PRAXISLEIIFADEN PSYCHIAIRIE
G.A.E. RUDOLF
r[)fll:\n DeutscherUniversitiitsVerlag ~ GABLER
·VIEWEG·WESTDEUTSCHER VERLAG
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Rudolf, Gerhard A. E.: Der depressive Patient in der arztlichen
Sprechstunde 1 G. A. E. Rudolf. - 4., iiberarb. und aktualisierte
Aufl., - Wiesbaden: Dt. Univ.-Verl., 2000 CDUV : Medizin)
(Praxisleitfaden Psychiatrie) ISBN-13: 978-3-8244-2131-2 e-ISBN-13:
978-3-322-88910-2 DOl: 10.1007/978-3-322-88910-2
Herausgeber: Prof. Dr. med. G. A. E. Rudolf
Aile Rechte vorbehalten © Deutscher Universitats-Verlag GmbH,
Wiesbaden 2000
Der Deutsche Universitats-Verlag ist ein Untemehmen der Bertelsmann
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Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
geschiitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des
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Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und
Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt
A. 1.1.2 A. 1.2
A. 1.3 A. 1.3.1 A. 1.3.2 A.1.3.3 A. 1.3.4 A. 1.3.5 A. 1.3.6 A. 1.4
A. 1.4.1 A. 1.4.2 A. 1.4.3 A. 1.4.4 A. 1.4.5 A. 1.4.6 A. 1.4.7 A.
1.4.8
Alls.m.ln.rT.iI
.....................................................................................
12 Allgemeine Grundlagen
......................................................
.............. 12 Die Diagnostik und Therapie depressiver
Erkrankungen: Ein Problem der (nicht psychiatrischen)
Allgemeinpraxis .................. 12 Die Haufigkeit depressiver
Erkrankungen in der Bevo1kerung
........................................................................................
12 Der Anteil depressiver Patienten in der Allgemeinpraxis
................... 14 Was ist eine Depression? Von der normalen
«depressiven« Befind1ichkeit zur behandlungsbediirftigen Depression
...... .... ..... ...... 14 Das Erscheinungsbi1d depressiven
Krankseins ................................... 17 Seelische
Symptome .. ......... ............................. ......
......... .......... ...... ..... 17 Psychomotorische Symptome
............................................................. 19
Somatische Symptome ....... ..... ............... ... ...... ...
... ... ...... ...... ... ....... ..... 19 Psychosozia1e
Auswirkungen depressiven Krankseins ....................... 20
Anhang: Manische Symptome
............................................................ 21 Der
Verlauf depressiver Erkrankungen
............................................... 23 Die Ursachen
depressiver Erkrankungen ........ ...... .... ..... ......
.......... ..... 24 Die (genetische) Disposition
...................... ...... ... ...... ......... ...... ...
........ 26 Neurochernische und neuroendokrinologische Befunde
..................... 30 Chronobiologische Faktoren
............................................................... 32
Korperliche Erkrankungen und depressive Storungen
........................ 33 Belastende Lebensereignisse
............................................................... 37
Personlichkeitspsychologische Modelle ........... .... .....
.......... ... ... ... ....... 38 Psychoanalytische Modelle .
...... ... ............ ... ..... .... ...... ... ...... ... ...
... ....... 39 Empirisch-psychologische Modelle
.................................................... 41
•
A. 2.3 A. 2.4 A. 2.5 A. 2.6
A. 2.7
A. 2.8
A. 3.2 A. 3.3 A. 3.3.1 A. 3.3.2 A. 3.3.3
•
Allgemeines zur Therapie .... ..... .... ..... .......... .....
.......... ............... ....... 72 Grundregeln des
(psycho-)therapeutisch orientierten Umgangs mit dem depressiven
Patienten und seiner Familie ............. 72 Der
Gesamtbehandlungsplan ................ ...... .........
......................... ....... 73 Spezielle psychotherapeutische
Behandlungsverfahren ...................... 75 Das arztliche oder
psychotherapeutische Gesprach ............................ 75 Die
fiihrende und stiitzende Psychotherapie... ...... .... ...
........................ 77 Die klientenzentrierte
Gesprachspsychotherapie nach Rogers
.........................................................................................
77 Psychoanalytische Therapie
................................................................ 78
Verhaltenstherapie ................. ...... .........
............... ................................ 79 Kognitive
Psychotherapie
....................................................................
79 Antidepressive Pharmakotherapie .............. ,. ... ..... ....
............... ......... ... 80 Die Wirkungsweise der
Antidepressiva .............................................. 80
Die Wirkungsqualitaten der Antidepressiva
........................................ 82 Das Wirkungsspektrum
der einzelnen Antidepressiva ........................ 85
Kontraindikationen, Therapierisiken ..............
..................................... 88 Dosierungsrichtlinien
..........................................................................
91 Kontrolluntersuchungen wahrend der Behandlung .........
.................... 92 Orale Medikation oder lnfusionstherapie?
.......................................... 94 Besonderheiten bei
Monoaminoxidase-Hemmem .............................. 96
Anmerkungen zur Compliance. ............ ...............
.......................... ...... 98 Wachtherapie (Therapeutischer
Schlafentzug) .................................. 98
A. 3.6 A. 3.7
A. 3.9.2 A.3.9.3 A. 3.9.4 A.3.9.5
B
B.2
Inhalt
Spezleller 'en ..... ........ ...... ........ ... ....... ...
...... ... ........ ... .... ............ ..... .... 118
Diagnostische Ma6nahmen ond Therapie bei einzelnen depressiven
Krankheitsbildern
...................................................... 127 Der
trauemde Patient
.........................................................................
127 Der reaktiv depressive Patient
........................................................... 128 Der
neurotisch-depressive Patient
..................................................... 130 Der
me1ancho1ische ( endogen depressive) Patient .... ...... ..... ....
..... .... 131 Der wahnkranke Depressive
.............................................................. 133
Der manische Patient
.........................................................................
134
•
•
Anhang
...............................................................................................
147
Referenztabelle ICD-9 versus ICD-IO (afTektive Storungen)
........................................................................................
151
Antidepressiva
...................................................................................
159
StichworIYeneichnis
............................................................................
180
Vorworl zur 4. lullage
Der Praxisleitfaden fiir den Umgang mit dem depressiven Patienten
in der arztli chen Sprechstunde ist so positiv aufge nommen
worden, dass nunmehr eine 4. Auflage angezeigt erscheint. Der
Inhalt ist iiberarbeitet, modifiziert und aktualisiert worden.
Damit sollen - so ist zu hoffen - die Belange der prak tisch
tatigen Arzte noch besser getroffen werden. Auch wenn es
"provinziell", konserva tiv oder unwissenschaftlich erscheinen
mag, sind die Ausfiihrungen zur Diagno stik und nosologischen
Zuordnung noch nicht voll an die seit 1992 giiltige "Klassi
fikation psychischer Stbrungen" (ICD- 10 der WHO) angepasst worden.
Das erschien im Augenblick, d. h. in einer Umbruchphase
diagnostischen Denkens und Handelns, in mancherlei Hinsicht
noch verfriiht, sich allein an die neue Klassifikation anzupassen.
Eine Lern phase ist angezeigt. In einer eventuell folgenden
Auflage des Buches wird das neue klassifikatorische Denken voll in
tegriert werden. Zu danken ist Herm 1. Weser und Mitar beitern,
die mit viel Geduld und groBem Engagement aIle Arbeiten bis zur
Druck legung in bewahrter Weise durchgefiihrt haben. Kritische
Anmerkungen zum Inhalt und zur Form der Darstellung sind weiterhin
willkommen.
Miinster, im Januar 2000
G. A. E. Rudolf
Einleilung
•
gagement der niedergelassenen Arzte schaft, fast ausnahmslos
Nichtpsychi ater, beeindruckend groB. Die Diskus sionsbeitrage
wurden auf Tonband mit geschnitten, inhaltlich ausgewertet und in
den Text eingearbeitet. Form und Inhalt dieses Buches sind somit zu
einem groBen Teil nicht allein vom Au tor, sondem von zahlreichen,
weitge hend anonym gebliebenen Kollegen aus dem Kreis der
niedergelassenen Arzte schaft gepragt worden. Ihnen sei hier in
besonderem MaBe gedankt. Weiterhin gilt der Dank den Referenten der
Workshops. Sie haben Freizeit geop fert und Arbeit auf sich
genommen: Dr. med. H. BIEBER, Miinchen; Dr. med. M. ENGEL,
Emsdetten; Dr. med. B. GREMSE, Goslar; Dr. med. Dipl. Psych. C. E.
HERZMANN, K6ln; Dr. med. P. HORST MANN, Kiel; Dr. med. S.
KAUMEIER, Mannheim;' Priv. Doz. Dr. med. G. KRUGER, Mannheim; Dr.
med. W. Orro, Hagen; Prof. Dr. med. B. PFLUG, Frank furt; Dr. med.
H. J. RAFFAUF, Hagen; Dr. med. J. RAFFAUF, Hagen; Priv. Doz. Dr.
med. G. RITZEL, Hildesheim; Priv. Doz. Dr. med. E. RUTHER,
Miinchen; Prof. Dr. med. G. W. SCHIMMELPENNING, Kiel; Priv. Doz.
Dr. med. K. L.
TASCHNER, Stuttgart; Dr. med. E.-H. TREMBLAU, Koln; Dr. med. E.
ZELLER,
Stuttgart. Es ist zu hoffen, dass das vorliegende Buch in Inhalt
und Form akzeptiert wird; zu wunschen sind aber auch kritische
Stellungnahmen, denn nichts ist schwe rer als der erste Schritt,
und nichts macht den nachsten Schritt besser als ein offe-
Einleilung
ner und kritischer Gedankenaustausch mit dem Leser.
•
A.l.l.l
Die Haufigkeit depressiver Erkrankungen in der Bevolkerung
•
ten der sog. Falldefinition durch unter schiedliche
Diagnosekriterien und der Datengewinnung mit groBen Vorbehal ten
interpretiert werden. Wir konnen heute davon ausgehen, dass sich an
einem Untersuchungsstichtag (Stichtags- oder Punktpriivalenz) etwa
13 bis 20 % der Bevolkerung depressiv flihlen . Das ergaben
systematische Stu dien mit Selbstbeurteilungsfragebogen (BoYD und
WEISSMAN 1982). Bei den dort angegebenen depressiven Beschwerden
handelt es sich aber nicht nur urn behand lungsbedUrftige
Zustande; vielmehr sind in dem genannten Prozentsatz auch die
kurzfristigen, schnell wieder vortiberge hen den
Missbefindlichkeiten enthalten. Nach ANGST (1987) lag die Punktpra
valenz in den Industrienationen, errnit telt mit neueren
diagnostischen Tech niken, flir Manner zwischen 2,3 und 3,2 % und
fUr Frauen zwischen 4,5 und 9,3 %. DILLINGu.a. (1984) sahenin Ober
bayem eine Punktpravalenz von 1,4 % affektiver Psychosen, 0,1 %
reaktiver de pressiver Psychosen und 12,8 % depres siver
Neurosen, also eine Pravalenz von insgesamt 14,3 %. Das
Morbiditatsrisiko (d. h. die Wahr scheinlichkeit, dass eine Person
im Lau-
fe ihres Lebens an einer depressiven Sto rung erkrankt) liegt nach
BOYD und WEISSMAN (1981) fUr Manner bei 8 bis 12 %, fUr Frauen bei
20 bis 26 %. Die Inzidenz, das ist die Haufigkeit des Auftretens
affektiver, insbesondere de pressiver Storungen, wird in sog. Jah
resinzidenzen pro 1000 Personen der Be volkerung berechnet. Unter
Einbezie hung von milderen depressiven Syndro men liegen die
Zahlen hierfiir zwischen 5,98 und 12,6. Als Risikofaktoren fUr das
Auftreten de pressiver Storungen werden u. a. die
GeschlechtszugehOrigkeit, das Lebens alter und soziale Faktoren
angesehen, z. B. Urbanisierung, soziale Schicht, Arbeitslosigkeit,
Zivilstand, Fehlen ver trauensvoller personlicher Beziehun gen,
friihkindliche Entwicklung, Stres soren, soziale Unterstiitzung
u.a. Frauen erkranken offenbar haufiger als Manner. Das Verhaltnis
lag bisher bei etwa 2 : 1. In neueren Untersuchun gen zeigt sich
jedoch beziiglich des Erkrankungsrisikos fUr Depressionen eine
Abnahme der grofieren Haufigkeit bei Frauen (ANGST 1987). Das wird
be sonders deutlich, wenn das zuneh mende Lebensalter
beriicksichtigt wird (ANGST 1986). Man fand auch bei alteren
Menschen eine Punktpravalenz von 15 bis 17 %. Dabei ist zu
erkennen, dass reine Depres sionen sehr wahrscheinlich abnehmen,
korperlich mitbegriindete dagegen zu nehmen. Weiterhin besteht
hinsichtlich der Pravalenz depressiver Erkrankungen
Diagnoslik und Therapie depressiver bkrankungen
im Alter eine besondere diagnostische Unsicherheit: Sehr
wahrscheinlich wer den manche Symptome, die auch depres sive
Ursachen haben konnen, z. B. der Verlust von Interessen, Dynamik,
Tem po, Konzentration, Optimismus, aber auch korperliche
Beschwerden, wie SchlafsWrungen, fehlender Appetit oder korperliche
Abgeschlagenheit, hinsicht lich ihrer Ursachen oft anders bewertet
und z. B. dem organischen Psycho syndrom zugeordnet, dessen
Ursache je doch eine Himleistungsschwache ist.
Literatur:
ANGST J. Epidemiologie der Spatdepression. In: KIELHOLZ P, ADAMS C,
Hrsg. Der alte Mensch als Patient. Deutscher Arzte verlag: KOln
1986.
ANGST J. Epidemiologie affektiver Psycho sen. In: KISKER KP,
LAUTER H, MEYER JE, MULLER C, STROMGREN E, Hrsg. Psychia trie der
Gegenwart 5, Affektive Psycho sen. Springer: Berlin, Heidelberg,
New York, London, Paris, Tokio 1987.
BOYD JH, WEISSMAN MM. Epidemiology of Affective Disorders. A
Reexamination und Future Directions. Arch Gen Psychia try 1981;
38: 1039-1046.
•
me arztlicher Institutionen in drei klein stadtisch-landlichen
Gemeinden des Land kreises Traunstein/Oberbayern. Enke: Stuttgart
1984.
WITICHEN HK, SCHUSTER P, PFISTER H u.a.: Depressionen in der
Allgemeinbe v61kerung - schlecht erkannt und selten behandelt.
Nervenheilkunde I 999a; 18: 202-209.
WITICHEN HK, SCHUSTER P, PFISTER H u.a.: Warum werden Depressionen
haufig nicht erkannt und selten behandelt? Ner venheilkunde 1999b;
18: 210-217
A. 1.1.2 Der Anteil depressiver Patienten in der Allge
meinpraxis
•
Aligemeiner Teil
»larviert«. Zudem sind die Grundziige der Depressionsdiagnostik in
der breiten Arzteschaft noch nicht in gentigendem MaBe bekannt.
Dadurch wird deutlich, dass der erste Schritt zu einer adaquaten
Hilfe flir de pressiv Erkrankte in der (nicht psychiatri schen)
arztlichen Praxis getan werden muss. Nur wenige Patienten gehen
direkt zum Psychiater. Die sog. Allgemeinpra xis ist diejenige
Institution, die die Wei chen zu stellen hat. Der Hausarzt sollte
in der Lage sein, eine Depression bei sei nem Patienten zu
erkennen und eventuell auch selbst zu behandeln. Bei Unsicher heit
sollte der Patient zur Bestatigung seiner Diagnose und ggf. auch
zur not wendigen Therapie einem Psychiater iiberlassen
werden.
Literatur:
RUDOLF GAE. Wo soUte der psychisch kran ke Patient behandelt
werden? Miinch Med Wochenschr 1989; 131: 39-40.
A. 1.2 Was isl eitle Depre sum? Von der normalen »depress;ven«
Bejindlicllkeit zur behalldluIIgsbediirjtigell Depressioll
Hinter dem Begriff Depression oder affektive Erkrankung verbergen
sich verschiedene Symptome: ein adaqua tes, niedergestimmtes
Befinden nach
schmerzlichen Verlusten, eine gedriick te Stimmung in einer akuten
Konflikt situation, ein Verstimmtsein als Per
sonlichkeitseigenart, aber auch ein un motiviertes, dem
Betroffenen nicht er kHirbares Herabgestimmtsein. In der All
tagssprache hat sich Depression zu ei nem Modewort entwickelt und
steht in der Regel flir Missbefindlichkeit, Unlust,
Initiativelosigkeit, Apathie, Niederge schlagenheit,
Hoffnungslosigkeit oder Resignation. Die Stimmung ist gedriickt,
oft gepaart mit Angstgeflihlen. Es fehlt die Lebensfreude; das
Dasein erscheint eintOnig und farblos. Diese komplexe Form
veranderter seelischer Emotionali tat dringt durch bis in den
korperlichen Bereich. Wer so empfindet, flihlt sich nicht nur
seelisch herabgestimmt, er er lebt die Bedriickung auch
korperlich: Er flihlt sich physisch abgeschlagen und matt, sein
Organismus scheint nicht mehr so zu funktionieren, wie er das von
ihm aus »guten Zeiten« gewohnt ist. Wenn ein Mensch sich in der
geschilder ten Weise selbst wahmimmt, heiBt das jedoch noch nicht,
dass er krank ist. Zu erst kann vermutet werden, dass es sich urn
seelische und korperliche Reaktio nen eines Menschen auf
Widrigkeiten des Lebens handelt, narnlich dann, wenn die
bedriickenden Ereignisse vOriiberge gangen sind oder der
Betroffene die dar aus resultierenden Probleme mit eigener Kraft
oder auch fremder Hilfe bewiilti gen konnte. Eine »depressive«
Befindlichkeit ist ein gar nicht so seltenes Phiinomen
mensch-
Was isl eine Depression?
lichen Erlebens. Jedermann wird, wenn er sich selbst priift,
bestatigen konnen, dass er alles bisher Geschilderte aus ei gener
Erfahrung kennt. Und nur wer meint, dass das Leben allein positive
Erfahrungen mit sich bringt, wird sagen, dass eine solche, oft als
»Depression« bezeichnete seelische Verfassung eine Erkrankung
ist.
Merke: Nicht jede gedriickte Stimmung oder seelische
Missbefindlich keit ist eine »Depression«. Man spricht zuerst
besser von Ver stimmtsein, von Traurigkeit, Deprimiertsein o.
A.
•
die gedrtickte Stimmung und die sie be gleitenden Phanomene
langere Zeit an oder sind die Beschwerden extrem aus gepragt, wird
er aber bald Hilfe su chen, haufig wird er auch von AngehO rigen
oder Freunden dazu gedrangt. Der Betroffene fiihlt sich »krank«, er
leidet unter einem Zustand, den zu beseiti gen er selbst nicht in
der Lage ist. Wer wegen dieser Beschwerden in die Sprech stunde
kommt, befindet sich in einem Zustand, den man in einem weit ge
fassten Sinn als Krankheit verstehen kann. Aus dem leidenden
Menschen wird ein Patient. In dieser Situation ist der Arzt zum
ersten Mal gefordert, eine Entscheidung herbeizufiihren: Handelt es
sich bei der »Depression« urn eine »normale« Verstimmung oder urn
eine Krankheit?
Merke: Eine Abgrenzung zwischen »normalem« Verstimmungszu stand
und depressivem Krank sein ist schwierig. Aber: Der Hilfe suchende
Patient muss angehort werden. Erst dann kann der Arzt entscheiden,
ob es sich bei den geschilderten Pro blemen urn einen »abnormen«
oder »krankhaften« Zustand handelt.
•
Aligemeiner leil
seine korperlichen Beschwerden schil demo Die seelischen Probleme
bleiben verborgen (»larviert«). Er folgt damit dem Klischee der
traditionell somatisch orientierten medizinischen Betrach
tungsweise. Seelisch nicht intakt zu sein ist eher diskriminierend
als an einer kor perlichen Erkrankung zu lei den. Wir ste hen
dann vor dem Phanomen der sog. larvierten Depression.
Merke: Es besteht die Gefahr, dass bei den KJagen tiber korperliche
Be schwerden eine depressive see lische Verfassung tibersehen
wird.
Auf der Grundlage der vorausgegange nen Uberlegungen und der
eigenen prak tischen Erfahrung konnen recht einfache Kriterien
entwickelt werden, nach denen ein depressiver Patient bzw. seine
Be handlungsbedtirftigkeit zu beurteilen sind:
Merke: Eine Depression im Sinne einer Erkrankung liegt bei einem
Menschen vor, wenn neben moglicherweise zahlreichen an deren
korperlichen und seeli schen Beschwerden 1. eine seelische
Verstimmung
erkennbar ist, 2. diese schon langer andauert
und 3. der Betroffene nicht in der
Lage ist, diese aus eigener Kraft zu tiberwinden .
Der Versuch einer Abgrenzung »nor maler« Verstimmungszustande von
»krankhaften«, die dann Depression ge nannt werden, lasst
zahlreiche Fragen offen und dem Untersuchenden vor al lem einen
groBen Ermessensspielraum. Hier bewegt sich der in der Praxis
nieder gel as sene Arzt - anders als in der Klinik - in einem
Grenzbereich zwischen »noch gesund« und »schon krank«: flir ihn ein
alltagliches Problem, mit dem er -jedoch eher im somatischen
Bereich - urnzuge hen gelemt hat. Vielleicht helfen ihm heute die
modemen Diagnostischen Leitlinien nach ICD-lO zur Klassifika tion
depressiver Erkrankungen weiter (s. Kap. 2.8. S. 59 ff).
Literatur:
ANGST J. Begriff der affektiven Erkrankun gen. In: KISKER KP,
LAUTER H, MEYER JE, MULLER C, STROMGREN E, Hrsg. Psychia trie der
Gegenwart 5, Affektive Psycho sen. Springer: Berlin, Heidelberg,
New York, London, Paris, Tokio 1987.
KIELHOLZ P, POLDINGER W, ADAMS C. Die larvierte Depression.
Deutscher A.rzte verlag: KOin 1981.
A 1.3 Das Erscheinungsbild depressiven Krank eins
A. 1.3.1 Seelische Symptome
E rs(heinungsbild depre ssiven Kro nkseins
•
»Traurigc« VCr'limlllung. Missge limmlheil. nzufriedenheil
Unfdhigkeil/ur Freud und Trauer
»Innere Leere«. ) OefOhI d r Lcblosigk ilcc. Apalhie.
I-Ioffnungslosigkeil. Pe ' imi mu • MUllo. igkcil. negalive · clb
lbild. fehlendc elbMwengefUhl. o fUhl odcr Oewi •. h il on Vcrsagen
und chuldhuflelll Vcrhallen, Mind rwenig keiLSgcflih l.
Grilbelneigung oder -zwang. Dcpcrsonuli. alion. Dereali alion.
Gcruhl. das die Zeil niehl vergehl (»gcdehnte« Zeit)
AUloaggrc .. i ves Denken. TodeswOn. ehe. Tode~fanlasien. latente
und offene uizidalital (0 fUhl on der innlo igkcil de. eigcnen
Leben)
D nkhcllllllung. IdeenamlUl. nent chlossenhcil. Initiativelo.
igkeil. Enl heidung.. hwache odcr -unrdhigkeil. Energielo. igkeil.
erslarrte Verhallen.
lupor
elbsli ·olicrung. K ntaktarmul. 'exuellc Inappelenz
Vemachlti sigung on Kleidung und Korpcrpncg
Bei hweren Dcpre. ioncn: Wahn: h pochondrisch. nihilislisch.
paranoid. Vcrarmungs- und Ve i1ndigung v r. tellungen, fehlendes
KrankheilsgefOhl
chwankungen der Inten iUiI der Bcschwerden (z. B.
»Morgenlief«)
dungsgrad, Sozialstatus und zahlreiche situative Faktoren
gepriigtes Krankheits bild.
•
Viele, insbesondere leichtere depressi ve Erkrankungen sieht man
dem Patien ten primiir nicht an. Er ist sehr wahr scheinlich noch
in der Lage, die ihm selbst unangenehme Befindlichkeit ge geniiber
der Umwelt zu verbergen. Erst in einem vertrauensvollen Gespriich,
oft erst nach Befragen, schildert er seine dann doch sehr eindeutig
auf eine
E rs(heinungsbild depre ssiven Kro nkseins
depressive Erkrankung hinweisenden A. 1.3.3 Beschwerden.
Somatische Symptome
Auf der Verhaltensebene konnen sich bei depressiven Patienten
syndromal oft Unterschiede zeigen:
a) Das gehemmt-depressive Syndrom: Der Patient wirkt antriebslos,
ady namisch, still, einsilbig bis wortlos, in Mimik und Gestik
verarmt, zeigt keiner lei Initiative, schaut resigniert in den
SchoB oder blickt den Untersucher hilf und ratlos an, ohne sich
adaquat artiku lieren zu konnen. Diese allgemeine Ge hemmtheit
kann bis zu einem stuporo sen Erscheinungsbild ftihren, in dem der
Patient zu keinerlei Handlung mehr in der Lage ist.
b) Das agitiert-depressive Syndrom: Der psychomotorisch agitierte
Patient verhiilt sich unruhig, getrieben, angst lich; er klagt
wortreich, oft jammemd tiber seine innere »Not« und seine de
pressiven Gedankeninhalte. Er kann nicht still sitzen, steckt
voller Spannung, rennt umber, findet kaum Ruhe zuzuho ren, ist
hiiufig nur schwer oder tiberhaupt nicht an einen Gesprachsfaden zu
fixie reno Er bettelt urn Hilfe bis hin zu der Aufforderung, dem
ganzen Elend - und damit seinem Leben - ein Ende zu setzen.
Allgemein kann gesagt werden, dass es kaum ein korperliches Symptom
gibt, das nicht auch im Rahmen depressiver Erkrankungen vom
Patienten genannt wird. Auch hier gilt, dass nicht alle in Tab. 2
aufgeftihrten Symptome unbedingt vor liegen mtissen. Es ist aber
immer wieder zu bedenken, dass der depressive Pa tient primar mit
nach seiner Meinung korperlich begrtindeten Beschwerden zum Arzt
kommt und an diesen Ur sacheninterpretationen festhalt. Viel fach
handelt es sich urn Einzelsymptome oder kleine Gruppen somatischer
Be schwerden, deren organische Verursa chung mit den gegebenen
diagnos tischen Moglichkeiten nicht festgestellt werden kann. Die
Symptombe schreibung ist haufig unscharf. 1m Vor dergrund stehen
Klagen tiber eine allge meine korperliche Mattigkeit, tiber
SchlafstOrungen und diffuse Schmerzen.
Literatur:
KIELHOLZ P, POLDINGER W, ADAMS C. Die larvierte Depression.
Deutscher Arzte verlag: Kaln 1981.
•
• ltindigcs MlldigkcilsgcfUhl
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•
•
•
•
•
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hwindelgefilhl. limmern v r den Augen, h. lorungcn
• G I nk chwcrd n
• Mu. t..ultire crspannungen
•
Betroffenen. Sein bisheriges (gesundes) Verhalten sah anders aus.
Gegeniiber der Umwelt (Ehepartner, Familie, Freunde, Bekannte)
zieht sich der Erkrankte zuri.ick. Die Kommunika tion wird bis zur
vOlligen Aufgabe redu-
ziert. Der Patient ist stiller, weniger an sprechbar, er reagiert
auf die Umgebung in ungewohnter Weise. Bei angstlich agitiert
Depressiven kann ein klagendes, anklammemdes Verhalten im Vorder
grund stehen. Die Umwelt wird in der Regel primae mit Unverstandnis
reagieren, abwehren, das Verhalten des Depressiven nach den Normen
beurteilen, die flir den Umgang mit gesunden Menschen gel ten. In
der Kommunikation zwischen dem Patien ten und seiner Umwelt kommt
es zu Fehlinterpretationen, Missverstandnis sen und letztlich
falschen Schliissen: Das Verhalten des Depressi yen wird von seinem
Gegeniiber als ein Nicht -Wollen, als charakterliche Schwache, als
absicht liches Nicht-Tun des eigentlich Konnen den gedeutet.
Dieser wiederum sieht im Verhalten seiner Umwelt dann oft die
Bestatigung flir all das, was er empfin det, denkt und wovon er
zutiefst iiber zeugt ist. In der Interaktion zwischen Patient und
Umwelt kann das Gedachte oder Beflirchtete flir ihn zur Gewissheit
werden. Er gerat in noch staekere Abkap selung, noch tiefere
Isolation; das Leiden wird noch groBer. Die gesunde Umwelt nimmt
das als eine weitere Akzentuie rung des nicht akzeptierten
Verhaltens wahr. 1m beruflichen Bereich ist eine Leis
tungsminderung zu erkennen, oft ver steckt hinter ungezielter
Aktivitat. Der Kranke erscheint »unproduktiv«. Die Leistung,
gemessen an der eigenen frii heren Arbeitskraft, geniigt nicht
mehr.
Erscheinungsbild depressiven Kronkseins
Der depressiv Erkrankte wird zu einem nicht mehr akzeptierten
Mitarbeiter. Zuerst kommt es zu Fragen nach den Griinden, dann zur
Errnahnung, besser und mehr zu arbeiten, spater zu Verset zungen,
Herabstufungen, zum Schluss zur Entlassung aus dem Arbeitsverhalt
filS.
Merke: Es tritt erst dann ein Wandel in der Beurteilung des
Depressiven ein, wenn erkannt wird, dass es sich bei den
Veranderungen in der Kommunikation und den Leistungsdefiziten am
Arbeits platz urn die Folgen einer Er krankung handelt. Dann
erhalt er in der Regel den Schutz, den auch der organisch Kranke in
unserer Gesellschaft erfahrt.
Literatur:
FAUST V. Der psychisch Kranke in unserer Gesellschaft. Was
befiirchtet der psy chisch Kranke vom Gesunden - was weiB der
Gesunde vom psychisch Kranken? Hippokrates: Stuttgart 1981.
A. 1.3.5 Anhang: Manische Symptome
•
Aligemeiner Teil
Tab. 3: Symptome der Depression und Manie (nach Hippius 1979; aus:
Moller H-J. Psychiatrie. 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart 1997)
limmung
Denken
Wahnideen
MOlorik
formal: gehemml, langsam. inf .. lIsarmul. zwanghafte~
Grilbeln
a) p ychomolori. che H mmung bis zum Lupor oder
b) agilien und eITegl
VilalgefUhle gedrilckl. chlaf 'tOrungen. Appelil-
I igkcil. chmcruu. Wndc ver chiedencr An: Kopfdruck. Klo6gefuhl im
Hals. Herzbe chwerden. Druckgcmhl auf dcr
BruM ("Ieibnah crleblc Traurig kcit"): allc Karper rg;me konnen
bClroffen ein (wenn nur ktlrpcr liche Be chwcrd n g I dagl werden:
ool .. rvienc Deprcs. ion")
Bei endogenen Dcprc\sioncn Be hwerd n am Morgen am sliirklen au,
gepriigl: Tage - chwankungen
euphori ch. geh ben. Icbcnfroh. UbcrmUlig. humorvoll. oplimi Ii.
ch. gereill
formal: be. chleunigt (Id nnu hI). infall reichtum. g lei gene.
assoziali\'es Denken • Rededrang inhailli h: elbslUb
rschiillung
. pieleri · he GroBenideen
VitalgefUhle erhOht. Gefilhl def esundh it und korperlichen
rLche
nisch-depressive Erkrankung). Die Ma nie kann auch als periodische
Erkran kung allein (d. h. ohne einen Wechsel mit depressiven
Phasen) auftreten. Gehobe ne Stimmung, gesteigerter Antrieb,
Ideenflucht, Enthemmung, aber auch paranoid-halluzinatorische
Symptome herrschen vor. Das Denken des Manikers ist durch
Selbstiiberschlitzung gepragt. Die Einsicht in das Krankhafte des
Zustandes ist in der Regel nicht gege ben. Die Manie ist in
mancher Hinsicht das Gegenstiick zur Melancholie (endo genen
Depression), wenn auch nicht ihr Spiegelbild. In Tab. 3 sind die
Sympto me von Depression und Manie gegen iibergestellt. Die
gehobene Stimmung kann bei einem Teil der Patienten als heiter
bezeichnet werden, ein anderer, fast ebenso groBer Anteil der
Maniker ist vorwiegend gereizt, fordemd, streit siichtig und
aggressiv. Immer besteht ein Zuviel an Affektivitat. 1m
k6rperlichen Bereich zeigen sich Abmagerung, Schlaf losigkeit (die
den Kranken jedoch nicht stOrt) , haufig ist das auBere
Erscheinungs bild verwahrlost. Differenzialdiagnostisch ist an
eine schi zophrene Erkrankung zu denken.
Literatur:
FAUST V. Manie. Eine allgemeinverstandli che Einftihrung in
Diagnose, Therapie und Prophylaxe der krankhaften Hoch stimmung.
Enke: Stuttgart 1997.
KUHS H, TOLLE R. Symptomatik der affekti-
E rs(heinungsbild depre ssiven Kro nkseins
yen Psychosen (Melancholien und Mani en). In: KISKER KP, LAUTER H,
MEYER JE, MULLER C, STROMGREN E, Hrsg. Psychia trie der Gegenwart
5, Affektive Psycho sen. Springer: Berlin, Heidelberg, New York,
London, Paris, Tokio 1987.
A.l.3.6 Der Verlauf depressiver Erkrankungen
•
•
Aligemeiner leil
bei 25 bis 30 % bis zu einem Jahr, bei 20 bis 25 % tiber ein Jahr.
Die inter individuellen Schwankungen sind be trachtlich. Die
Phasen k6nnen nur we nige Tage, aber auch mehrere Jahre dau em.
Intraindividuell bleibt die Phasen dauer im Laufe des Lebens
relativ stabil. Dank der Intensivierung der Behand lung haben sich
die Schwere der Mani festationen und das Rtickfallrisiko aber
verringert. Wahrscheinlich ist auch die bisher allgemein erh6hte
Mortalitat dank verbesserter somatischer Behandlung der
Begleitkrankheiten, die bei depres siven Patienten gehauft
beobachtet wer den k6nnen, niedriger geworden.
Literatur:
ANGST J: Verlauf der affektiven Psychosen. In: KISKER KP, LAUTER H,
MEYER IE, MOLLER C, STROMGREN E, Hrsg. Psychia trie der Gegenwart
5, Affektive Psycho sen. Springer: Berlin, Heidelberg, New York,
London, Paris, Tokio 1987.
A. 1.4 Die Ursachen depre ;ver Erkrankullgell
Es ist ein selbstverstandliches Bedtirfnis des Patienten, sich ein
Bild von der Ent stehung der depressiven Erkrankung zu machen, das
heiBt, sich tiber ihre Ursa chen kiar zu werden. Kein Geflihl ist
bedruckender, als sich einem undurch schaubaren Geschehen
schicksalhaft aus-
geliefert zu sehen. Das Erkennen der Ursache fUhrt zu der Hoffnung,
die Krankheit durch gezielte Intervention (Verhaltensanderung,
Korrektur fehlge laufener biologischer Prozesse oder an dere
MaBnahmen) beherrschen und im Sinne praventiven Verhaltens das Neu
auftreten in der Zukunft verhindem zu konnen. Der Arzt hat die
Aufgabe, dem Patienten dabei als Experte zu helfen. Die Bedingungen
der korperlichen und psychosozialen Entwicklung eines Men schen
fUhren zu dem, was seine Indivi dualitat, seine Personlichkeit
ausmacht. Jeder Mensch hat seine eigene Geschich te, gepragt durch
seine nur fUr ihn selbst spezifischen Entwicklungskonstellatio
nen. Die Chancen und die individuellen Moglichkeiten, sich mit den
schon in friihen Entwicklungsphasen auftreten den Konflikten, d.
h. mit den normalen Lebensanforderungen, auseinander zu setzen,
sind unterschiedlich gegeben. Das muss aus der somatisch wie aus
der psychologisch orientierten Perspektive gesehen werden.
Physiologische (biolo gische) und psychologische Betrach
tungsweisen bilden fUr das Verstandnis depressiven Krankseins
keinen Gegen satz, und zwar insofem, als jedes psychi sche
Geschehen fUr seine Realisierung neurophysiologische und
biochemische Mechanismen benotigt. Seitdem es eine
wissenschaftliche Psychiatrie gibt, haben Generationen von Arzten
versucht, die Ursachen de pressiver Erkrankungen zu ergriinden.
Das gelang ihnen mit einigem, jedoch
Ursochen depressiver Erkronkungen
•
Erkrankungen auszugehen. Sie ent spricht am ehesten der
Komplexitat ihres Gegenstandes und der Pluralitat wis
senschaftlich moglicher Forschungsan satze; mit Sicherheit
entspricht diese Betrachtungsweise dem hochdifferen zierten Wesen
menschlicher Existenz am besten.
Merke: Nach dem heutigen wissen schaftlichen Kenntnisstand gibt es
weder eine einzelne Ursache flir die Entstehung einer Depres sion
noch sind genetische, bio chemische, empirisch-psycho logische,
tiefenpsychologische oder andere Erklarungsmodelle jeweils flir
sich allein ausrei chend, urn das komplexe Ent stehungsgeflige
depressiver Er krankungen zu erklaren.
•
Aligemeiner Teil
Dieses biopsychosoziale Modell der Pa thogenese depressiver
Erkrankungen kommt dem heutigen Kenntnisstand am nachsten (WHY BROW
u. a. 1984). Die Ur sachenforschung steht erst an einem viel
versprechenden Anfang. Ihre Heteroge nitat hat jedoch Folgen fiir
Diagnostik und Therapie.
Literatur:
AKISKAL HS, McKINNEY WT. Overview on Recent Research in Depression.
Arch Gen Psychiatry 1975; 32: 285-305.
ANGST 1. The Origins of Depression. Current Concepts and
Approaches. Springer: Ber lin, Heidelberg, New York, Tokyo
1983.
LERER B, GERSHON S. New Directions in Affective Disorders.
Springer: New York, Berlin, Heidelberg, London, Paris, Tokyo,
Hongkong 1989.
MUNDT C, FIEDLER P, LANG H, KRAUS A. Depressionskonzepte heute:
Psychopa thologie oder Pathopsychologie? Sprin ger: Berlin,
Heidelberg, New York, Lon don, Paris, Tokio, Hongkong, Barcelona
1991.
WHYBROW PC, AKISKAL HS, McKINNEY WT. Mood Disorders. Toward a New
Psycho biology. Plenum Press: New York, Lon don 1984.
A. 1.4.1 Die (genetische) Disposition
Wir wissen heute, dass bestimmte, vor ab nicht genau zu
definierende Perso nen eher an einer Depression erkranken
Ursochen depressiver Erkronkungen
Akl/lell Prlidi.I'I}()SiliOIl Akfllell Priitii:>posilicl/I
Phy iologi che GcnCli 'ch Psycho ol.iale Enlwicklung '- Lre . orcn
akloren Ire . ren bcdingte
EinnU e
(Re crpin. (Prii 'ynapli chc virale Infcktion. Membran defekl,
Hypothyreo c) poslSynapti. che ru ·tration n,
Rezepl r- Kmnkheitcn, empfindlichkeil elc.) verilndcrl)
Funkliosandcrung dcr biogcnen mine, ProduktiOIl torungcn der
eurolransmillcr, inlruncur<llc atriumakkumulalioll
Dicllz.ephalon ertindcrungcn und damil Entwicklung hin I.U •.
.
Depression
•
•
Aligemeiner Teil
In der Literatur gibt es zahlreiche unter schiedliche Hypothesen
i.iber die geneti schen Grundlagen depressiver Erkran kungen. Die
Moglichkeit und die Wahr scheinlichkeit, aufgrund der wissen
schaftlichen Daten eine einheitliche Theorie bilden zu konnen,
scheinen noch in weiter Feme zu liegen. Man spricht hypothetisch
eher von »multifaktoriel len Schwellenmodellen«, nach denen Erb-
und Umweltfaktoren ineinander greifen, d. h., man geht von einer
Anlage Umwelt-Interaktion in der Atiopatho genese der affektiven
Erkrankungen aus. Die Hypothesen X-chromosomallokali sierter
Marker lieBen sich ebenfalls nicht bestatigen. Die Suche nach
Markem auf anderen Chromosomen brachte bisher keine eindeutigen
Ergebnisse. Die molekulargenetische Forschung steht je doch erst
am Anfang und wird in Zukunft sicherlich noch einige sehr
interessante Informationen liefem. Wie weit diese aber von der
Annahme einer Heterogeni tat der Erbanlagen bei affektiven Erkran
kungen wegfilhren werden, muss offen bleiben. Weiterhin weiB man,
dass der Neuro transmitter-Stoffwechsel (s. Kap. A. 1.4.2, S. 30)
genetisch gesteuert und kon trolliert wird. Ob diese Kontrolle
jedoch mit den atiologisch relevanten geneti schen Grundlagen der
affektiven Stbrun gen zusammenhangt, ist ebenfalls un kIar. Die
genetische Forschung hat aber trotz vieler methodischer und
wissenschaft licher Probleme auch zu praxisrele-
vanten Ergebnissen gefUhrt, die folgen de Schlussfolgerungen
zulassen: Bei depressiven Erkrankungen handelt es sich nicht urn
Erbkrankheiten im tra ditionellen Sinn; sie werden nicht tiber ein
einzelnes, exakt zu identifizierendes Gen vererbt. Am ehesten ist
daran zu denken, dass eine Vulnerabilitiit vererbt wird. Wenn es
eine genetische Disposi tion gibt, erfolgt die Weitergabe tiber
ein multifaktorielles (polygenes) Erb system, das gleichzeitig
auch gesunde Personlichkeitseigenschaften weiter gibt, wie sie in
Familien unterden einzel nen Mitgliedem ahnlich geartet beob
achtet werden konnen. Nicht tibersehen werden darf dabei der starke
Einfluss sozialer und kultureller Einfltisse, die eine Gruppe von
Menschen mit gemein samem Schicksal auch in ihrem seeli schen
Befinden und Verhalten in ahnli cher Weise pdigen konnen. Sog.
exoge ne (peristatische) und endogene Fakto ren spielen eine sich
ergiinzende Rolle. Je starker die genetische Disposition ist, desto
weniger peristatische Einfltisse reichen wahrscheinlich aus, urn
eine de pressive Erkrankung ausbrechen zu las sen. Das gilt auch
im umgekehrten Sinn: Je geringer die Disposition ist, desto starker
mtissen peristatische AuslOser (s. Kap. A. 1.4.5) wirksam werden.
Aus der genetischen Familienforschung sind folgende Risikozahlen
fUr die Ver erbung der Disposition zum depressiven Krankwerden zu
nennen, wobei eine gro8e Schwankungsbreite hinsichtlich der
Risikoziffem auffallt: Bei der sog.
Ursochen depressiver Erkronkungen
unipolaren Depression (heute: Depres sive Episode) wurde fUr
Verwandte 1. Grades ein Erkrankungsrisiko von 0 bis 22 % angegeben.
Bei Bipolaren (ma nisch-depressiven) affektiven Storungen
schwanken die Risikoziffem zwischen 2,8 und 17,7 %. In Familien
bipolar Er krankter scheinen hiiufiger auch unipo lar Erkrankte
beobachtet werden zu kon nen; der umgekehrte Fall ist seltener.
Zwillingsstudien wei sen eine wesentlich hohere Konkordanzrate bei
eineiigen als bei zweieiigen Zwillingspaaren auf. Zusammenfassend
kann gesagt werden, dass eine wie auch immer geartete gene tisch
fundierte Disposition zu depressi ven Erkrankungen bei den nach
altern Sprachgebrauch sog. endogenen (bipo laren und unipolaren)
Affektpsychosen (heute: Depressive Episode, Bipolare affektive
StOrung) gegeben zu sein scheint. Ftir neurotisch-reaktive Erkran
kungsformen (heute: Dysthymie) gilt das wahrscheinlich ebenfalls,
jedoch in sehr stark abgeschwachter Form.
Literatur:
NURNBERGER JI, GERSHON ES. Genetics. In: PAYKEL ES, ed. Handbook of
Affective Disorders. Churchill Livingstone: Edin burgh, London,
Melbourne, New York 1982.
POPPING P. Psychiatrische Genetik. Springer: Berlin-Heidelberg-New
York 1989.
•
genwart 5, Affektive Psychosen. Sprin ger: Berlin, Heidelberg, New
York, Lon don, Paris, Tokio 1987.
A.l.4.2 Neurochemische und neuroendokrinologische Befunde
•
Eine zentrale Rolle spiel ten in der neu robiologischen Forschung
zu Anfang iiberwiegend die sog. biogenen Amine, Z. B. Serotonin und
Noradrenalin, deren Konzentrationen bei der neuronalen Transmission
nach der Amindefizit Hypothese im synaptischen Spalt redu ziert
sind. Das wurde als ein wesentli ches organisches Korrelat
depressiven Krankseins angesehen. Andere Transmittersubstanzen
haben in dies em Prozess mit groBer Wahr scheinlichkeit aber auch
wichtige, heute noch nicht in gleichem MaBe bekannte Funktionen.
GroBe Aufmerksarnkeit wird heute ins besondere dem Serotoninsystem
gewid met, doch zeigten Studien, dass sehr wahrscheinlich nur bei
einer Unter gruppe depressiver Patienten eine spezi fische
Unterfunktion des Serotonin systems vorliegt. Diese Unterfunktion
ist nicht als isolierter Prozess und als alleiniger Ursachenfaktor
flir das Auf treten von Depressionen anzusehen (MATUSSEK und
HOLSBOER 1987). Neuere Untersuchungen wei sen auf komplexe
Interaktionen zwischen Serotonin- und Noradrenalinfunktionen sowie
anderen Transmittersystemen hin. Neben einer weiteren Theorie der
»Ba lance-Storung biogener Amine« wird heute besonders intensiv
diskutiert, ob eine Veranderung der Rezeptorsensi bilitat an der
postsynaptischen Membran der Nervenzellen als wesentlicher Be fund
anzusehen ist. Alle diese Hypothesen befinden sich
noch im Stadium der Priifung und Wei terentwicklung. Ein
einheitliches Bild der dem depressiven Krankheitsge schehen
zugrunde liegenden biochemi schen Mechanismen gibt es bis heute
nicht. Je weiter die Forschung voran schreitet, urn so deutlicher
wird die groBe Komplexitat aller mitwirkenden Faktoren. Einfache
Antworten auf die Frage nach den biochemischen Korre laten
depressiver Erkrankungen wird es sehr wahrscheinlich nicht geben.
Soll te - wie es immer wieder einmal ge schieht - eine »genial
einfache« U:isung des Problems propagiert werden, ist Skepsis
unbedingt geboten! Endokrine Storungen wahrend der de pressiven
Phase wei sen darauf hin, dass in diesen Funktionsbereichen, die
yom Zwischenhim (Hypothalamus, Hypo physe) gesteuert werden,
ebenfalls pa thologische Prozesse ablaufen miissen. Intensive
Untersuchungen konnten auch pathogenetisch relevante Verlinderun
gen feststellen. Sehr wahrscheinlich be steht zwischen diesen und
den Storungen der neuronalen Transmission ein Zu sammenhang. So
ist bekannt, dass in der depressiven Phase das Kortisol in erhohtem
MaBe gebildet wird (Sti.:irung des Hypothala
mus-Hypophysen-Nebennierenrinden Systems). Die Ubersekretion kann
bei 60 bis 70 % der melancholisch (endo gen) Depressiven durch die
Gabe von Dexamethason nicht gehemmt werden (»
Dexamethason-Suppressions-Test« = DST). Dieser Test, so zeigten
jiingere
Ursochen depressiver Erkronkungen
•
Tests auf, ist die Wahrscheinlichkeit groBer, dass es sich urn eine
melancholi sche (endogene) Erkrankung handelt. Der heutige
Kenntnisstand erlaubt aber noch nicht, mit Hilfe solcher Funktions
tests eine exakte Aussage tiber die dia gnostische Zuordnung zu
einer atiolo gisch genauer definierten depressiven Er krankung zu
treffen.
Literatur:
ALDENHOFF J. Uberlegungen zur Psychobio logie der Depression.
Nervenarzt 1997; 68: 379-389
GOTTHARDT U, HEUSER 1. Neuroendokrino logische Forschung in der
Psychiatrie. In: LIEB K, RIEMANN D, BERGER M, Hrsg.
Biologisch-psychiatrische Forschung. Fi scher: Stuttgart, Jena,
New York, 1995.
HOLSBOER F. Neuroendokrine Regulation bei affektiven Psychosen. In:
ZERSSEN D VON, MOLLER H-J, Hrsg. Affektive StOrungen.
Diagnostische, epidemiologische, biolo gische und therapeutische
Aspekte. Springer: Berlin, Heidelberg, N ew York, London, Paris,
Tokio 1988.
MATUSSEK N, HOLSBOER F. Biologischer Hin tergrund. In: KiSKER KP,
LAUTER H, MEYER JE, MULLER C, STROMGREN E, Hrsg. Psychiatrie der
Gegenwart 5, Affektive Psychosen. Springer: Berlin, Heidelberg, New
York, London, Paris, Tokio 1987.
SACHAR EJ. Endocrine abnormalities in depression. In: PA YKEL ES,
ed. Handbook of Affective Disorders. Churchill Living stone:
Edinburgh, London, Melbourne, New York 1982.
ZIS AP, GOODWIN FK. The amine hypothesis.
•
In: PAYKELES, ed. Handbook of Affective Disorders. Churchill
Livingstone: Edin burgh, London, Melbourne, New York 1982.
A. 1.4.3 Chronobiologische Faktoren
Seit jeher ist bekannt, dass wahrend de pres siver
Erkrankungsphasen die Zeit struktur, im engeren Sinne die Rhythmik
biologischer (biochemischer, physiolo gischer) und psychischer
Funktionen, gestOrt ist (siehe auch die Phanomene Tagesschwankungen
des Befindens und SchlafstOrungen). Die Suche nach chro
nobiologischen Befunden wird zur Zeit intensiv betrieben. Unter den
chronobiologischen Rhyth men scheint bei Patienten mit affektiven
Psychosen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen vor allem das
sog. zirkadiane System verandert zu funk tionieren. Es werden
Phasenverschie bungen (»phase advance«) beschrieben, oder die
Phase der zirkadianen biologi schen Rhythmik ist nach hinten
verlagert (»phase delay«). Es werden aber auch Phaseninstabilitaten
und Phasendesyn chronisationen beobachtet. Die bisher ermittelten
Befunde wir ken noch heterogen. Bis heute ist die Frage, ob die
zirkadianen Rhythmus stOrungen bei affektiven Erkrankun gen eine
pathogenetische Rolle spielen oder ob sie nur Symptome eines noch
nicht bekannten organischen Krank-
heitsgeschehens sind, nicht zu beant warten.
Literatur:
P APOUSEK M. Chronobiologische Aspekte der Zyklothymie. Fortschr
Neurol Psychiatry 1975; 43: 381-440.
PFLUG B. Rhythmusfragen bei affektiven Psychosen. In: KISKER KP,
LAUTER H, MEYERJE, MOLLER C, STROMGREN E, Hrsg. Psychiatrie der
Gegenwart 5, Affektive Psychos en. Springer: Berlin, Heidelberg,
New York, London, Paris, Tokio 1987.
ZERSSEN D VON. Chronobiology of Depres sion. In: ANGST J, ed. The
Origins of De pression: Current Concepts and Ap proaches.
Springer: Berlin, Heidelberg, New York, Tokio 1983.
A. 1.4.4 Korperliche Erkrankungen und depressive St6rungen
Bei korperlichen Erkrankungen konnen auch depressive St6rungen
auftreten. Heute weiB man aber noch zu wenig tiber die allgemeinen
Entstehungsbedin gungen depressiver Erkrankungen an sich, urn
wissenschaftlich fundierte Aus sagen tiber die
Entstehungszusammen hange zwischen korperlichen Erkran kung en
und depressiven Syndromen treffen zu konnen. Die vorhandenen
Kenntnisse konnen daher im Hinblick auf die zu erahnende
Komplexitat patho genetischer V organge nur in sehr ein fachen
Modellvorstellungen wieder-
Ursochen depressiver Erkronkungen
gegeben werden. Wenn Depressions symptome bei korperlich schwer
Er krankten beobachtet werden konnen, er scheint es deshalb immer
noch sinnvoll, bei der Abwagung von Entstehungs bedingungen und
moglichen Ursachen sehr vorsichtig und zurtickhaltend zu verfahren
und am besten nur von Begleitdepressionen zu sprechen. Hau fig
werden die durch unterschiedliche allgemeine Erkrankungen wie auch
im mer (mittel- oder unrnittelbar) entstan denen depressiven
Syndrome als »symp tomatische« Depressionen bezeichnet. Werden bei
einem Kranken mit einem depressiven Zustandsbild strukturelle
Hirnveranderungen gesehen, spricht man von einer »organischen«
Depres SIOn.
Die Ursachen eines depressiven Syn droms bei einer gleichzeitig
vorliegen den korperlichen Erkrankung konnen hochst
unterschiedlich gesehen werden und mtissen nicht immer in einer
direk ten Beziehung zu den pathologischen St6rungen im arganischen
Bereich ste hen:
- Es ist nieht ausgeschlossen, dass un abhangig von einer
korperliehen Erkrankung auch eine depressive Krankheit hinzutritt.
Die organische Storung kann dann nur als sog. Aus loser angesehen
werden. Es handelt sich also urn ein eher zufalliges Zu
sammentreffen von zwei Krankheiten (Komorbiditat).
- Eine Alternative ware, dass die de-
•
pressiven Symptome als typische Be schwerden des organischen
Krank heitsbildes bewertet werden mussen.
- Eine weitere Moglichkeit ist darin zu sehen, dass die depressiven
Sympto me Teil der seelischen Reaktion auf die Erfahrung des
Krankseins und der sich aus der Krankheit ergebenden Folgen flir
den Patienten sind.
Depressive Syndrome im Rahmen all gemein-korperlicher Erkrankungen
sind hiiufiger in der allgemeinarztlich orien tierten Praxis und
in den verschiedenen Abteilungen der Allgemeinkranken hiiuser zu
beobachten, weniger dagegen in der Sprechstunde des Psychiaters.
Die klinische Erfahrung hat gezeigt, dass bei den in Tab. 4
genannten Erkrankungen das Risiko des Auftretens eines depressi
ven Syndroms besonders groB zu sein scheint. Auch Medikamente (s.
Tab. 5), die zur Behandlung verschiedenster Er-
Aligemeiner Teil
krankungen eingesetzt werden, konnen depressive Syndrome
hervorrufen (sog. pharmakogene Depression). In diesem Zusammenhang
ist darauf hinzuweisen, dass symptomatische und organische De
pressionen in der Praxis deutlich erkenn bar zunehmen. Das liegt
wahrscheinlich an der wachsenden Zahl aIterer Men schen, die mit
steigendem Alter immer mehr auch unter organisch bedingten
Allgemeinerkrankungen leiden. Infol ge der altersbedingten
Multimorbiditiit nimrnt das Erkrankungsrisiko flir de pressive
Storungen fast linear zu.
Literatur:
CAMERON OG. Presentations of Depression. Depressive Symptoms in
Medical and Other Psychiatric Disorders. Wiley: New York
1987.
DEROGATIS LR, WISE TN. Anxiety and De pressive Disorders in the
Medical Patient.
Tab. 4: Korperliche Erkrankungen, bei denen depressive StOrungen
("somatogene Depressionen") auftreten konnen
J. ellr%gie Epilepsie Himtumor
•
nlcphalili. ( iru . . z.B. ME) ncephulomyelili disseminat3
Amy lrophe Lateral. klero~e Mya. thenic
unikulllre M close
M. Cu~hing Phaochromo/ytom Akromegalie
J. Kardiologie Vitia (A D. V D. Mitrabtenul>c) E entielle
Hypertonic Po ition~hypotonie Funktiunelle kardiova~kultire lorung
Z. nach Bypass-Operalion Z. nach Myokardinfarkt
4. Gastroelllerologie Rei/kolon Ileili~ lerminalb Colitis ulcerosa
Yirushepalitb Lebcrzirrhose M. Meulengrachl
prue Enccphalopathia pancreatica
Proslalaadenom
7. Sto!!"'echselkrankheitell Anilmie Porphyric
Hal11ochrOl11alO~c
Hypoglykamie M. Gaucher
Ursochen depressiver Erkronkungen
ID Borrellio e Bomaviren
9. Illtoxikatiollell Chronische Hg-ICO-Intoxikation
I Z. TumorelllParaneoplastische SYlldrome Chronische Lcukoscn
PankreaskarJinom BronchlUlkarlinom o arialkuoinom
Be; Altersdeprtssion inshesondere: Hypo-/Hyperthyreose Anamie
Fchiernilllrung Okkultcs Kar/inom Medik3mcntenmis ... brauch
•
Tab. 5: Pharmaka, bei deren Einnahme depressive Storungen
("pharmakogene Depressionen" ) auftreten konnen
J. Anrihyperfensiva Rcr~crpin Alpha-Methyl-D pa Clonidin
Betablocker Pr:uo in H dralaLin Guanethidin
2. ParkinSOlllllillef ulld Muskelrelaxallziell L-Dopa
mantadin Baclofen Brom riptin
H
•
ull' namldc alidi in aurc inblastin rhc fulvin
Interferon alfa-2b TClrazyklinc
trcptomy in iLrofurantoin
9. Psyclloplwrmoka curolcptiJ..a
RUDOLF GAE. Korperliche Erkrankungen und Depressionen
(Begleitdepression). In: BERGENER M, Hrsg. Depressive Syn drome im
Alter. Theorie, Klinik, Praxis. Thieme: Stuttgart, New York
1989.
TOLLE R. Organisch bedingte Depressionen. Nervenarzt 1990; 61:
176-182.
A. 1.4.5 Belastende Lebens ereignisse
Dass belastende Ereignisse eine depres sive Erkrankung auslosen
konnen, ist seit den Anfangen der wissenschaftli chen Psychiatrie
allgemein bekannt. An dererseits weiB man, dass eine Depressi on
auch ohne diese entstehen kann. Die modeme »Life-Event«-Forschung
versucht durch eine Systematisierung und Operationalisierung ihres
metho dischen Vorgehens eine Eindeutig keit und wissenschaftliche
Nachvoll ziehbarkeit zu erreichen. Denn je nach dem, ob der
Untersucher mehr einem biologischen oder psycho- und/oder
soziodynarnischen Krankheitskonzept zuneigt, werden
Auslosungsfaktoren unterschiedlich gewichtet. So gelangt man zu oft
extrem divergierenden Aus sagen iiber die Haufigkeit, die Qualitat
und Quantitat aus16sender Faktoren. Deutlich wird dennoch, dass
depressi ve StOrungen durch unterschiedlich be lastende
korperliche und seelische Er eignisse sowie situative
Konstellatio-
Ursochen depressiver Erkronkungen
•
tor der sog. multifaktoriellen Entstehung depressiver Erkrankungen
anzusehen sind. Wahrend Z. B. genetische Risiko faktoren (s. Kap.
A. 1.4.1) schwache, aber zeitlich kontinuierliche Anstiege des
relativen Erkrankungsrisikos bewir ken, beeinflussen belastende
Lebenser eignisse das relative Risiko anders: Sie flihren zu
diskreten und schnelleren An stiegen des relativen Risikos, die
dann im weiteren Zeitverlauf schnell wieder abfallen, dem
Betroffenen aber eine groBere Vulnerabilitat flir Depression
wahrend einer kurzen Zeitphase zufligen (PAYKEL 1987). Belastende
Lebenser eignisse oder -situationen konnen aber auch das Ende
einer depressiven Phase verzogem.
Literatur:
KATSCHNIG H, Hrsg. Sozialer StreB und psy chische Erkrankungen.
Lebensveran demde Ereignisse als Ursachen seelischer StOrungen.
Urban und Schwarzenberg: Miinchen, Wien, Baltimore 1980.
PAYKEL ES. Psyehosoziale Faktoren. In: KISKER KP, LAUTER H, MEYER
IE, MOLLER C, STROMGREN E, Hrsg. Psyehiatrie der Gegenwart 5,
Affektive Psyehosen. Springer: Berlin, Heidelberg, New York,
London, Paris, Tokio 1987.
A. 1.4.6 Personlichkeits psychologische Modelle
Schon sehr friih beschrieben altere
•
Psychiater bei ihren Patienten spezifi sche (pramorbide)
Personlichkeitsziige flir die Zeit vor der depressiven Erkran kung
oder bei periodischen Verlaufen im sog. freien Intervall:
Depressive seien haufig angepasste, hart arbeitende,
pflichtbewusste, oft in Beruf und Fami lie erfolgreiche Menschen,
deren seeli sche Befindlichkeit sehr stark yom posi tiven
Meinungsbild der Umgebung abhangt. Gleichzeitig wurden zwang hafte
Verhaltensziige beobachtet. Diese Aussagen sind jedoch nieht
durchge hend flir aIle depressiv erkrankenden Menschen zutreffend,
sodass heute ge geniiber der Annahme einer flir den De pressiven
typischen pramorbiden Per sonlichkeitsstruktur zunehmend Skepsis
zu erkennen ist. Die psychoanalytisehe Personlichkeitstheorie
versuchte, die genannten Personlichkeitscharakteris tika in ihrem
Sinne zu interpretieren. Unabhiingig davon wurde Ahnliehes in Japan
unter dem Begriff der Immo bilothymie beschrieben; spater wurde
der Begriff des »Typus melancho licus« gepragt. AIle diese
Theorien tref fen im klinischen Alltag auf einige Per sonen zu,
die depressiv erkrankten. Neuere Untersuchungen haben jedoch
gezeigt, dass man ebenso viele depressi ve Patienten sehen kann,
die nicht die genannten Personlichkeitseigenschaften, sondem andere
aufweisen. Es gibt zahlreiche weitere Versuche, Beziehungen
zwischen der pramorbiden Personlichkeitsstruktur und den einzel
nen Depressionsformen herzustellen .
Trotz der oft erkennbaren Evidenz man cher Aussagen ist es bis
heute nicht ge lungen, pramorbide Personlichkeits profile z. B.
zur Frage des Erkran kungsrisikos, zur Differenzialdiagnose
einzelner depressiver Erkrankungsfor men oder zu Aussagen iiber
die Prog nose der Erkrankung schliissig heranzu ziehen.
Literatur:
CHODOFF P. The Depressive Personality. A Critical Review. Arch Gen
Psychiatry 1972; 27: 666-673.
MOLLER H-J, ZERSSEN D VON. Pramorbide Personlichkeit von Patienten
mit affek tiven Psychosen. In: KISKER KP, LAUTER H, MEYER JE,
MULLER C. STROMGREN E, Hrsg. Psychiatrie derGegenwart 5, Affek
tive Psychosen. Springer: Berlin, Heidel berg, New York, London,
Paris, Tokio 1987.
TOLLE R. Personlichkeit und Melancholie. Nervenarzt 1987; 58:
327-339.
A. 1.4.7 Psychoanalytische Modelle
Ursochen depressiver Erkronkungen
•
blem angesehen. Ein tiefenpsycho logisch-psychodynamisches Modell
zur Atiopathogenese von Depressionen ist in Abb. 2 dargestellt. Die
Dynamik, die zum Manifestwerden einer Depression fUhrt, wird in
allen psy choanalytischen Theorien in einer Wie derholung
friihkindlicher, spezifisch
Aligemeiner Teil
traumatisierender Erfahrungen und der Wiederbelebung damit
verbundener ne gativer GefUhlsassoziationen gesehen: Dem
Depressiven ist es zu einem friihen Zeitpunkt seines Lebens,
zumeist in den ersten Lebensjahren, nicht gelungen, eine
schmerzvolle oder ihn iiberwalti gende Erfahrung - in der Regel
einen
Friihkindliche Mangelerfahrung
Global . GefUhl de "e i I nzicllcn ZU\ cnig" ("Zuwcnig- in"," ichl
-\ crt- cin",
" icmand- ein" " ichl-Konncn")
Abb.2: Tiefenpsychologisch-psychodynamisches Modell zur
Atiopathogenese von Depressionen (modif. nach Wolfersdorf
1992)
•
tatsachlichen oder phantasierten Verlust - psychisch zu
verarbeiten. Die kogniti yen Strukturen, die jeder Mensch im Laufe
seines Lebens entwickelt und die seine seelischen Reaktionen
bestimmen, sind bei ihm in einer Weise verzerrt, die es ihm
unmoglich macht, die notwendige Trauerarbeit zu leisten und ein
gesundes SelbstwertgefUhl zu entwickeln (BENE DETTI 1987). Hier
ist bereits zu erkennen, dass sich die Perspektiven der psycho
analytischen und der empirisch-psycho logischen Forschung (s. Kap.
A. 1.4.8) einander nahem, sich zum Teil erganzen und damit zu einem
besseren Verstand nis depressiver seelischer Krankheits dynamik
fUhren konnen. Die psychoanalytische Theorie geht dabei von einem
nicht im Einzelnen
Ursochen depressiver Erkronkungen
Literatur:
ARIETI S, BEMPORAD 1. Depression. Krank heitsbild, Entstehung,
Dynamik und psy chotherapeutische Behandlung. Klett Cotta:
Stuttgart 1983.
BENEDETTI G. Analytische Psychotherapie der affektiven Psychosen.
In: KiSKER KP, LAUTER H, MEYER JE, MULLER C, STROMGREN E, Hrsg.
Psychiatrie der Ge genwart 5, Affektive Psychosen. Sprin ger:
Berlin, Heidelberg, New York, Lon don, Paris, Tokio 1987.
FREUD S. Trauer und Melancholie (1917). In: FREUD S, Hrsg.
Gesammelte Werke, Bd. 10. Fischer: Frankfurt (5. Aufl.) 1969.
MENDELSON M. Psychoanalytic Concept of De pression. Spectrum
Publications: Flushing, New York 1974.
atio1ogisch differenzierten depressiven A. 1.4.8
Empirisch-psychologische Modelle Krankheitsbi1d aus, wobei auch
schon
FREUD keinesfalls aussch1oss, dass dispositionelle, genetische und
soma tische Faktoren eine ebenfalls ursach liche Rolle bei der
Entstehung depres siver Erkrankungen spielen konnen. Offenbar
bilden physiologische (natur wissenschaftlich fundierte) und
psycho logische Betrachtungsweisen keinen Gegensatz, insofem, als
jedes psychi sche Geschehen fUr seine Realisierung
neurophysiologische und biochemi sche Mechanismen benotigt
(BENEDETTI 1987).
Die insbesondere von der empirisch experimentell arbeitenden
Psychologie entwickelten lem-, verhaltens- und kog
nitionstheoretisch orientierten Modelle der Depressionsentstehung
gehen auf zahlreiche Einzelergebnisse systemati scher
Untersuchungen zuruck. Die neue ren Bemuhungen sind darauf ausge
richtet, die verschiedenen Ergebnisse, die haufig aus primar recht
unterschied lichen Forschungsperspektiven erarbei tet worden
sind, zu einem komple xen Erklarungsmodell zusammenzufas sen.
Dabei wird eine verrnehrte Orientie rung an klinisch relevanten
depressiven Syndromen erkennbar.
•
• - - - - - - - - - - -
-- - - - - - -
en
Mit diesen neuen Denkansatzen im Sin ne eines integrativen Modells
(STEIN MEYER 1988) ist ein weiterer Schritt zum besseren
Verstandnis des komplexen Geschehens im Rahmen der Entstehung
depressiver Erkrankungen gemacht wor den. Welche Faktoren nach
diesen Vor stellungen welche Wirkung haben kon nen, ist in Abb. 3
zusammengefasst dargestellt. Enger umschriebene Theorien befassen
sich z. B. mit den Phanomenen der »ge lemten Hilflosigkeit«
(SELIGMAN) und des »Verstarkerverlustes« (LEWINSOHN). Das zur Zeit
popularste und wohl auch praktikabelste Modell ist das sog. kogni
tive Modell (BECK).
Literatur:
BECK AT, RUSH AJ, SHAW BF, EMERY G. Kognitive Therapie der
Depression. 5. Auf!. Urban und Schwarzenberg: MUn chen, Wien,
Baltimore 1996.
DANNER D, HAUTZINGER M. Kognitive De pressionsforschung. Huber:
Bern, Stutt gart, Toronto 1988.
DE JONG R, HOFFMANN N, LINDEN M. Verhaltensmodifikation bei
Depressio nen. Urban und Schwarzenberg: MUn chen, Wien, Baltimore
1980.
STEINMEYER EM. Psychologische Modelle der Entstehung affektiver
Psychosen In: ZERSSEN D VON, MOLLERH-J, Hrsg. Affekti ve StOmngen.
Diagnostische, epidemiolo gische, biologische und therapeutische
Aspekte. Springer: Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris,
Tokio 1988.
Grundregeln der Diagnoslik
A.2.1 Grundregeln der Diagnostik
•
Hin hen
i ht vor ehn II trosten
D m Palienten d utlich machen. da. ~ man die g schilderten Be ch\
erden 31 fakti!> h \orhanden akzeptiert
aeh der nte . uehung ~a hlieh die Ergebni se milleilen
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Oi geplanten Behandlungsmethoden kurz dar<,t lien
Die eigcn n rcali tischcn Erwartungcn in die Behandlung
auf/eigen
Mit ~ieh uber aile. wa in der Behandlung gesehiehl. di 'kutieren I,
. en
Keine eiligen lind vor hnellen er preehungcn hin. iehtlieh der c
cniliell n lwendigen auer d r Behandlung au6crn
Keine elbstubers hiitLUng hin ichtlieh der tirtllich-thcrapellti~eh
n M 'gli hI. itcn ligen
icht lIngeduldig \ erden \ ie e\enlucll def Patient und scinc
ngehOrigen
Zuversicht und Kon tanz zeigen
Merke: In der arztlichen Praxis ist prag matisches, dem Wohle des
Pati enten dienendes diagnostisches Handeln erstes Gebot.
Zur Diagnostik gehoren: - die Erfassung des aktuellen seeli
schen Zustandes (psychischer oder psychopathologischer
Befund),
- die korperliche Untersuchung, - die Anamnese.
Die vorgenannte Reihenfolge muss in der Untersuchungssituation
nieht unbe dingt eingehalten werden. In der Regel laufen die
Erfassung des aktuellen Be sehwerdebildes und die Erhebung der
Anamnese parallel. Schon beim ersten Kontakt, zu Beginn der
Diagnostik, muss ein fi.ir das vermu tete Krankheitsbild
spezifisehes Verhal ten des Arztes gegentiber seinem Patien ten
bedaeht werden. Bereits in der fru hen Phase des
Arzt-Patienten-Kontaktes werden wesentliche Grundlagen fi.ir den
Sehritt zu einer sinnvollen The rapie geschaffen. Dazu bedarf es
einer positiv gepragten Einstellung zueinan der, die dureh
Arztfehler sehr leicht gesWrt werden kann. In Tab. 6 sind
VerhaltensvorschUige zusammenge fasst, die die positive
Arzt-Patienten Beziehung fordem konnen.
Erscheinungsbild und Beschwerdeschilderung
A. 2.2 Dos Erscheinungsbild und die Beschwerdeschiiderullg de Depre
ivell
Die in Tab. 1 und 2 (s. S. 18 u. S. 20) aufgeftihrten Symptome
konnen im Er scheinungsbild und im Verhalten des depressiv
Erkrankten wieder gefunden werden. Aussehen, Mimik, Gestik, Kor
perhaltung und verbales Verhalten zei gen den in der Praxis in der
Regel be kannten Patienten verandert: Er wirkt mtide, gebeugt,
lahm, vorgealtert, zeigt einen sehweren Gang, erscheint eventu ell
aueh korperlieh krank und ersehopft. Er sprieht mit leiser und
monotoner Stimme, kann aber in einer dem Arzt bisher bei dies em
Patienten nieht be kannten Weise auch unruhig jammem und klagen.
Oft aber ist von Depressivitat erst naeh einer gewissen
Gespraehsdauer etwas zu erfahren: Der Patient versueht mit a1- ler
Kraft einen »normalen« Eindruek zu machen, spielt seine seelisehen
Be schwerden herunter und klagt tiber das eine oder andere
korperliche Symptom. Nur systematisches Fragen nach Depres
sionssymptomen ftihrt dann auf den rich tigen diagnostischen
Weg.
Literatur: Merke: Der depressive Patient zeigt in der Regel nicht
alle und eindeu-
KIND H. Psychiatrische Untersuchung tig auf eine depressive
Erkran-
•
kung hinweisenden Symptome. Stets sind seelische und korper liche
Beschwerden gemischt. Erst systematisches Befragen bringt Klarheit
tiber die Eigenart der Beschwerden.
Aligemeiner Teil
der Patient aber auch spontan, sodass der Untersucher nur
aufmerksam zuhoren muss. Wird eine groBere Anzahl der Fra gen
positiv beantwortet, verdichtet sich der Verdacht auf das Vorliegen
einer depressiven Erkrankung.
Die aufgelisteten Symptome (s. Tab. 1 und 2, S. 18 und S. 20)
konnen und solI ten nicht wie eine Checkliste abge fragt werden,
sondem erfahrungsgemaB 1asst der Untersucher die in Tab. 7 ange
fiihrten Fragen in das Gesprach mit dem Patienten einflieBen.
Haufig berichtet
In An1ehnung an die Symptomliste (Tab. 1 und 2) kann dann das
Gesprach fort gesetzt werden .. Das systematische Be fragen wird
auch Exploration genannt. Mit diesem Vorgehen erhiilt der Unter
sucher den sog. psychischen oder psy chopathologischen Befund. In
der wissenschaftlichen Forschung
Tab. 7:
K/)nncn ic sich noch frcuen?
UlII es Ihnen. hwer. En. cheidung n IU treffen'?
Haben ie noch IllIcre~se an etW!LS'!
eigen ie in )elzter Zeit ermehn zum Grubeln'!
Plngt ie das mhl, Ihr Leb n. i sinnl . geworden'?
Filhlen ie , ich grundlos milde. \chwunglos. abgc~chlagen'?
Haben ie chlar. t/.lnmgen'!
pilren i irgcndwelche chmerzen. Misscmplindung n.einen Dru k auf
der Brust'?
Haben ie wenig Appetit, haben ie an Gewicht erl ren'?
Haben ie eh\ ierigkeiten in exueller Hin icht'?
werden zur Erfassung des depressiven Zustandes sehr haufig auch
standardi sierte Untersuchungsinstrumente (sog. Fragebogen)
verwendet. In deutscher Sprache sind das z. B. das AMDP-Sys tern,
die Hamilton-Skala fUr Depres sionszustande (HAM-D), die nach der
Exploration vom Arzt auszufUllen sind, oder die Depressionsskala
(PD-S) von von Zerssen und das Beck-Depressions inventar (BDI),
die der Patient selbst ausfUllen muss. Handelt es sich urn
Depressionsskalen, die vom Arzt nach der Befragung aus gefUllt
werden miissen (Fremdbeur teilungsskalen), ist es dessen person
liche Entscheidung, ob er dies tut, urn eine exaktere
Symptomerfassung fUr sich zu erhalten. Selbstverstandlich miissen
die Untersuchungsdaten in ir gendeiner Form schriftlich fixiert
wer den. Das geschieht am besten in der Weise, dass man sich in
Stichworten oder in Prosa die wesentlichen Sympto me und
Verhaltensweisen aufschreibt. Selbstbeurteilungsskalen durch den
Pa tienten ausfUllen zu lassen, wird in der Alltagspraxis von
diesen oft als unerflill bare Erwartung empfunden. Mancher Kranke
ist damit iiberfordert. In der Regel sollte das
Explorationsgesprach mit anschlieBender Datendokumenta tion im
Krankenblatt geniigen.
Die Einschollung der Suizidalilol
KIND H. Psychiatrische Untersuchung 5. Auf!. Springer: Berlin,
Heidelberg, New York, Tokio 1997.
A. 2.3 Die Ei" chiilzllllg der Suizidalitiil
Merke: Die groBte akute Gefahr fUr den Patienten ist das
Suizidrisiko. Dieses einzuschatzen ist nicht leicht und gehort zu
den verant wortungsvollsten Aufgaben des untersuchenden
Arztes.
Voraussetzungen fUr das Erkennen ei nes Suizidalrisikos: - der
Arzt muss an ein mogliches
Suizidrisiko denken, - er muss sich Zeit fUr ein ruhiges Ge
sprach nehmen, das mit dem Patien ten unter vier Augen geflihrt
werden solI.
•
I . Zunchmcnd Eincngung a) ,ilUauvc Einengung
Aligemeiner Teil
b} dynami .chc - incngung (cin clligc u richlung dcr ppcrlcplion.
der ., O/ialionen. dcr Vcrhahcn mUler. der ffeJ..lC und
b chnncchani,>mcn) c} inengung der ,wb henmen. chlichcn
BCliehung tI) Einengung der crtewch
2. ggrc ~i()n""lauung und cndung d r ggrc""ion gcgcn die cigcnc
Pcr\on
3. clb'>lm rdfanla~ien (anfang. aJ..liv inlcndiert. ~piiler .
ieh pa"~h aufdr'Jngend)
Nach RI NGEL E. Der Selbstmord: AbschluB einer krankhaften
psychischen Entwicklung. Maudrich: Wien, DUsseldorf 1953.
•
stellt ist, der yom Untersucher (in gewis ser Weise zur Kontrolle
und zur Schar fung seines »diagnostischen Blickes«) benutzt werden
kann.
Merke: Ein offenes Gesprach tiber mog licherweise vorhandene
Suizi dalitiit kann die beste Prophyla xe gegen eine
Suizidhandlung darstellen.
Literatur:
HAENEL T. Suizidhandlungen. Neue Aspekte der Suizidologie.
Springer: Berlin, Hei delberg, New York, London, Paris, Tokio,
Hongkong 1989 .
Die Einschiitlung der Suizidolitiit
·ui:.idhillwei e
forilherc Uilid CI'U hc - clb. lm rde in Familie oder
mgcbung - Dirclo.lc oder indircklc
erstiirkellde Faktorell
gel'Uhle rfckl- und ggre~,ionssLauung
QuUlcndc In\omnic - clb\l\ ernichtung\-. tufZ
und Kala.<.trophenlrtiumc
Kritische Sitllathmell
crsUndigungs- oder KmnI..hcil\\ ahn
lI..oholi,mu·" T . lI..omalllc nhcilbarc Kmnkhcil n
III weltverl'iiltlli.\ fe
chwicrigkeitcn - K in ufgabcnbcr ieh. kcin
Lcbenslicl crlu t od r primarc Fchlen
milmcnschlichcr K ntaI..c - Licbescntlau\ehungcn. Ehc
., hcidung. crcin ,unung I..cinc lragflihi 'e religiose
Bindung
Aus: P6LDINGER W, ADAMS C. Todliche Fehleinschlitzungen bei
depressiven und suizidalen Patienten. In : KJELHOLZ P, ADAMS C,
Hrsg. Vermeidbare Fehler in Diagnostik und Therapie der Depression.
Deutscher Arzte-Verlag: KOln 1984.
HENSELER H, REIMER C. Selbstmord gefahrdung. Zur Psychodynamik und
Psychotherapie. Frommann-Holzboog: Stuttgart 1981.
POLDINGER W. Der therapeutische Zugang zu depressiven und
suizidalen Patienten. Schweiz Arztezeitung 1981; 62: 1113-
1118.
POHLMEIER H. Selbstmord und Selbstmord verhiltung. 2. Aufl. Urban
und Schwar zenberg: Milnchen, Wien, Baltimore 1983.
RINGEL E. Selbstmordverhiitung. Huber: Bern, Stuttgart, Wien
1969.
•
Tab. 10: Fragenkatalog zur Abschatzung der Suizidalitat
Je mehr Fragcn im inne tier angegcbcnen nlwort bcunlwortel wertlcn.
tle~lo hoher mu tin uilidrbik einge ehall.l werdcn.
I. Huben ie in lell.ler Zeil tlamn tlenken mOssen. ~i h da!. Leben
IU nehmen?
2. Hautig·.
3. Haben Sic auch tlanm tlenl..en mUssen. ohne e~ IU wollen? Haben
,ieh elb,lmortlgctlunken uufgctlrangt'?
4. Haben ie konl-rele Ideen. wic ic c~ muchen \ Urtl 'n'/
-. Hubcn Sic VorbereilUngen gelr ffen'!
6. Habcn ie ~chon /u jemantlem Ober I hrc elb tmortlub iehlcn ge
prochen'?
7. Haben ic inmal incn elb~lmord\ 'ersueh unlcmommcn?
. Hat sieh in Ihrer Fumilie oder Ihrcm Freuntle~- und Bekanntcnkrei
.. schon jemand tla Leben genom men'!
9. Halten Sie Ihrc iluution fUr au 'iehls- und hoffnunglo ''?
10. Falll e, Ihnen seh\ cr. un Clwa, anderes uls un Ihre Problcme
7U denk n?
II. Hubcn ic in leUler Zeil weniger Konl:lkte IU (hren Verwundl n,
B kannten und Freunden'.
12. Haben Sie nuch InLcre~s' duran. wus in Ihrem Berur lIntl in
ihrer mgcbung I'orgehl? Inlcre sieren ie sieh noch ror Ihre
Hobbys?
13. Haben Sic jcmantlen, mit dem ie offi n und vcrtraulieh liber
Ihrc Probleme ~prechen konncn'?
14. Wohnen ie in Ihrcr Wohnllng. in ciner ohngemein~ehaft
mit Familienmilgliedem otl r Bekunnlen?
IS. Ohlen ie ieh unter larken familiaren oder beruniehen
Verpnichlungcn lehend?
16. Filhlen. ic , ieh in einer religifi. en bl. . weltan.
chaulichen Gemcin. chaft verwurzelt '!
nzahl entspreehend beanlworteler ragen Endahl = max. 16
ja ja
•
A. 2.4 Die A namnese
SoUte der Patient nicht schon spontan tiber den Verlauf seiner
Erkrankung be richtet haben, sind weitere Aufschliisse tiber die
Art der depressiven Erkrankung und daraus resultierend wichtige
Hin weise fUr die Art der Behandlung durch anamnestische Fragen zu
erhalten.
Hochst selten sieht man sich in der Praxis einem Patienten
gegeniiber, der zum ersten Mal in seinem Leben zu einem Arzt kommt.
Daher soUte in Erfahrung gebracht werden, was vorbehandelnde
KoUegen bereits diagnostiziert und the rapeutisch (mit oder ohne
Erfolg) ver sucht haben. Es ist gut zu wissen, dass ein bestimmtes
Medikament, eine Be-
Tab. 11: Wichtige Fragen zur Anamnese
•
•
•
Pha.,bcher Verlauf mil Iwischcnleillich olliger e,undheil'?
• Gab e. Pha en grundlo. er Hcilerkeil. UberakliviUil und gehobenen
Leben gefOhl '!
• Bi~herige Dauer frtiherer Erknmkung n"?
• u~lo ende reigni . e?
• rtiherc~ Rcagicr on auf seelbche und korperliche B la~lungcn
'?
• ie siehl der Patienl ~ein r1lmiliiire und beruOi 'he
iluation'?
• Hat der Paticnt schon cinen ui7idve .... uch durch ·efOhrt?
• ind in dcr Familie uiL.idversu he oder ui/ide orgckomm n7
• Gibl oder gab c, in der ami lie ahnlichc Be chwcrd n?
• ind bei dem Patienlen zuv~r schon organischc Erkrankungen
fcstgc~lelh worden?
• W b find t ~i h der Patienl e ntucll n h in lirllli h r
Behandlung'?
• Mil welchen Medikament n wurde oder wird der Patient
bchandelt,?
• Alkohol- oder Medikamentenabusus'l
•
handlungsmaBnahme in einer friihe ren Erkrankungsphase vielleicht
gute Wirkung gezeigt haben oder dass ein an deres Medikament
bereits ohne Erfolg angewendet worden ist. Diese und an dere
wichtige Fragen zur Anamnese sind in Tab. 11
zusammengestellt.
A. 2.5 Die korperliclle UlllersllcllUllg
Merke: Jeder depressive Patient muss korperlich genauestens unter
sucht werden. Ein depressiver Zustand kann auch Folge von
korperlichen Erkrankungen sein.
Allgemeiner leil
Bei Klagen tiber korperliche Beschwerden muss deren soma tische
Verursachung ausge schlossen werden.
Daher ist neben der Beobachtung und Befragung des Patienten eine
allgemein korperliche und neurologische Untersu chung
durchzufUhren. Je nach dem Er gebnis sind weiterftihrende labor
chemische Untersuchungen, ein EKG, ein EEG oder
Rontgenuntersuchungen, bei Verdacht auf eine himorganische Er
krankung im Sinne eines evtl. involutiven Prozesses auch ein CCTI
MRT erforderlich. Diese sollten jedoch
Tab. 12: Diagnostisches Basisprogramm fUr die korperliche
Untersuchung
• Allgemein-korperliche mersuchllng
clIrologi,che merslIchung (bci besonderen Klngcn auch
oplhalmologische. H O -i\r/iliche. g ntik I gi h oder orthoptidbche
mer.uchung)
Bluldnlckm sSlIng
KG
G
• ggf. kraninlcs omputertomogramm ( CT) oder Kern pinlomogmphie
(MRT)
•
nicht nach Zahl und Spezifitiit tibertrie ben werden. Ein sog.
Basisprogramrn ftir die korperliche Untersuchung ist in Tab. 12
zusamrnengestellt. Hiiufig wird durch eine tibertriebene,
zeitraubende und letztlich·dann doch ergebnislose so matische
Diagnostik viel Zeit verloren und der Beginn einer spezifischen
anti depressiven Therapie wird dadurch un notig hinausgezogert.
Wenn die in Tab. 12 aufgeftihrten Unter suchungen keine
krankhaften Befunde ergeben haben, sollte das dem Patienten
sachlich mitgeteilt und gleichzeitig dar gestellt werden, dass es
sich bei seinem Beschwerdebild aller Wahrscheinlich-
Die korperliche Untersuchung
keit nach urn eine depressive Erkran kung handelt, bei der bekannt
ist, dass sie auch ohne erkennbare korperliche Ver iinderungen
Beschwerden verursacht. Vorsicht ist vor dem hiiufig zu beobach
tenden iirztlichen Verhalten geboten, bei diagnostischer
Unsicherheit des Arztes »zur Sicherheit« imrner weitere somati
sche Untersuchungen durchzuftihren! 1st der Arzt sich seiner
Diagnose nicht si cher, sollte er seinen Patienten vor weite ren
korperlichen Untersuchungen dem Psychiater zur Konsultation
vorstellen. Nicht zuletzt hiingt es von der Uberzeu gungskraft des
Arztes ab, ob der Patient die Diagnose akzeptiert.
1m ordergrund lehen n 'ben dcprcs\i er er\limmung und anderen
ymplomen:
P 'ych mOlori. h Verlang. amung.
wrrung d r GefUhle. D nkhemmung.
nlri b h\ a he, palhie
Geh mml deprc i e
yndrom
Abb. 4: Syndromdiagnose depressiver Erkrankungen
nruhige P ychomolorik.
A.2.6 Vom Syndrom zur Diagnose (die traditionelle nosoto gische
Zuordnung)
Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Unter sucher folgende Daten: - Er
kennt die seelischen und kbrperli
chen Beschwerden des Patienten. - Er hat sich von der kbrperlichen
Ver-
Aligemeiner Teil
fassung des Patienten ein Bild ge macht.
- Er besitzt Informationen tiber den bisherigen Verlauf der
aktuellen und frtiheren Erkrankung, tiber das psy chosoziale
Umfeld des Patienten und dessen Lebensgewohnheiten sowie tiber die
bisher ggf. durchgeftihrte Behandlung.
Abb. 5: Die ursachenorientierte diagnostische Zuordnung (nach
TOLLE)
•
Noch bevor er das vorliegende Krank heitsbild unter Hinzuziehung
atiopa thogenetischer Erwagungen (s. Kap. A. 2.7, S. 56) einer der
bekannten Diag nosegruppen depressiver Erkrankun gen zuordnet,
kann der Untersucher die Beschwerden des Patientenje nach Ak
zentuierung der Symptome einem Syn drom zuordnen, d. h., er stellt
zuerst eine »phanomenologische Diagnose« (Abb.4). Diese Einteilung
spielt fUr den Urngang mit dem depressiven Patienten, vor al lern
fUr die Pharrnakotherapie der Er krankung (s. Kap. A. 3.4, S. 80)
eine wichtige Rolle, sie fUhrt aber noch
Vom Syndrom zur Diagnose
nicht zu der wissenschaftlichen Diagno se im traditionellen Sinn,
fUr die Verur sachungsfaktoren und Verlaufsdaten mit
berucksichtigt werden mussen. Gehen wir nach Abb. 5 von vier in den
Quadraten genannten Verursachungs bereichen (Situation,
Biographie, Anla ge und Himkrankheit) aus, ergeben sich bei dem
jeweiligen Patienten unter schiedliche Akzente hinsichtlich der
rnoglichen Ursachen seiner depressiven Erkrankung. Die Erfahrung
zeigt, dass entsprechend der Gewichtung der Ursa chen depressive
Patienten in drei groBe Gruppen, dargestellt in den Kreisen,
eingeteilt werden konnen:
Tab. 13: Vorgehen bei der Suche nach dem syndrorngenetischen
(atiologischen) Schwerpunkt eines depressiven Syndrorns
• elldogell (melancllOlisch) - hcrcdiliirc Bclaslung'! -
pha,cnhaftcr Vcrlaur? - Tage schwankungcn?
ohne lichhalligcn nla:;. ?
• p ycllogen akluclle Konniklc? - chronische Konniklc? -
jahrelanger Verlaur? - kcine Pha en'!
HIPPIUS H. IN: FRANKE H, HIPPIUS H. Geriatrie, Psychiatrie.
Springer: Berlin, Heidelberg, New York 1979.
1. reaktiv neurotisch bedingte Depres sionen,
2. symptomatische, organische oder korperlich begriindbare
Depressio nen,
3. sog. endogene Depressionen (peri odische Depressionen oder
Melan cholien, manisch-depressive Erkran kungen).
•
A. 2.7 Differenzirlldiagnostisclle EntsclleidungsscllritJe als
Stufen zu einer tradition ellen adopatllogenetiscll orientierten
Diagnostik
Die Uberlegungen, die nach der Untersu chung eines depressiven
Patienten zu einer auch unter atiopathogenetischen Aspekten
adaquaten Diagnose fiihren, lassen sich nach LINDEN (1985) in Form
eines F1ussdiagramms in sieben Schritte eintei1en, wie anhand eines
hierarchi schen Entscheidungsmodells (Abb. 6) zu erkennen ist. Es
lehnt sich an den iibli chen klinisch-diagnostischen Entschei
dungsgang an. Hier der Ablauf der not wendigen Uberlegungen:
1. Schritt: Zuerst muss die Frage beant wortet werden, ob aufgrund
der Klagen und Befunde eines Patienten iiberhaupt eine depressive
Verstimmtheit bei ihm vorliegt (s. Kap. A. 1.3.1).
2. Schritt: Wird die Frage positiv beant wortet, ist weiter zu
untersuchen, ob eventuell andere, korperliche undJoder seelische
Krankheiten bei dem Patienten vorliegen. 1st das der Fall, muss von
einer symptomatischen oder organischen De pression ausgegangen
werden (s. Kap. A. 1.4.4).
3. Scllritt: 1st Schritt 2 negativ zu be antworten, hat man sich
am Verlauf der bisherigen Erkrankung zu orientieren. 1st dieser
phasenhaft, d. h., gab es schon
B,/undl """,n, ,
akulC Beln'lung'!
Lilhiumproph laxc: Amiilcpre"i u "onncn Mnnic pro\ o/ieren
leklro"rnlllpf· lhcrapie: I curoh:p· li"n C\ t1. in Kombi · nmion
mil nli · de pre. ,ivu
Mlll1ouminoxidn e· eM O)-llclllmcr
Kri'>enimcncmi n, Bcrmung
Aus: LINDEN M. Differentialdiagnose der Depressionen. In: HELMCHEN
H, HIPPIUS H, Hrsg. Psychiatrie flir die Praxis. Medizin Verlag:
Miinchen 1985.
Abb. 6: Differenzialdiagnostische Kriterien, Entscheidungsschritte,
Diagnosen und Therapieschwerpunkte
•
einmal depressive Erkrankungsphasen, die von einem beschwerdefreien
Zeit raum abgelost wurden, ist von einer Affektpsychose
auszugehen. Wurden im Krankheitsverlauf auch manische Phasen
beobachtet, handelt es sich urn eine sog. bipolare
(manisch-depressive) Affektpsychose. Dieser Schritt ist in der
vorgeschlagenen Weise nur bei wieder erkrankten Patien ten
moglich. Bei Ersterkrankungen mtis sen psychopathologische
Symptome al lein fUr die Diagnose einer endogenen depressiven
Affektpsychose herange zogen werden: Z. B. das GefUhl der Ge
fUhllosigkeit, ein depressiver Wahn, der plotzliche (scheinbar
unbegrtindete) Beginn, die Intensitat der Symptomatik. Die Diagnose
einer endogenen depres siven Affektpsychose (Melancholie) steht
auf sehr unsicherem Boden, wenn man allein das Querschnittsbild der
psy chopathologischen Symptome kennt.
4. Schritt: 1m weiteren Explorations gesprach mit dem depressiven
Patien ten sollte auch nach Wahnsympto men gesucht werden. 1st
das der Fall, spricht man von einer wahnhaften De pression.
•
6. Schritt: 1st keine der oben beschrie benen Erkrankungen zu
erkennen, muss jetzt nach neurotisch-reaktiven depressi yen
Storungen gesucht werden. Steht die Angst im Vordergrund (frei
flottierende Angst und phobische Symptome), die auch anfallsartig
auftreten kann, ist von einer sog. Angstdepression zu sprechen.
Gleichzeitig bestehen starkere vegeta tive Irritierbarkeit,
Derealisationssymp tome, vordergrtindige Hemmung bei gleichzeitig
erhaltener deutlicher Dyna mik sowie eine Einbindung in negative
Lebenssituationen.
7. Schritt: 1st eine derartige Angst symptomatik nicht zu
beobachten, muss in einem letzten Schritt versucht wer den, von
den auf den ersten Blick un begrtindet auftretenden Depressionen
diejenigen abzutrennen, die als reak tive und neurotische
Depressionen zu bezeichnen sind. Dabei hi 1ft die Frage, ob
aktuelle, dem Kranken bewusste Aus16sefaktoren oder biographische
Auffalligkeiten bekannt sind. Liegt eine depressive Vorsymptomatik
vor oder sind neurotische Problembew1iltigungs strategien aus der
Vorgeschichte zu er kennen, ist von einer depressiven N euro se
(depressiv-neurotische Entwicklung) auszugehen. Gibt es nur akute
Belastun gen, ist eine depressive Reaktion (reakti ve Depression)
anzunehmen. In der Abb. 6 sind am linken Rand die Depressionen in
neurotisch-reaktive und endogene eingeteilt. Die depressiven
Erkrankungen, die ohne erkennbare kor-
perliche Ursache auftreten, werden hau fig auch als primace
Depressionen be zeichnet. Auf der rechten Seite der Ab bildung
sind Behandlungsschwerpunkte aufgelistet, auf die nachfolgend noch
naher eingegangen wird.
Literatur:
LINDEN M. Differentialdiagnose der Depres sionen. In: HELMCHEN H,
HIPPIUS H, Hrsg. Psychiatrie flir die Praxis. Medizin Ver lag:
Miinchen 1985.
. 2 .8 Dlf/eremjaldiagno Ii che c"rille Ilac" d ell
KriJeriefl
derICD-IO
Seitdem es die Psychiatrie als wissen schaftliches Fach gibt, hat
man immer wieder versucht, die diagnostische Zu ordnung einzelner
depressiver Erkran kungen durch Klassifikationssysteme zu ordnen.
Die Weltgesundheitsorgani sation hat ein Klassifikationsschema
entwickelt (International Classification of Diseases, ICD-lO), das
heute in Deutschland angewendet wird (s. An hang c.l). In den USA
(und fUr wissen schaftliche Zwecke auch in Deutsch land) hat die
dort angewandte Klassifi kation psychiatrischer Erkrankungen
gleichzeitig groBe Bedeutung (DSM IV). Derartige
Klassifikationssysteme fordern die sozialmedizinische und wis
senschaftliche Kommunikation, konnen
Differenzioldiagnaslische Sch ritle
•
ch Monmc und crrolgl al Rcaklion (tuf
Abb. 7: Orientierender Entscheidungsbaum fUr die
Differenzialdiagnostik affektiver Storungen nach ICD-IO
•
~
~
LeislUngsflihigkeil durch mindestens mil Perioden leichler Oepre. '
ionen odcr ein offcktivcs Syndrom gc:hobcnc: Stimmung
r ein . JO 0 Hypomanische Zyklolhymie
Oy Ihyme Ju
" Epi ode (F34.0)
torungen (F30.0) (F34.1)
• Ncin
• M nische Episode (F30) ... • MuniM:he Epi ode ohne psycholische
.... Symplome (F30.1)
Ja
Symplomcn (F30.2) ., Dcprcs ive Epi ode in der Vorge-
schichle (F32)
•
ICD-lO (s. Anhang C.2) kann den Lemprozess erleichtem. Nachfolgend
wer den in Anlehnung an den orientieren den Entscheidungsbaum
(Abb. 7) die differenzialdiagnostischen Schritte nach der dort
aufgeftihrten Nummerierung beschrieben:
•
tern Antrieb und vermehrter Aktivitat bei einem auffallenden
Geflihl von Wohl befi nden und korperlicher und seelischer
LeistungsHihigkeit bis hin zu ausgespro chen situationsinadaquatem
Verhalten, tiberzogener Selbsteinschatzung, GroBen ideen, Fortfall
aller sozialen Hemmun gen, extremer Erregung und Reizbarkeit
(Einzelsymptome s. Tab. 3. S. 22).
2 Jeder Patient mit einer atTektiven StO rung muss korperlich
untersucht wer den. Ein depressives oder manisches Syndrom kann
auch Folge korperlicher Erkrankungen sein. Zudem muss bei Klagen
tiber korperliche Beschwerden die somatische Ursache ausgeschlossen
werden. Als diagnostisches Basisprogramm flir korperliche
Beschwerden sind je nach Beschwerdebild und nach Mog lichkeiten
folgende Untersuchungen (s. Tab. 12, S. 52) durchzuflihren:
3 Stellt sich nach den Untersuchungs ergebnissen heraus, dass bei
dem Pati enten eine organische Krankheit vor liegt, von der
angenommen werden muss, dass sie die affektiv