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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen* Von Professor Dr. Jürgen Wolter, Heidelberg A. Rechtsstaatswidrigkeit, Sozialstaatsfeindlichkeit und Rückständigkeit des geltenden Rechts der Untersuchungshaft I. Einleitung „Die Untersuchungshaft ist das trübste Kapitel der deutschen Strafrechtspflege." Dieses Wort des Berliner Rechtsanwalts Heine- mann aus dem Jahre 1906 hat Rosenberg 1 1925 für immer noch zutreffend gehalten. Und es besitzt auch heute — rd. 75 Jahre danach noch Gültigkeit. Die Reformen des vergangenen Jahr- zehnts haben eher eine Verschlechterung erbracht. Die Regeln der U-Haft sind von Grund auf reformbedürftig. Die Liste geradezu massiver Vorwürfe ist denn auch beeindruckend. So sind rechts- staatliche Grundsätze wie die Unschuldsvermutung, das Beschleu- nigungsgebot oder das Übermaßverbot gleich mehrfach verletzt. Das Strafverfolgungsinteresse des Staates ist gegenüber dem Freiheitsanspruch des nur verdächtigen Bürgers vielfach über- betont. Auch wird die U-Haft zur vorzeitigen Durchsetzung gene- ral- und individualpräventiver Belange (gegen den Willen des Beschuldigten) mißbraucht und gerät so zur Verdachtsstrafe. An- dererseits ist vor allem das Recht der Erwachsenen-U-Haft nicht in der Lage, die moderne Resozialisierungskonzeption des Straf- rechts und Strafvollzugsrechts auch nur ansatzweise zu verwirkli- chen. Es ist mit einem Wort rechtsstaatswidrig, sozialstaatsfeind- lich und hoffnungslos rückständig. . Zweck und Grenzen der Untersuchungshaft Bevor diese schwerwiegenden Vorwürfe verdeutlicht und Vorschläge zur Abhilfe unterbreitet werden (unten B.), sind einige grundsätzliche Bemerkungen zu dem Zweck und den Grenzen der U-Haft angezeigt. * Die Ausführungen gehen zurück auf die Antrittsvorlesung, die der Verf. am 4. 6. 1980 in Bonn gehalten hat. 1 Rosenberg, JW 1925, 1446; Dahs, NJW 1959, 505. Brought to you by | Universitaetsbibliothek Fra Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 9/12/14 2:15 AM
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Page 1: Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen

Untersuchungshaft, Vorbeugungshaftund vorläufige Sanktionen*

Von Professor Dr. Jürgen Wolter, Heidelberg

A. Rechtsstaatswidrigkeit, Sozialstaatsfeindlichkeit undRückständigkeit des geltenden Rechts der Untersuchungshaft

I. Einleitung„Die Untersuchungshaft ist das trübste Kapitel der deutschen

Strafrechtspflege." Dieses Wort des Berliner Rechtsanwalts Heine-mann aus dem Jahre 1906 hat Rosenberg1 1925 für immer nochzutreffend gehalten. Und es besitzt auch heute — rd. 75 Jahredanach — noch Gültigkeit. Die Reformen des vergangenen Jahr-zehnts haben eher eine Verschlechterung erbracht. Die Regeln derU-Haft sind von Grund auf reformbedürftig. Die Liste geradezumassiver Vorwürfe ist denn auch beeindruckend. So sind rechts-staatliche Grundsätze wie die Unschuldsvermutung, das Beschleu-nigungsgebot oder das Übermaßverbot gleich mehrfach verletzt.Das Strafverfolgungsinteresse des Staates ist gegenüber demFreiheitsanspruch des nur verdächtigen Bürgers vielfach über-betont. Auch wird die U-Haft zur vorzeitigen Durchsetzung gene-ral- und individualpräventiver Belange (gegen den Willen desBeschuldigten) mißbraucht und gerät so zur Verdachtsstrafe. An-dererseits ist vor allem das Recht der Erwachsenen-U-Haft nichtin der Lage, die moderne Resozialisierungskonzeption des Straf-rechts und Strafvollzugsrechts auch nur ansatzweise zu verwirkli-chen. Es ist mit einem Wort rechtsstaatswidrig, sozialstaatsfeind-lich und hoffnungslos rückständig.

. Zweck und Grenzen der UntersuchungshaftBevor diese schwerwiegenden Vorwürfe verdeutlicht und

Vorschläge zur Abhilfe unterbreitet werden (unten B.), sind einigegrundsätzliche Bemerkungen zu dem Zweck und den Grenzen derU-Haft angezeigt.

* Die Ausführungen gehen zurück auf die Antrittsvorlesung, die derVerf. am 4. 6. 1980 in Bonn gehalten hat.

1 Rosenberg, JW 1925, 1446; Dahs, NJW 1959, 505.

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1. Den Ausgangspunkt der Überlegungen muß die Erkennt-nis bilden, daß die U-Haft oder ihre Surrogate allein der Verfah-renssicherung dienen dürfen2. Die Handlungsfreiheit des nur ver-dächtigen Bürgers darf nur dann beschränkt werden, wenn diesaus vernünftigen Gründen des Gemeinwohls, insbesondere zurSicherung der Rechtspflege und des Rechtsfriedens, gerechtfertigtist. Insofern sollen die U-Haft oder entsprechende Ersatzmaßnah-men die Anwesenheit des Beschuldigten im Strafverfahren si-chern und eine ordnungsgemäße Tatsachenfeststellung durch dieStrafverfolgungsorgane gewährleisten. Flucht, Fluchtgefahr3 undVerdunkelungsgefahr4 (§112 Abs. 2 StPO) erscheinen deshalb alsdie maßgeblichen Haftgründe. Dabei wurde 1978 in mehr als 93 °/oder Fälle Haftbefehl wegen Flucht und Fluchtgefahr, in gut 5 °/oder Fälle wegen Verdunkelungsgefahr erlassen5.

2. Die U-Haft darf hingegen nicht Zwecke verfolgen, die zuverwirklichen allein Aufgabe einer schuldabhängigen Strafe ist.Eine solche Zielrichtung verstieße gegen den Grundsatz der Un-schuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 MRK)e.

a) Es handelt sich also um eine unzulässige vorweggenom-mene Strafe7, soweit man z. B. dem generalpräventiven Moment

2 Etwa Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 157. Von dem weiteren Zweck derSicherstellung der Straf Vollstreckung (§ 457 StPO; s. auch § 453 c StPO)sei hier abgesehen; vgl. noch OLG Karlsruhe, MDR 1980, 598.

« Vorzugswürdig in § 112 II Nr. 2 StPO scheint dabei der Zusatz i. d. F.von 1972 („namentlich der Verhältnisse des Beschuldigten und der Um-stände, die einer Flucht entgegenstehen").

4 In § 112 II Nr. 3b wird man das Wort „unlauterer" durch „rechtswid-riger" ersetzen und die Streichung des „Sachverständigen" befürwortenmüssen (Krümpelmann, ZStW 82 [1970], S. 1084; Rosenberg, ZStW 26[1914], S. 364).

* 1978: 93,58%; 1977: 93,31%; 1976: 94,2%; 1975: 90,45% wegen Flucht undFluchtgefahr — 1978: 5,25%; 1977: 5,11%; 1976: 4,99%; 2975: 4,95% wegenVerdunkelungsgefahr; s. auch Kerner, Schröder-Gedächtnisschr., S. 559 f.Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr spielt also eine vergleichsweisebescheidene Rolle (Kaiser, NJW 1968, 780; Krümpelmann [Fußn. 4], S.1118, 1134 gegen Heinitz, ZStW 82 [1970], S. 1117); anderes mag bei derWirtschaftskriminalität gelten (Burkhard, ZStW 82 [1970], S. 1121). ZumJugendstrafrecht Franke, Tagungsberichte der Jugendstrafvollzugskom-mission, IX. Bd., 1979, S. 47 f.

6 Sprenger, NJW 1976, 664; Vöcking, Die oberlandesgerichtliche Kontrol-le der Untersuchungshaft gemäß § 121 StPO, 1977, S. 246. Vgl. nochFußn. 121.

7 Walter, MSchrKrim. 61, 341; vgl. Grebing, Die Untersuchungshaft inFrankreich, 1974, S. 79, 189; anders Borneque, bei: Grebing, S. 84, de*

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der „Beruhigung der kochenden Volksseele" Rechnung trägt. Dieswird man bei der Erörterung von § 112 Abs. 3 StPO im Auge be-halten müssen (unten B. IV.).

b) Und soweit man die U-Haft sicherungsindividualpräventivallein zur Vorbeugung vor weiteren Straftaten vorsieht, liegtregelmäßig ebenso der Vorwurf einer Verdachtsstrafe auf derHand. Dies wird bei den Überlegungen zu dem Haftgrund derWiederholungsgefahr nach § 112 a StPO zu berücksichtigen sein(unten B. V.).

c) Andererseits darf jedenfalls die Heranwachsenden- undErwachsenen-U-Haft7* als verfahrenssichernde Maßnahme nichtauch resozialisierend gestaltet werden8. Die erzieherische Indivi-dualprävention hat zwar bei Jugendlichen nach § 93 Abs. 2 JGGeinen erheblichen — wenn auch nicht uneingeschränkten — Stel-lenwert. (So ist z. B. die Arbeitspflicht der Jugendlichen nach Nr.80 Abs. 2 UVollzG als eine Konsequenz des § 93 Abs. 2 JGG ver-verfassungsrechtlich bedenklich".) Aber schon § 110 Abs. 2 JGG, derdie erzieherische Individualprävention vollumfänglich auf dieHeranwachsenden-U-Haft erstreckt, läuft nach Absenkung derVolljährigkeitsgrenze auf 18 Jahre auf eine unzulässige vorweg-genommene Bestrafung hinaus und ist deshalb verfassungswid-rig10. Jede Resozialisierung von Volljährigen vor einem rechts-

die U-Haft als eine aus einem provisorischen Urteil hervorgehendeStrafe begreift. S. noch Fußn. 75.

?a Zur Jugend-U-Haft Mey, Tagungsberichte der Jugendstrafvollzugskom-mission, IX. Bd., 1979, S. 3.

8 Dreher, MDR 1970, 968; Krümpelmann, in: Kriminologie und Strafver-fahren, 1976, S. 50 u. ZStW 82 (1970), S. 1108, 1113 f., 1053. Die Frage istauf dem 8. Internat. Kongreß für Sozialverteidigung in Paris 1971 (dazuGrebing [Fußn. 7], S. 224; ZStW 84 [1972], S. 542) umstritten geblieben;im Schlußbericht der Jugendstrafvollzugskommission, 1980, S. 7, 17, 63hat man sich mehrheitlich für die Resozialisierung in der U-Haft ent-schieden (vgl. noch bei Fußn. 9, 10).

9 AG Zweibrücken, NJW 1979, 1557 (Verstoß gegen Art. 104 I S. l GG);Seebode, JA 1979, 615; Linck, ZRP 1971, 58; Mrozynski, RdJ 1973, 329(Verstoß gegen Art. 12 I S. l GG); Sprenger, NJW 1976, 664; Sonder-votum Herkert, Neu, Ayass, Böhm im Schlußbericht (Fußn. 8), S. 64;Franke (Fußn. 5), S. 46; Kreuzer, RdJ 1978, 352.

'« Seebode (Fußn. 9), S. 613; Sprenger (Fußn. 9) (auch Verstoß gegen Art. 2I, 3 I GG). Man wird § 110 II JGG auch nicht verfassungskonform da-hin auslegen können, daß an die Stelle einer staatlichen Befugnis zuerzieherischen Zwangseingriffen eine Pflicht zu erzieherischen Ange-boten tritt (so aber Seebode [Fußn. 9]; Walter, MSchrKrim. 61, 339 Fußn.10; anders Sprenger [Fußn. 9]). Vielmehr wird man diese restriktive

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kräftigen Urteil bzw. — bei Einführung des Schuldinterlokuts —vor einem bindenden Schuldspruch widerstreitet der Unschulds-vermutung (unten B. VI. 3.)11.

Freilich führt gerade dieses Resozlalisierungsverbot im Ver-ein mit der fast automatischen Anrechnung der U-Haft auf diespätere Strafe (§ 51 StGB) zu einem unaufhebbaren Dilemma:Das vom StGB wenigstens im Ansatz gelöste Problem der Zurück-drängung resozialisierungsfeindlicher kurzer Freiheitsstrafentaucht durch die Hintertür der U-Haft-Regeln wieder auf (näherB. VI. 2.)12.

3. Die U-Haft muß darüber hinaus zu der erstrebten Verfah-renssicherung in einem angemessenen Verhältnis stehen. Dauertdie U-Haft etwa über ein Jahr, vielleicht sogar zwei Jahre, sowird man — ungeachtet des § 51 StGB — nicht mehr behauptenkönnen, daß eine derartige Freiheitsentziehung noch als zumut-bares oder angemessenes Sonderopfer eines unschuldigen Bürgerserscheint13. Hier sind nicht nur die Unschuldsvermutung und dasBeschleunigungsgebot der MRK, sondern es ist auch das Prinzipder Verhältnismäßigkeit tangiert. Das Strafverfolgungsinteressedes Staates ist gegenüber dem Freiheitsanspruch des nur verdäch-tigen Bürgers überbetont (näher B. I.). — Das Verhältnismäßig-keitsprinzip und das Freiheitsinteresse des Bürgers sind gleicher-maßen berührt, wenn der später zu Geld- oder Bewährungsstrafe

Auslegung allein (und schon) auf § 93 II JGG — in Übereinstimmungmit § 4 I StVollzG — beziehen müssen (AG Zweibrücken, NJW 1979,1557); Sondervotum (Fußn. 9); anders Kreuzer, RdJ 1978, 351.

" Wolter, GA 1980, 88; s. auch Krauß, Schaffstein-Festschr., S. 424 u. in:Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1971f S. 161; Roxin, in: Krimi-nologie und Strafverfahren, 1976, S. 24; Schöch, in: Strafprozeß und Re-form, 1979, S. 57 f.; anders Clerc, Sir Lionel Fox-Festschr., 1964, S. 50 ff.;dazu Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1053 Fußn. 3, der die Geltungder Unschuldsvermutung im Bereich der U-Haft bestreitet.

12 Dreher, MDR 1970, 968; Kerner, Schröder-Gedächtnisschr., S. 551; Krüm-pelmann (Fußn. 8), S. 44, 50 u. ZStW 82 (1970), S. 1082; Jescheck/Krüm-pelmann, in: Die Untersuchungshaft im deutschen, ausländischen undinternationalen Recht, 1971, S. 988; Rosenthal, § 121 StPO — Die Ver-kürzung der Dauer der Untersuchungshaft durch die Beschleunigungdes Verfahrens, 1975, S. 211 f.; Vöcking (Fußn. 6), S. 239; Franke (Fußn.5), S. 31.

'* Krauß (Fußn. 11), S. 176 f.; Rudolphi, ZRP 1976, 170; Schubarth, ZurTragweite des Grundsatzes der Unschuldsvermutung, 1979, S. 29; Böing,ZStW 91 (1979), S. 380; aber auch Mrozynski, JZ 1978, 256; grundsätzl.Rieß, Schäfer-Festschr., 1979, S. 194.

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verurteilte Täter die Freiheitsentziehung nur in ihrer bedrük-kendsten Form, nämlich der U-Haft, erlebt14. Dieser zweiteAspekt muß uns bei den Reformüberlegungen zu § 113 StPO be-schäftigen (näher B. II.).

4. Die U-Haft muß schließlich nicht nur grundsätzlich zurVerfahrenssicherung geeignet, sondern gerade mangels vorrangi-ger milderer Mittel erforderlich sein. Gegen den Grundsatz derGeeignetheit wäre etwa verstoßen, wenn gegen den flüchtigen Be-schuldigten ein Abwesenheitsverfahren durchgeführt werdenkönnte. Das Prinzip der Erforderlichkeit (ebenso wie das der Ver-hältnismäßigkeit) wäre tangiert, wenn die U-Haft wegen Ver-dunkelungsgefahr über den Abschluß der Ermittlungen hinausandauern würde (näher B. I. 4. d). — Der Grundsatz des Vorrangsmilderer Mittel ebenso wie das Prinzip der Verhältnismäßigkeitwären verletzt, wenn anstelle der Haftverschonung nach stigmati-sierendem Erlaß oder gar Teilvollzug eines Haftbefehls die unmit-telbare Anordnung von ambulanten verfahrenssichernden Maß-nahmen eine vergleichbare Wirksamkeit (unter Berücksichtigungeiner „sozialen Kosten-Nutzen-Analyse") verspräche. Die U-Haftdarf nur ultima ratio der Verfahrenssicherung sein. Damit frei-lich wird § 116 StPO schon im Ansatz in Frage gestellt (näher B.III.).

B. Die neuralgischen Punkte bei der Reformder Untersuchungshaft

Nimmt man all' die genannten Prinzipien zusammen (Verfah-renssicherung anstelle von General- oder Individualprävention;Unschuldsvermutung; Beschleunigungsgebot; Verhältnismäßig-keit; Geeignetheit; Vorrang milderer Mittel), so ergibt sich fürdas geltende Recht der U-Haft eine Fülle von neuralgischen Punk-ten. Läßt man einmal die Einzelausgestaltung des U-Haft-Voll-zuges (§119 StPO)15 beiseite, so bleiben zumindest sechs grund-sätzliche Problemkreise (nachfolgend I.—VI.):

I. Verhaftungszeit und Haftdauer1. Zunächst hat man nach geltendem Recht bei der Strafverfol-

gung mit Hilfe der U-Haft einerseits zu wenig, andererseits un-

14 Vgl. Grebing (Fußn. 7), S. 197; Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1067(einschränkend in Jescheck/Krümpelmann [Fußn. 12], S. 89).

15 Dazu etwa Müller-Dietz, Strafvollzugsrecht, S. 329; Dünnebier, in: Pro-bleme der Strafprozeßreform, 1975, S. 46 ff.; Rotthaus, NJW 1973, 2270;Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 166; Riej3, Schafer-Festschr., S. 207.

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verhältnismäßig viel Zeit. Der Richter muß den Haftbefehl binnen24 Stunden erlassen (Art. 104 Abs. 3 GG). Faktisch verbleibt ihmheute eine halbe Stunde16. Dabei bedürfen nicht nur die engenHaftgründe z. B. der Flucht- und Verdunkelungsgefahr besonderssorgfältiger Prüfung. Der Richter hat auch nach § 112 Abs. l S. 2StPO die zu erwartende Strafe wegen der Verdachtstat zu be-rücksichtigen. Registerauszüge stehen ihm aber vielfach nicht zurVerfügung. Bei den persönlichen Daten ist er häufig auf die An-gaben des Beschuldigten angewiesen.

Der Richter steht also ständig in einem Konflikt zwischen Eil-bedürftigkeit und Sorgfaltspflicht17. Zwar mag heute wegen die-ser Unzulänglichkeiten vielfach von einem Haftbefehl abgesehenwerden18 — was freilich empirischer Fundierung harrt —, aberes bedarf nur eines Klimawechsels, bis unter Anwendung vonRoutineformeln auch wieder einmal zu häufig verhaftet werdenmag19.

2. Dieses Spannungsverhältnis von Eilbedürftigkeit undSorgfaltspflicht ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Wäh-rend der Haftbefehl vielfach zu kurzfristig ergehen muß, sind dieanschließenden Haftzeiten trotz der oberlandesgerichtlichen Kon-trolle nach § 121 StPO z. T. erheblich zu lang. Ohnehin setzt dieHaftprüfung des OLG nach sechs Monaten überwiegend zu spätein20, und verzögert diese Kontrolle das Verfahren um etwa einenMonat21. Die Haftreformen haben auch insgesamt eine Verkürzungder Haftdauer nicht erbracht22. Das Problem der Haftdauerredu-zierung und allgemein die Frage der Verkürzung des Strafverfah-rens23 werden deshalb immer dringlicher.

»o Dünnebier (Fußn. 15), S. 43.» Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1091 u. (Fußn. 8), S. 46 m. Fußn. 26;

Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 992; Cordier, NJW 1968, 1710.1S Cordier (Fußn. 17); aber auch Kreuzer, RdJ 1978, 344.» Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1091.20 Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1112 u. (Fußn. 8), S. 52; Prüllage, DRiZ

1979, 278; Vöcking (Fußn. 6), S. 224. Vgl. noch Fußn. 26.21 Kaiser, NJW 1968, 779; krit. Rosenthal (Fußn. 12), S. 221; Vöcking (Fußn.

6), S. 224 ff.22 Kerner, Schröder-Gedächtnisschr,, S. 562; Krümpelmann, ZStW 82 (1970),

S. 1104 ff., 1106.23 ASJ RuP 1976, 258; Grebing (Fußn. 7), S. 200; Jescheck/Krümpelmann

(Fußn. 12), S. 951, 992; Vöcking (Fußn. 6), S. 238. Der beachtliche Vor-schlag von Baldus, ZStW 82 (1970), S. 1128, 1129 f.: Abtrennung und be-schleunigte Erledigung eines Teilkomplexes der Straftaten — ist nichtunproblematisch; Krüger, Leibinger, Jescheck, ZStW 82 (1970), S. 1130 f.

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Immerhin sind nach wie vor knapp ein Drittel der Einsitzen-den (etwa 14000 Personen) U-Häftlinge24. Nach einer von 1964bis 1973 reichenden Erhebung in Nordrhein-Westfalen zu denHaftprüfungsverfahren nach § 121 StPO kam es in 97 °/o der Fällezu einer Haftverlängerung über sechs Monate hinaus, waren nachneun Monaten noch 16 °/o der Haftsachen im Ermittlungsverfah-ren und befanden sich selbst nach einem Jahr noch 6 °/o der Vor-gänge im Ermittlungsstadium25. Natürlich setzen diese Zahlen erstbei der Sechsmonatsgrenze an; dort also, wo spätestens rd. 85 °/oder U-Haftverfahren enden26. Auch liegen die vergleichbaren Zah-len im Bundesdurchschnitt von 1976—1978 günstiger. Dennochdauerte die U-Haft 1978 bei Mord in 50,4%, bei Totschlag in37,5 °/o, bei schwerem Raub und Raub mit Todesfolge in 11,6 °/ound bei Bandendiebstahl in 12,9 °/o der Fälle länger als ein Jahr27.Und ebenfalls 1978 haben im Bundesgebiet immerhin 3,64% derHäftlinge (1395 von 38 361) ein Jahr und darüber in U-Haft ver-

24 Ende 1976: 14181; 1977: 14152; 1978: 13496; zu den Zahlen 1961—1974Vöcking (Fußn. 6), S. 210. Im internationalen Vergleich schneidet Deutsch-land damit relativ schlecht ab (Jescheck/Krümpelmann [Fußn. 12], S. 997;die folgenden Zahlen beziehen sich auf Strafvollzug/U-Haft 1974 auf je100000 der Wohnbevölkerung): Deutschland 55,5/25,5; Schweden 36,7/6,3;Frankreich 45,5/6,5; Großbritannien 68,6/6,4; Dänemark 37,3/16,7; Öster-reich 74,3/29,7; vgl. auch Niederlande (1972!) 11,1/9,9. Zur Jugend- undHeranwachsenden-U-Haft vgl. Franke (Fußn. 5), S. 30 ff.; Mey (Fußn.7 a), S. l (1978: rd. 3000 U-Häftlinge); Kreuzer, RdJ 1978, 339 ff.; Kallien,KrimJ 1980, 117 ff.

25 Zur unterschiedl. Bewertung dieses Zahlenmaterials (näher Vöcking[Fußn. 6], S. 222 ff.) Krümpelmann (Fußn. 8), S. 51 einerseits; Rüping,Theorie und Praxis des Strafverfahrens, 1979, Rn. 216 m. Fußn. 34 an-dererseits.

2« 1978 (1977/1976) dauerte die U-Haft in 38,31 % (37,57 %/36,38 %) der Fällebis l Mon., in 27,5% (28,55 %/28,66 %) 1—3 Mon., in 19,05% (19,42 %l20,09 %) 3—6 Mon. und in 11,49 % (10,97 %/ll,25 %) 6—12 Mon. Die Sechs-monatsgrenze wurde von 84,87 % (85,54 %/85,12 %) der Fälle nicht über-schritten. Zu den erheblich günstigeren Zahlen im Ausland Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 997 f.; insbes. zu Schweden Schmidt, in:Jescheck/Krümpelmann, S. 568 f.: in 3A aller Fälle dauerte die U-Haft1962/1967 bis zu 2 Wochen. Zum Jugendstrafrecht vgl. Franke (Fußn. 5),S. 32 (U-Haft-Dauer in ca. 80% der Fälle unter 3 Mon.); Kreuzer, RdJ1978, 339.

27 Vergleichszahlen 1976: 57% Mord; 50,4% Totschlag; 12% schwerer Raubu. Raub m. Todesfolge; 11% Bandendiebstahl (näher Kerner, Schröder-Gedächtnisschr., S. 562). Freilich spielt insoweit auch die Rechtsmittel-haft eine Rolle; Kerner, a.a.O.; Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug,1977, S. 76; Krümpelmann (Fußn. 8), S. 50 f.

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bracht28. — Daß solche Haftzeiten gegen den Verhältnismäßig-keitsgrundsatz sowie die Unschuldsvermutung und das Beschleu-nigungsgebot der MRK verstoßen, ist eingangs (A. II. 3.) schonbetont worden.

Schließlich fehlt es sogar an jeder „Endfrist"-Regelung beider U-Haft29. Haftzeiten von zwei, drei oder fünf Jahren sind vonder StPO nicht ausgeschlossen und kommen in der Praxis durch-aus vor30. Da auch die MRK eine Sanktion bei Überlänge der U-Haft nicht kennt, wird man de lege lata mit der Aufhebung desHaftbefehls unter Berufung auf das Freiheitsrecht in Art. 2 Abs. 2GG helfen müssen31.

3. Was ist in dieser notstandsähnlichen Lage zu tun? EinePolitik der kleinen Schritte hilft da nicht viel; sie sei aber immer-hin erwähnt: Man kann so lange wie möglich „um den Beschul-digten herum" ermitteln und ihn erst verhaften, wenn die Bewei-se gesichert sind82; man kann die Postwege zwischen Staatsan-waltschaft und Gericht verkürzen oder mit dem Telefon über-springen; man kann in allen Haftsachen Zweitakten führen, recht-zeitig für etwaige Dolmetscher sorgen, und man kann für daskünftige Recht erwägen, den zeitraubenden und vom Betroffenenvielfach als parteilich empfundenen Eröffnungsbeschluß abzu-schaffen83. Aber all' dies bringt nicht viel; vor allem auch nichtfür die „Überstürzung" beim Erlaß eines Haftbefehls.

" Vergleichszahlen 1977: 3,49% (1397 von 40004); 1976; 3,63% (1529 von42105); 1975: 2,9%. Dabei bedarf es direkter empirischer Erhebungendarüber, gegen welche (Rand-)Gruppen die U-Haft insbes. nach der Re-form 1972 tatsächlich verhängt wird (Kaiser, Kriminologie, 4. Aufl., § 7Ziff. 2; Kerner [Fußn. 27], S. 562 f.).

29 Dünnebier (Fußn. 15), S. 37. Sehr weit geht der 1962 von einer UN-Kommission erarbeitete Vorschlag, die Haft auf die Hälfte der angedroh-ten Mindeststrafe des betreffenden Delikts zu begrenzen (Rüping [Fußn.25], Rn. 215); s. noch Kaiser, NJW 1968, 779; dogmengeschichtl. undrechtsvergleich. Rosenberg, ZStW 26 (1914), S. 396. Ohnehin ginge mandann entgegen der Unschuldsvermutung letztlich von einer Verurteilungaus; Schubarth (Fußn. 13), S. 29.

30 Vgl. auch BVerfGE 20, 45 ff.; Krümpelmann (Fußn. 8), S. 51; Plemper,KrimJ 1979, 290. S. auch BVerfG, JZ 1980, 350: U-Haft und Haftverscho-nung von 12—13 Jahren.

» Dünnebier (Fußn. 15); vgl. auch BVerfG, JZ 1980, 350.s* Dreves, DRiZ 1966, 369 m. Hinw. auf Art. 5 III S. 2 MRK; Dünnebier

(Fußn. 15), S. 47.33 Näher Prüllage, DRiZ 1979, 278; Kaiser, NJW 1968, 779; Vöcking (Fußn.

6), S. 234 ff.; schon Klefisch, JW 1925, 1452. Zur von der schwed. Praxis

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460 Jürgen Weiter

4. Wirksame Abhilfe de lege jerenda verspricht allein einVerfahren, wie es in ähnlicher Form z. B. in Schweden, Belgienund den Niederlanden eingeführt ist. Zu denken ist an die Ver-bindung eines schlagkräftigen und relativ kurzfristigen „Fest-nahmebefehls"*4 („förmlichen Festnahmebeschlusses"; „Vorhaft-befehls") mit einem im Einzelfall nachgeschalteten, individuellund knapp befristeten (Haupt-)Haftbefehl95. Im einzelnen magdas — z. T. in wesentlicher Abweichung von den genannten Vor-bildern — etwa wie folgt aussehen:

a) Zunächst wird im schnellen Zugriff für einen Zeitraumvon einem Tag bis zu drei und höchstens fünf Tagen36 ein mitGründen versehener schriftlicher Festnahmebefehl erlassen (vgl.Art. 104 Abs. 3 S. 2 GG). Für seine Anordnung ist — abweichendvon der schwedischen Regelung37 — wegen Art. 104 Abs. 2 GG

eingeführten doppelten Aktenführung Schmidt, in: Jescheck/Krümpel-mann (Fußn. 12), S. 569. Neuestens Carstensen, MSchrKrim. 63, 292 ff.

34 Die Formulierung „Festnahmebefehl" empfiehlt sich, um dem Vorhaft-befehl den Anstrich eines eigentlichen Haftbefehls zu nehmen; vgl. dasschwed. Recht, das zwischen „Ergreifung" (z. T. entspr. unserer „vor-läufigen Festnahme"), „Festnahme" und „Verhaftung" unterscheidet(Schmidt, ZStW 74 [1962], S. 650 ff.) oder den Entw. einer deutsch. StPO:„vorläufige Festnahme", „Verwahrungsbefehl", „Haftbefehl" (Rosenberg,ZStW 26 [1914], S. 377).

35 Näher JeschecklKrümpelmann (Fußn. 12), S. 964, 984 ff., 992; Jescheck,in: Probleme der Strafprozeßreform, 1975, S. 23 f.; Krümpelmann (Fußn.8), S. 52 u. ZStW 82 (1970), S. 1091, 1108 ff.; s. auch Cordier, NJW 1968,1710 f.; Rosenthal (Fußn. 12), S. 223 ff.; Vöcking (Fußn. 6), S. 250 ff.;Walter, MSchrKrim. 61, 349; vgl. schon Aisberg, JW 1925, 1436 u. Rosen-berg, JW 1925, 1447; ders., ZStW 26 (1914), S. 375 ff.; krit. hinslchtl. derEffektivität Dünnebier (Fußn. 15), S. 47. Für eine individuelle zeitlicheFestlegung eines einheitlichen Haftbefehls durch den Haftrichter Prül-lage, DRiZ 1979, 279.

86 Cordier, NJW 1968, 1711; Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 992;Jescheck (Fußn. 35), S. 23 f.; Schmidt, in: Jescheck/Krümpelmann (Fußn.12), S. 580, zu Schweden (vgl. dort Fußn. 105 dazu, daß die Fünftagefristbei weitem nicht ausgeschöpft wird); der „Verwahrungsbefehl" nachaltem franz. Recht währte bis zu drei Tagen; zur Fünftagefrist nachArt. 138 C. P. P. a. F. vgl. Grebing (Fußn. 7), S. 129; dogmengeschichtl.und rechtsvergleich, ferner Rosenberg, ZStW 26 (1914), S. 375 ff.; zurein-, zwei- oder sechstägigen Polizeihaft in Frankreich vgl. Kriminalistik1980, 90; zur Fünftagefrist bei § 81 a StPO OLG Frankfurt, GA 1979,343.

87 Näher Schmidt, ZStW 74 (1962), S. 651 ff. u. in: Jescheck/Krümpelmann(Fußn. 12), S. 565 ff.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 461

der (Haft-)Richter (auf Antrag der Staatsanwaltschaft) zuständig.Der Festnahmebefehl unterliegt grundsätzlich — was den Tat-verdacht88 und die Haftgründe angeht — den gleichen Erforder-nissen wie der eigentliche Haftbefehl. Man muß dabei nur imAuge behalten, daß sich die Voraussetzungen des dringenden Tat-verdachts im Frühstadium der Ermittlungen möglicherweise aucheher befürworten lassen89.

Wie auch immer — während der „Vorhaftzeit" können dieRegisterauszüge herbeigezogen und mit Unterstützung der sozia-len Gerichtshilfe40 die persönlichen Daten des Beschuldigten er-hoben werden. Es können Spuren gesichert, die engen Vorausset-zungen der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr überprüft unddie zu erwartende Strafe (§ 112 Abs. l S. 2 StPO) besser abge-schätzt werden41.

Die desintegrierende und stigmatisierende Wirkung einesFestnahmebefehls ohne nachfolgenden Haftbefehl wäre wegenseiner engen Befristung (auf ein bis fünf Tage) begrenzt42. Ein„sozialer Schock" beim Betroffenen wäre nicht zu befürchten. Zueinem Verlust der Wohnung oder des Arbeitsplatzes bzw. zu einerLockerung der familiären Bindungen wird es regelmäßig nichtkommen; die seelischen Belastungen — wie Ungewißheit überdie Dauer der Haft, Einzelhaft, Hafteinlieferung in die Vollzugs-anstalten (im Einzelfall mit Anstaltskleidung), die „Regression indas Infantile und Hilflose", die Resignation, Depressivität, aberauch Aggressivität, die Minimierung von Besuchszeiten, die Ver-urteilung zur Passivität oder die Verschubung — wären beseitigtoder auf ein zumutbares Maß reduziert48. Man sollte dem Beschul-

88 Die schwed. Regelung stellt hingegen an den Tatverdacht geringereAnforderungen (Schmidt [Pußn. 37], S. 652 f.).

** Aber auch Schmidt-Leichner, NJW 1959, 844.40 Dazu Plemper, KrimJ 1979, 284; Kreuzer, RdJ 1978, 349.41 Zu den Schwierigkeiten nach geltendem Recht Schmidt (Fußn. 37), S.

626; vgl. (aber) auch Dahs, NJW 1959, 510.42 JescheckIKrümpelmann (Fußn. 12), S. 992.43 Zum Ganzen etwa Dahs, NJW 1959, 507; Feest, Krit. Justiz 1977, 306 ff.;

Franke (Fußn. 5), S. 38; Mey (Fußn. 7 a), S. 6; Schlußbericht (Fußn. 8), S.63; Kreuzer, RdJ 1978, 338; Mrozynski, RdJ 1973, 326; Philipp, Zentr.BlfJugR 1979, 431; Plemper, KrimJ 1979, 283 f.; Rogge, DRiZ 1974,60; JRotthems, NJW 1973, 2271; Schütze, MSchrKrim. 63, 149 f.; näherLang, Die Untersuchungshaft im Jugendstrafverfahren, 1979, S. 106 ff.;Ohm, Persönlichkeitswandlung unter Freiheitsentzug, 1964, S. l ff., 20,21 ff., 52 f., 54 ff.; Schubarth, Die Rechte des Beschuldigten im Unter-

30 Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtsw. VHCBrought to you by | Universitaetsbibliothek Frankfurt/Main

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462 Jürgen Wolter

digten sogar das Recht einräumen, insoweit auf die Benachrich-tigung von Angehörigen oder Personen seines Vertrauens zu ver-zichten. Doch steht dem wohl Art. 104 Abs. 4 GG entgegen44. —Schließlich sollte man bei der Vorführung und Überführung desBeschuldigten unnötige Aufmerksamkeit vermeiden44 (Einzel-transport!).

b) Ergeben nun die Ermittlungen, daß die Voraussetzungender „stationären Verfahrenssicherung" nicht mehr vorliegen, oderergibt sich, daß die weitere „Festnahme" zu der Bedeutung derSache und der zu erwartenden Sanktion außer Verhältnis stehenwürde, so ist der Festnahmebefehl aufzuheben. Insoweit könnteman auf § 120 StPO schon für den Festnahmebefehl zurückgrei-fen. — Der Betroffene ist weiter unverzüglich freizulassen, wenndie Staatsanwaltschaft nicht innerhalb der Fünftagefrist den An-trag auf Erlaß eines Haftbefehls stellt. Dieser Antrag ist nun-mehr bei dem für die Sache zuständigen Gericht anzubringen45.

Das Gericht hat — soweit die öffentliche Klage noch nichterhoben ist46 — binnen kürzester Frist (etwa innerhalb von vier47

Tagen) Termin zu einer mündlichen, zügigen und gegebenenfallsöffentlichen Haftverhandlung** anzuberaumen. Zu dieser Ver-

suchungsverfahren, besonders bei Untersuchungshaft, 1973, S. 47 ff. —Man sollte sogar erwägen, die Festnahme nicht in der JVA oder ver-gleichbaren Untersuchungshaftanstalten (vgl. aber Nr. 86, 87 UVollzOsogar für die vorläufige Festnahme), sondern in geeigneten Fällen auchim Polizei- oder Gerichtsgewahrsam zu vollziehen (Schmidt [Fußn. 37],S. 657, zum schwed. Recht; Kriminalistik 1980, 90 und oben Fußn. 36 zurPolizeihaft in Frankreich sowie Kleinknecht, § 163 c Rn. 2 zur „Fest-haltung"). Vgl. noch bei Fußn. 90 und § 93 I JGG.

44 Aber auch Schmidt (Fußn. 43), für das schwed. Recht; zur Problematikdes § 114 b StPO Böing, ZStW 91 (1979), S. 383; Roxin, Strafverfahrens-recht, S. 163; aber auch Rüping (Fußn. 25), Rn. 199. Sofern man de legeferenda in jedem Stadium des Verfahrens einen Verteidiger beiordnet(Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, §§ 2 ff.), reduziertsich das Problem auf die Pflichtverteidigungsfälle.

45 In Abweichung von § 125 I StPO; vgl. Vöcking (Fußn. 6), S. 253.46 Nach Erhebung der öffentlichen Klage mag man im Anschluß an die

schwed. Regelung daran denken, daß das Gericht die Verhandlung überden Haftbefehl mit der Hauptverhandlung (binnen einer Woche) ver-bindet; Schmidt, ZStW 74 (1962), S. 660 f.

47 So die schwed. Regelung; Schmidt (Fußn. 37), S. 660.48 Näher Schmidt (Fußn. 37), S. 642 ff.; schon Rosenberg, JW 1925, 1447;

ders., ZStW 26 (1914), S. 375 ff. Die Öffentlichkeit muß auf Beschuldig-tenantrag oder auf gerichtliche Veranlassung — etwa wegen Erschwe-rung der Ermittlungsarbeit — auszuschließen sein.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 463

Handlung sind der Beschuldigte, sein Verteidiger, die Staatsan-waltschaft und der Verletzte zu laden48. Die Mündlichkeit derHaftverhandlung stellt den Beschuldigten erheblich günstiger alsdie gegenwärtige Regelung der StPO. Er kann rechtzeitig Ver-dachtsmomente widerlegen und Irrtümer aufklären. Auch brauchtman nur an die Möglichkeit der „sofortigen Haftverschonung" zudenken49.

Kommt im Zuge der mündlichen Haftverhandlung eine Frei-lassung des Beschuldigten und damit das Absehen vom Erlaß deseigentlichen Haftbefehls nicht in Betracht, so hat das Gericht inZusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft eine „individuelle"Frist zu bestimmen, innerhalb welcher die öffentliche Klage zuerheben ist. Diese Frist wird eng — z. B. zwischen ca. zwei undsechs Wochen — zu bemessen sein50. Dabei wird man — im Ge-gensatz zur grundsätzlichen schwedischen Regelung — auf eineHaftprüfung nach jeweils zwei Wochen Haftzeit möglicherweiseverzichten können. Wohl aber wird man bei der im Einzelfall(etwa bei schwierigen Wirtschafts- oder Umweltstrafsachen) zu-zulassenden Verlängerung der Ausgangsfrist von zwei bis sechsWochen eine Haftprüfung einschalten müssen51. Diese würde ausGründen der Beschleunigung ebenfalls von dem mit der Sachebefaßten Gericht, nicht etwa vom OLG, vorgenommen52.

Wird die öffentliche Klage nicht fristgerecht erhoben, so hatdas Gericht unverzüglich die Freilassung des Beschuldigten an-zuordnen. Kommt es hingegen termingerecht zur Klageerhebung,so ist wiederum binnen kürzester Frist die Hauptverhandlunganzuberaumen53. Dabei wird durchaus nicht übersehen, daß heutedie Zeit von der Verhaftung bis zur Anklage meist sogar weniger

<9 Überzeugend Schmidt (Fußn. 37), S. 644; näher unten £.111.1.50 In Schweden regelmäßig zwei Wochen (näher Schmidt [Fußn. 37], S.

647); für eine (realitätsnahe) Verlängerung dieser Frist bei einer U-Haft-Reform in Deutschland auch Rosenthal (Fußn. 12), S. 225 (die im übrigeninsoweit ein Beschwerderecht des Beschuldigten erwägt).

51 Insoweit in Übereinstimmung mit dem schwed. Recht (Schmidt [Fußn.50]); s. auch Krümpelmann (Fußn. 8), S. 52; Rosenberg, ZStW 26 (1914),S. 395; Vöcking (Fußn. 6), S. 251.

52 So auch das schwed. Recht (Schmidt [Fußn. 37], S. 648 f.); anders Krüm-pelmann (Fußn. 51); Vöcking (Fußn. 6), S. 252; vgl. auch Rosenthal (Fußn.12), S. 221 f. S. noch bei Fußn. 21.

53 Zum schwed. Recht (Hauptverhandlung binnen einer Woche) Schmidt(Fußn. 37), S. 647 f.

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464 Jürgen Wolter

lang ist als der Zeitraum von der Anklage bis zur Hauptverhand-lung54. Doch wird man die Gerichte angesichts der weitreichen-den Verfassungswidrigkeit des praktizierten U-Haft-Rechts indie Pflicht nehmen können, bei Freiheitsentziehungen vor einemUrteil äußerst knapp und absolut vorrangig zu terminieren55.Auch hier ist ein Zeitraum von ca. zwei bis sechs Wochen anzu-streben.

c) Es liegt auf der Hand, daß die vorgeschlagenen Regelun-gen erhebliche Vorteile mit sich brächten. Das dargestellte Di-lemma von Eilbedürftigkeit und Sorgfaltspflicht wäre mit derEinführung des schlagkräftigen Festnahmebefehls gelöst. DieHaftdauer aufgrund des eigentlichen Haftbefehls wird drastischauf ein der Unschuldsvermutung, dem Verhältnismäßigkeitsprin-zip und dem Beschleunigungsgebot verpflichtetes Maß verkürzt.Eine der größten psychischen Belastungen — die Ungewißheitüber die Dauer der U-Haft50 — wäre vom Beschuldigten genom-men. Staatsanwaltschaft und erkennendes Gericht legen die Fri-sten individuell und von vornherein planerisch fest. Auch zeit-raubende gutachterliche Tätigkeiten könnten „final geplant" wer-den. An die Stelle der Konzentration der Ermittlungen in einerHand tritt eine weitreichende Kooperation und Selbstkontrolle derJustizbehörden57. Binnen gut einer Woche kommt es auf jedenFall zu einer mündlichen Haftverhandlung, und innerhalb vonvier Wochen bis allenfalls drei Monaten kann in Fällen ohne be-sondere Schwierigkeiten und ohne besonderen Umfang die Haupt-verhandlung anberaumt werden28. Audi komplizierte Verfahrenkönnten innerhalb von höchstens ca. 4V2 Monaten58 mündlich ver-handelt werden.

d) Für den Bereich des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahrlassen sich die jeweiligen Endfristen noch einmal präzisieren undim Einzelfall sogar verringern. Grundsätzlich wird man davonausgehen können, daß die Beweise binnen sechs Wochen (ab Erlaß

" Dünnebier (Fußn. 15), S. 48; Prüllage, DRiZ 1979, 278.55 Erwägenswert scheint es deshalb auch, die individuellen Haftfristen im

Einzelfall schon in der mündlichen Haftverhandlung bis hin zur Eröff-nung der Hauptverhandlung zu erstrecken; Vöcking (Fußn. 6), S. 251.

5« Dahs, NJW 1959, 507; Krümpelmann (Fußn. 8), S. 52; Vöcking (Fußn. 6),S. 259 ff.; schon v. Lilienthal, JW 1925, 1448.

w Vöcking (Fußn. 6), S. 253 f., 257, 235.s« Vöcking (Fußn. 6), S. 263 (ca. sechs Mon.).

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 465

des Festnahmebefehls) zu sichern sind59. Darüber hinaus solltedie Haft wegen Verdunkelungsgefahr deshalb i. d. R. nicht in Be-tracht kommen. Eine (einmalige) Verlängerung bis zu weiterensechs Wochen wird man ausnahmsweise bei schwierigen Umwelt-oder Wirtschaftsstrafsachen60 erwägen können. In jedem Fall aberist der Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr mit dem Abschlußder Ermittlungen nach § 169 a StPO aufzuheben61. Jede andereLösung verstößt gegen den Grundsatz der Erforderlichkeit ebensowie gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip62.

5. Im Ergebnis scheint dieses individuell befristete Verfah-ren vorteilhafter zu sein, als der ganz andere Vorschlag vonDünnebier63, ein Verfahren mit plea of guilty einzuführen. Gewiß,Dünnebier hat recht damit, daß wirkliche Reform der U-Haft nurProzeßreform insgesamt sein kann23, daß also die U-Haft kurzsein wird, wenn es überhaupt rasch zum Urteil kommt — und beiVerfahren mit plea of guilty kann es rasch zum Urteil kommen.Da unser Legalitätsprinzip und die gerichtliche Aufklärungs-pflicht Vereinbarungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigerüber den Charakter der Straftat verbieten64, will Dünnebier fürdas plea of guilty einen Anreiz dadurch schaffen, daß die Fristenfür die spätere bedingte Entlassung nach § 57 Abs. 2 StGB umetwa 25 °/o gekürzt werden.

w Dünnebier (Fußn. 15), S. 32 (drei Mon.); s. auch Hieß, Schafer-Festschr.,S. 206 Fußn. 179; für eine Zweimonatsfrist Strafrechtsausschuß der Bun-desrechtsanwaltskammer (zit. bei Schmidt, ZStW 74 [1962], S. 648 Fußn.111); schon Aisberg, JW 1925, 1437; dagegen prinzipiell Vöcking (Fußn. 6),S. 243 ff. mit dogmengeschichtl. Nachw., der aber die Möglichkeit derHaftverlängerung im Einzelfall (dazu sogleich im Text) außer acht läßt;rechtsvergleich, noch Rosenberg, ZStW 26 (1914), S. 395.

80 Zur Beschleunigung des Verfahrens bei Wirtschaftsstrafsachen vgl. u. a.die §§ 154, 154 a StPO n. F. sowie die Reformvorschläge von Tiedemann,Wirtschaftsstrafrecht u. Wirtschaftskriminalität, BT 1976, S. 176 ff.; zur(z. T. unverhältnismäßigen) Dauer der Ermittlungsverfahren bis 1978,recht, 22/80.

61 Dünnebier (Fußn. 15); vgl. auch Feest, Krit. Justiz 1977, 308.2 Vgl. aber auch Schmidt-Leichner, NJW 1959, 846; Vöcking (Fußn. 6), S.

234.

M Dünnebier (Fußn. 15), S. 50 f.; Prüllage, DRiZ 1979, 279; krit. Rieß,Schäfer-Festschr., S. 188 Fußn. 124.

" In den USA werden ca. 90 % der FäUe durch plea of guilty erledigt (Kri-minalistik 1980, 53; TIME v. 28. 8. 1978, S. 44; dort auch zur Kritik andiesem Rechtsinstitut); vgl. noch Dünnebier (Fußn. 15), S. 50 Fußn. 33.

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Das ist plausibel, denn die Strafe ist wirksamer, wenn siealsbald nach der Tat angetreten wird. Auch wird man Dünnebiernicht vorhalten können, daß er die Fälle von U-Haft mit an-schließender Bewährungs- oder Geldstrafe außer acht läßt; Kon-stellationen also, bei denen die bedingte Entlassung nach § 57Abs. 2 StGB grundsätzlich nicht zum Zuge kommt. Denn Fällemit U-Haft als einziger Form des Freiheitsentzuges sollte es —wie sogleich bei den Reformüberlegungen zu § 113 StPO erläutertwerden wird — regelmäßig erst gar nicht geben65. Der entschei-dende Einwand gegen Dünnebiers Lösung geht deshalb dahin,daß mit ihr keine Vorsorge für all' diejenigen Verfahren getroffenist, in denen der Täter von vornherein zu einem Geständnis odereiner Schuldigerklärung trotz des winkenden Vollzugsrabattsnicht bereit ist.

6. Andererseits: wenn man schon für geständige und straf-willige Täter eine „Strafe mit Rabatt" erwägt, dann sollte man —wie auch Dünnebier!66 alternativ vorschlägt — einen ganz anderenWeg gehen. Nicht relativ kurze U-Haft mit anschließender ver-kürzter Strafhaft, sondern vorzeitiger freiwilliger Strafantrittanstelle der U-Haft — dies sollte das Leitprinzip sein. Inwieweitman hier — entgegen dem Schweizer Vorbild für den „vorläufi-gen Strafvollzug" — wiederum an eine Verkürzung der Straf-dauer wegen unmittelbaren Strafantritts denken kann, wird unsnoch beschäftigen (unten VI. 4.). Zunächst zu § 113 StPO, der ganzähnliche Fragen im Vorfeld der U-Haft aufwirft.

. Nichtanordnung des Haftbefehls bei leichteren Taten(§113 StPO)

1. Mag auch das Bestreben des Gesetzgebers, mit § 113 StPOden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz selbst zu konkretisieren, be-grüßenswert sein: Die Vorschrift ist viel zu eng gefaßt. Sie führtzu Konsequenzen, die dem Verhältnismäßigkeitsprinzip geradezuwiderlaufen. Ihr Anwendungsbereich ist auf Taten beschränkt,die abstrakt mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit

65 Vgl. Dünnebier selbst (Fußn. 15), S. 36. — Auch der weitere Einwand,daß das plea of guilty für die Rechtsmittelhaft gerade keine Lösungbietet (Krümpelmann [Fußn. 8], S. 55 Fußn. 67; Vöcking [Fußn. 6], S.247), vermag den Vorschlag Dünnebiers nur für einen Teilbereich zurelativieren.

«« Dünnebier (Fußn. 15), S. 48 f., 50.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 467

Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bedroht sind. Nur ganz wenigeDelikte, wie z. B. die Bannkreisverletzung (§ 106 a StGB) oderdie Ausübung der verbotenen Prostitution (§ 184 a StGB), erfül-len diese Voraussetzungen und sind demnach nicht oder nur ver-mindert U-Haft-fähig. § 113 StPO ist wegen dieser Beschränkungauf Bagatellstraftaten weitgehend zur Wirkungslosigkeit verur-teilt. Bei den wenigen der Vorschrift unterfallenden Deliktenkommt es nur ganz vereinzelt zu den Ausnahme-Verhaftungenwegen Fluchtgefahr;67. Andererseits bestätigt die Vorschrift we-gen ihrer insgesamt engen Fassung den bisherigen Eindruck, daßzu häufig verhaftet werden kann,"68. Sie geht zudem am neuenmateriellen Strafrecht vorbei, wonach Geldstrafen bis zu 360Tagessätzen verhängt und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr ohnebesondere Umstände zur Bewährung ausgesetzt werden können.Die Zahlen, nach denen es nach Verbüßung von U-Haft zu Geld-oder Bewährungsstrafen kommt, sind bedenklich hoch. Sie liegenseit Jahren bei gut 40 °/o69.

Waren nun diese „ambulanten Strafen" von Anfang an zuerwarten, so ist in diesen Fällen die U-Haft die (bewußt odererkennbar verhängte) einzige und bedrückende Art des Freiheits-entzuges14. Dies widerstreitet regelmäßig dem Verhältnismäßig-keitsgrundsatz70, und man löst dann sehenden Auges all' jene

? Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1068; Kaiser, NJW 1968, 779.88 Vgl. dazu, daß man schon seit Mitte des vorigen Jahrhunderts die zu

häufigen Verhaftungen beklagt und ergebnislos bekämpft, Rosenberg,ZStW 26 (1914), S. 346, 339 ff.

» 1978: 41,46%; 1977: 40,57%; 1976: 41% einschl. der vergleichsweise selte-nen Fälle (ca. 10—12,3 % der Bewährungsstrafen) nach § 56 II StGB (da-zu Schreiber, Schaffstein-Festschr., S. 276 f.; Sturm, Dreher-Festschr.,S. 528 Fußn. 68); vgl. auch Kerner, Schröder-Gedächtnisschr., S. 553;Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1067 u. (Fußn. 8), S. 49 m. weit. Zah-lenmaterial; Jescheckl'Krümpelmann (Fußn. 12), S. 88 f.; Prüllage, DRiZ1979, 278; Grebing (Fußn. 7), S. 181, 224 Fußn. 63 für Frankreich (12%Bewährungsstrafen). — Daß es dabei vielfach zur Haftverschonung ge-kommen ist, entschärft das Problem nicht wesentlich, jedenfalls dannnicht, wenn die U-Haft zuvor schon vollzogen worden ist (vgl. Krüm-pelmann, a. a. O., S. 50). — Zahlenmaterial zur Jugend-U-Haft ohne an-schließenden Jugendstrafvollzug findet sich im Schlußbericht (Fußn. 8),S. 59; bei Kallien, KrimJ 1980, 121 (38%).

70 Grebing (Fußn. 7), S. 197; Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1067; ein-schränkend in Jescheckl Krümpelmann (Fußn. 12), S. 89. Für die Geld-strafe ergibt sich das schon aus § 112 I S. 2 StPO (Dünnebier, in: Löwe-Rosenberg, 23. Aufl., § 127 a Rn. 5).

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negativen Wirkungen des kurzfristigen Freiheitsentzuges aus, dienach dem materiellen Straf recht durch die Verhängung von Geld-oder Bewährungsstrafen gerade vermieden werden sollen. (Im-merhin dauert heute in rd. 85 °/o der Fälle die U-Haft „lediglich"bis zu 6 Monaten26.) Da der U-Haft-Vollzug im Heranwachsen-den- und Erwachsenenstrafrecht zu alledem grundsätzlich nichterzieherisch gestaltet werden darf (A. . 2. c), ist der Wider-spruch zur Resozialisierungsidee vollkommen.

2. Von den denkbaren Auswegen aus diesem Dilemma sindimmerhin zwei verschlossen71. Es ist zunächst nicht zulässig, dieverfahrenssichernde U-Haft als stationären spezialpräventiven„Einstieg" in die spätere ambulante resozialisierende Bewäh-rungsstrafe zu verwenden72. Damit hätte man zwar den Wider-spruch zur Resozialisierungsidee aufgehoben. Aber man würdediese Auflösung mit dem ganz anderen Widerspruch zur Un-schuldsvermutung und zum Übermaßverbot erkaufen. Man näh-me den Strafzweck der Resozialisierung vorweg, ohne einenSchuldspruch als Grundlage zu besitzen73; mehr noch, man griffezur Erziehung in Unfreiheit, obwohl nur eine Sanktion in Frei-heit droht74.

71 Ein dritter Ausweg — nämlich die Überwachung der (möglicherweisewegen späterer Geld- oder Bewährungsstrafe unverhältnismäßigen)U-Haft via Berichtspflicht der Staatsanwaltschaften an das Justizministe-rium (so in Belgien; vgl. Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1067) — istzwar offen, ändert aber an dem Grundproblem nichts.

72 In dieser Richtung aber Franke (Fußn. 5), S. 54 ff.; Walter, MSchrKrim.61, 348 f. (dazu Kreuzer, RdJ 1978, 342) für Jugendliche und Heranwach-sende. Walter will dabei z. T. noch weitergehend den Haftgrund derFluchtgefahr durch erzieherisch-spezialpräventive Gesichtspunkte ablö-sen (s. noch unten B.VI.3.a.); vgl. Walters Hinweis auf den von derDeutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe fürjunge Volljährige vorgeschlagenen „Einstiegsarrest" vor der „Bewäh-rung in Freiheit"; s. in diesem Zusammenhang noch den von der ASJ(Ayass, Bewährungshilfe 1979, S. 340) favorisierten „stationären sozialenTrainingskurs" als Einstiegsmaßnahme bei der Bewährungshilfe (krit.Papendorf/SchumannIVoß, KrimJ 1980, 90; Kreuzer, a. a. O.).

78 Das von Walter (Fußn. 72) vorgeschlagene „sehr summarische" tatfest-stellende Vorverfahren (als Variante eines Tatinterlokuts) vermag we-gen seines provisorischen Charakters an diesem Verdikt nichts zu än-dern.

74 Bei allem ist auch nicht aus den Augen zu verlieren, daß die angeord-nete U-Haft in der Praxis einen präjudizierenden Einfluß auf das Urteilhaben mag (Krümpelmann, ZStW 82 [1970], S. 1068; Schubarth [Fußn. 13],S. 29 Fußn. 136); zur franz. Praxis, die demgegenüber bei vorheriger

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 469

Der zweite Ausweg ist ebenso versperrt. Es ist gleichermaßenunzulässig, der U-Haft — wie das z. B. aus Frankreich berichtetwird75 — eine Art „Denkzettelfunktion" als „Einstimmung" aufdie spätere Bewährungsstrafe beizulegen. Hier dient die U-Haftnicht dem Strafzweck der Resozialisierung, sondern den weiterenStrafzwecken der Schuldvergeltung und der Abschreckungsgene-ral- und Abschreckungsindividualprävention. Es braucht nichtbetont zu werden, daß eine solche Zielrichtung der Unschuldsver-mutung diametral zuwiderläuft (oben A. II. 2.).

3. Wirksame Abhilfe bei § 113 StPO verspricht demgegen-über nur ein doppeltes Vorgehen auf der Grundlage einer vonvornherein eher großzügigen Beschränkung der U-Haft: Man darferstens den Ausschluß bzw. die erhebliche Einschränkung der U-Haft nicht mehr an die abstrakte Strafdrohung binden; beides istvielmehr an die konkret zu erwartende ambulante Strafe zu kop-peln. Und man muß zweitens für die dann im Einzelfall durchausnotwendig bleibende Verfahrenssicherung „ambulante Kontroll-maßnahmen" im Vorfeld der U-Haft vorsehen. Im einzelnen istfolgendes vorzuschlagen:

a) Man sollte zunächst erheblich über den geltenden § 113StPO hinausgehen und die U-Haft bei Flucht- und Verdunke-lungsgefahr jedenfalls dann regelmäßig ausschließen, wenn imkonkreten Fall eine vollstreckbare Freiheitsstrafe nicht erwartetwird78. Der Vorrang der prognostischen konkreten Einzelfallstrafe

U-Haft zur Verhängung von Bewährungsstrafen eher geneigt ist, vgl.nachfolgend sowie Grebing (Fußn. 7), S. 190 Fußn. 138, S. 209 f.

« Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1068 Fußn. 54; vgl. auch die amerikan.Praxis: Kombination von kurzer Freiheitsstrafe als Denkzettel und pro-bation (Weigend, ZStW 90 [1978], S. 1120). — Zu der Praxis und denReformbestrebungen in Frankreich, die U-Haft als vorweggenommeneStrafe zu interpretieren, vgl. (m. Recht krit.) Grebing (Fußn. 7), S. 189 ff.,192, 200. — Ebenso verfehlt wäre die Auffassung, nach der die U-Haftangesichts der vielfach nachfolgenden Bewährungsstrafen oder beding-ten Entlassungen nunmehr z. T. die Vergeltungsfunktion zu überneh-men habe (Sessar, in: Jesdieck/Krümpelmann [Fußn. 12], S. 196 f. Fußn.34). Die Vergeltung (bzw. den Schuldausgleich) hat bei Bewährungsstra-fen der Schuldspruch (Krauß, Schaffstein-Festschr., S. 430; Walter, GA1980, 83 Fußn. 22), bei bedingten Entlassungen der vorherige Strafvoll-zug zu verwirklichen. Vgl. noch Fußn. 7 sowie zum JugendstrafrechtFranke (Fußn. 5), S. 37 f.

7 Ähnl. die schwed. Regelung, die freilich die „abstrakte Methode" (z. B.keine Verhaftung wegen Verdunkelungsgefahr bei mit Gefängnis be-drohten Straftaten) mit der „konkreten Methode" (keine U-Haft bei

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vor der abstrakten Strafdrohung77 entspricht dem Vorzug derEinzelfallgerechtigkeit und des ganz konkreten Verfahrenssiche-rungsinteresses vor der möglicherweise größeren Rechtssicherheit.

Dieser Ausgangspunkt läßt sich nun dahin präzisieren, daßU-Haft prinzipiell unzulässig ist, wenn konkret eine Geldstrafe(von bis zu 360 Tagessätzen) oder eine zur Bewährung auszuset-zende Freiheisstrafe jedenfalls bis zu einem Jahr zu erwartenist78. Damit erreicht man eine Ankopplung der U-Haft an die neueStrafzumessungskonzeption unseres StGB (§§ 40 Abs. l, 47, 56Abs. l und 3), im Regelfall auch eine Anbindung an die Unter-scheidung von Verbrechen und Vergehen79. Zudem trägt man demGebot „maßvoller Sanktionen bei der Strafverfolgung" Rechnung.Denn die U-Haft als schwerste Prozeßsanktion darf nur eingesetztwerden, wenn es sich auch um eine hochgradig sozialschädlicheVerdachtstat handelt80. Bei der konkret erwarteten Geldstrafe er-gibt sich diese Einschränkung eigentlich schon aus einer Zusam-menschau des § 127 a StPO70 („keine Festnahme bei drohenderGeldstrafe") und dem in § 112 Abs. l S. 2 StPO ausdrücklich nie-dergelegten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz81. Und insofern gingeauch der Einwand fehl, daß man im Frühstadium der Ermittlun-gen noch gar nicht wissen könne, welche Strafe später zum Zugekommt. Der Richter muß das schon mit Rücksicht auf § 112 Abs. l

konkret zu erwartender Geldstrafe; s. auch Fußn. 82) miteinander kombi-niert; näher Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1081; Schmidt, ZStW 74(1962), S. 634, 633 f. Fußn. 46. — Nach dem Schlußbericht (Fußn. 7 a), S. 5,8, 61, will man jedenfalls bei auszuschließender Verhängung von Ju-gendstrafe auf U-Haft verzichten. — Vgl. noch Fußn. 79.

77 In Frankreich (Art. 144 I C.P.P.) beschränkt man sich immerhin auf eineabstrakte Freiheitsstrafdrohung von mindestens 2 Jahren; dazu Grebing(Fußn. 7), S. 257 (s. noch unten Fußn. 94).

78 S. auch Eschke (zit. bei Kreuzer, RdJ 1978, 345) für das Jugendstrafrecht;Dünnebier (Fußn. 15), S. 36, zieht die Grenze bei 9 Mon. Freiheitsstrafe.

79 Vgl. insoweit auch § 112 a I S. l StPO a. E. — Auch bei den verbleibendenFällen — insbes. den § 56 II StGB unterfallenden Konstellationen —sollte der Richter im Einzelfall durchaus von der U-Haft absehen. Diesist dann freilich ein Problem des § 116 StPO n. F. (unten B.IIL), nichtdes § 113 StPO n. F. Allerdings ist es sehr diskutabel, schon für § 113StPO n. F. die Zwei Jahresgrenze nach § 56 II StGB zu wählen; freilichwendet die Praxis § 56 II StGB (leider) zurückhaltend an (1977: 12,32%;1978: 13,9% der Fälle; dazu Scliaffstein, Würtenberger-Festschr., S. 463;Schreiber, Schaffstein-Festschr., S. 275 ff.; Walter, GA 1980, 94).

*° Grundsätzl. Peters, ZStW 77 (1965), S. 475.81 Schmidt, ZStW 74 (1962), S. 634.

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S. 2 StPO wissen. Hinzu kommt, daß in gewichtigen Grenzfällendas eingangs vorgestellte Institut des kurzfristigen Festnahmebe-fehls (B. I. 4.) die notwendigen Daten für die konkret zu erwar-tende Strafe zur Verfügung stellen wird.

Freilich wird man im Ergebnis noch einmal zwischen denHaftgründen der Verdunkelungs- und der Fluchtgefahr unter-scheiden müssen. § 113 StPO zeichnet das mit gutem Grund be-reits vor. Denn das Verfahrenssicherungsinteresse wiegt beiFluchtgefahr schwerer als bei Verdunkelungsgefahr. Bei Verdun-kelungshandlungen kann das Verfahren immer noch weiterbe-trieben und bei Verdunkelungsgefahren mag im Einzelfall „umden Beschuldigten herum ermittelt" werden32. Im Falle der Fluchtwird das Verfahren hingegen grundsätzlich undurchführbar. — Esist deshalb dafür zu plädieren, bei Fluchtgefahr die U-Haft jeden-falls dann (aber auch nur dann) zuzulassen, wenn sich der Be-schuldigte dem Verfahren bereits einmal entzogen hatte oder An-stalten zur Flucht getroffen hat bzw. wenn er keinen festenWohnsitz oder Aufenthalt hat, und wenn eine Bewährungsstrafevon mindestens sechs Monaten82 zu erwarten ist.

Der Kenner der Materie wird unschwer erkennen, daß damitdie §§ 127 und 127 a StPO ebenso wie § 47 StGB in den neuen§ 113 StPO eingearbeitet worden sind. Denn wenn sich der Be-schuldigte nicht ausweisen kann (Abs. 2 Nr. 3 des geltenden § 113StPO), dann genügt die vorläufige Festnahme nach § 127 StPOoder die Festhaltung nach §§ 163 b, c StPO anstelle der U-Haft88.Und wenn nur Geldstrafe in Betracht kommt, dann muß auf dem

82 Diese Lösung „Keine U-Haft bei konkret zu erwartender Geldstrafegleich welcher Höhe" (vgl, auch die schwed. Regelung; dazu Schmidt,ZStW 74 [1962], S. 634, aber auch 635) ist der alternativen Grenzziehung„181 bis 360 Tagessätze Geldstrafe bzw. 6—12 Mon. Bewährungsstrafe"vorzuziehen. Letztere erscheint wegen der (fast) gleichen Strafhöhe zwarzunächst sachgerechter; sie verkennt jedoch, daß die Entscheidung „Geld-oder Bewährungsstrafe" durchaus auch von Schulderwägungen abhängt(Wolter, GA 1980, 97 m. Nachw.), und daß die Geldstrafe jenseits von„180 Tagen Strafe" faktisch fast keine Rolle spielt (1977: 647; 1978: 718Fälle mit Geldstrafe; 1977: 16811; 1978: 17146 Fälle mit Bewährungs-strafe von 6—12 Mon.). — Zu denken ist auch an die (nicht nur strafver-folgungsstatistisch bedeutsame; vgl. auch Fußn. 78) Grenze von „zumin-dest mehr als 9 Mon." Bewährungsstrafe (1977: 8570; 1978: 8571 Fälle mitBewährungsstrafe von „mehr als 9 bis 12 Mon." = ca. 13% sämtlicherBewährungsstrafen).

88 Anders das schwed. Recht (Schmidt [Fußn. 37], S. 635).

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Hintergrund des § 127 a StPO auch dann von einem Haftbefehlwegen Fluchtgefahr abgesehen werden, wenn der Beschuldigtekeinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat.

b) Was hat nun aber zu geschehen, wenn die U-Haft über denreformierten § 113 StPO eine derartige drastische Einschränkungerfährt, gleichzeitig jedoch in zahlreichen Fällen ein nicht uner-hebliches Verf ahrenssicherungsinteresse bestehen bleibt? Die Tat-sache, daß bei erwarteter Geld- oder Bewährungsstrafe die Flucht-gefahr erheblich abnimmt84, ändert nichts an der grundsätzlichenProblematik.

Es liegt auf der Hand, daß man das Verfahren dann mit Hilfeeines breiten Katalogs von selbständig anzuordnenden „ambulan-ten Kontrollmaßnahmen" (im Vorfeld der nicht zugelassenen U-Haft) sichern muß. Daß wenigstens solche ambulanten Ersatz-maßnahmen zulässig sind, ergibt sich aus dem „Störerprinzip".Der dringend Tatverdächtige stört nämlich insofern den Rechts-frieden, als die wegen der Rechtsgutsverletzung zur Verwirk-lichung drängenden Strafzwecke in Frage gestellt sind85. Freilichwird auch hier — entsprechend § 112 Abs. l S. 2 StPO — dasVerhältnismäßigkeitsprinzip zu wahren sein. Und man wird auchhier die Festsetzung vergleichsweise enger Fristen bis zur An-klageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens (B. I. 4. b)fordern müssen88.

Bei den selbständig anzuordnenden ambulanten Kontrollmaß-nahmen wird man — was die sachlichen Möglichkeiten angeht —zunächst auf diejenigen Institute zurückgreifen können, die sichals Haftsurrogate bei der Haftverschonung nach § 116 StPO her-ausgebildet haben. Melde- und Aufenthaltspflichten, Aufsichtsvor-schriften, Kontaktverbote und Sicherheitsleistungen bilden hierdie Stichworte. Die Zahlung einer Kaution wird dabei verstärktauch bei Verdunkelungsgefahr zu verlangen sein87. — Nimmt mannoch die schwedischen und französischen Regelungen in den Blick,so bietet sich als weitere Maßnahme bei Fluchtgefahr vor allem

84 Krümpelmann (Fußn. 8), S. 49.85 Näher Krauß (Fußn. 11), S. 167 ff.; Säiubarth (Fußn. 13), S. 28.86 Schmidt, in: Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 573.87 Zur grundsätzL Problematik i. R. v. § 116 II StPO Dünnebier, in: Löwe-

Rosenberg, § 116 Rn. 21 ff.

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ein Reiseverbot (verbunden mit der Einziehung der Identitäts-papiere) an88.

Dabei bietet der neue „contröle judiciaire" im französischenRecht nicht nur eine Parallele für den Katalog der Maßnahmen,sondern vor allem auch für die angestrebte selbständige Verhän-gung dieser Kontrollmaßregeln. Er sieht nämlich Ersatzmaßnah-men nicht nur bei Haftverschonung (als „Haftsurrogate") vor.Vielmehr können diese Kontrollmaßregeln in doppelter Hinsichtauch unmittelbar und eigenständig angeordnet werden: Einmalals „Verhaftungssurrogate" anstelle des grundsätzlich ebenfallszulässigen Haftbefehls (dies wird uns bei der Reform des § 116StPO [B. III.] näher beschäftigen). Zum anderen aber — und diesist bei der Reform des § 113 StPO zunächst allein von Interesse —als ambulante Kontrolle im Vorfeld der gerade nicht zulässigenU-Haft*».

Man wird übrigens im Anschluß an Rosenberg90 und etwa an§ 58 der StPO für das Königreich Hannover von 1850 noch einenletzten Schritt gehen und in geeigneten Fällen auch den vorge-geschalteten kurzfristigen Festnahmebefehl (oben I. 4.) durchambulante Kontrollmaßnahmen ersetzen müssen.

c) Aber insbesondere unter diesem rechtsvergleichendenBlickwinkel und mit dem jeweiligen Seitenblick auf die geltendeHaftverschonungsvorschrift des § 116 StPO beginnen erst dieSchwierigkeiten: Das erste Problem ergibt der nähere Vergleichmit dem schwedischen Recht. Ist es danach angemessen, bei denErsatzmaßnahmen — namentlich bei der Verhängung eines Reise-verbots im Vorfeld der U-Haft — die Anforderungen an den Tat-verdacht herabzuschrauben01 (dazu B. II. 4.)?

Und sollte man — so lautet die zweite Frage — das Bündelder „ambulanten Kontrollmaßnahmen" wie in Frankreich konse-quent i. S. auch einer vorweggenommenen Bewährungshilfe aus-

88 Dazu Schmidt (Fußn. 37), S. 572 f. u. Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12),S. 970 (Schweden); Grebing (Fußn. 7), S. 232 (zu Art. 138 II Nr. 7 C.P.P.);dogmengeschichtl. und rechts vergleich. Rosenberg, ZStW 26 (1914), S.365 ff. (dort S. 350 zu dem Problem, daß das Reiseverbot das Unter-tauchen in großen Städten nicht hindern kann).

89 Näher Grebing (Fußn. 7), S. 216, 228 ff.; vgl. noch Fußn. 94. S. auch dierechtsvergleich. Hinw. bei JescheckIKrümpelmann (Fußn. 12), S. 968 ff.;Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1080, 1101.

90 Rosenberg, ZStW 26 (1914), S. 383.91 Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1100.

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bauen92 (dazu B. . 5.)? Die Ersatzmaßnahmen des „contröle judi-ciaire" sehen nämlich u. a. auch vor, daß sich der Beschuldigte be-hördlichen Kontrollen bezüglich Beruf und Ausbildung unter-wirft (Art. 138 Abs. 2 Nr. 6 C. P. P.), daß er Kontakte zu bestimm-ten Personen unterläßt (Nr. 3) oder sich Entziehungskuren unter-zieht (Nr. 10). Dies erinnert ohne Frage an den Katalog von Be-währungsweisungen in § 56 c StGB. Und die französische Rege-lung hat denn auch eine Anleihe beim Bewährungsrecht aufge-nommen93.

Und wie ist — drittens — zu verfahren, wenn der Beschul-digte den auferlegten Pflichten und Beschränkungen gröblich zu-widerhandelt oder sonst das in ihn gesetzte Vertrauen nicht recht-fertigt? Kann man dann parallel mit der französischen und schwe-dischen Regelung94 und in Anlehnung an § 116 Abs. 4 StPO zudem schärferen und an sich ausgeschlossenen Mittel der U-Haftgreifen (dazu B. II. 6.)? — Die Fragen stellen, heißt sie verneinen:

4. Was das erste Problem der Herabschraubung der Anforde-rungen an den Tatverdacht angeht, so mag als Begründung fürdie ablehnende Haltung eine knappe Bemerkung genügen: Am-bulante Kontrollmaßnahmen im Vorfeld der U-Haft können nichtzur Sicherung eines Verfahrens angeordnet werden, das noch garnicht ernstlich zu erwarten ist.

5. Auch das zweite Problem läßt sich im Ausgangspunkt ver-gleichsweise rasch lösen. Ebenso wie es unzulässig ist, die U-Haftselbst als verfahrenssichernden Einstieg in die spätere Bewäh-rungsstrafe zu verwenden (oben B. II. 2.), widerspricht es derUnschuldsvermutung, die ambulante Kontrollmaßnahme im Vor-

02 Dazu Grebing (Fußn. 7), S. 216, 222 ff.; Je Scheck/Krümpelmann (Fußn.12), S. 952.

»a Grebing (Fußn. 7), S. 223. Vgl. noch unten B.VI.3.a.94 Zur Erläuterung: Bei abstrakter Strafdrohung von 2 Jahren Gefängnis

aufwärts ist U-Haft wie „contröle judiciaire", unterhalb von 2 JahrenGefängnis nur „contröle judiciaire" zulässig (Fußn. 77); entzieht sichder Beschuldigte vorsätzlich den Verpflichtungen des „contröle judi-ciaire", so wird U-Haft ohne Rücksicht auf die Höhe der gesetzl. Straf-drohung möglich; Grebing (Fußn. 7), S. 245 f. — Ähnliches gilt in Schwe-den namentlich bei Übertretung des Reiseverbots, das ohne Vorliegender Voraussetzungen eines Haftbefehls verhängt worden ist; Schmidt,in: Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 573. Vgl. noch dogmengeschichtl.und rechtsvergleich. Rosenberg, ZStW 26 (1914), S. 365 ff., 368 f., 371.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 475

feld der U-Haft gegen den Willen des Beschuldigten als Vehikelder Individualprävention zu benutzen95.

Wohl aber ist zu erwägen, bei Freiwilligkeit, Geständigkeitund anwaltlicher Beratung des Beschuldigten die Bewährungs-weisungen des § 56 c StGB oder auch die Bewährungshilfe nach§ 56 d StGB vorwegzunehmen96. Neben die ambulanten Kontroll-maßnahmen bei nicht geständigen Beschuldigten träte dann dervorzeitige freiwillige Antritt einer Bewahrungsstrafe.

Ein solches Rechtsinstitut wäre im hiesigen Rechtskreis einNovum, aber es wäre von beträchtlichem Gewinn. Neuartig ist,daß der aus dem Schweizer Recht stammende freiwillige „vorläu-fige Strafvollzug" (näher B. VI. 4.) konsequent ausgedehnt würdeauf die ambulante Freiheitsstrafe; und vorteilhaft ist hier wiedort, daß die Strafe der Tat (regelmäßig) auf dem Fuße folgt unddadurch die Resozialisierungschancen erhöht. Weil (und soweit)dies so ist, mag man sogar bei erfolgreicher „Vorbewährung" aneine Art „Resozialisierungsrabatt" denken. Dabei könnte man dievorläufige Bewährungszeit mit einem gewissen Zuschlag auf denspäter im Bewährungsbeschluß ausgesprochenen Bewährungs-zeitraum anrechnen. Man könnte auch (kumulativ oder alternativ)die spätere Strafe reduzieren, also etwa sechs Monate als achtMonate Bewährungsstrafe zählen97. — Man könnte dann nocheinen Schritt weiter gehen und in geeigneten Fällen später zurVerwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB gelangen. Oderman könnte schließlich — ganz unabhängig von dem umstrittenen§ 153 a StPO — in Einzelfällen sogar das Verfahren einstellen,weil am Ende das öffentliche Interesse an der Strafverfolgungbeseitigt ist.

Damit stünde man freilich bereits auf dem Boden der ame-rikanischen „diversion", insbesondere der „pre-trial-probation".Und man hätte dann auch die beiden zentralen Einwände gegendieses nur anfänglich hochgelobte Rechtsinstitut gegen sich; denVorwurf nämlich, daß auf diesem Wege formell unschuldige Per-sonen fühlbaren Sanktionen unterworfen würden, und daß diepostulierte Freiwilligkeit angesichts der sonst drohenden Straf-

95 Vgl. die treffende Abwägung bei Grebing (Fußn. 7), S. 222 ff., 225 (aufdem Hintergrund der entspr. Diskussion in Frankreich).

98 Vgl. schon Wolier, GA 1980, 104.07 So jedenfalls für den „vorläufigen Strafvollzug" Dünnebier (Fußn. 15),

S. 48 f.; s. noch unten B.VI.4.C.

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Verfolgung weitgehend Fiktion wäre; andererseits den Einwand,daß die neuen Behandlungsformen auch auf solche Personen er-streckt werden könnten, die ohne diversion-Programme und beiEinhaltung der strengen Formen des Strafverfahrens von jederSanktion verschont geblieben wären98. — Aber diese Gefahrenlassen sich weitgehend bannen, wenn man — wie vorgeschlagen— die Freiwilligkeit des Beschuldigten ausnahmslos erst nachBeratung mit seinem Verteidiger gelten läßt und wenn man dievorzeitige Bewährung ebenso absolut an den dringenden Tat-verdacht sowie die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr bindet;vorweggenommene Bewährung also nur unter Wahrung der Ver-fahrensrechte und unter dem Zwang der Verfahrenssicherung.

Bewährt sich der Beschuldigte nicht, so kann das zunächstauf die spätere Strafe immerhin i. S. der Verweigerung des „Re-sozialisierungsrabatts" durchschlagen. Des weiteren ist es demGericht — wie auch sonst — unbenommen, das Verhalten desBeschuldigten zwischen Ersttat und Urteil bei der späteren Straf-zumessung zu würdigen. Schließlich können nunmehr auch ambu-lante Kontrollmaßnahmen wie gegen den von vornherein nichtzum freiwilligen Strafantritt bereiten Beschuldigten verhängtwerden (gegen die der Betroffene gegebenenfalls — wiederum —verstoßen mag)99. Hingegen kommt der Erlaß eines Haftbefehlsunter keinen Umständen in Betracht:

6. Dies leitet über zu der dritten der aufgeworfenen Fragen.Wie ist zu verfahren, wenn der Beschuldigte den mit den ambu-lanten Kontrollmaßnahmen auferlegten Pflichten gröblich zuwi-derhandelt oder sonst das in ihn gesetzte Vertrauen nicht recht-fertigt? Die Antwort kann nicht lauten: Erlaß eines Haftbefehls.So kann zwar bei vorheriger Anordnung von Verhaftungs- oderHaftsurrogaten verfahren werden, und ganz entsprechend sehendas französische Recht die Verhängung von U-Haft und § 116Abs. 4 StPO die Aufhebung der Haftverschommg und den Vollzugdes Haftbefehls vor. Aber dies hat seinen Grund darin, daß dieVoraussetzungen des Haftbefehls schon von vornherein vollum-fänglich gegeben waren. Anderes gilt jedoch bei den hier erörter-

98 Dazu Blau, GA 1976, 45 ff.; Jesdieck, Straf recht AT, S. 609 f.; Weigend,ZStW 90 (1978), S. 1123 ff.

89 Z. T. wird Identität zwischen vorläufigen Bewährungsweisungen undambulanten Kontrollmaßnahmen bestehen (vgl. §§ 56 c StGB; 116 StPO).Insoweit können die Ersatzmaßnahmen gegebenenfalls intensiviert wer-den. Vgl. noch Fußn. 199.

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ten ambulanten Kontrollmaßnahmen im Vorfeld der U-Haft. Die-se Maßnahmen sind zwar in ihrem Charakter vergleichbar oderidentisch mit den Verhaftungs- und Haftsurrogaten. Aber sie wer-den (zur Verfahrenssicherung) verhängt, weil der Erlaß einesHaftbefehls gerade nicht möglich ist. § 113 StPO in der hier vor-geschlagenen reformierten Fassung schließt aus Gründen der Ver-hältnismäßigkeit für bestimmte Bereiche der unteren und mittle-ren Kriminalität die U-Haft zwingend aus und läßt statt dessenambulante Maßnahmen im Vorfeld zu. An dieser Grundentschei-dung kann sich nichts ändern, wenn die Kontrollmaßregeln ver-sagen. Dies hat man ohne Rückgriff auf die U-Haft in Kauf zunehmen.

Wohl aber kann man an eine Reihe anderer „Sanktionen"denken. Bei etwa geleisteten Sicherheiten kommt (analog § 124StPO) der Verfall der Kaution in Betracht. In anderen Fällenempfiehlt es sich, gegen den Beschuldigten als Störer des Straf-verfahrens85 ein (vorher angedrohtes) Ordnungsgeld in bestimm-ter Höhe zu verhängen100. Eine solche Maßnahme sehen unsereVerfahrensgesetze in durchaus noch vergleichbaren Fällen gegen-über Zeugen, Sachverständigen oder auch den Beschuldigtenselbst vor (§§ 51, 70, 77 StPO; 178 GVG). Im Falle wiederholterZuwiderhandlung mag das Ordnungsmittel noch einmal fest-gesetzt werden (vgl. auch §§51 Abs. l S. 4, 77 Abs. l S. 3 StPO).Jedoch ist es zweifelhaft, ob bei Nichtbeitreibbarkeit des Ord-nungsgeldes Ordnungshaft festgesetzt werden sollte (dagegenetwa § 77 StPO).

Auf jeden Fall wäre die Zulassung von Beugehaft (vgl. § 70Abs. 2 StPO) unangemessen. Nicht nur, daß sie bei fast sämtlichenKontrollmaßnahmen ungeeignet wäre: Die Erfüllung von Melde-,Aufenthalts- und Kontaktpflichten (analog § 116 Abs. l Nr. l—3StPO) läßt sich nicht durch Beugehaft erreichen. Die Beugehaftwäre auch unverhältnismäßig. Überspitzt formuliert: Man kannden Ausschluß von Untersuchungshaft nicht durch die Zulassungvon Erzwingungshaft absichern.

Und schon deshalb verbietet es sich, den Verstoß gegen dieambulanten Kontrollmaßnahmen mit einer eigenen Strafvor-schrift zu sanktionieren. Eine solche Konsequenz — in Waadtland

100 Die Spanne von 5 bis 1000 DM nach Art. 6 I EGStGB wird freilich nichtin jedem Fall ausreichen. — Eine Ordnungsstrafe in Höhe von 100 bis10 000 FF (kombiniert mit der U-Haft!) wurde in Frankreich erwogen,jedoch verworfen; Grebing (Fußn. 7), S. 245 Fußn. 193.

3l Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtsw. VHCBrought to you by | Universitaetsbibliothek Frankfurt/Main

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478 Jürgen Weiter

bei der Zuwiderhandlung gegen eine Aufenthaltsregelung durch-aus gezogen101 — ist in der Reformdiskussion in Frankreich undSchweden mit Recht verworfen worden102. Der Verstoß gegen am-bulante Verfahrenssicherungsmaßnahmen macht noch kein straf-würdiges Unrecht und keine rechtlich relevante Schuld aus. Auchist noch niemandem eingefallen, etwa die Haftverschonungswei-sungen nach § 116 I StPO mit Strafe zu bewehren. Daß man indiesem Falle über die Sanktion der U-Haft verfügt, offenbartdenn auch das Fragwürdige einer solchen Strafvorschrift. ImGrunde benötigt man sie, da man bei den ambulanten Kontroll-maßnahmen die Sanktion des Haftbefehls nicht besitzt, als schlich-tes Druckmittel. Daß eine solche Zwangsvorschrift letztlich auchder Unschuldsvermutung zuwiderliefe, sei am Ende noch hinzu-gefügt: die verfahrenssichernden Maßnahmen erhielten mittelbarauch Strafcharakter.

Freilich verbleibt es gegenüber dem in der Hauptverhandlungausgebliebenen Angeklagten bei der Zulässigkeit des Haftbefehlsnach § 230 Abs. 2 StPO.

. Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls (§116 StPO) undselbständige Anordnung von VerhaftungssurrogatenNach allem ist auch der Rahmen für eine sinnvolle Reform

des § 116 StPO abgesteckt. Diese Reform baut auf § 113 StPOneuer Prägung auf, übernimmt z. B. seinen Katalog von Ersatz-maßnahmen, weicht aber etwa in der zuletzt behandelten Frageder Sanktionierung von Zuwiderhandlungen (von § 230 Abs. 2StPO abgesehen) wesentlich ab.

1. Ein neuer § 116 StPO muß vor allem zweispurig ausgestal-tet werden. Neben der herkömmlichen Haftverschonung (untenB. III. 3.) ist neu und sogar primär die Möglichkeit vorzusehen,die Haftsurrogate des § 116 StPO selbständig und unmittelbar alsVerhaftungssurrogate (ohne Haftbefehl) anzuordnen. Auch inso-weit ist der französische „controle judiciaire", aber auch § 72Abs. l JGG, Vorbild. Für die eigenständige Verhängung der Er-satzmaßnahmen böte jedenfalls die eingangs (B. I. 4.) skizziertemündliche Haftverhandlung (nach kurzfristigem Festnahmebefehl)beste Gelegenheit103.

"i Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1100 Fußn. 146.102 Grebing (Fußn. 100); «Schmidt, in: Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S.

573 (bei der Übertretung eines Reiseverbots).'°3 Schmidt, ZStW 74 (1962), S. 644.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 479

Man sollte stets das Wort von Schmidt-Leichner™* in Erinne-rung behalten, daß der Verlust der Freiheit die Ausnahme, nichtetwa die Freiheit die Ausnahme der Unfreiheit zu sein hat. DerVorzug des Verhaftungssurrogats vor dem Haftsurrogat ergibtsich schon aus dem Grundsatz des Vorrangs milderer Mittel; diesjedenfalls dann, wenn diese ambulante verfahrenssichernde Maß-nahme eine vergleichbare Wirksamkeit verspricht wie die Haft-verschonung nach stigmatisierendem Erlaß oder gar Teilvollzugeines Haftbefehls. Man muß sich auch vergegenwärtigen, daß diebloße Aussetzung des Vollzugs eines einmal erlassenen Haftbe-fehls schon aus psychologischen Gründen schwer zu erreichenist105. Und man darf nicht vor der bedenklichen Praxis die Augenverschließen, die heute nicht selten (nur dann) zur Haftverscho-nung nach § 116 StPO greift, wenn der dringende Tatverdachtnicht (mehr) zweifelsfrei ist106.

2. Gerade dieser letzte Gesichtspunkt gibt Gelegenheit, nocheinmal die Front der Probleme bei der Reform des § 113 StPO —nunmehr im Vergleich mit § 116 StPO — abzuschreiten:

a) Hier wie dort (B. . 4.) verbietet sich das Herabsetzen derAnforderungen an den Tatverdacht, wenn „nur" ambulante Kon-trollmaßnahmen verhängt werden. — Auch dürfen die Verhaf-tungssurrogate — entgegen der französischen Regelung — ohneden Willen des Beschuldigten nicht auf eine vorweggenommeneBewährungsstrafe hinauslaufen. Der Betroffene kann aber auchhier freiwillig die Bewährungsstrafe vorweg antreten107 und sichbei Bewährung eine Art Resozialisierungsrabatt verdienen (B. II.5.). So weit die Parallelen.

'·« Schmidt-Leichner, NJW 1959, 853,103 Schmidt (Fußn. 103); zu empirischem Material Jescheck/Krümpelmann

(Fußn, 12), S. 998 f.; Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1099 f.'«» Kaiser, NJW 1968, 779.107 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die „einverständliche Über-

wachung" in der Privatwohnung, die in Schweden vor allem bei Jugend-lichen, Kranken und Schwangeren an die Stelle der U-Haft treten kann(dazu Krümpelmann, ZStW 82 [1970], S. 1100; rechtsvergleich, und dog-mengeschichtl. Rosenberg, ZStW 26 (1914), S. 366 zum „Hausarrest");hierhin gehört auch die Vollstreckung der U-Haft in Pflegefamilien inden USA (vgl. Schneider, Kriminologie, 1977, S. 219). Doch muß mansich andererseits im klaren darüber sein, daß es hier primär um ambu-lante Verfahrenssicherung und nicht — wie bei der vorzeitigen Bewäh-rungsstrafe oder der pre-trial-probation (oben nach Fußn. 97) — umvorweggenommene Resozialisierung geht (dazu noch Wolter, GA 1980,104).

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480 Jürgen Wolter

b) Verschieden sind hingegen die Konsequenzen bei gröb-licher Zuwiderhandlung gegen die mit den Ersatzmaßnahmenauferlegten Pflichten bzw. bei einem sachentsprechenden Ver-trauensbruch. Während bei § 113 StPO lediglich Verfall der Kau-tion und Ordnungsgeld in Betracht kommen (B. II. 6.), führt dergenannte Vertrauensbruch bei § 116 StPO auch zur Zulässigkeitder U-Haft. Dies hat — wie ausgeführt — seinen guten Grund.Bei Anordnung eines Verhaftungssurrogats sind sämtliche Vor-aussetzungen eines Haftbefehls schon von vornherein gegeben.Im Falle der Nichtbewährung bei freiwillig vorweggenommenerBewährungsstrafe kommt deshalb im Einzelfall ebenfalls der Er-laß eines Haftbefehls zum Zuge.

c) Auch der Deliktsbereich für die Anordnung von Verhaf-tungssurrogaten i. S. des § 116 StPO n. F. bzw. den Erlaß vonHaftbefehlen steht nach der Erörterung des reformierten § 113StPO fest (oben B. II. 3. a). Bei Verdunkelungsgefahr muß aus-nahmslos eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwar-ten sein. Bei Fluchtgefahr gilt bis auf einige Sonderfälle (Stich-worte: Fluchtvorbereitung oder mangelnder fester Wohnsitz underwartete Bewährungsstrafe auch schon von zumindest 6—12 Mo-naten) das gleiche108. Bei erwarteter Bewährungsstrafe nach § 56Abs. 2 StGB sollten in der Regel (zunächst) Verhaftungssurrogateangeordnet werden79.

3. Der sogleich oder als Sanktion nach gescheitertem Verhaf-tungssurrogat verhängte Haftbefehl kann freilich nicht stets dasletzte Wort bleiben. Auch bei insgesamt kurzen U-Haftzeiten mitHilfe des individuell befristeten Haftbefehls (oben B. I. 4.) mag esFälle geben, bei denen die Verfahrenssicherung im Laufe der Zeiterstmalig oder erneut mit ambulanten Maßnahmen erreicht wer-den kann. Für diese Fälle bedarf es als zweiter Spur des § 116StPO n. F. der herkömmlichen Haftv er Schonung mit ihren Haft-surrogaten. — Zu dem Mittel der Haftverschonung wird man —wie Dünnebier109 mit Recht hervorhebt — im Einzelfall auch danngreifen können, wenn sich der Beschuldigte bei erwarteter Be-währungsstrafe freiwillig einem Bewährungshelfer unterstellt

108 Bei Flucht kommt die Anordnung eines Verhaftungssurrogats zwangs-läufig nicht, vielmehr allein der Haftbefehl zur Ergreifung des Beschul-digten in Betracht.

"» Dünnebier (Fußn. 15), S. 49; s. auch Wolter, GA 1980, 104; Rieß, Schafer-Festschr., S. 207 Fußn. 183.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 481

oder im Wege dieses wiederum vorweggenommenen StrafantrittsBewährungsweisungen zu befolgen zusagt.

4. Der Katalog der Haftsurrogate bei Haftverschonung istmit den ambulanten Kontrollmaßregeln des neuen § 113 StPO(B. II. 3.) sowie den selbständigen Verhaftungssurrogaten inner-halb der ersten Spur des reformierten § 116 StPO weitgehendidentisch. Hier wie dort empfiehlt sich also die Übernahme desReiseverbots mit Ausweisentzug als neue Maßnahme; hier wiedort sollte Sorge dafür getragen werden, daß die Sicherheitslei-stung nicht zum Reichenprivileg erstarrt110. Dabei wird man an-gesichts der hier vorgeschlagenen abgestuften und weitgehendambulanten Lösungen auf die Übernahme der Genfer Regelungverzichten können, die die Freilassung des Beschuldigten gegeneine angebotene Kaution bei Vergehen zwingend vorschreibt111.

IV. Der Haftgrund „Schwere der Tat" (§ 112 Abs. 3 StPO)l. Andererseits legen die hier vorgetragenen abgestuften Lö-

sungen durchaus nicht die Beibehaltung des Haftgrunds der„Schwere der Tat" nach § 112 Abs. 3 StPO nahe. Bekanntlichläßt diese Vorschrift etwa bei Tötungsdelikten die Verhaftungauch ohne (vollwertigen112) Haftgrund der Flucht- oder Verdun-kelungsgefahr zu118. Es ist zwar zuzugeben, daß es ins Bild einesschon gesetzlich aufgefächerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzespassen könnte, wenn man das bisher vorgeschlagene Stufensy-stem mit § 112 Abs. 3 StPO komplettieren würde. Also: Ausschlußder U-Haft im Bereich der leichten und mittleren Kriminalitätnach § 113 StPO n. F.; teilweise Ersetzung der U-Haft durch Mel-depflichten, Kontaktverbote und Sicherheitsleistungen oder durchHaftverschonung im Bereich der schwereren Kriminalität nach§ 116 StPO n. F.; hingegen Erleichterung der Verhaftung beischwerer und schwerster Kriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO

119 Dazu ASJ RuP 1976, 255; Rieß (Fußn. 109), Fußn. 182. In Schweden hatman konsequent von der Sicherheitsleistung als Haftsurrogat abgese-hen. — Hingegen scheidet eine gesellschaftliche Bürgschaft, die etwa inder Tschechoslowakei nach dem Vorbild des russischen Rechts als Haft-surrogat eingeführt ist (Krümpelmann, ZStW 82 [1970], S. 1100), vonvornherein aus.

i" Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1100 f. m. Fußn. 148.112 BVerfGE 19, 350 f. (näher unten B.IV.2.C.).113 Daß dahinter letztlich die Fluchtpräsumtion des alten Rechts steht, be-

tont Krümpelmann (Fußn. 8), S. 47 mit Recht.

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482 Jürgen Weiter

geltender Fassung. In ein solches Stufensystem fügen sich auchnahtlos die italienischen und französischen Regelungen, nach de-nen die Verhaftung im Bagatellbereich absolut ausgeschlossen,bei schwerer und schwerster Kriminalität sogar obligatorisch undim weiten Bereich der mittelschweren Delikte fakultativ mit all-mählich wachsendem Risiko für den Beschuldigten vorgesehenist114.

2. Aber sowohl die obligatorische als auch die nach § 112Abs. 3 StPO erleichterte Verhaftung bei Schwerstdelikten iststrikt abzulehnen.

a) Gegen die ausländischen Regelungen spricht, daß auchbei Mord und Totschlag im Einzelfall durchaus die Möglichkeiteines unmittelbar angeordneten Verhaftungssurrogats bzw. derHaftverschonung115 bestehen bleiben muß. Außerdem wird mansich letztlich auf die Proportionalitätserwägungen der Praxis ver-lassen können. Sie ist schon immer — im In- wie im Ausland —bei Schwerstdelikten eher zur Verhaftung bereit gewesen als beimittelschwerer Kriminalität. Und dies ist keineswegs allein da-mit zu erklären, daß eine erhöhte Straferwartung zu einer ver-stärkten Fluchtgefahr führt114. Vielmehr verbirgt sich dahinterein Proportionalitätsgedanke: Das Verfahrenssicherungsinteresseund die Störung der Rechtsordnung wiegen um so schwerer, jegewichtiger der Tatvorwurf ist. Bei Schwerstdelikten kannilloyales Prozeßverhalten des Beschuldigten deshalb weniger inKauf genommen werden als bei mittelschwerer oder leichterKriminalität.

b) Schon dieser Gesichtspunkt allein stellt § 112 Abs. 3 StPOin Frage. Wenn die Verfahrenssicherung von vornherein auf einerInteressenabwägung beruht, dann sollte man nicht ohne Not dieEckpfeiler dieser Abwägung, nämlich die Haftgründe der Flucht-oder Verdunkelungsgefahr, aufgeben. Hinzu kommt, daß § 112Abs. 3 StPO regelmäßig nur in rd. l °/o116 aller Fälle Anwendungfindet, und daß die Praxis die Haftbefehle ohnehin vielfach auchauf § 112 Abs. 2 StPO, also auf Flucht oder Verdunkelungsgefahr,stützt117.

114 Vgl. Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 955.115 Dazu BVerfGE 19, 351 ff. (entspr. Ergänzung des § 116 StPO).118 1978: 1,03%; 1977: 0,99%; 1976: 1,15%; vgl. noch Kerner, Schröder-Ge-

dächtnisschr., S. 559 f.117 Näher Kaiser, NJW 1968, 780.

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c) Aber damit nicht genug. § 112 Abs. 3 StPO ist auch in dereinschränkenden Auslegung des BVerfG118 nicht haltbar. Wenndas Gericht eine „nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunke-lungsgefahr" als verdünnten Haftgrund fordert, so läuft das aufeine „Umkehrung der Beweislast" hinaus119. Und vollends frag-würdig ist die Vorschrift geworden, seitdem sie neben § 311 StGBauch das Vergehen der Bildung einer terroristischen Vereinigung(§ 129 a StGB) auf eine Stufe mit den Tötungsverbrechen stellt120.

3. Nun ist freilich nicht zu verkennen, daß sich hinter derobligatorischen Verhaftung bei Schwerstdelikten im Ausland undhinter der erleichterten Verhaftungsmöglichkeit nach § 112 Abs. 3StPO — neben einer verwässerten Flucht- oder Verdunkelungs-gefahr — noch ein ganz anderer Haftgrund verbirgt: die „Beruhi-gung der kochenden Volksseele"121. In Frankreich bildet die „Be-wahrung der öffentlichen Ordnung" bei aufsehenerregendenStraftaten denn auch einen eigenständigen Haftgrund122. Abergerade diese (endgültige) Loslösung der U-Haft von der Verfah-renssicherung ist als rechtsstaatlich bedenklich abzulehnen. Einsolcher Haftgrund läuft auf eine Verdachtsstrafe hinaus123. Ersetzt auf unzulässige Weise generalpräventive Belange vorzeitig

«s BVerfGE 19, 350 f.; vgl. aber Recken, DRiZ 1968, 39.«· Dünnebier (Fußn. 15), S. 32; Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 953;

vgl. noch Rieß, Schafer-Festschr., S. 206.129 Krümpelmann (Fußn, 8), S. 47.»» Vgl. Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1087 (rechtsvergleichend); Schmidt,

ZStW 74 (1962), S. 632 für Schweden; s. noch § 112 I StPO i. d. F. v.1935. — Auch darf man wohl nicht die Augen davor verschließen, daßdie U-Haft hier wie auch sonst faktisch z. T. der Förderung der Ge-ständnisbereitschaft des Beschuldigten dient (Dahs, NJW 1959, 507; Feest,Krit. Justiz 1977, 309; Grebing [Fußn. 7], S. 79 f.; Jescheck/Krümpelmann[Fußn. 12], S. 986; Schmidt-Leichner, NJW 1959, 845), selbst wenn recht-lich weitgehend darüber Einigkeit besteht, daß es gerade kein Zweckder U-Haft sein darf, die Ermittlungen zu erleichtern (Brunner, JGG,§ 93 Rn. 7; Dünnebier [Fußn. 15], S. 31; Koch, NJW 1968, 1712; Krümpel-mann, ZStW 82 [1970], S. 1066, 1086 ff.; vgl. schon Aisberg, JW 1925, 1434;Kohlrausch, JW 1925, 1441; s. aber auch Reuter, Die Polizei 1967, S. 165).In England sind nach der Verhaftung einseitige Vernehmungen grund-sätzlich nicht mehr möglich (dazu Krümpelmann, ZStW 82 [1970], S.1088).

122 Art. 144 I Nr. 2 C.P.P.; dazu Grebing (Fußn. 7), S. 260; weit. Nachw. beiSchubarth (Fußn. 43), S. 118 ff.

123 Grebing (Fußn. 122); Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 946; Schmidt,ZStW 74 (1962), S. 632.

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484 Jürgen Weiter

— d. h vor einem bindenden Schuldspruch — durch und verstößtso gegen das Prinzip der Unschuldsvermutung128. Auch beschv/örter die Gefahr herauf, daß man ihn — gerade unter dem Druckvon Massenmedien — als Auffang-Hafttatbestand mißbraucht124.Das BVerfG hat denn auch mit Recht die „Erregung der Bevölke-rung darüber, daß ein Mörder frei umhergehe", als eigenständi-gen Haftgrund abgelehnt125. — Es bleibt also dabei: § 112 Abs. 3StPO ist ersatzlos zu streichen126.

V. Vorbeugung shaft bei Wiederholungsgefahr (§ 112 a StPO) undeinstweilige Maßregeln

1. Ebenso ist § 112 a StPO, der eine Sicherungshaft bei Wie-derholungsgefahr zuläßt, in der jetzt geltenden Fassung abzu-schaffen127. Bekanntlich erlaubt diese Vorschrift bei der Gefahrder erneuten Begehung von Sexualdelikten und neuerdings auchvon wiederholt oder fortgesetzt begangenen anderen Straftaten(bis hin zur gewerbsmäßigen Hehlerei oder zum Betrug) die so-gen. Vorbeugehaft. Aus einem engen Kreis drohender schwerer(Sexual-)Straftaten mit besonders schutzwürdigen Opfern in der

114 S. auch Grebing (Fußn. 122), Fußn. 300.125 Andererseits besteht wegen der geringen praktischen Bedeutung auch

kein Bedürfnis zur Einführung einer „Schutzhaft" zugunsten des Be-schuldigten bei Gefahr der Lynch Justiz (gleichsam als ergänzendes Ge-genstück zur Bewahrung der öffentlichen Ordnung); gleiches gut fürdie Fälle „bandeninterner Justiz" oder drohenden Selbstmordes (Krüra-pelmann, ZStW 82 [1970], S. 1088 Fußn. 116; vgl. aber Art. 144 I Nr. 2C.P.P.; Grebing [Fußn. 7], S. 261).

128 Insofern wird man im Ergebnis sämtliche (z. T. noch weitergehenden) Re-formalternativen zu § 112 III StPO verwerfen müssen; etwa die Bindungdes Haftbefehls an die bloße Verbrechenseigenschaft der Verdachtstat,z. B. die Zuchthausstraferwartung oder -drohung in der Schweiz (näherJescheckIKrümpelmann [Fußn. 12], S. 944); oder die Einführung einerwiderleglichen Vermutung wie in Österreich bzw. Schweden (Jescheck/Krümpelmann [Fußn. 12], S. 944 Fußn. 49, bzw. Schmidt, ZStW 74 [1960],S. 631: wenn keine mildere Strafe als zwei Jahre Straf arbeit verhängtwerden kann); oder gar die Einbeziehung des § 112 III StPO in dasInstitut der Vorbeugungshaft bei Wiederholungsgefahr nach § 112 a StPO(so der Antrag der CDU/CSU und SPD v. 11. 12. 1968, BT-Drucks. V/3633; s. auch BVerfGE 19, 350 f.; aber auch Schmidt, in: Jescheck/Krüm-pelmann [Fußn. 12], S. 63: „Wiederholungsgefahr bei §§ 211, 212, 220 aStGB nur in pathologischen Fällen").

127 Anders BVerfGE 35, 190 ff.; s. auch Dreher, MDR 1970, 967; Gnom, DieWiederholungsgefahr als Grund für die Anordnung von Untersuchungs-haft, 1972, S. 206 ff., 277 ff. (dort auch zur Geschichte, S, 42 ff.),

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 485

Bevölkerung128 ist das weite Feld massenhaft auftretender De-likte mit beliebigem Opferkreis geworden129.

a) Was die Bedenken gegen diese Regelung betrifft, so kannsie sich durchaus mit dem soeben behandelten § 112 Abs. 3 StPOmessen. Auch sie verfolgt rein präventive Zwecke und sprengtdamit das auf Verfahrenssicherung beruhende System der U-Haft.Freilich geht es hier weniger um Generalprävention als um Si-cherungsindividualprävention. Aber auch der Zweck, der Gefahrweiterer Straftaten des nur Verdächtigen zu begegnen, kann kei-ne zulässige Zielrichtung der U-Haft sein180. Ein solches Zielnimmt den Strafzweck der Sicherungsindividualprävention ohneSchuldspruch vorweg (vgl. auch § 2 S. 2 StVollzG) und führt da-mit zu einer Verdachtsstrafe. § 112 a StPO ebenso wie Nr. lAbs. 12. Alt. UVollzO, die diese Zielrichtung ausdrücklich er-wähnt, verstoßen deshalb gegen die Unschuldsvermutung131.

b) Insofern sind sämtliche den Präventionsgedanken rechtfer-tigende Lösungen zum Scheitern verurteilt. Das gilt etwa für denvon Eb. Schmidt182 vorgetragenen Gesichtspunkt der „verfahrens-bezogenen Prävention". Entgegen Eb. Schmidt stören Wiederho-lungstaten nicht in jedem Fall das laufende Ermittlungsverfah-ren. Und selbst wenn sie es tun mögen, rechtfertigt dieser prä-ventive Aspekt nicht eine „Verfahrenssicherungshaft".

Ebensowenig überzeugt der Hinweis von Engisch133 auf die(spezial-)präventiven Funktionen des Strafverfahrens und derBestrafung nach dem neuen materiellen Strafrecht. Diese indivi-dualpräventiven Belange, insbesondere der Schutz der Allgemein-heit vor weiteren Straftaten (§ 2 S. 2 StVollzG), lassen sich erstnach rechtskräftigem Urteil oder wenigstens nach einem binden-

1*8 vgl. noch BVerfGE 19, 350.129 Mit Recht krit. Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 160; Tiedemann (Fußn.

60), S. 180 f. für das Wirtschaftsstrafrecht.«· Böing, ZStW 91 (1979), S. 381; Rudolphi, ZRP 1976, 170.131 Etwa Klug, ZRP 1969, 2; Maiwald, GA 1978, 251; Rudolphi (Fußn. 130);

Schmidt, ZStW 74 (1962), S. 630. Auch der zu weit gefaßte Art. 5 IcMRK deckt § 112 a StPO nicht (anders Baumann, JZ 1969, 136; Dreher,MDR 1970, 967; Recken, DRiZ 1968, 38 Fußn. 39; Sdiultz, MDR 1969, 279;Schultz-Tomau, ZRP 1971, 250; s. aber auch BVerfGE 35, 191). Vgl.auch § 453 c StPO.

132 JR 1970, 207 u. ZStW 82 (1970), S. 1122, 1124; vgl. auch Schultz-Tornau(Fußn. 131), S. 250 f.; Gnam (Fußn. 127), S. 122, 184 f.; Krümpelmann,ZStW 82 (1970), S. 1134; m. Recht krit. Krüger, ZStW 82 (1970), S. 1123.

135 Krüger, ZStW 82 (1970), S. 1124; Gnam (Fußn. 127), S. 182 f.

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486 Jürgen Wolter

den Schuldspruch mit Hilfe der Strafhaft durchsetzen134. — An-dererseits darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen wer-den, daß unser Strafprozeßrecht selbst im Falle verbüßter Straf-haft nach rechtskräftigem Urteil und eindeutig ungünstigerRückfallprognose eine Sicherungshaft gerade nicht vorsieht135.Wäre die Vorbeugehaft also überhaupt zulässig, so schiene es fastwillkürlich, wenn der Gesetzgeber allein die Sicherungshaft vordem rechtskräftigen Urteil regeln würde.

Schließlich kann man auch nicht allgemein einwenden, daßjedes Ermittlungs- und Strafverfahren gegen einen nur Verdäch-tigen letztlich mit der Unschuldsvermutung der MRK in Wider-streit trete, und daß deshalb der Beschuldigte als Störer desRechtsfriedens die nach den §§ 112 ff. StPO vorgesehenen Maß-nahmen als zumutbares Sonderopfer auf sich zu nehmen habe136.Mag auch der Ausgangspunkt dieser Überlegung zutreffend sein:Das Sonderopfer wird unzumutbar, wenn die U-Haft jeden Bezugzur Verfahrenssicherung verliert und nur noch präventive Zieleverfolgt.

2. a) Wenn man also das Ziel der Sicherungsindividualprä-vention nicht durch U-Haft, sondern zunächst einmal nur undallenfalls durch Strafhaft verfolgen kann, so schließt das einendritten Weg nicht aus. Man kann durchaus erwägen, den Schutzder Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des Beschuldigtendurch eine einstweilige Maßregel der Sicherung schon währenddes Ermittlungsverfahrens zu erreichen. Diesem Grundgedankenfolgen letztlich auch die einstweilige Unterbringung nach § 126 aStPO, das vorläufige Berufsverbot nach § 132 a StPO und dievorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO157.Bei den Gesetzgebungsarbeiten hat man den Haftgrund der Wie-

184 Entspr. gilt für die Resozialisierung (§§ 46 I S. 2 StGB, 2 S. l StVollzG;Nachw. bei Fußn. 8 ff., 72, 95, unten B.VI.S.a.) und — im Einzelfall —für die Abschreckungsindividualprävention (dazu Rudolphi, ZStW 86[1974], S. 76; oben bei Fußn. 75).

135 Jescheck (Fußn. 35), S. 23; Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1096; Roxin,ZStW 82 (1970), S. 1125; vgl. aber die „Friedensbürgschaft" nach demEntwurf zur Strafgesetznovelle v. 26. 2. 1876 (dazu Gnam [Fußn. 127], S.134 f.).

186 Aber auch Gnam (Fußn. 127), S. 248 ff.; Mrozynski, JZ 1978, 256.is? verfehlt hingegen Meyer, LK, § 111 a Rn. l, der der vorläufigen Ent-

ziehung der Fahrerlaubnis wie § 112 a StPO (bei Schuldfähigen) denCharakter einer vorweggenommenen Strafe beimißt.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 487

derholungsgefahr zunächst denn auch als § 126 b StPO in die un-mittelbare Nachbarschaft der einstweiligen Unterbringung ineinem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsan-stalt rücken wollen; das hat durchaus Beifall gefunden188.

(1) Und dennoch wäre diese Ansiedlung nichts anderes alsEtikettenschwindel gewesen. Denn sieht man sich die Vorausset-zungen der Sicherungshaft, d. h. den Katalog der Verdachtsstra-fen und die spezifische Wiederholungsgefahr an, so hat das nichtsmit den erheblich engeren Erfordernissen der Sicherungsverwah-rung nach § 66 StGB gemein139. Die Sicherungshaft nach § 112 aStPO ist keine vorläufige Maßregel der Sicherung i. S. einer einst-weiligen Sicherungsverwahrung, sondern eine vorweggenommeneStrafhaft auf der Grundlage des apokryphen Haftgrundes derWiederholungsgefahr. Sie ist deshalb in der bestehenden Formals verfassungswidrig abzuschaffen.

(2) Der Wegfall wäre auch unter empirischem Blickwinkeldurchaus zu verschmerzen. § 112 a StPO — 1972 mit erheblichemrechtspolitischen Aufwand eingeführt — läuft in der Praxis (u. a.wegen der Subsidiaritätsklausel im Abs. 2) weitgehend leer. Inden Jahren 1976—1978 gelangte er in lediglich 3—4,3% derFälle zur Anwendung. Beim Diebstahl in einem besonders schwe-ren Fall etwa gab es 1976 326 Verhaftungen wegen Wiederholungs-gefahr (= 3,4 °/o von 9670 U-Haft-Fällen bei 34 857 Aburteilun-gen); bei keinem anderen der in Betracht kommenden Deliktewurde die Zahl 50 überschritten140.

(3) Ganz entsprechendes gilt übrigens für § 71 Abs. 2 1. Alt.JGGf der bei der einstweiligen Unterbringung eines Jugendlichenin einem Erziehungsheim zur Vorbeugung vor weiteren Strafta-ten sogar auf die nähere Umgrenzung von Katalogtaten verzich-tet. Auch er läuft in der Praxis weitgehend leer141; auch, er ist —

138 Vgl. BT-Drucks. V/3633 (Fußn. 126); Dreher, MDR 1970, 967; Krümpel-mann, ZStW 82 (1970), S. 1096; Eb. Schmidt, JR 1970, 207.

139 Baldus, ZStW 82 (1970), S. 1124.140 Zum Ganzen Kerner, Schröder-Gedächtnisschr., S. 559 ff. Im einzelnen

gelten folgende Zahlen: 1978: 3,58% der Fälle gem. § 112 a StPO (davon1,05% nach Abs. l Nr. 1/2,53% nach Abs. l Nr. 2); 1977: 4,27% (0,99 %/3,28%); 1976: 2,95% (1,14 %/l,81 %). Vgl. noch Böing, ZStW 91 (1979), S.387.

141 Walter, MSchrKrim. 61, 347. Unhaltbar ist die im Schlußbericht (Fußn,8, S. 59, 61) vorgeschlagene Beibehaltung und Ausdehnung des § 71 II1. Alt. JGG; vgl. auch Franke (Fußn. 5), S. 55 ff.

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schon ganz abgesehen von seiner noch weiter gefächerten An-wendbarkeit — verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. DerErziehungszweck142 und das Sicherungsziel allein können eineFreiheitsentziehung niemals rechtfertigen. Für das Jugendrechtkommt hinzu, daß man die Sicherungsverwahrung schon deshalbnicht vorwegnehmen kann, weil sie nach § 7 JGG als endgültigeMaßregel unzulässig ist.

b) Insofern wird man im Ergebnis zwar § 71 Abs. 2 1. Alt.JGG ersatzlos streichen, für § 112 a StPO hingegen — wie ange-deutet — einen verfassungsrechtlich zulässigen Ersatz i. S. einereinstweiligen Maßregel der Sicherung suchen müssen. Denn esläßt sich nicht verkennen, daß in der Praxis — trotz der unterB. V. 2. a) (2) mitgeteilten geringen Verhaftungszahlen — ein er-hebliches Bedürfnis für die Präventionshaft besteht143. § 112 aStPO ist unter diesem Eindruck entstanden144. Und im Auslandhat man wenig Hemmungen selbst gegenüber weitaus schärferenSicherungshaftregeln145.

Man wird also in der Tat an die Einführung einer „einstwei-ligen Sicherungsverwahrung" und ab 1985 auch an das Institutder „vorläufigen Unterbringung in einer sozialtherapeutischenAnstalt" denken müssen. Und insoweit wäre es nur folgerichtig,diese Bestimmungen — etwa als § 126 b und § 126 c StPO — indie systematische Nähe der einstweiligen Unterbringung in einempsychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt nach§ 126 a StPO zu bringen146.

Solche Regelungen verstoßen als einstweilige Maßregeln nichtgegen das Prinzip der Unschuldsvermutung. Es gibt keine „Unge-fährlichkeitsvermutung". Audi besteht insoweit eine Gesetzge-

142 Vgl. aber auch Baumann, JZ 1969, 135 Fußn. 8; andererseits Mrozynski,RdJ 1973, 329 (Verstoß gegen Art. 6 GG).

i« Baldus, ZStW 82 (1970), S. 1128; Baumann (Fußn. 142), S. 136 ;Eb. Schmidt,JR 1970, 207 Fußn. 30 u. ZStW 82 (1970), S. 1128; Jescheck, ZStW 82(1970), S. 1124 f.; Kaiser, NJW 1968, 780; Kerner, Schröder-Gedächtnis-schrift, S. 561; Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1083, 1085 f., 1092;Recken, DRiZ 1968, 39; Reuter, Die Polizei 1967, S. 161 ff.; Schlechter,MDR 1973, 97.

144 Nicht ohne Einfluß waren die von Reuter (Fußn. 143) dargelegten Fälle.145 Dazu Gnom (Fußn. 127), S. 85 ff.; Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S.

1092 ff.; Schmidt, ZStW 74 (1962), S. 630 (zum schwed. Recht)."· Jescheck (Fußn. 35), S. 23; Krüger, ZStW 82 (1970), S. 1123 ff.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 489

bungszuständigkeit des Bundes147. Denn die vorläufige Präventiv-haft nach den §§ 126 b, c StPO n. F. wäre eng an die endgültigenMaßregeln nach den §§ 66, 65 StGB148 gekettet und allein demMaßregelzweck der Sicherungsindividualprävention verpflichtet.Eine solche „strafprozessuale Lösung" ist denn auch (den z. T. er-heblich weiter reichenden) „präventiv-polizeilichen Vorschlä-gen"149 vorzuziehen150. Der Freiheitsentzug im Zusammenhangdes Strafverfahrens gehört in die Hand der Justizorgane, die Vor-prüfung der Verhaftungsnotwendigkeit in die des Staatsanwalts.

3. a) Nun wird man mit Recht einwenden, daß man mit der-artig eng an das StGB angelehnten vorläufigen Sicherungshaft-regeln gerade all' diejenigen Verdächtigen nicht fassen könne,deren man ursprünglich mit § 112 a StPO habhaft werden wollte.Der Gewohnheitsdieb144 oder Serienbetrüger etwa brauche regel-mäßig nicht mit Sicherungsverwahrung oder Einweisung in einesozialtherapeutische Anstalt zu rechnen151.

Wie eingehend begründet worden ist, erlaubt es dieser Be-fund dennoch nicht, sogleich zu dem Mittel prozessualer Siche-rungs- und Vorbeugungshaft zu greifen. Vielmehr wird man eskonsequent mit derjenigen (einstweiligen) Sicherungsmaßregelversuchen müssen, die nach dem StGB noch übrig bleibt, die al-lem dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht152 und die aucherwartungsgemäß für die von § 112 a StPO betroffenen Fällepaßt: der „einstweiligen Führungsauf sieht" (als § 126 d StPOn. F.) in Anlehnung an § 68 StGB158. Denn bei näherem Zusehen

147 Vgl. aber auch Seebode, ZRP 1969, 25 f.; Baumann, JZ 1969, 135; ande-rerseits Gnam (Fußn. 127), S. 185 ff.

i« JescheckIKrümpelmann (Fußn. 12), S. 991; Rudolphi, ZRP 1976, 170.t49 Baumann (Fußn. 142), S. 139; zur Schweizer „Administrativen Versor-

gung" Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1093 f.150 BVerfGE 19, 350; Burkhard, ZStW 82 (1970), S. 1128; JescheckIKrümpel-

mann (Fußn. 12), S. 952; Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1098 (auchzur sonst erforderlichen Ausweitung des polizeilichen Gefahrbegriffs);Schnitz, MDR 1969, 279; Rieß, Schafer-Festschr., S. 206.

151 Baumann, JZ 1969, 139; Engisch, ZStW 82 (1970), S. 1124; Krümpelmann,ZStW 82 (1970), S. 1095.

152 JescheckIKrümpelmann (Fußn. 12), S. 991.155 Jescheck (Fußn. 35), S. 23; JescheckIKrümpelmann (Fußn. 150); Krümpel-

mann, ZStW 82 (1970), S. 1097; Roxin, ZStW 82 (1970), S. 1126; fernerDünnebier (Fußn. 15), S. 49. — Daß der Führungsaufsicht nach § 68StGB neben der Sicherungsfunktion auch eine „Betreuungsfunktion" zu-kommt, wird etwa von Hanack, LK, Rn. 3 ff. vor § 68, mit Recht her-

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überrascht es durchaus nicht, daß sich die Katalogtaten in § 112 aStPO fast vollständig mit denjenigen Delikten decken, die eineFührungsaufsicht nach § 68 StGB nach sich ziehen können.

b) Das Ergebnis „einstweilige Führungsaufsicht in Freiheitanstelle von Vorbeugungshaft" (i. R. von § 112 a StPO wie § 71Abs. 2 I.Alt. JGG) ist dabei sicherlich theoretisch folgerichtigund rechtlich schwerlich angreifbar. Aber wollte man diese „vor-läufige Sicherungsverwahrung in Freiheit"1 4 wirklich einführen,so fingen damit die Schwierigkeiten erst an: Wenn schon die end-gültige Führungsaufsicht gemäß § 68 StGB nach einer Reihe vonschlechten Erfahrungen skeptisch beurteilt wird155 und in derPraxis fast leerläuft1646, wenn schon die Sanktion des § 145 a StGBbei Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht mitjährlichen Verurteilungsraten von unter 20157 praktisch nicht„funktioniert", was soll man dann mit einer vorläufigen Füh-rungsaufsicht erreichen können? Unter rechtsstaatlichem Blick-winkel kann es darauf nur eine resignierende, aber auch eindeu-tige Antwort geben: Wenn man die Gewohnheitsdiebe, die Serien-betrüger oder die anderen nach § 112 a StPO in Frage kommen-den Verdächtigen weder wegen Flucht- oder Verdunkelungsge-fahr (vgl. auch die Subsidiaritätsklausel in § 112 a Abs. 2 StPO)verhaften noch mit Hilfe der einstweiligen Führungsaufsicht si-chern noch, im Wege einer an § 145 a StGB angelehnten Strafvor-schrift beeindrucken kann, dann muß man sie eben laufen lassen.

4. Diese Feststellungen betreffen dann auch schon die zweiteSchwierigkeit: Was hätte zu geschehen, wenn der Betroffene —ganz i. S. der schlechten Rückfallprognose — während der einst-weiligen Führungsaufsicht tatsächlich eine Wiederholungstat be-ginge? — Roxinl5B will wenigstens jetzt die Vorbeugungshaft zu-

vorgehoben; nur kommt es im hier gegebenen Zusammenhang auf die-sen zweiten Aspekt nicht an.

154 Zum Begriff v. Glasenapp, ZRP 1979, 34.155 Näher v. Glasenapp (Fußn. 154), S. 31 ff.; s. auch Grünwald, ZStW 76

(1964), S. 662 ff. (zur Sicherungsaufsicht der §§ 91 ff. Entw. 62) sowie diewohlabgewogene Stellungnahme von Hanack, LK, Rn. 15 ff., 24 ff. vor§ 68.

156 1978 wurde die Führungsaufsicht lediglich in 497 Fällen verhängt (1977:370; 1976: 349).

157 1978: 18; 1977: 12; 1976: 9. Zu einem beachtlichen Teil werden die Ver-fahren (wohl wegen geringer Schuld) eingestellt (v. Glasenapp [Fußn.154], S. 32; Einstellungen 1978: 7; 1977: 2; 1976: 2).

«« Roxin, ZStW 82 (1970), S. 1127.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 491

lassen; denn an die Stelle einer schwerlich kontrollierbaren Wie-derholungsprognose sei eine Wiederholungstat getreten. Diesdeckt sich mit Lösungen, die — ganz unabhängig von der vorläu-figen Führungsaufsicht — von Schubarth159 und in der DDR1"60 an-geboten werden.

Diesen Vorschlägen ist jedoch zu widersprechen. Zu bedenkenist zunächst, daß auch die Wiederholungstat noch nicht bindendfeststeht. Auch führen solche Lösungen den Haftgrund der Wie-derholungsgefahr „durch die Hintertür" wieder ein161. Ein zuvoraus verfassungsrechtlichen Erwägungen abgelehnter Haftgrundkann nicht dadurch zulässig werden, daß die statt dessen angeord-nete ambulante Kontrollmaßnahme versagt. Es gilt hier imGrundsatz nichts anderes als bei dem Zuwiderhandeln gegen dieambulanten Kontrollmaßnahmen im Vorfeld der U-Haft wegenFlucht- oder Verdunkelungsgefahr nach § 113 StPO n. F.162. Manmuß deshalb nach anderen Sanktionen Ausschau halten.

Man kann zunächst erwägen, de lege ferenda § 145 a StGBauch auf die Verstöße gegen Weisungen während der vorläufigenFührungsaufsicht auszudehnen. Aber damit würde man nur eineSanktionsform erweitern, die weder rechtlich noch in der Praxisträgt. Schon der geltende § 145 a StGB ist — wie erwähnt — fak-tisch bedeutungslos. Und er ist rechtlich problematisch, weil derbloße Verstoß gegen Weisungen noch kein strafwürdiges Unrechtund keine rechtlich relevante Schuld ausmacht. Mit Recht weistGrüntüald163 auch darauf hin, daß noch niemandem eingefallensei, die Mißachtung von Bewährungsweisungen bei der Strafaus-setzung oder bedingten Entlassung mit Strafe zu bewehren.

Übrig bleibt nur ein Dreifaches. Erstens muß es allgemeinauch hier wieder um die Beschleunigung des Verfahrens gehen28.— Zweitens muß man Schluß machen mit der Praxis, die Wieder-holungstaten fast zum Nulltarif verbucht und damit den Serien-

159 Schubarth (Fußn. 43), S. 112 ff., 116; vgl. auch Schultz-Tornau, ZRP 1971,252 (Haftgrund der tatsächlichen Wiederholung nach richterlicher Ab-mahnung).

160 Dazu Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 951.1C1 Leibinger, ZStW 82 (1970), S. 1126 f.162 Oben B.II.6. Freilich kommt bei der „einstweiligen Führungsaufsicht"

ein verfahrensrechtliches Ordnungsgeld als „Sanktion" nicht in Betracht.Es geht ja nicht mehr um die Sicherung des Strafverfahrens, sondernum die Sicherung der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des Be-schuldigten.

1153 Grünwald, ZStW 76 (1964), S. 664.

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tätern erst einen Anreiz zur Wiederholung schafft164. Die währendder einstweiligen Führungsaufsicht begangenen Wiederholungs-delikte müssen bei der späteren (Gesamt-)Strafzumessung (bishin zur Annäherung an die Summe der Einzelstrafen oder dieUnterbrechung des Fortsetzungszusammenhangs) strafschärfendzu Buche schlagen. Viel wird diese Verweigerung des „Gesamt-strafenrabatts" freilich nicht bringen; denn nur wenige Täterwerden die Wiederholungstat wegen einer etwaigen Strafschär-fung unterlassen165. Dann aber bleibt es grundsätzlich dabei: DenGewohnheitsdieben, Serienbetrügern und den anderen von § 112 aStPO erfaßten Verdächtigen ist auch nach einer Wiederholungstatwährend der vorläufigen Führungsaufsicht die Freiheit zu belas-sen.

Eine Ausnahme mag nur — und dies ist der dritte Punkt —für die seltenen Fälle gelten, daß erst die Wiederholungstat den„Hang des Beschuldigten zu erheblichen Straftaten i. S. v. § 66Abs. l Nr. 3 StGB" ergibt. Dann nämlich wird man den Beschul-digten einstweilig in der Sicherungsverwahrung (§ 126 b StPOn. F.) unterbringen können (näher oben B. V. 2.)166.

VI. § 51 StGB, Resozialisierungsfeindlichkeit der U-Haft und vor-läufiger Strafvollzug1. Nach allem ist das schon eingangs skizzierte „Anrech-

nungsdilemma" (A. II. 2.) für wesentliche Teilbereiche des U-Haft-Rechts aufgehoben oder doch erheblich gemildert. Dieses Anrech-

1M Dazu Baumann, JZ 1969, 138; Krümpelmann, ZStW 82 (1970), S. 1097,1135; Roxin, ZStW 82 (1970), S. 1125 f.; Hirsch, bei: Zundel, ZRP 1969, 17;Carbonnier, bei: Grebing (Fußn. 7), S. 75 Fußn. 60; näher Gnam (Fußn.127), S. 216, 217 ff. (de lege ferenda zwei Gesamtstrafen für die Tatenvor und nach der ersten Sistierung und polizeilichen oder richterlichenVernehmung); vgl. aber auch Schnitz, MDR 1969, 279: „keine Abschrek-kung".

165 Näher Gnam (Fußn. 127), S. 220 ff.106 Da § 112 a StPO also im Ergebnis abzuschaffen ist, verbietet sich jede Dis-

kussion von Reformanliegen bezüglich des geltenden Haftgrundes derWiederholungsgefahr. Das gilt für den Katalog der Wiederholungstaten(dazu BT-Drucks. V/3633 [vgl. Fußn. 126]; Dünnebier [Fußn. 15], S.33 f.; Kaiser, NJW 1968, 781); für die „Evidenz" der Wiederholungstat(vgl. die Hinw. von Burkhard, ZStW 82 [1970], S. 1128; Krümpelmann, in:Jescheckl Krümpelmann [Fußn. 12], S. 622; Schmidt, in: Jescheck/Krüm-pelmann [Fußn. 12], S. 584); oder für die Verstärkung des Verdachts-moments bei der Anlaßtat (Schnitz, MDR 1969, 279).

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 493

nungsdilemma entsteht dadurch, daß das Resozialisierungsverbotin der Erwachsenen-U-Haft im Verein mit der fast automatischenAnrechnung der U-Haft nach § 51 StGB dem Strafvollzug jedeResozialisierungschance nimmt187 oder aber zu resozialisierungs-feindlichen kurzen Freiheitsstrafen führt. Dieses Dilemma ist zu-nächst aufgehoben für den Bereich des für abschaffungswürdigerklärten § 112 a StPO168. Und es ist wesentlich abgemildert fürden Bereich des § 113 StPO. Hier soll nach den oben entwickeltenReformvorschlägen (B. II. 3.) die U-Haft prinzipiell ohnehin erstbei einer konkret erwarteten Freiheitsstrafe von mehr als einemJahr in Betracht kommen. Andererseits soll sich die Dauer der(anzurechnenden) U-Haft mit Hilfe individueller Befristungen aufnormalerweise ein bis drei Monate verkürzen (B. I. 4.).

Aber wer weiß, welche Reformvorschläge sich schließlichdurchsetzen können. Man muß mit der Tatsache leben, daß esstets Fälle geben wird, die nach einer Anrechnung der U-Haftdem Strafvollzug nur eine kurzfristige Zeitspanne zur Resoziali-sierung übrig lassen. Und es ist deshalb angezeigt, einmal den-jenigen Bestimmungen und Überlegungen nachzugehen, die dasAnrechnungsdilemma auf ganz andere Weise beseitigen (könn-ten). In Betracht kommen dabei im wesentlichen drei Erwägun-gen: erstens die Aufhebung des Anrechnungsautomatismus (B. VI.2.); zweitens eine resozialisierende Gestaltung bereits der (Er-wachsenen-)U-Haft bzw. ihre Ersetzung durch resozialisierendeMaßnahmen (B. VI. 3.); und drittens die Ablösung der resozialisie-rungsfeindlichen verfahrenssichernden U-Haft durch einen frei-willigen vorweggenommenen Strafvollzug (B. VI. 4.).

2. Was zunächst die Ablösung des Anrechnungsautomatismusbetrifft, so wird man sich nicht allgemein auf die Regelung in§ 52 Abs. l S. 2 JGG stützen können. Denn da die U-Haft imHeranwachsenden- und Erwachsenenrecht nicht resozialisierendgestaltet werden darf (oben A. II. 2.), kann die Anrechnung auch

167 Freilich sind die objektiven Resozialisierungschancen im heutigen Straf-vollzug eher skeptisch zu beurteilen (vgl. Feest, Alternativ-KommentarStVollzG, Rn. 7 ff. vor § 2); andererseits erwecken die Versuche in so-zialtherapeutischen Anstalten gewisse Hoffnungen (Dünkel, MSchrKrim.62, 322 ff.; Egg, a. a. O., 348 ff.; Rehm, a. a. O., 357 ff.; Sagebiel, a. a. O.,365 ff.).

168 Gerade das kriminalpolitische Argument der resozialisierungsfeindlichenkurzen Freiheitsstrafe macht denn auch Roxin, Strafverfahrensrecht, S.160, u. a. gegen § 112 a StPO geltend.

32 Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtsw. VIICBrought to you by | Universitaetsbibliothek Frankfurt/Main

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494 Jürgen Weiter

nicht deshalb unterbleiben, weil sie — i. S. v. § 52 a JGG — „ausResozialisierungsgründen nicht gerechtfertigt ist"169. Ganz ent-sprechendes gilt, wenn man die ratio des § 51 StGB im Aufopfe-rungsgedanken erblickt, der nur bei einem „Mitverschulden" (et-wa der Prozeßverschleppung i. S. v. § 51 Abs. l S. 2 StGB) desBetroffenen eingeschränkt werden darf170. Daran, daß bei einerstrikt verfahrenssichernden U-Haft Resozialisierungserfolge aus-bleiben, trägt der Betroffene keine Schuld171.

Da die U-Haft m. a. W. ein dem Beschuldigten auferlegtesÜbel zum Zwecke der Verfahrenssicherung ist172, läßt sich auchnicht die „schwedische Lösung" halten. In Schweden argumentiertman angesichts der regelmäßig sehr kurzfristigen U-Haft von zweibis drei Wochen so, daß der Verdächtige jedenfalls diese Regel-zeit als zumutbares Sonderopfer auf sich zu nehmen habe173.Selbst wenn es in Deutschland bei einer Reform der U-Haft zuindividuellen Haftfristen käme, ließen sich derartig kurze Zeitennicht erzielen. Aber davon abgesehen sollte man die U-Haft aus-nahmslos — wie kurz sie auch immer sein mag — vollumfänglichanrechnen. Der Staat ist gehalten, das im Interesse der Rechts-pflege (Verfahrenssicherung) auferlegte Übel nachträglich wiederauszugleichen. Und diese Kompensation sollte de lege ferenda —über § 51 Abs. l S. 2 StGB hinaus — obligatorisch sein174.

180 So im Ergebnis auch Rotthaus, NJW 1973, 2271. — § 109 II JGG, der§ 52 a JGG auf Heranwachsende anwendbar macht, ist (deshalb) ver-fehlt. — Zu § 52 a JGG noch Kreuzer, RdJ 1978, 346.

170 Näher Dencker, MDR 1971, 627 f.171 Insofern erscheint übrigens § 48 III S. 2 StGB problematisch. Denn wenn

die „Verbüßung einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten"(§ 48 I Ziff. 2 StGB) bewirken soll, „daß der Richter nur solche Delin-quenten hinsichtlich einer Schuld- und Straferhöhung ins Auge faßt, beidenen handfeste Tatsachen (hier: Strafvollzug) darauf hindeuten, daßbei der konkreten Tat verstärkte Hemmungsimpulse überwunden seinkönnten" (so Horn, SK, § 48 Rn. 29), so gilt das gerade nicht für dieallein verfahrenssichernde U-Haft.

172 Dreher, MDR 1970, 968.173 Schmidt, in: JescheckIKrümpelmann (Fußn. 12), S. 587.174 Näher Dreher (Fußn. 172), S. 970 f.; Dencker (Fußn. 170), S. 630. — Daß

dies nicht bei den vorläufigen Maßregeln der Sicherung, etwa bei§ 126 a StPO (Dreher-Tröndle, § 51 Rn. 11) oder der „einstweiligen Füh-rungsaufsicht", gilt (vgl. noch § 69 a StGB), läßt sich mit der hier alleinausschlaggebenden Gefährlichkeitsprognose begründen (s. aber auchRieß, Schäfer-Festschr., S. 206 Fußn. 181).

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 495

3. a) Was zum zweiten die resozialisierende Gestaltung derU-Haft (oder auch ihre Ersetzung durch resozialisierende Maß-nahmen) angeht, so ist eine grundsätzliche Antwort (längst undgerade wieder) gegeben. Während der U-Haft und vor einem bin-denden Schuldspruch läßt sich — jedenfalls ohne Freiwilligkeitdes Beschuldigten — Individualprävention gerade auch in Gestaltder Resozialisierung nicht betreiben. Dies gilt für das in Kraftbefindliche ebenso wie für das künftige Recht. Erziehung währendder Verfahrenssicherung widerstritte der UnschuldsVermutung.Und daran müssen sich sämtliche „Resozialisierungs-Lösungen"de lege lata et ferenda messen lassen. Den wichtigsten sei hierkurz widersprochen:

(1) § 110 Abs. 2 JGG, der die erzieherische Individualpräven-tion (§ 93 Abs. 2 JGG) auf die Heranwachsenden-U-Haft erstreckt,ist — wie begründet (A. II. 2.) — verfassungswidrig.

(2) Dies gilt gleichermaßen für die Pläne des Gesetzgebers,diese Regel auf Jungtäter von 21—23 Jahren auszudehnen175.

(3 a) Noch weiter reichen die Vorschläge von Oberthür176. Erregt für diejenigen Fälle, bei denen eine längere Freiheitsstrafe(von etwa zwei Jahren) erwartet wird, an, die U-Häftlinge schonwährend des Ermittlungsverfahrens mit Hilfe des „Kriminologi-schen Dienstes"177 auf ihre Persönlichkeit erforschen zu lassen.Diese Persönlichkeitserforschung wird man als ersten Schritt zurResozialisierung begreifen müssen. Oberthür hat dabei zwar dasArgument auf seiner Seite, daß nach § 6 Abs. l S. 2 StVollzG der(drohende) längere Strafvollzug ohnehin mit einer Persönlich-keitserforschung beginnt, und daß darüber hinaus dem erkennen-den Gericht auf diese Weise Hilfen für die Rechtsfolgenentschei-dung gegeben werden können. Aber er verkennt, daß auch diePersönlichkeitserforschung als „Einstieg in die Resozialisierung"vor einem rechtskräftigen Urteil (oder jedenfalls vor einem bin-denden Schuldspruch bei Einführung des Schuldinterlokuts) derUnschuldsvermutung widerspricht11. Die Hilfe für die Rechtsfol-genentscheidung, die in den angesprochenen gravierenden Fällenmit drohender Freiheitsstrafe von zumindest ca. zwei Jahren inder Tat unentbehrlich ist177, läßt sich also ohne einen bindenden

175 Dazu Linck, ZRP 1971, 57.176 Oberthür, Kriminologie in der Strafrechtspraxis, 1976, S. 61; vgl. (krit.)

zum vergleichbaren franz. Recht Grebing (Fußn. 7), S. 80 f.177 Dazu WoZter, GA 1980, 93, 104.

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496 Jürgen Wolter

Schuldspruch keinesfalls erzielen. Vor einem Schuldinterlokutkann die U-Haft nach wie vor prinzipiell allein der Verfahrens-sicherung dienen.

(3 b) Von daher brauchen die noch einen Schritt weitergehen-den Vorschläge von Oberthür176 nicht mehr verfolgt zu werden.Er regt im Anschluß an Würtenb er g er178 an, auch über die Haft-gründe des § 112 StPO hinaus in den genannten gravierendenFällen die Persönlichkeitserforschung selbständig anzuordnen.Der systematische Weg dahin soll über eine Erweiterung des § 81StPO führen.

(4) In eine ähnliche Richtung weisen die Vorschläge vonWalter179, der zur Erzielung eines „stationären Einstiegs in einelängerfristige spezialpräventive Behandlung" auch bei Heran-wachsenden — nach einem keineswegs ausreichenden „sehr sum-marischen" tatfeststellenden Vorverfahren — über den verfah-renssichernden Haftgrund der Fluchtgefahr im Einzelfall hinaus-zugehen bereit ist.

(5) Ganz auf dieser Linie liegt es, wenn Welsch180 ebenso un-verhüllt die Einführung eines neuen Haftgrundes der „Notwen-digkeit einer kriminologischen Persönlichkeitsbeurteilung" (unterVerschärfung der Anforderungen an den „Tatverdacht") fordert.

(6) Wenn aber all' diese Vorschläge de lege ferenda auf ver-fassungsrechtliche Vorbehalte stoßen, so ist auch Widerspruch ge-gen bereits geltende Bestimmungen anzumelden: Gegen § 81 StPOetwa, soweit es nicht eindeutig um § 20 StGB und die Erwartungeiner Maßregel der Besserung und Sicherung geht. Denn die (un-freiwillige) Beobachtung in einem öffentlichen psychiatrischenKrankenhaus kommt nach § 81 StPO regelmäßig schon im vor-bereitenden Verfahren, jedenfalls vor einer bindenden Tatfest-stellung in Betracht. Auf gleiche Vorbehalte stößt — unbeschadetdes Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht — § 73 Abs. l JGG,der in diesem frühen Stadium des Verfahrens die (unfreiwillige)kriminalbiologische Untersuchung in geeigneten Anstalten zu-läßt181.

" Würtenberger, NJW 1952, 251; vgl. den XII. Int. Kongreß für Strafrechtund Gefängniswesen in Den Haag 1954.

"o Walter, MSchrKrim. 61, 348 f. (dazu schon Fußn. 72 f.).180 Welsch, Entwicklung und heutiger Stand der kriminologischen Persön-

lichkeitserforschung und Prognose des sozialen Verhaltens von Rechts-brechern in Deutschland, 1962, S. 135 f.

181 Vgl. schon Wolter, GA 1980, 93 bei Fußn. 107.

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 497

(7) Vergleichbare Einwände gelten schließlich gegen Bestim-mungen des französischen „controle judiciaire", die (zwar nichti. R. der U-Haft selbst, sondern bei den selbständig angeordnetenKontrollsurrogaten) u. a. durchaus das Gebot gegenüber dem Be-schuldigten vorsehen, sich bestimmten Maßnahmen der Unter-suchung, Behandlung oder Pflege auch in einer Anstalt zu unter-werfen182.

b) Zieht man ein kurzes Fazit, so läßt sich ein doppeltes fest-halten: Persönlichkeitserforschende und resozialisierende Maß-nahmen, die nicht auf Maßregeln der Besserung oder Sicherung,sondern auf Strafe abzielen, lassen sich ohne Einwilligung des(heranwachsenden oder erwachsenen) Beschuldigten frühestensnach einem bindenden Schuldspruch verhängen. Bei Freiwilligkeitdes Betroffenen mag man hingegen daran denken, schon im Er-mittlungsverfahren oder im ersten Abschnitt einer zweigeteiltenHauptverhandlung Sozialtherapie einzuleiten.

Dies kann auf eine weniger einschneidende und auf eine in-tensive Art und Weise geschehen. Dringend geboten ist es zu-nächst, insbesondere dem sozial weitgehend angepaßten und „un-erfahrenen" Untersuchungsgefangenen praktische Hilfestellungenund Zuwendung zum Abfangen von Depressionen zuteil werdenzu lassen188. Bei erwarteter erheblicher Freiheitsstrafe (von zu-mindest ca. zwei Jahren) mag die Einweisung in eine Gutachter-anstalt mit „Kriminologischem Dienst" (für einen Zeitraum bis zusechs Wochen) hinzukommen184. Vor allem aber kann in jedemStadium des Verfahrens und auch bei jeder Spielart der Verfah-renssicherung die zu erwartende Strafe unter bestimmten Voraus-setzungen vorweggenommen werden. Wir haben das schon inzweifacher Hinsicht kennengelernt:

Erstens bei den selbständigen ambulanten Kontrollmaßnah-men im Vorfeld (B. II. 5. zu § 113 StPO n. F.) bzw. anstelle derU-Haft (B. III. 2. a zu § 116 StPO n. F.). Hier mag bei Freiwillig-keit, Geständigkeit und anwaltlicher Beratung des Betroffenen

182 Dazu Grebing (Fußn. 7), S. 233.«s Rotthaus, NJW 1973, 2271 (dort näher zu dem Vorschlag, die U-Häftlinge

mit geordnetem sozialen Hintergrund in besondere Haftanstalten einzu-weisen); Walter, MSchrKrim. 61, 341 (dort auch dazu, daß die U-Hafti. ü. durchaus „erziehungswidrig" strukturiert ist; S. 340 f.). Vgl. nochFußn. 43; Mey (Fußn. 7 a), S. 7; Franke (Fußn. 5), S. 38; Schütze,MSchrKrim. 63, 152.

>«< Näher Rotthaus (Fußn. 183), S. 2272; Wolter, GA 1980, 93, 104.

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die erwartete Bewährungsstrafe vorweggenommen und sogar miteinem gewissen „Resozialisierungsrabatt" versehen werden. Undzweitens mag man im Einzelfall zu dem Mittel der Haftverscho-nung greifen können, wenn sich der Beschuldigte bei erwarteterBewährungsstrafe freiwillig einem Bewährungshelfer unterstelltund Bewährungsweisungen zu befolgen bereit ist (B. III. 3.).

Und dieser Gedanke des vorweggenommenen ambulantenStrafantritts läßt sich nun in gravierenden Fällen fortführen bishin zum (stationären) „vorläufigen Strafvollzug" nach SchweizerVorbild (B. I. 6.)185. Wir hatten schon gesehen, daß dieser „einst-weilige Strafvollzug" als Surrogat der U-Haft, der ebenfalls einengewissen Resozialisierungsrabatt nahelegt, der denkbaren Alter-native zur Verkürzung der U-Haft, dem guilty plea (B. I. 5.), vor-zuziehen ist. Den zahlreichen Einzelproblemen des vorläufigenStrafvollzugs sei im folgenden näher nachgegangen.

4. a) Was zunächst die unabdingbaren Zulässigkeitsvorausset-zungen angeht, so sind die Freiwilligkeit, die Geständigkeit18* unddie anwaltliche Beratung des Betroffenen sowie die Erwartungeiner zumindest ca. zweijährigen Freiheitsstrafe schon genanntund im wesentlichen auch begründet: Der geständige Betroffenemuß auf die aus der Unschuldsvermutung und Art. 5 Abs. l Ziff. aMRK (vgl. aber auch Art. 5 Abs. l Ziff. c MRK) fließenden Rech-te ausdrücklich und freiwillig verzichten (können)187. Dabei sollteer sich ausnahmslos von einem Verteidiger beraten lassen186. Ins-gesamt wird es auch hier darum gehen, die Verteidigerrechte weitüber § 140 StPO hinaus auszubauen188.

Die Zweijahresgrenze bei der erwarteten Freiheitsstrafeschließlich lehnt sich einmal an § 56 Abs. 2 StGB, zum anderenan diejenige Grenzlinie an, die für die Einführung eines Schuld-interlokuts für empfehlenswert gehalten wird189. Auch wird es

185 Dazu Dünnebier (Fußn. 15), S. 48 f.; Kreuzer, RdJ 1978, 349; Krümpel-mann, in: Jescheck/Krümpelmann (Fußn. 12), S. 634 f. u. (Fußn. 8), S. 50Fußn. 53; Lang (Fußn. 43), S. 57 f.; QuensellQuensel, in: Die Strafvoll-zugsreform, 1971, S. 161; Schubarth (Fußn. 13), S. 30; ders., SchwZStr. 96,295 ff.; WoZier, GA 1980, 104.

186 Art. 123 in Bern; Wolter (Fußn. 185).187 Schubarth, SchwZStr. 96, 305 f. m. Fußn. 46 u. (Fußn. 13), S. 30; anders

(Absehen von Freiwilligkeit!) unhaltbar die Kantone Aargau und Glarus(Schubarth, SchwZStr. 96, 309).

IBS vgl. Arbeitskreis Strafprozeßreform (näher Fußn. 44); Schubarth,SchwZStr. 96, 304, 310.

189 Zum Ganzen Wolter, GA 1980, 81 ff. Vgl. noch bei Fußn. 177.

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in diesem Grenzbereich seltener zur selbständigen Anordnung vonVerhaftungssurrogaten nach § 116 StPO n. F. kommen (dazu B.II. 1. und III. 1., 2.). Des weiteren wird man in diesem Strafen-bereich auf jeden Fall einer Persönlichkeitserforschung i. S. v. § 6Abs. l StVollzG bedürfen. Insofern empfiehlt sich hier auch, beiFreiwilligkeit des Betroffenen schon vor dem Schuldspruch, eineEinweisung in eine Gut achter anst alt mit „KriminologischemDienst" als „Einstieg in die Resozialisierung" zu verfügen189.

Hinzu kommen muß schließlich, daß das erkennende Gerichtden vorläufigen Strafvollzug genehmigt1™. Dazu bietet sich dieeingangs favorisierte mündliche Haftverhandlung (B. I. 4.) zwang-los an.

b) Da dem vorläufigen Strafvollzug kein rechtskräftiges Ur-teil zugrunde liegt, ist er ebenso wie die U-Haft selbst (in dermündlichen Haftverhandlung) zu befristen. Das Beschleunigungs-gebot der MRK bleibt also durchaus bestehen191. Man wird allge-mein sagen können, daß der einstweilige Strafvollzug die Garan-tien der Untersuchungshaft nicht verdrängen darf. Anträge z. B.auf Haftprüfung, Haftverschonung oder Haftentlassung darf derBetroffene also auch nach vorzeitigem Straf antritt stellen; ande-rerseits wird man dem Beschuldigten die jederzeitige Rückkehrin den U-Haftvollzug jedenfalls dann versagen müssen, wenn erkeine triftigen Gründe vorträgt192.

Freilich wird man auch Vorsorge für diejenigen Fälle zu tref-fen haben, bei denen der vorläufige Straf antritt unabhängig vonden Voraussetzungen der U-Haft erfolgt. Man wird dem Beschul-digten auch dann nicht die vorzeitige Inanspruchnahme von Reso-zialisierung verweigern können, wenn Flucht- oder Verdunke-lungsgefahr überhaupt nicht oder aber nicht mehr vorliegen. Hierist dann — analog zu den Regelungen bei Bestehen der U-Haft-Voraussetzungen — über die Geständigkeit, Freiwilligkeit undVerteidigung des Betroffenen hinaus eine wiederum befristeteEntscheidung des erkennenden Gerichts zu verlangen198. Dies giltim Ermittlungsverfahren ebenso wie nach einem bindenden

180 Schubarth, SchwZStr. 96, 309 (sowie 296 f. u. 298 zur Berner u. Solo-thurner Regelung) u. (Fußn. 13), S. 30.

191 So mit Recht Schubarth, SchwZStr. 96, 297, 302, 308 f. (dort auch zurBerner Fristregelung: grundsätzl. 3 Mon.).

192 Näher Schubarth, SchwZStr. 96, 306 f.193 Dazu Schubarth, SchwZStr. 96, 310 f.; Wolter, GA 1980, 104.

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Schuldspruch beim Schuldinterlokut oder nach dem noch nichtrechtskräftigen erstinstanzlidien Urteil.

Der Gewinn für die Strafrechtspflege liegt auch hier wiederauf der Hand: Man kann frühzeitig Sozialtherapie einleiten; dieStrafe kann der Tat (bzw. dem ersten Schuldspruch) auf dem Fußefolgen.

c) Und weil dies so ist, läßt sich auch beim vorläufigen Straf-vollzug, ebenso wie bei der vorweggenommenen Bewährungs-strafe (B. II. 5. u. III. 2. a), ein „Resozialisierungsrabatt" zubilli-gen. Drei Monate Probevollzug können dabei durchaus vier Mo-naten Strafvollzug entsprechen194. Wer hier einwendet, daß miteinem solchen „Geschäft" die Freiwilligkeit des vorläufigen Straf-antritts in Frage gestellt sei, sollte die „Sicherungen" der Bera-tung durch den Verteidiger und der mündlichen Raftverhandlungdurch das erkennende Gericht bedenken.

d) Wenn unter B. VI. 4. b) festgestellt wurde, daß dem „vor-läufigen Strafgefangenen" die Garantien der U-Haft erhalten blei-ben müssen, so heißt das andererseits nicht, daß er auf die Vor-teile des Strafvollzugs (gegenüber der U-Haft) verzichten muß.Was also die Fragen der Gemeinschaftsveranstaltungen, des Ur-laubs, der auswärtigen Beschäftigung oder des halboffenen Voll-zugs angeht, so sollen diese Möglichkeiten jedenfalls grundsätz-lich auch dem „vorläufigen Strafgefangenen" offenstehen; unter-schiedliche Regelungen für „vorläufige und endgültige Gefangene"müßten auch zu Schwierigkeiten in der praktischen Durchführungdes Vollzugs führen195.

e) Zieht man ein Fazit, so bildet der vorläufige Strafvollzuganstelle der U-Haft ein Institut sui generis. Er ist bezüglich derFristen und rechtlichen Absicherungen U-Haft und hinsichtlichdes Urlaubs (u. ä.) sowie Vollzugs Strafhaft. Durch die gegensei-tige Begrenzung der Regelungen entsteht zunächst eine Misch-form. Ihre Eigenständigkeit zeigt sie aber nicht zuletzt durch dieMöglichkeit des Resozialisierungsrabatts.

19< Dünnebier (Fußn. 15), S. 48 f.; Wolter (Fußn. 193). In der Schweiz ergibtsich der Anreiz schon dadurch, daß nur der vorzeitige Strafvollzug, nichtaber die U-Haft entspr. § 51 StGB (l : 1) angerechnet wird (dazu sowiezu der Häufigkeit des vorläufigen S traf antritts Schubarth, SchwZStr. 96,298 f., 301).

195 So mit Recht Schubarth,, SchwZStr. 96, 310 gegen das Schweiz. Bundes-gericht (302 f.).

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Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen 501

f) Die Vorteile dieses Instituts sui generis sind von derarti-gem Gewicht, daß seine Einführung ernsthaft erwogen werdenmuß: Das erkennende Gericht kann die Persönlichkeitserforschungbeim Beschuldigten veranlassen und frühzeitig Sozialtherapieeinleiten. Es gewinnt eine wichtige Grundlage für die Rechts-folgenentscheidung. Die resozialisierende Strafe folgt der Tat (re-gelmäßig) auf dem Fuße. Die sonst „tote" Zeit der U-Haft kannsinnvoll genutzt werden; in vielen Fällen auch zur Erstellung vonzeitraubenden (z. B. medizinischen oder wirtschaftlichen) Gutach-ten196. Die Persönlichkeitserforschung, mit der ohnehin der spä-tere Strafvollzug beginnt (§ 6 Abs. l StVollzG), kann so frühzei-tig erfolgen, daß wirklich einmal die „Einheit des gesamten Straf-rechts" und die Verwirklichung des „sozialen Rechtsstaatsprin-zips" sichtbar werden. Ermittlungsverfahren, Tatfeststellung undRechtsfolgenentscheidung, aber auch Strafvollstreckung undStrafvollzug rücken dicht zusammen und überschneiden sich so-gar107.

g) Freilich: Nimmt der Betroffene das sozialstaatliche Ange-bot des vorläufigen Strafvollzugs (oder der einstweiligen Bewäh-rungsstrafe) nicht an, so sind das Ermittlungsverfahren wie dergesamte Strafprozeß insoweit auf das rechtsstaatliche Element derVerfahrenssicherung zurückgeworfen. Allerdings kommen dannauch sogleich die in dieser Abhandlung gesteckten Grenzen derU-Haft bzw. ihrer ambulanten Surrogate in Sicht: Mehr als Ver-fahrenssicherung bei Flucht- oder Verdunkelungsgefahr (§ 112Abs. 2 StPO) darf man nicht betreiben: sozialintegrierende odergar abschreckende Generalprävention (§ 112 Abs. 3 StPO) ebensowie sichernde (§ 112 a StPO), resozialisierende (§ 110 Abs. 2 JGG)bzw. abschreckende Individualprävention (dagegen B. . 2. b)oder gar Vergeltung und Schuldausgleich (dagegen B. II. 2. b) las-sen sich nicht mit Hilfe der U-Haft durchsetzen. Dies verbietetdie Unschuldsvermutung genauso wie das Schutzrecht des Be-troffenen vor „Sozialtherapie"197.

C. Ergebnisse und GesetzgebungsvorschlägeDamit ist ein Schlußwort im wesentlichen gesprochen. Will

man die Ergebnisse der Abhandlung dennoch konkretisierend zu-sammenfassen, so läßt sich folgendes festhalten:

">e Vöcking (Fußn. 6), S. 235.197 Zum Ganzen Wolter, GA 1980, 105 f.; Riej3, Schafer-Festschr., S. 194.

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1. Die U-Haft ist individuell durch das erkennende Gericht(in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft) zu befristen. Siedarf bei Sachen ohne besonderen Umfang und Schwierigkeitsgradnicht länger als ein bis drei Monate dauern. In komplizierten Fäl-len mit Fluchtgefahr ist die Grenze bei etwa 4*/2 Monaten zuziehen. Der Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr ist in ein-fachen Fällen nach sechs Wochen (ab Erlaß des Festnahmebe-fehls), im übrigen nach 12 Wochen und in jedem Fall nach Ab-schluß der Ermittlungen aufzuheben. — Über die Dauer der Haftentscheidet das erkennende Gericht in einer mündlichen und öf-fentlichen Haftverhandlung. Der Haftbefehl basiert regelmäßigauf einem vorangegangenen, vom Haftrichter erlassenen Fest-nahmebefehl. Dieser Festnahmebefehl ist zwischen ein und allen-falls fünf Tagen zur Erforschung des Sachverhalts und der Täter-persönlichkeit unter Einschaltung der sozialen Gerichtshilfe auf-rechtzuerhalten und möglichst von den stigmatisierenden Begleit-erscheinungen des eigentlichen Haftbefehls zu befreien.

Nur dieser Gesamtvorschlag läßt sich mit dem Beschleuni-gungsgebot, der Unschuldsvermutung, dem Verhälnismäßigkeits-prinzip sowie dem Grundsatz der Erforderlichkeit vereinbaren(B. L 4.). Er ist einer Lösung mit Hilfe des plea of guilty vorzu-ziehen (B. I. 5.).

II. 1. Die U-Haft muß ultima ratio der Verfahrenssicherungwegen Flucht- oder Verdunkelungsgefahr werden. Bei konkreterwarteter Geldstrafe ist U-Haft zwingend ausgeschlossen. Dasgleiche gilt, wenn bei Verdunkelungsgefahr eine Bewährungs-strafe bis zu einem Jahr konkret erwartet wird. Bei Fluchtgefahrkommt nur in Sonderfällen ein Haftbefehl auch dann in Betracht,wenn (konkret) eine Bewährungsstrafe von zumindest sechs Mo-naten droht. Das Verfahrenssicherungsinteresse ist durch selb-ständige ambulante Kontrollmaßnahmen analog § 116 StPO so-wie vor allem ein Reiseverbot zu wahren (§113 StPO n. F.). Nureine solche Lösung entspricht dem Verhältnismäßigkeitsprinzip(B. II. 3.). § 230 Abs. 2 StPO bleibt unberührt.

2. Auch bei den verbleibenden Fällen — insbesondere beinach § 56 Abs. 2 StGB erwarteter Bewährungsstrafe — soll soweit wie möglich an die Stelle der U-Haft die selbständige ambu-lante Kontrollmaßnahme (vgl. auch § 72 Abs. l JGG) oder — alszweite Spur — die Haftverschonung treten (§ 116 StPO n. F.).Dies gebieten die Grundsätze des Vorrangs milderer Mittel undder Verhältnismäßigkeit (B. III. 1., 3.).

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3. Bei einem Verstoß gegen die ambulanten Kontrollmaßnah-men ist streng zwischen den Fällen des § 113 StPO n. F. und des§ 116 StPO n. F. zu unterscheiden. Im Falle des § 113 StPO kommtnur Kautionsverfall oder Ordnungsgeld in Betracht. Bei § 116StPO hingegen kann nunmehr Haftbefehl erlassen (bzw. in Voll-zug gesetzt) werden (B. II. 6.; B. III. 2. b).

III. § 112 Abs. 3 StPO ist wegen seines Widerspruchs zur Un-schuldsvermutung und seiner unzulässigen Vorwegnahme gene-ralpräventiver Belange ersatzlos zu streichen (B. IV.).

IV. Die §§ 112 a StPO, 71 Abs. 2 1. Alt. JGG sind in der vor-liegenden Form als apokryphe Haftgründe wegen Verstoßes gegendie Unschuldsvermutung und unzulässiger Vorwegnahme derSicherungsindividualprävention abzuschaffen (B. V. 1.). An ihreStelle sollte — in jeweils enger Anlehnung an die Maßregeln desStGB (§§ 66, 65, 68) — neben der „einstweiligen Sicherungsver-wahrung" (§ 126 b StPO n. F.) und der „vorläufigen Unterbrin-gung in einer sozialtherapeutischen Anstalt" (§ 126 c StPO n. F.)(B. V. 2.) vor allem die „einstweilige Führungsaufsicht" (§ 126 dStPO n. F.) treten (B. V. 3.). (Für das JGG ist freilich § 7 zu be-achten und deshalb allein die vorläufige Führungsaufsicht zuzu-lassen.) — Diese vorläufigen Maßregeln komplettieren den mitden §§ lila, 126 a, 132 a StPO eröffneten Katalog.

Bei Verstoß gegen Weisungen während der einstweiligenFührungsaufsicht, insbesondere durch erneute Begehung einerStraftat, kommt nicht etwa Vorbeugungshaft i. S. v. § 112 a StPO,sondern regelmäßig allein eine „Verweigerung des Gesamtstra-fenrabatts" in Betracht (näher B. V. 4.).

V. § 110 Abs. 2 JGG ist wegen Vorwegnahme der erzieheri-schen Individualprävention bei Volljährigen verfassungswidrig(A. II. 2.).

VI. Die §§ 81 StPO und 73 Abs. l JGG unterliegen — soweitbei § 81 StPO nicht § 20 StGB betroffen und nach beiden Vor-schriften die Persönlichkeitserforschung schon vor einem binden-den Schuldspruch zulässig ist — erheblichen Vorbehalten (B. VI.3. a).

VII. Sämtliche weiteren Vorschläge, die auf frühzeitige Re-sozialisierung oder Persönlichkeitserforschung ohne Zustimmungdes Betroffenen zielen (B. VI. 3. a), sind abzulehnen.

VIII. 1. Zur Erreichung einer frühzeitigen Persönlichkeitser-forschung und Sozialtherapie schon im Ermittlungsverfahren undvor einem Schuldspruch ist jedoch die Einführung vorweggenom-

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mener Strafen (B. VI. 4. f) zu empfehlen. Bei erwarteter Bewäh-rungsstrafe kann an die Stelle der ambulanten Kontrollmaßnah-men (B. II. 5. zu § 113 StPO n. F.; B. III. 2. a zu § 116 StPO n. F.)die vorweggenommene Bewährung treten; der Haftbefehl mag soim Einzelfall durch Haftverschonung ersetzt werden (B. III. 3.).Bei erwarteter Freiheitsstrafe von zumindest ca. zwei Jahrenkann die U-Haft durch vorläufigen Strafvollzug ersetzt werden(B. VI. 4. a). Dies gilt im Einzelfall auch dann, wenn die Voraus-setzungen der U-Haft nicht oder nicht mehr vorliegen (B. VI.4. b). Dabei müssen dem „vorläufigen Strafgefangenen" die Vor-teile des Strafvollzugs (etwa Urlaub) zugute kommen (B. VI. 4. c).

2. Die vorweggenommene Strafe als Institut sui generis(B. VI. 4. e) setzt in jedem Fall Freiwilligkeit, Geständigkeit undanwaltliche Beratung des Betroffenen sowie eine richterliche Be-fristung (B. VI. 4. b) voraus (B. VI. 4. a).

3. Da die Strafe der Tat auf dem Fuße folgen kann, ist je-weils ein „Resozialisierungsrabatt" zuzubilligen (B. II. 5.; B. III.2. a; B. VI. 4. c).

4. Sofern der Betroffene der resozialisierenden vorläufigenStrafe nicht zustimmt, bleibt die U-Haft auf ihr rechtsstaatlichesElement der Verfahrenssicherung zurückgeworfen (B. VI. 4. g).Das dann durch die fast automatische Anrechnung der U-Haft auf-tretende Problem der resozialisierungsfeindlichen kurzen Frei-heitsstrafe läßt sich nicht durch die Abschaffung der Anrechnunglösen. Dies widerspräche dem „Aufopferungsgedanken" (B. VI. 2.).— § 109 Abs. 2 JGG i. V. m. § 52 a Abs. l S. 2 JGG ist zu strei-chen.

IX. In jedem Fall ist bei den Reformbestrebungen für dieBeschleunigung des Strafprozesses insgesamt Sorge zu tragen(B. L 2., 3.; B. V. 4.).

X. Die Reform des Strafprozesses und insbesondere der U-Haft ist ohne Fortschreibung und Erweiterung des empirischenMaterials undenkbar. Nur muß man sich einerseits der ausschließ-lichen Normativität zahlreicher Grundentscheidungen (z. B. Ab-schaffung der §§ 112 Abs. 3, 112 a StPO), andererseits der Schwie-rigkeiten der empirischen Feststellungen bewußt sein. Der Erfolgeiner Haftentscheidung, z. B. wegen Fluchtgefahr, ließe sich letzt-lich nur ermitteln, wenn man wüßte, ob der Beschuldigte — inFreiheit belassen — wirklich geflohen wäre198.

» » Krümpelmann (Fußn. 8), S. 47 f.

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XI. Insgesamt scheinen die beiden wesentlichen Konflikte imGefolge der U-Haft einer Lösung nähergebracht. Das (rechtsstaat-liche) Spannungsverhältnis von Strafverfolgungs- wie Sicherungs-interesse des Staates und Freiheitsanspruch des Bürgers ist durchdie Reduzierung der Haftdauer, die Einführung selbständigerambulanter Kontrollmaßnahmen (Reform der §§ 113, 116 StPO)und die Abschaffung bzw. Ersetzung der §§ 112 Abs. 3, 112 a StPOweitgehend gelöst. Und das sozialstaatliche Problem der Resozia-lisierungsfeindlichkeit der U-Haft (einschließlich des Anrech-nungsdilemmas) mag (neben der Haftdauerverkürzung) durch dieEinführung vorweggenommener Strafen allmählich überwundenwerden. Eine wesentliche Hilfe bietet die Anpassung des § 113StPO n. F. an die §§ 47, 56 StGB.

XII. Die mündliche Haftverhandlung unmittelbar nach Frist-ablauf des sehr kurzfristigen Festnahmebefehls nimmt bei allemeine zentrale Stellung ein. Nunmehr kann (neben der Haftbefri-stung) die konkret erwartete Strafe (z. B. § 112 Abs. l S. 2 StPO)abgeschätzt und damit der Anwendungsbereich des § 113 StPOn. F. oder § 116 StPO n. F. festgelegt werden. Vor allem kann überdie selbständige Anordnung von ambulanten Kontrollmaßnahmenoder den Antritt einer vorweggenommenen Strafe entschiedenwerden.

XIII. Bei der Kodifizierung eines reformierten U-Haft-Rechtsist ein doppeltes vorzuschlagen:

Einmal sind sämtliche einschlägigen Regelungen (§§ 112 Abs. 2,113 n. F., 116 n. F., 116 a StPO) für den Haftgrund der Fluchtund Fluchtgefahr einerseits und den Haftgrund der Verdunke-lungsgefahr andererseits in jeweils einer Vorschrift (oder Vor-schriftengruppe) zusammenzufassen. Dies empfiehlt sich u. a.schon deshalb, weil die ambulanten Kontrollmaßnahmen im Vor-feld der U-Haft (§ 113 StPO n. F.), die Verhaftungssurrogate(§ 116 StPO n. F.) und die Haftsurrogate bei der Haftverschonungjeweils weitgehend identisch sind. Andererseits weisen die Haft-gründe der Flucht- und Fluchtgefahr bzw. der Verdunkelungs-gefahr bei den Fristen und Ausschlußmöglichkeiten erheblicheUnterschiede auf (vgl. etwa B. I. 4. d; B. . 3. a).

Zum anderen sind die Glieder der Trias, bestehend aus ver-jähr enssichernder U-Haft (bzw. ihrer Ersatzmaßnahmen), resozia-lisierenden vorläufigen Strafen und sicherungsindividualpräven-tiven einstweiligen Maßregeln, gesetzessystematisch deutlich von-einander abzuheben und durch eine jeweils „programmatische

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Page 55: Untersuchungshaft, Vorbeugungshaft und vorläufige Sanktionen

506 Jürgen Weiter

und interpretationsgeeignete Grundsatzbestimmung" (ähnlich den§§ 46 StGB, 2 StVollzG, 2 AE-StGB, Nr. l Abs. l UVollzO sowie§§ 112 Abs. l S. 2 StPO, 62 StGB) über den Zweck und die Gren-zen der Sanktionen einzuleiten199. Diese Leitvorschriften könntenauf dem Boden der Abhandlung lauten:§ (1) Die Untersuchungshaft oder weniger einschneidende Er-

satzmaßnahmen dienen dem Zweck, die Anwesenheit desBeschuldigten im Strafverfahren zu sichern und eine ord-nungsgemäße Tatsachenfeststellung durch die Strafverfol-gungsorgane zu gewährleisten.

(2) Sie dürfen nicht angeordnet oder aufrechterhalten werden,wenn sie zur Bedeutung der Sache und der zu erwarten-den Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherungaußer Verhältnis stehen.

§ y Ist der Beschuldigte geständig, so soll er mit seiner Zu-stimmung bereits im Vollzug der Untersuchungshaft oderbeim Befolgen der Ersatzmaßnahmen fähig werden, künf-tig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftatenzu führen.

§ z (1) Der Vollzug von einstweilig angeordneten Maßregeln derBesserung und Sicherung dient dem Schutz der Allgemein-heit vor weiteren Straftaten.

(2) Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf einst-weilig nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeu-tung der erwarteten und derjenigen Taten, deren der Be-schuldigte dringend verdächtig ist, sowie zu dem Gradder von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.

Rotthaus, NJW 1973, 2271 zur U-Haft. Wie dicht die Verfolgung dieserdrei Aufgaben von der Ausgestaltung der Maßnahmen her gesehen zu-sammenliegen kann, zeigen die jeweiligen Weisungen bei den ambulan-ten Kontrollmaßnahmen nach §§ 113, 116 StPO n. F. bei der vorläufigenBewährungsstrafe und bei der einstweiligen Führungsaufsicht. Sie kön-nen z. T. durchaus identisch sein (s. auch §§ 116 I StPO; 56 c II, III StGB;68 b I, II StGB). Nachdrücklich betont sei jedoch, daß diese Maßnahmenjeweils verschiedene Zwecke verfolgen und deshalb unterschiedlicheVoraussetzungen haben: Verfahrenssicherung (Flucht- oder Verdunke-lungsgefahr); Resozialisierung (Freiwilligkeit, gute Prognose); Siche-rungsindividualprävention (schlechte Prognose, Katalogtaten usf.).

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