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Vor aller Augen

Date post: 03-Jan-2017
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Chicago Band 20

Vor aller Augen

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Pat Connor ist Privatdetektiv im Chicago der zwanziger Jahre. Kein leichter Job und keine gesunde Gegend, um diesem Job nachzugehen. Besonders, wenn die Stadt zwischen dem italienischen Syndikat von ›Il Cardinale‹ Rigobello und dem irischen von ›The Jar‹ O'Malley aufgeteilt ist.

Seine Sekretärin Betty Meyer, meist damit beschäftigt, ihre Fin­gernägel zu lackieren, ist ihm auch keine große Hilfe.

Verlassen kann er sich aber auf seinen väterlichen Freund Bren­don Smith, Reporter bei der Chicago Tribune, der ihm wichtige Infor­mationen besorgt. Und auf Dunky, den Wirt seiner Stammkneipe, in der er sich regelmäßig mit illegalem Bourbon den Frust hinunterspült.

Anlass dazu gibt es genug, nicht zuletzt in Person von Lieutenant Quirrer vom Police Departement und dessen Chef Captain Hollyfield. Jedes Mal, wenn eine Leiche auftaucht, ist für Quirrer zuerst Pat der Hauptverdächtige.

*

So angefressen wie an diesem Freitagmittag war ich lange nicht ge­wesen. Wie hätte es auch anders sein können, nach der umwerfend ereignisreichen Woche, die hinter mir lag. Wieder mal hatte ich mich vor Kundschaft kaum retten können, die Honorare waren gesprudelt wie bei einer frisch angezapften Ölquelle und meine Halbtagskraft Bet­ty war kaum damit fertig geworden, all die vielen Scheinchen zu zäh­len.

Theoretisch hätte es durchaus so sein können. Praktisch aber war die Woche doch eher anders verlaufen. Nicht ein einziges menschli­ches Wesen hatte sich in mein Büro verirrt und so hatte ich mir die Zeit wie so oft damit vertrieben, meine Bleistifte anzuspitzen und Lö­cher in die Luft zu starren. Außerdem hatte ich mich um die Tabakin­dustrie verdient gemacht und jede Menge Luckys in Rauch aufgehen lassen. War sonst noch was gewesen? Oh ja. Die Flasche mit der gold­gelben Denkhilfe hatte ich auch geleert. Und dann natürlich Betty ih­ren Wochenlohn von 30 Dollar ausgezahlt, bevor sie gut gelaunt in ihr Wochenende verschwunden war.

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Ich sagte mir, dass ich das eigentlich auch tun könnte, vielleicht stellte sich gute Laune ja auch bei mir noch ein. Dass jetzt noch je­mand auftauchte, um meine Hilfe gegen irgendein Übel dieser Welt in Anspruch zu nehmen, war jedenfalls genauso wenig zu erwarten wie eine Kollision unseres Planeten mit dem Mars. Ich verließ das Büro im zweiten Stock des Sandsteingebäudes in der South Franklin Ecke Mon­roe Street also kurz nach Betty. Und gleichzeitig mit einer ziemlich se­henswerten Brünetten. Sie kam aus dem Immobilienbüro Hopkins & Abernathy gegenüber. So, wie ihre Kostümjacke an den genau richti­gen Stellen spannte, hätte der Anblick durchaus geeignet sein können, ein paar Glückshormone bei mir freizusetzen. Auf dem Weg zum Fahr­stuhl hatte ich die Gelegenheit, ihre Rückseite zu studieren. Auch sie konnte sich sehen lassen. Ich stellte mir schon vor, wie ich sie im Fahrstuhl in ein Gespräch verwickeln würde. Aber da platzte der Traum schon wieder. Im Laufschritt kam ein Typ die Treppe herauf gerannt und dann wurde ich Zeuge einer ziemlich stürmischen Begrü­ßung zwischen ihm und der Brünetten. In den Fahrstuhl stieg ich dann allein.

Anscheinend war das einfach schon wieder mal nicht mein Tag. Hatte ich nicht die ganze Woche über Zeit gehabt, das zu kapieren? Ich verließ das Haus und trottete zu meinem Plymouth, der gleichgül­tig gegen alles, was mir zusetzte, auf dem Hof hinter dem Haus stand. Ich beschloss, auch das Wetter als persönliche Kränkung zu nehmen. Eine klebrige Hitze schlug mir entgegen, in der mein Hemd in null Komma nichts zu einem schmierigen Lappen wurde. Auch das bleierne Grau, das sich als Himmel über Chicago ausgab, war nicht gerade eine aufmunternde Perspektive. Da die Welt so eindeutig gegen mich war, fiel mir nur ein Gegenmittel ein. Etwas, das ganz von innen heraus wirkte. Ich fuhr also zu Henry's Steak Diner auf der anderen Seite des Flusses. Da es die Stunde war, in der zivilisierte Menschen ihr Mittag­essen einnahmen, konnte ich darauf hoffen, meinen Freund Brendon Smith bei Henry anzutreffen. Er arbeitete ganz in der Nähe als Sport­redakteur bei der Chicago Tribune und vielleicht hatte er ja was auf Lager, das meine Mundwinkel wieder etwas nach oben verrückte.

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Wollten an diesem Tag alle Bewohner dieser verdammten Stadt dorthin? Der Verkehr legte den Schluss nahe. Ich brauchte doppelt so lange wie normal, bis ich an der Ecke East Illinois/North Rush Street eintraf. Die Hitze im Auto gab mir eine ganz gute Vorstellung davon, wie sich ein Hühnchen im Kochtopf fühlte. Nur noch der Gedanke an einen extra starken Kaffee, der seine Herkunft nicht den kleinen schwarzen Bohnen, sondern den gelben vom Mais verdankte, hielt mich jetzt aufrecht.

Bei Henry's war es so voll, dass ich das ganze Lokal absuchen musste, bis ich einen freien Tisch erspähte. Brendon allerdings nicht. Natürlich, wieso sollte heute auch irgendetwas nach Wunsch gehen? Ich entledigte mich meines Huts und lockerte auch die Krawatte ein bisschen. Zum Glück schien der Kellner meine Bedürftigkeit zu ahnen und ließ nicht lange auf sich warten.

»Der übliche Kaffee?« Ich nickte. »Ja, aber extra stark.« Auch das ärgerte mich in diesem Moment. Wieso mussten er­

wachsene Männer sich dieser albernen Tarnsprache bedienen, nur weil sie das Bedürfnis nach einem Grundnahrungsmittel verspürten? Hatte unsere Regierung immer noch nicht mitgekriegt, dass ihr glorreiches Prohibitionsgesetze nur eine Folge hatte - dass nämlich noch mehr gesoffen wurde als früher?

Was der Kellner mir gleich darauf in der üblichen Tasse servierte, erwies sich zum Glück aber als trinkbar. Und wieder einmal ereignete sich das Wunder. Beim dritten Schluck ging irgendwo tief in mir drin die Sonne auf und ich sagte mir, dass ich so übel nun auch wieder nicht dran sei. Ich ließ mir allerlei Katastrophen durch den Kopf gehen, die mir in der letzten Woche nicht zugestoßen waren. Und wer konnte schon wissen, ob nicht nächste Woche schon...

*

»Pat, alter Junge!« Brendon schob seine auf fast zwei Meter verteilten annähernd zweihundert Pfund fröhlich schwitzend auf meinen Tisch zu. Gleichzeitig gab er dem Kellner ein Zeichen, in manchen Dingen

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war er wirklich unschlagbar. Als er sich zu mir setzte, brachte der Kell­ner gleichzeitig auch schon eine Tasse, auch diesmal extra stark. »Viel Zeit hab ich nicht«, ließ Brendon mich wissen. »Mehr als ein schnelles Steak ist nicht drin. Hast du schon gegessen?«

Prompt knurrte mein Magen. Erst Brendons Auftauchen schien meinen Organismus daran zu erinnern, dass es noch anderes als flüs­sige Nahrung gibt, wonach es ihn dann und wann gelüstete. Wir be­stellten also beide Steaks.

»Mehr ist heute auch nicht nötig.« Brendon schob sich eine Zigar­re zwischen die Kiemen. »Überhaupt, da fällt mir ein - komm doch einfach mit heute Abend!« Sein mächtiger Schädel verschwand hinter einer ersten Rauchwolke.

Ich hatte absolut nichts vor an diesem Abend, aber es war ja nicht notwendig, das Brendon sofort auf die Nase zu binden. Erfolgreiche Menschen hatten am Wochenende schließlich jede Menge vor. »Heute Abend?«, echote ich daher gedehnt, als müsste ich nachdenken.

»Wohltätigkeitsgala.« Brendon grinste. »Alles nur vom Feinsten. Eine illustre Gesellschaft.«

Einen abschreckenderen Vorschlag hätte Brendon mir gar nicht machen können. »Dazu gehöre ich zum Glück nicht«, brummte ich. »Oder sagen wir es mal so - eine illustre Gesellschaft besteht für mich aus Jack Daniels und seinen Kumpels. Müsstest du eigentlich wissen.«

»Weiß ich auch.« Brendon lachte dröhnend und bedachte mich mit einem väterlich aufmunternden Blick. Flüchtig müsste ich an mei­nen alten Herrn denken, der lange vor mir mit Brendon befreundet gewesen war. Brendon war ein ziemlich wesentlicher Teil des Erbes, das er mir hinterlassen hatte. »Genau deshalb mach ich dir doch den Vorschlag«, fuhr Brendon fort. »Wenn der alte Cyril Hawkins zu einem guten Zweck einlädt, ist Jack Daniels natürlich mit von der Partie. Und etliche seiner Freunde.«

Schlecht hörte sich das nicht an. Und wie gesagt, ich hatte noch nichts vor. »Und wer ist dieser Cyril Hawkins? Wen unterstützt der denn mit seiner Gala? Abgehalfterte Boxer?« Ich grinste Brendon an. Mal abgesehen von einem ordentlichen Schluck war Sport nämlich alles, was ihn interessierte.

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»Das ist jetzt nicht dein Ernst.« Brendon blies seine Backen auf und wies mit einem fleischigen Daumen auf die Mitte des Tisches. Wie auf jedem anderen standen hier einige Flaschen, Ketchup und Worcester-Sauce, aber auch zwei Gläser. Das eine enthielt Ahorn-, das andere Cranberry-Sirup. Und tatsächlich prangte auf dem Etikett der Name Hawkins.

»Ach, der Hawkins!« Die Produkte mit diesem Namen zählten lan­desweit so sehr zum Alltag, dass ich nie daran gedacht hatte, einen le­benden Menschen damit zu verbinden. »Seit wann verkehrst du mit Industriellen dieses Kalibers?«

Brendon lachte wieder und machte eine wegwerfende Geste. »Hawkins kommt aus ganz einfachen Verhältnissen und hat sozusagen mit nichts angefangen. Er ist steinreich geworden mit seiner Saftfabrik, aber nicht zum Schnösel mutiert. So richtig vom alten Schrot und Korn. Und einen guten Boxkampf weiß er auch immer zu schätzen. Wie ist das nun, begleitest du mich?« Der Kellner servierte unsere Steaks, was Brendons Augen hungrig aufleuchten ließ.

»Okay, ich komme mit«, ließ ich mich endlich herab. »Du musst dich natürlich ein bisschen in Schale werfen«, glaubte

Brendon mir raten zu müssen. »Das große Fressen und Saufen zum guten Zweck findet nämlich im Morrison statt, Madison Ecke Clark Street, falls du nicht weißt, wo das ist.«

Ich erinnerte Brendon daran, dass mein Büro nur ein paar Blocks von diesem Nobelhotel in der Loop entfernt war. Nebenbei staunte ich, mit welcher Geschwindigkeit er sich sein Steak einverleibte.

»Gut, dann treffen wir uns dort.« Er griff schon nach seiner Ser­viette. »Halb neun, ist dir das recht? Ich muss jetzt wieder, gleich be­ginnt die Redaktionssitzung.«

Brendon winkte den Kellner herbei, zahlte und vergaß dabei nicht den Hinweis, dass meine Tasse schon wieder mal leer war. Erkannte man daran nicht einen richtig guten Freund?

Brendon wälzte sich aus dem Lokal und ich beendete mein Essen deutlich besser gelaunt, als ich es begonnen hatte. Und eine weitere Portion vom extrastarken Kaffee verhalf mir exakt zu jener Bett­

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schwere, die geeignet war, mir die Stunden bis zum Abend buchstäb­lich im Schlaf vergehen zu lassen.

*

Der Abend erlebte mich frisch und ausgeruht. Noch immer erinnerte die Luft an flüssiges Blei. Über dem Lake Michigan hing ein Gewitter, das sich leider nicht zu einer Entladung bequemen wollte. Frisch ge­duscht, in weißem Hemd und meinem besten Anzug müsste ich auf­passen, mich nicht zu schnell zu bewegen. Sonst hätte ich schnell wie­der ausgesehen wie ein zerkochtes Hühnchen und ich wollte Brendon schließlich nicht blamieren. In Zeitlupe schlenderte ich zu meinem Wa­gen und bevor ich losfuhr, öffnete ich sämtliche Fenster. Immerhin kam auf diese Weise der Hauch eines Luftzugs zustande. Allzu viel Verkehr herrschte nicht, zumindest bis ich in die Nähe des Morrison gelangte. Schon etliche hundert Meter vor dem Nobelhotel setzte das Schaulaufen der Edelkarossen ein. Um meinem bejahrten Plymouth Minderwertigkeitskomplexe zu ersparen, stellte ich ihn in einer ruhigen Seitenstraße ab und ging den Rest zu Fuß.

Dabei dachte ich über Sinn und Zweck von solchen Wohltätig­keitsgalas nach. Was waren das für Menschen, die es sich nicht gut gehen lassen konnten, ohne gleichzeitig so großes Aufhebens davon zu machend Schmeckte es ihnen besser, wenn sie dabei fotografiert wurden? Oder hatte es eher mit einer puritanischen Grundhaltung zu tun und es ging einfach darum, dem Prassen und Schwelgen im Luxus das Mäntelchen der Barmherzigkeit überzustülpen? Ein mehr als durchsichtiges Mäntelchen, wenn man bedachte, in welchem Verhält­nis der Erlös solch eines Abends zu dem stand, was die daran Beteilig­ten für ihre Limousinen oder ihre Garderobe auszugeben pflegten.

Wobei das Ergebnis von Letzterem und soweit es die weiblichen Anteile des Großereignisses betraf, höchst angenehm anzusehen wa­ren. Ich staunte wieder einmal, wie aus einer Frau, die mit einem Wo­chengehalt von beispielsweise 30 Dollar der Männerwelt kein müdes Augenblinzeln entlockt hätte, mit dem Vielfachen dieser Summe zu

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verblüffenden äußeren Reizen kam. Ich gebe zu, das ist mir bei Frauen doch wichtiger als die berühmten inneren Werte.

Dass ich mich meinem Ziel näherte, verrieten mir die Schwaden von exklusiven Parfüms, die über der Straße schwebten. Und es glich jedes Mal einer kleinen Theaterinszenierung, wenn ein Luxusschlitten am Straßenrand stoppte, dann der Fahrer herausstürzte und die Tür des Fonds aufriss. Zuerst stieg dann der aus, der das ganze Spektakel finanzierte, meist schon älter, aber immer vom Scheitel bis zur Sohle Seriosität verströmend. Danach dann der Höhepunkt - die Lady schälte sich aus dem Auto.

Ich fand es nett, zuerst immer nur Schuhe zu sehen, mit mehr o­der weniger schlanken Fesseln, dann noch etwas mehr Bein, eine hil­fesuchend ausgestreckte Hand. Sobald die ergriffen wurde, kam der Rest der Person zum Vorschein, Abendroben wurden glatt gestrichen, Stolen und Frisuren auf ihren perfekten Sitz überprüft. Und all dies, ein höchst banaler Akt ja im Grunde, gekrönt von dem Lächeln, das den Stars aus Hollywood abgeguckt war. Und wenn dann tatsächlich ein Reporter in der Nähe war und ein Blitzlicht aufzuckte - Zufriedenheit und Stolz wie nach einer gewonnenen Schlacht.

*

»Pat, altes Haus! Fast hätte ich dich nicht erkannt!« Brendon winkte mir zu. Er trug tatsächlich einen Smoking, richtig verkleidet kam er mir vor.

»Was soll das heißen?« Ich schaute an mir herunter. Sogar meine Schuhe waren spiegelblank. »Was nicht in Ordnung mit mir?«

»Aber nein, ganz im Gegenteil!« Schwungvoll ließ Brendon seine Pranke auf meiner Schulter landen. »Wenn du willst, kannst du ja rich­tig was hermachen!«

Ob das aus Brendons Mund wirklich ein Kompliment war, ließ ich mal dahingestellt sein. Ich inhalierte noch einmal tief, dann trat ich die Lucky auf dem Asphalt aus. »Ehrlich gesagt, ich habe Durst«, erinnerte ich meinen Freund an den Hauptzweck dieses Abends.

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An zahllosen Livrierten vorbei schoben wir uns in die Lobby des Hotels. »Das ist Hawkins«, wies Brendon mich auf einen Mann hin, der dastand, als wolle er eine Parade abnehmen. Er steckte in feinstem Zwirn, seine Hände waren perfekt manikürt und über seinem im­posanten Bauch spannte sich die Kette einer goldenen Uhr. Verkleidet wie Brendon wirkte er zwar nicht, aber man sah dem etwa Sechzigjäh­rigen doch an, dass er nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden war. Er redete laut, schüttelte eine Hand nach der anderen und vermutlich machte auch ihm die Schwüle zu schaffen. Sein Kopf war jedenfalls knallrot.

»Müssen wir da hin?«, fragte ich seufzend, als Brendon mich in seine Richtung bugsierte.

»Bloß kurz Pfötchen geben.« Brendon grinste. »Dann kriegst du auch, was du willst.«

Brendon und Hawkins begrüßten sich mit einer schulterklopfenden Umarmung. Hawkins war zwar einen guten Kopf kleiner als mein Freund, aber dennoch wusste er sich ihm gegenüber gut zu behaup­ten. Ich hielt mich etwas abseits, um die beiden ungestört plaudern zu lassen. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis Brendon mich am Arm packte und Hawkins vorstellte. »In Ermangelung einer besseren Hälfte habe ich den hier mitgebracht«, sagte er augenzwinkernd zu Hawkins. »Er ist auch bestimmt stubenrein.«

Hawkins quittierte das mit einem fröhlichen Lachen, während ich mich mit einem säuerlichen Grinsen begnügte. Was tat ich mir hier eigentlich an?

»Jetzt komm schon«, forderte Brendon mich auf. Andere Gäste drängten schon nach und ließen mir sowieso keine

andere Wahl. »Wenn du mich jetzt nicht ganz schnell zur Bar lotst...« Ich wollte zu einer Drohung ansetzen.

Doch im Unterschied zu mir schien Brendon die Räumlichkeiten zu kennen, oder der Riese hatte einfach bessere Chancen als ich, in dem Gedränge die Bar zu entdecken. Jedenfalls saß ich erfreulich schnell am Tresen und was ich vor Augen hatte, gefiel mir noch sehr viel bes­ser als die elegant gekleideten Ladys, die hier ebenfalls schon saßen. Um ehrlich zu sein, gingen mir die Augen über. Eine ganze Batterie

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von Flaschen war vor einem Spiegel aufgereiht. Eine wahrhaft illustre Gesellschaft. Und Jack Daniels, mein guter alter Freund, wirkte unter all den berühmten Namen eher wie ein etwas ärmlicher Verwandter. Als ich den Maker's Mark entdeckte, war ich mit allem versöhnt, was der Abend noch bringen mochte. Zumal der Mann, der all diese Fla­schen unter seinem Kommando hatte, kein bisschen vorsichtig beim Einschenken war.

Auch Brendon wirkte sehr zufrieden, als er dem Klirren der Eiswür­fel in seinem Glas lauschte. »Gib's ruhig zu, du hast schon schlechtere Abende erlebt!« Grinsend hob er sein Glas.

Für eine Weile saßen wir dort und vergaßen ganz und gar, wo wir uns befanden. Das Zeug in unseren Gläsern schmeckte verboten gut und sobald wir sie leer abstellten, sorgte der aufmerksame Barmann für Nachschub. Für mich konnte der Abend eigentlich gar keinen ande­ren Höhepunkt mehr haben. Ausgenommen vielleicht die Blonde, die etwa zwei Meter entfernt von mir saß und mein Lächeln schon zweimal erwidert hatte. Störend war höchstens der Mann, der zwischen ihr und mir saß und seine Linke unnötig besitzergreifend auf ihrem Knie abge­legt hatte.

*

»Zeit zum Essen«, erklärte Brendon und ließ sich vom Hocker plump­sen.

Drei bestens gefüllte Gläser hatte ich schon intus. Es sprach also nichts gegen ein Intermezzo aus weniger flüssigen Lebensmitteln. Wir mussten nur dem Geräuschpegel folgen, um in den großen Saal zu ge­langen. Fast alle hatten schon an einem der vielen runden Tische Platz genommen, blütenweißer Damast, schweres Kristall, blank poliertes Silber. Jede Menge Blumengebinde brachten neue Nuancen in die Par­fümwolken über den Tischen.

Brendon schien zu wissen, wo uns Plätze zugeteilt waren und so folgte ich ihm einfach quer durch den Raum. »Erzähl mir endlich, zu wessen Gunsten wir uns hier den Bauch voll schlagen werden«, bat ich ihn.

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»Das sind gleich mehrere soziale Einrichtungen.« Brendon nannte Namen, die ich nie im Leben gehört hatte. Aber ich war eben nicht vermögend genug für ein karitatives Hobby. »Hawkins hat eine Samm­lung initiiert«, fuhr Brendon fort. »Heute Abend wird bekannt gege­ben, wie viel dabei zusammengekommen ist. Und wie man munkelt, wird Hawkins dann den Betrag aus eigener Kasse noch mal verdop­peln.«

Er blieb vor einem Tisch stehen, der für meinen Geschmack etwas zu zentral war. Außerdem ganz in der Nähe des Saftfabrikbesitzers. »Mitten bei der Prominenz?«, fragte ich Brendon unbehaglich. An ei­nem Tisch irgendwo am Rand hätte ich mich wohler gefühlt.

Brendon lachte nur und drückte mich auf meinen Stuhl. Gleich am Tisch nebenan saß Hawkins und prostete uns mit einem Champag­nerkelch zu. Also Sprudelwasser zum Essen. Ich sagte mir, dass der Whiskey anschließend umso besser schmecken würde. Dann inspizier­te ich unsere Tischnachbarn. Da waren drei ältere Paare, denen man die Langeweile der Eheroutine von weitem ansehen konnte. Neben Brendon saß eine schon ältere Frau ohne Begleitung, die sich von den Vorzügen ihrer verflossenen Jugend immerhin ein Lachen erhalten hatte, das Brendon auf Anhieb gefiel.

Ich hatte natürlich auch eine Tischdame. Sie saß zu meiner Rech­ten und trug ein Kleid, das am Hals zwar für meinen Geschmack unnö­tig hochgeschlossen war, dafür aber den sehenswerten Rücken frei­ließ. Die Arme auch, schlank und leicht gebräunt. Ansonsten lag das Kleid genauso eng um ihren Körper, dass für die Fantasie wenig Spiel­raum blieb. Ich nannte ihr meinen Namen und studierte dabei ihr Ge­sicht. Da es mir nicht gelingen wollte, ihr Alter zu schätzen, vermutete ich, dass sie etwa so alt war wie ich. Mitte dreißig also, nicht mehr ganz jung, noch nicht richtig alt. Und besser in Form als ich, gar keine Frage. Sie lächelte mich liebenswürdig an, eine ihrer aschblonden Lo­cken fiel ihr in einem vermutlich genau kalkulierten Bogen über die Stirn. Ihre Augen hatten das Blau eines leicht diesigen Sommerhim­mels. Was mir aber besonders gut gefiel - sie hatte ihr Champagner­glas noch nicht angerührt. Was sie in der Hand hielt, sah nach Whis­key aus.

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»Viel zu schade, um es auf einen Schluck runterzukippen«, erklär­te sie mir. Sie hieß Mary Baldwin. »Sie sind fremd hier?«

Ich stritt es nicht ab. Wieso hatte ich mir eigentlich von der Bar nicht auch ein Glas mitgebracht? Weil sonst nichts da war, nippte ich am Champagner. Mary Baldwin hielt es für notwendig, mir meine Fremdheit zu nehmen, indem sie mich Interna über die Gäste wissen ließ. Und natürlich über die Hawkins. Sie schien sich bestens auszu­kennen.

»Da schreiben Sie doch bestimmt für so eine Klatschkolumne«, mutmaßte ich.

Ich lag völlig daneben, doch sie verübelte es mir nicht. »Ich gehö­re fast zur Familie«, gestand sie mir kichernd. »Als Hausdame weiß ich notgedrungen Bescheid. Wo ja Mistress Hawkins leider schon etliche Jahre nicht mehr lebt... Ach, das ist übrigens Dave!« Sie machte mich auf einen jungen Mann aufmerksam, der sich jetzt auf den leeren Stuhl neben Cyril Hawkins setzte. »Cyrils Sohn«, klärte sie mich auf. »Und seit einiger Zeit nun auch schon dessen rechte Hand in der Fir­ma.« Obwohl der ziemlich gut aussehende Dave sie keines Blickes würdigte, lächelte sie zu ihm hinüber. Da war eine gute Portion müt­terlicher Stolz mit im Spiel. Obwohl sie ja gar nicht so viel älter war als er. Allzu weit entfernt lag sein dreißigster Geburtstag bestimmt nicht mehr. »Aller Wahrscheinlichkeit nach«, fuhr sie fort, »wird er die Firma bald leiten. Und das bestimmt genauso gut machen wie sein Vater!«

Sie setzte das inzwischen leere Whiskey glas ab und griff zu jenem mit Champagner. Im selben Moment tat das am Tisch nebenan auch Cyril Hawkins. Dann prosteten die beiden sich zu und die Blicke, die dabei hin- und hergingen, ließen mich vermuten, dass Mary vielleicht mehr als nur Hausdame bei den Hawkins war. Es hätte nur für den Geschmack des Firmengründers gesprochen. Und was sprach dage­gen, wo seine Ehefrau ja schon das Zeitliche gesegnet hatte?

Dann erhob sich Hawkins. Richtig, Reden gehörten ja auch zu sol­chen Veranstaltungen! Noch einmal vermisste ich einen ordentlichen Whiskey im Glas. Aber erfreulicherweise fasste Hawkins sich kurz.

»Erst einmal danke, dass Sie erschienen sind. Der Zweck des A­bends ist Ihnen bekannt und auf Einzelheiten komme ich zu sprechen,

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nachdem wir uns ein bisschen gestärkt haben. Ich wünsche einen gu­ten Appetit!«

Damit setzte er sich wieder und wenn er mich angeschaut hätte, hätte ich ihm zugeprostet. Ein Mann, der sich so knapp halten konnte, gefiel mir.

*

Gleich darauf setzte ein wahres Zirkusspektakel ein. Eine zweiflügelige Tür am anderen Ende des Saals wurde aufgestoßen und dann strömte die Parade der weiß befrackten Kellner herein, immer zwei ne­beneinander, insgesamt zählte ich ungefähr sechsundzwanzig. Alle gin­gen im Gleichschritt und alle balancierten silberne Tabletts, auf denen sich etwas befand, was man wegen der riesigen, ebenfalls silbernen Hauben darauf nicht erkennen konnte. Bald stand jeder Kellner vor ei­nem Tisch, alle Gespräche waren verstummt. Irgendwoher kam dann für die Weißfräcke wohl ein Kommando, wie sonst wäre es ihnen mög­lich gewesen, die silbernen Hauben im exakt selben Moment in die Luft zu reißen. Ich sah, wie Dampfwolken den silbernen Platten entstiegen und laute Ahs und Ohs wurden laut.

»Flusskrebssuppe«, raunte mir Mary zu. Was der Kellner an unserem Tisch dann ankündigte, bestand aus

mindestens zehn sehr komplizierten Worten, lief aber aufs selbe hin­aus. Flusskrebssuppe. Er begann, unsere Teller zu füllen. Ein weiterer Kellner stellte getoastetes Brot auf den Tisch, außerdem mehrere Schüsseln mit etwas, das ganz nach Mayonnaise aussah.

»Das streichen Sie sich aufs Brot«, ließ mich meine Tischnachbarin fürsorglich wissen. »Dann können Sie das Ganze in der Suppe versen­ken. So machen das die Franzosen.«

Wieso sollte ich das dann tun? War ich etwa Franzose? Meine Vor­fahren stammten aus Irland. Wofür ich mich noch nie geschämt hatte. Na ja, fast nie. Ich ließ meinen Blick zu Hawkins senior hinüberschwei­fen. Wie reagierte der wohl auf derart dekadente Genüsse?

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Ich hätte ihm eher ein Hacksteak zugetraut. Aber ich lag falsch. Er strahlte übers ganze Gesicht, als ein üppig gefüllter Teller vor ihm ab­gesetzt wurde. Und die Mayonnaise strich er sich fingerdick aufs Brot.

»Oh nein!«, hörte ich Mary murmeln. Auch sie sah Hawkins zu. »Wieso klappt das denn nicht? Er muss doch was anderes kriegen!«

Das war bestimmt nicht für meine Ohren gedacht und so sagte ich nichts darauf.

Mary Baldwin aber begann, mir von seinen Herzproblemen zu er­zählen. Da war die Mayonnaise einfach Gift für ihn! Und die Schalen­tiere durfte er auch nicht essen, er litt doch außerdem unter Gicht!

Hawkins merkte offenbar, dass Mary Baldwin sich um seine Ge­sundheit sorgte. Er sah kurz zu ihr herüber und grinste breit. Dabei biss er genüsslich in das mit Mayonnaise bestrichene Brot.

»Er ist in manchen Dingen wie ein Kind!«, seufzte sie. »Wenn man nicht hinten und vorne aufpasst... Dabei ist es doch nur zu seinem Besten!«

War Hawkins etwa ein reicher Mann, aber in gewisser Hinsicht doch arm dran? Ich musste unwillkürlich grinsen. Die Gier, die in Haw­kins Gesicht geschrieben stand, gefiel mir eigentlich ganz gut. Auch wenn sie ungesund sein mochte. Ich beobachtete ihn weiterhin. Er wollte jetzt schon zu seinem Löffel greifen, als sein Sohn ihn ansprach. Der Alte schien unwillig zu sein über die Störung und womöglich sagte er das auch zu seinem Sohn.

Jedenfalls kam ein Kellner hinzu und er wechselte den Teller vor dem Seniorchef gegen einen anderen aus.

»Die Hafersuppe«, hörte ich Mary Baldwin zufrieden murmeln. »Gerade noch rechtzeitig.«

Gleich darauf bemerkte es Baldwin. Er schoss seinem Sohn einen wütenden Blick zu, dem er anscheinend die Schuld für den Austausch der Teller gab. Dave Hawkins nahm es gelassen und freundlich hin. Dann begannen alle zu löffeln, auch an unserem Tisch. Auch Hawkins löffelte sein Hafergeschlabber. Und wirklich, er tat mir Leid. Denn die Suppe war nach jenem Whiskey vorhin seit sehr langer Zeit das Beste, was meinen Geschmackspapillen jemals untergekommen war. Ich ris­kierte es sogar, Marys Ratschlag mit dem Brot auszuprobieren. Und

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verdammt noch mal, wenn das die Franzosen so aßen... übel war das nicht.

»Na, alter Junge?« Brendon strahlte mich über den Tisch hinweg an und griff zu seinem Champagnerglas. Er war rundum zufrieden und auch hier ließ er es sich nicht nehmen, den kleinen Schalentieren in seinem Teller gegenüber handgreiflich zu werden. Vermutlich lagen die Panzer eher aus dekorativen Gründen am Rand des Tellers, ihr Fleisch war bereits ausgelöst worden. »Du musst die Beinchen knacken!«, rief Brendon mir zu. »Was da drin steckt, schmeckt am besten!« Er knack­te und schlürfte dann den Inhalt, sein Mund glänzte ölig.

Nach kurzem Zögern tat seine Tischnachbarin es ihm gleich. Wir anderen blieben bei der etwas zivilisierteren Löffelmethode.

Dann ging alles Schlag auf Schlag. Zweiter Gang, dritter Gang, je­des Mal vollführten die Kellner dasselbe Ballett. Was immer serviert wurde, es schmeckte vorzüglich. Ich schielte immer wieder zu Hawkins senior hinüber. Er bekam jetzt dasselbe wie alle anderen, wenn auch immer nur höchstens eine halbe Portion. Und die verschlang er jedes Mal so schnell, dass sogar Brendon sich daran noch ein Beispiel neh­men konnte.

Nach dem fünften Gang wurde bis zum Dessert eine Pause ange­kündigt. »Jetzt wird Hawkins das Ergebnis der Sammelaktion verkün­den«, meinte Brendon. »Und nach seinem Scheck greifen.«

Dass einige Leute aufstanden, nahm ich als Fingerzeig. »Ein Whis­key so zwischendurch wäre jetzt eine gute Verdauungshilfe«, schlug ich Brendon vor.

Der war sofort einverstanden, auch seine Tischnachbarin schloss sich uns an. Sie hieß Brenda. Ob Brendon sich deswegen so gut mit ihr verstand? Auch als wir an der Bar saßen, hatte er nur Augen für sie. Mir sollte es recht sein, ich hatte ja ein gut gefülltes Glas.

Außerdem begann jetzt wirklich Hawkins zu reden. Ich konnte ihn von der Bar aus sehen und da er über eine kräftige Stimme verfügte, würde ich ihn auch hören können. Die Hand fest um mein Glas gelegt, fühlte ich mich einigermaßen gewappnet, ganz ruhig zu bleiben, egal, von welchen Summen Hawkins jetzt gleich reden würde.

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Aber er sagte dann gar nicht mehr viel. »Meine Damen und Her­ren.« Danach sollte eine Kunstpause folgen. Doch es wurde sehr viel mehr daraus. Denn ganz plötzlich sackte der Firmenchef in sich zu­sammen, maßloses Erstaunen im Blick. Dann schlug sein Kopf auf dem Tisch auf, genauer gesagt, auf dem noch nicht abgeräumten Teller. In dem Rest von Kartoffelpüree lag sein Gesicht sanft gebettet. Aber ob er das auch noch spürte?

Sofort brach Tumult aus, verschiedene Stimmen riefen nach einem Arzt, auch das Wort Polizei hörte ich. Unter den Gästen befanden sich gleich mehrere, die der heilkundlichen Profession nachgingen und mindestens fünf Männer kümmerten sich gleich darauf um Hawkins.

»Sein Herz!«, rief Mary Baldwin bekümmert. »Das hat ja so kom­men müssen!«

Dave Hawkins war ebenfalls um seinen Vater bemüht. Er sah er­schrocken aus und sehr blass und als sein Vater auf eine Trage ver­frachtet worden war, hielt er seine Hand und ging mit hinaus.

Im Saal blieb Ratlosigkeit zurück. War der Abend hiermit beendet? Noch vor dem Dessert? Und ohne, dass der Erlös der Wohltätigkeits­gala bekannt wurde?

Mir war das eigentlich egal, solange der Barkeeper immer wieder mein Glas füllte.

»Dave weiß bestimmt, was er jetzt zu tun hat«, meinte hingegen Brendon. Ihm schmeckte der Whiskey anscheinend nicht mehr. Aber Cyril war ja auch ein Freund von ihm, kein Wunder, dass ihm das auf den Magen geschlagen hatte. Nicht mal Brenda vermochte ihn aufzu­heitern. »Vielleicht gehen wir?«, wandte er sich an mich.

Die Flasche Maker's Mark war noch lange nicht geleert. Und selbst wenn, es würde mehr davon geben. Eigentlich sah ich keinen sinnvol­len Grund, das Lokal zu wechseln. Bis auf Brendons plötzlich ganz schwermütig Augen.

»Okay, schieben wir ab«, lenkte ich da ein. Brenda wollte nicht mitkommen. Und als wir das Morrison verlie­

ßen, kehrte Dave Hawkins gerade wieder zurück. Die Sirene des Kran­kenwagens draußen wurde schon leiser. Dave wirkte wieder gefasst und bestimmt würde er jetzt gleich in die Rolle seines Vaters schlüpfen

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und dafür sorgen, dass die Gala das geplante Ende nahm. Mit einer tollen Rede, einem dicken Scheck und allem Drum und Dran.

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»Lass uns ein paar Schritte gehen«, schlug Brendon vor dem Hotel vor.

Hawkins' Zusammenbruch musste ihm wirklich an die Nieren ge­gangen sein. Denn bei aller Begeisterung für Sport hütete er sich sonst, seinen eigenen Knochen eine überflüssige Bewegung zuzumu­ten.

»Es ist schade, dass du den Alten nicht näher kennen gelernt hast«, fuhr er schwer atmend fort. »Cyril ist wirklich ein feiner Kerl. Verdammt!« Er blieb stehen und schlug sich an die Stirn. »Jetzt weiß ich nicht mal, in welche Klinik sie ihn gebracht haben.«

»Das kriegst du doch morgen leicht raus«, beruhigte ich ihn. »Du rufst einfach den Sohn an. Oder Mary Baldwin.«

»Den Sohn?«, regte Brendon sich auf. »Den ganz bestimmt nicht!« Langsam ging er weiter. »Dave nimmt nie Rücksicht auf seinen Vater. Er ist ein richtiger...« Brendon stockte, anscheinend wollte ihm das passende Schimpfwort nicht einfallen.

»Mary redet aber ganz anders über ihn«, sagte ich. »Und mir kam es so vor, als würden Vater und Sohn sich glänzend verstehen.«

»Ja, weil das zu Cyrils Prinzipien gehört«, knurrte Brendon. »Die Familie geht ihm wirklich über alles. Nenn das von mir aus altmodisch. Mir gefällt es. Nur dass Dave da wohl so einiges falsch versteht.«

»Geht es um die Leitung der Firma?«, hakte ich nach, eher routi­nemäßig und aus Mitgefühl für Brendon. Die Familienverhältnisse der Hawkins interessierten mich einen feuchten Dreck. Über dem Lake Michigan zuckten nun tatsächlich ein paar Blitze auf. Bequemte sich das Gewitter endlich doch noch, uns und der Stadt ein bisschen Erfri­schung zu bringen?

»Klar, worum sonst.« Brendon seufzte. »Cyril ist einer der ganz wenigen, für die ich meine Hand ins Feuer lege, wenn du verstehst,

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was ich meine. Er hat es nicht leicht gehabt. Aber er ist dabei sauber geblieben. Absolut kein Dreck am Stecken. So was gibt's wirklich.«

»Dreck gehört ja auch wirklich nicht in den Cranberry-Sirup«, wit­zelte ich.

Aber Brendon ging darauf nicht ein. »Dave geht es nur ums schnelle Geld. Dabei scheint er wirklich kein schlechter Geschäftsmann zu sein. Na ja, kein Wunder, bei dem Vater! Er hat ja bei Cyril ge­lernt.«

Der übliche Generationskonflikt, ging es mir durch den Kopf. Der Sohn hat neue Ideen, der Alte will ihn nicht ranlassen. Plötzlich hatte ich wieder die Szene vor mir, wie Cyril Hawkins' Teller ausgetauscht worden war. Haferschleim statt Krebssuppe. Oder war das gar nicht Haferschleim gewesen? Mary Baldwin hatte das gesagt, aber den In­halt des Tellers so wenig sehen können wie ich. Aber wieso sollte es nicht Haferschleim gewesen sein?

Ein erster Donner rumpelte über die Stadt hinweg. »Schade, dass die Tochter derzeit verreist ist«, hörte ich Brendon sagen. »Jennifer ist ein tolles Mädchen, die würde auch dir gefallen. Und das Zeug zur Firmenleitung hätte sie so gut wie ihr Bruder.«

»Gleich wird es hier ziemlich feucht werden«, machte ich Brendon aufmerksam. »Wir sollten uns nach einem trockenen Plätzchen um­sehen.«

Schon platzten die ersten Tropfen auf dem Asphalt auf. Ein Blitz jagte den anderen und es klang, als würden am Himmel sehr schwere Möbel verrückt. Als es von einem Moment auf den anderen wie aus Kübeln zu schütten begann, kam auch Brendon zu sich. »Da drüben!«, machte er mich aufmerksam und rannte schon quer über die Straße.

*

Es war ein Speakeasy und Brendon kannte die Parole. »Immer wieder aufs Neue«, hörte ich ihn dem Türsteher zuflüstern. Es war das rich­tige Zauberwort, der vierschrötige Typ an der Tür ließ uns hinein. Wir schüttelten uns kurz, wie junge Hunde und quetschten uns an einen freien Tisch. Was wir dann bald vor uns stehen hatten, konnte sich mit

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dem Maker's Mark natürlich nicht messen. Aber gepanscht war das Zeug eindeutig nicht und es war ganz nett, im Trockenen zu sitzen, während draußen das Gewitter tobte. Auch schien der etwas herunter­gekommene Schuppen sich günstig auf Brendons Gemüt auszuwirken. Er beruhigte sich zusehends und erzählte von den alten Zeiten, als er wohl des Öfteren mit Cyril Hawkins um die Häuser gezogen war. Von Anekdote zu Anekdote lachte er lauter und wir leerten unsere Gläser fast im Akkord.

Irgendwann schien es mir an der Zeit, den Abend zu beenden. Ich erkannte es daran, dass mir mehrmals eine Lucky aus den Händen fiel. Und dann auch das Feuerzeug. Brendon war einverstanden. Er kam mir etwas wackelig vor, als er sich auf seine Füße stellte. Aber viel­leicht täuschte ich mich auch. Jedenfalls wurde er plötzlich wieder sehr ernst. »Warte doch draußen auf mich«, schlug er vor. »Ich werde mal nachschauen, ob es hinten ein Telefon gibt.«

Wir legten beide ein paar Scheine auf den Tisch, die wohl ausrei­chen müssten, um unsere Drinks zu bezahlen. Als ich dann auf die Straße trat, dampfte es draußen. Das Gewitter hatte sich verzogen, aber so gut wie keine Abkühlung gebracht. Ich fingerte nach meinen Zigaretten und steckte mir ein Stäbchen zwischen die Lippen. Auf der Straße war so gut wie kein Verkehr, nur einmal schoss eine Limousine vorbei, etwa doppelt so schnell, wie es die Vorschriften vorsahen. Ich erkannte aber doch ein 1926er cremefarbenes Packard Coupé, das obendrein auffällige kastanienbraune Kotflügel hatte. Der Wagen war eine Art Markenzeichen. Und zwar vom Iceman, mit vollem Namen Salvatore Carpese. Die rechte Hand von Il Cardinale, dem Boss des italienischen Syndikats, hatte in dieser Nacht offenbar noch etwas höchst Wichtiges zu erledigen. Dass es nichts mit mir zu tun hatte, vermittelte mir ein gutes Gefühl.

Damit war es vorbei, als Brendon das Speakeasy verließ. Diesmal wankte er wirklich. Aber anscheinend hatte das nichts mit dem Whis­key zu tun. »Er ist tot!«, stieß er hervor und war so blass, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. »Stell dir das vor, der gute alte Cyril! Man konnte nichts mehr für ihn tun. Nur noch feststellen, dass es vorbei ist.«

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Ich hatte tatsächlich Bedenken, Brendon könne jeden Moment in die Knie gehen. So trat ich zu ihm. Da aber kam ihm eine leere Blech­dose zwischen die Füße. Er versetzte ihr einen heftigen Tritt. »Das Herz!«, schrie er. »Dass ich nicht lache. Cyril, dieser Baum von einem Mann!«

Alles, was Brendon in diesem Moment zu schaffen machte, ließ er an der Blechdose aus. Er kickte sie vor sich her und schimpfte dabei. Aber immerhin, dabei fing er sich wieder. Der Radau, den er dabei veranstaltete, lockte hier und da jemanden ans Fenster.

»Ruhe, verdammt noch mal!«, brüllte uns einer zu. »Ruhe? Von wegen!«, brüllte Brendon zurück. Als er der Blechdo­

se den nächsten Tritt versetzte, donnerte sie gegen die Fensterscheibe eines kleinen Ladens. Sie ging klirrend zu Bruch. Brendon begann zu kichern, aber er bequemte sich doch, etwas schneller zu gehen. So waren wir nicht mehr in Sichtweite, als der Besitzer auf die Straße stürzte.

»Ihr Hurensöhne!«, hörten wir ihn schimpfen. Brendon kicherte noch immer. Da erkannte ich meinen Plymouth,

öffnete die Beifahrertür und schubste Brendon hinein. »Wo hast du deinen Wagen abgestellt?«

»Weiß ich nicht«, murmelte er. »Bring mich einfach nach Hause, ja?«

Cyrils Tod schien ihm wirklich an die Nieren zu gehen. Er sprach kein einziges Wort mehr, bis ich ihn bei seiner Wohnung absetzte. Er steckte sich eine Zigarre in den Mund, zündete sie aber nicht an. Und als ich ihm Feuer geben wollte, schüttelte er nur den Kopf.

Ich sah ihm vorsichtshalber nach, bis die Tür hinter ihm zufiel und bis, noch etwas später, oben in seiner Wohnung Licht aufflammte. Mehr konnte ich im Moment wohl nicht für ihn tun. Und so fuhr auch ich nach Hause.

*

Am nächsten Morgen kauerte etwas auf meinem Kopf, was größer war als jeder Kater, dem ich je auf einer Straße begegnet war. Aber es war

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ja Samstag und so beschloss ich, ihn zu ignorieren. Ich zog mir die De­cke über den Kopf und als irgendwann das Telefon zu klingeln begann, hielt ich mir die Ohren zu. Wer immer mich anrief, er gab doch endlich auf. Das Tier über meinem Schädel ließ immer noch nicht zu, dass ich mich bewegte. Mir schien, es war klüger, ihm seinen Willen zu lassen. Dann klingelte es wieder, aber diesmal funktionierte die Sache mit der Decke nicht. Es hörte einfach nicht auf.

Und es war auch gar nicht das Telefon. Ich begriff, dass jemand gegen meine Wohnungstür hämmerte. Klang nach einem Abrisskom­mando. Konnte es da gut sein, wenn ich öffnete? Eher nicht, sagte ich mir und versuchte eine Drehung nach links, Richtung Wand. Sofort haute das Vieh auf meinem Schädel seine Krallen in mich. Und das Poltern an der Tür wollte kein Ende nehmen.

»Chef, jetzt machen Sie doch auf!« Was hörte ich da? Die Stimme meiner Halbtagskraft? Am heiligen

Samstagmorgen vor meiner Wohnungstür? Vielleicht war das letzte Glas gestern ja doch ein bisschen zu viel gewesen. Oder war da was drin gewesen, was mir jetzt Halluzinationen verschaffte?

»Aufmachen, Chef! Unten steht Ihr Wagen, ich weiß, dass Sie da sind. Und wenn Sie nicht allein sind, schau ich sie nicht an, verspro­chen!«

Was faselte Betty da? Ich schaffte es, meinen Oberkörper in die Vertikale zu bringen, wenn auch nicht ohne den Widerstand des Tiers. Konnten Krallen so lang sein, so scharf?

»Es geht um Ihren Freund Brendon«, rief Betty draußen so laut, als wollte sie die Information gleich dem ganzen Haus zukommen las­sen. »Es ist wichtig!«

Wichtig war, einen Fuß vor den anderen zu setzen, immer schön der Reihe nach. Und dabei immer schön senkrecht bleiben! Als Schutz gegen sperrige Gegenstände streckte ich beide Hände aus. Eine davon fand schließlich Halt an etwas Kühlem. Richtig, das war die Türklinke. Als sie sich zwar niederdrücken ließ, aber die Tür noch immer nicht aufging, erinnerte ich mich des Riegels und schob ihn beiseite.

»Oh Gott!«, rief Betty Meyer entsetzt, als sie eintrat. »Sie sehen ja vielleicht aus!«

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»Hab ich Sie gebeten, mich anzusehen?«, knurrte ich zurück. »Meines Wissens ist heute Samstag und...«

»Und Brendon will, dass Sie kommen.« Mit angewiderter Miene ging Betty zum Fenster und öffnete es.

»Wohin soll ich kommen?« Ich rieb mir das unrasierte Kinn und überlegte, wo ich eine Zigarette finden könnte.

»Polizeipräsidium. Hollyfield«, flötete Betty. »Menschenskind, Chef, ich denke, Sie waren dabei! Und wo es doch Mord war!«

Ob Betty ahnte, wie knapp sie im Moment davor stand, selbst zum Mordopfer zu werden? Mir gefiel die frische Luft so wenig wie das helle Licht, das von draußen ins Zimmer platzte.

»So aufgeregt hab ich Brendon noch nie erlebt«, erzählte sie und warf einen Blick in die kleine Kochnische. »Sie nehmen jetzt eine Du­sche, ja? Und ich bin so nett und koche Ihnen einen Kaffee.«

Ihr Arbeitsdrang war nicht normal. Sie erbot sich freiwillig zum Kaffeekochen? Und das am Wochenende? Aber mein Gehirn war ein­fach noch nicht so weit, um Antworten auf solche Fragen zu finden. Also überließ ich Betty sich selbst und mich dem Strahl aus der Du­sche. Kater sind wirklich wasserscheue Geschöpfe, jedenfalls spürte ich das Vieh bald nicht mehr. Und nach und nach kam mir wieder alles Mögliche in den Sinn. Zuerst sah ich den Teller, der ausgetauscht wur­de. Dann Brendon, wie er mit einer Blechdose Fußball spielte. Und nach und nach füllten sich die Lücken dazwischen.

»Jetzt sehen Sie ja fast wieder wie ein Mensch aus.« Betty grinste, als ich aus dem Bad kam. »Hier, Ihr Kaffee!« Sie drückte mir eine Tas­se in die Hand und stieß den Rauch ihrer Pall Mall aus.

»Und was will Brendon bei Hollyfield? Hat der an so einem Morgen nichts Besseres zu tun, als mit dem Leiter der Mordkommission zu plaudern?« Ich ließ mich in einen Sessel fallen.

»Anscheinend nicht«, erwiderte Betty. »Ich sag doch, er war furchtbar aufgeregt. Er hat anscheinend ein paar Mal hier angerufen. Und weil Sie nicht rangegangen sind, dann schließlich bei mir. Und weil es eilig sei, hat er gesagt, ich soll hier vorbeifahren. Weil er doch schon auf dem Präsidium ist. Ist ja wirklich ein Ding, so ein Mord vor aller Augen!« Die von Betty wurden kugelrund in diesem Moment.

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Ich sagte nichts. Brendon hatte mindestens so viel geschluckt am letzten Abend wie ich. War da zu erwarten, dass sein Verstand auch nur halbwegs normal arbeitete? Eher nicht. Und dann gleich noch Mord! Brendon hatte sich da einen ganz schönen Albtraum ausge­dacht. »Ich verstehe noch immer nicht, was er von mir will.«

Betty verdrehte die Augen. »Aber Sie sind doch Zeuge, Chef! Sie haben es auch gesehen. Und anscheinend glaubt Hollyfield Brendon nicht. Jetzt kommen Sie doch. Ist er Ihr Freund oder nicht?«

Wenn das auf diesem Planeten überhaupt jemand war, dann Brendon. Und Betty brauchte ich gewiss nicht dafür, um mir das in Erinnerung zu rufen. Ich streifte sie mit einem Blick, den sie hoffentlich genauso vernichtend empfand, wie er gemeint war. Dann leerte ich meine Tasse Kaffee. Viel zu schnell natürlich, das Zeug war kochend­heiß. Ich verbrannte mir die Zunge. Der Schmerz linderte immerhin das Tuckern in meinem Kopf.

»Also raus hier!« Ich griff nach Jacke und Hut. »Oder wollen Sie noch bleiben und sauber machen?«

Betty hielt es nicht für nötig zu antworten. »Sie könnten mich ein Stück mitnehmen. Schließlich habe ich heute eigentlich frei. Und es war reine Freundlichkeit, dass ich überhaupt zu Ihnen gekommen bin.«

Wenn sie auf ein Dankeschön von mir wartete, konnte sie darüber alt werden. Mein Plymouth hatte vorn links eine neue Beule. Hatte er sich die in der letzten Nacht geholt? Ich setzte mich ans Steuer, Betty beeilte sich, auf den Beifahrersitz zu kommen. Ich brauste los und versuchte mich mental darauf einzustellen, was mich bei Hollyfield erwarten würde. Wie redete ich Brendon das mit dem Mord wieder aus, ohne dass Hollyfield dabei allzu viel Spaß hatte?

»Da vorn können Sie mich rauslassen«, machte Betty mich auf­merksam. »Es ist doch in Ordnung, wenn ich am Montag 'ne Stunde später ins Büro komme? Als Ausgleich für...«

Ich bremste so hart, dass der Schluss ihres Satzes im Quietschen der Reifen unterging. Betty hatte dennoch die Chuzpe, mir beim Aus­steigen noch ein schönes Wochenende zu wünschen.

Ich vergalt es ihr mit einem leisen Fluch und fuhr weiter.

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*

Wahrscheinlich würde kein Flur in keinem Polizeipräsidium der Welt einen Preis für besondere Behaglichkeit gewinnen. Doch der, auf dem ich an diesem Samstagmorgen meinen Freund Brendon antraf, hätte garantiert einen Negativrekord aufstellen können. Abblätternder Putz an den Wänden, trüb verschmierte Fensterscheiben, alle paar Meter verbeulte Spucknäpfe, deren Inhalt ich lieber nicht genauer beschrei­ben will. Und angesichts der Löcher im Linoleum fragte man sich un­willkürlich, wie viele Rattenfamilien hier nachts das Sagen hatten. Schaudernd dachte ich daran zurück, dass dieser Flur einmal Teil mei­nes täglichen Arbeitsalltags gewesen war. Nein, früher war wirklich nicht alles besser gewesen. Freiwillig suchte ich seit jenen Zeiten ei­gentlich das Präsidium auch nicht mehr auf und das Verhältnis zwi­schen Hollyfield und mir hätte ich am ehesten als gespannte Waffen­ruhe beschrieben. Eigentlich wusste Brendon das und deshalb fand ich, er hätte mir gegenüber etwas Dankbarkeit zeigen können. Was er nicht tat.

»Pat, endlich!« Brendon wankte auf mich zu. Besonders unangenehm empfand ich den Geruch nach feuchtem

Kellerloch, abgestandenem Zigarettenrauch und noch etwas, das mir einerseits bekannt vorkam, irgendwie aber doch nicht hierher passen wollte.

Brendon sah erbärmlich aus und mindestens zehn Jahre älter, als er wirklich war. Als er näher kam, konnte ich auch die so besonders unangenehme Geruchskomponente entschlüsseln. So was entströmte einem Mann, der sehr viele Stunden lang sehr viel Bourbon in sich hi­neingekippt hatte. Brendon also. Er umklammerte mich mit seinen mächtigen Armen, als verwechsle er mich mit einem rettenden Stroh­halm. Damit der nicht gleich einknickte, musste ich mich ganz schön anstrengen. Schließlich lag auch hinter mir eine ziemlich alkoholschwe­re Nacht.

»Dieser Hollyfield ist der größte Ignorant, der mir je untergekom­men ist«, beschwerte Brendon sich.

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Zu so einem Urteil konnte Brendon nur kommen, weil er Holly­fields Adlatus Quirrer nicht kannte.

»Und ein Vollidiot ist er außerdem!«, schimpfte Brendon weiter. Auch diese Eigenschaft hätte ich eher Quirrer zugesprochen, in

dessen Schädel ich allen Erfahrungen nach kaum mehr als zweieinhalb graue Zellen vermutete. Aber vermutlich war Brendon an solchen Kor­rekturen im Moment nichts gelegen. Er redete sowieso so viel, dass ich gar nicht zu Wort kam. Leider drückte sich Brendon ziemlich unpräzise aus. Ich verstand rein gar nichts. Bis auf das Wort ›Mord‹, das ihm besonders leicht und oft über die Zunge kam. »Mord, ich sage es dir.« Er hielt mich noch immer an den Schultern und schüttelte mich. Sah er jetzt einen Baum voller reifer Äpfel in mir? »Cyril ist nie und nimmer einfach so gestorben. Und sein Herz war es schon gar nicht! Gift, sage ich dir! Ich hab ihn ja immer gewarnt vor den vielen Tabletten. Es ist viel zu leicht, da was hineinzumischen. Und hab ich dir nicht gestern schon gesagt, dass ich diesem Dave alles zutraue?«

Mir schwante Schlimmes. Hatte mein guter Freund dem Leiter der Mordkommission das so ähnlich serviert wie jetzt mir? Wenn dem so war, konnte ich Hollyfield beinahe verstehen. Wer glaubte schon so einem Geschwafel? Noch dazu, wo es mit Schwaden von Restalkohol aus Brendons Mund kam.

»Wieso hat du denn nicht zuerst mit mir darüber gesprochen?«, fragte ich, als Brendon doch mal für einen Moment die Puste ausging.

»Hab ich doch versucht!« Vorwurfsvoll sah er mich an. »Die ganze Nacht hab ich nicht schlafen können. Und irgendwann zwei und zwei zusammengezählt. Natürlich hab ich dich angerufen, immer wieder. Aber du hast ja nichts gehört.«

»Manchmal fällt es mir schwer, zwei Dinge gleichzeitig zu tun«, räumte ich ein. »Vor allem Schlafen und Hören. Wo steckt denn Holly­field jetzt?«

Brendon verzog angewidert das Gesicht. »Der misshandelt weiter­hin seinen Stuhl mit seinem fetten Arsch. Und mich schickt er einfach raus! So eine Frechheit! Dabei hab ich ihm gesagt, dass ich von der Zeitung bin. Und wenn wir da drüber berichten, wie hier mit anständi­gen Bürgern verfahren wird, wird er sich umsehen!«

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Hatte Brendon Hollyfield etwa auch noch gedroht? Ich als sein Freund wusste, was er hinter sich hatte - der plötzliche Tod eines na­hen Freundes konnte jeden aus der Bahn werfen. Hollyfield allerdings war so viel Feingefühl nicht zuzutrauen.

»Pat, du musst Klartext mit dem Kerl reden«, bedrängte mich Brendon. »Du kennst ihn doch von früher, auf dich wird der Sesselfur­zer hören!«

Eben verließ Brendons Hassobjekt sein Zimmer. Wie er da tituliert wurde, hörte Hollyfield garantiert. Doch da er Schlimmeres gewöhnt war, entlockte es ihm nur ein verächtliches Grinsen. Der Statur nach ähnlich groß und massig wie Brendon, betonte ein auffallender Gürtel seinen eindrucksvollen Leibesumfang. Er trug kein Jackett und hatte die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt. Das Halfter verpasste dem Hemd erste Schweißflecken.

Obwohl der Leiter der Mordkommission wusste, dass ich mit Bren­don befreundet war, tat er erstaunt, als er mich sah. »So früh am Mor­gen schon unterwegs?« Er verzog seine Lippen zu einem kurzen Grin­sen, dann setzte er eine betont dienstliche Miene auf und fixierte Brendon. »Tja, Mister Smith. Dave Hawkins wird nun gleich hier sein.« Er war Brendon wohl etwas zu nahe gekommen. Denn jetzt verzog er angeekelt sein Gesicht. »Mann, Sie stinken vielleicht!«

Manchmal konnte Brendon, ansonsten doch ein wahrlich gestan­dener Mann, wirklich erstaunlich naiv sein. Sein Ärger schwand näm­lich und einen kurzen Moment lang fürchtete ich, er wolle dem Leiter der Mordkommission erleichtert um den Hals fallen. »Und dann verhaf­ten Sie ihn, ja?«

»Verhaften? Mister Dave Hawkins? Wieso das denn?« Hollyfield bedachte meinen Freund mit einem Blick, als überlege er, ob er Bren­don diese Behandlung zukommen lassen solle.

Brendon schnappte nach Luft. »Aber ich hab es Ihnen doch ge­sagt! Er hat seinen Vater vergiftet! Da fresse ich gleich zwei Besen auf einmal!«

Gift also? Angesichts der Fixierung der Bewohner dieser Stadt auf Waffen hatte der Gedanke immerhin eine gewisse Originalität. Un­willkürlich musste ich grinsen.

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Hollyfield musterte Brendon so kühl, dass die Schweißtropfen auf seiner Stirn geradezu unglaubhaft wirkten. »Von einem Giftmord spricht Hawkins junior allerdings auch«, versetzte er kühl. »Würde er das tun, wenn das seine Idee gewesen wäre?«

Die nahe liegende Frage Hollyfields brachte den guten Brendon sichtlich aus dem Konzept. Wie ein Fisch auf dem Trockenen klappte er den Mund ein paar Mal auf und wieder zu. Hollyfield sah in diesem Moment allerdings kaum intelligenter drein. Ich kannte ihn gut genug um zu erraten, dass ihm, wenn er es schön mit Mord zu tun hatte, ein ganz gewöhnlicher Kopfschuss lieber gewesen wäre.

»Was unternehmen Sie denn nun?«, richtete auch ich endlich das Wort an den Leiter der Mordkommission.

»Was schon«, knurrte er mich an. »Muss ich Ihnen das sagen?« Nach der Mimik, mit der er darauf anspielte, dass ich mal zu seiner Truppe gehört hatte, war auch er froh, dass dies Vergangenheit war. »Der Tote kommt jetzt in die Pathologie. Sollen die Leichenfledderer dort doch mal zeigen, was sie können. Und Sie«, er wandte sich wie­der Brendon zu. »Sie gehen jetzt in dieses Zimmer.« Mit einem niko­tingelben Daumen wies er vage hinter sich. »Dort wird Lieutenant Quirrer zu Protokoll nehmen, was Sie auszusagen haben.«

Bei dieser Ankündigung tat Brendon mir wirklich Leid. Bis Quirrer es schaffte, auch nur zwei annähernd verständliche Sätze seiner Aus­sage zu Papier zu bringen, wurde anderswo auf der Welt das Rad neu erfunden. Oder der Mount Everest bezwungen. Oder gar mehrere hundert Flaschen mit dem besten Bourbon aller Zeiten abgefüllt.

»Und Sie?« Nun nahm Hollyfield mich ins Visier. »Sie sollen ja auch dabei gewesen sein. Haben Sie auch was auszusagen?«

Ich überlegte einen Moment, dann schüttelte ich den Kopf. »Ich hab höchstens gesehen, was alle mitgekriegt haben. Und da ich die Leute nicht kannte, habe ich meine Aufmerksamkeit Erfreulicherem zugewandt.« Ich lächelte Hollyfield gewinnend an. Noch immer war ich mir nicht sicher, was ich von der ganzen Geschichte halten sollte. Aber wozu sollte ich dann so voreilig sein und Hollyfield den Morgen mit rät­selhaften Hinweisen wie den auf den Austausch von Cyril Hawkins' Tel­ler vermiesen?

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»Also, meine Herren, ich hab jetzt zu tun«, verabschiedete Holly­field sich zackig.

»Du wartest doch auf mich?«, bat Brendon geradezu flehentlich. Wie hätte ich ihn jetzt hängen lassen können! »Ja, aber unten auf

der Straße. Da ist die Luft besser. Und was deine Unterhaltung mit Lieutenant James Quirrer betrifft - fass dich möglichst kurz. Keine lan­gen Sätze, keine Fremdworte. Und reg dich bloß nicht auf, ganz egal, welche Dummheiten er ausspuckt. Stell dir einfach vor, du hättest eine kopflose Ratte vor dir. Dann könnte es halbwegs klappen.« Musste ich Brendon noch mehr Ratschläge geben? Und galten Ratten nicht als intelligente Tiere?

Ich verzichtete auf eine Korrektur. Denn jetzt ließ Quirrer sich schon in der Tür neben der von Hollyfield blicken. So schnell es nur ging, suchte ich das Weite. Beim allmächtigen, mir namentlich leider nicht bekannten obersten Bourbon-Gott legte ich unten auf der Straße ein gutes Wort für Brendon ein.

*

Die Sorge, was ich mit dem Wochenende anstellen würde, erwies sich als überflüssig. Als Brendons Kindermädchen hatte ich mehr zu tun, als mir lieb war. Doch seine Verfassung ließ nichts anderes zu als eine Betreuung rund um die Uhr. Mir musste niemand sagen, was man ei­nem guten Freund schuldig ist!

Nie hätte ich gedacht, dass den lebenslustigen Brendon etwas so erschüttern könnte. Dass er darauf bestand, sich hauptsächlich flüssig zu ernähren, konnte ich nachvollziehen. Aber dass er davon gleich sol­che Mengen brauchte! Und das nach einer schlaflosen Nacht. Wie lan­ge würde er das durchstehen? Ich versuchte, den Weg von einer Knei­pe zur nächsten möglichst lang zu gestalten. Von frischer Luft konnte man angesichts der anhaltenden Schwüle zwar nicht reden, aber drau­ßen roch es doch ein kleines bisschen besser als in den Spelunken, in die es Brendon zog. Bei solchen erzwungenen Spaziergängen versuch­te ich mein Bestes, ihm seinen Verdacht auszureden.

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»Kann ja sein, dass dein Freund wirklich ermordet wurde. Aber wieso ausgerechnet von seinem Sohn? Hast du nicht gesagt, dass ihm die Leitung der Firma schon längst sicher ist? Und damit ja wohl auch das Familienvermögen! Wieso sollte er sich da die Mühe machen, sei­nen alten Herrn zu vergiften?«

»Ungeduld, Dummheit, Geldgier«, brummte Brendon. Was weiß ich. »Du kennst Dave nicht.«

»Stimmt«, gab ich zu. »Aber wenn ich in meinem Job überhaupt was gelernt habe, dann eines: Vorschnelle Vermutungen über den Täter führen fast immer in die Irre.«

»Du sagst es selbst - fast!«, triumphierte Brendon. Ich blieb unbeeindruckt und plauderte noch ein bisschen aus dem

Nähkästchen. »Eine zu schnelle Festlegung ist schlecht für die Fanta­sie, verstehst du?«

»Fantasie brauch ich nicht«, brummte Brendon. »Kann ich auch nicht brauchen. Ich bin Reporter.«

Brendon war wirklich ein sturer Bock. Ich versuchte es mit einem anderen Argument. »In einem Punkt muss ich Hollyfield doch zustim­men. Wenn Dave damit wirklich was zu tun hätte, würde er dann den Leiter der Mordkommission mit seiner Anzeige behelligen?«

»Klar, um abzulenken!«, ereiferte sich Brendon. Ich winkte ab. »Zu alt der Trick, zu abgenützt. Und furchtbar

plump. Und gerade in diesem Fall, ich meine, Cyril ist vor aller Augen zusammengebrochen. Und so rot, wie seine Birne war - der hatte wirk­lich Herzprobleme. Mary Baldwin, die Hausdame, hat mich da ein biss­chen eingeweiht.«

»Die meint es gut, ist aber viel zu naiv«, versetzte Brendon eigen­sinnig. »Und absolut blind, wenn es um Dave geht.«

»Trotzdem wäre es reichlich bescheuert von Dave, unter diesen Umständen von Giftmord zu reden. Gerade, wenn er es wirklich war. Kein Mensch hatte diesen Verdacht, man hätte Cyril einfach ein ehren­volles Begräbnis verpasst und fertig! Kein Mensch hätte sich die Mühe gemacht, in seinen Eingeweiden herumzuwühlen.«

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Brendon hatte anscheinend wieder mal nur teilweise zugehört. »Doch, ich hatte den Verdacht! Und ich war vor Dave bei deinen Kolle­gen!«

Ich verzichtete angesichts von Brendons Zustand darauf, ihn auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen. Obwohl es mehr als eine Be­leidigung war, mich als Kollegen Quirrers zu titulieren. Einen anderen Hinweis konnte ich Brendon aber doch nicht ersparen. »Dein Auftritt bei Hollyfield war nicht gerade überzeugend«, versuchte ich ihm so taktvoll wie möglich beizubringen. »Der hat so was wie... na ja, einen Suffkopp in dir gesehen.«

Brendon gönnte mir einen Blick, als hätte ich ihn mit Christus per­sönlich verglichen. Dann lachte er, wie über einen selten guten Witz. Und dann verschaffte ihm die leichte Brise, die gerade vom Lake Mi­chigan zu uns wehte, anscheinend fast einen Brechreiz. Er schleppte mich also in die nächste Spelunke. Vermutlich gab es höchstens zwei oder drei Kneipen in der Loop, die wir im Lauf dieses Samstags nicht mit unserem Besuch beehrten. Anscheinend gab es weit und breit kein Etablissement, dessen Flüsterparole sich nicht in Brendons Gehirn­windungen eingraviert hatte. Abgesehen davon bewies er weiterhin eine geradezu ärgerliche Halsstarrigkeit, zugleich aber auch eine er­staunlich gute Kondition. Ich musste ihm lange und gut zureden, bis er spät in der Nacht endlich damit einverstanden war, dass ich ihn nach Hause brachte.

»Aber du schläfst bei mir, ja?« Treuherzig sah er mich an, wie ein Kind, das sich im Dunklen fürchtet.

Vielleicht tat es mir ja gut, dass die Rollen diesmal vertauscht wa­ren und nicht ich, sondern eindeutig Brendon einen Freund brauchte. Ich willigte also ein. Wer konnte schon wissen, zu welchen aben­teuerlichen Theorien sich Brendon verstieg, wenn er wieder nicht ein­schlafen konnte und dann allein war. Über ein Gästezimmer verfügte er natürlich so wenig wie ich. So machte ich es mir auf der Couch im Wohnzimmer bequem. Brendon warf sich aufs Bett im Schlafzimmer, doch er bestand darauf, die Tür offen zu lassen. So hörte ich ihn noch ziemlich lange vor sich hinbrabbeln. So lange, bis die Flasche leer war, die seinen Schlaftrunk enthielt.

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Auf dem Tisch neben dem Sofa fand ich zum Glück auch so eine Einschlafhilfe. Aber an dem Abend hatte ich nicht mehr den Ehrgeiz, sie zu leeren.

*

Am Sonntagmorgen überraschte Brendon mich ein weiteres Mal. Ich wurde von seltsamen Geräuschen wach und ich begriff nicht sofort, wo ich war.

»Spiegeleier mit Speck!«, rief Brendon mir zu, anscheinend hell­wach und bester Dinge.

Damit und mit dem Geruch, der mir sofort in die Nase stieg, war immerhin dieses seltsame Geräusch erklärt. Ja, da brutzelte was in einer Pfanne. Was Brendon so alles konnte!

»Sieh zu, dass du unter die Dusche kommst«, rief er mir zu. »Das Frühstück ist gleich fertig. Und anschließend schauen wir uns ein Spiel der White Socks an.«

Unter der Dusche fragte ich mich, wieso Brendon im Plural sprach. Anscheinend ging es ihm ja wieder gut. Wieso musste ich ihn dann zum Baseballspiel begleiten?

Als ich frisch geduscht neben Brendon am Tisch Platz nahm, starr­te der so melancholisch auf die leicht verkohlten Spiegeleier, dass ich es begriff: Mein Job als Kindermädchen war noch nicht beendet. Der Anblick der Teller riet mir dazu, ein nikotinhaltiges Stäbchen zum Frühstück vorzuziehen. Brendons Kaffee immerhin erwies sich als trinkbar.

»Und nach dem Spiel fahren wir mal bei den Hawkins' vorbei«, weihte er mich in seine weiteren Pläne ein. »Ich meine, egal, wie Cyril nun umgekommen ist - ich muss doch wenigstens Mary kondolieren! Für sie wird das ein harter Schlag sein.«

Ein Besuch bei der trauernden Familie? Ich stellte mir vor, was ge­schehen würde, wenn Brendon dort auf Dave traf. Ein ganz handfester Mord und diesmal wirklich vor meinen Augen? Was wurde dann aus meinen Vorsätzen, Brendon ein guter Freund zu sein?

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Er ahnte wohl, was mir Kopfzerbrechen bereitete. »Natürlich nur, wenn Dave nicht da ist«, brummte er.

Dann verschlang er, was sich auf seinem Teller befand und nach einem kurzen fragenden Blick machte er sich auch über meinen her. Anschließend drängte er zum Aufbruch. »Das Spiel geht bald los. Und heute geht es für die White Socks um alles!«

Wir kamen überein, dass ich auch heute den Chauffeur für Bren­don spielen würde. Der Morgen war überraschend angenehm, an manchen Stellen wirkte der Himmel beinahe blau und die Luftfeuchtig­keit hatte sich endlich etwas normalisiert.

Im Stadion bedeutete das allerdings nicht viel. Welch eine Hitze diese Menschenmenge erzeugte! Wann immer ein einziger Schrei aus ich weiß nicht wie vielen tausend Kehlen erklang, kletterte die Tem­peratur garantiert um zwei Grad in die Höhe. Auf Brendon hatte das Spiel immerhin eine gute Wirkung. Für eine Weile vergaß er offenbar seinen toten Freund, er tobte und brüllte wie die anderen und neben­bei vergaß er nicht, sich eifrig Notizen zu machen.

Auf mich hatte der ohrenbetäubende Lärm eine seltsame Wirkung. Immer häufiger fielen mir die Augen zu und endlich gab ich meinem Schlafbedürfnis nach. Wie praktisch, dass ich das im Sitzen oft genug geübt hatte. Auf diese Weise verging mir die Spielzeit rasch.

*

»Mann, was für ein Spiel!« Mit einem Prankenhieb sorgte Brendon da­für, dass ich aufwachte. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Das wird in die Sportgeschichte eingehen, darauf kannst du einen lassen. Und du kannst sagen, dass du dabei gewesen bist!«

Brendon hatte von meinem Nickerchen wohl nichts bemerkt. Wozu also sollte ich ihn enttäuschen? Außerdem fühlte ich mich jetzt richtig erfrischt. So hatte ich nichts dagegen, auf den Sieg unserer Base­ballmannschaft einen zu heben. Brendon bestand darauf, dass wir diesmal auch ein paar Kalorien in fester Form zu uns nehmen sollten und so dirigierte er mich zu einem Lokal ganz in der Nähe. Es hieß

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White Inn und anscheinend verkehrten hier hauptsächlich Anhänger der frisch gekürten Baseballhelden.

Brendon fühlte sich unter diesen Leuten so wohl wie ein Fisch im Wasser und ich konnte mich damit trösten, dass das Steak genießbar und der Bourbon trinkbar war. Ein bisschen hoffte ich darauf, Brendon würde inmitten der ihm so angenehmen Gesellschaft seinen nächsten Programmpunkt vergessen. Schließlich kannte ich die Familie Hawkins nicht und ich störe andere Leute ungern bei so intimen Verrichtungen wie der Trauer um einen nahen Angehörigen.

Aber nach dem vierten extrastarken Kaffee trommelte Brendon zum Aufbruch. »North-Side natürlich«, ließ er mich wissen. »Die Villa liegt direkt am Wasser.«

Wo sonst könnte eine so wohlhabende Familie in dieser Stadt wohnen? Ich malte mir aus, wie es wäre, auf einer Terrasse zu sitzen, ein nettes Glas in der Hand und dazu ein wunderbarer Blick auf den See. Man konnte einen Sonntagnachmittag schlechter herumbringen.

Nun war es keineswegs so, dass ich mir gar keine Gedanken über Cyril Hawkins' Ableben gemacht hätte. Aber die betrachtete ich gewis­sermaßen als Privatvergnügen. Ich hatte schließlich keinen Auftrag und wurde auch von niemandem dafür bezahlt, mir Gedanken zu ma­chen. Was dies betraf, war es doch gut, dass Brendon sich an die Poli­zei gewandt hatte. Wäre er zu mir gekommen - ein Honorar hätte ich von ihm nicht gut verlangen können.

Aber es sprach ja nichts dagegen, meine Gedanken einfach so ein bisschen spazieren gehen zu lassen. Und auf der Fahrt zur Villa der Hawkins' sprach ich den einen oder anderen dieser Gedanken auch laut aus. »Was weißt du eigentlich von dieser Hausdame? Von Mary Baldwin?«

Brendon seufzte und lächelte dabei. Ungefähr so, als wäre er plötzlich fromm geworden und ich hätte die Jungfrau Maria erwähnt. »Ein Engel, wenn du mich fragst. Ja, lach nicht, so was gibt es wirk­lich. Sie ist gelernte Krankenschwester. Cyril hat sie kurz nach dem Tod seiner Frau kennen gelernt. Da musste er in die Klinik, sein Herz. Und Mary hat ihn dann in jeder Hinsicht wieder aufgepäppelt, wenn du

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verstehst, was ich meine.« Er warf mir ein Grinsen zu. »Bald darauf hat Cyril sie dann engagiert.«

»Klar, in diesen Kreisen ist das die übliche Methode, um eine Lieb­schaft zu kaschieren«, bemerkte ich.

Da wurde Brendon wütend. »Hör mal, alter Junge, nicht so! Nicht, wenn es um Cyril geht. Und um Mary. Sie hat ihn wirklich geliebt. Und sie hat alles für ihn getan. Na ja, für die ganze Familie. Ohne sie wäre es zwischen Cyril und seinem Sohn bestimmt noch öfter zum Streit gekommen.«

»Und er?«, hakte ich nach. »Cyril? Hat er Mary denn geliebt?« »Und wie!«, bestätigte Brendon. »Ohne sie war er hilflos wie ein

Kind.« »Und wieso hat er sie dann nicht geheiratet? Wegen des Alters-

oder Standesunterschieds?« »Pah, du weißt wirklich nicht, von wem du redest!« Brendon be­

dachte mich mit einem bösen Blick. »Cyril hat Mary geliebt, aber zugleich darunter gelitten. Seine strengen Moralvorstellungen ließen das schlicht und einfach nicht zu, verstehst du?«

»Nein«, gab ich zu. »Er war einmal verheiratet. Einmal hat er einer Frau Treue ge­

schworen. Bis zum Tod«, belehrte mich Brendon, als wäre ich ein ABC-Schütze.

»Aber wieso, sie ist doch tot«, wandte ich ein. Brendon verdrehte die Augen. »Ja, aber Cyril nicht. Na ja, bis vor

kurzem jedenfalls. Und er hat so was einfach ernst genommen. Ein Mann, ein Wort, so einfach war das für ihn. Und ehrlich, mir hat das immer sehr imponiert.«

Mir schwebte wieder mal die Szene vor, wo der Teller mit Krebs­suppe gegen einen mit Haferschleim ausgetauscht worden war. Und das zur großen Zufriedenheit von Mary Baldwin. Könnte das nicht be­deuten, dass sie... Stopp, rief ich mich zur Ordnung. Hatte ich Brendon nicht vor voreiligen Schlüssen gewarnt? Das galt auch für mich. Noch wusste ich viel zu wenig.

»Mary wusste von Cyrils Skrupeln«, erzählte Brendon weiter. »Sie wusste also, dass sie niemals Mistress Hawkins werden würde. Und sie

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hat das akzeptiert. Ja, die beiden waren ein Paar. Aber auf eine höchst diskrete Weise. Fast niemand hat etwas davon gewusst.«

»Vielleicht hat sich so viel Taktgefühl für Mary ja ausgezahlt?« Ich rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.

Brendon reagierte wieder mal mit einem Wutanfall. »Lieber Pat, dein Weltbild ist wirklich reichlich platt!«, bellte er mich an. »Von dei­nem Vater kannst du das nicht haben!« Der Gedanke an einen ande­ren, schon vor längerer Zeit verschiedenen Freund ließ Brendons Wut verebben. »Mit Bestechung hatte es Cyril nicht. Und Mary ist nicht kor­rupt. Okay, sie verdient bestimmt ganz gut bei den Hawkins'. Aber mehr garantiert nicht.«

Meine Gedanken liefen schon wieder weiter. »Dann ist sie jetzt al­so ihren Job los?«

»Na ja, könnte sein.« Brendon holte so tief Luft wie ein Walross, das sich aus den Fluten eines Dschungelflusses erhebt. »Oder auch nicht. In dem Punkt verstehe ich Mary nicht. Sie hat einen Narren an Dave gefressen. So eher mütterlich, nicht, dass du wieder was Fal­sches denkst. Es könnte also durchaus sein, dass Dave es für nützlich hält, Marys Vertrag noch eine Weile aufrecht zu erhalten. Da vorn musst du übrigens rechts abbiegen.«

Wir fuhren schon eine ganze Weile an Häusern entlang, die ihre Pracht vorführten wie Perlen auf einer Schnur. Die sonntägliche Stille war hier noch intensiver als anderswo in der Stadt und im Vergleich mit dem Sportstadion vorhin geradezu eine Wohltat. Manche der Häu­ser waren von Gärten umgeben, die der Größe nach mit öffentlichen Parks wetteiferten. Nirgends wuchs ein Grashalm aus der Reihe und die Blätter an Büschen und Bäumen wirkten wie frisch poliert. Vor ei­nem Haus, das mit den Säulen am Eingang an einen griechischen Pa­last erinnerte, forderte Brendon mich zum Anhalten auf.

»Und jetzt? Was, wenn Dave da ist?« Grinsend schaute mein Freund auf seine Uhr. »Ich hab doch heute

Morgen mit Mary telefoniert. Jetzt müsste Dave eigentlich schon weg sein. Er hat jetzt natürlich viel zu tun! Die Beerdigung, die Polizei, die Firma. Und bestimmt spielt er überall nur zu gern den Chef!« Brendon lächelte grimmig und stieg aus.

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*

Ich folgte Brendon und sah mich dabei um, einer alten Gewohnheit folgend. Außer meinem Plymouth, der in dieser Umgebung noch schä­biger wirkte als sonst, entdeckte ich nur ein einziges Auto. Zum Glück stand der elegante Auburn in einiger Entfernung von meinem Ply­mouth und ersparte ihm den direkten Vergleich. Im Innern des Wa­gens sah ich niemanden. Ansonsten war die Straße leer. Wer hier wohnte, stellte seinen Wagen natürlich in einer Garage ab.

»Scheiße!« Brendon hatte das Gartentor schwungvoll auf gesto­ßen, nun aber verharrte er.

Als ich neben ihm stand, sah ich, was ihn zu dieser Vollbremsung veranlasst hatte. Dave Hawkins verließ soeben das Haus, den Umstän­den entsprechend im schwarzen Anzug. »Nimm dich zusammen, alter Knabe«, raunte ich Brendon zu.

Er folgte meiner Empfehlung, indem er so tat, als bestünde Dave aus Luft. Aus stinkender Luft allerdings, so wie Brendon dabei das Ge­sicht verzog.

Dave zahlte es ihm mit annähernd gleicher Münze heim. Sein Blick auf Brendon sollte diesem wohl verklickern, dass er in ihm etwas wie einen streunenden Hund sah.

Ich überlegte noch, ob ich dem frisch gebackenen Firmenchef mein Beileid ausdrücken sollte. Aber da stand Dave schon an der Stra­ße, auf der lautlos eine dunkle Limousine vorgefahren war. Es war nicht der Auburn, sondern ein Cadillac.

»Jetzt kann man wenigstens wieder atmen«, kommentierte Bren­don den Abgang.

Ein Hausmädchen mit rot verheulten Augen öffnete uns die Tür. Letztere hatte Ausmaße, dass zwei Pferde samt Reitern nebeneinander hätten ins Haus kommen können. Und der flauschige Teppich drin hätte sogar den Hufschlag einer ganzen berittenen Kompanie ver­schluckt.

Auch Mary Baldwin begrüßte uns mit roten Augen. »Schön, dass Sie kommen, Brendon!« Auch an mich erinnerte sie sich noch. »Scha­

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de, dass es so traurige Umstände sind, unter denen wir uns wieder sehen!«

Auf dem Weg in einen elegant möblierten Salon, in dem ein helles Grün dominierte, erzählte sie uns, was Dave aus dem Haus geführt hatte, wenn auch verspätet. »Der arme Junge weiß gar nicht, wo ihm der Kopf steht! Um so vieles muss er sich jetzt kümmern. Hoffentlich schafft er es, pünktlich beim Bahnhof zu sein. Jennifer kommt zurück. Sie war in Kanada. Keineswegs nur zum Vergnügen. Von dort bekom­men wir ja die Cranberrys. Und die Blaubeeren. Und...«

Ganz plötzlich stockte ihr Redefluss, statt Worten aus ihrem fein geschwungenen Mund strömten nun Tränen aus ihren Augen. Mit ei­ner väterlichen Geste nahm Brendon sie in die Arme. Aber auch seine Augen glänzten verdächtig.

Ich fühlte mich absolut fehl am Platz. Zum Glück erschien jetzt ei­ne weitere Hausangestellte. Ihr fiel auf, dass ich im Moment eher ü­berflüssig war. »Wollen Sie vielleicht etwas trinken? Draußen auf der Terrasse?«

Sie wies auf eine geöffnete zweiflügelige Tür. Auf dem Sideboard daneben standen Flaschen, die ich sämtlich als sehr gute Freunde er­kannte. Das Aufleuchten meines Blicks deutete die Kleine vollkommen richtig. »Welche Marke bevorzugen Sie? Eis?«, erkundigte sie sich.

Wenig später saß ich, ganz wie ich es mir vorher ausgemalt hatte, auf einer Terrasse, Eiswürfel klirrten in meinem Glas und vor mir er­streckte sich das Blau des Lake Michigan. Wer sagte denn da, dass Träume manchmal nicht doch wahr werden konnten!

Drin im Salon hörte ich Mary Baldwin und Brendon miteinander reden. Die Rollenverteilung gefiel mir - Brendons Part war es jetzt, Mary zu trösten. Ich setzte darauf, dass dies ihm auch über seinen ei­genen Kummer hinweghelfen würde. Noch eine Nacht auf seinem Sofa fand ich nicht unbedingt erstrebenswert.

Drei Gläser und etliche Nikotinstäbchen später ließ sich Brendon auf der Terrasse blicken. »Wird allmählich Zeit, dass wir Leine ziehen, alter Junge.« Endlich hatte er zu einem Maß an Trauer gefunden, das ihn wieder zum Alten machte. »Ich muss ja noch in die Redaktion, meinen Bericht über das Spiel fertig machen. Danke übrigens.« Er griff

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wirklich nach meiner Hand und drückte sie. »Was du in den letzten Stunden für mich getan hast, werde ich dir nie vergessen!« Brendon kam mir bei diesem in meinen Augen reichlich überflüssigen Geständ­nis ziemlich nahe. Ich konnte also riechen, dass er auch im Salon nicht auf dem Trockenen gesessen hatte.

Als Mary Baldwin uns zur Tür begleitete, redete sie wieder unab­lässig. Es ging ihr vor allem darum, dass man die Beerdigung nicht richtig planen konnte, solange Cyril Hawkins in der Pathologie lag und seine Leiche nicht freigegeben wurde. »Und was die dort mit ihm an­stellen, nur gut, dass ich das nicht weiß! Auf jeden Fall werden ab morgen Kondolenzlisten ausliegen in der Firma. Auch dort wird es für alle ein Schock sein. Ach, der arme Cyril!« Sie tupfte sich mit einem Spitzentuch die Augen ab.

»Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich an«, erbot sich Bren­don.

»Das werde ich ganz bestimmt tun«, versprach sie. Brendon schniefte ein bisschen, als die Tür hinter uns geschlossen

wurde. Dann ging ein Ruck durch ihn. »So und jetzt zur Redaktion. Das Leben muss weitergehen. Einer wie Cyril hat das immer gewusst.«

*

Als wir auf die Straße traten, fiel mir der Wagen sofort auf. Der helle Auburn war inzwischen erbarmungslos direkt hinter meiner Rostlaube geparkt worden. Am Steuer saß jetzt eine Frau, die schon deswegen auffiel, weil sie feuerrote Haare hatte. Gar eine Landsmännin von mir? Ob sie auch über die für unseren Stamm so kennzeichnenden Som­mersprossen verfügte, konnte ich auf die Distanz nicht erkennen. Sie sah stur vor sich hin, als existierten wir gar nicht.

Etwas jünger als Dave, taxierte ich sie. Ob sie seine Freundin war? Brendon bemerkte sie anscheinend nicht, er redete jetzt so unab­

lässig wie zuvor Mary Baldwin. Diese hatte ihm offenbar minutiös ge­schildert, wie Cyrils letzte Stunde in der Klinik abgelaufen war und das gab er jetzt haarklein an mich weiter. Reden soll ja manchmal hilfreich sein, also zeigte ich mich geduldig. Ich startete den Wagen und Glei­

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ches tat auch die Rothaarige. Beabsichtigte sie, mich ganz offen zu verfolgen?

Es sah ganz danach aus. Bis wir im Zentrum waren, hing sie an meiner Stoßstange. Ich unternahm nichts, um sie abzuschütteln. Bren­don redete immer noch, wobei er jetzt aber schon an seinem Artikel über das heutige Spiel der White Socks feilte. Und dann, mitten in der Loop, wo der Verkehr am Sonntagabend fast so heftig war wie sonst auch, verlor sie mich wohl aus den Augen. Oder hatte sie einfach das Interesse an mir verloren?

»Lass mich doch demnächst raus«, bat mich Brendon. »Ich geh die letzten Meter zu Fuß.«

Er musste wirklich gehörig durcheinander sein, wenn er auf so ei­ne Idee kam! »Sicher?«, fragte ich zweifelnd.

»Ganz sicher. Und danke noch mal.« Er lächelte, ein bisschen ver­legen, was ich als Zeichen für eine wachsende Normalisierung seines Gefühlshaushalts nahm. Dann sprang er aus dem Wagen, erstaunlich behände angesichts seiner Körperfülle. Man konnte den Turm schon von hier aus sehen, in dem die Chicago Tribune residierte. Der 1922 preisgekrönte wuchtige Turmbau, in dem alles vertikal nach oben strebte, ragte stolze 139 Meter hoch in den Himmel über Chicago und galt bereits als Wahrzeichen der Stadt.

Ich wendete, um nach Hause in die North Clark Street zu kom­men. War es nicht höchste Zeit, dass ich mit ein bisschen Nichtstun dem Sonntag meine Ehre erwies?

*

Ziemlich rasch hatte ich schon wieder den Eindruck, verfolgt zu wer­den. Diesmal hängte sich kein Auburn an mich ran, es saß auch keine Rothaarige am Steuer. Der Dodge hatte seine besten Tage schon hin­ter sich, die beiden Typen, die drin saßen, womöglich auch. Genau konnte ich sie nicht erkennen, es dämmerte bereits. Dennoch sagte mir mein Instinkt, dass es besser sei, jetzt kein Risiko einzugehen. Begann nicht am nächsten Tag eine neue Woche, die womöglich

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nichts als Erfreuliches für mich bereithielt? Da wäre es schade, wenn ich nicht in der geeigneten Form wäre, das auch zu goutieren.

Ich veranlasste also meine Blechbüchse, etliche Haken zu schla­gen, bog mal nach links ab, nach rechts, wieder rechts, links. Bald sah es so aus, als hätte ich dem Spielchen der beiden im Dodge ein Ende gemacht. Aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Und genau ge­nommen konnten auch mir ein Paar Schritte in der Abendluft nicht schaden. So stellte ich das Auto nicht direkt vor dem Haus, sondern schon in der West Ontario Street ab. Dafür sprach nicht zuletzt, dass es hier ziemlich viele kleine Läden gab und etliche davon hatten geöff­net. Es waren also reichlich Leute unterwegs, die zur Not als Geleit­schutz ausreichen mussten.

Aber wer in dieser Stadt kümmerte sich schon um die Probleme anderer Leute? Ich hatte schon fast die North Clark erreicht, als mich von hinten ein Schlag traf, genau an der rechten Schläfe. Ich taumelte nach links, sodass mich eine Hauswand unsanft auffing. Wieder ein Schlag, diesmal traf er mich in den Magen. Sosehr ich auch damit be­schäftigt war, meinen Atemrhythmus nicht gänzlich zu verlieren, schaffte ich es doch noch, einen Blick auf meinen Angreifer zu erha­schen. Nicht einen, gleich zwei waren es und schon traf mich ein linker Haken am Kinn. Ich hätte darauf gewettet, dass es die Kerle aus dem Dodge waren. Noch ein Schlag, diesmal wieder von der anderen Seite. Zwei gegen einen und dann auch noch mit dem Rücken zur Wand. Vor meinen Augen tanzten Sterne, die nie den Weg an den Himmel finden würden. Meine Chancen waren nicht immer so schlecht gewesen. Aber vielleicht war es doch mal wieder gut, dass ich keine Waffe bei mir hatte. Angesichts der beiden Rüpel hätte sie meine Erfolgsaussichten kaum verbessert, die beiden aber womöglich auf noch dümmere Ge­danken gebracht.

»Keine Kontakte mehr mit, Dave, ist das klar?«, zischte mir einer der beiden zu. Und schon wieder holte er zu einem Schlag aus.

»Verausgabe dich nicht«, riet ihm der andere. »Der hat genug.« Am liebsten hätte ich meinem Schwächegefühl nachgegeben und

wäre an der Hauswand entlang Richtung Boden gerutscht. Aber man­che Niederlagen steckt man besser im Stehen ein. Die beiden ver­

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schwanden schon im Gewühl der Passanten. Ich tastete mein Kinn ab. Es schien halbwegs intakt und auch die Kiefer funktionierten wie ge­wohnt, als ich mir eine Lucky zwischen die Lippen schob. Richtig un­angenehme Folgen hatte der Schlag in meinen Magen hinterlassen. Das fühlte sich an, als wäre dort ein Loch.

Aber was tut man mit Löchern? Man füllt sie. Weit hatte ich es zum Glück nicht mehr bis zu meiner Wohnung. Und bis zu der Flasche, die dort noch herumstand, fast noch zur Hälfte gefüllt.

*

»Morgen, Chef!«, empfing mich Betty Meyer aufgekratzt. »Kund­schaft!«

Ah, also doch. Neue Woche, neues Glück. Wenn ich nicht zu tief Luft holte, tat es in meiner Magengegend auch fast gar nicht mehr weh. Weil ich niemand sah, warf ich die Tür zu und hatte nun freien Blick auf das Sofa, das dort stand. Aber auch dort entdeckte ich nie­manden. »Ich seh keinen«, weihte ich Betty ein und machte meine morgendliche Wurfübung. Mein Hut landete punktgenau auf dem Gar­derobenständer neben der Tür.

»Noch nicht da, aber schon auf dem Weg«, zwitscherte Betty. »Hat Brendon Smith angekündigt.« Betty strahlte mich an, als habe sie einen Hauptgewinn zu vergeben.

»Hat er auch einen Namen genannt?« »Moment, Chef.« Bettys Wochenende war vermutlich vergnügli­

cher verlaufen als meines. Sie sah richtig erholt aus, auch ihre gute Laune sprach dafür. »Eine Jennifer Claydon.«

Jennifer? Hieß so nicht Daves Schwester? Aber wieso dann der Nachname Claydon? Brendon hatte nicht erwähnt, dass sie verheiratet war. Aber egal, sagte ich mir, entschlossen, der neuen Woche nur Po­sitives abzugewinnen. Kundschaft war Kundschaft. Außerdem machte ich mir inzwischen so viele Gedanken über das Ableben von Cyril Haw­kins, wie ich es mir ohne ordentliche Bezahlung eigentlich gar nicht leisten konnte. Und aus einem Gefühl heraus nahm ich an, dass Jen­nifer mich für diese Gedanken bezahlen würde. Ich schob Notizblock,

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Stift und ein Päckchen noch nicht geöffneter Luckys so lange auf mei­nem Schreibtisch hin und her, bis alles ziemlich geschäftsmäßig aus­sah. Fehlte nur noch die Tasse Kaffee. Und die fiel ja wohl in Bettys Aufgabenbereich. Ausnahmsweise genügte ein Blick in ihre Richtung.

»Klar, Chef, Kaffee kommt auch gleich!« Sie strich sich über die ansprechend gefüllte Bluse und wollte aufstehen. Da klingelte das Te­lefon. Beflissen griff sie zum Hörer. »Pat Connor, private Ermittlungen. Betty Meyer am Apparat«, sagte sie ihr Sprüchlein auf.

Ich probierte wieder einmal den Trick, eine Zigarette erst durch die Luft zu schnipsen, bevor ich sie mir ansteckte. Er misslang leider.

»Ja, das richte ich aus«, hörte ich Betty sagen. Sie notierte sich auch etwas. »Ich nehme mal an, das wird sich einrichten lassen.«

Wieso verteilte sie so großzügig Zusagen? Zumal ich ihr direkt ge­genübersaß? Mich beschlich ein erster Verdacht, dass die neue Woche Ähnlichkeiten mit der vergangenen haben könnte.

»Das war Jennifer Claydon«, teilte Betty mir gleich darauf mit. »Sie kann leider doch nicht zu uns kommen. Aber sie erwartet Sie bei sich zu Hause. East Pearson Street. Ganz kurz vor dem North Lake Shore Drive. Hab alles aufgeschrieben.« Sie wedelte stolz mit ihrem Notizblock.

»Und aus welchem Grund sollte ich mich zu der Dame beque­men?«, knurrte ich sie an.

»Aber Chef, bei der Adresse!« Betty rieb zwei Finger aneinander. Ihre Nägel leuchteten in perfektem Rot. »Das zahlt sich bestimmt aus. Und der Stimme nach«, sie kicherte und zwinkerte mir zu, »sieht die Lady nicht schlecht aus. Glauben Sie mir, Chef, so was höre ich!« Mit spitzen Fingern entzündete Betty sich eine Pall Mall. »Lackschwarze Haare, schätze ich. Und ihre Maße...«

»Das reicht jetzt!« Betty vergriff sich mal wieder deutlich im Ton. »Es wäre sinnvoller gewesen, wenn Sie der Lady mein Honorar ge­nannt hätten.«

»Das erledigt die mit links«, behauptete Betty. »Wirklich, so was höre ich!«

Mir schien, es war besser, darauf nicht weiter einzugehen. »Und was ist nun mit dem Kaffee?«

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»Aber ich denke, Sie fahren gleich los?« »Erst den Kaffee«, beharrte ich. Zum einen schadete es nichts,

wenn Betty etwas für mich tat. Und wenn diese Jennifer Claydon ein paar Minuten auf mich warten musste, konnte das auch nur von Vor­teil sein. Gerade wenn man völlig blank ist, sollte man sich das niemals anmerken lassen.

Dann kam mir das Bild kommunizierender Röhren in den Sinn. Denn während Betty sich mit dem Kaffee abmühte, verflog ihre gute Laune. Was meinen Stimmungspegel prompt in die Höhe trieb. Zahlte ich sie etwa dafür, dass es ihr gut ging bei mir? Außerdem verlangte es mich nach einer gewissen Routine. Und dazu gehörte es nun mal auch, dass Betty mir am Montagmorgen den Kaffee so muffig ser­vierte, wie sie es wenig später auch tat.

Ich überflog die Zeitung. Cyril Hawkins' tragisches Hinscheiden mitten auf der Gala wurde auf Seite eins gemeldet. Von unklaren To­desumständen war die Rede, von Mord zum Glück nicht. Ich hatte da gewisse Bedenken gehabt. Ganz auszuschließen war nicht gewesen, dass Brendon seinem Kollegen diesen Floh ins Ohr gesetzt haben könnte.

Aber anscheinend hatte er mit seinem Artikel über das Baseball­spiel genug zu tun gehabt. Er nahm fast eine ganze Seite ein, jedes Detail des Spiels wurde geschildert. Nur nicht, dass einer unter den vielen Zuschauern den großen Triumph unserer Jungs verpennt hatte. Alles in allem sah die Zeitung so aus, als wäre am Wochenende nicht viel geschehen. Zum Glück für Brendon, denn sonst hätte er sich kür­zer fassen müssen.

Nachdem ich die Büroluft mit etwa vier Luckys angereichert und mir zwei Tassen Kaffee einverleibt hatte, hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, Betty einem öden Arbeitstag zu überlassen. Und falls Jen­nifer Claydon wirklich eine Klientin in spe war, dann hatte sie jetzt lan­ge genug auf mich gewartet, um mich nicht für gänzlich unterbeschäf­tigt zu halten. Ich verabschiedete mich von Betty so fröhlich, wie sie mich vorhin begrüßt hatte. Dass ich darauf keine Antwort erhielt, sig­nalisierte mir, dass dies ein ganz gewöhnlicher Montag war. Und damit alles in schönster Ordnung.

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*

Von wegen lackschwarzes Haar! Betty hätte nicht weiter daneben lie­gen können. Die Haarpracht der Lady, die mir das Apartment im sieb­ten Stock öffnete, war feuerrot. Genau wie die in jenem Auburn drau­ßen bei der Hawkins'schen Villa. Auch sonst gab es da ausreichende Ähnlichkeiten. Was Betty womöglich über ihre Maße hatte sagen wol­len, war schon eher zutreffend. Genau die Form von Kurven, die ich besonders gern sah.

Sie führte mich in ein Zimmer, das ganz nach einem Büro aussah. Mal ausgenommen ein paar eindrucksvolle Flaschen auf einem Regal. Aber auch die beeinträchtigten den geschäftsmäßigen Eindruck nicht übermäßig.

»Es tut mir Leid, was Ihnen da gestern Abend passiert ist«, eröff­nete Jennifer Claydon das Gespräch mit einer Überraschung.

Unwillkürlich tastete ich meine Magengegend ab. Eine leise Erin­nerung war da durchaus haften geblieben.

»Ich bin gestern erst aus Kanada zurückgekommen«, fuhr sie fort. »Dementsprechend war ich nicht umfassend informiert. Erst spät am Abend habe ich mit Brendon Smith telefoniert. Und der hat mir versi­chert, dass Sie ungefährlich sind.«

War das nun ein Kompliment? Ich hatte schon angenehmere Din­ge von schönen Frauen zu hören bekommen.

»Ist es dafür noch zu früh?« Mit einer sehr gepflegten schmalen Hand wies sie auf die Flaschen. Meine Antwort wartete sie gar nicht erst ab. »Es tut mir wirklich Leid. Aber als ich Sie mit Brendon zusam­men vor dem Haus sah, erinnerten Sie mich an manche Leute, mit denen mein Bruder verkehrt. Leute, die nicht gut für Dave sind.«

Sie sprach, als wäre sie Daves ältere Schwester. Dabei war sie höchstens Mitte zwanzig. War der gute Dave etwa von lauter Frauen umgeben, die sich um ihn sorgten?

Sie reichte mir ein Glas mit einem so kühlen Lächeln, dass das Eis in dem Drink überflüssig war. Aber ihre grünen Augen ließen vermu­ten, dass hinter der kühlen Fassade ein Vulkan brodelte. Und ich gebe

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es zu, ich hätte ganz gern ein bisschen Feuer geschlagen aus diesem Vulkan.

»Brendon hat mir einiges von Ihnen erzählt«, ließ ich sie wissen. »Allerdings nicht, dass Sie verheiratet sind.«

»Bin ich ja auch gar nicht.« Der Schluck, den sie aus ihrem Glas nahm, war alles andere als zimperlich. »Nicht mehr«, ergänzte sie. »Und es war eine ziemlich kurze Episode. Drei Tage nach der Hochzeit bin ich schon Witwe geworden. Erinnern Sie sich an das Zugunglück vor drei Jahren? Mein Mann war leider unter den Opfern. Er kam aus Kanada zurück, er wollte sich ja in die Firma einarbeiten. Und aus Ka­nada beziehen wir nun mal alles, was wichtig ist. Ahorn, Blaubeeren, Cranberrys. Für Vater war das damals ein harter Schlag.« Sie seufzte und ließ ihren Blick aus dem Fensterwandern. Man sah nichts als Him­mel und Wasser. »Für mich natürlich auch«, fuhr sie dann fort und studierte gründlich den farblichen Kontrast, den der Inhalt ihres Glases zum Himmel draußen bot. »Und seither haben sich dann die Dinge etwas kompliziert.« Sie seufzte wieder.

Da ich dachte, sie würde gleich näher auf diese ›komplizierten Dinge‹ eingehen, schwieg ich. Aber sie schien den Faden verloren zu haben. Doch vielleicht war das ja auch nur normal, schließlich betrau­erte sie ihren Vater. »Armer Dad. Dabei hab ich ihn gewarnt. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Bei allem Respekt für die gute Mary, sie ist einfach zu naiv.«

Daraufhin schwieg sie so lange, dass ich mich endlich räusperte. »Wenn Sie mir jetzt vielleicht sagen, worum es geht? Meine Zeit ist lei­der etwas begrenzt. Und nachdem Sie es für nötig hielten, erst einmal diese Raufbolde auf mich zu hetzen, scheint mir...«

»Ja, natürlich.« Ihr Lächeln fiel diesmal weniger kühl aus. »Und wie gesagt, das mit den Jungs gestern Abend tut mir wirklich Leid. Es ist sonst auch nicht meine Art, Geschäftskontakte auf diese Weise an­zubahnen.«

Ihr Humor gefiel mir. Und nachtragend war ich schon aus Prinzip nicht. Ich blieb aber bei einem geschäftsmäßigen Ton. »Damit das auch gleich gesagt ist - pro Tag fünfunddreißig Dollar. Zwei Tage im Voraus. Spesen natürlich extra.« Ich hielt es für angemessen, meinen

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Tagessatz unter den gegebenen Umständen um zehn Dollar anzuhe­ben. Schmerzensgeld sozusagen. Hoffentlich hatte Brendon ihr nichts anderes gesagt.

»Darin sehe ich kein Problem.« Sie öffnete eine Schublade und griff achtlos nach einem Bündel ziemlich großer Scheine. Zwei Fünfzi­ger blieben in ihrer schönen Hand zurück. Vielleicht wurde das doch meine Woche.

Dann stand sie auf. Sie trat ans Fenster und wandte mir ihren Rü­cken zu. Ziemlich beachtlich, stellte ich fest. »Ich muss Sie bitten, dis­kret vorzugehen«, hörte ich sie sagen. »Denn immerhin, er ist ja mein Bruder. Und restlos sicher bin ich mir nicht. Aber leider neigt Dave dazu, gewisse Dummheiten zu machen. Es gab oft Streit zwischen ihm und unserem Vater.« Sie straffte sich und ziemlich ruckartig drehte sie sich zu mir um. »Ich könnte die Firma genauso gut führen wie Dave. Vermutlich sogar besser. Weil ich mich nicht so leicht ablenken lasse wie Dave. Und da unser Vater nun so plötzlich verschieden ist und das auch noch während meiner Abwesenheit...« Sie druckste herum.

Wollte sie, dass ich es aussprach? Weil es immerhin um ihren Bru­der ging? Und ihrem Vater die Familie ja über alles? »Hat Ihnen Bren­don diesen Floh ins Ohr gesetzt?«

Sie zuckte leicht zusammen. »Das war nicht nötig. Ich kenne Dave leider noch besser als Brendon. Und in gewisser Hinsicht teile ich seine Einschätzung. So schwer mir das auch fällt. Und vermutlich liegt es ja auch nur daran, dass Dave diesen Hang zu etwas zwielichtigen Freun­den hat.«

Zu diesen hatte sie zunächst ja auch mich gezählt. Es war mir fast lieber als das Prädikat ›ungefährlich‹, das Brendon mir verpasst hatte. Trotzdem redete mir die schöne Jennifer allmählich zu lange um den heißen Brei herum. »Also was wollen Sie nun von mir? Dass ich Ihrem Bruder den Giftmord an Ihrem Vater nachweise?«

Die Direktheit meiner Ausdrucksweise schien ihr nicht zu behagen. Sie sah mich leise schockiert an. Dann nickte sie und kam netterweise auf die Idee, unsere Gläser noch einmal zu füllen.

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Zum Ausgleich gab ich ihr Feuer, als sie dann im selben Moment wie ich nach einer Zigarette griff. »Auf den Gedanken mit dem Gift ist Ihr Bruder auch schon gekommen. Das wissen Sie doch?«

Sie nickte. »Brendon hat mir erzählt, dass Dave Anzeige erstattet hat. Aber bei der Polizei scheint man der Sache eher halbherzig nach­zugehen.«

»Wundert Sie das?« Ich ließ ihr ein Lächeln zukommen. »Dort steht man mehr auf handfeste Schießereien. Gift ist meist nicht leicht nachzuweisen.«

»Versuchen Sie es trotzdem«, versetzte sie kühl. »Und wie gesagt, es muss ja nicht gleich jeder mitkriegen. Vater hat die Familie ja im­mer so hoch gehalten. Diesem Erbe fühle ich mich durchaus verpflich­tet.« Sie sah so kühl durch mich hindurch, dass ich mich wunderte, dass an den Fenstern nicht plötzlich Eisblumen wucherten. Noch im­mer sah ich nicht völlig klar. »Worum geht es Ihnen überhaupt? Wol­len Sie Ihren Bruder hinter Gittern sehen? Oder die Leitung der Firma übernehmen?«

»Es geht mir um das Erbe meines Vaters, in jeder Hinsicht«, ver­setzte sie hoheitsvoll.

Eine erschöpfende Auskunft war das nicht gerade. Aber die schö­ne Jennifer klingelte jetzt schon und gleich darauf erschien das Mäd­chen, das mich in die Wohnung gelassen hatte. »Mister Connor möch­te jetzt gehen«, bemerkte Jennifer und griff schon zum Telefon.

Was anderes als Rückzug bot sich mir da nicht an. Auf dem Weg zur Tür schäkerte ich noch ein bisschen mit der Hausangestellten. Sie gehörte zu dem Typ, den man leicht zum Reden bringen kann. Ich erfuhr, dass Jennifer diese Wohnung von ihrem kurzfristigen Ehemann geerbt hatte. Und dass es dem Familienfrieden diente, wenn sie nicht unterm selben Dach wie ihr Bruder wohnte.

So viel zum Thema Harmonie unter Blutsverwandten. Aber wirk­lich neu war mir das nicht.

*

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Als ich wieder auf der Straße stand, hatte der Wind vom See her auf­gefrischt. Meine grauen Zellen schienen das angenehm zu finden und so versuchte ich mich an einer Zwischenbilanz. Es gab da also einen toten Familienvater und Firmenbesitzer. Er hatte die alten Werte hoch gehalten, es aber anscheinend nicht geschafft, dies auch seinen Kin­dern hinreichend zu vermitteln. Denn Brüderchen und Schwesterchen mochten sich nicht sonderlich. Was ich nicht erstaunlich fand. Die Mar­ke Hawkins bürgte ja nicht nur für erstklassigen Sirup, sondern auch für jede Menge Geld. Und diese Jennifer war keine Frau, die sich mit Trostpflästerchen zufrieden gab.

Was wusste ich noch? Richtig, Cyril Hawkins war herzkrank gewe­sen und hatte auch unter Gicht gelitten. Das bestritt nicht mal mein Freund Brendon. Obwohl er das nicht für so wichtig hielt wie Mary Baldwin, ihres Zeichens Hausdame bei den Hawkins', gelernte Kran­kenschwester und heimliche Gattin des Verblichenen. Sie hatte offen erleichtert reagiert, als Cyril Hawkins während der Gala sein Teller ausgetauscht worden war. Konnte das etwas zu bedeuten haben? Sie war medizinisch geschult. Ab einer gewissen Dosierung konnten Medi­kamente genau den gegenteiligen Effekt haben als den, der ursprüng­lich beabsichtigt war. Und konnte Haferschleim nicht als eine Substanz gelten, in der so manches nicht weiter auffiel?

Mary Baldwin war also durchaus eine interessante Figur in der ganzen Konstellation. Aber weiter wollte ich im Moment noch nicht gehen, um nicht in einer Sackgasse zu enden. Und da war noch ein Aspekt, den ich berücksichtigen musste. Immerhin drei Menschen gin­gen davon aus, dass Cyril vergiftet worden war. Seine Kinder und sein Freund Brendon. Zwei davon waren sich einigermaßen sympathisch und verdächtigten den, den sie nicht leiden konnten.

Aber hieß das gleich, dass auch ich in Dave den Hauptverdächti­gen sehen musste? Mehrheitsentscheidungen waren nicht immer sinn­voll. Außerdem war ich in der Runde der Profi und hatte als Einziger einen kühlen Kopf bewahrt. Brendon betrauerte seinen Freund, die schöne Jennifer womöglich eine Zukunftsperspektive. Wie hatte der treu sorgende Familienvater Cyril Hawkins eigentlich seinen Nachlass geordnet?

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Das war Punkt eins, den ich klären musste. Punkt zwei waren Cy­rils sterbliche Überreste. Mir war bekannt, wie in der Pathologie ge­arbeitet wurde. Und da Hollyfield so wenig Interesse an der Aufklärung eines Giftmords zeigte, musste ich wohl versuchen, dem Arbeitseifer der Jungs in der Gerichtsmedizin auf die Sprünge zu helfen. Punkt drei war die Saftfabrik, wie Brendon sie in liebevollem Spott genannt hatte. Es konnte nicht schaden, mich auch dort einmal umzusehen.

Für einen ganz normalen Montag stand plötzlich reichlich viel Ar­beit an. Genau die Situation, in der übermäßiger Eifer nur schaden konnte. Ich lenkte meine Schritte also zu meinem Plymouth und diesen dann zu Dunkys Speakeasy. Ich war lange nicht bei ihm gewesen und der Zustand meiner Kehle sagte mir, jetzt sei genau der richtige Mo­ment dafür.

*

Ich war nicht der Einzige, der kurz vor Mittag auf den Gedanken ge­kommen war, einem ersten Tagestief durch einen ordentlichen Schluck vorzubeugen. Bei Dunky war es so voll, dass ich mich der Einfachheit halber auf einen Hocker direkt am Tresen klemmte. Was den Vorteil hatte, dass ich ein paar Worte mit Dunky wechseln konnte. In seinem Beruf war es unvermeidlich, dass er über viele Dinge ziemlich gut in­formiert war. Als ebenso berufsbedingt konnte Dunkys Wortkargheit gelten. Um mich zu begrüßen, hielt er ein leichtes Anheben des rech­ten Mundwinkels für ausreichend. Auch das erste Glas servierte er mir, ohne dass ich etwas sagen musste.

»Für 'nen Montag brummt die Bude ganz schön«, eröffnete ich die Konversation.

»Hm«, machte Dunky und strich sich dabei über den riesigen, voll­ständig kahlen Schädel. Er tat das mit einer seltsam behutsamen, fast liebevollen Geste, als könne er die Haare fühlen, die sonst niemand sah.

Anscheinend war ihm nicht nach Weitschweifigkeiten. Ich wies auf eins der Gläser mit Sirup, die sogar in einem Schuppen wie diesem he­rumstanden. Allerdings verlangte es hier die Gäste wohl eher selten

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danach, sie hatten Staub angesetzt. Aber den Schriftzug ›Hawkins‹ konnte man immer noch ganz gut lesen. »Ist die Firma eigentlich wirk­lich so nobel, wie es überall heißt?«

Meine Frage entlockte Dunky ein so breites Grinsen, dass man fürchten musste, sein Mund würde links und rechts von den Ohren verschluckt. »Ist doch immer so, wenn so einer ins Gras beißen muss. Nix als gute Worte.«

Nur gut, dass Brendon jetzt nicht neben mir saß. Der wäre be­stimmt explodiert. »Und wenn der Firmengründer noch unter uns wei­len würde?«, hakte ich nach.

Dunkys Grinsen schrumpfte in sich zusammen. »Na ja, Saftladen«, nuschelte er.

Das klang eindeutig weniger freundlich als die Saftfabrik, von der Brendon gesprochen hatte.

»Du wirst nicht erwarten, dass ich dich mit branchenspezifischen Details langweile«, spuckte Dunky dann überraschend einen sensatio­nell langen Satz aus. Und er hängte sogar noch einen dran. »Wie schwer es ist, an das Zeug zu kommen, das auch dir so viel bedeutet, muss ich dir wohl nicht sagen.«

Er sah, dass das Zeug kaum noch die Bodendecke meines Glases füllte und goss nach. Natürlich war mir klar, dass einer wie Dunky auf den Schwarzmarkt angewiesen war, um eins meiner Grundbedürfnisse zu befriedigen. Was blieb ihm auch anderes übrig, angesichts der schwachsinnigen Gesetze, die sich unsere Politiker ausgedacht hatten?

»Schwarzmarktgeschäfte mit Ahorn-Sirup?« Ich runzelte die Stirn. Dunky warf mir einen mitleidigen Blick aus seinen dunklen Knopf­

augen zu. »Das bestimmt nicht. So wenig wie mit Cranberry-Sirup.« Unwillkürlich stieß ich einen leisen Pfiff aus. Wollte Dunky damit

wirklich andeuten, dass die Firma Hawkins noch mit anderem Geschäf­te machte als mit dem zuckrigen Klebezeug? Noch einmal war ich froh, ohne Brendon hier zu sein. Der würde jetzt komplett aus der Haut fah­ren.

Weil neue Gäste hereindrängten und Dunky keine Zeit mehr für mich hatte, befasste ich mich damit, mein Glas nicht zu langsam zu leeren und den Rauchschwaden im Lokal Nachschub zukommen zu

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lassen. Meine Gedanken trabten dabei wie von selbst vor sich hin. War nicht die schöne Jennifer auf einer offenbar längeren Reise in Kanada gewesen? Natürlich, das Land gleich jenseits des Lake Michigan war berühmt für Ahorn, Blaubeeren, Cranberrys. Doch nicht nur dafür. Von Kanada kam ja auch die Bootleggerware zu uns, auf abenteuerlichen Wegen und, dem obersten Bourbon-Goll sei es geklagt, nur zu häufig in erbärmlicher Qualität. Gar nicht so selten war sogar lebensge­fährlich, was da am Ende bei uns als Whiskey in die Gläser redlicher Trinker geriet und doch nur schändlichster Ersatz war.

Ich spülte meinen gerechten Zorn auf die Verursacher solcher Verhältnisse mit einem weiteren Schluck hinunter. Dunky war auf­merksam genug, um quasi im Vorübergehen mein Glas noch einmal zu füllen. Wie hatte er die stolze Fabrik der Hawkins' genannt? Unter ei­nem ›Saftladen‹ konnte man so manches verstehen. Und so kurzer­hand, wie Jennifer mir die beiden Schläger auf den Hals gehetzt hatte, konnte man sie nicht unbedingt zimperlich nennen. Die Typen würden bestens zum Personal auf dem Schwarzmarkt passen.

Aber hoppla, wohin vergaloppierten sich da meine grauen Zellen? Wenn es wirklich um Schwarzmarktgeschäfte ging, dann war das um etliche Nummern zu groß für einen kleinen braven Ermittler wie mich. Und außerdem bezahlte Jennifer Claydon mich ganz bestimmt nicht dafür, dass ich ihr kriminelle Machenschaften nachwies. Musste es mich wirklich interessieren, womit sie unter anderem ja auch für mein Honorar sorgte?

Mit einer weiteren Lucky und einem tiefen Schluck sorgte ich da­für, meine Gedankengänge wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Dann stapelte ich das Häufchen Münzen vor mir auf, das wohl aus­reichen sollte für die paar Gläser und obendrein ein kleines Trinkgeld für Dunky einschloss. Denn ein interessanter Hinweis war es allemal, den ich da von ihm erhalten hatte.

Als ich die Kneipe verließ, musste ich wieder an Brendon denken. Wenn an Dunkys Gebrabbel wirklich etwas dran war, konnte ich Bren­don dann jemals die Wahrheit zumuten? Wo ihm doch offenbar so viel daran lag, in seinem toten Freund Cyril so etwas wie den letzten Ge­rechten in dieser schmutzigen Stadt zu sehen? Vorläufig behielt ich das

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wohl besser für mich. Nicht immer alles gleich auszuplaudern, auch das konnte ein Freundschaftsdienst sein.

*

Ich fuhr danach nicht ins Büro. Wozu auch hätte ich mich Bettys schlechter Laune aussetzen sollen? Nicht, dass mir das Gerichtsmedizi­nische Institut am Wacker Drive unbedingt als lohnenderes Ziel er­schienen wäre. Ich bin kein blutrünstiger Mensch und ich muss auch nicht so genau wissen, wie unseresgleichen von innen aussieht. Aber dort lag der Mann, als dessen Todesursache gleich drei Menschen Gift vermuteten. Und so kam ich um ein klärendes Gespräch mit einem der Spezialisten dort nicht herum. Ich dachte an einen Mann namens Paul Lexmark. Er würde der erste Posten auf der Spesenrechnung sein, die ich am Ende Jennifer zu präsentieren gedachte. Dass er und seine Kollegen nicht gerade unter erschlagendem Arbeitseifer litten, war mir bekannt. Zumal wenn Hollyfield, wie in diesem Fall, der Angelegenheit kein sonderlich großes Interesse zukommen ließ. Ich taxierte Paul Lexmark auf ungefähr zehn Dollar. Dafür müsste er eigentlich die nöti­gen Informationen ausspucken. Und da ich ja womöglich auch künftig noch auf seine Hilfe angewiesen war, wollte ich mir nicht die Preise verderben. Im schlimmsten Fall, überlegte ich, schob ich eben noch einen Hamilton nach. Es war ja nicht mein Geld.

Um meinem Magen die nötige Standfestigkeit zu verpassen, ver­leibte ich mir auf dem Weg zum Wacker Drive ein paar schnelle Eier mit Speck ein. Und dazu bestellte ich ausnahmsweise mal eine Tasse, die wirklich Kaffee enthielt, den aus den schwarzen Bohnen.

Paul Lexmark kam gerade aus der Kantine, als ich in der Ge­richtsmedizin eintraf. Es gelang mir ihn zu überreden, in seinem Büro zu bleiben. Mir genügte der gelegentliche Anblick toter Leute von au­ßen. Außerdem mochte ich den Geruch im Allerheiligsten der Patholo­gie nicht, dagegen half nicht mal Kettenrauchen.

»Lang nicht gesehen«, eröffnete der Leichenschänder das Ge­spräch.

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»Ja, viel zu tun«, murmelte ich. »Heute geht es mir um...« Ich zö­gerte. Sollte ich direkt auf Cyrils Leiche zu sprechen kommen? Oder eher ganz allgemein auf Gift? Aber auf welches Gift? Davon gab es schließlich reichlich. Ich war nicht eben optimal vorbereitet und rollte deshalb erst mal den Schein in meiner Tasche zusammen. Als er in etwa die Form einer Zigarette hatte, hielt ich ihn Lexmark unter die Nase.

Er heuchelte erfreute Überraschung und ich begriff, jetzt half mir nur Improvisation. Und überhaupt spukte schon die ganze Zeit immer wieder ein bestimmtes Wort durch meinen Kopf. Nun sprach ich es endlich aus. »Anilin.«

Es war, als hätte ich auf den Knopf eines Automaten gedruckt, so wie Lexmark jetzt loslegte. »Kommt aus dem Arabischen und bedeutet Indigopflanze.« Sobald er seine Fachkenntnisse auskramte, näselte er. »Eine farblose, leicht ölige Flüssigkeit mit süßlichem Geruch, die an der Luft leicht bräunlich wird.«

Klar, deswegen wurde das Zeug ja beim Whiskeypantschen be­nutzt, ergänzte ich für mich. Aber was da so alles als Aroma durch­ging...

»Mit Säuren versetzt bildet es Anilinsalze«, fuhr Lexmark fort. Er tat so, als befänden wir uns in einem Hörsaal. Ob er irgendwann auch was sagen würde, das mir weiterhalf?

»Geht's nicht etwas allgemeinverständlicher?«, warf ich ein. »Ich zähle zur hart arbeitenden Bevölkerung und hab nicht studiert.«

Lexmark grinste so von oben herab, dass er den zweiten Hamilton zumindest heute nicht zu sehen bekommen würde. »Aber das wird Ih­nen gefallen. Anilin wurde 1826 erstmals durch Kalkdestillation aus In­digo hergestellt.« Er kicherte in sich hinein. »Indigo ist bekanntlich ein blauer Farbstoff. Daher war es früher auch unter dem Namen Blauöl bekannt. Seit 1897 wird Anilin zur Synthese des vorher nur aus pflanz­lichen Rohstoffen gewonnenen Farbstoffs Indigo eingesetzt. Aber schon vorher wurde Anilin in großem Maßstab hergestellt, etwa in der Drucktechnik oder...«

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»Jetzt reicht es aber, Doc!«, platzte mir der Kragen. Noch befand sich die Dollarnote in meiner Hand, nicht in der seinen. Ich versenkte beides in der Jackettasche, die ebenfalls mir gehörte.

Die Wirkung auf Lexmark war erfreulich ernüchternd. »Was wollen Sie denn eigentlich wissen? Wenn Sie mich so im Dunkeln tappen las­sen...«

»Unerfreuliche Nebenwirkungen zum Beispiel«, präzisierte ich. »Wenn das Zeug anderswo eingesetzt wird. Und vielleicht in eher un­bekömmlicher Konzentration.« Ich blies den Rauch meiner Zigarette so aus, dass er Lexmarks Gesicht vernebelte. Er sah genau so aalglatt aus, wie man sich solche Wissenschaftler vorstellt. Und weshalb ich sie, wie mir jetzt wieder deutlich wurde, auch nicht besonders gut lei­den konnte.

»Das hätten Sie doch gleich sagen können!«, glaubte Lexmark sich beschweren zu müssen. »In der entsprechenden Dosierung ist Anilin ein blutveränderndes Gift. Wie es genau wirkt, haben wir noch nicht raus gefunden. Aber der Effekt kann ziemlich durchschlagend sein. Zumal wenn jemand vielleicht sowieso schon Bluthochdruck hat. Oder ein Herz, das leicht aus dem Takt gerät. Das kann dann unter Umständen ziemlich schnell gehen.«

Ich rechnete nach, wie viel Zeit vergangen war zwischen dem Austauschen der Teller und Cyril Hawkins' Zusammenbruch. Höchstens eine Stunde. Ich tat so, als wäre ich ganz in meine Gedanken versun­ken und stand auf. Noch bevor ich an der Tür war, hatte Lexmark mich eingeholt. Die Sehnsucht nach dem Hamilton stand ihm in den gierigen Blick geschrieben. Verständlich, als Staatsbeamter schwamm er nicht gerade im Geld.

Ich stellte mich, als würde ich nichts davon bemerken und ließ ihn noch ein bisschen zappeln. »Sie wühlen derzeit in Cyril Hawkins rum, nicht wahr?« Ich stand schon auf dem Flur draußen.

»Nun, wenn Sie das unbedingt so nennen wollen.« Er schielte un­ablässig auf meine Jacketttasche, in der sich noch immer meine Hand samt Hamilton befand.

»Und, schon was raus gefunden?« Ich zog Hand und Schein aus der Tasche.

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»Hatte kein leichtes Leben, der Gute.« Lexmark lächelte den Schein an. »Aber immerhin, sein Henkersmahl scheint nicht übel ge­wesen zu sein.«

Ich runzelte drohend die Brauen. Nach Smalltalk war mir im Mo­ment wirklich nicht.

Lexmark verstand mich sofort. »Das Herz war es nicht. Damit hät­te er noch gut und gern zehn Jahre leben können.«

»Wie schmeckt eigentlich Anilin?« Ich beschloss, ihn zu überra­schen und schob den Schein in die aufgesetzte Brusttasche seines weißen Kittels.

»Hauptsächlich süß.« Er wirkte jetzt richtig erleichtert. »Kommt ganz darauf an, was sonst noch dabei ist. Ein Nachweis jedenfalls ist schwierig. Zumindest mit den Methoden, die uns bis heute zur Ver­fügung stehen. Und dann kam die Leiche ja auch schon ziemlich spät zu uns.«

»Das genügt vollkommen«, fiel ich ihm ins Wort, bevor er sich das Vergnügen erlaubte, ins Detail zu gehen.

Er hoffte vermutlich noch auf einen Zwillingsbruder des Hamilton. Jedenfalls begleitete Lexmark mich bis zum Ausgang des Instituts und redete ohne Punkt und Komma. Vor allem davon, dass es nicht unbe­dingt für die Intelligenz gewisser Bewohner dieser Stadt spreche, ihre Probleme grundsätzlich mit Schießeisen zu lösen. Dass gewisse Sub­stanzen dieselbe Wirkung auf sehr viel unauffälligere Weise erzielten und in dieser Hinsicht sogar von den Europäern zu lernen sei. Als er begann, die beeindruckende Liste spektakulärer Giftmorde von der Antike bis zur Gegenwart aufzuzählen, ließ ich ihn stehen.

Das war mal wieder typisch für solche Typen, dachte ich, als ich meinen Plymouth startete. Sobald sie einmal Klartext sprechen, verne­beln sie gleich wieder alles. War Feigheit wirklich die oberste Voraus­setzung für solch einen Job? Ich sagte mir, dass mich das nicht weiter interessieren musste. Auf seine Weise war Lexmark ja deutlich genug geworden. Es waren nun bereits vier Menschen, die Gift als Todesur­sache bei Cyril Hawkins vermuteten.

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Moment, da hatte sich nun doch ein kleiner Rechenfehler einge­schlichen. Inzwischen waren es sogar fünf. Denn ich gehörte nun ja auch dazu.

Allzu weit fortgeschritten war der Nachmittag noch gar nicht. Dennoch hatte ich das Gefühl, für einen Montag schon genug getan zu haben. Ich beschloss also, zur Chicago Tribune zu fahren und mich ein bisschen um Brendon zu kümmern. Außer einem ordentlich gefüllten Glas würde ihm die Gegenwart eines guten Freundes bestimmt eine erwünschte Trauerhilfe sein.

*

Am nächsten Morgen sorgte zur Abwechslung mal Betty für Überra­schungen. Die erste bestand darin, dass sie bereits im Büro war, ob­wohl ich früher als sonst gekommen war. Zweite Überraschung - sie feilte nicht an ihren Fingernägeln herum. Und drittens hatte sie auch schon Kaffee gekocht. Und viertens - nein, das war nicht überra­schend, sondern nervig. Wieso konnte sie nicht mal still sein und mich in Ruhe lassen mit meinem Kaffee? Ich versuchte, meine Ohren auf Durchzug zu stellen. Aber ich erreichte nicht viel, so aufgeregt, wie Betty sich gab. Und warum? Nur weil sie gestern Abend versetzt wor­den war. Das hatte sie doch garantiert schon öfter erlebt! Sie war be­kanntlich nicht wählerisch, wenn es um Männerbekanntschaften ging und so geriet sie zwangsläufig nicht selten an Nieten.

»Also, sie sitzt in der Bar, wie ich. Und hat auch dauernd auf die Uhr geguckt. Und ihr Macker hat sich so wenig blicken lassen wie mei­ner. War also nur 'ne Frage der Zeit, dass wir da ins Gespräch ge­kommen sind...«

Ich beobachtete, wie lange es dauern würde, bis die verbrannte Asche von meiner Zigarette abfiel.

»Und dann sagt sie doch glatt, dass sie bei den Hawkins' arbei­tet!« Triumphierend sah Betty mich an.

Aber weshalb sollte es mich interessieren, wenn sie sich mit Haus­angestellten anfreundete? Die Asche widerstand den Gesetzen der Schwerkraft noch immer.

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»Noch gar nicht so lang«, plapperte Betty weiter. »Aber doch lang genug, um das eine oder andere zu wissen. Und dumm ist Sally Brown nicht, das kann ich Ihnen sagen!« Sie zwinkerte mir viel sagend zu. »So 'ne Brünette, eher klein und zierlich. Kirschförmiger Mund«, schob sie Einzelheiten nach.

Ich sah sofort die Kleine vor mir, die mich draußen bei der Familie Hawkins auf der Terrasse so freundlich versorgt hatte. Trotzdem sah ich nicht, was mir dieser Steckbrief bringen sollte.

»Ich glaub ja, sie hat ein Auge auf den Sohn geworfen.« Betty hielt es für nötig aufzustehen und mit den Hüften wackelnd ihren Schreibtisch zu umrunden, bevor sie sich an ihn lehnte. »Auf den, der jetzt ja wohl alles übernimmt. Aber ob Sally das schafft, da hab ich so meine Zweifel. Aber das nur so nebenbei, es gehört ja gar nicht zur Sache.«

Gab es hier überhaupt etwas, das als Sache bezeichnet werden konnte? Die Asche war inzwischen abgefallen, auf mein linkes Hosen­bein. Ich klopfte die Spuren vom Stoff.

»Sie sagen mir ja wie üblich nicht, was Sache ist«, ging Betty jetzt unvermittelt zu einer Beschwerde über. »Aber dass Sie sich plötzlich für diese Familie interessieren, hat ja wohl damit zu tun, dass der Se­nior abgekratzt ist.«

Woher hatte Betty nur diese unflätige Ausdrucksweise? Und hatte ich sie überhaupt in meine derzeitige Interessenlage eingeweiht?

»Und deshalb denke ich...« Sie legte eine Pause ein und zündete sich erst einmal eine Zigarette an. »Bestimmt hat das alles doch damit zu tun, wer jetzt erbt. Und was und wie viel. Oder nicht, Chef?« Sie lächelte mich so gewinnend an, als stünde sie mit mir an einer Bar und erwarte einen netten gemeinsamen Abend.

»Entweder Sie kommen jetzt endlich zum Schluss, oder Sie lassen es«, raunzte ich sie an.

»Und wenn ich das wirklich tue? Ich meine, es lassen?« Sie zog einen Schmollmund und umrundete den Schreibtisch wieder, um zu ihrem Stuhl zurückzukommen.

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Dann schwieg sie, so lange, bis ich ein Einsehen hatte. Ich mur­melte etwas, das nach einer Entschuldigung klang. »Nun sagen Sie schon!«

»Es gab da draußen in letzter Zeit ziemlich viel Streit«, verriet Bet­ty endlich. »Und warum? Wegen der Erbschaft natürlich. Bruder und Schwester sind sich nämlich kein bisschen grün.«

Als hätte ich das nicht schon gewusst! Strapazierte Betty meine Nerven mal wieder völlig umsonst?

»Vor allem, weil der alte Herr in dieser Hinsicht anscheinend ein bisschen wankelmütig war«, legte Betty nach. »Es gab da ein Testa­ment. Danach sollte, ganz wie es sich gehört, der Sohn die Firma ü­bernehmen. Aber Jennifer, die Tochter, scheint auch genau zu wissen, was sie will. Und als Tochter hatte sie bei ihrem alten Herrn natürlich sowieso einen Stein im Brett. Deshalb stand das bisherige Testament in letzter Zeit wohl in Frage. Na, macht es da nicht Klick bei Ihnen?« Betty schaute mich an, als habe sie das Rätsel des verschwundenen Kontinents Atlantis aufgeklärt.

Es war absolut überflüssig, ihr Triumphgefühl noch zu steigern. »Und, wusste Ihre neue Freundin Sally auch, ob er das Testament schon geändert hat? Und wie die aktuelle Fassung aussieht?« Ich ließ mein Feuerzeug ein neues Stäbchen entzünden.

Es war genau die richtige Frage, um die Luft aus Bettys so unnötig aufgeplustertem Selbstwertgefühl zu lassen. »Sie wieder!« Zutiefst beleidigt, stieß sie die Luft aus. »Sally Brown ist nicht der Rechtsbei­stand der Familie. Ich finde ja, dass sie für eine Hausangestellte ziem­lich viel weiß. Und wenn Ihnen jetzt wirklich kein Licht aufgeht, dann ist Ihnen nicht zu helfen!«

Betty nahm mir das ausgebliebene Lob ernstlich krumm. Sie sagte kein Wort mehr und begann, wie wild auf ihrer Schreibmaschine her­umzuhämmern. Bestimmt nur, um mir demonstrative Geschäftigkeit vorzuführen.

*

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Wenn Dave tatsächlich um sein Erbe fürchten musste, war ihm ein unauffälliger Giftmord ja womöglich doch zuzutrauen. Aber wieso ei­gentlich nicht auch seiner schönen und zielstrebigen Schwester? Gut möglich, dass auch sie ihre Zukunftspläne bedroht sah, wenn ihr Vater alle naselang auf die Idee kam, sein Testament zu ändern. Ich konnte mir ohne Probleme vorstellen, dass sie das Risiko eines weiteren Sin­neswandels minimieren wollte, zu ihren Gunsten natürlich. Und hatte sie nicht jede Gefahr, selbst unter Verdacht zu geraten, durch ihre Ka­nadareise ausgeräumt? Nicht sie, sondern Dave war beim tragischen Ende des Seniors zugegen gewesen. Aber wer sagte denn, dass sie nicht vor Reiseantritt gewisse Anordnungen erteilt hatte?

»Ich geh dann!«, knallte Betty mir um die Ohren. Tatsächlich, das Rattern ihrer Schreibmaschine war verstummt.

»Jetzt schon?« Stirnrunzelnd warf ich einen Blick auf die Uhr. »Ihre Arbeitszeit...«

»Muss ich leider unterbrechen«, beendete sie ziemlich von oben herab meinen Satz. »Hab ein Vorstellungsgespräch. Bei einer Versiche­rung. Sally hat mir netterweise den Tipp gegeben. Dort zahlt man ga­rantiert besser als Sie! Und man weiß intelligente Mitarbeiter bestimmt auch besser zu schätzen!«

Gleich darauf klappte die Tür hinter ihr zu. Hatte ich sie so emp­findlich erwischt? Ich verspürte leise Gewissensbisse. Nicht, dass ich mir nicht eine geeignetere Mitarbeiterin hätte vorstellen können. Aber Betty war eindeutig besser als gar keine. Ich setzte darauf, dass sie geblufft hatte und einfach nur einkaufen ging. Und ich nahm mir vor, demnächst etwas netter zu ihr zu sein. Denn so übel war sie eigentlich ja doch nicht.

Außerdem stand mir der Sinn nicht nach noch mehr personellen Veränderungen. So ganz hatte ich mich immer noch nicht daran ge­wöhnt, dass Joes Schreibtisch links von mir jetzt nicht mehr besetzt war. Giovanni, das war der richtige Name meines Partners gewesen, Nachname Bonadore. Ja, ein Makkaroni und zwar wie aus dem Bilder­buch. Oft genug hatte ich ihn damit aufgezogen. Erst seit er so uner­wartet und wenig menschenfreundlich aus dem Leben befördert war, kapierte ich so richtig, dass ich ihn irgendwie doch gemocht hatte.

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Und wenn jetzt auch noch Betty ging - ich kritzelte ihr rasch eine Nachricht und legte sie auf ihren Schreibtisch. »Geschäftliche Bespre­chung, morgen um eins bei Henry's?«

Betty wusste, worauf das hinauslief. Eine Einladung zu einem Steak, zu einigen Gläsern. Ob sie damit bei einer Versicherung auch rechnen konnte?

Danach hatte ich das Gefühl, genug für ein auskömmliches Be­triebsklima getan zu haben und machte mich auf den Weg auf die South-Side. Denn dort befand sich die Fabrik der Familie Hawkins. Und weil ich nicht genau wissen konnte, was mich dort erwartete, legte ich vorsorglich das Halfter an und versenkte auch meinen Smith & Wesson darin.

*

Die Fahrt auf die South-Side nahm Züge eines Hindernisrennens an. Egal, wie ich es versuchte, überall geriet ich in einen Stau. Dabei kam mir erst der Teller mit Haferschleim in den Sinn, dann die Krebssuppe und das mit Mayonnaise bestrichene Brot, das angeblich die Franz­männer erfunden hatten. Und wo ich dann gedanklich schon jenseits des großen Teichs war, fiel mir ein, was angeblich mal eine Geistes­größe von dort gesagt haben soll: dass nämlich das Unglück der Men­schen nur daher rühre, dass sie es nicht schafften, still zu Hause sitzen zu bleiben.

Hatte der Mann die Verkehrsverhältnisse in Chicago gekannt? An­gesichts der Blechkarawane, in der ich feststeckte, musste ich ihm je­denfalls Recht geben. Was um alles in der Welt hatten so viele Leute um diese Zeit auf den Straßen verloren? Ging die Mehrheit von ihnen nicht eher geruhsamen Berufen nach? An der nächsten Kreuzung ging gar nichts mehr. Ich hörte jede Menge Polizeisirenen.

»Was ist denn jetzt wieder los!«, entfuhr es mir entnervt. Ein junger Bursche auf dem Beifahrersitz des Autos neben mir hat­

te ebenfalls sein Fenster heruntergekurbelt. Er hatte meinen Stoßseuf­zer gehört und gab mir die Antwort. »Nix mitgekriegt von der Schieße­

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rei?« Er grinste mich mitleidig an. »Am helllichten Tag, mitten auf der North Odgen Avenue. Schlimme Zeiten, was?«

»Seit wann mischt sich unsere Polizei ein, wenn die Syndikate sich in die Haare kriegen?« Es war nicht nötig, dass der junge Schnösel mich für gänzlich ahnungslos hielt. Und etwas anderes konnte diese bleihaltige Meinungsverschiedenheit ja sowieso nicht bedeuten.

»Sind 'n paar unbeteiligte Bürger in die Schussbahn geraten«, ließ er mich wissen. »Und die haben jetzt Löcher in allen möglichen Kör­perteilen. Da muss die Polizei sich doch darum kümmern!«

Oder wenigstens so tun, ergänzte ich für mich. Zwei Luckys später wurde die Sperrung der Kreuzung aufgehoben. In einer halben Stunde hatte ich es nicht mal geschafft, mich zehn Blocks vom Büro zu entfer­nen! Aber immerhin, noch eine halbe Lucky später konnte ich auf die North Odgen einbiegen. Am Straßenrand machten sich noch immer etliche Blechmarkenträger zu schaffen, ein paar Blutlachen rund um demolierte Autos machten den Anblick nicht besser. So konzentrierte ich mich auf das graue Band des Asphalts, der mich in den Süden führte, in den Teil unserer Stadt, in dem sich allerlei Industrie ange­siedelt hatte. Die Leute, die dort schuften mussten, wohnten prakti­scherweise ganz in der Nähe der Fabriken, in Mietskasernen, die ein­deutig Karnickelställen glichen.

Ob ich Brendon gelegentlich mal darauf ansprechen sollte? Wie vertrug es sich eigentlich mit den hochmoralischen Ansprüchen seines Freundes Cyril, dass er sein Vermögen der Tatsache verdankte, dass jede Menge armer Hunde nie aus solchen Löchern herauskamen und dass sie sich die Kröten dafür mit etwas verdienen mussten, was nicht sehr weit entfernt von Sklavenarbeit war?

Zumindest im letzten Punkt musste ich mich bald korrigieren. Das Fabrikgebäude mit dem markanten Schriftzug ›Hawkins‹ war schon von weitem zu sehen. Nicht nur wegen meiner Kenntnisse heutiger Industrieproduktion, sondern auch wegen meines zugegeben rein per­sönlichen Abscheus gegenüber allem, was irgendwie nach Sirup aus­sah, hatte ich einen eher schmierigen Schuppen erwartet. Umso mehr beeindruckten mich die schmucken, aus hellen Ziegeln errichteten Ge­bäude. Es gab einen Pförtner, der unerwartet freundlich war und mich

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passieren ließ. Auch die Mitarbeiter entsprachen nicht meinen Erwar­tungen. Alle, egal ob Mann oder Frau, steckten in sauberer, grüner Arbeitskleidung, die Haare mit einer ebenfalls grünen Mütze bedeckt. Und überall war es so blitzblank, dass man buchstäblich vom Boden hätte essen können.

Unangenehm fand ich nur den rauchig-süßlichen Geruch. Aber das war nun wirklich meine Privatangelegenheit, die Mehrheit meiner Mit­bürger urteilte da bestimmt anders.

*

Ich fragte mich zu Dave Hawkins durch und rechnete eigentlich damit, abgewiesen zu werden. Schließlich war ich nicht angemeldet. Und Da­ve hatte mich zuerst in der Begleitung von Brendon gesehen. Gut möglich, dass er da keinen Wert auf eine erneute Begegnung legte.

Aber meine Erwartungen erfüllten sich wiederum nicht. Dave Haw­kins stand plötzlich vor mir; von Kopf bis Fuß stolzer Chef. Vielleicht brannte er ja einfach darauf, sich in dieser neuen Funktion vorzufüh­ren und er akzeptierte deshalb sogar mich. Wenn ich ihn mit seiner Schwester verglich, schien er mir eindeutig den Kürzeren zu ziehen. Er hatte etwas Weiches, fast Kindliches an sich. Und platzte jetzt gerade­zu vor Eifer.

»Freut mich, dass Sie vorbeischauen«, behauptete er. »Ich habe gerade zufällig sogar Zeit, Sie ein bisschen herumzuführen.«

Seine Beflissenheit gab mir zu denken. Andererseits wollte ich ge­nau das - diesen ›Saftladen‹ einmal genauer sehen. Dass er mir das auf eigene Faust gestatten würde, war nicht zu erwarten gewesen. Also musste ich ihn wohl oder übel als Führer akzeptieren und mir sei­ne langatmigen Erklärungen ins Ohr pusten lassen.

»Ahornsirup ist ja bekanntlich der eingedickte Saft des Zucker-Ahorns, seltener des Schwarz-Ahorns«, begann er in eifriger Schüler­manier seinen Vortrag. »Traditionell wird der Saft des Ahorns in Ei­mern aufgefangen. Der Pflanzensaft enthält neben Wasser folgende Bestandteile: Zucker, Mineralstoffe, Eiweißstoffe, Äpfelsäure, Glukose. Die ist aber nur gegen Ende der Erntezeit nachweisbar.«

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Er führte mich an riesigen Bottichen vorbei, in denen sich, nach der Hitze zu urteilen, eine brodelnde Masse befand. Sie wurde teils von Maschinen in Bewegung gehalten, teils rührten Menschen mit eigen­artigen Geräten in der Pampe herum. Alle gingen ihrer Arbeit kon­zentriert nach, wirkten aber nicht gehetzt. Ihren Chef begrüßten fast alle mit einem aufmerksamen Kopfnicken.

Der prahlte mir gegenüber immer noch mit seinem Wissen. »Die Herstellung von Ahornsirup wurde von den Indianervölkern im Nordos­ten Nordamerikas erfunden.«

Das Ganze interessierte mich einen feuchten Kehricht. Aber ich musste da wohl durch, wenn ich irgendetwas in Erfahrung bringen wollte. Schließlich gab es hier mehrere Gebäude. Würde der eifrige Dave mich durch alle so begeistert führen?

Er fuhr fort mit seinen endlosen Erklärungen, die an mir vorbei­rauschten wie gewöhnlich der Verkehr unter meinem Bürofenster. Ich fragte mich, weshalb Dave sich als so ausnehmend gut geratener Sohn und neuer Chef präsentierte. Im Moment hätte sogar Brendon an ihm Gefallen finden müssen. Hatte gar der Tod seines Vaters ihn geläutert und er eiferte dem Alten jetzt nach? Es musste wohl an dem rauchigen Aroma liegen, das die Luft beinahe zum Erbrechen sättigte. Mir kam jedenfalls ein anderer Rauchgeschmack in den Sinn. Weniger süß, da­für mit ein paar Prozenten. Dafür hätte ich im Moment viel gegeben.

Dave musste weiter beweisen, dass er von der Pike auf gelernt hatte. Er war noch immer nicht fertig.

Dave erkletterte jetzt ein stählernes Podest und gab mir durch ein Handzeichen zu verstehen, dass ich ihm folgen sollte. »Von hier oben können Sie sehen, was da überall brodelt.« Stolz wies er auf die brau­ne Suppe, die in den Bottichen etwa zwei Meter unter uns ihre Blasen warf.

Da ich Dave in der Rolle als Musterknabe nicht traute, war ich auf der Hut. Durch den Dampf überall war das Podest mit einer glitschigen Schicht überdeckt. Wie leicht konnte man hier ausrutschen! Und es würde aussehen wie ein bedauerlicher Zufall, wenn man dann in der kochenden Brühe da unten versank. Keineswegs die Zukunft, die ich mir erhoffte.

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Dave grinste spöttisch, als ich nicht neben ihn trat, sondern auf der letzten Stufe stehen blieb. »Für einen Liter Ahornsirup braucht man sage und schreibe etwa 30 bis 50 Liter Saft, die ein einzelner Baum hervorbringt. Wobei sich die Bäume allerdings erst ab einem Alter von 40 Jahren zum Anzapfen eignen. Aber wie heißt es doch so schön? Gut Ding will Weile haben.«

War das nicht genau das, was auch meinen guten Bekannten Jack Daniels auszeichnete? Ich hatte allmählich wirklich genug. Anschei­nend sah auch Dave ein, dass er mich lang genug gelangweilt hatte. Jedenfalls folgte er mir, als ich die Stahltreppe wieder hinunter stieg. Gar nicht weit entfernt gab es einen Ausgang, der frische Luft verhieß. Den steuerte ich an, gleichgültig, was Dave als Nächstes mit mir vor­haben mochte.

Der Zufall war aber auf meiner Seite. Der Herr über die brodeln-den Töpfe wurde von einem Mann angesprochen; er steckte nicht in Arbeitskleidung, sondern in einem dunklen Anzug.

»Nur einen Moment, Mister Connor«, rief Dave mir nach. »Gleich habe ich wieder Zeit für Sie!«

*

Ich wusste nicht, ob es das war, was ich jetzt haben wollte. Eher nicht. Aufatmend trat ich ins Freie und ließ eine Zigarette zwischen meine Lippen wandern. Der blöde Sirup hatte mir die Lungen schon fast völlig verklebt. Mit ein paar tief inhalierten Zügen sorgte ich für Abhilfe. Da­bei schaute ich mich ein bisschen um. Links von mir sah ich das Häus­chen des Pförtners, an dem eben ein Auburn vorbeifuhr. Erschien jetzt die schöne Jennifer, um die Zweitchefin zu spielen? Da es nicht nötig war, dass sie mich sah, ging ich dicht an der Wand einige Schritte nach rechts. Dort befand sich sowieso ein Gebäude, das mich irgend-wie anzog.

Es war nicht aus hellen Ziegeln erbaut wie die anderen und wirkte dem Stil nach einerseits jünger. Aber andererseits sah es längst nicht so gepflegt aus wie der Rest. Vielleicht eine Lagerhalle? Dafür sprach, dass es keinerlei Fenster gab. Nur ein großes Tor aus verrostetem Me­

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tall. Ich ging direkt darauf zu, aber so langsam, dass es nicht unbe­dingt wie Absicht aussehen musste. Im Staub des Bodens machte ich Reifenspuren aus, die von ziemlich großen Fahrzeugen herrühren mussten. Ein schwerer Riegel lag quer über den beiden Flügeln des Tors. Er gab nicht den Bruchteil eines Millimeters nach, als ich probe­weise daran rüttelte.

Aber direkt neben dem Tor entdeckte ich eine brüchige Stelle im Mauerwerk. Die Holzlatte davor ließ sich leicht beiseite schieben. Drin war es so dunkel, dass ich zuerst einmal gar nichts erkannte. Dann aber - Fässer. Hübsch säuberlich aufgereiht. Und meine durstige Kehle war sich ziemlich sicher, was diese Fässer enthielten.

»Was wollen Sie denn hier?« Im dunkelblauen Kostüm, die weiße Bluse hochgeschlossen, gab Jennifer Claydon eine ziemlich überzeu­gende Chefin ab. Und dazu diese Stimme, so kühl wie ein Februar­morgen drüben in Kanada.

»Hab mir bloß ein bisschen die Beine vertreten«, erklärte ich un­schuldig. »Und mich gerade gefragt, was da drin wohl geschieht. Nach der eindrucksvollen Führung Ihres Bruders...«

In diesem Moment erschien auch Dave. Dass es ihm nicht passte, seine Schwester anzutreffen, war ihm unschwer anzusehen. Er verstand sich längst nicht so gut wie sie auf die Kunst, seine Gefühle für sich zu behalten. Und dann machte er gleich auch noch einen wirk­lichen Fehler. »Da können Sie nicht rein!«, rief er mir schon von wei­tem zu. »Zu gefährlich! Das ist unsere Forschungsabteilung. Die Kon­kurrenz lauert bekanntlich überall.«

War Dave wirklich dumm genug, mich für so bescheuert zu halten, hinter diesen baufälligen Mauern so was wie ein Labor zu vermuten? Jennifer war darüber mindestens so verblüfft wie ich. Ungläubig sah sie ihren Bruder an, dann schüttelte sie den Kopf und ging.

Ich gleich danach auch. Dave bestand darauf, mich bis zu meinem Wagen zu begleiten und auf dem Weg dorthin gab er einem Mitarbei­ter ein Zeichen. Anscheinend war dieser schon instruiert, denn er eilte zu uns und drückte mir einige Gläser mit Sirup in die Hand. Ich war so perplex, dass ich sie sogar annahm.

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»Nur damit Sie sich selbst überzeugen können, wie gut das schmeckt, was wir hier produzieren!«, rief Dave mir noch hinterher.

Da saß ich schon am Steuer und ließ den Motor so laut aufheulen, dass ich seine Braver-kleiner-Junge-Stimme nicht länger hören musste.

*

Ich hielt es für angebracht, mir nach dieser Firmenbesichtigung erst einmal ein Mittagessen zu gönnen. Natürlich teilweise auch in flüssiger Form. Bei Henry's würde ich Kalorien in beiderlei Form erhalten und bestimmt auch Brendon antreffen. Der Verkehr war noch dichter ge­worden, zu meinem Glück aber drängte es die meisten nicht in meine Richtung. Als ich ein Stück weiter wieder über die North Odgen fuhr, machten sich dort noch immer Hollyfields Leute zu schaffen. Auf der Milwaukee Avenue hielt ich mich rechts, bis ich bei der West Kinzie Street wieder halb links fuhr und den Fluss überquerte. Dann dauerte es nicht mehr lang, bis ich direkt vor Henry's Steak Diner sogar einen freien Parkplatz ergatterte.

Brendon saß schon am üblichen Platz. Auch ein Steak stand vor ihm, aber er rührte es nicht an. Mit erschreckend dumpfem Blick stier­te er in seine Kaffeetasse. Ich vermutete, es lag nicht daran, dass sie wirklich Kaffee enthielt. Einem Stammkunden wie Brendon würde man so was nicht zumuten.

Er bemerkte mich erst, als ich ihn ansprach. Und auch dann sagte er nichts, sondern seufzte nur.

Ich nahm es als Aufforderung mich zu setzen und bestellte in etwa dasselbe, was bereits vor Brendon stand. Der süßliche Geruch des A­horns machte sich noch immer in meinen Nasenflügeln breit.

»Morgen«, stieß Brendon endlich hervor. Ich sah, dass seine Zi­garre erloschen war. Und so voll, wie sein Glas war, hatte er es an­scheinend vergessen.

»Was ist morgen?«, fragte ich so sanft wie nur möglich. Er schluckte, ohne einen Schluck Whiskey im Mund. »Cyrils Beer­

digung«, stieß er hervor.

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»Ah, ja.« Ich nickte. »Tja, damit war unter den Umständen zu rechnen. Wird sicher eine würdige Bestattung.«

»Aber so früh!«, brauste Brendon auf. Ich war direkt droh darüber. So kannte ich ihn jedenfalls besser. »Wieso geben die in der Gerichtsmedizin die Leiche so schnell

frei?«, polterte er weiter. »Und dann mit dieser Diagnose! Es ist glatt zum Lachen.« Brendon sah aber immer noch eher aus, als würden ihm gleich die Tränen kommen.

»Das Herz?«, hakte ich nach. »Ja, das Herz«, brummte Brendon. »Das ist ein Witz, wenn du

mich fragst.« Aber er lachte noch immer nicht. »Woher weißt du das?« Lange nicht hatte mich der Anblick einer

Tasse mehr erfreut. Ich ließ dem Kellner kaum die Zeit, sie auf dem Tisch abzustellen, bevor ich sie an meine Lippen führte.

»Hab mit Mary telefoniert«, brummte Brendon. »An ihr bleibt na­türlich mal wieder alles hängen. Erst diese Ungewissheit und nun muss alles ganz schnell gehen. Kannst du mir mal sagen, wieso das so sein muss?«

»Na ja, der Sommer ist ziemlich heiß«, erinnerte ich behutsam. Heiß und dabei höchst angenehm war auch, was mir durch die Gurgel rann. »Und dann sind unsere Leichenschauhäuser doch sowieso immer überfüllt. Nach der Schießerei heute Morgen... Hast du eigentlich noch was davon gehört?« Ich fragte nicht, weil mich das wirklich interessiert hätte - schließlich kam so was bei uns fast alle Tage vor. Aber viel­leicht konnte ich Brendon ja doch endlich ein bisschen aufheitern?

Ich erreichte leider das Gegenteil. Brendons Miene wurde noch grimmiger. »Ich sag dir, bloß deshalb will dein Hollyfield die Sache so schnell vom Tisch haben! So 'ne Schießerei ist natürlich eher nach sei­nem Geschmack. Ich frage mich wirklich, wozu wir solche Leute mit unseren Steuern finanzieren. Wenn sie nicht ein einziges Mal tun, was von ihnen zu erwarten ist!«

Vielleicht war meine Bemerkung doch hilfreich gewesen. Zornig je­denfalls gefiel Brendon mir schon bei weitem besser als so von Kum­mer gebeugt. »Trink endlich einen Schluck!«, erinnerte ich ihn an den

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Whiskey in der Tasse, ganz wie eine Mutter ihr Baby an den Rest Brei auf seinem Teller. »Hilft doch nichts, wenn das Zeug warm wird.«

Brendon starrte auf seine Tasse, als halte er so was zum ersten Mal in den Händen. Es stand wirklich nicht gut um ihn. Endlich aber führte sein Arm die nötige Bewegung aus, um die Tasse an seine Lip­pen zu bringen. In bestimmten Situationen ist eben nur noch auf Re­flexe Verlass.

»Auf Cyril Hawkins!«, schlug ich vor. Einen Moment zögerte Brendon noch. Dann leerte er den Tassen­

inhalt in einem Zug. »Alles andere war nämlich 'ne Beleidigung für den guten Cyril.« Er deutete tatsächlich etwas an, woraus demnächst mit viel Glück ein Grinsen werden könnte. »Ich sag dir, der konnte be­chern! Wirklich schade, dass du da nicht mal dabei gewesen bist. Ich erinnere mich zum Beispiel noch gut...«

Ich atmete auf, als Brendon begann, in sein offenbar üppig gefüll­tes Schatzkästlein mit Anekdoten zu greifen. Mir blieb dabei nichts weiter zu tun als zuzuhören und ab und an dem Kellner ein Zeichen zu geben, dass er den Nachschub nicht vergaß. Während Brendon einge­denk der fröhlichen Zeiten mit seinem Freund Cyril auch endlich das Lachen wieder fand, überlegte ich, ob ich ihm von meinem Besuch in der Firma erzählen sollte. Und von meinen Beobachtungen dort.

Mit Rücksicht auf Brendons angeschlagenen Gefühlshaushalt ent­schied ich mich schließlich doch dagegen. Er betrauerte einen Freund. Konnte er da nicht auf die Pietät eines anderen Freundes setzen?

Und außerdem, was wusste ich schon? Mit jedem Schluck schwand meine Überzeugung, da draußen auf der South-Side etwas wirklich Weltbewegendes entdeckt zu haben. Allein meine durstige Kehle hatte mir gesagt, in den Fässern befinde sich Whiskey. Aber war einer ausgedörrten Kehle zu trauen? Da drin konnte genauso gut Sirup sein. Oder etwas, womit der kostbare Stoff zu verwässern war. Viel­leicht schlicht Zucker, in Wasser aufgelöst? Wer sagte denn, dass nur im Whiskeygeschäft gepanscht wurde? Bestimmt hatten auch Sirup­produzenten ihre Tricks auf Lager. Nicht ganz legal, aber musste mich das bekümmern?

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Während Brendon mir von einer vor Alkohol nur so triefenden ge­meinsamen Woche mit Cyril vorschwärmte, in einer Blockhütte drüben in Kanada, vor wer weiß nicht wie vielen Jahren, sah ich Dave und Jennifer vor mir. Brüderchen und Schwesterchen liebten sich nicht un­bedingt. Aber vielleicht waren sie sich in gewissen Dingen ja dennoch einig? Dann zum Beispiel, wenn es darum ging, das Firmenvermögen zu vergrößern. Denn so, wie Jennifer sich vor diesem Schuppen benommen hatte, war ihr besser als mir bekannt, was in ihm vorging. Vielleicht ging es ihr ja wirklich nur darum, alleinige Herrin im Hause Hawkins zu werden. War es gar möglich, dass sie versuchte, mich zu benutzen? Indem ich zum Beispiel ihren Bruder als Giftmischer entlarv­te?

Ich musste dringend noch mal ins Morrison, wurde mir an dieser Stelle klar. Denn wenn da was mit diesem Teller Haferschleim nicht seine Richtigkeit gehabt hatte, dann musste ich dort ansetzen. In der Hotelküche.

»Du hörst gar nicht mehr zu!«, beschwerte sich Brendon bei mir. »Stimmt ausnahmsweise«, räumte ich ein. Ein Blick auf ihn sagte

mir, dass es ihm nach etlichen Tassen doch wieder besser ging. Jetzt konnte ich es wohl riskieren, ihn allein zu lassen.

»Ausgerechnet jetzt, wo es anfängt, hier gemütlich zu werden!«, grummelte Brendon, als er meine Anstalten zum Aufbruch bemerkte.

Ich murmelte etwas von einem wichtigen Termin und durchsuchte meine Hosentasche nach Kleingeld.

»Lass stecken«, riet mir Brendon. »Ich erledige das schon. Kommst du morgen?«

»Morgen?« Mit meinen Gedanken war ich längst im Morrison. »Seit wann ist dein Hirn ein Sieb?«, raunzte Brendon mich an.

»Zur Beerdigung. Hast du das schon wieder vergessen?« »Ach das«, spielte ich alles herunter. »Ich denke, das wird sich

einrichten lassen.«

*

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Mein Besuch in der Küche des Morrison hatte eindeutig mit dem Auf­trag zu tun, den Jennifer Claydon mir erteilt hatte. Ob der Chefkoch dort mit einer Fünf-Dollar-Note zum Reden zu bringen war? Ich ge­dachte jedenfalls, mit einem Lincoln zu beginnen und ihn auf die Spe­senrechnung zu setzen.

Schon zum zweiten Mal an diesem Tag Töpfe. Der Anblick ließ mein Herz nicht unbedingt höher schlagen. Aber zugegeben, sie waren kleiner als die Bottiche bei Hawkins draußen und es stank hier auch nicht nach Sirup. Der Küchenchef verblüffte mich einigermaßen. Ich hatte nicht erwartet, einen Kompaniechef anzutreffen. Doch genauso benahm er sich. Eine andere Tonart als heiseres Brüllen schien ihm nicht gegeben zu sein. Hatte er wirklich im Blick, was an all diesen Töpfen geschah? Wurde hier nur auf sein Kommando gerührt, gemixt, geschüttelt und gebraten?

Es sah ganz danach aus. Die diesem Mr. Baxter unterstellten Kö­che taten ihr Möglichstes, es ihm gleichzutun. Sie bellten andere an, die noch tiefer rangierten. Ganz zuletzt traf es wie üblich die Leute, die ganz unten standen. Unter den Tellerwäschern erblickte ich sogar eini­ge Schwarze.

Vielleicht rührte Mr. Baxters Kasernenhofton ja auch schlicht da­her, dass er nicht sonderlich gut bezahlt wurde? Er schlug jedenfalls einen deutlich milderen Ton an, als ich mir gleich zu Beginn unseres Gesprächs den Schein um die Finger wickelte. Ich hatte mich als ärztli­cher Betreuer des während des Galadiners so überraschend Dahinge­schiedenen ausgegeben, was der Kochlöffelschwinger nicht zu be­zweifeln schien.

Ich spielte den Unsicheren, von Zweifeln Geplagten wohl ganz ü­berzeugend. »Ich habe einen genauen Diätplan für ihn aufgestellt. Es war nicht leicht, Cyril Hawkins davon zu überzeugen. Aber es musste sein, mit Rücksicht auf seine gesundheitliche Verfassung. Das mit der Krebssuppe wollte ich ihm ausreden. Aber er bestand darauf, weil jetzt die Saison dafür sei. Und dass er das seinen Gästen schuldig sei. Fra­gen Sie nicht, wie lang es gedauert hat, bis er wenigstens für sich selbst den Haferschleim akzeptierte!« Ich stöhnte und hoffte, langat­mig genug gewesen zu sein.

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Der Kochlöffelschwinger verzog das Gesicht. »Ja, Haferschleim. Ich versteh ja nicht, wie ein erwachsener Mensch so was essen kann.«

So ungefähr sah ich das auch. Da ich im Moment aber den ärztli­chen Berater spielte, durfte ich mir das nicht anmerken lassen.

»Und dann so ein Theater wegen so einem bisschen Brei!«, fuhr er fort. »Als hätten wir das nicht auch hier machen können. Aber nein, Dave Hawkins persönlich glaubte das organisieren zu müssen. Und das Schlabberzeug hat so 'ne Kleine hier angeschleppt. Brünett, Kirsch­mund, eigentlich ganz niedlich.«

Das klang ganz nach Sally Brown. Die laut Betty ein Auge auf Da­ve geworfen hatte. War sie ihm behilflich gewesen, den Seniorchef aus dem Weg zu räumen? »Da bin ich aber erleichtert!«, sagte ich laut. »Dann liegt es immerhin nicht an meinem Essen, dass mein Patient das Galadiner nicht überlebt hat. Wissen Sie, so was spricht sich schnell herum. Und für meinen Ruf wäre das gar nicht gut.«

Angewidert sah mich der Kochmützenträger an. So etwas wie Diät vertrug sich wohl nicht mit seinen Vorstellungen eines genießbaren Es­sens. Worin ich ihm durchaus zustimmte.

»Ja, das war's dann schon«, bedankte ich mich bei ihm. Fast hätte ich den Schein in meiner Hand vergessen. Mr. Baxter war aber so frei, mich daran zu erinnern, mit einem unverhohlen hungrigen Blick. Ich fragte mich, wie viel Geld einer wie er wohl wöchentlich nach Hause tragen konnte. Anscheinend nicht so viel, dass ihm meine Fünf-Dollar-Note eine zu große Last gewesen wäre.

Diesen Schein loszuwerden, bedeutete für mich ausnahmsweise eine Erleichterung. Denn hatte ich Mrs. Claydons Auftrag nun nicht so gut wie erfüllt?

Im Stillen pries ich Betty. Welch glückliche Fügung, dass sie ihre Abende nicht wie brave Mädchen zu Hause verbrachte, sondern in Bars herumlungerte. Und dort immer wieder neue Bekanntschaften schloss. Sogar, wenn sie versetzt wurde. Leise pfeifend verließ ich das Luxushotel und hoffte, Bettys Vorstellungsgespräch, wenn es denn wirklich stattgefunden hatte, sei ein Misserfolg gewesen.

Als ich wieder in meinem Plymouth saß, um zu meinem Apartment in der North Clark zu fahren, fiel mir auch ein, wie ich die drei Gläser

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Sirup in den Geschmacksrichtungen Ahorn, Blaubeeren und Cranberry einer sinnvollen Verwendung zuführen konnte. Sie spielten immer noch Beifahrer auf dem Sitz neben mir. War das nicht ein nettes kleines Mitbringsel für meine Halbtagskraft?

*

Mein Präsent löste am nächsten Morgen im Büro dann aber keinerlei Freudenstürme aus. Ich traf Betty dort nicht allein an, sondern zusam­men mit Sally Brown. Natürlich war mein erster Gedanke, dass sie mir wie gerufen kam. So konnte ich mir die Fahrt zur Hawkins'schen Villa sparen. Allerdings war sie in einem Zustand, den man nur als hyste­risch bezeichnen konnte. Sie heulte und stieß unverständliche Worte aus, während Betty sich nicht gerade erfolgreich als Trösterin versuch­te. Als ich die Sirupgläser auf Bettys Tisch abstellte, sah es so aus, als würde Miss Brown ihren Verstand vollends verlieren.

»Nein!«, schrie sie mehrmals und schüttelte entsetzt den hüb­schen Kopf. »Nein, nicht schon wieder dieses Zeug!«

Ich fand, sie übertrieb es gehörig mit ihrer Abneigung gegen das Lieblingslebensmittel so vieler unserer Mitbürger.

»Das wäre jetzt wirklich nicht nötig gewesen!«, zischte Betty mir vorwurfsvoll zu. »Man hat sie rausgeworfen bei den Hawkins. Und ich versuch ihr die ganze Zeit schon zu verklickern, dass das mit der Poli­zei bestimmt keine so gute Idee ist.« Abgesehen von dem Vorwurf an mich stand in Bettys Augen die Überzeugung, in glasklarer Logik etwas wie den Lehrsatz des Archimedes vorgetragen zu haben. Und wie war das gewesen? Hatte sie Sally Brown nicht als clever beschrieben? Wie kam sie dann auf den Gedanken, wegen einer Entlassung die Polizei zu behelligen?

»Wie ist das Vorstellungsgespräch gelaufen?« Ich hielt es für möglich, dass Betty meine Frage als zusammenhanglos empfand. Aber am noch ziemlich frühen Morgen mit gleich zwei übergeschnappten Frauen konfrontiert zu sein, empfand ich als reichlich unverdient.

Meine Noch-Halbtagskraft stellte sich taub für meine Frage. Sie flößte ihrer Bekannten Kaffee ein, was immerhin zu einer Reduzierung

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des Geräuschpegels führte. »Jetzt beruhige dich. Und dann erzählst du ihm alles. Er ist nicht so schlimm, wie er tut.«

Okay, für meine Ohren war das nicht gedacht. Um etwas Normali­tät in diesen neuen Büroalltag zu bringen, platzierte ich mit einem läs­sigen Wurf aus dem Handgelenk meinen Hut auf dem Garderobenstän­der, entledigte mich meiner Jacke und nahm dann an meinem Schreib­tisch Platz, um neben meinen Füßen auch eine Schachtel Zigaretten auf ihm zu deponieren. Beim Klicken meines Feuerzeugs wurde Sally Brown noch etwas ruhiger.

»Kann ich auch eine haben?« Sie wandte sich mit der Bitte an Bet­ty.

»Klar, Schätzchen.« Betty schob ihr die Pall Mall in den Kirsch­mund, die sie sich eben erst angezündet hatte. Dann versorgte auch sie sich mit einem neuen Stäbchen und dann pafften wir alle drei schweigend. Welch himmlischer Frieden nun eingekehrt war!

»Danke auch für die Einladung zum Essen«, bemerkte Betty end­lich.

»Könnte sein, dass es später wird«, ließ ich sie wissen. »Vorher muss ich noch zu einer Beerdigung.«

Da schnellte Sally Brown von ihrem Stuhl hoch. »Cyril Hawkins wurde vergiftet. Ist Ihnen das klar?«

»Vage«, bestätigte ich. »Und um ehrlich zu sein, hab ich mir von Ihnen ein paar Details erhofft.«

Miss Brown setzte sich wieder und sog gierig an ihrer Zigarette. »Dave ist so dumm, dass er andere immer für noch dümmer hält als sich selbst«, erklärte sie.

»Den Eindruck hatte ich auch schon«, konnte ich ihr erneut zu­stimmen.

»Ich geb zu, anfangs fand ich ihn ganz nett«, fuhr Sally fort. »Deshalb hatte ich auch nichts dagegen... Na ja, er und ich, wir haben so ein bisschen rum gemacht.« Sie sah hübsch aus, wenn sie rot wur­de. »Aber er ist einfach dumm. Und ein Wichtigtuer. Ein aufgeblasenes Nichts.«

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Sally fand noch etliche andere nicht eben rühmliche Beschreibun­gen ihres Dienstherrn. Ich fragte mich, wobei er sie wohl so sehr ent­täuscht hatte.

»Ohne seine Schwester wär das mit dem Whiskey längst aufgeflo­gen«, kam Sally endlich auf interessantere Interna der Familie zu spre­chen. »Der Alte hatte immer wieder einen Verdacht. Nur Jennifer konnte ihm das ausreden.«

Sieh einer an, Brüderchen und Schwesterchen verfolgten zumin­dest partiell also tatsächlich gemeinsame Ziele! Ich konnte mir vorstel­len, dass Sally Brown mit dieser Information den zuständigen Kollegen von Hollyfield durchaus eine Freude machen würde. Die taten nichts lieber, als Alkoholschieber hochzunehmen. Zumindest dann, wenn kei­nes der beiden Syndikate an den Erlösen beteiligt war. Zwei Fliegen mit einer Klappe sozusagen, die staatlich besoldeten Kämpfer für Recht und Ordnung konnten bei solchen Gelegenheiten immer ganz gut ihren Eifer beweisen. Und zugleich ihren wahren Herren dienen, indem sie den Italienern wie den Iren unliebsame Konkurrenz aus­schalteten.

»Aber das mit dem Whiskey war ja gar nicht so schlimm«, äußerte Sally Brown eine Meinung, die mich flüchtig an die angenehme Stunde auf der Terrasse der Hawkins' denken ließ. »Ich meine, in diesen Zei­ten...« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Aber Mord, nein, da mach ich nicht mit. Außerdem war Cyril Hawkins sowieso der Netteste in der Familie. Und er...«

»Moment mal«, fiel ich ihr ins Wort. »Das mit dem Mord sollten Sie mir doch genauer erklären.« Sally sah aus, als wäre ihr schon wie­der nach einer Zigarette. Ich bot ihr eine meiner Luckys an.

»Er hat gedacht, ich war schon gegangen.« Sie wurde wieder ein bisschen rot. »Aber ich war noch im Bad. Und hab gehört, wie er tele­foniert hat. Und umständlich, wie Dave ist... Es war jemand aus der Firma. Und von dem hat er sich erklären lassen, wie das funktioniert mit dem Anilin. Wie viel man braucht und so weiter und ob man das schmeckt. Er hat ewig gebraucht, bis er alles kapiert hat. Und alles laut wiederholt.«

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»Aber Sally!« Betty gab sich entsetzt. »Davon hast du mir vorhin ja gar nichts erzählt! Das ist ja...«

»Anilin kann nämlich richtig giftig sein«, fuhr Sally fort und schüt­telte sich dabei. »Und der alte Mister Hawkins wollte seinen Hafer­schleim doch immer extra süß. Wenn schon, denn schon, hat er immer gesagt. Eigentlich mochte er das Schlabberzeug nicht, aber sein Arzt...«

Ich griff das Stichwort auf. Diesen Arzt hatte ich ja gestern selber gespielt. »Und wie kam das Zeug dann in die Hotelküche? Und auf Cy­ril Hawkins' Teller?«

»Dave hat gesagt, ich soll es dorthin bringen«, gab Sally zu, nun etwas kleinlaut. »Aber ehrlich, da hab ich an die Sache mit dem Tele­fongespräch gar nicht mehr gedacht. Erst als Dave dann selber in die Küche vom Hotel gekommen ist... Und dann hat er noch mit dem Chefkoch gestritten, weil der keinen Sirup von Hawkins hatte, sondern einen anderen. Dann ist Dave zu seinem Auto. Um eben den anderen Sirup zu holen. Und den hat er dann selber über den Brei gegossen. Dieser Koch hat vielleicht getobt!«

Ich erinnerte mich wieder daran, wie Dave tatsächlich erst unmit­telbar vor dem Beginn des Essens neben seinem Vater Platz genom­men hatte. Ganz kurz, bevor dessen Teller ausgetauscht worden war.

»Das ist ja furchtbar!«, gab Betty einen empörten Kommentar ab. »Ja, wenn das so ist, Sally! Dann musst du ja wirklich zur Polizei.«

Unsicher suchte Sally meinen Blick. »Wie sehen Sie das? Ich hab das alles doch erst kapiert, nachdem der alte Herr tot war. Ob die mir das glauben bei der Polizei?«

In diesem Punkt war ich mir sicher, Sally beruhigen zu können. »Welches Motiv hätten Sie denn haben können?« Ich lächelte ihr auf­munternd zu. Dann gab ich ihr noch einen Tipp. »Fragen Sie am bes­ten gleich nach Captain Hollyfield. Und sagen Sie ihm, er soll mal mit Paul Lexmark sprechen, von der Gerichtsmedizin.«

Zur Not könnte ich dem Leiter der Mordkommission diesen Rat auch selber noch geben. Jetzt aber musste ich erst einmal los. Ich wollte nicht zu spät zu Cyril Hawkins' Beerdigung kommen. Das hatte ich schließlich Brendon versprochen.

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»Und was wird dann aus der Einladung zum Essen?«, rief Betty mir nach und bewies damit wieder einmal ihren Sinn fürs Wesentliche.

»Ich rufe Sie an«, versprach ich. »Oder warten Sie doch einfach hier. Irgendwas werden Sie schon zu tun finden.«

*

Die meisten der zahlreich erschienenen Trauergäste kannte ich nicht. Jennifer Claydon, Mary Baldwin und Dave Hawkins gaben am offenen Grab ziemlich überzeugend das Bild einer intakten Familie ab. Vermut­lich würde Hollyfield sich aber nicht davon abhalten lassen, diese Idylle zu zerstören. Fragte sich nur, wie lange er noch brauchte, um hier zu sein.

»Der Dicke hinter den Geschwistern ist Bob Glance«, flüsterte Brendon mir zu. In seinem schwarzen Anzug wirkte mein Freund noch größer und massiger als sonst. »Ein Jurist. Der war manchmal auch bei unseren Streifzügen dabei. Kann ganz schön was schlucken.« Brendon seufzte, vermutlich fiel ihm wieder ein, dass Cyril dieses Ver­gnügen nie wieder haben würde.

»Er ist der juristische Berater der Hawkins'?«, hakte ich nach. Denn da war ja noch die Frage des Testaments.

»Nur von Cyril«, wusste Brendon. »In der Firma gibt es da einen anderen. Aber dem hat Cyril nie so recht getraut.«

Bob Glance, notierte ich mir in Gedanken. Vielleicht war das ja auch noch ein Gesprächspartner für Hollyfield? Distinguiert, wie der Rechtsanwalt aussah, hielt ich es für wenig wahrscheinlich, dass er sich mir anvertrauen würde. Höchstens vielleicht, wenn ich Brendon darum bat. Es wäre doch ganz nett gewesen, etwas zu wissen, worauf Hollyfield vermutlich nicht so schnell kam. Der würde sich bestimmt damit zufrieden geben, dass Dave seinen Vater aus dem Weg geräumt hat, weil er sich durch ihn bei seinen Whiskeygeschäften gestört fühl­te.

Als Brendon seinen Hut abnahm und laut seufzte, begriff ich, dass die Zeremonie ihrem Höhepunkt zustrebte.

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»Asche zu Asche, Staub zu Staub«, sagte der Priester sein Sprüch­lein auf.

Mary Baldwin war die Einzige vorne am Grab, die Tränen vergoss, dies aber tapfer zu verbergen versuchte. Brendon neben mir weinte auch. Jedenfalls war es garantiert nicht Schweiß, was seine Backen so glänzen ließ. Der Tag war eher kühl und jeden Augenblick konnte es zu regnen beginnen. Für einen Moment wurde ich auch melancholisch. Wie lang war es jetzt schon her, dass ich am Grab meiner Eltern ge­standen hatte?

Dann kam der Moment, der bei Beerdigungen immer besonders unangenehm ist - der Priester war durch mit seinem Ritual, alle waren ans Grab getreten, hatten sich mit Erde, Blumen und leise gemur­melten Worten verabschiedet. Auch den Hinterbliebenen war kondo­liert worden. Und jetzt? Die Sache war beendet, rein gar nichts stand jetzt mehr auf dem Programm. Aber noch wollte keiner es wahrhaben, niemand der Erste sein, der das Grab verließ und sich wieder seinem eigenen Leben zuwandte.

Genau diesen Augenblick schien Hollyfield abgepasst zu haben. Bestimmt reiner Zufall, denn so viel Gespür für eine gelungene Cho­reografie traute ich ihm nicht zu. Aber er hätte seinen Auftritt gar nicht besser planen können. Denn mit seinem Erscheinen kehrte tatsächlich wieder Leben in die wie erstarrt rund ums Grab abwartende Trauerge­meinde ein. Ziemlich nervöses Leben.

»Was hat das jetzt zu bedeuten?«, fragte mich Brendon mit gro­ßen Augen. »Hast du deinen Kollegen endlich doch noch überzeugt?«

Irgendwann musste ich Brendon wirklich abgewöhnen, mich auf eine Stufe mit Hollyfield zu stellen. Im Moment interessierte mich al­lerdings mehr, wie sich der Schlussakt des Dramas gestalten würde. Ich sah, dass Hollyfield den unsäglichen Lieutenant James Quirrer und noch ein paar Leute am Ausgang des Friedhofs postiert hatte. Rechne­te er damit, dass Dave Hawkins sich durch Flucht entzog?

Einen Moment lang sah es tatsächlich so aus. Denn weshalb sonst ergriff Jennifer Claydon jetzt mit so gebieterischer Geste den Arm ihres Bruders? Während Hollyfield sich etwas verlegen einen Weg durch die Trauergäste bahnte, redete sie eifrig auf Dave ein.

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Mary Baldwin gefiel das ihrer Miene nach gar nicht. Auch sie woll­te mit Dave reden, aber Jennifer ließ es nicht zu. Mr. Glance wandte sich daraufhin Mary zu. Über das aufgeregte Gemurmel der anderen hinweg hörte ich endlich Hollyfields Bass. »Dürfte ich Sie bitten, mich zu begleiten, Mister Hawkins?«

Der Junior sah völlig fassungslos aus und entblödete sich nicht, dem Leiter der Mordkommission seine ausgestreckten, eng aneinander gelegten Hände anzubieten. Dave Hawkins' Nervenkostüm musste wirklich sehr schwach sein. Hollyfield grinste denn auch nur. »Ich neh­me doch an, Handschellen werden nicht nötig sein?«

Die Trauergäste verließen den Friedhof auf ziemlich unübliche Weise. In einer Prozession nämlich, annähernd so, wie sie gekommen waren. Nur dass sie nun nicht einem Sarg mit den Überresten eines to-ten Firmenchefs folgten, sondern einem Lebenden, der eben verhaftet worden war.

Ziemlich rasch leerte sich der Friedhof. »Was ist?«, sprach Bren­don mich an. »Höchste Zeit, dass wir 'n bisschen was trinken auf Cy­ril.«

»Gleich«, versprach ich ihm. Denn Jennifer Claydon war noch nicht gegangen und ich hatte den

Eindruck, dass sie mich sprechen wollte. Und vielleicht konnte ich die Gelegenheit ja nutzen, um meine Geschäftsbeziehung mit ihr in aller Form abzuschließen.

»Ich nehme doch an, mein Auftrag ist hiermit erfüllt?«, wandte ich mich an sie. »Ach ja, mein Beileid auch noch.« Ich tippte an meinen Hut.

Richtig zufrieden wirkte Jennifer nicht. Machte es ihr nun doch zu schaffen, dass es ihr leiblicher Bruder war, der im besten Fall wohl für einige Zeit die Welt durch Gitterstäbe betrachten würde, wenn nicht sogar Schlimmeres?

»Mein Vater hatte neben vielen unbestreitbaren Vorzügen leider auch gewisse Schwächen.« Sie seufzte. »Zum Beispiel, was die Rege­lung seines Nachlasses betrifft.« Noch ein Seufzer. »Wir haben es alle erst gestern Abend erfahren, als Mister Glance zu uns kam. Er war

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nicht nur ein guter Freund meines Vaters, sondern auch sein juristi­scher Berater.«

Ich ahnte, worauf das hinauslief. Der Seniorchef war wieder ein­mal wankelmütig geworden.

»In seiner letzten, leider unzweifelhaft gültigen testamentarischen Verfügung hat er eine ziemlich überraschende Lösung gefunden.« Jen­nifer Claydons Lächeln fiel sehr schmal aus. »Er hatte es nun mal mit den alten Werten. Die Familie ging ihm über alles. Und deshalb sollen ganz im Sinne der Familientradition mein Bruder und ich die Firma gemeinsam leiten. Was nun passiert ist, hat er sich in seinen kühnsten Träumen wohl nicht vorstellen können.«

Sie holte sich eine Zigarette aus ihrer Handtasche, dann fiel ihr ein, wo wir uns befanden. »Gehen wir doch auch«, schlug sie vor.

Ich gab Brendon ein Zeichen, uns in einem gewissen Abstand zu folgen. Sobald wir am Ausgang waren, gab ich Jennifer Feuer. »Und wie soll das jetzt weitergehen?«, fragte ich sie dabei.

Sie stieß ein heiseres Lachen aus. »Wie wohl? Ich werde mich al­leine um die Firma kümmern müssen und gleichzeitig auch noch um Dave. Er braucht zuerst einmal einen guten Anwalt und der Prozess wird sicher auch kein Zuckerschlecken. Ich hoffe, dass wir zumindest das Schlimmste verhindern können.« Sie zog zweimal nacheinander an ihrer Zigarette und schaute den Rauchwölkchen nach, die in einen grauen Himmel aufstiegen.

Ich wusste genau, was Jennifer damit meinte. Es war schließlich ein vorsätzlicher Mord und wenn dem Anwalt nicht etwas wirklich Gu­tes einfiel, dann landete Dave in der Todeszelle. Ich sparte mir den Gedanken, ob er es verdient hätte oder nicht.

Ein Auburn stoppte neben uns, diesmal war Jennifer mit einem Chauffeur unterwegs. Eigentlich hätte ich ihr gern noch die Einzel­heiten mitgeteilt, die zum Tod ihres Vaters geführt hatten. Aber ich konnte verstehen, dass Jennifer inzwischen ganz andere Probleme hat­te.

»Schicken Sie mir doch Ihre Spesenrechnung«, meinte sie noch, bevor sie in den Fond des Auburns stieg und mich dabei ihre wirklich sehr beachtlichen Beine sehen ließ.

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Ich nickte. Und staunte, dass sie selbst in diesem Moment an sol­che Kleinigkeiten dachte. Aber anscheinend hatte sie die Weisheiten unseres Haifischsystems mit sehr großen Löffeln gefressen. Und dazu gehörte es nun mal, gerade bei Kleinigkeiten äußerst korrekt vorzuge­hen.

»Wenn ich jetzt nicht bald was Flüssiges in den Mund bekomme«, machte Brendon auf sich aufmerksam, »bin ich demnächst so mause­tot wie Cyril.«

Da mir nicht schon wieder nach einer Beerdigung zumute und ich sowieso selber durstig genug war, einigte ich mich mit Brendon dar­auf, dass Henry's Steak Diner den passenden Schauplatz für einen klei­nen Leichenschmaus abgeben würde.

Schon auf dem Weg zu meinem Plymouth begann es zu regnen. Ob da doch noch irgendwo jemand außer Brendon ganz aufrichtig um Cyril Hawkins trauerte?

*

Dass ich Betty zum Essen eingeladen hatte, fiel mir erst wieder ein, als ich zusammen mit Brendon den üblichen Tisch bei Henry's ansteuerte und Betty bereits dort saß, mit einer Tasse in der Hand. Die Tasse enthielt garantiert etwas, das erst auf dem Weg in den Magen eine ge­wisse Hitze entfaltete. Betty grinste uns freundlich entgegen. »Hab ich mir doch gedacht, dass Sie früher oder später hierher kommen! Und nachdem ich Sally zur Polizei begleitet hatte, war ich einfach nicht mehr in der Stimmung fürs Büro. Die Leute dort haben vielleicht ein Benehmen!«

Ganz kurz spielte ich mit dem Gedanken, Betty vorzuflunkern, ich hätte sie im Büro angerufen, wie versprochen. Dann aber sagte ich mir, dass dies kleinlich wäre. Und sprach es nicht auch für Betty, dass sie die Gewohnheiten ihres Brötchengebers so gut kannte?

»Das mit dem Vorstellungsgespräch neulich hat übrigens nicht ge­stimmt«, vertraute sie mir da treuherzig an.

»Das war mir klar«, behauptete ich.

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»Aber bei der Einladung bleibt es doch trotzdem?«, erkundigte Betty sich hoffnungsvoll. »Allmählich könnte ich auch was Festes im Magen vertragen.«

Und da ich nicht kleinlich sein wollte, beglich ich Bettys Rechnung natürlich. Was unsere Drinks betraf, kam es später zu einem kleinen Streit mit Brendon.

»Die übernehme ich!«, verlangte er polternd. Fast die ganze Zeit lag sein Arm auf meiner Schulter. »Ich weiß ja nicht, Betty, wie er als Chef so ist. Aber als Freund...«

Bevor Brendon allzu rührselig werden konnte, gab ich nach. »Gut, dann zahlst eben du. Was wir bisher hatten. Und ab jetzt bin ich dran.« Dann gab ich dem Kellner einen Wink, unsere Tassen noch mal zu füllen. Was sonst konnte man nach so einer Beerdigung auch an­stellen?

Ende

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