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Wille als Grundlage der vertraglichen Bindung Eine …89f4e13e-22be-4410-84b7... · 2018-07-30 ·...

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Wille als Grundlage der vertraglichen Bindung Eine Auseinandersetzung mit der Theorieresistenz des Rechts Rede zum Dies gehalten am Dies academicus 2007 von Prorektor Prof. Dr. Hans Caspar von der Crone L
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Wille als Grundlage der vertraglichen BindungEine Auseinandersetzung mit derTheorieresistenz des Rechts

Rede zum Dies gehalten amDies academicus 2007von Prorektor Prof. Dr. Hans Caspar von der Crone

L

Universität Zürich

Rede zum Dies academicus 2007

Universität Zürich

Wille als Grundlageder vertraglichen Bindung

Eine Auseinandersetzung mit der Theorieresistenz des Rechts

Rede des Prorektors Rechts- und WirtschaftswissenschaftenProf. Dr. Hans Caspar von der Crone

Dies academicus 2007Anlässlich der 174. Stiftungsfeierder Universität Zürich

Vicia faba L. subsp. faba var. faba

Vicia faba L. subsp. faba var. equina

Vicia faba L. subsp. minor var. minor

1. Teil «Wenn z. B. ein gutgesinnter Mann bei einer Hungersnot derRhodier und einer beträchtlichen Steigerung der Lebens-mittelpreise eine grosse Ladung Getreide von Alexandreianach Rhodos gebracht hat, wenn er ferner weiss, dass vonAlexandreia aus mehrere Kaufleute in See gestochen sind,und wenn er auf der Fahrt Schiffe mit Getreide an Bord inRichtung auf Rhodos gesehen hat, wird er das dann den Rho-diern sagen oder stillschweigend sein Getreide möglichstteuer verkaufen?» Mit diesen Worten skizziert Cicero in sei-nem Werk De officiis ein Problem, das vor allem in seinerethischen Dimension zu den klassischen Schulbeispielen ge-zählt wird. Zur Diskussion steht zuerst einmal der Wider-streit zwischen persönlichem Nutzen und Ehrenhaftigkeit,konkretisiert in der Frage nach dem Bestehen einer Infor-mationspflicht: Darf der gut gesinnte Mann seinen Informa-tionsvorsprung ausnutzen, oder hat er die Rhodier über dieunmittelbar bevorstehende Besserung der Versorgungslageaufzuklären? Wüssten die Rhodier um das Nahen weitererSchiffe, könnten sie die zukünftige Preisentwicklung in ihreVerhandlungsposition mit einbeziehen. Vollständig infor-miert könnten sie umgekehrt nach dem Kauf des Getreidesnicht geltend machen, ihre Willensbildung sei mangelhaftgewesen.

Mehr Information erhöht also die Qualität desEntscheidungsprozesses und des resultierenden Willens.Gleichzeitig ist Information Voraussetzung für die rei-bungslose Kommunikation zwischen den Parteien. Dies ver-deutlicht ein Fall, mit dem sich englische Gerichte Mitte des20. Jahrhunderts zu befassen hatten:

Eine ägyptische Käuferin bestellt bei der Firma RoseBohnen, genauer «horsebeans described here as feveroles».Um diesen Vertrag erfüllen zu können, muss sich Rose

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ihrerseits mit Bohnen eindecken. Sie erkundigt sich deshalbbei der Bohnen-Verkäuferin Pim nach der Bedeutung desfranzösischen Worts féveroles und erhält die Auskunft, derfranzösische Begriff féveroles entspreche dem englischenhorsebeans. Nach der Lieferung zeigt sich allerdings, dassdiese Auskunft die Sachlage verkürzt wiedergibt: Die fran-zösische Sprache differenziert nach der Grösse der Bohnenzwischen fèves, féveroles und fèvettes, während im Englischenalle drei Sorten als horsebeans bezeichnet werden. In kor-rekter Erfüllung des Vertrages über horsebeans erhält Rosevon Pim fèves, sollte nach Ägypten aber die wertvollerenféveroles weiterliefern.

Auslöser dieser Komplikationen ist eine fehlerhafteInformation; zutreffende Angaben hätten Rose, welche stetsweiss, was sie will – nämlich féveroles –, davor bewahrt, einenVertrag abzuschliessen, der ihren Willen unrichtig wieder-gibt, indem er den Kaufgegenstand pauschal als horsebeans

bezeichnet. Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass Information

in vielfältiger Weise mit dem Willen des Informierten wiedes Informierenden verknüpft ist. Dies liesse Auswirkungenauf die konzeptionelle Erfassung des Vertragsschlusseserwarten: Zu den klassischen Themen der Privatrechtswis-senschaft zählt die Frage nach den Grundlagen der vertrag-lichen Bindung. Was soll es rechtfertigen, dass sich Parteiendurch Vertragsschluss in ihrer künftigen Handlungsfreiheiteinschränken? Zur Diskussion stehen in erster Linie Willeund Vertrauen.

Geht man vom Willen aus, so ist eine Vertragspartei inihrer künftigen Handlungsfreiheit eingeschränkt, weil undsoweit sie diese Einschränkung bei Vertragsschluss mit Blickauf das Vertragsziel bewusst in Kauf nimmt. Geht man vom

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erweckten Vertrauen aus, so ist eine Vertragspartei in ihrerkünftigen Handlungsfreiheit eingeschränkt, weil und soweitsie bei Vertragsschluss bei der Gegenseite das Vertrauen inihre Bereitschaft erweckt hat, diese Einschränkung mit Blickauf das Vertragsziel in Kauf zu nehmen.

Mit dieser Gegenüberstellung von Parteiwillen undVertrauen korrespondiert die Gegenüberstellung von Ver-trauen und Information. Vertrauen kann Informationsdefi-zite überbrücken und so die Handlungsfähigkeit sichern. Weretwa einen Arzt sucht, verfügt nur beschränkt über Infor-mationen hinsichtlich seiner Fähigkeiten. An die Stelle desWissens tritt deshalb das Vertrauen, konkret das Vertrauenin seinen Facharzttitel und in seine Reputation.

Umgekehrt reduziert mehr Information den Stellen-wert des Vertrauens. Wer weiss, braucht nicht zu vertrauen.Nachdem Informationen heute viel leichter vermittelt wer-den können, wirft schon diese Feststellung die Frage auf, obnicht die konzeptionellen Grundlagen des Vertragsschlussesneu zu diskutieren wären. Sind die Vertragsparteien leich-ter in der Lage, der Gegenseite mitzuteilen, was sie wollen,müsste der Wille als Vertragsgrundlage gegenüber dem Ver-trauen an Bedeutung gewinnen. Hinzu kommt, dass sich inneuerer Zeit beispielsweise die Neurowissenschaften inten-siv mit dem Verlauf menschlicher Entscheidungsprozessebefasst haben, was nicht ohne Auswirkungen auf einen em-pirisch fundierten Willensbegriff geblieben ist. Damit stehtdie Frage nach dem Stellenwert des Willens im heutigen Pri-vatrecht im Raum.

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2. Teil Dabei ist zuerst auf die Positionierung von Vertrag undVertragsschluss im Spannungsfeld zwischen Willen und Ver-trauen einzugehen. Ausgangspunkt sei ein Beispiel aus derUS-amerikanischen Rechtsprechung:

William A. Drennan, ein Generalunternehmer in derBaubranche, beteiligt sich an einer Ausschreibung für eingrösseres Bauprojekt. Für die Ausführung der Bauarbeitenist er auf Subunternehmer angewiesen, von denen er Offer-ten für verschiedene Teilleistungen einholt, so auch für diePflasterungsarbeiten, für welche die Star Paving CompanyDrennan ein vorteilhaftes Angebot unterbreitet. Drennanreicht die günstigste Gesamtofferte ein und erhält denZuschlag. Er will nun seinerseits das Angebot der Star Pavingannehmen. Ein Angestellter der Star Paving kommt jedochder Annahmeerklärung zuvor, indem er das – versehentlichfehlerhafte – Angebot widerruft.

Nach angloamerikanischem Recht kann ein Angebot –anders als nach kontinentaleuropäischem Recht – bis zumZeitpunkt der Annahme widerrufen werden. In Drennan vs.Star Paving stellt sich deshalb die Frage, ob diese Grund-regel aufgrund eines zum Angebot hinzutretenden option

contract, der die Widerrufbarkeit ausschliesst, modifiziertworden ist. Die Gerichte bejahen diese Frage, indem sie derStar Paving unterstellen, durch implizite Willenskundgabeein option promise abgegeben zu haben.

Dabei sehen sich die Gerichte jedoch mit einem wei-teren dogmatischen Hindernis konfrontiert: Das CommonLaw verlangt für die Verbindlichkeit eines Versprechens dieZusage der Erbringung einer (allenfalls symbolischen) Ge-genleistung, der so genannten consideration. Isoliert auf dieVereinbarung der Unwiderruflichkeit, den option contract,bezogen, fehlt es in Drennan vs. Star Paving an einer Gegen-

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leistung. In Übersteuerung der consideration doctrine be-gründen die Gerichte die rechtliche Verbindlichkeit desoption promise deshalb mit dem berechtigten VertrauenDrennans in das Versprechen der Star Paving. In diesemKonzept der so genannten reliance verbindet sich die Unter-stellung eines bestimmten Willensinhalts auf Seiten der Versprechenden mit dem Schutz der Erwartungsbildung auf Seiten der Gegenpartei.

Dieser Überformung des Willens durch rechtsdogma-tische, objektivierende Konzepte gilt es im Folgenden nach-zuspüren. Geht man vom Konsens der Parteien als Grund-tatbestand des Vertragsschlusses aus, so ist eine Objektivie-rung denkbar sowohl auf der Ebene der Konsensfeststellung

als auch auf der Ebene der Ergänzung des Konsenses durchzusätzliche Elemente, deren Hinzutreten Voraussetzung fürdas gültige Zustandekommen des Vertrags ist. Im ersten Fallist der Umstand anvisiert, dass berechtigte Erwartungen wiein Drennan vs. Star Paving den Parteiwillen als konsens-bildendes Element überlagern. Diese Objektivierung interpartes kontrastiert mit einer überparteilichen Objektivie-rung im zweiten Fall: Über das Konsenserfordernis hinauswerden losgelöst von der individuellen Parteibeziehungweitere Voraussetzungen des Vertragsschlusses formuliert.Solche Ergänzung des Konsenses als Vertragsgrundlagedurch zusätzliche Erfordernisse, die nicht in der individu-ellen Parteibeziehung gründen, zeigt sich zunächst in derFormalisierung des Vertragsschlusses. So findet sich in ger-manischen Stammesrechten das Rechtsinstitut der Wadia-tion. Bei dieser übergibt die Partei, die sich verpflichtet, beiVertragsschluss einen Gegenstand, oft ein Holzstäbchen. DerGegenstand dient gleichsam als Willenssymbol und über-nimmt damit eine Funktion, die sich bei vertragsrechtlichen

Formalisierungen häufig erkennen lässt: Sie fungieren alsSeriositätsindizien, die auf einen bestimmt gearteten Willenverweisen, gleichzeitig aber die Möglichkeit eröffnen, vondiesem zu abstrahieren. Das Stäbchen kann zudem Einker-bungen enthalten, die als persönliche Erkennungszeichendienen. Es übernimmt damit eine Identifikations- und Legi-timationsfunktion, vergleichbar der Verwendung von Plas-tikkarten und PIN bei der heutigen bargeldlosen Zahlung.Solchen symbolischen Leistungen des Versprechenden stehtdas insbesondere im römischen Recht verankerte Konzeptdes Realkontrakts gegenüber. Danach wird bei Darlehen undVerträgen mit vergleichbarer Interessenlage das Verspre-chen zur Rückleistung erst mit der tatsächlichen Hingabe desLeistungsgegenstands durch die Gegenpartei, beispielswei-se also mit der Übergabe des Darlehens, rechtlich verbind-lich. Ein anderes Formalisierungselement, die Reziprozitätder Vertragsbeziehung, begegnet uns wieder in modernenRechtsordnungen, so etwa in der erwähnten angloamerika-nischen consideration doctrine, welche die rechtliche Ver-bindlichkeit einer vertraglichen Verpflichtung von der Zu-sicherung einer Gegenleistung abhängig macht.

Erfordernisse wie Realleistung oder Reziprozität las-sen sich hinsichtlich ihrer Funktion, den Vertragsschluss zuformalisieren, durch Formvorschriften substituieren. Dieszeigt sich beispielhaft beim Schenkungsversprechen alseiner per definitionem einseitigen Leistungspflicht. Im derconsideration doctrine verpflichteten angloamerikanischenRecht ist ein gültiges Schenkungsversprechen in der Formdes deed, einer schriftlichen, vom Versprechenden und ei-nem Zeugen unterschriebenen Urkunde, abzufassen. Auchdie kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen formalisie-ren diesen Typ von Vereinbarung: Das schweizerische Recht

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etwa schreibt für das Schenkungsversprechen die Einhal-tung der Schriftform vor, andere Rechtsordnungen verlan-gen eine notarielle Beurkundung.

Als paradigmatische Ausformung des Zusammenspielsverschiedener Formalisierungsmodi präsentiert sich dasKontraktsystem des römischen Rechts. Seine klassische For-mulierung findet sich in den Institutionen des Gaius, einersystematisierenden Einführung ins Recht mit didaktischerZielsetzung aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Gaius gliedert dievertraglichen Schuldverhältnisse, aus denen eine klagbareVerpflichtung erwächst, in vier Gruppen: Bei der erstenGruppe der Realkontrakte erfolgt die Formalisierung, wie be-reits erläutert, über die Hingabe einer Sache. Die zweite bzw.dritte Gruppe der Verbal- und der Litteralkontrakte sinddurch bestimmte Abschlussformen charakterisiert: Im Zen-trum steht als bedeutsamster Verbalkontrakt die Stipula-tion, die über die Verwendung bestimmter Frage- und Ant-wortformen dem Wortformalismus verhaftet bleibt, gleich-zeitig aber eine beliebige inhaltliche Ausgestaltung erlaubt.Dieses Verhältnis von Inhalt und Form kehrt sich bei der vier-ten Gruppe, den Konsensualkontrakten, um: Verpflichtun-gen entstehen hier durch formfrei erklärten Konsens; in-haltlich gesehen steht diese Abschlussform aber nur für eineReihe von verkehrstypischen Verträgen wie Kauf, Miete,Gesellschaftsvertrag und Auftrag zur Verfügung.

Innerhalb der denkbaren Objektivierungsleistungenmarkieren Konsensualverträge den Übergang von der Kon-sensergänzung durch formelle Seriositätsindizien zur Ein-grenzung des Konsenses durch Ausarbeitung einer Vertrags-typologie. Zuerst bestimmt die Vertragstypologie den An-wendungsbereich des rein konsensualen Vertragsschlusses.Dann allerdings wirkt sich die Typologie auch auf die Aus-

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gestaltung des einzelnen Vertragstypus aus. Normenkom-plexe, die einen material bestimmten Vertragstyp, bei-spielsweise den Kaufvertrag, regeln, übernehmen als Stan-dardausgestaltung entsprechender Verträge Modellfunk-tion. Solches Typenrecht dient bereits im Stadium der Ver-tragsverhandlung als Orientierungspunkt; nach Vertrags-schluss findet es, soweit die Vertragsparteien keine abwei-chende Vereinbarung getroffen haben, als dispositivesRecht Anwendung. Regelmässig gehen damit wesentlicheBestandteile der vertraglichen Ordnung, insbesondere dieRechtsfolgen von Störungen in der Vertragsabwicklung, aufden Einbezug objektiven Rechts zurück.

Auf die Begründung von Pflichten, die über den wil-lentlich vereinbarten Vertragsinhalt hinausgehen, zielenauch vertrauensbasierte Modelle des Vertragsschlusses, wiesie etwa in der schon erwähnten reliance des angloameri-kanischen Rechts, v. a. aber in der Erklärungs- oder Ver-trauenstheorie des deutschen und schweizerischen Rechts,zum Ausdruck kommen. Nach dieser liegt ein rechtlichrelevanter Konsens und damit ein Vertrag vor, wenn die Par-teien übereinstimmende Willenserklärungen ausgetauschthaben, wobei darauf abgestellt wird, welche Willensinhalteden Erklärungen nach Treu und Glauben aus Empfängersichtzuzuschreiben sind. Erscheint das Vertrauen des Erklärungs-empfängers in eine bestimmte Bedeutung der Erklärung alsin objektivierender Betrachtungsweise schützenswert, sokommt (bei Übereinstimmung mit der Gegenerklärung) einVertrag mit entsprechendem Inhalt zustande. Die bewusstedogmatische Erfassung dieser Rechtsfigur des so genanntennormativen Konsenses lässt sich als Reaktion auf die Heraus-bildung der so genannten Willenstheorie im 19. Jahrhundertlesen, welche die Entstehung vertraglicher Pflichten allein

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aus dem Parteiwillen begründet. Diese der Vertrauens-theorie vorangehende Absolutsetzung des Willenselementsmag sich aus einer in dieser Zeit zu beobachtenden allge-meinen Konjunktur des Willensbegriffs erklären. Sie hängtaber auch mit einem verspäteten Zurkenntnisnehmen derInvalidierung älterer philosophischer Theoriebildung zu-sammen, welche die Rechtsdogmatik dazu zwingt, be-stimmte Figuren, wie das aristotelischem Gedankengutverpflichtete naturalia negotii-Konzept, aufzugeben undderen dogmatische Funktion auf das Willenselement zuübertragen. Konsequenz ist eine Überbetonung des Wil-lenselements, die anschliessend durch die Formulierungeines dogmatischen Gegenkonzepts, der Vertrauenstheorie,neutralisiert wird.

Soweit Veränderungen der ausserrechtlichen Theorie-bildung ins Recht einfliessen, kann es also unter Umständenzu einem Prozess der Absorption kommen, indem dogmati-sche Ausweichbewegungen das Innovations-, aber auchDestabilisierungspotenzial eines rezipierten Konzeptes fürdie Jurisprudenz entschärfen. Das Konzept des Willens etwawird zeitgleich mit seiner Inthronisierung als neue Leitideedes Vertragsrechts relativiert, indem der Wille durch die tra-ditionellen Elemente der Formalisierung und der Typologieüberformt wird. Parallel zu dieser Relativierung auf einertechnischen, dem neuen willensbasierten Konzept unterge-ordneten Stufe, entstehen gleichgeordnete Gegenkonzepte,die mit dem Erwartungsschutz eine alternative Leitidee pro-pagieren.

Anhand dieser Beobachtung sei ein allgemeines Modell des Einflusses nichtjuristischer wissenschaftlicherErkenntnis und Theoriebildung auf das Recht entworfen.Erkenntnisse anderer wissenschaftlicher Disziplinen mö-

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gen zunächst eine veränderte theoretische Betrachtungs-weise des Rechts auslösen; in dieser Weise rezipiertes Ge-dankengut kann in der Folge operationalisiert werden, in-dem es Neuerungen im technisch-dogmatischen Bereichherbeiführt. Selbst wenn sich Auswirkungen bis in den dog-matischen Formenbestand hinein aufzeigen lassen, werdendamit jedoch lediglich neue Erklärungen des Rechtsgesche-hens geliefert, solange nicht Änderungen in der Entscheid-praxis feststellbar sind. Entscheidrelevanz verhindern nuneinerseits die soeben erörterten dogmatischen Ausweich-bewegungen, die als Relativierungen und Gegenkonzepte einen ins Recht überführten Gedanken neutralisieren. Einen ähnlichen Effekt haben andererseits sprachliche Ver-formungen, mit denen sich das Recht Begriffe bei der Über-nahme auf theoretischer oder dogmatischer Ebene anver-wandelt, dabei aber zwangsläufig den ihnen innewohnen-den Gedanken deformiert.

Diese Neutralisierung ist Ausdruck einer latentenTheorieresistenz des Rechts. Bezogen auf das untersuchteBeispiel suggerieren dabei vor allem dogmatische Aus-weichbewegungen die relative Bedeutungslosigkeit des Wil-lens für die Jurisprudenz. Daher ist nochmals auf die Leitfragezurückzukommen: die Frage nach Stellung und Bedeutungdes Willens im Vertragsrecht. Dabei zeigt sich ein ambiva-lentes Bild: Zwar wird die Bindungswirkung des Willensdurch objektivierende Elemente wie Form, Typologie oderErwartung stark relativiert. Gleichzeitig aber ist die sprach-liche Bezugnahme auf den Begriff Willen im Vertragsrechtallgegenwärtig. Selbst in Rechtsfiguren, die ihren objekti-vierenden Ansatz offen ausweisen, kommt dem Willen dieBedeutung einer zentralen gedanklich-konzeptionellenReferenzgrösse zu.

3. Teil Diese Willensreferenz wie auch die – trotz des Verweises aufscheinbar ausserrechtliche Phänomene – genuin rechtlichePrägung des Willensbegriffs lassen sich anhand eines Fallesillustrieren, den das Bundesgericht vor rund fünfzig Jahrenzu entscheiden hatte:

Im Jahr 1951 erwirbt die Schweizerische Eidgenos-senschaft in England Spähpanzer vom Typ «Staghound».Beim Verladen auf ein holländisches Frachtschiff im Hafenvon Southampton rollen mehrere der bereits auf Deck ge-hissten, aber noch nicht gesicherten Panzer über Bord. Siekönnen zwar geborgen werden, sind aber aufgrund der Ein-wirkung des Salzwassers schrottreif. In der Folge verlangtdie Eidgenossenschaft von der VersicherungsgesellschaftSchweiz, mit der sie eine Transportversicherung abge-schlossen hat, Ersatz für den entstandenen Schaden. Nachder Versicherungspolice beschränkt sich der Versicherungs-schutz für diese Form der Ladung auf das Einladen. Die Ver-sicherung verweigert nun die Zahlung mit der Begründung,mit dem An-Bord-Bringen der Panzer sei der Ladevorgangabgeschlossen gewesen, im Zeitpunkt des Unfalls habedeshalb kein Versicherungsschutz mehr bestanden. Dem-gegenüber stellt sich die Eidgenossenschaft auf den Stand-punkt, zum Ladevorgang gehöre auch das Verstauen. Incasu seien die Panzer zwar auf Deck gehisst, aber noch nichtverteilt und gesichert gewesen. Der – umfassend zu verste-hende – Ladevorgang sei damit noch nicht abgeschlossengewesen, weshalb sich der Versicherungsschutz auch auf denvorliegenden Schadensfall erstrecke. Strittig ist mithin dieBedeutung des im Versicherungsvertrag verwendeten Be-griffs der «Einladung»: Ist die «Einladung» in einem engenSinn als von der Verstauung getrennter Vorgang zu verste-hen, oder umfasst der Ladevorgang in einem weiten Sinn

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auch die Sicherung des Frachtguts? Seerechtliche Gutachterneigen der ersten Auffassung zu; das Bundesgericht abererteilt der Heranziehung des technisch-wissenschaftlichenSprachgebrauchs eine Absage und erklärt für die Vertrags-auslegung den «gewöhnliche[n] landläufige[n] Wortsinn» alsmassgeblich. Das Gericht ermittelt diesen nun nicht etwa em-pirisch und bezogen auf den Zeitpunkt des Vertragsschlus-ses, sondern aus Wörterbüchern und literarischen Quellen.Eine Konsultation des Grimmschen Wörterbuches bleibtnoch erfolglos. Dank eines Hinweises im Idiotikon auf dasBeladen von Heu- und Garbenwagen wird das Gericht dannaber bei Gotthelf fündig. In Uli der Knecht heisst es: «… die Her-aufgeber … warfen … Gabeln voll auf den Wagen, die der kun-dige Lader auf den Knien mit ausgebreiteten Armen empfing.»Gestützt auf diese Passage kommt das Gericht zum Schluss,nach dem massgebenden schweizerischen Sprachgebrauchsei der Ladebegriff weit zu verstehen; er schliesse das Ver-teilen und Sichern der Güter mit ein. Nachdem die Panzer imZeitpunkt des Unfalls noch nicht gesichert waren, sei der Scha-densfall durch die Versicherung gedeckt.

Dieser Argumentation ist zunächst der volle Wortlautdes vom Gericht verkürzt wiedergegebenen Gotthelf-Zitatsentgegenzuhalten: «… die mächtigen Rosse jagten im Trabe,die Heraufgeber sprangen nach, warfen mitten im Laufe Ga-beln voll auf den Wagen, die der kundige Lader auf den Knien mit ausgebreiteten Armen empfing. Schwere Tropfenrauschten, der Wind stiess heftiger, nach dem Bindbaumsprang einer; im Hui war er auf dem Fuder, mit dicken Wel-lenseilen wurde er niedergeschnürt; …» Wir sehen: Die vomGericht zitierte Stelle umschreibt tatsächlich den Ladevor-gang; diesem ist aber bei Gotthelf die Sicherung der Ladungunter Zuhilfenahme des Bindbaums nachgeordnet. Aufgrund

des vollständigen Textes wäre also anders als aufgrund desverkürzten Zitats auf einen engen Begriff des Ladens zuschliessen gewesen, an den sich zu See wie zu Land dieSicherung des geladenen Gutes anschliesst. Der Versiche-rungsschutz wäre in diesem Fall schon mit dem An-Bord-Bringen der Panzer ausgelaufen und der später eingetreteneSchadensfall gerade nicht durch die Versicherung gedecktgewesen.

Bemerkenswert ist das konkrete Vorgehen bei der Ver-tragsauslegung: Die Bedeutung des Ladebegriffs bestimmtsich über die Zuordnung der Vertragsparteien zu einerSprachgemeinschaft, die dann ihrerseits den massgeblichenSprachgebrauch definiert. Obwohl beim Abschluss des Ver-sicherungsvertrags auf beiden Seiten Expertenwissen ver-fügbar gewesen sein dürfte, stellt das Gericht gerade nichtauf die technische, sondern auf die umgangssprachlicheTerminologie ab. Damit wird eine Sprachgemeinschaft fürmassgeblich erklärt, die den Organen der Parteien, die denVersicherungsvertrag aushandelten und abschlossen, ferngelegen haben dürfte. Der Begriffsgehalt wird damit vomursprünglichen Willen gelöst. Das Gericht bestimmt denmassgebenden Willensinhalt nicht in Suche nach dem sub-jektiven Parteiwillen, sondern ermittelt aus externer Per-spektive und nach objektiven Kriterien einen «mutmassli-chen» Parteiwillen. Möglich ist dies nur gestützt auf einenspezifisch juristischen Willensbegriff, denn weder der um-gangssprachliche noch ein anderer fachsprachlicher Wil-lensbegriff lassen sich schlüssig in objektivierende Rechts-figuren integrieren.

Auf den ersten Blick ist diese Feststellung nicht weitererstaunlich: Vertragsauslegung und -ergänzung unter Ver-weis auf den hypothetischen Parteiwillen, mit denen die in

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jedem Vertrag latent vorhandenen Regelungslücken ge-schlossen werden, arbeiten unverdeckt mit einer normati-ven Fassung des Willensbegriffs. Mit welchen Vorstellungenaber verbinden sich objektivierende Konzepte, wenn sie un-ter Verwendung der Willensreferenz formuliert werden?Ziel könnte eine Rückbindung an den tatsächlichen Willensein: Insbesondere könnte derjenige Vertragsinhalt alshypothetisch gewollt gelten, der in einer Gesamtbetrach-tung vergleichbarer Fälle die höchste statistische Überein-stimmung mit den tatsächlich vorhandenen Willensinhal-ten aufweist. Zwar wird die Ausformung des tatsächlichenWillens, die in einer gegebenen Situation dominiert, regel-mässig nicht empirisch hergeleitet. Immerhin sind die zen-tralen Elemente des Vertragsrechts langfristig stabil. Darauslässt sich auf seine soziale Akzeptanz schliessen. SozialeAkzeptanz aber wäre kaum zu erwarten, wenn den anRationalitätskriterien orientierten Figuren des mutmassli-chen und des hypothetischen Willens nicht eine empirischeRationalität der Willensbildung entsprechen würde.

Umgekehrt richtet sich aber der tatsächliche Wille sei-nerseits an normativen Vorgaben aus: Aufgrund der veröf-fentlichten Spruchpraxis der Gerichte können die Parteien an-tizipieren, welche Grundannahmen des Rechts die Auslegungund Ergänzung gemäss dem hypothetischen Parteiwillenstrukturieren; an diesem Befund werden sie regelmässig ihreErwartungen und damit auch ihre tatsächliche Willensbil-dung ausgerichtet haben. Hypothetischer und tatsächlicherWillen konvergieren also im Zusammenspiel zweier gegen-läufiger Prozesse: im Bemühen um die Entwicklung vonRechtsnormen, die ihrem Regelungsgegenstand angemessensind, und in der Konstruktionsleistung des Rechts, die diesenRegelungsgegenstand erst hervorbringt.

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Eine verwandte Problematik zeigt sich, wenn dieObjektivierung in den Begriff des Willens selbst hinein-verlagert wird. Klassisches Beispiel ist die Vorstellung, Gel-tungsgrund des so genannten dispositiven Gesetzesrechts,also der Normen, die der Gesetzgeber für den Fall aufstellt,dass die Parteien selbst auf die Regelung einer bestimmtenFragestellung verzichten, sei der Wille der Vertragsschlies-senden.

Eine Parallelerscheinung ist die Figur der implied terms

im angloamerikanischen Recht. Um ein Beispiel der engli-schen Gerichtspraxis aufzugreifen: Ein Erbsenfabrikant mitNamen Batchelor vereinbart 1937 mit einer Firma für Luft-werbung vertraglich die Durchführung von Werbeflügen.Darauf kreist während der Schweigeminute des ArmisticeDay ein Flugzeug mit einem Transparent, das die Aufschrift«Eat Batchelors Peas» trägt, über einer grösseren Men-schenmenge. Batchelor klagt erfolgreich auf Schadenersatz:Die Gerichte erkennen auf Verletzung eines den Vertrag er-gänzenden implied terms, einer impliziten Vertragsbestim-mung, wonach die vertragliche Leistung sachgerecht undnicht reputationsschädigend auszuführen ist. Offensichtlichlassen sich die Gerichte hierbei primär von einem objekti-ven Konzept der Sachgerechtigkeit leiten, denn schliesslichkönnte zu den denkbaren Werbestrategien auch das Erzie-len einer Schockwirkung gehören. Dem normativen Charak-ter der Willensreferenz begegnen wir im Übrigen nicht nurim Schuldvertragsrecht: Im Wortlaut des jüdischen Ehever-trags, der weitgehend, aber nicht vollständig standardisiertist, wird für zentrale Fragen vertraglich vereinbart, wasgleichzeitig gesetzlich vorgegeben ist und über das rituelleVerlesen des Ehevertrags einer öffentlichen Kontrolle un-terworfen wird. Auch in diesem Beispiel lässt sich das Span-

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nungsverhältnis von willensbasierter vertraglicher und ob-jektiver gesetzlicher Bindung letztlich nicht auflösen.

In den bisher erörterten Sachverhalten wird sprachlichund argumentativ direkt auf den Willen Bezug genommen.Neben dieser unmittelbaren findet sich in vielen Fällen aberauch eine bloss mittelbare Willensreferenz, die einem imRecht verwendeten Konzept unausgesprochen unterlegt ist.Dies gilt etwa für die Willensdimension der Vertrauens-theorie: Das Vertrauen des Erklärungsempfängers richtetsich darauf, dass in der Erklärung ein bestimmter Wille desErklärenden zum Ausdruck kommt. Auf dem Hintergrundder bestehenden rechtsdogmatischen Konstruktion des Ver-tragsschlusses ist dieser Willensbezug denknotwendig. Mitseiner Erwartungsbildung etabliert der Adressat einer Er-klärung daher den Willen seines Gegenübers als subjektivesKonstrukt. Über die Festlegung der Berechtigung von Er-wartungen wird diese subjektive Willensprojektion vomStaat, als dem Träger des Gewaltmonopols, selektiv sank-tioniert und damit hinsichtlich ihrer rechtlichen Bedeutungobjektiviert.

Auch der tatsächliche Wille, welcher der Willenstheo-rie als dogmatisches Element zugrunde liegt, weist nun abereine normative Dimension auf. So erklärt Windscheid als an-erkannter Verfechter der Willenstheorie: «Das Wollen als in-nerer Seelenzustand ist dem Rechte gleichgültig», um kurzdarauf fortzufahren: «[Die Willenserklärung] ist (…) mehrals Mitteilung des Willens, sie ist der Ausdruck des Willens.Sie ist der Wille in seiner sinnenfälligen Erscheinung.» Die-se Äusserung lässt vermuten, dass in der Debatte zwischenWillens- und Erklärungstheorie implizit weitgehend Einig-keit über die Irrelevanz des inneren Willens für den juristi-schen Willensbegriff besteht, die autonome (wenngleich

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potenziell uneinheitliche) Begriffsbildung im Recht also,zumindest soweit einer Aussage rechtliche Relevanz zu-kommen soll, allgemein praktiziert und akzeptiert wird.Bezeichnend ist in jedem Fall das Scheitern einzelner wil-lenstheoretischer Versuche, eine Anbindung an die psycho-logische Begriffsbildung sicherzustellen.

Der Willensbegriff demonstriert damit das Phänomenautonomer Begriffsbildung; indem das Recht über ein spe-zifisches, selbst geschaffenes begriffliches Instrumentariumverfügt, organisiert es den Zugriff auf einen sprachlich zu er-schliessenden Bereich des Tatsächlichen und (re)konstruiertin dieser Weise seine eigene, an den Funktionen des Rechtsorientierte und rechtlich bearbeitbare Wirklichkeit. Zwangs-läufig erweist sich das Recht daher als resistent oder zu-mindest nicht unmittelbar offen gegenüber Begriffsfassun-gen, die auf empirischen Erkenntnissen basieren. Dies gilteinerseits für einen Willensbegriff, in den unmittelbarErkenntnisgewinne empirischer Wissenschaften einflies-sen, die einen wissenschaftlich gesicherten Zugriff auf Inhaltund Mängel des Willensbildungs- und Willenserklärungs-prozesses in Aussicht stellen. Dies gilt aber andererseits auchfür Theoriebildung, die namentlich gestützt auf neurowis-senschaftliche Erkenntnisse von Vertretern dieser Disziplinselbst geleistet worden ist und im Sinne einer Infragestel-lung der menschlichen Willensfreiheit auch auf der begriff-lichen Ebene Wirkung entfalten würde. WillensbasiertenDenkmodellen wird im Recht eine bestimmte gesellschafts-relevante Funktion zugewiesen. Als traditional abgestützteund im permanenten Gebrauch konsentierte Konstrukte er-füllen sie diese Aufgabe weitgehend losgelöst von ihrem em-pirischen Gehalt. Die Rechtspraxis lässt sich deshalb aufStreitstand, Erkenntnisse und Theoriebildung der Nachbar-

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disziplinen nur zurückhaltend ein – und sie könnte dieseZurückhaltung auch nur um den Preis einer relativierten Vor-hersehbarkeit der Entscheide und damit einer Gefährdungder Rechtssicherheit aufgeben.

Was ist nun auf diesem Hintergrund das Spezifikumdes im Recht verwendeten Willensbegriffs? Was leistet die-ser Begriff? Mit der Bezugnahme auf den Willen verbindetsich im Vertragsrecht die Vorstellung der Privatautonomie.Auf der Grundlage eines Menschenbildes, welches die Ra-tionalität menschlicher Handlungen unterstellt, wird Auto-nomie in ihrem positiven Gehalt verstanden als Fähigkeit zurwillentlichen Selbstrestriktion, die rationales Handeln undPlanen ermöglicht. Dem Willensbegriff wird damit die Ver-mittlung gesamtgesellschaftlicher Rationalitätsvorgabenübertragen. Indem das Recht ihn mit diesem Bedeutungs-gehalt auflädt, gewinnt der Wille als Referenzpunkt selbstden Charakter eines objektivierenden Ordnungsprinzips.Entsprechend dieser Ordnungsfunktion erweist sich derjuristische Sprachgebrauch auch als resistent gegenüber anderen normativen, insbesondere theologischen und phi-losophischen Begriffsfassungen.

Fungiert aber der Wille als Ordnungsprinzip, so stelltsich die Frage, weshalb zur Erbringung einer Objektivie-rungsleistung überhaupt mit dem Willensbegriff gearbeitetwird. Liegt darin lediglich eine suggestive rhetorische Ver-knüpfung mit individualistischen Grundpositionen oderkommt der Verwendung des Begriffs eine darüber hinaus-gehende Berechtigung zu, indem er auch die Vermittlunggesellschaftlich nicht eingebundener Autonomie verbürgt?Jedenfalls hat der Wille eine legitimatorische Funktion, dieauf ein Paradox verweist: Für gewisse Formen der überindi-viduellen Ordnung scheint es eine unverzichtbare Voraus-

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setzung zu sein, dass gesellschaftlich ein Willensbegriff vor-gegeben wird, der menschliches Handeln aus dem allge-meinen gesellschaftlichen Zugriff herauslöst, auf dieses aberdurch Einbezug von Rationalitätskriterien in den Begriff zu-gleich normierend einwirkt.

In diesem gesellschaftsgestaltenden Moment liegtmöglicherweise der Schlüssel zu einer positiven Sicht auf diedas Recht auszeichnende, mit der Funktionsweise des Rechtseng zusammenhängende Theorieresistenz. Begriffskon-struktion als Eigenleistung des Rechts ist eminent politisch.Sie arbeitet widerstreitende Interessen in juristische Begrif-fe ein und verbindet damit unweigerlich eine Festlegung derprävalierenden Werte. Dieser politische Charakter derRechtsdogmatik folgt nur zum Teil aus einer Anbindung aninstitutionalisierte politische Prozesse. Das in die Begriffeund Konzepte des Rechts eingeschmolzene Interessenurteilist vielmehr ebenso tradiertes Element herrschender Rechts-diskurse. Dogmatische Verhärtungen, die eine Immunisie-rung gegenüber ausserrechtlicher Theoriebildung bewirken,treten dabei vor allem dann auf, wenn sich die einem Begriffeingeschriebenen Grundannahmen des Rechts als für Ge-sellschaft konstitutiv erweisen: Dies zeigt gerade der Wil-lensbegriff mit seiner doppelten Ordnungsfunktion, materi-elle Rationalitätsvorgaben zu transportieren und gleichzeitigformal die begründete individuelle Zurechnung zu erlauben.Zu diesen eingebetteten Wertungen kommt der für das Rechttypische Entscheidungszwang im Einzelfall. Zusammen er-geben sich derart hohe Anforderungen an die Operabilitäteiner alternativen, auf anderen theoretischen Annahmen ba-sierenden Dogmatik, dass die Grundannahmen des Rechts,wenn überhaupt, nur langfristig verfügbar sind. Eine inte-grale Verwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnis im

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Recht fällt damit regelmässig ausser Betracht; soweit Teil-aspekte Beachtung finden, dienen sie primär als Auslöserproduktiver Irritation. In diesem Sinn muss eine gewisse Ab-koppelung des Rechts von anderen wissenschaftlichenBemühungen, zumindest aber eine latente Zurückhaltunggegenüber deren Integration konstatiert werden, die sich alsSchliessung des allgemeinen rechtswissenschaftlichen undinsbesondere des rechtsdogmatischen Diskurses bemerkbarmacht; doch ist diese Erscheinung untrennbar verbundenmit einem Recht, das sich seiner politischen Dimension be-wusst ist, einem Recht, in welchem Ordnungsvorstellungenkonstituiert und durchgesetzt werden, von welchem alsoOrdnungsleistungen zu erbringen, vor allem aber auch poli-tisch zu verantworten sind.

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4. Teil Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt, der von Cicero auf-geworfenen Fragestellung, ob der bei den hungernden Rho-diern eintreffende Getreidehändler diese über das Nahenweiterer Getreideladungen zu informieren hat. Das Beispielhat seit Cicero nie an Aktualität verloren. US-amerikanischeGerichte hatten sich im 19. Jahrhundert im Nachgang zumenglisch-amerikanischen Krieg mit parallelen Fällen zu be-fassen. Und heute kann der Finanzanalyst in vergleichbarerWeise über einen Informationsvorsprung gegenüber ande-ren Marktteilnehmern verfügen. Die Parallele zu Vorab-informationen über börsenkotierte Unternehmen zeigtaber auch, dass nicht jede Informationsasymmetrie glei-chermassen gerechtfertigt ist: Es ist offensichtlich relevant,ob der besser Informierte den Informationsvorsprung einerInsiderstellung verdankt, durch glücklichen Zufall erwor-ben oder aufwändig erarbeitet hat. Gerade für die dritteKategorie des erarbeiteten Informationsvorsprungs liessesich eine Aufklärungspflicht volkswirtschaftlich gesehenschwerlich rechtfertigen: Der Zwang zur Preisgabe von In-formation würde den Anreiz beseitigen, Mittel in die Analy-se von Unternehmen zu investieren, womit die Qualität derPreisbildung auf den Kapitalmärkten in Frage gestellt wäre.Die Komplexität der von Cicero gewählten Konstellation liegtnun darin, dass hier die wohlfahrtsökonomische Perspekti-ve potenziell mit individualethischen Argumenten kollidiert.Wie die Rechtsprechung mit diesem Spannungsfeld umzu-gehen hat, wird zum Teil durch positivrechtliche Regelungvorgegeben: Im Kaufrecht beispielsweise muss der Verkäu-fer sein Wissen über Eigenschaften der verkauften Sache, dievon der Norm abweichen, dem Käufer offen legen. Ob dieKenntnis von Marktkräften, die zukünftige Preisschwan-kungen auslösen werden, gleichermassen Gegenstand einer

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Informationspflicht bilden kann, ist jedoch nach wie vor Ge-genstand der Diskussion.

Gehen wir daher nochmals auf die einleitend skizzier-te Problematik des Verhältnisses von Willen und Informa-tion ein und überprüfen wir, ob sich das Bestehen einer Auf-klärungspflicht auf die vorgetragenen Überlegungen zumStellenwert des Willens im Vertragsrecht auswirken würde.Relativiert der Bezug zwischen Willen und Information dievorgetragenen Thesen, wonach einerseits der Wille durchrechtsdogmatische Gegenkonzepte überformt wird, und an-dererseits das Recht sich den Willensbegriff durch autono-me Rekonstruktion aneignet? Instrument zur Lenkung desInformationsflusses ist primär die Statuierung direkter undindirekter Informationspflichten, aus deren Gesamtkomplexeine bestimmte Informationsordnung resultiert. Bereits dieFrage nach der Rechtsgrundlage von Informationspflichtenaktualisiert nun aber ihrerseits eine Verknüpfung der Infor-mation mit dem Vertrauenselement. Auf der Ebene der In-formationspflichten wiederholen sich mit anderen Wortendie vorgängig diskutierten Abgrenzungsprobleme, die ausder Gegenüberstellung vertraglicher und gesetzlicher, wil-lens- und vertrauensbasierter Ansätze bei der Ermittlung derGrundlagen und Inhalte bestimmter Pflichtenkomplexeherrühren.

Darüber hinaus führt der Einbezug von Information zurHerausbildung neuer Vertrauenspotenziale. Sowohl die Qua-lität als auch (soweit Informationspflichten bestehen) die Er-bringung der Information an sich sind Gegenstand des Ver-trauens des Informationsadressaten. Umgekehrt baut auchder Informierende, dessen Verhalten mit einer gegebenenInformationsordnung übereinstimmt, Vertrauen auf: ImRahmen des Vertragsschlusses rechtfertigt sich seine sub-

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jektive Konstruktion des Willens der Gegenpartei umsomehr, je weniger er in unzulässiger Weise von einem allfäl-ligen Informationsvorsprung Gebrauch macht. Vor allemaber durchschneidet die Festlegung des Gegenstands undder Tiefe einer Informationspflicht zwangsläufig die Mengeder potenziell verwertbaren Information und definiert damitnegativ einen Bereich, in dem auf Information verzichtetwerden kann. Der korrekt Informierende vertraut darauf,dass sein Vertragspartner sich später nicht unter Berufungauf Willensmängel aus dem Vertrag löst. Wüsste beispiels-weise der Getreidehändler um das Nahen von fünf Schiffenund informierte er die Rhodier über diesen Umstand, wärenaber zur gleichen Zeit aus anderer Richtung fünf weitereSchiffe unterwegs, so dürfte der Händler darauf vertrauen,dass deren Ankunft und die damit verbundene weitere Sen-kung des Getreidepreises die Rhodier nicht zur Anfechtungdes Kaufvertrags berechtigt.

Insgesamt wird die Informationsordnung in dogmati-scher Hinsicht nicht durch das Willenselement dominiert;sie ist mindestens so sehr Vertrauensordnung. Wo dem Wil-lenselement eigenständige Bedeutung zukommt, ändert derEinbezug des Informationselements auch nichts am Befund,dass das Recht seinen Willensbegriff autonom konstruiert.Indem das Recht diejenigen Informationen, deren unrichti-ge Vermittlung die Geltendmachung eines Willensmangelserlaubt, selegiert, fixiert es die rechtliche Verbindlichkeit be-stimmter Willensbildungsprozesse anhand objektiver Kri-terien. Verpflichtet etwa eine Rechtsordnung den Getrei-dehändler zur Offenlegung seines Wissens um das Eintref-fen weiteren Getreides, verlangt sie aber nicht, dass er sei-nen eigenen Einkaufspreis kundtut, so werden damit nor-mativ die Bedingungen einer rationalen Willensbildung der

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Rhodier umschrieben. Mittelbar folgt damit auch die Fest-legung der rechtlich nicht weiter hinterfragbaren Willens-inhalte objektiven Rationalitätskriterien. Erneut weist diesden im Recht verwendeten Willensbegriff als Ordnungs-begriff aus, der einer spezifisch juristischen Tradition ver-pflichtet ist. Damit bestätigt sich auch der Erklärungsansatz,der im Rahmen dieser Rede versuchsweise für die Resistenzdes Rechts gegenüber ausserrechtlicher Begriffs- und Theo-riebildung gegeben worden ist: Im Interessengeflecht, ausdem Rechtsdogmatik hervorwächst und das sie zugleichverdeckt, liegt eine politische Dimension, die innerhalb desRechts aufgewiesen, verhandelt und politisch verantwortetwerden muss.

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Hinweis

Dieser Text ist aus einem Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit

Paul Felix Wegmann, lic. iur., wissenschaftlicher Assistent am Rechtswissen-

schaftlichen Institut der Universität Zürich, entstanden. Die Ergebnisse des

Forschungsprojekts werden in einem unter dem Titel «Wille und Willens-

referenz im Vertragsrecht. Eine Auseinandersetzung mit der Theorieresistenz

des Rechts» in der Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Bd. 126 (2007) I,

Heft 2 erscheinenden Beitrag umfassend dokumentiert.

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Bilder

SEITE 6 Drei verschiedene Ackerbohnen-Sorten (Vicia faba).

Bilder: Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung,

Gatersleben (Leitung Prof. Ulrich Wobus)

SEITE 10 Kerbhölzer aus dem Ulmer Stadtarchiv. Aus: Walter Bernhardt

(Hrsg.): Acht Jahrhunderte Stadtgeschichte. Vergangenheit und Gegenwart

im Spiegel der Kommunalarchive in Baden-Württemberg, Sigmaringen 1981

SEITE 12 Bild: Jos Schmid

SEITE 14 Im der consideration doctrine verpflichteten angloamerikanischen

Recht ist ein gültiges Schenkungsversprechen in der Form des deed,

einer schriftlichen, vom Versprechenden und einem Zeugen unterschrie-

benen Urkunde, abzufassen. Im Bild: US-amerikanisches Blanko-Formular

eines deed.

SEITE 20 Das Frachtschiff «Rothsay Castle» wird am 27. August 1936 im

Hafen von Southampton geladen. Aus: Bert Moody: A Pictorial History of

Southampton Docks, Settle (North Yorkshire) 1998

SEITE 22 Filmstill aus «Ueli der Pächter» von Franz Schnyder (1955);

Praesens-Film AG, Zürich

SEITE 27 Menschenmenge vor der Londoner Börse und der Bank of England

am 11. November 1918, nachdem der Waffenstillstand bekannt gegeben

wurde, der den Ersten Weltkrieg beendete. Anlässlich des «Armistice Day»

wurde des Kriegsendes in der Folge jährlich – unter anderem mit einer

Schweigeminute – gedacht. Bild: Keystone

SEITE 28 Werbeinserat der Firma «Batchelor's» aus dem Jahre 1945.

SEITE 31 Während einer jüdischen Heiratszeremonie hält ein Rabbi die

Ketuba – den Ehevertrag eines Paares – hoch (Jerusalem, 1994).

Aus: Encyclopaedia Judaica, Band 3, Detroit 2007

SEITE 32 Jüdischer Ehevertrag (Ketuba), Basel 2004.

IMPRESSUM

Zürcher Universitätsschriften Nr. 9

Herausgeberin Universitätsleitung der Universität Zürich

Beauftragter Dr.Kurt Reimann

Publishing unicommunication, Dr.Heini Ringger, Roger Nickl (Redaktion)

Gestaltung Atelier Versal, Peter Schuppisser Tschirren, Zürich

Druck NZZ Fretz AG, SchlierenAuflage 2500

Erscheinungsdatum April 2007Adresse Prorektor

Rechts- und Wirtschaftswissenschaften Rämistrasse 74/1, 8001 Zürich Telefon 044 634 48 71Fax 044 634 43 97E-Mail [email protected]

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