Das Bundesstrafgericht
Aufbau einer richterlichen Instanz im medialen Scheinwerferlicht
Referat anlässlich des KIWANIS Lunch in der Hermitage in Luzern am 8. April 2008
BundesstrafgerichtTribunal pénal fédéralTribunale penale federaleTribunal penal federal
Einleitung –Eine kleine Geschichte der Zeit…
Disorder increases with time because we measure time in the direction in which disorder increases.
Stephen B. Hawking A brief history of time (1988)
Einleitung – Der Aufbau des Gerichts im Zeitraffer
1.4.2004
Aufnahme derTätigkeit
Vorbereitungs-phase
20052007
Schaffung einer 3. Kammer
heute
Aufbau-phase I
Konsolidierungs-phase I
Aufbau-phase II
Konsolidierungs-phase II
1. Vorbereitungsphase –Aus gerichtlicher Sicht
1999 Annahme der Effizienzvorlage mit zwingender Bundeszuständigkeit für internationale und/oder interkantonale Organisierte Kriminalität, Geldwäscherei und Korruption und fakultativer Zuständigkeit für Wirtschaftskriminalität.
2000 Annahme der Justizreform durch Volk und Stände mit 86,4 % Ja-Stimmen und damit Schaffung der Verfassungsgrundlage für das Bundesstrafgericht.
2002 Beginn des Um-/Ausbaus der Bundesanwaltschaft / Bundeskriminalpolizei.
Festlegung des Sitzes des Bundesstrafgerichts und Verabschiedung des Strafgerichtsgesetzes durch das Parlament.
Etablierung der Projektorganisation „Neue Bundesgerichte“.
2003 Wahl der ersten 11 Bundesstrafrichter und anschliessende Personalrekrutierung.
2004 Das Bundesstrafgericht nimmt seine Tätigkeit auf.
1. Vorbereitungsphase –Aus medialer Sicht
Entwicklung von „Issues“ (= Sachverhalte von öffentlichem, meist medialem Interesse)
1. Zu Beginn stehen oft enttäuschte Erwartungen.
2. Durchsetzungs-, artikulationsfähige Individuen und Gruppen nehmen sich der Erwartung an.
3. Das Thema wird öffentlich relevant, entspricht den Selektionsmechanismen der Medien.
4. Ideen werden lanciert, wie das Problem zu lösen wäre.
1. Zu Beginn stehen oft enttäuschte Erwartungen.
2. Durchsetzungs-, artikulationsfähige Individuen und Gruppen nehmen sich der Erwartung an.
3. Das Thema wird öffentlich relevant, entspricht den Selektionsmechanismen der Medien.
4. Ideen werden lanciert, wie das Problem zu lösen wäre.
(nach RICKENBACHER)
Zentrales Issue aus der Vorbereitungsphase: Die „Sitzfrage“
1. Vorbereitungsphase –Aus medialer Sicht
„Das Strafgericht in Bellinzona anzusiedeln heisst, es in die Nähe von Lugano zu bringen – eine Stadt, in welcher Geldwäscherei kein Fremdwort ist."
„Bellinzona ist kein Standort in einer
vergessenen Republik der ehemaligen
Sowjetunion."
„Jahrhundert-Entscheid“
„Viva il Ticino!“
„Prestigegewinn für Bellinzona“
„Es war ein emotionaler, demonstrativer, kompensatorischer Entscheid zugunsten jener Kantone, welche in jüngster Zeit am schönsten gejammert und am lautesten Anti-Bern-Parolen ausgestossen haben.“
Büroräumlichkeiten (Business Center)
Gerichtssaal (Pretorio)
2. Aufbauphase I –Aus gerichtlicher Sicht
2. Aufbauphase I – Aus gerichtlicher Sicht
Bei Beginn der Aufbauphase I:
- Aufnahme der Tätigkeit mit 8.7 Richter- und 2 (!) Gerichtsschreiberstellen, mit Juristen aus unterschiedlichsten Rechtstraditionen
- Eintreffen eines Lieferwagens mit hängigen Verfahren in drei Sprachen am 1. Tag
- kein elektronisches Fallverwaltungssystem
- keine brauchbaren Brief-, Entscheid- oder sonstigen Vorlagen
- wenig juristische Literatur und sehr beschränkter Zugang zu juristischen Datenbanken
- eine lückenhafte und veraltete Strafprozessordnung aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg
2. Aufbauphase I – Aus gerichtlicher Sicht
Bei Abschluss der Aufbauphase I:
- 186 Beschwerde-/Gesuchsentscheide in Deutsch (108), Französisch (47) und Italienisch (31), davon 94 innerhalb von 1 Monat ab Eingang entschieden
- 164 Telefonkontrollentscheide in Deutsch (87), Französisch (58) und Italienisch (19), alle innerhalb von 5 Tagen entschieden
- 3 mehrtägige Verhandlungen mit mehreren Angeklagten und teils grossem Medieninteresse / 2 materielle Strafurteile und 1 Revisionsentscheid
- Erfolgreiche Einführung der Grundlagen der Aufsicht über die Bundesanwaltschaft und das Untersuchungsrichteramt (Pendenzenberichte, Inspektionen etc.)
- Verabschiedung des Voranschlags 2005 im ersten(!) Tätigkeitsmonat, Erlass von Reglementen, Wahlen, Vernehmlassungen etc.; Evaluation, Kauf und Konfigurierung/Parametrisierung eines elektronischen Fallverwaltungssystems
2. Aufbauphase I –Aus medialer Sicht
Entwicklung einer 2-poligen Berichterstattung zum Bundesstrafgericht:
1) Berichterstattung über die rechtsprechende Tätigkeit des Bundesstrafgerichts:
a) Artikelserien über bestimmte Verfahren;
b) Berichterstattung über die Hauptverhandlungen vor der Strafkammer;
c) Berichterstattung über einzelne Entscheide der Kammern über Grundsatzfragen („Leitentscheide“) oder mit bekannten
Beteiligten („cause célèbre“).
2) Berichterstattung über das Bundesstrafgericht selbst („Metaberichterstattung“)
2. Aufbauphase I –Aus medialer Sicht
„Bundesrichter ohne Arbeit“„Behördenleerlauf am neuen Strafgericht in
Bellinzona“
„Dem Bundesstrafgericht
fehlt Arbeit“
„Wer hat sich beim Bundesstrafgericht verrechnet?“
„Maschinerie im Leerlauf“
Zentrales Issue der Metaberichterstattung: Die vermeintliche „Unterbeschäftigung“
2. Aufbauphase I –Aus medialer Sicht
„30 Monate Gefängnis für ehemaligen Bundesbeamten“
Gleichzeitig (und sinnigerweise) aber auch breite Berichterstattung über die zahlreichen Entscheide des angeblich unterbeschäftigten Gerichts:
„Käseskandal: Bundesstrafgericht entschied“
„Kein Anwalt bei Befragungen durch Bundespolizei“
„Behring bleibt trotz widerrechtlicher
Haft im Gefängnis“
„Hells Angels wieder frei“
3. Konsolidierungsphase I – Aus gerichtlicher Sicht
Ausbau und Konsolidierung in allen Bereichen der gerichtlichen Tätigkeit:
- Entwicklung einer Rechtsprechungspraxis zu einer Vielzahl unbeantworteter Fragen aus dem Bereich der Bundesstrafprozessordnung, des Verwaltungsstrafrechts, des Gerichtsstandswesens etc. mit insgesamt 986 Entscheiden der Kammern
- Intensive(re) Beschäftigung mit Fragen der Aufsicht über die Bundesanwaltschaft und das Eidgenössische Untersuchungsrichteramt (u.a. Berichte „Anklagen“ und „Ramos“ im Jahr 2006)
- Personeller Ausbau auf der Ebene der Gerichtsschreiber und klarere Definition der konkreten Zusammenarbeit mit den Bundesstrafrichtern
- Schaffung stabiler Strukturen und Abläufe im Bereich der Kammern und des Generalsekretariats
3. Konsolidierungsphase I –Aus medialer Sicht
Zentrales Issue der Metaberichterstattung: Die Aufsicht über die Bundesanwaltschaft oder plakativ…
VERSUS
3. Konsolidierungsphase I –Aus medialer Sicht
Weiterhin breite Berichterstattung über die Entscheide / Verfahren des Gerichts:
“Die Bundesanwaltschaft hat vom
Bundesstrafgericht herbe Kritik für ihr
Vorgehen im Verfahren gegen den
mutmasslichen El-Kaida-Financier
Youssef Nada erhalten.“
„Das Bundesstrafgericht in
Bellinzona verlangt die Freilassung
des auf Anordnung des Bundesamts für Justiz in Auslieferungshaft sitzenden
russischen Ex-Ministers Jewgeni
Adamow.“ „Bertschinger bleibt in Haft
Kollusionsgefahr in der Suva-Affäre“„Dieter Behring als Werbefotograf“
„Die Harley in der falschen Garage“
„Das Geldwäschereiverfahren der Bundesanwaltschaft im Fall des zusammengebrochenen italienischen Milchkonzerns Parmalat richtet sich intensiver als bisher bekannt auch gegen die Graubündner Kantonalbank (GKB).“
4. Aufbauphase II – Aus gerichtlicher Sicht
Aufbauphase II mit folgenden Schwergewichten:
- Schaffung einer II. Beschwerdekammer und damit verbunden sukzessiver Auf-/ Ausbau der Gerichtsschreiber- und Kanzleikapazitäten wegen neuer Kompetenzen im Bereich der Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen
- Aufbau / Entwicklung einer (eigenen) Rechtsprechungspraxis in diesem Bereich
- Starker Ausbau der Dienstleistungen des Generalsekretariats, namentlich in den Bereichen Informatik und Bibliothek
4. Aufbauphase II –Aus medialer Sicht
Zentrales Issue der Metaberichterstattung: Wahlkampfbedingte Verschärfung des Issues aus der Konsolidierungsphase I
„AFFÄRE“ BLOCHER / ROSCHACHER
VERSUS
4. Aufbauphase II –Aus medialer Sicht
Trotzdem bleibt noch Platz für Berichterstattung über die Entscheide / Verfahren des Gerichts:
“Der Rheintaler Ingenieur Urs Tinner, der vor
mehr als drei Jahren wegen mutmasslichen
Atomschmuggels verhaftet worden war, muss
weiterhin in Untersuchungshaft bleiben.“
„Der ehemalige deutsche Radprofi Jan Ullrich ist vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona abgeblitzt.“
„Im ersten Al-Qaida-Prozess der Schweiz hat das Bundesstrafgericht gestern die Angeklagten vom Vorwurf freigesprochen, Terroristen unterstützt zu haben.“
„Jihad-Kämpferin vor Gericht. Die
Witwe eines Selbstmordattentäters
und ihr neuer Mann müssen sich
wegen Beteiligung und Aufbau
einer kriminellen Organisation verantworten.“
„Visa-Korruption vor Bundesstrafgericht“
5. Konsolidierungsphase II –Aus gerichtlicher Sicht
Nebst der Konsolidierung im eigentlichen Tätigkeitsbereich der Versuch, aus dem Verlauf der bisherigen Issues zu lernen und entsprechend zu handeln:
(nach LIEBL)
5. Konsolidierungsphase II –Aus medialer Sicht
???
Schlussbemerkung –Die Grenzen der Zeit…
Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft.
Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759-1805)