alle allzu misstrauische Weisheit, — denn solche ist feiger Seelen Art.
Geringer noch gilt ihr der Schnell-Gefällige, der Hündische, der gleich auf dem Rücken liegt, der
Demüthige; und auch Weisheit giebt es, die demüthig und hündisch und fromm und
schnellgefällig ist.
Positive Verwendung des Tugendbegriffes (virtu, „Renaissance-Stil“), aber andere Tugend
Moral als Selbstverleugnung, Rache an „der Wirklichkeit“
„Demut“ als Selbstverleugnung
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Jenseits von Gut und Böse, 5. Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral
Forderung nach einer Wissenschaft der Moral
Typenlehre der Moral
Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der lachen macht, von sich etwas
sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres, Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft
befassten: sie wollten die Begründung der Moral, — und jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die
Moral begründet zu haben; die Moral selbst aber galt als „gegeben“. *…+In aller bisherigen
„Wissenschaft der Moral“ fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral
selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die
Philosophen „Begründung der Moral“ nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte
gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues Mittel
ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im
letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: —10
Moral als Problem
„Moralität der Moral“
10 JGB 186
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Nietzsches Kritik an Kants KI:
mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben;
manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: „was an
mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, — und bei euch soll es nicht anders
stehn, als bei mir!“ — kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte.11
Problem der Willensfreiheit, moralrelevant gewendet:
Affekte „commandiren“
Vernunft als „Werkzeug“
Moral als Tyrannei gegen die Natur (auch im positiven Sinne!)
11 JGB 187
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Nietzsches Interpretation der „Vorurteilsbeladenheit der (moralischen) Wahrnehmung“:
Das Neue findet auch unsre Sinne feindlich und widerwillig; und überhaupt herrschen schon bei den
„einfachsten“ Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht, Liebe, Hass, eingeschlossen die passiven
Affekte der Faulheit. — So wenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich
abliest — er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und „erräth“ den zu diesen
fünf Worten muthmaasslich zugehörigen Sinn —, eben so wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig,
in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu
phantasiren. Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: wir erdichten uns den
grössten Theil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als „Erfinder“ irgend einem Vorgange
zuzuschauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters her — an’s Lügen gewöhnt. Oder, um es
tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man weiss.
— In einem lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der Person, mit der ich rede, je nach dem
Gedanken, den sie äussert, oder den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und feinbestimmt vor mir,
dass dieser Grad von Deutlichkeit weit über die Kraft meines Sehvermögens hinausgeht: — die Feinheit des
Muskelspiels und des Augen-Ausdrucks muss also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich machte die
Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins.
„Lügen“ wertfrei interpretiert
Ausdrucksverstehen als rapport psycho-motrice
im moralischen Kontext: Affekte verstellen Blick auf moralische Phänomene
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Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihres „Glückes“, wie es heisst, — was
sind sie Anderes, als Verhaltungs-Vorschläge im Verhältniss zum Grade der Gefährlichkeit, in welcher die
einzelne Person mit sich selbst lebt; Recepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so
fern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten;12
Tugend als selbstwählender Umgang mit den Affekten
Kritik an generalisierendem Anspruch der Tugenden: „weil sie sich an „Alle“ wenden, weil sie generalisiren,
wo nicht generalisirt werden darf“
Das ist Alles, intellektuell gemessen, wenig werth und noch lange nicht „Wissenschaft“, geschweige denn
„Weisheit“, sondern, nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit, gemischt mit Dummheit,
Dummheit, Dummheit, — sei es nun jene Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der
Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten; oder auch jenes Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-
Weinen des Spinoza, seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion
derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt
werden dürfen, der Aristotelismus der Moral13
12 JGB 198 13 JGB 198
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„Mensch aus einem Auflösungs-Zeitalter“ als schwächerer Mensch:
sein gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe; das Glück erscheint
ihm, in Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder christlichen) Medizin und
Denkweise, vornehmlich als das Glück des Ausruhens, der Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als
„Sabbat der Sabbate“, um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden, der selbst ein solcher Mensch war. —
Wirkt aber der Gegensatz und Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr —, und ist
andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im
Kriegführen mit sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt und angezüchtet: so entstehen
jene zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten
Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck Alcibiades und Caesar ( — denen ich gerne jenenersten Europäer
nach meinem Geschmack, den Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern
vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit
seinem Verlangen nach Ruhe, in den Vordergrund tritt: beide Typen gehören zu einander und entspringen den
gleichen Ursachen.
Moderne als Auflösungs-Zeitalter
Schwäche auch als Chance: Perspektivität
Moral nicht als „Heerdenthier-Moral“, sondern persönliche Selbstwahl
Fortentwicklung der „Cultur“:…