+ All Categories
Home > Documents > Schussverletzungen; Gunshot wounds;

Schussverletzungen; Gunshot wounds;

Date post: 23-Dec-2016
Category:
Upload: bernd
View: 217 times
Download: 4 times
Share this document with a friend
8
S134 Schussverletzungen verursachen Ge- webezerreißungen und sind fast immer mit Frakturen bzw. Zertrümmerungen des Gesichtsskeletts verbunden. Die Gewebsverletzung oder -zerstörung ist abhängig von der Geschwindigkeit und der Größe, aber auch von der Form und dem Aufschlagwinkel des Ge- schosses. Darüber hinaus können durch den Aufprall entstehende Hart- gewebefragmente wie Knochensplitter oder Zahnteile zu Sekundärgeschossen werden und ihrerseits weitere Gewebs- zertrümmerungen verursachen. Der tatsächliche Gewebsverlust ist besonders bei älteren Verletzungen nicht immer leicht abzuschätzen, oft aber geringer als der primäre Aspekt erscheinen lässt, da die Weichteil- und Knochenfragmente meist weit ausein- ander klaffen, und zwar einerseits durch das Gewicht der abgelösten Weichteilmassen und Skelettanteile und andererseits durch Ödem und Ent- zündungserscheinungen. Durch die unterschiedliche Ausprä- gung dieser Verletzungen kann bei ih- rer Therapie ein weit gefächertes Spek- trum von der einfachen Osteosynthese und dem unkomplizierten Weichteil- verschluss bis zu aufwendigen Metho- den der Hartgewebe- und Weichteilre- konstruktion notwendig werden. Historische Entwicklung Schon verhältnismäßig kurz nach der Einführung von Handfeuerwaffen schrieb Giovanni da Vigo (1460–1525) in seinem Werk „Practica copiosa in arte chirurgica“, dass Schusswunden giftig seien. Aus dem fälschlich Hip- pokrates zugeschriebenen Lehrsatz „Wunden, die nicht durch Eisen heil- bar sind, sind durch Feuer heilbar“ wurde geschlossen, dass Schusswun- den mit siedendem Öl behandelt wer- den müssten. Ambroise Paré (1510– 1590), einem der Väter der Chirurgie der Neuzeit, blieb es vorbehalten, die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens zu beweisen und modernere Methoden Mund Kiefer GesichtsChir (2000) 4 [Suppl 1]: S134–S141 © Springer-Verlag 2000 Schussverletzungen Bernd Gattinger Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Allgemeines öffentliches Krankenhaus Linz Prof. Dr. B. Gattinger, Vorstand der Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, All- gemeines öffentliches Krankenhaus Linz, Kran- kenhausstraße 9, 4020 Linz, Österreich e-mail: [email protected], Tel.: 0043-732-78062124, Fax: 0043-732-78062123 Zusammenfassung Schussverletzungen verursachen meist eine erhebliche Gewebszer- störung. Sie beinhalten fast immer auch Frakturen und Defekte des Skeletts. Die Verletzung hängt von der Geschwindigkeit, der Größe, der Gestalt und dem Aufprallwin- kel des Geschosses ab. Darüber hinaus kann durch Abriss von Hartgewebefragmenten eine Se- kundärgeschossbildung entstehen, die weitere Zerstörung verursacht. Die bei der Versorgung dieser Wunden anzuwendenden Behand- lungsprinzipien beruhen auf Er- fahrungen, die v.a. im 1. und 2. Weltkrieg gemacht wurden und teilweise noch heute gültig sind wie z.B. Versorgung von innen nach außen, Fixation der Kno- chenfragmente in ihrer anato- misch richtigen Position und früh- zeitiger Wundverschluss. Auf dem Gebiet der Rekonstruktion aller- dings wurden erhebliche Fort- schritte durch die Einführung neu- er Operationstechniken erzielt, so- dass bessere funktionelle und ästhetische Ergebnisse erreicht werden können. Schlüsselwörter Schussverletzungen · Sekundärge- schossbildung · Behandlungsprin- zipien · Weltkriegserfahrungen · Rekonstruktion TRAUMATOLOGIE Abb. 1. Instrumente zur Geschossentfernung nach A. Paré
Transcript
Page 1: Schussverletzungen; Gunshot wounds;

S134

Schussverletzungen verursachen Ge-webezerreißungen und sind fast immermit Frakturen bzw. Zertrümmerungendes Gesichtsskeletts verbunden. DieGewebsverletzung oder -zerstörung istabhängig von der Geschwindigkeitund der Größe, aber auch von der Formund dem Aufschlagwinkel des Ge-schosses. Darüber hinaus könnendurch den Aufprall entstehende Hart-gewebefragmente wie Knochensplitteroder Zahnteile zu Sekundärgeschossenwerden und ihrerseits weitere Gewebs-zertrümmerungen verursachen.

Der tatsächliche Gewebsverlust istbesonders bei älteren Verletzungennicht immer leicht abzuschätzen, oftaber geringer als der primäre Aspekterscheinen lässt, da die Weichteil- undKnochenfragmente meist weit ausein-ander klaffen, und zwar einerseitsdurch das Gewicht der abgelöstenWeichteilmassen und Skelettanteileund andererseits durch Ödem und Ent-zündungserscheinungen.

Durch die unterschiedliche Ausprä-gung dieser Verletzungen kann bei ih-rer Therapie ein weit gefächertes Spek-trum von der einfachen Osteosyntheseund dem unkomplizierten Weichteil-verschluss bis zu aufwendigen Metho-den der Hartgewebe- und Weichteilre-konstruktion notwendig werden.

Historische Entwicklung

Schon verhältnismäßig kurz nach derEinführung von Handfeuerwaffenschrieb Giovanni da Vigo (1460–1525)in seinem Werk „Practica copiosa inarte chirurgica“, dass Schusswundengiftig seien. Aus dem fälschlich Hip-pokrates zugeschriebenen Lehrsatz„Wunden, die nicht durch Eisen heil-bar sind, sind durch Feuer heilbar“wurde geschlossen, dass Schusswun-den mit siedendem Öl behandelt wer-den müssten. Ambroise Paré (1510–1590), einem der Väter der Chirurgieder Neuzeit, blieb es vorbehalten, dieSinnlosigkeit dieses Unterfangens zubeweisen und modernere Methoden

Mund Kiefer GesichtsChir (2000) 4 [Suppl 1]:S134–S141 © Springer-Verlag 2000

Schussverletzungen

Bernd GattingerAbteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Allgemeines öffentliches Krankenhaus Linz

Prof. Dr. B. Gattinger, Vorstand der Abteilungfür Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, All-gemeines öffentliches Krankenhaus Linz, Kran-kenhausstraße 9, 4020 Linz, Österreiche-mail: [email protected], Tel.: 0043-732-78062124,Fax: 0043-732-78062123

Zusammenfassung

Schussverletzungen verursachenmeist eine erhebliche Gewebszer-störung. Sie beinhalten fast immerauch Frakturen und Defekte desSkeletts. Die Verletzung hängt vonder Geschwindigkeit, der Größe,der Gestalt und dem Aufprallwin-kel des Geschosses ab. Darüberhinaus kann durch Abriss vonHartgewebefragmenten eine Se-kundärgeschossbildung entstehen,die weitere Zerstörung verursacht.Die bei der Versorgung dieserWunden anzuwendenden Behand-lungsprinzipien beruhen auf Er-fahrungen, die v. a. im 1. und 2.Weltkrieg gemacht wurden undteilweise noch heute gültig sindwie z. B. Versorgung von innennach außen, Fixation der Kno-chenfragmente in ihrer anato-misch richtigen Position und früh-zeitiger Wundverschluss. Auf demGebiet der Rekonstruktion aller-dings wurden erhebliche Fort-schritte durch die Einführung neu-er Operationstechniken erzielt, so-dass bessere funktionelle undästhetische Ergebnisse erreichtwerden können.

Schlüsselwörter

Schussverletzungen · Sekundärge-schossbildung · Behandlungsprin-zipien · Weltkriegserfahrungen ·Rekonstruktion

T R A U M A T O L O G I E

Abb. 1. Instrumente zur Geschossentfernungnach A. Paré

Page 2: Schussverletzungen; Gunshot wounds;

der Wundbehandlung einzuführen. Inseinem Werk „Wund Artzney“ [10]stellte er Instrumente zum Entfernenvon Geschossen (Abb.1) und, im Sinnvon Prothetik und Epithetik, Ersatz-zähne und Ersatznasen (Abb.2) dar.

Welche Fortschritte im Lauf des 19.Jahrhunderts nicht nur in der Wundbe-handlung, sondern auch in der „Re-konstruktion“ verloren gegangenerStrukturen im Sinn von epithetischenVersorgungen gemacht wurden, zeigt

der Fall des französischen KanoniersAlphonse Louis [13], der 1932 durcheinen Granatsplitter bei der Belage-rung von Antwerpen fast das gesamteUntergesicht verloren hatte. Zur funk-tionellen und ästhetischen Rehabilita-tion wurde nach einer Konstruktiondes Sanitätsmajors Forjet eine mehr-teilige Silbermaske des Gesichts ange-fertigt, die mit einem bewegbaren Un-terkiefer und einer Auffangvorrichtungfür den Speichel ausgestattet war [1]und die Nahrungsaufnahme erleichter-te (Abb.3).

Die stürmischen Entwicklungen inder Waffentechnik führten nicht nur zuerheblichen Änderungen in der Krieg-führung, sondern zogen auch immerschwerere Schussverletzungen nachsich. So führte das gravierende Anstei-gen der Verwundetentransporte mitSchussverletzungen im Mund-, Kiefer-und Gesichtsbereich schon zu Beginndes 1. Weltkriegs im Jahr 1914 zurGründung von Behandlungseinrich-tungen, in denen zahnärztlich geschul-te Chirurgen oder chirurgisch geschul-te Zahnärzte die Therapie dieser Ver-

letzungen übernahmen, sodass dieserZeitpunkt durchaus als die Geburts-stunde des Fachs Mund-, Kiefer- undGesichtschirurgie bezeichnet werdenkann. Die Tätigkeit dieser Behand-lungszentren führte auch dazu, dasserstmalig systematische Therapiesche-men entwickelt werden konnten, die zuprinzipiellen Behandlungsempfehlun-gen führten und zu einem nicht uner-heblichen Anteil auch heute noch Gül-tigkeit haben. Namen wie Lindemann[9], Pichler [11], Rosenthal [15], San-venero-Roselli [17] sowie besondersauch Ganzer [5] sind damit eng ver-bunden. Das grundlegende Werk vonGanzer [5] über die Behandlung vonKriegsverletzungen ist in vielen Teil-gebieten durchaus als „modern“ zu be-zeichnen. So sind neben Therapiestra-tegien v. a. auch Untersuchungen überSchussverletzungsmechanismen undorganisatorische Empfehlungen vonbleibendem Informationsgehalt. Inter-essant erscheint auch die Tatsache,dass die enthaltenen farbigen Illustra-tionen auf der Basis von Ölbildern(Abb. 4) wesentlich informativer alsdie parallel angefertigten Fotografiensind.

Ergänzungen und Vervollständi-gungen der Therapieprinzipien verdan-ken wir Schuchardt [18], Reichenbach[14], Ullik [19] sowie Kazanjian [8],die ihre Erfahrungen aus dem 2. Welt-krieg bzw. dem Koreakrieg einbrach-ten.

Einteilung und Definition von Schussverletzungen

Die Einteilung und Definition vonSchussverletzungen sind naturgemäßnicht immer einfach, da durch Ge-schosse sehr unregelmäßige und atypi-sche Zerreißungen und Zertrümmerun-

S135

Mund Kiefer GesichtsChir (2000) 4 [Suppl 1]:S134–S141© Springer-Verlag 2000

Gunshot wounds

B. Gattinger

Summary

Gunshot wounds result in a greatamount of tissue damage, relatingalmost always to fractures and de-fects of the skeleton. The damagevaries in relation to the speed, size,shape, and striking angle of theprojectile and to the disruption ofhard tissue fragments, which mul-tiply the tissue laceration acting assecondary missiles. The rules to beobserved in treatment of gunshotwounds are based on experiencewhich was gained during WorldWar I and II. Most of the rules haveproved to be a success and may besummarized as follows: approachfrom inside to outside, preserva-tion of the anatomical relation-ships of the remaining bony tis-sues, and primary wound closure.On the other hand, considerableprogress has been made concern-ing reconstruction and establishinga number of new methods in orderto create better functional and es-thetic results.

Key words

Gunshot wounds · Secondary mis-siles · Treatment · Experience fromWorld Wars · Reconstruction

Abb.2a,b. Zahnersatz (a), Nasenepithese nachA. Paré (b)

Abb.3. Silberepithese des Unter-gesichts, erste Hälfte des 19. Jahr-hunderts

Page 3: Schussverletzungen; Gunshot wounds;

gen hervorgerufen werden. Eine kli-nisch brauchbare Klassifikation habenCohen et al. [2] veröffentlicht, wobei 4 Schwerestufen mit einem Beisatz fürausgedehnte Weichteildefekte ange-wendet werden. Nach Ganzer [5] er-folgt die Definition durch die Richtungdes Geschosses, nämlich frontal, sagit-tal oder axial, und durch den stereome-trischen Ort der Verletzung, nämlichtangential, subtangential oder radial.

Darüber hinaus sind die Art und dieGeschwindigkeit des Geschosses vonentscheidender Bedeutung für dieSchwere der Verletzung. Für die Beur-teilung einer Schussverletzung mussdaher die Art des Geschosses als wich-tiges Kriterium herangezogen werden[12], da typische Verletzungsmecha-nismen durch Pistolen-, Revolver-, Ge-

wehr- und Maschinengewehrgeschos-se hervorgerufen werden (Abb.5).

Prinzipiell zu unterscheiden ist zwi-schen Hochgeschwindigkeits- oderNiedergeschwindigkeitsprojektilen, dievöllig unterschiedliche Gewebetrau-men nach sich ziehen [7]. Während beiProjektilen geringer Geschwindigkeitbis 450 m/s die Gewebezertrümmerungauf einen geringen Durchmesser be-schränkt bleibt, Ein- und Ausschusseher klein sind und die Geschosse oft imGewebe bleiben, sind bei Hochge-schwindigkeitsprojektilen über 1000m/s ausgedehnte Gewebszertrümme-rungen mit großen Defekten im Aus-schussbereich die Regel [3]. Eine Son-derstellung nehmen die Schrotgeschoss-verletzungen ein: obwohl die Projektilevon eher geringer Geschwindigkeitsind, verursachen sie durch ihren Cha-rakter erhebliche Gewebezertrümme-rungen [4]. Geschwindigkeit und Ent-fernung sind auch weitgehend dafürverantwortlich, ob ein Durchschuss,Steckschuss oder Defekt entsteht [16].

Ein weiterer wichtiger Faktor ist deranatomische Ort, der durch die topo-graphische Lage des Ein- und Aus-schusses sowie den dazwischen lie-genden Weg bedingt wird [5]. Dabeimuss dieser Weg nicht gerade verlau-fen, sondern seine Richtung kanndurch mannigfaltige Faktoren beein-flusst werden. Diese Komponenten er-geben das Bild der gesamten Verlet-zung, nämlich der Weichteile und desSkeletts, wobei durchaus zu bemerkenist, dass bei kleinen äußeren Verletzun-gen in der Tiefe erhebliche Zerstörun-gen festzustellen sein können und um-gekehrt erhebliche Verletzungen an derOberfläche geringe Auswirkungen imInneren zeigen können.

Neben der geschilderten primärenWirkung der Geschosse kann es zurBildung von so genannten Sekundär-geschossen kommen. Einerseits istdies der Fall, wenn durch Auftreffenauf Hartgewebe eine Fragmentierungdes Geschosses auftritt und sich dieTeile in verschiedenen Richtungenweiterbewegen. Dies trifft sowohl aufHartbleigeschosse als auch auf Man-telgeschosse zu, deren Kern mit erheb-lichem Druck gegen den Mantel ge-presst wird und diesen zum Platzenbringen kann [12] (Abb.6).

Andererseits können Knochen-stücke, Zähne, aber auch Fremdkörpermitgerissen werden und so ausgedehn-te Zerreißungen und Defekte entste-hen. Ähnliches trifft auf umherfliegen-de Steinstücke und Holzsplitter zu, diedurch ein in der Nähe einschlagendesGeschoss verursacht werden [5].

Während in kriegerischen Ausein-andersetzungen Schussverletzungenim Kiefer-Gesichts-Bereich sehr häu-fig sind, im 1. Weltkrieg z.B. etwa 1/6

aller Verletzungen ausmachten, kom-men sie im zivilen Leben selten vor,wobei suizidale Absicht weitaus imVordergrund steht. Neben Pistolen-schüssen sind v. a. auch Schrotschuss-verletzungen feststellbar, da diese Artvon Waffen offensichtlich der Bevöl-kerung durch die Ausbreitung der jagd-lichen Betätigung besonders häufig zurVerfügung stehen [6].

S136

T R A U M A T O L O G I E

Abb. 4. Gesichtsschuss, Abbildung aus demStandardwerk von Ganzer [5], S 191

Abb.5a, b. Pistolenpatronen (a),Gewehrpatronen (b) a b

Abb. 6 a–d. Bleigeschoss (a), Vollmantelge-schoss (b), Teilmantelgeschoss mit Hohlspitze(c), Schrotgeschoss (d)

Page 4: Schussverletzungen; Gunshot wounds;

Behandlungsstrategien

Wie bereits erwähnt, sind therapeuti-sche Richtlinien bei Schussverletzun-gen schon frühzeitig von Ganzer [5],Reichenbach [14], Pichler [11] u. a. er-arbeitet worden, die im Wesentlichennoch heute Gültigkeit haben. Trotzdemist es durch die Inauguration neuerTechniken wie der modernen Osteo-syntheseverfahren oder des mikroge-fäßchirurgisch unterstützten Gewebe-transfers zu einer wesentlichen Opti-mierung in Hinblick auf Funktion undÄsthetik gekommen.

Zu unterscheiden sind:

1. die Notversorgung,2. die primäre Versorgung und3. die sekundäre Versorgung.

Notversorgung

Eine Notversorgung sollte ausschließ-lich auf Fälle reduziert werden, derenAllgemeinzustand die Belastung einerunzweifelhaft länger dauernden Pri-märversorgung nicht zulässt und wirddaher in Friedenszeiten mit der vor-handenen, gut funktionierenden Not-falllogistik nur in Ausnahmefällen an-zuwenden sein.

Primäre Versorgung

Die primäre Versorgung sollte einemöglichst umfassende, im Idealfallvöllige Wiederherstellung des Schuss-verletzten zum Ziel haben. Ihre Grund-prinzipien sind das Vorgehen von in-nen nach außen, die Stabilisierung derKnochenfragmente sowie der frühzei-tige Wundverschluss.

In dieser Abfolge enthält die Pri-märversorgung folgende Schritte:

1. Identifikation der verschiedenenKnochen- und Weichgewebestruktu-ren und die Beurteilung ihrer Erhalt-barkeit, provisorischer Blutstillung so-wie Einsatz entsprechender bildgeben-der Verfahren wie konventionellesRöntgen und CT. Außerdem sollte so-fort mit einer antibiotischen Behand-lung zur Infektionsprophylaxe begon-nen werden.

2. Die Revision des Wundgebiets mitexakter Blutstillung, Entfernung vonGeschossen oder deren Fragmente so-

wie anderer Fremdkörper aus der Wun-de oder deren Umgebung, soweit diesin einem vernünftigen Zeitrahmenmöglich ist. Schwer auffindbare Fremd-körper, deren Suche einen großen Zeit-verlust bedeuten würde, können zu ei-nem späteren Zeitpunkt sicherlich lo-gistisch besser abgesichert entferntwerden. Bei der Wundrevision ist al-lerdings darauf zu achten, dass allenicht erhaltbaren Gewebsanteile ent-fernt werden, um Wundheilungspro-bleme zu vermeiden.

3. Die Primärrekonstruktion unter-scheidet sich in erheblichem Ausmaßbei Schussverletzungen ohne und mitGewebsverlust. Ist kein wesentlicherVerlust von knöchernen und Weichteil-strukturen eingetreten, erfolgt in typi-scher Weise die Versorgung von innennach außen mit Reposition und Fixa-tion des Skeletts mittels Osteosynthe-sen und Anlegen von Schienenverbän-den. Daran schließen die Weichteilver-sorgung unter Wiederherstellung zer-rissener Strukturen wie N. facialis,Speicheldrüsenausführungsgängen u.ä. an.

Bei Defektverletzungen ist es v. a.wichtig, die anatomische Relation dererhaltenen knöchernen Anteile zu be-wahren. Dazu eignen sich Über-brückungen mit Rekonstruktionsplat-ten. Die Erhaltung normaler anatomi-scher Beziehungen hat absolute Prio-rität, sodass es bei ausgedehnten De-fekten durchaus vertretbar ist, wenndie Überbrückungsplatte nicht voll-ständig von Weichgewebe bedeckt ist,solange keine Lockerung der Veranke-rung auftritt [12]. Da eine offeneWundbehandlung heute nicht mehr ak-zeptabel ist, sind bereits bei der Pri-märversorgung oft Gewebeverschie-bungen in Form von Lappenplastikennotwendig, um alle Wundflächen span-nungsfrei abzudecken. Darüber hinausgehende rekonstruktive Maßnahmenmüssen meist Sekundäreingriffenüberlassen werden.

4. Im Sinn der Sekundärversorgungkommen v. a. ausgedehnte Rekon-struktionsmaßnahmen an Knochenund Weichteilen in Betracht. Neben deroperativen Skelettversorgung mittelsPlattenosteosynthesen sind hier durchdie Einführung mikrochirurgischerTechniken zum Gewebstransfer beson-

dere Fortschritte und Verbesserungenim Sinn der funktionellen und ästheti-schen Rehabilitation eingetreten, wo-durch mittels verschiedener Osteo-myokutanlappen gleichzeitig Knochenund Weichteile ersetzt werden können.Daneben sind jedoch nach wie vorNahlappen- und gestielte Fernlappen-plastiken sowie freie Haut- undSchleimhauttransplantationen wichti-ge Punkte im therapeutischen Spek-trum.

Neben der Herstellung einer normalenForm des Skeletts und der Gesichts-weichteile ist die Rekonstruktion derKaufunktion sowie einer ungestörtenSprache ein Hauptanliegen der Sekun-därversorgung. Relative und absoluteKammerhöhungen, Osteotomien zurHerstellung normaler Kieferrelationensowie Implantationen mit anschließen-der prothetischer Versorgung sind Eck-pfeiler dieser Rehabilitation.

Auch nach längerer Zeit, manchmalJahrzehnten, kann die Entfernung vonverbliebenen Geschossen oder derenTeile notwendig werden, da sie plötz-lich, oft durch Wanderung im Gewebe,zu Funktionsstörungen oder Schmer-zen führen können. Ihre Auffindungkann schwierig sein, sodass bei ihrerEntfernung neben einer präoperativenexakten topographischen Abklärungmittels bildgebender Verfahren auchdie Möglichkeit einer intraoperativenRöntgendarstellung in mehreren Ebe-nen unbedingt zur Verfügung stehensollte.

Klinische Fälle

Bei Durchschüssen mit Faustfeuerwaf-fen kleineren Kalibers sind nur seltenaufwendige Rekonstruktionsmaßnah-men notwendig. Allerdings sind beigroßen Kalibern Gewebezerstörungennicht auszuschließen. Davon zeugt ein22-jähriger männlicher Patient, beidem sich der Einschuss, offensichtlichbei aufgesetzter Waffe, rechts submen-tal befand. Das Geschoss verursachteeine Trümmerfraktur des Unterkiefers,verletzte die Zunge rechts und zerstör-te den frontalen Alveolarfortsatz desOberkiefers unter Zerreißung des har-ten Gaumens. Der Ausschuss befandsich paranasal links knapp unter demmedialen Lidwinkel. Nach Platten-

S137

Page 5: Schussverletzungen; Gunshot wounds;

osteosynthese des Unterkiefers und Di-rektverschluss des Einschusses konnteauch die Zungenverletzung in sich ge-schlossen werden. Der Gaumendefektkonnte mit vorhandenem Material immodifizierten Sinn eines Gaumenver-schlusses mit Stiellappenplastik ge-schlossen werden. Der größere Weich-teildefekt des Ausschusses wurdedurch Wangenrotation gedeckt. Als re-konstruktiver Sekundäreingriff war le-diglich der Aufbau des frontalen Ober-

S138

T R A U M A T O L O G I E

Abb.7a–e. Pistolendurchschussvon submandibulär nach parana-sal:, a Schussbruch des Unterkie-fers, b Zerreißung des Gaumens,c Ausschuss unter dem medialenAugenwinkel, d rekonstruierterGaumen, e Patient nach Beendi-gung der Therapie

a

c

e

bb

dd

Abb. 8 a, b. Pistolensteckschuss, a Einschussim Nasenwurzelbereich, b Tiefe des Schusska-nals (s. Text)

a

b

Page 6: Schussverletzungen; Gunshot wounds;

S139

Abb.9a–c. Schrotschuss sub-mental nach kraniolateral: a zer-trümmerte linke Gesichtshälfte,b Überbrückung des Mandibula-defekts, c Patient nach Abschlussder Therapie

a

b c

Abb.10. Schrotschuss von submental nach kranial: a Einschuss und Ausschussdurch das Mittelgesicht, b Rekonstruktion der Nase mittels Stirnlappen, c prothetischeVersorgung nach Ober- und Unterkieferrekonstruktion, d Patient nach Wiederherstel-lung

a

c

b d

Page 7: Schussverletzungen; Gunshot wounds;

kieferalveolarfortsatzes mit einem au-tologen Spongiosatransplantat zur Ver-besserung der prothetischen Aus-gangsposition notwendig, sodass diedentale Rehabilitation mittels Teles-koparbeit sichergestellt werden konnte(Abb.7).

Dass Pistolenschussverletzungentrotz offensichtlich topographischäußerst gefährlicher Situation glimpf-lich verlaufen können, zeigt ein 42-jähriger Mann, der einen Einschuss imNasenwurzel-Glabella-Bereich auf-wies. Ein verhältnismäßig weiterSchusskanal konnte bis in eine Tiefevon etwa 15 cm sondiert werden. Eswaren jedoch keine wesentlichen Zer-störungen aufgetreten, da das Ge-schoss genau entlang der Schädelbasisnach dorsokaudal und etwas lateraleindrang und schließlich neben derHalswirbelsäule in den Weichteilenliegen blieb; die Versorgung bestand

also ausschließlich im leicht durch-führbaren Verschluss des Einschussesund der Entfernung des Geschossesaus den Halsweichteilen (Abb.8).

Im Gegensatz dazu kommt es beiangesetzten Schrotgewehrverletzun-gen in allen Fällen zu starken Devas-tierungen des Gewebes, wobei bei vor-wiegend submentalem Einschuss dieDistanz von aufgesetzter Mündungund Abzug des Gewehrs so groß ist,dass die Auslösung des Schusses nurbei Dorsalflexion des Kopfs gelingt,sodass die Geschosse durch das Mit-telgesicht austreten.

Bei seitlicher Verziehung derSchussbahn zeigen sich im Mittelge-sichts- bzw. Wangenbereich nurWeichteilzerstörungen, wie bei einemPatienten mit angesetztem submenta-lem Einschuss, Defektfraktur des Un-terkieferhorizontalasts und riesigemAusschuss durch die seitlichen Ge-

sichtsweichteile. Der Mandibuladefektwurde primär mit 2 Osteosyntheseplat-ten überbrückt und die verlorenenWeichteile durch Schwenkung und Ro-tation von Weichgewebe vom Hals hergeschlossen. Die ossäre Rekonstrukti-on des Horizontalasts blieb einem Se-kundäreingriff vorbehalten, der 4 Mo-nate später unter Verwendung der ur-sprünglichen Osteosyntheseplatten er-folgte (Abb.9).

Bei ähnlichem Schussverlauf, aberAusschuss annähernd in der Mittelli-nie, erfolgt die Hauptzerstörung in denzentralen Anteilen des Mittelgesichts.Oberkiefer, Nasengerüst und darüberliegende Weichteile sind vorwiegendbetroffen. Bei einem 28-jährigen Mannwaren im Zug seines 3. Suizidversuchsfolgende Verletzungen festzustellen:umschriebener submentaler Einschuss,Defekt des Mittelstücks der Mandibu-la, Zungenzerreißung, Verlust der Gau-

S140

T R A U M A T O L O G I E

Abb.11a–d. Subtotaler Verlust des Gesichtsschädels (a), Zustand nach Notversor-gung (b), einer der Rekonstruktionsschritte (s. Text) (c), Zustand nach Rekonstruktionvon Ober- und Unterkiefer, Nase und den Gesichtsweichteilen (d)

a

c

b d

Page 8: Schussverletzungen; Gunshot wounds;

S141

menplatte und des anterioren Oberkie-feranteils sowie Zerstörung großer An-teile der Nase und der umgebendenWeichteile.

Infolge des reduzierten Allgemein-zustands beim Eintreffen in der Fach-abteilung konnte primär nur eine Not-versorgung durchgeführt werden. Inder Folge wurde durch Knochentrans-plantation zum Ober- und Unterkiefermit anschließender Kammplastik dieVoraussetzung für eine optimale pro-thetische Versorgung zur Wiederher-stellung der Kaufunktion und einer un-auffälligen Sprache geschaffen sowiedurch Verschiebung der Weichteile ausder Umgebung und unter Verwendungeines großen, temporal gestieltenStirnlappens die Wiederherstellung desäußeren Erscheinungsbilds vorgenom-men (Abb.10).

Problemhafter gestaltet sich dieDurchführung der Rekonstruktion beipraktisch totalem Gesichtsverlust.Auch dafür kann ein Beispiel ange-führt werden. Durch einen im Kinnbe-reich angesetzten Schrotschuss kam eszum Verlust des Mittelstücks der Man-dibula und der gesamten Unterlippe,des Oberkiefers mit Ausnahme der Re-gion des Tuber maxillae beidseits, derOberlippe sowie des gesamten knö-chernen und Weichteilmittelgesichtsmit Ausnahme der Augen. Da der Pa-tient erst mehrere Stunden nach derVerletzung gefunden wurde, war infol-ge des Blutverlusts durch den deva-stierten Gesichtsschädel sein Allge-meinzustand so schlecht, dass primärnur eine Notversorgung mit dem Ent-stehen einer gemeinsamen Öffnung fürMund- und Nasenraum möglich war.Dabei wurden die restierenden Skelett-anteile durch die Überbrückungsplat-ten in ihrer anatomisch richtigen Posi-tion gehalten. Durch eine Abfolge re-konstruktiver Eingriffe wurden dieWeichteile aus der näheren Umgebungzur Bildung von Ober- und Unterlippe

und Trennung von Nasen- und Mund-höhle herangezogen. Durch Knochen-und Knorpeltransplantationen mitnachfolgender Kammplastik konntenfunktionsfähige Ober- und Unterkieferhergestellt werden. Der Nasenersatzerfolgte nach Vorpflanzen eines Com-posite grafts vom Ohr zum Ersatz derNasenflügel in die Schläfenregion miteinem Stirnlappen, in den ein Winkel-span eingebracht wurde, sodass eineweitgehende funktionelle und morpho-logische Rehabilitation erreicht wer-den konnte (Abb.11).

Schlussfolgerung

Während die allgemeinen Behand-lungsstrategien bei Schussverletzun-gen auf Erkenntnisse v. a. aus den bei-den Weltkriegen zurückgehen und zu-mindest in erheblichen Teilen nach wievor ihre Gültigkeit haben, sind auf demGebiet der Wiederherstellung durchdie Einführung neuer Techniken undMaterialien erhebliche Fortschritte zurVerbesserung der Ergebnisse in funk-tioneller und ästhetischer Hinsicht ge-geben. Der vermehrte medizinischeAufwand und die damit verbundenengesteigerten Kosten machen sich si-cherlich nicht nur für die Lebensqua-lität des Betroffenen, sondern auchdurch geringere Aufwendungen fürdauernde Invalidität für die Allge-meinheit bezahlt.

Literatur

1. Ballingall G (1842) Cases and communica-tions illustrative of subjects in military andnaval surgery. Edinburgh Med Surg J1842:116–121

2. Cohen MA, Shakenovsky BN, Smith J(1986) Low velocity hand gun. Injuries ofthe maxillofacial region. J Craniomaxillo-fac Surg 14:26

3. De Muth WE (1966) Bullet velocity and de-sign as determinates of wounding capabili-ty: An experimental study. J Trauma 6:122

4. Drye JC, Schuster G (1953) Shotgunwounds. Am J Surgery 85:438

5. Ganzer H (1943) Die Kriegsverletzungendes Gesichtes und Gesichtsschädels. Barth,Leipzig

6. Gattinger B, Obwegeser JA (1991) Wieder-herstellung von partiellen und totalen Mit-telgesichtsdefekten nach Schußverletzun-gen. In: Schwenzer N (Hrsg) Fortschritte derKiefer- und Gesichtschirurgie, Bd 36.Thieme, Stuttgart New York

7. Gellis MB (1983) Massive craniofacial in-jury: initial treatment and methods of recon-struction. J Oral Maxillofac Surg 41:605

8. Kazanjian VH, Converse JM (1959) Thesurgical treatment of facial injuries.Williams & Wilkins, Baltimore

9. Lindemann A (1916) Über die Beseitigungder traumatischen Defekte der Gesichts-knochen. Behandlung der Kieferschußver-letzungen. In: Bruhn Ch (Hrsg) Ergebnisseaus dem Düsseldorfer Lazarett. Wiesbaden

10. Paré A (1601) Wund Artzney. Franckfurt amMayn

11. Pichler H (1943) Deckung größerer Ge-sichtsdefekte mit Lappen aus Schulter undRücken. Z Stomatol 21

12. Prein J, Schwenzer N, Hammer B, EhrenfeldM (1996) Rekonstruktionen des Unter-kiefers nach Schußverletzungen. In:Schwenzer N (Hrsg) Fortschritte der Kiefer-und Gesichtschirurgie, Bd 41. Thieme,Stuttgart New York

13. Proff P, Renk A (1987) The case of the gun-ner with the silver mask. Mad Corps Int5:29–33

14. Reichenbach E (1947) Die gestielteKnochenplastik im Unterkiefer. Ein Berichtüber 100 Fälle. Zentralbl Chir 4:72

15. Rosenthal W (1918) Die Kriegsverletzun-gen des Gesichtes. Erg Chir Orthop 10:196

16. Rowe NL, Killey HC (1955) Fractures ofthe facial skeleton. Williams & Wilkins,Baltimore

17. Sanvenero-Roselli (1941) Plastische Chi-rurgie in Kriegszeiten. Z Arztl Fortbd 12:38

18. Schuchardt K (1944) Der Rundstiellappen inder Wiederherstellungschirurgie des Ge-sichts-Kieferbereiches. Thieme, Leipzig

19. Ullik R (1948) Die plastische Chirurgie desGesichts. Urban & Schwarzenberg, Mün-chen Wien Baltimore


Recommended