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Zimmer_Dieter E. - Die Elektrifizierung Der Sprache

Date post: 16-Jul-2015
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DIETER E. ZIMMER, geboren 1934 in Berlin, seit 1959 Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit, lebt in Hamburg; bersetzte Werke von Vladimir Nabokov, James Joyce, Jorge Luis Borges, Nathanael West, Ambrose Bierce, Edward Gorey u.a. Nach vornehmlich literarischen und literaturkritischen Arbeiten zunehmend Publikationen ber Themen der Anthropologie, Psychologie, Medizin, Verhaltens- und Sprachforschung. Buchverffentlichungen: Materialien zu James Joyces Dubliner (zusammen mit Klaus Reichert und Fritz Senn, 1966) Ich mchte lieber nicht, sagte Bartleby (Gedichte, 1979) Unsere erste Natur (1979)Der Mythos der Gleichheit (1980) Die Vernunft der Gefhle (1981) Tiefenschwindel (ber die Psychoanalyse, 1986) Herausgeber der Kurzgeschichten aus der Zeit (Mehrere Folgen, zuletzt 1985). Im Haffmans Verlag erschienen: Redens Arten (ber Trends und Tollheiten im neudeutschen Sprachgebrauch, 1986) So kommt der Mensch zu Sprache (ber Spracherwerb, Sprachentstehung, Sprache & Denken, 1986) Experimente des Lebens (Wilde Kinder, Zwillinge, Kibbuzniks und andere aufschlureiche Wesen, 1989)Die Elektrifizierung der Sprache (ber Sprechen, Schreiben, Computer, Gehirne und Geist, 1990) Auerdem gelegentlich Beitrge im Magazin fr jede Art von Literatur Der Rabe.

DIETER E. ZIMMER

Die Elektrifizierung der Spracheber Sprechen, Schreiben, Computer, Gehirne und Geist

HAFFMANS VERLAG

Erstausgabe Verffentlicht als HaffmansTaschenBuch 99, Frhling 1991 Konzeption und Gestaltung von Urs Jakob Umschlagzeichnung von Volker Kriegel Alle Rechte vorbehalten Copyright 1990 by Haffmans Verlag AG Zrich Satz: Fosaco AG Bichelsee Herstellung: Ebner Ulm isbn 3 251 01099 9 1 2 3 4 5 6 95 94 93 92 91

InhaltVorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Das Dingens Die Schwierigkeit, dem Computer einen passenden Namen zu finden . . . . 11 TEXTCOMP.DOC Die Elektrifizierung des Schreibens . . . . . . . . . . 21 Wie viele Wrter hat der Mensch? Das innere Lexikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Blos Tipppfehler Der Computer als Orthographie-Experte . . . . . . . 89 Rechte Schreibung Die geplante Reform der deutschen Orthographie. . . . . . . . . . . . . . . . 103 Zusatz: Text mit/ohne Schreibfehler . . . . . . . . . . 139 Ein A ist kein A ist kein A Die Maschine als Leserin . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Zusatz: Optische Zeichenerkennung, praktisch . . 144 Sprache, ein Schwingungsgebirge Die Maschine als Stenotypistin . . . . . . . . . . . . 181 Zusatz: Automatische Spracherkennung, praktisch . . . . . . 197 Aus einem khlen Grunde Die Maschine als bersetzerin . . . . . . . . . . . . 205 Mr. Searle im Chinesischen Zimmer ber Computer, Gehirne und Geist . . . . . . . . . 247

!Hypertext! Eine Kurzgeschichte . . . . . . . . . . . 295 Anhang Namen, Adressen, Preise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

VOR BE M E R K U NGDieses Buch fhrt meine beiden frheren ber sprachliche Fragen weiter. In Redens Arten (1986) ging es vor allem um den aktuellen Sprachgebrauch, um Tendenzen und Tollheiten des Neudeutschen. So kommt der Mensch zur Sprache (1986) war eher sprachwissenschaft lich orientiert und handelte von Spracherwerb, Sprachentstehung, Begriffsbildung. Das Thema jetzt heit: Sprache und Computer der Computer als Werkzeug der Sprachbearbeitung, die Versuche, einige Facetten menschlicher Sprachbeherrschung auf den Computer zu bertragen. Zwei Kapitel scheinen auf den ersten Blick nicht zu diesem Generalthema zu passen das ber die Gre des Wortschatzes und das ber die geplante Rechtschreib-Reform. Sie stehen jedoch mit dem Rest in unmittelbarer Verbindung, und zwar nicht nur wegen des Kapitels ber die Computerisierung der Rechtschreibprfung, dem sie sozusagen das Unterfutter liefern. Hinter beiden nmlich stehen Fragen, die in dieser Form erst der Computer aufgeworfen hat: Mit welchen Datenmengen hantiert der menschliche Geist, wenn er Sprache gebraucht? Wie weit lt sich eine natrliche Sprache formalisieren? (Die Antwort darauf lautet, da jedenfalls die heutige deutsche Orthographie von Willkrlichkeiten strotzt und darum gegen jede Algorithmisierung immun ist und daran etwas ndern wrde nur eine radikale Reform, wie kein Mensch sie will.)7

Das Buch und darin unterscheidet es sich vom Gros der Computerliteratur versucht den Computer immer wieder als eine Sonde zu betrachten, die uns Aufschlsse verschafft ber das Funktionieren des menschlichen Geistes. Wahrscheinlich habe auch ich hier und da den Ton triumphierender Schadenfreude nicht ganz vermeiden knnen, wenn ich davon spreche, was dem Computer bisher alles nicht gelungen ist. Im Grunde jedoch halte ich diesen hhnischen Triumph (tsch, der Mensch kann es doch besser!) fr unangebracht. Bei den Versuchen, ihm etwas Sprachvermgen beizubringen, hat uns der Computer anschaulicher als irgend etwas vorher deutlich gemacht, eine wie beraus komplexe Leistung das Gehirn auf jeder Ebene der Sprachverarbeitung vollbringt. Da ist er entschuldigt, wenn er es dem Hirn bis auf weiteres nicht gleichtun kann. Ich bewundere eher, da es trotz dieser fr ihn fast hoffnungslosen Ausgangslage gelungen ist, ihm einige sprachliche Fertigkeiten zuzumuten, die ihn in einigen Bereichen schon heute zu einem beraus ntzlichen Werkzeug machen. Das Buch gehrt also wieder zu jenem Schlag, bei dem Buchhndler und Bibliothekare leider nicht wissen, in welches Regal sie es eigentlich stellen sollen. In die Ecke, wo die Sprachwissenschaft steht, zu der sich selten jemand verirrt? Zur Psychologie? Zur Medienkunde? Zur Computerliteratur? berall stnde es richtig, selbst bei den Computerbchern, denn in den Kapiteln ber Spellingchecker, Zeichen- und Spracherkennung und Maschinenbersetzung bleibt es durchaus praxisbezogen, nennt es sogar Namen und Adressen, denen der interessierte8

Leser sonst vermutlich nicht oder nur mit ganz unangemessenem Aufwand auf die Spur kme. Trotzdem enthlt es auch eine Warnung an die Computer-Innung. Selbst dort, wo diese bemht ist, Werkzeuge zur Verarbeitung von Sprache bereitzustellen, geht sie mit ihr bisher viel zu oft leichtfertig, ja fahrlssig um, unterschtzt sie sie malos. Immer wieder etwa kann man hren oder lesen, da die fabelhaften schnellen kleinen Computer, die es in fnf oder zehn Jahren geben wird, dann selbstverstndlich auch die automatische Schriftzeichen- oder Spracherkennung und die maschinelle bersetzung beherrschen werden, so als handele es sich dabei um triviale Nebensachen, bei denen nur endlich einmal ein paar Programmierer ernstlich zupacken mten, und schon wre das Problem gelst. So aber wird es mit Sicherheit nicht kommen. Gewisse, als technische Leistungen nicht zu verachtende Fhigkeiten auf diesen Gebieten werden die knftigen Computer zwar ihr eigen nennen, und sie werden sich damit ntzlich machen aber dem Reichtum (und also auch den Inkonsequenzen und Ambiguitten) einer natrlichen Sprache werden sie in keiner absehbaren Zeit gewachsen sein. Auch in zehn Jahren wird die teuerste automatische Schrifterkennung nicht viel weniger Fehler machen als heute. Selbst eine wirklich brauchbare Rechtschreibkontrolle, ja auch nur ein Silbentrennprogramm, das man sich selbst berlassen knnte, sind vorlufig nicht in Sicht. Das Buch versucht verstndlich zu machen, warum das so ist, welche vielleicht nie ganz berwindbaren Widerstnde die natrliche Sprache ihrer Algorithmisierung entgegensetzt.9

Die Informationen ber diese Gebiete liegen wahrhaftig nicht auf der Strae, und wenn es dem Buch gelungen sein sollte, einige zu versammeln und auch fr den Nichtfachmann durchschaubar zu machen, dann nur, weil sich eine Reihe von Experten die Zeit genommen haben, mich mit ihnen zu versehen. Ihnen mchte ich an dieser Stelle meinen Dank abstatten, insbesondere: Prof. Dr. Hans Brgelmann (Universitt Bremen); Dr. Hartmut Gnther (Max-Planck-Institut fr Psycholinguistik, Nijmegen); Dr. Johann Haller (EUROTRA-D, Saarbrcken); John Hatley (Firma Logos, Frankfurt); Martina Hey er (Firma CCS, Hamburg); Hans-Siegfried Hirschel (Verein Textildokumentation / TITUS, Ratingen); Dr. Eric Keppel (Firma IBM, Heidelberg); Andreas Noll (Firma Philips, Hamburg); Annedore Paeseler (Firma Philips, Hamburg); Ian Pigott (EG Kommission / SYSTRAN, Luxemburg); Brigitte Schleicher (Firma Eppendorf Gertebau, Hamburg); Dr. Thomas Schneider (Firma Siemens, Mnchen); Dr. Klaus Schubert (Firma BSO, Utrecht); Albert Stahlberg (Firma Vektor, Hamburg). Fr etwaige Fehler in meiner Darstellung sind sie natrlich so wenig verantwortlich wie fr meine Urteile.

DA S DI N G E N SDie Schwierigkeit, dem Computer einen passenden Namen zu finden

Nicht ungern wte ich, wie das Ding denn nun zu nennen wre, vor dem ich seit Jahren den greren Teil meiner wachen Zeit verbringe. So ist der Mensch. Erst was er benannt hat, wird ganz und gar wirklich; das Unbenannte verbleibt sozusagen in einem Aggregatzustand verdnnter, verminderter Realitt. Und man kann ihn ja auch verstehen. Nur was auf den Begriff gebracht ist, nur was einen Namen hat, darber kann er explizit nachdenken und sich mit anderen austauschen. Zwar gibt es Tricks, den Mangel zu berdecken, sprachliche Joker, wildcard-Wrter sozusagen. Aber wer will auf die Dauer mit einem Dingsbums Umgang pflegen, irgendwie so einem Dingens, Sie wissen schon? Das Dingens ist ein Computer, so viel ist klar. Ist es klar? Hat man das Pech, mit der Rede von seinem Computer an jemanden zu geraten, der gewhnlich mit Grorechnern arbeitet, so erntet man den Blick, den ein kleiner Junge erntet, der sein Dreirad einen heien Ofen nennt. Gleichwohl, es ist einer, wie letztlich auch der Taschenrechner einer ist. Nur eben ein kleinerer; und irgendwie sollte die bescheidenere Dimensionierung denn auch ruhig gleich im Namen zum Ausdruck kommen. Solch einen Namen gibt es. Es ist der sozusagen offizielle: Mikrocomputer. Er hat sogar den unschtzbaren Vorzug, auf Deutsch und Englisch gleichermaen zu funktionieren. Mikrocomputer heien alle die kleineren13

Rechner, die rund um einen einzigen Mikroprozessor gebaut sind, das Herz nein; das Gehirn nein derlei Metaphern versagen. Die Rede ist von der in einem dominosteingroen Chip untergebrachten Zentraleinheit, die die Hauptarbeit des Computers verrichtet, indem sie Zahlen nach algebraischen und logischen Regeln transformiert, also Befehle in elektrische Operationen umsetzt. Wrtlich also bedeutet Mikrocomputer mit einem Mikroprozessor ausgestatteter Rechner und wre vllig in Ordnung, wenn es so, wie es dasteht, nicht als allerwinzigster Rechner verstanden werden mte, als kleiner Bruder des Minicomputers, der ja selber schon ein Winzling zu sein scheint, im Vergleich zum Mikrocomputer aber ebenso ein Riese ist wie der Mikrocomputer im Vergleich zum Taschenrechner. So mikro aber ist das Dingens nun wahrhaftig nicht mehr. berhaupt fehlt die nomenklatorische Mittellage. Auf der einen Seite Mikro- und Mini-, auf der anderen gleich der Gro- (oder Mainframe) und der Supercomputer, und dazwischen nichts. De facto wird die Mittellage etwa von den mittelstarken Brocomputern verkrpert, die als Minicomputer zwischen dem Mikround dem Grocomputer angesiedelt sind; ihrem Namen zufolge aber sind sie Miniatur. Dabei hat die Leistungsstrke von vornherein etwas hchst Relatives. Der Grocomputer von gestern ist der Minicomputer von heute und der Homecomputer von morgen. Die Leistung eines Rechners lt sich grob in der Zahl der Rechenbefehle ausdrcken, die er pro Sekunde verarbeitet. Der erste elektronische Computer war14

der 1946 an der Universitt von Pennsylvania entwickelte legendre ENIAC (Electronic Numerical Integrator and Calculator). Der ENIAC war im offensichtlichsten Sinne ein Riesending. Er arbeitete mit 18 000 Rhren und nahm eine Bodenflche von 240 Quadratmetern ein, 15 mal 15 Meter. Mit dieser Statur schaffte er die stattliche Menge von 360 Multiplikationen oder gar 5000 Subtraktionen pro Sekunde; fr die Rechenleistung, die er an einem einzigen Tag bewltigte, htte ein Mensch sechs Jahre gebraucht. Ein Ma fr die Leistung heutiger Rechner heit Mips (Million instructions per second), Millionen Instruktionen pro Sekunde, oder auch Megaflops beziehungsweise Mflops (1 000 000 floating point operations per second), Millionen Gleitkommaoperationen pro Sekunde. Es ist ein grobes und oft verspottetes Ma (Meaningless Information for Pushy Salesman, Sinnlose Information fr aufdringliche Verkufer), denn die tatschliche Leistung eines Computers hngt nicht nur davon ab, wie viele Operationen ihre Zentraleinheiten in einer gegebenen Zeit ausfhren knnen. Als Anhaltspunkt aber mag es immerhin dienen. Mips und Mflops sollten nicht weit auseinanderliegen. Man darf sich berlegen, wie viele Sekunden man selber fr eine einzige Flop, eine einzige Gleitkommarechnung allereinfachster Art bentigte, sagen wir: 3,6 mal 7. Die Leistung des ENIAC lag also bei weniger als ungefhr 0,005 Mips. Der schnellste Grocomputer aus der Mitte der siebziger Jahre, die Cray-1, nahm nur noch 2,4 Quadratmeter Grundflche ein, leistete aber bis zu 200 Mflops. Die schnellste Vax (9000-410) bringt es auf 30 Mips; die Grorechnerfamilie15

3090 von IBM auf 38 bis 102. Heute sind die Supercomputer in den Gigaflops-Bereich vorgestoen: sie bewerkstelligen sekndlich mehr als eine Milliarde Gleitkommaoperationen. Der derzeit strkste, die Cray Y-MP/832, leistet zwei Gigaflops in ihm steckt mithin die Rechenkraft von vierhunderttausend ENIACs: Zweieinhalb Millionen Jahre bentigte ein Mensch, um zu schaffen, was er an einem Tage schafft. NEC hat mit der SX-3 eine Maschine angekndigt, die gar 22 Gigaflops leisten soll. Eine Mips zweihundertmal soviel wie der ENIAC leistet selbst ein bescheidener PC der achtziger Jahre allemal; wofr er einen Tag braucht, brauchte ein Mensch 1200 Jahre. Ein besserer (ein im 20-Megahertz-Takt arbeitender mit 386er Prozessor) bringt es heute auf 4 Mips, und der PC mit 15 bis 20 Mips ist schon keine Zukunftsmusik mehr; in den Softwarelabors denkt man bereits an PCs mit 30 Mips und mehr. Mit Mikrocomputer hat man immerhin ein Wort fr das Ding, und man wird sogar damit leben mssen; aber ein glckliches ist es nicht gerade. Was also bte sich noch an? Manche nennen es Tischcomputer. Tatschlich steht es ja meist auf einem Tisch, whrend die Schrnke, die Grorechner uerlich bis in unsere Tage zumeist sind, gewhnlich auf dem Boden stehen (aber schon stehen auch die ersten Grorechner schubfachgro unterm Tisch). Nur stehen die greren Exemplare der Mikrocomputer, in Gestalt sogenannter Towers, nicht auf, sondern unter dem Tisch. Und zweitens haben seine kleinsten Vertreter die gleichsam offiziellen Kosenamen Laptop oder noch kleiner Hand16

held, sozusagen also Scho- oder Handdings, eben weil es ihre Bestimmung ist, auch nicht unbedingt auf dem Tisch, dem desktop stehen zu mssen. Das Wahre also ist auch dieser Name nicht. Aber haben sie denn nicht lngst ihren Namen weg? Heien sie nicht berall Personal Computer, kurz PC? Na, oder Jein. Jedenfalls fngt es mit den Schwierigkeiten hier erst richtig an. Die eine, sprachliche, besteht darin, da man das Wort unbedingt entweder bersetzen oder aber englisch aussprechen mu. Im einen Fall wird ein fr den Dauergebrauch arg umstndlicher Persnlicher Computer daraus, im anderen ein hybrider Prsonllcomputer. Tut man beides nicht, so deutet das Wort nmlich auf einen Computer frs Personal, einen, der Personaldaten verarbeitet oder fr die Benutzung durchs Personal bestimmt ist, nicht etwa fr die Chefetage, und um so etwas handelt es sich mitnichten. Die Zeit des Personal Computer anfangs als Spielzeug belchelt begann von heute, 1990, aus gesehen vor einem guten Dutzend Jahren (lnger ist das nicht her). Das Wort soll von Ed Roberts geprgt worden sein, Grnder der Firma MITS, die 1975 fr einen Preis von 397 Dollar einen Computerbausatz namens Altair 8800 auf den Markt brachte, von dem an amerikanische Bastler tausend Stck verkauft wurden der groe Durchbruch war es noch nicht. Der begann erst im Frhjahr 1977, mit Apfel und Schotier: mit dem Apple II der Firma Apple und dem Personal Electronic Transactor17

von Commodore, der vor allem deshalb so hie, weil er sich zu einem hbschen Akronym lieh: PET, Schotierchen, Liebling. Es waren zwei Gerte, die bereits deutliche hnlichkeit mit heutigen PCs hatten und in groer Zahl auf der ganzen Welt Verbreitung fanden. Beide Gerte wurden von Anfang an Personal Computer (englisch) genannt. Denn sie waren fr jene Technik-Freaks gedacht, die es leid waren, ihre Daten in Lochkarten zu stanzen und dann in den groen Rechenzentren zu warten, bis sie an die Riesenmaschinen vorgelassen wurden. Sie sollten eine Alternative haben: einen Computer ganz zu ihrem persnlichen Gebrauch. Ins Deutsche wre er eigentlich als Privatcomputer zu bersetzen; man sagt ja auch nicht, jemand habe ein persnliches Schwimmbecken oder eine Personal Yacht. (Oder man sagt es noch nicht: Im Zuge der heimlichen Anglisierung der deutschen Sprache wird man es sicher bald sagen; man sagt ja inzwischen auch dauernd einmal mehr statt noch einmal, in Front statt vor, harte Arbeit statt schwere, kontrollieren statt im Griff haben und findet gar nichts mehr dabei.) Ende 1981 dann nahm sich die Firma IBM jenes Privatrechners an und brachte ihren sogenannten PC heraus. Immer wieder kopiert und dabei immer billiger werdend, setzte er fortan die Norm (den Industriestandard) und fhrte zu einer Flutwelle von Soft wareentwicklungen, die ihn schnell weit ber den persnlichen Bereich hinaus trugen. Mit dem Siegeszug der IBM-Norm aber und des ihr zugrundeliegenden Betriebssystems (MS-DOS) wurde der18

Begriff Personal Computer immer mehr zu einem Synonym von IBM-kompatibler MS-DOS-Computer. Und was dieser Norm nicht folgt, wird heute gar nicht mehr als PC angesehen, sondern als etwas Niederes, ein Spielzeug; gerade, da Apples Macintosh noch im exklusiven, einfrmigen Club der PCs geduldet wird. Aber wer sich fr einen der auenseiterischen Computer (etwa die ST-Serie von Atari oder den Amiga von Commodore) entschlossen hat, deren objektive Leistungsmerkmale denen der echten PCs nicht nachstehen, sie in manchen Fllen bertreffen, der sieht sich nun an etwas Namenlosem sitzen.

T E X T C O M P. D O CDie Elektrifizierung des Schreibens

Nach ihrer Numerierung waren Befehle, Axiome, kurzum Stze ebenso grenzenlos manipulierbar wie Zahlen. Ende von Literatur, die ja aus Stzen gemacht ist. Friedrich Kittler Als der Kugelschreiber erfunden wurde, hat doch auch kein Mensch das Ende der Kultur geweissagt. Diskussionsbeitrag

Der Computer als Textverarbeitungsmaschine, als Wortprozessor ist nicht einfach ein neues Schreibgert, wie es der Fllfederhalter und der Tintenkuli und der Kugelschreiber zu ihrer Zeit waren; selbst der Vergleich mit der Schreibmaschine wird ihm nicht gerecht. Als ein neumodischer Gnsekiel lt er sich nicht ausgeben. Fragt man die, die mit ihm arbeiten, was sie denn eigentlich an ihm haben, so hrt man Elogen wie: Es lasse sich mit ihm so wunderbar leicht im Text korrigieren; er mache es einfach, beliebige Textpassagen zu entfernen, einzufgen und hin und her zu bewegen; er fertige einem ohne Murren auch die xte Reinschrift und vertippe sich dabei kein einziges Mal Alles dies ist richtig. Er hilft auf vielerlei Art beim Manipulieren von Text. Den Kern der Sache trifft es nicht. Der Computer ist nicht nur ein Werkzeugkasten, eine Schreibgarnitur. Er ist ein neues Trgermedium fr Text und zwar eines, das sich von allen herkmmlichen grundlegend unterscheidet. Solange Menschen schreiben, ritzen und kratzen sie ihre flchtigen Symbole in Stein, schnitzen sie in Holz, knoten sie in Schnre, frben sie in Rinden und Hute und schlielich in jenen abgeschpften und gebleichten23

Holzauszug, der Papier heit. Seit vor fnftausend Jahren in Sumer die Schrift erfunden wurde, heit Schreiben irgendeinen materiellen Gegenstand bleibend, meist unauslschlich verndern. Wo immer geschrieben wurde, gab es zwar auch Techniken, das Geschriebene wieder zu beseitigen, vom Schabemesser ber den Radiergummi bis zum hocherfreulichen, wenngleich ungesunden TippEx; aber was einmal geschrieben war, lie sich nur schwer wieder tilgen, wie jeder wei, der sich noch mit einem Messerchen ber einen leider nur nahezu vollkommenen Bogen hergemacht und dann doch ein Loch hinterlassen hat. Allem Geschriebenen kam immer eine gewisse Endgltigkeit zu: Gesagt ist gesagt, und geschrieben ist geschrieben; was steht, das steht, man soll es lassen stahn; wer schreibt, bleibt; wer spricht, nicht (Robert Gernhardt). Im Gewoge des Kopfes entstanden, lenkten die Symbole die Bewegungen der Hand, um dann im Material zu stehen zu kommen und ein fr allemal zu erstarren. Der Advent des Schreibcomputers hat dieser scheinbar ehernen Selbstverstndlichkeit ein Ende gemacht. Er ist ein Medium, wie es noch keines gab eins, das sich zwischen Kopf und Material schiebt. Man schreibt in den Computer wie auf Papier, aber das Geschriebene bleibt zunchst weiter so immateriell, wie es vorher als Gedanke war. Es ist, als wre der Computer ein Annex des Geistes, einer mit einem bermenschlichen buchstabengetreuen Gedchtnis, der das Ausgedachte fehlerlos verwahrt aber so verwahrt, als htte es den Kopf noch nicht ganz verlassen, so da man weiterhin beliebig eingreifen und24

alles nach Lust und Laune umdenken und umschreiben kann. Das Geschriebene gibt es dann schon, aber vorerst nur in einem unsichtbaren, gedankengleichen Medium, als Wortlaut an sich und noch ohne materielle Gestalt, ohne bestimmtes Aussehen. Erst ein zweiter Vorgang, vom Schreiben deutlich abgehoben, gibt dem bisher nur virtuellen Text eine Gestalt, viele, immer wieder vernderbare Gestalten auf dem Bildschirm, als Ausdruck auf Papier, aber man knnte sich seinen Text auch vorsprechen oder vorsingen lassen, wenn auch aus technischen Grnden einstweilen nur notdrftig. Die Vorteile fr den Schreibenden sind so enorm und so offensichtlich, da es all der weiteren, die noch zustzlich abfallen, gar nicht bedrfte, damit der Computer als Schreibzeug sich durchsetzt. Der Proze ist in vollem Gange. Wenn ein Schriftsteller heute das Schreckensbild des Verlages malt, der den gebeutelten Autor verurteilt, Disketten abzuliefern vom Personal Computer, der das maschinenlesbare Manuskript erzwingt (so vor wenigen Jahren Hermann Peter Piwitt), dann fhrt er das Lamento von gestern. Die Situation hat sich lngst verkehrt. Heute lautet die Klage der Autoren fter, da die Verlage ihre Disketten nicht akzeptieren mgen. Es spielt auch keine Rolle mehr, da das maschinenlesbare Manuskript den Verlagen Satzkosten genauer: Texterfassungskosten spart und die Autoren eigentlich verlangen knnten, da ein Teil der Ersparnis an sie weitergegeben wird. Sie werden auf den Textcomputer nmlich auch dann umsteigen, wenn ihnen seine Anschaffung mit keinem Pfennig vergolten wird, einfach weil sie sich25

seine Hilfe nicht entgehen lassen wollen. Das Bundesforschungsministerium lie in den Jahren 1986/89 untersuchen, welche Aussichten das Elektronische Publizieren hat. Whrend recht unklar blieb, ob es berhaupt grere Aussichten hat, wurde um so klarer, da das Elektronische Schreiben nicht nur eine Zukunft, sondern schon eine Gegenwart hat. Eine groangelegte Rundfrage unter Fach- und Sachautoren, welche jene Expertengruppe am Kernforschungszentrum Karlsruhe veranstaltete, ergab, da 1987 bereits ziemlich genau jedes zweite Manuskript am Wortprozessor entstanden war. Das Altersgeflle dabei war steil: bei den unter Dreiigjhrigen schrieben 75 Prozent am Computer, bei den ber Sechzigjhrigen nur 13. Die Belletristen stehen dem neuen Ding wie zu erwarten mitrauischer gegenber: Von den 48, die 1987 auf eine Rundfrage des Marbacher Literaturarchivs antworteten, benutzten es nur 6. Aber auch bei ihnen ist die Tendenz steigend. Als das Zeitmagazin 1990 einige Belletristen nach ihren Schreibgewohnheiten befragte, bekannte sich selbst eine Lyrikerin zum Computer, auf dem sie ihre mit feinem Filzstift entworfenen Gedichte weiterbearbeitet. Ulla Hahn: Der Computer [erleichtert] mir alle mechanischen Arbeiten wie Korrekturen, Abstze umstellen etc. Beschleunigt wird jedoch auch die Distanzierung vom eigenen Text, und damit berprfungen und inhaltliche Korrekturen. Viele Belletristen aber werden ihn nie benutzen, nicht nur aus Abneigung gegen jede Technisierung ihres Berufes, sondern weil er sich fr sie einfach nicht lohnt. Es hat sich herumgesprochen, da Computer nicht nur ziem26

lich teuer sind (vor allem hinterher, wenn man daran geht, seiner Ausrstung die Schwchen auszutreiben, von denen man nichts ahnen konnte, als man sich das erste Mal auf diese Branche einlie), sondern da sie am Anfang auch nicht etwa Zeit sparen, sondern eine Menge Zeit kosten. Der Lyriker oder Miniaturist, der nur gelegentlich ein paar Zeilen zu Papier bringt, mte geradezu ein Narr sein, ein Computer-Narr, die aufwendigen Dienste der Symbolmaschine in Anspruch zu nehmen. Er wird mit dem Bleistift bestens bedient bleiben. Die Gefahr, da ihm je ein Verlag das maschinenlesbare Gedicht, den digital abgespeicherten Aphorismus abverlangt, droht in aller voraussehbaren Zeit wahrhaftig nicht. Und sollte ein Verlag es je verlangen, so tte der Dichter gut daran, ihn schleunigst zu wechseln denn es wre dies ein Beweis dafr, da der Verlag den Namen eines solchen nicht verdient, sondern eine bloe Vertriebsstation ist und mit den Inhalten seiner Bcher nicht das mindeste zu schaffen haben will. Aber durch wessen Hand grere Mengen faktenreicher Texte gehen, dem hilft die Wortmaschine, und er wird es nicht mit der Schreib- und Redigiererleichterung bewenden lassen wollen, die sie ihm bringt. Er hat ein Interesse daran, da sein auf dem Computer geschriebener Text auch genau der Text ist, der gedruckt wird, ASCII-Zeichen fr ASCII-Zeichen, und nicht zwischendurch noch von anderen abgeschrieben werden mu, denn bei jedem Abschreiben schleichen sich unvermeidbar Fehler ein. Computer andererseits geraten zwar manchmal in absonderliche Zustnde und tun dann furchtbare Dinge27

(meist allerdings nicht ohne Zutun ihres Benutzers), aber sie verlesen und verschreiben sich seltsamerweise nie. Der Autor darf sich darauf verlassen, da Namen, Zahlen, Register, Bibliographien, Anfhrungszeichen haargenau bleiben, wie er sie geschrieben hat; die langwierigen und langweiligen, in heiklen Fllen mehrmaligen vergleichenden Korrekturgnge lassen sich durch die elektronische Weitergabe der Texte drastisch abkrzen. Wenige Autoren werden der Mglichkeit widerstehen knnen und wollen, diesen unangenehmsten und unproduktivsten, aber unerllichen Teil ihrer Arbeit los zu sein und mit weniger Aufwand zu einem zuverlssigeren Endergebnis zu kommen. Sie werden auch dann darauf drngen, wenn sie allein die Kosten tragen mssen. Der Siegeszug des Textcomputers wre darum nur aufzuhalten, wrde der ganzen schreibenden und lesenden Welt ein fr allemal der Strom abgestellt. Das ist die Lage. Und ist es denn gut so? Was wird gewonnen? Was geht verloren? Wer fter mit Computergeschriebenem zu tun hat, wer zum Beispiel Computerhandbcher oder Computerzeitschriften liest, die in aller Regel auch am Computer entstanden sind, wird, sofern er berhaupt noch vergleichen kann, gewisse Makel bemerken, geradezu einen Qualittssturz. Ein computergeschriebener Text ist am schnellsten an seinen Trennfehlern zu erkennen (Lo-uvre, bei-nhalten), die nicht ausbleiben knnen, wo ein Algorithmus (eine eindeutige ausfhrbare Handlungsanweisung) und nicht ein Mensch die Worttrennung am Zeilenende be28

sorgt, denn erstens ist keine natrliche Sprache vllig logisch, und zweitens mu sich der Schreibende aus anderen Grnden immer wieder ber ihre formalen Regeln hinwegsetzen: Sie zwar erlauben Trennungen wie Blutergu, Kerne-nergie, Mieter-trag, aber da diese den Leser auf Abwege locken, sind sie tunlichst zu vermeiden. Die Zahl der Tippfehler in computergeschriebenen Texten berschreitet oft alles Gewohnte. Vielfach sind es mehr als bloe Tippfehler: Das Gefhl fr Rechtschreibung berhaupt scheint sich aufzulsen womit der Computer doch noch zuwege brchte, was die 68er Reformpdagogen nicht geschafft haben. Zum Beispiel ist vielen dieser Schreiber offenbar nie zu Ohren gekommen, da zusammengesetzte Substantive wie Echtzeit Uhr oder Anwender Tip im Deutschen eigentlich zusammengeschrieben werden, und wenn, wre es ihnen auch egal. Fr derlei Fehler ist allerdings auch nicht indirekt der Computer verantwortlich zu machen; ihre Hufung in Texten bestimmter Sorten geht einfach darauf zurck, da sie von Leuten verfat werden, die nur umstndehalber und widerwillig in die Autorenrolle schlpfen muten, Fachleuten fr Informatik oder Mikroelektronik. Auf einer etwas hheren Ebene finden sich zuhauf Stze, die eigentlich keine sind, zum Beispiel, weil sie ein grammatisches Konstituens doppelt enthalten: Der Benutzer braucht sich der Benutzer nicht mehr verrenken untrgliches Zeichen, da niemand sich diesen Satz vor der Verffentlichung noch einmal genau genug angesehen hat, auch sein Autor nicht. Hier trgt der Computer einen Teil der Schuld: Er macht es leicht, Stze umzustellen, und29

leicht auch bersieht der Schreiber dann am Bildschirm, da er ihre durch die Umformulierung berflssig gewordenen Bestandteile nicht restlos gelscht hat. Computererzeugte und nicht noch einmal von Hand bearbeitete Register sind in aller Regel vllig unbrauchbar. Der Computer versammelt nur eine Liste von Wrtern, die im laufenden Text eigens markiert wurden, und setzt dann automatisch die dazugehrige Seitenzahl dazu. Da aber die Begriffe, von denen die Textpassagen handeln und nach denen der Benutzer dann sucht, oft gar nicht als markierbare Wrter vorkommen, sondern nur gemeint sind, der Computer aber keinen Detektor fr Meinungen besitzt, tauchen sie in dem automatisch erstellten Register nie auf. Brauchbar ist ein Register nur, wenn es vom Benutzer aus gedacht ist: Unter welchen Stichwrtern wrde er suchen, wovon dieser oder jener Textpassus handelt? Eine bloe Auflistung einiger im Text verwendeter Wrter macht noch lange kein Register. Eins meiner Handbcher mu man von vorn bis hinten durchsuchen, um Antwort auf die simple Frage zu bekommen, wie denn nun Sonderzeichen zu erzeugen sind; das Stichwort fehlt im Register, zusammen mit Dutzenden anderer. Warum? Weil an der betreffenden Textstelle originellerweise von besonderen Zeichen die Rede ist und der Autor natrlich weder das Wort besonderen noch Zeichen markierenswert gefunden hatte. Der Computer scheint ein mchtiges Werkzeug bereitzustellen, das dem Autor die leidige Mhe der Register-Erstellung abzunehmen verspricht, und nur zu gern glaubt der dem Versprechen. Das Ergebnis ist fast immer unzulnglich,30

und meist wre gar kein Register besser als eines, das dem Computer berlassen blieb. Auf der inhaltlichen Ebene Wiederholungen, Auslassungen, Non-sequiturs oder die bare Unbildung (Botticellis Venus, die bei der Demonstration einer Grafik-Anwendung dem Meer entsteigt, firmiert unfehlbar als die Venus von Milo); auf der typographischen Ebene primitive Umbruchfehler (Absatzausgnge am Anfang einer Spalte Hurenkinder also, und Zwiebelfische erst recht), dilettantische Seitenspiegel, willkrliche Abstze, beleidigende Schriftenkombinationen (Fehler, die nicht ausbleiben knnen, wo Laien mit einem Desktop-Publishing-Programm auch die typographischen Fachkenntnisse eingekauft zu haben glauben, die zu seiner richtigen Bedienung eigentlich ntig wren) es sieht so aus, als sei das Reich des doch so genauen Computers das Reich hemmungsloser (sprachlicher und nicht nur sprachlicher) Schluderei. Die Macher der Hard- und Software machen es vor. Der Macintosh mit seinem intellektuellen Image begrt seinen Benutzer mit der Formel Willkommen zu Macintosh. Da das plebejische, wenngleich ingenise Textprogramm, mit dem ich jahrelang schrieb, mir bei jedem Einschalten mit der Anzeige Drucker Installiert: kam, wo es Angeschlossener Drucker: oder meinetwegen Installierter Drucker: meint, daran hatte ich mich noch nach Monaten nicht gewhnt. Die Firma, die dafr verantwortlich war und ihre Kunden mit Nachrichtenboxen wie Diese Anwendung kann das angesprochene Objekt nicht finden erfreut, hat sich nie daran31

gestoen; ohne Selbsthilfe wre der Fehler nie behoben worden. Doch sogar ein so hochvornehmes Programm wie MS-Word mutet seinen Anwendern von Update zu Update die stndige Ermahnung Bearbeiten Sie bitte Ihren Text oder unterbrechen Sie zum Hauptbefehlsmen! zu, sagt Quitt, wo es Ende meint, verdeutscht den Programmbefehl GOTO mit Gehezu, bis man selber versucht ist, gehe! fr den Imperativ von gehen zu halten, und ntigt den Anwender beim Gang durch seine vielen Schachtelmens, die simple Funktion Text speichern in einer Schachtel namens bertragen zu suchen, wo er sie unter dem Namen Alles-speichern findet. Auch noch ein sprachlich relativ sorgfltig gemachtes Textprogramm wie XyWrite (Euroscript) bietet Kauderwelsch wie berblick der Textseite, mit der Unterzeile Was die Seitenlnge beinflut. Das sind keine seltenen Entgleisungen, das ist die triste Regel. Wesentlich unbedarftere Firmen offerieren dem Autor dann groartige Werkzeuge, Korrekturprogramme (Tipppfeleren Sie jetzt nach Herzenslust), Synonymwrterbcher, das treffende Wort auf elektrisch, gar Sprachbersetzungsprogramme, die nher besehen dann noch nicht einmal fr den Kindergarten taugen. Sie sind wahrhaft ahnungslos. Khn bewegen sie sich in einer Welt, die ihnen fremd ist. Sie ahnen nicht im mindesten, wieviel berlegung, Intelligenz und hartnckigster Flei ntig sind, etwa ein gutes Synonym- oder Fremdsprachenlexikon aufzubauen (das dann immer noch sinnvoll auf den Computer zu verpflanzen bliebe). Selbst eine simple Liste richtig geschriebener Wrter, anhand deren der Computer Tipp32

fehler erkennen kann, ein Spellingchecker also, brauchte ein paar Gedanken vorweg und dann sehr viel mehr Mannstunden, als sich viele Soft ware-Huser trumen zu lassen scheinen. Die Werbung behauptet regelmig etwas in der Art: Der Computer erspart Ihnen stupide Routinearbeit, und die so gewonnene Zeit knnen Sie fr eine kreative, produktive Arbeit an Ihren Texten verwenden. Knnte man, tun aber die wenigsten. In der Praxis verleitet der Computer oft nur dazu, die Texte noch eiliger, noch flchtiger, noch unkontrollierter abzufertigen. Seine Schuld ist es nicht, aber Menschenart. Natrlich, der Computer als Schreibgert fr alle ist noch ein ganz neues Instrument. Es dauert seine Zeit, bis eine mchtige neue Technik sich mit den ihr gemen neuen Symbolen und Konventionen, mit Inhalten, mit Stil, mit sthetik, mit Geist gefllt hat. Zuerst ist sie immer leer, ein bloes Versprechen. Auch ist jener Qualittssturz natrlich oft nicht die Schuld des Computers an sich, sondern die seiner Benutzer. Oder doch da er sich zu dieser Art von Benutzung leiht, da er geradezu dazu einldt. Ein Hauptgrund fr das sintflutartige Anschwellen der Computerliteratur ist wohl der, da die Maschine, die da im Mittelpunkt steht, vorzugsweise jene Intelligenzen anzieht, die sich frher als Radiobastler oder Amateurfunker hervorgetan htten und von Literaten insgeheim fr Analphabeten gehalten werden. Die Jungs von der Fensterbank, die in Deutsch immer eine Vier hatten, aber unbegreifliche Wunder wirkten, wenn sie33

mit dem Multimeter Spannungen an Ein- und Ausgngen abgleichen konnten, finden sich pltzlich als Experten am Schreibtisch, sind Autoren und Redakteure und Chefredakteure gar, dazu berufen, einem gebannten Publikum geschriebene Kunde zu bringen von den Innereien ihrer hochkomplizierten Maschine und so liest es sich dann auch. Im brigen aber ist es eben die Leichtigkeit, welche das Schreiben, Edieren und Publizieren durch den Computer bekommt, die dem Pfusch Tr und Tor ffnet. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil wissen wir sptestens seit den eingehenden psychologischen Studien von Sherry Turkle, die sie in ihrem Buch The Second Self (Die Wunschmaschine) festgehalten hat, da der Computer den Geist seiner User keineswegs normt, keineswegs standardisiert, sondern da jeder seine ureigene Art hat, mit ihm umzugehen, sich durch ihn auszudrcken. Unter den Computerschreibern scheint es mir nun aber zwei Haupttypen zu geben. Der eine scheut sich, eine so teure und anspruchsvolle Maschine mit seinen krausen Augenblickseinfllen zu behelligen; er schreibt ihrem Gedchtnis nur ein, was relativ fertig ist, und nutzt die Mglichkeiten der Maschine dann vor allem, um das Geschriebene dem ihm gegebenen Perfektionsgrad nahezubringen. Der andere ist berauscht von einem neuen Freiheitsgefhl: Das Ding ist nicht nur ein einzigartig widerstandsloses Schreibgert, es geht dem Geschriebenen auch jene relative Endgltigkeit ab, die noch jede Fassung auf Papier hatte, es lt sich also nach Belieben immer und immer wieder ndern, maana, spter ... Er34

schreibt also drauflos, was ihm durch den Sinn huscht, fast kommt es ihm vor wie die erste wahre criture automatique, gegen die der Widerstand, die Langsamkeit des Materials sich frher immer noch sperrte. Und unversehens hat der Textcomputer dem Inhalt seiner Schmierzettel eine wrdige Schriftart verpat, hat der Laserdrucker es aufs edelste zu Papier gebracht, und da steht es dann, und der Leser reibt sich die Augen. Dies also sind die Grnde fr jenen Qualittssturz: Erstens: Einer tippt etwas vor sich hin, was in der ra des Papiers allenfalls die erste rohe Skizze gewesen wre; der Computer gibt es ihm aber auf Wunsch jederzeit in einer kostbaren Form aus, die frher allein vollendeten und wieder und wieder kontrollierten Texten vorbehalten war. Leicht tuscht dann die uere Perfektion ber die innere Unfertigkeit hinweg. Zweitens: Da alles, was vom System erfat ist, mit ein paar Handgriffen bis zur Verffentlichung weiterbewegt und weiterverwandelt werden kann, bleibt der erste wirkliche Arbeitsgang das Schreiben oft auch der letzte. Gutachter, Lektoren, Redaktoren, Setzer, Metteure, Korrektoren all die Qualittskontrolleure, die frher ein Manuskript in den Druck geleiteten und ihm eine professionelle Form gaben, knnen eingespart werden, und oft werden sie es. Drittens: Sach- und Fachtexte werden meist unter Termindruck und in der Hektik eines zerstreuten Bros geschrieben. Sie sind zudem oft anonyme Produkte, die keinem als Einzelwesen vorhandenen Autor zugerechnet werden da wird man an ihnen doch nicht feilen, als wolle35

man einen Literaturpreis dafr verdienen. Der Computer erlaubt es, sie fixer denn je in die Tasten zu hauen. Nichts davon mu so sein. Ich denke zwar nicht, da die Menge des anfallenden Textschutts jemals weniger werden wird. Aber ich mchte annehmen, da dieser die Ansprche der Leser nicht aufweichen und aufheben wird; da der berhandnehmende Ramsch bei vielen von ihnen sogar ein groes Bedrfnis nach Qualitt wachruft. Diese werden das Durchdachte und Formulierte und handwerklich sauber Gearbeitete gegen das der Computer sich ja keineswegs strubt, das er vielmehr erfinderisch untersttzt zu erkennen und mit ihrer Aufmerksamkeit zu belohnen wissen und das andere auf die Halde kippen, wo es hingehrt. Und wo sich das herumspricht, wird es die Computersudelei bremsen. Eine altehrwrdige Kulturtechnik im Umbruch langsam ruft es nun auch die Medien- und Kulturtheoretiker auf den Plan. Der Medientheoretiker Friedrich Kittler (Grammophon Film Typewriter) zum Beispiel, der es fertigbringt, schon die Schreibmaschine irgendwie als eine nicht ganz geheure militaristische oder sexistische Errungenschaft hinzustellen, ist dem Computer natrlich erst recht nicht gewogen. Kittler scheint allen Ernstes zu meinen, er mache menschliches Denken berflssig. Die Konstruktion des Golems jedenfalls ist perfekt. Speichermedien der Grnderzeit konnten nur Auge und Ohr, die Sensorien des ZNS (Zentralnervensystems) ersetzen, bertragungsmedien der Zwischenkriegszeit nur Mund und Hand Das sogenannte Denken blieb Denken, also nicht zu im36

plementieren. Dazu mute Denken oder Sprechen erst vollstndig in Rechnen berfhrt werden Computer schreiben selber, ohne Sekretrin, einfach mit dem Kontrollbefehl WRITE Nach ihrer Numerierung waren Befehle, Axiome, kurzum Stze ebenso grenzenlos manipulierbar wie Zahlen. Ende von Literatur, die ja aus Stzen gemacht ist. Was ist davon zu halten? Stolz, eine derart anspruchsvolle Maschine erst hundertmal nicht und dann doch zu meistern, haben manche Computer-Novizen in der Anfangsphase zwar zuweilen das Gefhl, all das Tastendrkken sei viel interessanter und wichtiger als das Schreiben selbst. So vieles kann man pltzlich machen: Stze, Abstze umstellen, beliebige Passagen lschen und, wenn man es gleich danach bereut, dann doch wieder herbeizaubern, den Text zu schmalen oder zu breiten Spalten ordnen, eine Stelle fetten und beim zweiten Nachdenken dann doch lieber kursiv machen, verschiedene Texte ineinander mischen, die Wrter durchzhlen oder in alphabetischer Folge auflisten lassen; unter den meisten Tasten der Eingabetastatur verbergen sich nicht nur die Zeichen, die sichtbar auf der Kappe stehen, sondern, wenn man sie mit anderen Tasten kombiniert, weitere Funktionen zuhauf, die in ihren Wirkungen auch nur zu erkunden Tage oder Wochen brauchte. Es scheint alles sehr viel Aufmerksamkeit zu verlangen; es ist auch spannend. Wer je in die Lage kam, sein Textprogramm selber an einen bestimmten Drucker anzupassen, wei, wie schnell eine Nacht vergeht, in der man im Druckertreiber ein Byte bald hier, bald da umsetzt und dann den Effekt37

ausprobiert es ist wie ein Videospiel, ein Text-Adventure. Dieser anfngliche Computerrausch gibt sich aber schnell. Alsbald nmlich macht man die Entdeckung, da der Computer selber gar nichts schreibt. Er bietet nur eine Schreibflche. Vielleicht stehen ein paar Wrter und Icons auf deren Rahmen, aber sie dienen nur der Handhabung. Die Schreibflche selber ist vollkommen leer. Der Computer steuert zu dem, was darauf zu stehen kommen soll, nicht das allergeringste bei. Er wartet, wie das leere Blatt Papier wartet. Kittlers so gewichtig auftretende Kritik verrt vor allem, da er selber keine Ahnung hat; da die technischen Einzelheiten, die er zuweilen seitenlang referiert, nur irgendwo abgeschrieben sind und die Aufgabe haben, dem Leser zu imponieren. Computer schreiben eben keineswegs selber, und schon gar nicht auf den Kontrollbefehl WRITE hin. Den Kontrollbefehl WRITE gibt es gar nicht. Was es gibt, ist eine WRITE-Instruktion oder ihr quivalent in den Programmiersprachen, die aber den Computer mitnichten dazu bringt, selber zu schreiben, sondern nur dazu, einen Text, dem man ihm vorher Zeichen fr Zeichen mitgeteilt haben mu, auf dem Bildschirm zu zeigen. Das Wort Schreiben, das hier in den Programmiersprachen auftaucht, hat mit dem Begriff schreiben der natrlichen Sprache wenig gemein. Fr die bequeme Programmierung des Computers mu vereinbart werden, da bestimmte Tastendrcke, bestimmte Zeichenfolgen also, bestimmte Aktionen auslsen. Fr die Auslsung der Aktion Bildschirmanzeige eines Textes wurde in etlichen Programmiersprachen eine Zei38

chenfolge gewhlt, die dem natrlichen Wort write gleicht, nicht weil der Computer irgend etwas selber schriebe, sondern lediglich als mnemonisches Hilfsmittel fr den Programmierer; WRITE merkt er sich halt leichter als PRX*/QQXy, was es ebensogut sein knnte. WRITE ist auch kein Kontrollbefehl. Das Wort Kontrollbefehl scheint Kittler aus einem ganz anderen Zusammenhang zugeflogen zu sein. Das altgediente Textprogramm Wordstar wird im wesentlichen so gesteuert, da jeweils die Taste Control und dann ein oder zwei Buchstaben gedrckt werden. Controltaste gedrckt halten, K und S tippen das beispielsweise befiehlt dem Computer, einen Text abzuspeichern; Control plus OJ heit: ab hier Blocksatz und so weiter (es ist kein leicht zu lernendes Textprogramm) . Auch wenn sich der Kontrollbefehl WRITE, der menschlicher Literatur den Garaus machen soll, noch so druend anhrt: Kittler knnte jedem beliebigen Computer in jedem beliebigen Zustand noch so oft WRITE eintippen: Es tte sich schlechterdings nicht das mindeste. Er verwechselt sowieso dauernd das Schreiben im Sinne der Schpfung eines sprachlichen Gebildes mit dem bloen mechanischen Hinschreiben, der Texterfassung. Aber sein Kontrollbefehl WRITE bewirkt noch nicht einmal dieses. Er erlaubte noch nicht einmal Kittlers Sekretrin die Kaffeepause. Und dann die Logik. Da eine Rechenmaschine Zahlen manipuliert, meinetwegen auch grenzenlos, war nicht das Ende der Mathematik, die sich nicht in der Manipulation von Zahlen erschpft. Es war noch nicht einmal das Ende der Mathematik, da die Rechenmaschine39

mathematische Beweise fhren konnte. Noch weniger ist es das Ende der Literatur, da die Maschine Stze manipuliert. Warum berhaupt Stze? Literatur ist nicht gleichbedeutend mit Stzen; ebensogut knnte man sagen, Literatur bestehe aus Wrtern oder Seiten oder feinen Strichen. Und der Computer manipuliert gar keine Stze; er manipuliert Symbole, und im Falle von Textprogrammen bedeuten diese Symbole alphanumerische Zeichen. Da der Computer Stze manipuliere, soll suggerieren, da er Aussagen, Propositionen manipuliere; da er also irgendwie in den Sinn des Geschriebenen eingreife oder diesen gar eigenmchtig erzeuge. Genau dies aber tut er nicht. Auch da er inwendig Buchstaben als Dualzahlen behandelt, berfhrt kein Denken und Formulieren in einen Rechen Vorgang. Es ist nicht das Ende der Musik, da die wabernden Klnge der Gtterdmmerung auch als Spannungsschwankungen oder Wellenlinien auf der Langspielplatte existieren, wie es nicht ihr Ende ist, da sie aus Luftschwingungen besteht oder sich in Noten ausdrcken lt. Es ist nicht das Ende der Literatur, da schrift liche Aussagen vom Rechner binr oder sonstwie codiert werden, wie es nicht ihr Ende war, da sie aus Wrtern und diese aus Buchstaben und diese letztlich aus Farbmoleklen bestehen. Im brigen sind auch Gedanken auf ihrer untersten Ebene Salven von Nervenimpulsen, also elektrischen Signalen, auch wenn sie selber von denen nichts wissen. Mir geht es angesichts eines Computers genau umgekehrt: Ich staune immer wieder aufs neue, wie menschlicher Intellekt es zuwege gebracht hat, so viele Hand40

lungsanweisungen, die unser Gehirn erteilt, von der Manipulation von alphanumerischen Zeichen bis zum Rechnen, Zeichnen, Malen, der Erzeugung von Tnen und so manchem anderen, immer weiter zu abstrahieren, bis sie sich durch wenige einfache logische Operationen an nicht mehr als zwei Symbolen darstellen lieen. (Das Erstaunliche an Computern ist, schrieb der amerikanische Philosoph John R. Searle, da sich jede in einer Sprache ausdrckbare Information in einem solchen System codieren und jedes Problem der Informationsverarbeitung, das mit expliziten Regeln lsbar ist, damit programmieren lt.) Und es beeindruckt mich, da jedes Programm nicht nur bestimmte Arbeiten mehr oder weniger gut erledigt, sondern da ihm darber hinaus auch eine sthetik eigen ist, die mich je nachdem sympathisch berhrt oder abstt. Der progressive Medienkritiker beruft sich auf den konservativen, auf eine neuerdings oft zitierte Stelle aus Heideggers Parmenides-Vorlesung von 1942: Das maschinelle Schreiben nimmt der Hand im Bereich des geschriebenen Wortes den Rang und degradiert das Wort zu einem Verkehrsmittel. Auerdem bietet die Maschinenschrift den Vorteil, da sie die Handschrift und damit den Charakter verbirgt. Ohne Zweifel, der nicht handschrift liche Text bt durch die Maschine etwas von seiner persnlichen Note ein (knnte sie aber gerade durch die groen typographischen Gestaltungsmglichkeiten des Schreibcomputers nun teilweise wieder zurckgewinnen). Aber Heidegger mochte sich auf eine Abwgung von Vor- und Nachteilen nicht einlassen; sie wre fr41

ihn wohl schon Verrat gewesen, Verrat am Wesen des Menschen. Wieso gehrt es zum Wesen des Menschen, mit der Hand zu schreiben? Darauf wei der konservative Philosoph keine andere Antwort als: weil es bisher doch immer so war. Der Mensch selbst handelt durch die Hand; denn die Hand ist in einem mit dem Wort die Wesensauszeichnung des Menschen. Nur das Seiende, das wie der Mensch das Wort (mythos) (logos) hat, kann auch und mu die Hand haben. Dem knnte man respektlos entgegenhalten, da der Mensch an der Schreibmaschine oder vorm Computer schlielich auch nicht mit dem Fu oder einem anderen nichtswrdigen Krperteil schreibt, sondern wie eh und je mit der Hand handelt. Und wer das etymologisierende Philosophieren ernst nimmt, knnte erwidern, da man es bei Schreibmaschine und Computer mit Tasten einer Tastatur zu tun hat, auf denen man mit der Hand tastend handelt. Aber damit mag es auf sich haben, was es will jedenfalls ist das menschliche Vermgen, Werkzeuge zu ersinnen und zu gebrauchen, ein sehr viel charakteristischeres Wesensmerkmal als der Gebrauch einer geschickten Hand. Anders als Kittler bleibt der amerikanische Philosoph Michael Heim auf dem Teppich. Electric Language heit sein Buch, Elektrische Sprache. Seine Grundthese: Der Computer werde womglich die kontemplative Buchkultur auflsen und eine beispiellose Flchtigkeit des Schreibens wie der Lektre heraufbeschwren. Sehr elegant widerlegt er gleich selber, da es so kommen mu. Auf dem Computer geschrieben, ist sein Buch eine so ausho42

lende wie tiefschrfende und dazu aufs sorgfltigste gearbeitete Beschreibung des psychischen Rahmens der Schrift kultur. Heim, schwankend zwischen Euphorie und Depression, resmiert: Das digitale Schreiben ersetzt die handwerkliche Sorgfalt beim Umgang mit widerstndigem Material durch die automatisierte Manipulation; lenkt die Aufmerksamkeit vom persnlichen Ausdruck zur allgemeineren Logik algorithmischer Prozeduren; fhrt von der Stetigkeit kontemplativen Formulierens zur berflle dynamischer Mglichkeiten; und wandelt die private Einsamkeit reflektierenden Lesens und Schreibens in ein ffentliches Netzwerk, wo der persnliche symbolische Rahmen, den die originale Autorschaft voraussetzt, von der Verkoppelung mit der totalen Textualitt menschlichen Ausdrucks bedroht ist. Zwei Punkte dieses Katalogs scheinen mir besonders wichtig. Der eine: Der Mensch, der mit dem Computer arbeitet, denke am Ende wie ein Computer er infiziere sich mit algorithmischem Denken. Was ist ein Algorithmus? Eine explizite, eindeutige und logisch Schritt auf Schritt aufbauende Handlungsanweisung. Ein Computer arbeitet algorithmisch. Ausdrcklichkeit: Oft ertappt sich der Anfnger dabei, wie er die Maschine anfhrt: Esel! Ist doch klar, da ich zum Beispiel diesen Brief in Schnschrift haben will und nicht in der flchtigen Punktschrift des Matrixdruckers. Aber der Computer tut nur, was ihm ausdrcklich befohlen wird. Wird ihm nicht ausdrcklich Schnschrift befohlen, so liefert er sie auch nicht.43

Eindeutigkeit: Wer ein Schriftstck, das er unter dem Namen TEXTCOMP.DOC abgespeichert hat, unter dem Namen COMPTEXT.DOC sucht oder auch nur versehentlich TEXCTOMP.DOC hinschreibt, wird eine Fehlanzeige ernten. Es hilft nicht, den Computer anzufahren. Ambiguitt toleriert er nicht im mindesten. Schritt auf Schritt: Wir berspringen manchmal einen Schritt, machen gelegentlich auch den dritten vor dem zweiten. Wenn aber das Computerprogramm zum Beispiel das Speichern vor das Drucken gesetzt hat, dann ist keine Sprunghaftigkeit gestattet; der Algorithmus will schrittweise abgearbeitet werden. Indessen ist das algorithmische Denken nichts Unmenschliches. Wer vorhat, ein paar Briefe zu schreiben und abzuschicken, geht nicht erst eine Briefmarke kaufen, steckt dann zwei Umschlge in den Kasten und besorgt schlielich das Briefpapier. Wir machen uns fr alle unsere Handlungen dauernd vernnftige Algorithmen, auch wenn wir uns darber selten ausdrcklich Rechenschaft geben. Warum soll der Verstand der Menschen Schaden nehmen, wenn der Computer sie ntigt, gelegentlich die algorithmischen Zge ihres Denkens an die Oberflche zu bringen? Und wer den Computer nur als Wortprozessor gebraucht, kann dessen algorithmische Ansprche auf ein Minimum beschrnken; wenn er nur will, ist der Umgang mit ihm nicht algorithmischer als der mit einem Fernsehapparat: Es sind ein paar Knpfe zu drcken, dann steht eine Schreibflche bereit, und ein paar weitere Knopfdrcke befrdern das darauf Geschriebene aufs Papier.44

Der andere Punkt: das Netzwerk. Technisch machbar ist es. Aus dem Autor und Leser von heute knnte eines Tages der Teilnehmer in einem unentwegten elektronischen Austausch von Informationspartikeln werden. Die Mhsal, mit der eine Datenbankrecherche heute noch verbunden ist, und ihr oft nur geringer Erfolg; die vielen Pannen bei der Datenbertragung; der Umstand, da es mit der optischen Platte (CD-ROM) inzwischen zwar ein beraus mchtiges Speichermedium gibt, welches ganze Bibliotheken am Bildschirm verfgbar machen knnte, da es aber noch fast vllig ohne Inhalt ist all das wird sich mit der Zeit ndern. Trotzdem glaube ich vorlufig nicht an das Netzwerk der vollelektrifizierten Autoren und Leser; ich glaube noch nicht einmal an den vollelektronischen AutorenArbeitsplatz. Es ist wahr, in einem Computernetz knnen ungeheure Datenmengen hin- und herbewegt und automatisch durchgekmmt werden. Es ist aber ebenfalls wahr, da sie an ihren Endstationen immer auf einen Engpa treffen: die Aufnahmefhigkeit des einzelnen Menschen. Alles Gedachte und Geschriebene ist dazu bestimmt, am Ende durch den Kopf eines Einzelnen zu wandern; und es eignet sich allemal besser dazu, wenn es aus dem Kopf eines Einzelnen, vieler Einzelner stammt und nicht aus einem Informationsautomaten. Da auf Knopfdruck ganze Bibliotheken zur Verfgung stnden, mag schn und gut sein und ein nettes Versprechen in einer Zeit, da man in einer real existierenden Bibliothek selten findet, was man sucht. Nur braucht man in den seltensten Fllen gan45

ze Bibliotheken, wrde man unter den Fundstellen aus ganzen Bibliotheken hoffnungslos erdrckt. Verndert der Computer das Schreiben? Den mechanischen Vorgang des Schreibens natrlich aber darber hinaus auch Form und Inhalt des Geschriebenen? Und wie verndert er es? Schreibende Menschen sind in einer eigenartigen und manchmal komischen Weise abhngig von den ueren Umstnden, unter denen sie schreiben, und von den Dingen, mit denen sie schreiben und auf die sie schreiben von der Materialqualitt. Der eine kann es nur, wenn er allein in einem vertrauten Zimmer ist und die Tr hinter sich zumachen kann. Der andere braucht den Betrieb eines Cafhauses. Der eine schreibt am besten, wenn er dabei Tee trinkt, der andere, wenn er Musik hrt. Der gleiche Tee oder die gleiche Musik blockieren den Dritten vollstndig. Schiller brauchte zum Schreiben den Geruch verfaulender pfel. Heimito von Doderer schrieb mit verschiedenfarbigen Tinten auf edles Papier. Vladimir Nabokov schrieb mit spitzen weichen Bleistiften auf liniierte Karteikarten. Arno Schmidt schrieb mit der Schreibmaschine, aber nur mit einem braunen Farbband und auf beigefarbenes Papier. Bei Journalisten sind solche Gewohnheiten vielleicht weniger ausgebildet. Aber abhngig sind auch sie von Umstnden und Art des Schreibens. Der eine beherrscht die Kunst, seine Artikel zeilengenau in die Setzmaschine oder welche Tastatur auch immer zu diktieren. Der eine hat nichts gegen die mechanische Vermittlung und kann nur mit der Maschine schreiben, der46

andere braucht sozusagen den Krperkontakt zum Geschriebenen und kann nur von Hand. Wenn einer, der bisher alle seine Sachen suberlich mit der Hand in ein leeres Buch geschrieben hat, pltzlich in ein Diktiergert sprechen mte oder vor den zwlf mehrstckig belegten Funktionstasten eines Textcomputers se; oder wenn der Maschinenschreiber pltzlich alles mit der sich verkrampfenden Hand schreiben mte, fhlten sie in milden Fllen ein den Gedankenflu hemmendes Unbehagen, und in schwereren Fllen fiele ihnen einfach kein Wort mehr ein. Der Handschreiber und der Diktierer werden den Umstieg auf den Textcomputer wahrscheinlich nicht schaffen, und kein Arbeit- und Auftraggeber sollte ihn dazu ntigen. Es gibt allerdings schon Bros, etwa manche Fachbersetzerbros, wo das Problem nicht mehr darin besteht, da die Mitarbeiter zur Bildschirmarbeit vergewaltigt wrden, sondern im Gegenteil, da nicht alle an den Bildschirm drfen, die es gern mchten. Wie also verndert der Wortprozessor das Schreiben und das Geschriebene? Ich bin hier weitgehend auf die erste, aber leicht verrufene Quelle alles psychologischen Wissens angewiesen, auf die Selbstbeobachtung. Wer einmal einen Text erst in handschrift licher Form gesehen hat und dann im Druck, der wei: Er liest sich sofort ganz anders. Vielleicht wird eine vorher verborgene Pointe sichtbar, nimmt sich eine Stelle, die handschriftlich ganz in Ordnung schien, jetzt, wo man sie flssiger entziffert, falsch oder tautologisch aus. Auf subtile Weise beeinflut das uere Bild des Geschriebenen seine47

Bedeutung, und nicht nur in der Weise, da eine uerlich unsympathische Form einen auch gegen den Inhalt einnimmt. Es ist eine allgemeine Erfahrung unter Autoren: In dem Augenblick, da man seinen Text zum ersten Mal in einer ganz neuen und endgltig wirkenden Form liest, bemerkt man Schwchen, die einem vorher entgangen waren. Der bergang vom Manuskript zum Satz lst bei Autoren unweigerlich eine Welle von Autorenkorrekturen aus, so unlieb die, aus Kostengrnden, den Verlagen auch sind. Der bergang vom Papier zum Monitor ist eine Metamorphose, die mindestens so einschneidend ist wie die vom Manuskript zum Satz. Die Buchstaben stehen pltzlich hinter Glas, leuchten grn oder bernsteinfarben oder plasmatisch ochsenblutrot auf dunklem Grund oder schillern reptilhaft grnlich und messingfarben, und auch wo sie schwarz auf wei stehen, leuchtet der Hintergrund in einer Weise, wie es auch das weieste Papier nie tut. Vor allem bersieht man immer nur etwa zwanzig Zeilen. Wer Vorherstehendes oder Spteres sehen will, mu scrollen, also sozusagen das sichtbare Textfenster ber dem unsichtbaren gespeicherten Text verschieben. Hat man dann die gesuchte Stelle am Bildschirm, ist die ursprngliche nicht mehr zu sehen, und wenn man die nun im Licht der nachgelesenen anderen Stellen verndern mchte, mu man sich erst wieder zu ihr zurckscrollen. Steht die gesuchte Stelle noch weiter entfernt, mu man sie mglicherweise erst aus einer anderen Datei herbeirufen. Auf dem Bildschirm erscheint sie dann in einem weiteren Textfenster, und zwei gr48

ere Fenster gleichzeitig lassen sich nicht lesen, immer verdeckt das eine das andere. Es lt sich zwar alles machen, es braucht meist nur ein paar Tastendrcke, aber das Blttern in einer Papierfassung ist dennoch einfacher. Soll allerdings nicht nur geblttert und gelesen werden, geht es darum, Textpassagen innerhalb einer Datei oder zwischen verschiedenen Dateien zu verschieben, so ist der Computer weit berlegen. Scheinbar sind hnliche Manipulationen nur Bagatellen und nicht wert, da man berhaupt von ihnen redet. Aber die minimal kleinere oder grere Mhe, die es kostet, irgendeine Vernderung am Text vorzunehmen, beeinflut, welche Vernderungen wir vornehmen werden, und zwar in einem Ausma, das sich niemand vorstellen kann, der es nicht an sich selber erlebt hat. Die leicht erhhte Mhe, die es am Bildschirm kostet, bersicht ber grere Textabschnitte zu gewinnen, wird also dazu fhren, da wir solche bersicht weniger bereitwillig suchen. Inkonsistenzen oder Widersprche oder Wiederholungen innerhalb der zwanzig Zeilen, die jeweils am Bildschirm zu sehen sind, wird man genauso gern oder aus anderen Grnden sogar viel lieber beseitigen als auf dem Papier. Zwischen entfernteren Textstellen aber wird man sie leichter bersehen und gelegentlich auch dann durchgehen lassen, wenn man durchaus von ihnen wei. Dies aber ist auch schon der einzige nennenswerte Nachteil der Arbeit am Schreibcomputer. Ihm stehen grere Vorteile gegenber. Zunchst einmal fllt das Schreiben einfach leichter. Keine verkrampften Finger,49

keine verklemmten Typenhebel, keine schwarzen Farbbandenden, hchstens ein steifer Nacken man streicht nur noch sacht ber die Tasten hin, braucht kein neues Blatt einzuspannen, wenn das Seitenende gekommen ist, braucht am Zeilenende auch den Wagen nicht mehr zurckzuschieben (der Wagenrcklauf berlebt nur als Symbol die Eingabetaste Enter heit auch CR oder Carriage Return) das Textprogramm beginnt mit dem Wort, das nicht mehr in eine Zeile pat, automatisch eine neue. Kurz, die Maschine erspart es einem, sich um das Mechanische des Schreibens zu kmmern. Der Weg vom Kopf in die Schriftform wird krzer, direkter. Ich habe den Verdacht, da einen dieser Umstand beredter macht. Manchmal befrchte ich, er macht auch geschwtziger. Jedenfalls haben manche Computerschreiber bekannt, da ihre Briefe oder Artikel oder Bcher irgendwie lnger geworden seien, seit die Maschine auf ihrem Schreibtisch steht. Der Hauptvorteil, das, was jeden Schreiber dann endgltig fr den Computer gewinnt, ist jedoch nicht die Leichtigkeit des Schreibens selbst, sondern die des Korrigierens. Ich selber bin dazu gekommen, meinen Computer gar nicht mehr so sehr als Schreibgert zu sehen, sondern als eine externe Erweiterung meines Gedchtnisses, mit der Eigenschaft, sich unbegrenzt viel merken zu knnen eine Merkmaschine. Das Ding merkt sich jeden Gedanken in exakt dem letzten Wortlaut, den ich ihm gegeben hatte, und wenn ich will natrlich auch alle Zwischenfassungen von der ersten Notiz an. Ein Druck auf ein oder zwei Tasten, und Buchstaben,50

Wrter, Zeilen, Abstze, die man beseitigen mchte, sind weg. Und weg heit hier wirklich weg; es bleibt keine durchgewetzte Stelle oder kein Loch, wo sie standen; sie sehen einen auch nicht unter lauter X-en oder unter einer Schicht von brckligem Tipp-Ex hervor beschmend weiter an. Das heit, es ist eine Lust, etwas Geschriebenes auch wieder auszumerzen. Ein paar Manipulationen, und ein Textpassus ist an eine andere Stelle geschoben. Umberto Eco, der nicht nur auf einem Textcomputer schreibt, sondern auch ber das Schreiben am Textcomputer, sieht hier einen allgemeinen stilistischen Wandel eingeleitet. Damit sich ein Textblock verschieben lt, darf sein Verstndnis nicht von dem vorausgegangenen Kontext abhngen; er mu autark sein. Ein Satzbestandteil, der nicht aus sich selber heraus vllig verstndlich ist, sondern dessen Bedeutung sich nur im Zusammenhang mit vorhergehenden Stzen ergibt, heit in der Linguistik Anapher. Der gleichwohl vollstndige Satz Sie gab ihm so etwas nicht wird erst verstndlich, wenn man den Satz davor kennt: Der Junge bat die Verkuferin um ein Horrorvideo das heit, er ist eine Anapher. Wrde er durch die Funktion Blockverschiebung an eine andere Textstelle gerckt, wre er dort unverstndlich. Eco meint, da Autoren, die mit der Mglichkeit der Blockverschiebung rechnen, den anaphorischen Stil von vornherein zu vermeiden suchen werden. Ich glaube es nicht. Nicht nur, weil er uns so natrlich ist, da dazu Anstrengung ntig wre und das Ergebnis krampfig wirkte sondern vor allem eben darum, weil das Korrigieren am Computer so leicht fllt, da man51

den verschobenen Textblock an seinem neuen Ort mhelos in seinen neuen Kontext einbetten kann. Die Merkmaschine hat weiterhin die Eigenschaft, nie die Geduld zu verlieren. Jede Zumutung lt sie sich gefallen. Jederzeit nimmt sie Korrekturen entgegen, auch nachts um zwei, auch an Sonntagen, wenn einem gerade dann eine bessere Formulierung eingefallen sein sollte. Und jederzeit druckt sie einem ohne Murren das Geschriebene absolut sauber und fehlerfrei aus, auch die dritte oder zehnte Fassung, mit der man keine menschliche Sekretrin mehr htte behelligen knnen. Die Leichtigkeit, mit der sich der Text verndern lt, animiert zum Probieren. Ein Satz, der einmal auf Papier niedergeschrieben war, nahm eine gewisse Endgltigkeit an, die man nicht leicht und leichtfertig wieder aufhob; und schon gar nicht, wenn es sich um die Reinschrift gehandelt haben sollte. In dem elektronischen Gedchtnis des Textprozessors lt sich beliebig herumexperimentieren. Man braucht sich nicht vorzustellen, man kann sehen, was geschieht, wenn ein Satz so oder so formuliert wird oder wenn er dort oben steht und nicht hier unten. Und nie mehr braucht man sich zu scheuen, eine Reinschrift durch versptete Korrekturen zu verderben, denn der Computer, der immer nur Reinschriften anfertigt, macht einem willig auch noch eine allerletzte. Der Papierverbrauch allerdings nimmt auf diese Weise erheblich zu. All dies heit, da das Schreiben mit dem Wortprozessor in einem ungeahnten Ausma den Charakter einer textlichen Bastelarbeit annimmt. Geht es so? Oder ist es52

vielleicht doch so besser? Nein, lieber wie es war Frher hat einen in vielen Fllen die zwar geringe, letztlich aber doch inhibitorische Mhe, die alle nderungen oder Umstellungen auf dem Papier mit sich gebracht htten, davon abgehalten, sie zu machen. Jetzt kann man sich ungeniert einem Rausch des Korrigierens hingeben. Fr jenen Typ von Autor, der endlos zu verbessern pflegt und frher mit viel Tipp-Ex-Flssigkeit und Kleister gearbeitet htte, kann das auch gefhrlich sein. Ihm fehlt nunmehr jeder Zwang zur Endgltigkeit. Er ergeht sich vielleicht in einer endlosen Orgie von Revisionen, die seine Leser schon lange nicht mehr zu goutieren wissen. Autoren und bersetzer wissen, da es gut ist, einen Text eine Weile liegen zu lassen. Beim Schreiben ist man so durchdrungen von der Bedeutung, die man sich auszudrcken bemht, lebt so intensiv in einem bestimmten semantischen Raum, da man schlecht beurteilen kann, ob die Worte, die man gefunden hat, jene Bedeutung wirklich vermitteln, ob sie auch ihren Leser in jenen semantischen Raum eintreten lassen. Ist dem Autor nach Wochen oder Monaten der Text fremd geworden, so mu auch er selber die Bedeutung einzig aus dem rekonstruieren, was dasteht. Erst dann merkt er, ob es trgt. Der Computer verkrzt diese Karenzzeit, die jedem besseren Text gegnnt sein sollte. Denn fremd macht es den eigenen Text auch schon, wenn er einem in einer Gestalt entgegentritt, die nicht die Gestalt seiner Niederschrift ist und der Computer kann ihn einem in fast beliebiger Gestalt ausgeben. Der Computer frdert eine bekmmliche Distanz zum Geschriebenen.53

Dem Buch und allen Printmedien wurde in den letzten Jahrzehnten oft der Tod prophezeit. Das Fernsehen, berhaupt die audiovisuellen Medien, so meinten manche, wrden ihnen den Garaus machen. Besorgt das jetzt der Computer? Er wird es nicht tun und zwar darum, weil der auf Papier geschriebene oder gedruckte Text sozusagen ergonomisch unbertrefflich ist. Irgendwann werden dem Autor zwar allerlei elektronische Hilfsmittel zur Verfgung stehen, Nachschlagewerke, Wrterbcher zum Beispiel. Der technische bersetzer, fr den ein bestimmtes Wort die einzig richtige bersetzung eines Fachbegriffs ist, wird es als Arbeitserleichterung empfinden, wenn er es rasch aus einem externen Speicher abrufen kann. Aber wo es mit einem einfachen Ersetzen nicht getan ist, wo man suchen, nachdenken, wieder suchen mu, drfte der Computer dem Buch ergonomisch meist unterlegen sein. Der Bildschirm ist schwerer zu lesen als bedrucktes Papier; und was man dort liest, ist schwerer aufzufassen. Und selbst wenn die Bildschirme der Zukunft dem in gewissem Ma abhelfen sollten: in einem lngeren Text zu blttern, die bersicht ber eine lngere Textstrecke zu behalten, mehrere Texte gleichzeitig in Betracht zu ziehen das alles ist am Bildschirm wohl mglich, wird dort aber wahrscheinlich immer mhsamer sein. Auerdem braucht der Computer Strom, und jene Exemplare, die zeitweise ohne Steckdose auskommen, die Laptops also, macht ihr Akku um so schwerer. So eminent transportabel wie ein Buch ist er nie, und je transportabler er ist, um so schlechter ist in der Regel iuch sein Display die54

Displays vieler Laptops sind noch eine Zumutung fr das Auge. Immer ist er eine Maschine, die zwischen dem Leser und dem Text steht. Einem Buch dagegen kann man sich ohne jede maschinelle Hilfe zuwenden, man kann es berallhin mitnehmen, man kann es in die Jackentasche stecken, man kann es an jedem Ort lesen, am Stehpult, am Strand, in der Badewanne, man darf darin herumkritzeln, man darf es fallen lassen, man kann Seiten herausreien und seiner Freundin unter die Nase reiben, man kann es sogar an die Wand schmeien. Nur bei wenigen ausgewhlten Anwendungen also wird der elektronisch gespeicherte Text dem Buch, dem gedruckten Schriftstck berlegen sein. Bei Routinettigkeiten wie dem Schreiben und Lesen sind es, wie gesagt, die winzigsten (ergonomischen) Vorund Nachteile, die ber Benutzung oder Nichtbenutzung entscheiden. So wie die Schreibmaschine sich durchgesetzt hat, weil sie der Hand etwas Arbeit abnahm, so wird die Entscheidung gegen die Rckkehr zur Schriftrolle ausfallen, die der Computertext darstellt. Den Beweis liefert die Computerindustrie selber jeden Tag. All die Handbcher, die der Benutzer braucht, sind oft zwar auch auf Diskette verfgbar, und knauserige Firmen liefern sie nur auf Diskette. Theoretisch knnte man sie am Bildschirm durcharbeiten und dort bei Bedarf konsultieren. So gut wie niemand tut es. Erst mte man unterbrechen, was gerade in Arbeit ist; dann den Handbuchtext aufrufen; dann von Textfenster zu Textfenster scrollen, bis man gefunden hat, was man sucht. Zuallererst wird man sich also doch lieber einen Ausdruck machen und55

den in eine Mappe heften; da hat man dann die Information schneller und in handlicherer Form. Aus diesen Grnden, meine ich, ist das Buch keineswegs zum Untergang verurteilt, und ein Ende der Literatur (Kittler) hat der Computer ohnehin nicht auf dem Gewissen. Als Schreib-Medium ist er berlegen, als Lese-Medium nach wie vor das beschriebene Papier. In den wenigen Jahren seines Daseins hat der Wortprozessor einiges unternommen, sich dem Papierwesen anzunhern. Noch zwar ist das Prinzip WYSIWYG nicht viel mehr als ein Versprechen. WYSIWYG heit What You See Is What You Get und bedeutet genau das: Genau wie ein Text auf dem Bildschirm aussieht, so soll er ausgedruckt dann auch auf dem Papier stehen gleicher Zeilenfall, gleiche Schriften, gleiche Schriftgren, gleiche Schriftattribute. Echtes WYSIWYG wre nur im Grafikmodus zu erzeugen, und der ist im Vergleich zum Textmodus langsam, langsamer als der Schreiber an der Tastatur. Also schreibt und ediert man bei den meisten Textverarbeitungen nach wie vor im Textmodus, also in der programmeigenen Einheitsschrift, und kann nur hinterher in den Grafikmodus umschalten und auf dem Bildschirm betrachten, wie die betreffende Papierseite dann ungefhr ausschauen wird. Der harte Wettbewerb zwischen den Textverarbeitungen hat dazu gefhrt, da sie im Laufe der Jahre mit Funktionen vollgestopft wurden. Kaum hatte ein Soft warehaus sein Produkt um irgendeine neue bereichert, das eine um einen Thesaurus (armselige Synonymen-Schtze in der Regel, eher Notvorrte), das andere um eine Rechtschreibkontrolle, das56

eine um einen Taschenrechner, das andere um eine Uhr, das nchste um einen Makrorecorder, so wartete auch die Konkurrenz damit auf. Die groen Programme quellen heute ber von Funktionen; man mu sich hten, versehentlich irgendeine Nicht-Zeichen-Taste zu berhren, denn welche man auch antippt: sie lst irgendeine Aktivitt im Computer aus. Bei diesem Wettlauf um das funktionsmchtigere Programm hat man sich offenbar wenig Gedanken darum gemacht, welche Grundfunktionen der Benutzer dem Programm abverlangt und wie es diese mglichst elegant beherrscht. Sonst htte es nicht dahin kommen knnen, da kaum eines dieser umfnglichen Programme wenigstens so viel WYSIWYG leistet, die Schriftattribute (fett, kursiv, unterstrichen) auch im normalen Schreibmodus auf dem Bildschirm darzustellen. Statt dessen sieht man auf dem Bildschirm Codesequenzen, sieht man allerlei Symbole, sieht bestenfalls jede Schriftvariante in einer anderen Farbe oder, viel verwirrender, alle Attribute in der nmlichen Hervorhebungsfarbe, mu man also umdenken: Hier der rote Satz wird dann unterstrichen, dort das gelbe Wort wird kursiv, soll aber auerdem noch halbfett sein hatte ich den Steuerbefehl fr halbfett nun schon eingegeben, oder unterschlgt die Bildschirmdarstellung ihn mir nur? Ein ungewhnlich offenherziger Artikel in der Computerzeitschrift DOS International kam noch 1990 zum Schlu: Fast jedes neue Textprogramm schmckt sich mit dem Attribut WYSIWYG was die meisten bieten, ist dagegen nur Augenwischerei. . . Voraussichtlich wird WYSIWYG sich auf absehbare Zeit durchsetzen, nur im Moment ist57

die Zeit dafr noch nicht reif. Hardware-Hersteller haben beim Fiebern nach der hchsten Taktfrequenz wohl vergessen, da es vielleicht zunchst einmal wichtiger wre, hochauflsende Bildschirme zu entwickeln. Und die meisten Software-Entwickler waren so sehr mit dem Einbau von immer neuen Funktionen beschftigt, da verbesserte Benutzeroberflchen ... oft unter den Tisch fielen. Die meisten Warentests heizen diesen Wettlauf noch weiter an. Anfang 1990 etwa verffentlichte das Computermagazin Chip die Ergebnisse des grten und eingehendsten Tests, dem Textverarbeitungsprogramme im deutschen Sprachbereich je unterzogen wurden: Vierzig Programme wurden nach einheitlichen Kriterien berprft und bewertet. Um der Objektivitt willen fragte der Test nur, welche von insgesamt fnfhundert mglichen Funktionen jedes besitzt. Natrlich schnitt am besten ab, wer mit den meisten Funktionen aufwarten konnte. Die verschiedenen Bedienungskonzepte, gar die sthetik der einzelnen Programme blieben unbewertet. Dennoch hat sich der Schreibcomputer seit der ersten Hlfte der achtziger Jahre natrlich verndert, zumindest fr den, der die Verbesserungen zu bezahlen bereit ist. Nicht mehr unbedingt grn oder bernsteingelb leuchtet die Schrift auf dem Bildschirm, der im brigen so flach und rechtwinklig wie ein Bogen Papier geworden ist fr den, der sie so will, steht sie mittlerweile schwarz auf wei, papierwei, gar yellowish paper-white. Die Typographie hat Einzug gehalten. Der Drucker liefert nicht mehr die spillrige Nadelschrift; wer will, kann ihm auch kultivierte Schriften abverlangen. Mit dem Computer mu58

man sich nicht mehr unbedingt durch geheimnisvolle Zeichencodes verstndigen; sogenannte grafische Benutzeroberflchen wie GEM oder die des Macintosh oder Windows erlauben es, bei der Bedienung die rechte, bildlich und rumlich denkende Hirnhemisphre zu benutzen, Piktogramme zu aktivieren, die nun Icons heien, mit (symbolischen) Karteiksten und Karteikarten, mit Aktenordnern, mit Notizzetteln zu hantieren und das berflssige nicht mehr mit dem Befehl DELETE zu beseitigen, sondern es in eine symbolische Mlltonne zu befrdern. Das geschieht nicht etwa, weil die Leute es halt so gewhnt sind, um einer nostalgischen Reminiszenz willen. Es geschieht in Anerkennung einer berlegenen Technik. Buchstaben auf Papier diese Technik hatte Jahrtausende, um auszureifen und sich dem menschlichen Geist optimal anzupassen, so sehr, da wir sie gar nicht mehr als Technik empfinden, sondern als etwas Natrliches, und dabei hat sie eine Wrde gewonnen, die uns von einer Schrift- und Buchkultur sprechen lt. In einer Druckschrift wie der Times stecken Jahrhunderte Erfahrung, Wissen, sthetisches Gespr. Eine Schrift, die ihren Lesern Befriedigung verschaffen soll, lt sich nicht bers Knie brechen. Typographie ist eine Kunst, ein Schriftentwerfer arbeitet Monate oder Jahre an einer neuen Schrift. Man kann nicht daherkommen und meinen, eine in ein paar Tagen improvisierte Bildschirm- oder Druckerschrift knne eine hnliche Befriedigung verschaffen. Es gibt eine Menge von vielgebrauchten stillen Kulturdingen, die wir kaum je bewut zur Kenntnis nehmen, deren Existenz wir einfach vor59

aussetzen: Schriften, berhaupt Typographie, Einbnde, Wrterbcher, Landkarten, Nachschlagewerke, die von Generationen von Fachleuten vervollkommnet worden sind. Nichts davon lt sich aus dem Boden stampfen, auch nicht aus der Platine. Der Computer, der Neuling, der seine optimale Form gerade erst zu suchen beginnt, guckt sich vllig zu Recht manches ab. Es gibt gewi eine Computerkultur im Sinne eines hochentwickelten technischen Verstndnisses fr Mikroelektronik und Programmstrukturen. Aber die Computerkultur im Sinne einer gereiften sthetik der Benutzeroberflchen, im Sinne einer wirklich sachverstndigen Bezogenheit auf die sprachlichen, grafischen, musikalischen Aufgaben, zu deren Lsung er immer mehr herangezogen wird, im Sinne auch einer eher traditionell musischen oder literarischen als einer mathematisch-technischen Kultur steckt erst in den Anfngen. Oft noch ghnt statt solcher Computerkultur nur ein spezielles Analphabeten- und Illiteratentum. Eines Tages aber wird der Computer mehr sein. Die ber seine Architektur und die der Programme nachdenken, mssen jene andere Kultur nur erst einmal ernst nehmen.

W I E V I E L E WRT E R H AT DE R M E NS C H?Das innere Lexikon

Die einfachsten Fragen sind meist die schwersten. Wie viele Wrter hat einer, der Deutsch spricht? Wieviele gibt es denn berhaupt? Adenauer hatte nur achthundert, heit es. Aber Goethe, der hatte doch bestimmt Hunderttausende? Wir machen uns keine Vorstellung von der Gre des Wortschatzes, des eigenen wie desjenigen um uns her. Zehntausend, hunderttausend, eine Million, wer wei es aber unser Vorstellungsvermgen versagt bei groen Zahlen ja sowieso: Alle bedeuten uns immer nur sehr viele, und eine Menge von hunderttausend oder einer Million knnen wir nur rechnerisch unterscheiden, nicht aber in der unmittelbaren Anschauung. Jedoch gibt es Situationen, in denen man es genauer wissen sollte. Berufs- und Hobby-Psycholinguisten mchten Genaueres ber das Fassungsvermgen des Gedchtnisses wissen; sie mchten auch wissen, welche Leistung Kinder eigentlich erbringen, wenn sie in wenigen Jahren und wie von selbst ihre Muttersprache gleichsam in sich hineinsaugen. Wer in einem Alter, in dem man nicht mehr einfach alles planlos in sich hineinfrit, eine Fremdsprache lernt, der will rationell und zielbewut vorgehen und sich erst einmal die unentbehrlichsten Vokabeln einverleiben; er wte auch gern von vornherein, wieviel er berhaupt zu lernen hat, um sich einigermaen behelfen zu knnen. Die Sprachdidaktik sollte also wissen, welches der63

unentbehrliche Grundbestand einer Sprache ist (und sie wei es). Oder all die Software-Firmen, die sich mit Textverarbeitung befassen und von denen wir eines Tages die Alphabetisierung des Computers verlangen mssen: Wenn sie sich keine nheren Gedanken machen, ehe sie ein elektronisches Rechtschreib- oder Synonym- oder bersetzungswrterbuch in Angriff nehmen, wenn sie nur die Funktion ihres Programms im Auge haben und die Wrter, mit denen dieses umgehen soll, als eine Art Mll betrachten, den man am besten kiloweise von irgendeiner Lexikonredaktion bezieht und unbesehen in das Programm einfllt dann knnte es ihnen passieren, da das ganze schlaue Programm der Eigenart der Sprache nicht gewachsen ist und seinen Nutzern wenig ntzt. Einige offerieren teures Werkzeug, sich im Eigenbau selber Wrterbcher anzufertigen, ganz und gar mhelos angeblich die langen Gesichter, wenn sich die Mhen dann endlos hinziehen, bekommen sie nie zu sehen. Wie gro also ist er, der deutsche Wortschatz? Die Sprachwissenschaft schtzt ihn seit langem auf etwa 400 000. Schtzt sie richtig? Seit einigen Jahren gibt es endlich zwei groe deutsche Wrterbcher: das sechsbndige Duden Wrterbuch (1976/81) und den ebenfalls sechsbndigen Brockhaus Wahrig (1980/84). Beide sind ausdrcklich auf Vollstndigkeit aus. Nur Fachwrter, die nicht in die allgemeine Sprache eingedrungen sind, lassen sie beiseite; ansonsten wollen sie den gesamten allgemeinen Wortschatz verzeichnen. So kommt der Brockhaus Wahrig laut eigener Angabe auf 220 00064

Stichwrter, der Duden auf 500 000. Und der Benutzer wiegt beide Werke in den Hnden und sagt sich, da hier etwas nicht stimmen kann. Zwar ist der Duden etwas kleiner gedruckt, aber mehr als der Brockhaus Wahrig enthlt er gewi nicht, eher weniger. Also mu es daran liegen, da beide Redaktionen unterschiedlich gezhlt haben. Tatschlich heit es auf dem Duden wrtlich: ber 500 000 Stichwrter und Definitionen. Und das will wohl verstanden werden als eine ungenannte Zahl von Wrtern in 500 000 Bedeutungen. Denn natrlich gibt es viel mehr lexikalische Bedeutungen als Wrter. Einmal liegt es an den zahlreichen Homonymen, also den Fllen, in denen zwei grundverschiedene Wrter zufllig das heit aus sprachhistorischen Grnden gleich geschrieben werden (Fest und fest, Sein und sein). Zum anderen sind sehr viele Wrter polysem, tragen also mehrere Bedeutungen. Wir merken es sptestens beim bersetzen, wenn etwa ein Hrer mal als listener, mal als Student, mal als receiver wiedergegeben werden will. Wer nun berlegt, welches der beiden Growrterbcher er sich anschaffen sollte, darf sich von ihren inkommensurablen Grenangaben nicht irremachen lassen. Ihr Wortbestand ist nicht sehr verschieden, der des Brockhaus Wahrig wohl sogar etwa 20 Prozent grer. Man kann ruhig nach dem sonstigen Eindruck gehen: Der Brockhaus Wahrig hat das bessere Papier und Goldschnitt, ist aber auch doppelt so teuer. Der Duden ist etwas weniger umfassend, enthlt aber als Belege nicht nur mehr oder minder geknstelte Beispielst65

ze, sondern echte Zitate aus der Gegenwartsliteratur. Der Hauptunterschied zwischen beiden ist ein ganz anderer und Geschmackssache: Der Brockhaus Wahrig macht jedes Wort zum Hauptstichwort, der Duden stopft die Ableitungen eines Worts in groe Nester. Beide Verfahren haben etwas fr sich. Ich selber finde eine starke Vernestung unbersichtlicher. Jenseits dieser Wrterbcher gibt es das Vokabular der Fach- und Sondersprachen. Ein Handwerk hat einen Spezialwortschatz von einigen tausend Wrtern. Nach ihren Spezialwrterbchern zu schlieen, hat eine grere Wissenschaft wie die Juristerei oder die Biologie zehn- bis zwanzigtausend, die Riesenwissenschaft Medizin mehr als eine Viertelmillion. Aber die Biologie hat auch fr jede Art von Lebewesen mindestens ein Wort, und da es etwa sechs Millionen Spezies geben drfte, hat sie zumindest potentiell auch ebenso viele Millionen Wrter. hnlich ist es um die Chemie bestellt. Ihr eigentliches Vokabular besteht zwar auch nur aus einigen zehntausend Wrtern, aber fr jede chemische Verbindung gibt es mindestens ein Wort, und da die Zahl der bekannten organischen Verbindungen schon mindestens fnf Millionen betrgt und jeden Tag um etwa tausend wchst, zhlt auch ihr Wortschatz nach Millionen. Schier uferlos vermehrt sich auch der Wortbestand der Technik allgemein. Jedes Schrubchen jedes Gerts hat seinen Namen, und zwar besser einen eindeutigen und unverwechselbaren. Das Bundessprachenamt hat im Laufe der Jahre 1,3 Millionen vorwiegend technische Fachtermini (und zum Teil ihre Entsprechungen in anderen eu66

ropischen Sprachen) gesammelt, die Datenbank LEXIS, die zur Zeit auf Microfiche, spter einmal auf CD-ROM jedem Interessenten zur Verfgung steht. Grer noch ist die technische Terminologiebank TEAM der Firma Siemens sie enthlt nahezu drei Millionen Termini mit Belegen in bis zu acht Sprachen. Christian Galinski vom sterreichischen Normungsinstitut, das seit 1971 in Wien ein von der Unesco untersttztes Terminologiezentrum (INFOTERM) unterhlt, schtzte den Gesamtbestand deutscher Allgemeinwrter in allen Fachund Sondersprachen 1986 auf ber 30 Millionen und glaubt im brigen festgestellt zu haben, da er sich exponentiell vermehrt wie das Wissen selbst und somit alle vier Jahre verdoppelt. 1990 mte es demnach bereits 60 Millionen deutsche Wrter gegeben haben. Auch wenn diese Schtzung bei weitem zu hoch gegriffen sein drfte: Es handelt sich auf jeden Fall um eine Menge, gegen die sich der allgemeine Wortschatz oder gar der Wortschatz, den ein einzelner im Kopf haben kann, wie eine quantite negligeable ausnimmt. Diese Millionen von Wrtern werden aus einer Handvoll von Bausteinen gebildet. Die kleinste bedeutungstragende Einheit eines Wortes heit Morphem. Es gibt zwei Klassen von Morphemen: die eigentlichen Sinnsilben, die den Begriffsinhalt tragen, Basismorpheme genannt (/sinn/, /silb/); und die Wortbildungsmorpheme Suffi xe wie /heit/ oder /ung/ oder /lkh/, die Wortklassen charakterisieren, sowie die Beugungsendungen, die Flexionsmorpheme. Flexionsmorpheme (/est/, /en/) gibt es im Deutschen genau sechzehn; die Zahl der Wort67

bildungsmorpheme betrgt einige Dutzend. Und Basismorpheme? Niemand scheint sie bisher gezhlt zu haben. Jedenfalls schtzt man ihre Zahl auf nicht mehr als fnftausend. (Dazu kommen dann allerdings noch die Morpheme der Lehn- und Fremdwrter.) Gunter Neubert hat smtliche Morpheme katalogisiert, aus denen sich der technische Wortschatz des Deutschen zusammensetzt. Es sind nicht mehr als viertausend. Bei der immer schneller wachsenden Menge der technischen Dinge, die benannt werden mssen, ist es kein Wunder, da die Bausteine knapp werden. Auch der allgemeine Wortschatz lt sich auf keine Zahl festnageln. Es herrscht ein stndiges Kommen und Gehen: Aus den Fachsprachen und Argots sickern tglich Wrter ein, neue Phnomene wie der Flachbildschirm, der Wobblegenerator oder das Restrisiko wollen benannt sein, Medien und Werbebranche berbieten sich im Erfinden neuer Wrter, deren Hauptzweck es ist, zu imponieren, Aufmerksamkeit zu heischen. Bei vielen (Scheidungskind, Konjunkturhimmel, Spaghettiplausch) wei man gar nicht, ob es sie sozusagen offiziell eigentlich gibt jedenfalls aber knnte es sie jederzeit geben. Und manche Ad-hocPrgung (Kopfgeldjger, Busengrabscher) wird einmal irgendwo benutzt und dann mglicherweise nie wieder ex und hopp. Kein Wrterbuch kann da mithalten, kein Sprachstatistiker mitzhlen. Aber auch wenn die Grenze flieend ist: die beiden groen Wrterbcher sind ihr jedenfalls nahe. Wer suchte, fnde noch etliche mehr; wer besessen suchte, fnde vermutlich noch einige Zehntausend mehr. Hunderttau68

sende von weiteren allgemeinen Wrtern von einigem Bestand aber gibt es sicher nicht. Der allgemeine englische Wortschatz wird auf 700 000 Wrter geschtzt. Das grte englische Wrterbuch, der Webster, hat 460 000. Warum ist der englische Wortschatz so viel grer als der der anderen Kultursprachen? Meist wird es damit erklrt, da Englisch eben eine Legierung aus drei Sprachen sei (Angelschsisch, Normannisch und Latein) und vieles doppelt und dreifach benenne. Ein Lamm etwa ist das germanische lamb, sein Fleisch das romanische mutton; calf das Kalb, veal sein Fleisch. Aber das kann nicht der ganze Grund sein. Deutsch hat die eigentmliche und von Auslndern gern verspottete Mglichkeit, unbegrenzt viele zusammengesetzte Wrter zu bilden, und es macht davon reichlichst Gebrauch. Die Zahl dieser Komposita lt die der englischen Doppelungen weit hinter sich. Es mu sich wohl so verhalten, da das Englische in erheblichem Umfang Wrter bewahrt und neu gebildet hat, wo sich das Deutsche darauf verlassen konnte, da sich bei Bedarf jederzeit neue Begriffe durch Kombinationen bestehender Wrter bilden lieen. Die Wrter sind selbstverstndlich nicht gleich hufig. Ein Wortschatz ist wie ein Himmelskrper: Er hat einen dichten Kern aus den hufigsten Wrtern, und um den herum schichten sich immer und immer seltenere, bis man in jene Stratosphre gelangt, wo ein Wort wie Sexpapst oder Muskelmonster kurz aufleuchtet und wieder verglht, sobald die Illustrierte, auf deren Titelseite es Kufer anmachen soll, makuliert ist. Als bei der Firma Siemens das maschinelle berset69

zungsprogramm METAL entwickelt wurde, analysierte man auch, welche allgemeinen deutschen Wrter all den Fachtexten gemein sind, die es bersetzen soll und die jeweils ihre eigene Terminologie mitbringen, sozusagen also den Grundwortschatz der Fachliteratur. Schon der war relativ gro: 35 000. Ein anderer Wortfrequenzforscher, der amerikanische Linguist J. Alan Pfeffer, hat in Hunderten von Interviews mit Nachkriegsdeutschen versucht, so etwas wie den Grundwortschatz des gesprochenen Deutsch zu ermitteln, das absolute Minimum also, das ntig wre, um in Deutschland mndlich .zu bestehen. Er kam darauf, da bloe 1300 Wrter 90 Prozent jedes einfachen Alltagsgesprchs ausmachen. Die Hoffnung, durch Frequenzuntersuchungen zu einem hieb- und stichfesten Grundwortschatz kommen zu knnen, der fr alle Sprachsituationen gilt, haben die Linguisten inzwischen allerdings aufgegeben. Von den wenigen hundert der gebruchlichsten Funktionswrter abgesehen, hngt es zu sehr von der Art der zugrunde gelegten Texte ab, welche Wrter die hufigsten sind. Anders gesagt: In jeder Lebenssituation sind andere Wrter die hufigsten. Aber wenn man die normalsten Alltagssituationen zusammennimmt, Wohnen, Essen, Verkehr, Gesundheit und so fort, kommt man in allen Sprachen auf die geradezu magische Zahl 2000. So gro sind denn auch die Grundwortschtze, die man kaufen kann und denen heute begegnet, wer auszieht, eine Fremdsprache zu lernen. Es sind die Minimalwortschtze fr den Lebensalltag. Darunter geht nichts.70

Darunter geht nur Basic English. Es ist nicht einfach irgendein Schrumpf-Englisch. Es ist eine ausgeklgelte Minimalsprache, 1930 ersonnen von dem Cambridger Linguisten C. K. Ogden, wie Volapk oder Esperanto als Welthilfssprache gedacht und als solche von Mnnern wie Churchill, Roosevelt und H. G. Wells lebhaft begrt und befrwortet. Anders als die sonstigen Kunstsprachen und das ist durchaus ein Vorzug beruht es auf einer tatschlich existierenden Sprache oder setzt sich zumindest nirgends in Widerspruch zu ihr. (Der Hauptnachteil der anderen Hilfssprachen besteht eben darin, da sie neue, zustzliche Sprachen sind. Sie konkurrieren mit bestehenden natrlichen Sprachen, und diesen Wettbewerb knnen sie nur verlieren. Das Fassungsvermgen des menschlichen Geistes ist beschrnkt, und vor der Wahl, eine neue Sprache zu erlernen, wird sich die groe Mehrheit allemal fr eine entscheiden, die tatschlich irgendwo g


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