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Schussverletzungen verursachen Ge-webezerreißungen und sind fast immermit Frakturen bzw. Zertrümmerungendes Gesichtsskeletts verbunden. DieGewebsverletzung oder -zerstörung istabhängig von der Geschwindigkeitund der Größe, aber auch von der Formund dem Aufschlagwinkel des Ge-schosses. Darüber hinaus könnendurch den Aufprall entstehende Hart-gewebefragmente wie Knochensplitteroder Zahnteile zu Sekundärgeschossenwerden und ihrerseits weitere Gewebs-zertrümmerungen verursachen.

Der tatsächliche Gewebsverlust istbesonders bei älteren Verletzungennicht immer leicht abzuschätzen, oftaber geringer als der primäre Aspekterscheinen lässt, da die Weichteil- undKnochenfragmente meist weit ausein-ander klaffen, und zwar einerseitsdurch das Gewicht der abgelöstenWeichteilmassen und Skelettanteileund andererseits durch Ödem und Ent-zündungserscheinungen.

Durch die unterschiedliche Ausprä-gung dieser Verletzungen kann bei ih-rer Therapie ein weit gefächertes Spek-trum von der einfachen Osteosyntheseund dem unkomplizierten Weichteil-verschluss bis zu aufwendigen Metho-den der Hartgewebe- und Weichteilre-konstruktion notwendig werden.

Historische Entwicklung

Schon verhältnismäßig kurz nach derEinführung von Handfeuerwaffenschrieb Giovanni da Vigo (1460–1525)in seinem Werk „Practica copiosa inarte chirurgica“, dass Schusswundengiftig seien. Aus dem fälschlich Hip-pokrates zugeschriebenen Lehrsatz„Wunden, die nicht durch Eisen heil-bar sind, sind durch Feuer heilbar“wurde geschlossen, dass Schusswun-den mit siedendem Öl behandelt wer-den müssten. Ambroise Paré (1510–1590), einem der Väter der Chirurgieder Neuzeit, blieb es vorbehalten, dieSinnlosigkeit dieses Unterfangens zubeweisen und modernere Methoden

Mund Kiefer GesichtsChir (2000) 4 [Suppl 1]:S134–S141 © Springer-Verlag 2000

Schussverletzungen

Bernd GattingerAbteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Allgemeines öffentliches Krankenhaus Linz

Prof. Dr. B. Gattinger, Vorstand der Abteilungfür Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, All-gemeines öffentliches Krankenhaus Linz, Kran-kenhausstraße 9, 4020 Linz, Österreiche-mail: [email protected], Tel.: 0043-732-78062124,Fax: 0043-732-78062123

Zusammenfassung

Schussverletzungen verursachenmeist eine erhebliche Gewebszer-störung. Sie beinhalten fast immerauch Frakturen und Defekte desSkeletts. Die Verletzung hängt vonder Geschwindigkeit, der Größe,der Gestalt und dem Aufprallwin-kel des Geschosses ab. Darüberhinaus kann durch Abriss vonHartgewebefragmenten eine Se-kundärgeschossbildung entstehen,die weitere Zerstörung verursacht.Die bei der Versorgung dieserWunden anzuwendenden Behand-lungsprinzipien beruhen auf Er-fahrungen, die v. a. im 1. und 2.Weltkrieg gemacht wurden undteilweise noch heute gültig sindwie z. B. Versorgung von innennach außen, Fixation der Kno-chenfragmente in ihrer anato-misch richtigen Position und früh-zeitiger Wundverschluss. Auf demGebiet der Rekonstruktion aller-dings wurden erhebliche Fort-schritte durch die Einführung neu-er Operationstechniken erzielt, so-dass bessere funktionelle undästhetische Ergebnisse erreichtwerden können.

Schlüsselwörter

Schussverletzungen · Sekundärge-schossbildung · Behandlungsprin-zipien · Weltkriegserfahrungen ·Rekonstruktion

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Abb. 1. Instrumente zur Geschossentfernungnach A. Paré

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der Wundbehandlung einzuführen. Inseinem Werk „Wund Artzney“ [10]stellte er Instrumente zum Entfernenvon Geschossen (Abb.1) und, im Sinnvon Prothetik und Epithetik, Ersatz-zähne und Ersatznasen (Abb.2) dar.

Welche Fortschritte im Lauf des 19.Jahrhunderts nicht nur in der Wundbe-handlung, sondern auch in der „Re-konstruktion“ verloren gegangenerStrukturen im Sinn von epithetischenVersorgungen gemacht wurden, zeigt

der Fall des französischen KanoniersAlphonse Louis [13], der 1932 durcheinen Granatsplitter bei der Belage-rung von Antwerpen fast das gesamteUntergesicht verloren hatte. Zur funk-tionellen und ästhetischen Rehabilita-tion wurde nach einer Konstruktiondes Sanitätsmajors Forjet eine mehr-teilige Silbermaske des Gesichts ange-fertigt, die mit einem bewegbaren Un-terkiefer und einer Auffangvorrichtungfür den Speichel ausgestattet war [1]und die Nahrungsaufnahme erleichter-te (Abb.3).

Die stürmischen Entwicklungen inder Waffentechnik führten nicht nur zuerheblichen Änderungen in der Krieg-führung, sondern zogen auch immerschwerere Schussverletzungen nachsich. So führte das gravierende Anstei-gen der Verwundetentransporte mitSchussverletzungen im Mund-, Kiefer-und Gesichtsbereich schon zu Beginndes 1. Weltkriegs im Jahr 1914 zurGründung von Behandlungseinrich-tungen, in denen zahnärztlich geschul-te Chirurgen oder chirurgisch geschul-te Zahnärzte die Therapie dieser Ver-

letzungen übernahmen, sodass dieserZeitpunkt durchaus als die Geburts-stunde des Fachs Mund-, Kiefer- undGesichtschirurgie bezeichnet werdenkann. Die Tätigkeit dieser Behand-lungszentren führte auch dazu, dasserstmalig systematische Therapiesche-men entwickelt werden konnten, die zuprinzipiellen Behandlungsempfehlun-gen führten und zu einem nicht uner-heblichen Anteil auch heute noch Gül-tigkeit haben. Namen wie Lindemann[9], Pichler [11], Rosenthal [15], San-venero-Roselli [17] sowie besondersauch Ganzer [5] sind damit eng ver-bunden. Das grundlegende Werk vonGanzer [5] über die Behandlung vonKriegsverletzungen ist in vielen Teil-gebieten durchaus als „modern“ zu be-zeichnen. So sind neben Therapiestra-tegien v. a. auch Untersuchungen überSchussverletzungsmechanismen undorganisatorische Empfehlungen vonbleibendem Informationsgehalt. Inter-essant erscheint auch die Tatsache,dass die enthaltenen farbigen Illustra-tionen auf der Basis von Ölbildern(Abb. 4) wesentlich informativer alsdie parallel angefertigten Fotografiensind.

Ergänzungen und Vervollständi-gungen der Therapieprinzipien verdan-ken wir Schuchardt [18], Reichenbach[14], Ullik [19] sowie Kazanjian [8],die ihre Erfahrungen aus dem 2. Welt-krieg bzw. dem Koreakrieg einbrach-ten.

Einteilung und Definition von Schussverletzungen

Die Einteilung und Definition vonSchussverletzungen sind naturgemäßnicht immer einfach, da durch Ge-schosse sehr unregelmäßige und atypi-sche Zerreißungen und Zertrümmerun-

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Gunshot wounds

B. Gattinger

Summary

Gunshot wounds result in a greatamount of tissue damage, relatingalmost always to fractures and de-fects of the skeleton. The damagevaries in relation to the speed, size,shape, and striking angle of theprojectile and to the disruption ofhard tissue fragments, which mul-tiply the tissue laceration acting assecondary missiles. The rules to beobserved in treatment of gunshotwounds are based on experiencewhich was gained during WorldWar I and II. Most of the rules haveproved to be a success and may besummarized as follows: approachfrom inside to outside, preserva-tion of the anatomical relation-ships of the remaining bony tis-sues, and primary wound closure.On the other hand, considerableprogress has been made concern-ing reconstruction and establishinga number of new methods in orderto create better functional and es-thetic results.

Key words

Gunshot wounds · Secondary mis-siles · Treatment · Experience fromWorld Wars · Reconstruction

Abb.2a,b. Zahnersatz (a), Nasenepithese nachA. Paré (b)

Abb.3. Silberepithese des Unter-gesichts, erste Hälfte des 19. Jahr-hunderts

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gen hervorgerufen werden. Eine kli-nisch brauchbare Klassifikation habenCohen et al. [2] veröffentlicht, wobei 4 Schwerestufen mit einem Beisatz fürausgedehnte Weichteildefekte ange-wendet werden. Nach Ganzer [5] er-folgt die Definition durch die Richtungdes Geschosses, nämlich frontal, sagit-tal oder axial, und durch den stereome-trischen Ort der Verletzung, nämlichtangential, subtangential oder radial.

Darüber hinaus sind die Art und dieGeschwindigkeit des Geschosses vonentscheidender Bedeutung für dieSchwere der Verletzung. Für die Beur-teilung einer Schussverletzung mussdaher die Art des Geschosses als wich-tiges Kriterium herangezogen werden[12], da typische Verletzungsmecha-nismen durch Pistolen-, Revolver-, Ge-

wehr- und Maschinengewehrgeschos-se hervorgerufen werden (Abb.5).

Prinzipiell zu unterscheiden ist zwi-schen Hochgeschwindigkeits- oderNiedergeschwindigkeitsprojektilen, dievöllig unterschiedliche Gewebetrau-men nach sich ziehen [7]. Während beiProjektilen geringer Geschwindigkeitbis 450 m/s die Gewebezertrümmerungauf einen geringen Durchmesser be-schränkt bleibt, Ein- und Ausschusseher klein sind und die Geschosse oft imGewebe bleiben, sind bei Hochge-schwindigkeitsprojektilen über 1000m/s ausgedehnte Gewebszertrümme-rungen mit großen Defekten im Aus-schussbereich die Regel [3]. Eine Son-derstellung nehmen die Schrotgeschoss-verletzungen ein: obwohl die Projektilevon eher geringer Geschwindigkeitsind, verursachen sie durch ihren Cha-rakter erhebliche Gewebezertrümme-rungen [4]. Geschwindigkeit und Ent-fernung sind auch weitgehend dafürverantwortlich, ob ein Durchschuss,Steckschuss oder Defekt entsteht [16].

Ein weiterer wichtiger Faktor ist deranatomische Ort, der durch die topo-graphische Lage des Ein- und Aus-schusses sowie den dazwischen lie-genden Weg bedingt wird [5]. Dabeimuss dieser Weg nicht gerade verlau-fen, sondern seine Richtung kanndurch mannigfaltige Faktoren beein-flusst werden. Diese Komponenten er-geben das Bild der gesamten Verlet-zung, nämlich der Weichteile und desSkeletts, wobei durchaus zu bemerkenist, dass bei kleinen äußeren Verletzun-gen in der Tiefe erhebliche Zerstörun-gen festzustellen sein können und um-gekehrt erhebliche Verletzungen an derOberfläche geringe Auswirkungen imInneren zeigen können.

Neben der geschilderten primärenWirkung der Geschosse kann es zurBildung von so genannten Sekundär-geschossen kommen. Einerseits istdies der Fall, wenn durch Auftreffenauf Hartgewebe eine Fragmentierungdes Geschosses auftritt und sich dieTeile in verschiedenen Richtungenweiterbewegen. Dies trifft sowohl aufHartbleigeschosse als auch auf Man-telgeschosse zu, deren Kern mit erheb-lichem Druck gegen den Mantel ge-presst wird und diesen zum Platzenbringen kann [12] (Abb.6).

Andererseits können Knochen-stücke, Zähne, aber auch Fremdkörpermitgerissen werden und so ausgedehn-te Zerreißungen und Defekte entste-hen. Ähnliches trifft auf umherfliegen-de Steinstücke und Holzsplitter zu, diedurch ein in der Nähe einschlagendesGeschoss verursacht werden [5].

Während in kriegerischen Ausein-andersetzungen Schussverletzungenim Kiefer-Gesichts-Bereich sehr häu-fig sind, im 1. Weltkrieg z.B. etwa 1/6

aller Verletzungen ausmachten, kom-men sie im zivilen Leben selten vor,wobei suizidale Absicht weitaus imVordergrund steht. Neben Pistolen-schüssen sind v. a. auch Schrotschuss-verletzungen feststellbar, da diese Artvon Waffen offensichtlich der Bevöl-kerung durch die Ausbreitung der jagd-lichen Betätigung besonders häufig zurVerfügung stehen [6].

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Abb. 4. Gesichtsschuss, Abbildung aus demStandardwerk von Ganzer [5], S 191

Abb.5a, b. Pistolenpatronen (a),Gewehrpatronen (b) a b

Abb. 6 a–d. Bleigeschoss (a), Vollmantelge-schoss (b), Teilmantelgeschoss mit Hohlspitze(c), Schrotgeschoss (d)

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Behandlungsstrategien

Wie bereits erwähnt, sind therapeuti-sche Richtlinien bei Schussverletzun-gen schon frühzeitig von Ganzer [5],Reichenbach [14], Pichler [11] u. a. er-arbeitet worden, die im Wesentlichennoch heute Gültigkeit haben. Trotzdemist es durch die Inauguration neuerTechniken wie der modernen Osteo-syntheseverfahren oder des mikroge-fäßchirurgisch unterstützten Gewebe-transfers zu einer wesentlichen Opti-mierung in Hinblick auf Funktion undÄsthetik gekommen.

Zu unterscheiden sind:

1. die Notversorgung,2. die primäre Versorgung und3. die sekundäre Versorgung.

Notversorgung

Eine Notversorgung sollte ausschließ-lich auf Fälle reduziert werden, derenAllgemeinzustand die Belastung einerunzweifelhaft länger dauernden Pri-märversorgung nicht zulässt und wirddaher in Friedenszeiten mit der vor-handenen, gut funktionierenden Not-falllogistik nur in Ausnahmefällen an-zuwenden sein.

Primäre Versorgung

Die primäre Versorgung sollte einemöglichst umfassende, im Idealfallvöllige Wiederherstellung des Schuss-verletzten zum Ziel haben. Ihre Grund-prinzipien sind das Vorgehen von in-nen nach außen, die Stabilisierung derKnochenfragmente sowie der frühzei-tige Wundverschluss.

In dieser Abfolge enthält die Pri-märversorgung folgende Schritte:

1. Identifikation der verschiedenenKnochen- und Weichgewebestruktu-ren und die Beurteilung ihrer Erhalt-barkeit, provisorischer Blutstillung so-wie Einsatz entsprechender bildgeben-der Verfahren wie konventionellesRöntgen und CT. Außerdem sollte so-fort mit einer antibiotischen Behand-lung zur Infektionsprophylaxe begon-nen werden.

2. Die Revision des Wundgebiets mitexakter Blutstillung, Entfernung vonGeschossen oder deren Fragmente so-

wie anderer Fremdkörper aus der Wun-de oder deren Umgebung, soweit diesin einem vernünftigen Zeitrahmenmöglich ist. Schwer auffindbare Fremd-körper, deren Suche einen großen Zeit-verlust bedeuten würde, können zu ei-nem späteren Zeitpunkt sicherlich lo-gistisch besser abgesichert entferntwerden. Bei der Wundrevision ist al-lerdings darauf zu achten, dass allenicht erhaltbaren Gewebsanteile ent-fernt werden, um Wundheilungspro-bleme zu vermeiden.

3. Die Primärrekonstruktion unter-scheidet sich in erheblichem Ausmaßbei Schussverletzungen ohne und mitGewebsverlust. Ist kein wesentlicherVerlust von knöchernen und Weichteil-strukturen eingetreten, erfolgt in typi-scher Weise die Versorgung von innennach außen mit Reposition und Fixa-tion des Skeletts mittels Osteosynthe-sen und Anlegen von Schienenverbän-den. Daran schließen die Weichteilver-sorgung unter Wiederherstellung zer-rissener Strukturen wie N. facialis,Speicheldrüsenausführungsgängen u.ä. an.

Bei Defektverletzungen ist es v. a.wichtig, die anatomische Relation dererhaltenen knöchernen Anteile zu be-wahren. Dazu eignen sich Über-brückungen mit Rekonstruktionsplat-ten. Die Erhaltung normaler anatomi-scher Beziehungen hat absolute Prio-rität, sodass es bei ausgedehnten De-fekten durchaus vertretbar ist, wenndie Überbrückungsplatte nicht voll-ständig von Weichgewebe bedeckt ist,solange keine Lockerung der Veranke-rung auftritt [12]. Da eine offeneWundbehandlung heute nicht mehr ak-zeptabel ist, sind bereits bei der Pri-märversorgung oft Gewebeverschie-bungen in Form von Lappenplastikennotwendig, um alle Wundflächen span-nungsfrei abzudecken. Darüber hinausgehende rekonstruktive Maßnahmenmüssen meist Sekundäreingriffenüberlassen werden.

4. Im Sinn der Sekundärversorgungkommen v. a. ausgedehnte Rekon-struktionsmaßnahmen an Knochenund Weichteilen in Betracht. Neben deroperativen Skelettversorgung mittelsPlattenosteosynthesen sind hier durchdie Einführung mikrochirurgischerTechniken zum Gewebstransfer beson-

dere Fortschritte und Verbesserungenim Sinn der funktionellen und ästheti-schen Rehabilitation eingetreten, wo-durch mittels verschiedener Osteo-myokutanlappen gleichzeitig Knochenund Weichteile ersetzt werden können.Daneben sind jedoch nach wie vorNahlappen- und gestielte Fernlappen-plastiken sowie freie Haut- undSchleimhauttransplantationen wichti-ge Punkte im therapeutischen Spek-trum.

Neben der Herstellung einer normalenForm des Skeletts und der Gesichts-weichteile ist die Rekonstruktion derKaufunktion sowie einer ungestörtenSprache ein Hauptanliegen der Sekun-därversorgung. Relative und absoluteKammerhöhungen, Osteotomien zurHerstellung normaler Kieferrelationensowie Implantationen mit anschließen-der prothetischer Versorgung sind Eck-pfeiler dieser Rehabilitation.

Auch nach längerer Zeit, manchmalJahrzehnten, kann die Entfernung vonverbliebenen Geschossen oder derenTeile notwendig werden, da sie plötz-lich, oft durch Wanderung im Gewebe,zu Funktionsstörungen oder Schmer-zen führen können. Ihre Auffindungkann schwierig sein, sodass bei ihrerEntfernung neben einer präoperativenexakten topographischen Abklärungmittels bildgebender Verfahren auchdie Möglichkeit einer intraoperativenRöntgendarstellung in mehreren Ebe-nen unbedingt zur Verfügung stehensollte.

Klinische Fälle

Bei Durchschüssen mit Faustfeuerwaf-fen kleineren Kalibers sind nur seltenaufwendige Rekonstruktionsmaßnah-men notwendig. Allerdings sind beigroßen Kalibern Gewebezerstörungennicht auszuschließen. Davon zeugt ein22-jähriger männlicher Patient, beidem sich der Einschuss, offensichtlichbei aufgesetzter Waffe, rechts submen-tal befand. Das Geschoss verursachteeine Trümmerfraktur des Unterkiefers,verletzte die Zunge rechts und zerstör-te den frontalen Alveolarfortsatz desOberkiefers unter Zerreißung des har-ten Gaumens. Der Ausschuss befandsich paranasal links knapp unter demmedialen Lidwinkel. Nach Platten-

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osteosynthese des Unterkiefers und Di-rektverschluss des Einschusses konnteauch die Zungenverletzung in sich ge-schlossen werden. Der Gaumendefektkonnte mit vorhandenem Material immodifizierten Sinn eines Gaumenver-schlusses mit Stiellappenplastik ge-schlossen werden. Der größere Weich-teildefekt des Ausschusses wurdedurch Wangenrotation gedeckt. Als re-konstruktiver Sekundäreingriff war le-diglich der Aufbau des frontalen Ober-

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Abb.7a–e. Pistolendurchschussvon submandibulär nach parana-sal:, a Schussbruch des Unterkie-fers, b Zerreißung des Gaumens,c Ausschuss unter dem medialenAugenwinkel, d rekonstruierterGaumen, e Patient nach Beendi-gung der Therapie

a

c

e

bb

dd

Abb. 8 a, b. Pistolensteckschuss, a Einschussim Nasenwurzelbereich, b Tiefe des Schusska-nals (s. Text)

a

b

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Abb.9a–c. Schrotschuss sub-mental nach kraniolateral: a zer-trümmerte linke Gesichtshälfte,b Überbrückung des Mandibula-defekts, c Patient nach Abschlussder Therapie

a

b c

Abb.10. Schrotschuss von submental nach kranial: a Einschuss und Ausschussdurch das Mittelgesicht, b Rekonstruktion der Nase mittels Stirnlappen, c prothetischeVersorgung nach Ober- und Unterkieferrekonstruktion, d Patient nach Wiederherstel-lung

a

c

b d

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kieferalveolarfortsatzes mit einem au-tologen Spongiosatransplantat zur Ver-besserung der prothetischen Aus-gangsposition notwendig, sodass diedentale Rehabilitation mittels Teles-koparbeit sichergestellt werden konnte(Abb.7).

Dass Pistolenschussverletzungentrotz offensichtlich topographischäußerst gefährlicher Situation glimpf-lich verlaufen können, zeigt ein 42-jähriger Mann, der einen Einschuss imNasenwurzel-Glabella-Bereich auf-wies. Ein verhältnismäßig weiterSchusskanal konnte bis in eine Tiefevon etwa 15 cm sondiert werden. Eswaren jedoch keine wesentlichen Zer-störungen aufgetreten, da das Ge-schoss genau entlang der Schädelbasisnach dorsokaudal und etwas lateraleindrang und schließlich neben derHalswirbelsäule in den Weichteilenliegen blieb; die Versorgung bestand

also ausschließlich im leicht durch-führbaren Verschluss des Einschussesund der Entfernung des Geschossesaus den Halsweichteilen (Abb.8).

Im Gegensatz dazu kommt es beiangesetzten Schrotgewehrverletzun-gen in allen Fällen zu starken Devas-tierungen des Gewebes, wobei bei vor-wiegend submentalem Einschuss dieDistanz von aufgesetzter Mündungund Abzug des Gewehrs so groß ist,dass die Auslösung des Schusses nurbei Dorsalflexion des Kopfs gelingt,sodass die Geschosse durch das Mit-telgesicht austreten.

Bei seitlicher Verziehung derSchussbahn zeigen sich im Mittelge-sichts- bzw. Wangenbereich nurWeichteilzerstörungen, wie bei einemPatienten mit angesetztem submenta-lem Einschuss, Defektfraktur des Un-terkieferhorizontalasts und riesigemAusschuss durch die seitlichen Ge-

sichtsweichteile. Der Mandibuladefektwurde primär mit 2 Osteosyntheseplat-ten überbrückt und die verlorenenWeichteile durch Schwenkung und Ro-tation von Weichgewebe vom Hals hergeschlossen. Die ossäre Rekonstrukti-on des Horizontalasts blieb einem Se-kundäreingriff vorbehalten, der 4 Mo-nate später unter Verwendung der ur-sprünglichen Osteosyntheseplatten er-folgte (Abb.9).

Bei ähnlichem Schussverlauf, aberAusschuss annähernd in der Mittelli-nie, erfolgt die Hauptzerstörung in denzentralen Anteilen des Mittelgesichts.Oberkiefer, Nasengerüst und darüberliegende Weichteile sind vorwiegendbetroffen. Bei einem 28-jährigen Mannwaren im Zug seines 3. Suizidversuchsfolgende Verletzungen festzustellen:umschriebener submentaler Einschuss,Defekt des Mittelstücks der Mandibu-la, Zungenzerreißung, Verlust der Gau-

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Abb.11a–d. Subtotaler Verlust des Gesichtsschädels (a), Zustand nach Notversor-gung (b), einer der Rekonstruktionsschritte (s. Text) (c), Zustand nach Rekonstruktionvon Ober- und Unterkiefer, Nase und den Gesichtsweichteilen (d)

a

c

b d

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menplatte und des anterioren Oberkie-feranteils sowie Zerstörung großer An-teile der Nase und der umgebendenWeichteile.

Infolge des reduzierten Allgemein-zustands beim Eintreffen in der Fach-abteilung konnte primär nur eine Not-versorgung durchgeführt werden. Inder Folge wurde durch Knochentrans-plantation zum Ober- und Unterkiefermit anschließender Kammplastik dieVoraussetzung für eine optimale pro-thetische Versorgung zur Wiederher-stellung der Kaufunktion und einer un-auffälligen Sprache geschaffen sowiedurch Verschiebung der Weichteile ausder Umgebung und unter Verwendungeines großen, temporal gestieltenStirnlappens die Wiederherstellung desäußeren Erscheinungsbilds vorgenom-men (Abb.10).

Problemhafter gestaltet sich dieDurchführung der Rekonstruktion beipraktisch totalem Gesichtsverlust.Auch dafür kann ein Beispiel ange-führt werden. Durch einen im Kinnbe-reich angesetzten Schrotschuss kam eszum Verlust des Mittelstücks der Man-dibula und der gesamten Unterlippe,des Oberkiefers mit Ausnahme der Re-gion des Tuber maxillae beidseits, derOberlippe sowie des gesamten knö-chernen und Weichteilmittelgesichtsmit Ausnahme der Augen. Da der Pa-tient erst mehrere Stunden nach derVerletzung gefunden wurde, war infol-ge des Blutverlusts durch den deva-stierten Gesichtsschädel sein Allge-meinzustand so schlecht, dass primärnur eine Notversorgung mit dem Ent-stehen einer gemeinsamen Öffnung fürMund- und Nasenraum möglich war.Dabei wurden die restierenden Skelett-anteile durch die Überbrückungsplat-ten in ihrer anatomisch richtigen Posi-tion gehalten. Durch eine Abfolge re-konstruktiver Eingriffe wurden dieWeichteile aus der näheren Umgebungzur Bildung von Ober- und Unterlippe

und Trennung von Nasen- und Mund-höhle herangezogen. Durch Knochen-und Knorpeltransplantationen mitnachfolgender Kammplastik konntenfunktionsfähige Ober- und Unterkieferhergestellt werden. Der Nasenersatzerfolgte nach Vorpflanzen eines Com-posite grafts vom Ohr zum Ersatz derNasenflügel in die Schläfenregion miteinem Stirnlappen, in den ein Winkel-span eingebracht wurde, sodass eineweitgehende funktionelle und morpho-logische Rehabilitation erreicht wer-den konnte (Abb.11).

Schlussfolgerung

Während die allgemeinen Behand-lungsstrategien bei Schussverletzun-gen auf Erkenntnisse v. a. aus den bei-den Weltkriegen zurückgehen und zu-mindest in erheblichen Teilen nach wievor ihre Gültigkeit haben, sind auf demGebiet der Wiederherstellung durchdie Einführung neuer Techniken undMaterialien erhebliche Fortschritte zurVerbesserung der Ergebnisse in funk-tioneller und ästhetischer Hinsicht ge-geben. Der vermehrte medizinischeAufwand und die damit verbundenengesteigerten Kosten machen sich si-cherlich nicht nur für die Lebensqua-lität des Betroffenen, sondern auchdurch geringere Aufwendungen fürdauernde Invalidität für die Allge-meinheit bezahlt.

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