Nachrichten aus der Chemie| 62 | Mai 2014 | www.gdch.de/nachrichten
585BGesellschaft Österreichischer ChemikerV
I Im Rahmen einer Festveranstal-
tung Ende Jänner 2014 im großen
Festsaal der Universität Wien wurde
es deutlich, welche Entwicklung die
Arzneimittelforschung in den letzten
100 Jahren genommen hat. Früher
stand das chemische Experiment am
Beginn der Wirkstoffsuche, heute hat
das Modellieren am Computer sei-
nen Platz eingenommen. Gehen wir
auf eine Zeitreise.
Wie es vor 100 Jahren begann
I Einer der verdienstvollsten Ver-
treter dieses Faches, Univ.Prof. DDr.
Wilhelm Fleischhacker, gab einen
Rückblick auf seine vier Vorgänger Jo-
sef Herzig, Franz Faltis, Franz Vie-
böck, Matthias Pailer am Institut für
Pharmazeutische Chemie an der Uni-
versität Wien.
Josef Herzig studierte Chemie in
Wien und qualifizierte sich durch
Auslandsaufenthalte bei August Wil-
helm von Hofmann in Berlin und Ro-
bert Wilhelm Bunsen in Heidelberg
für eine wissenschaftliche Laufbahn.
Seine kaiserliche und königliche-
apostolische Majestät Franz Josef er-
nannte Herzig am 30. Oktober 1913
zum ordentlichen Professor. Mit sei-
ner Ernennung wurde zum ersten
Mal die chemische Ausbildung von
Pharmazeuten und Chemikern ge-
trennt. Herzig war von 1913 – 1923
Vorstand des Institutes.
Franz Faltis dissertierte als Chemi-
ker bei Franz Wegscheider an der
Univ. Wien, wurde nach Graz berufen
und folgte 1923 einer Berufung als
Extra-Ordinarius an das Pharmazeu-
tisch-Chemisches Institut nach Wien.
Kriegsbedingte Mängel mussten von
ihm überwunden werden, damit die
nach und nach frei werdenden Räu-
me im Erdgeschoß des „alten chemi-
schen Institutes“ in der Währinger
Straße 10 in funktionierende Labors
verwandelt werden konnten. Der
erst 21-jährige hatte als Student im
6. Semester eine Publikation in der
Pharmazeutischen Post mit dem Ti-
tel „Über die Gruppe der Opiumalka-
loide und die Konstitution des Berbe-
rins und Morphins“ veröffentlicht
und setzte später als Alkaloidfor-
scher bei der Strukturaufklärung wis-
senschaftliche Akzente. Seine Funkti-
onsperiode dauerte von 1923 bis
1954.
Franz Vieböck wurde 1954 Ordina-
rius für pharmazeutische Chemie
und blieb es bis 1971. Nach seinem
Studium der Chemie in Graz habili-
tierte er sich 1934 für dieses Fach.
Vieböck vertrat die pharmazeutische
Chemie in seiner vollen Breite und
lieferte wesentliche Beiträge zur
pharmazeutischen Analytik und zur
Chemie der Naturstoffe. Zu seinen
Leistungen als Analytiker zählen eine
titrimetrische Variante der Zei-
sel’schen Methoxylbestimmung. Er
führte sie in eine Mikromethode
über, die sich ideal für Gruppenbe-
stimmung bei der Strukturaufklä-
rung von Naturstoffen eignete. Vie-
böck schuf einen Analysengang zur
Erkennung von Arzneimitteln nach
dem etwa 1000 Substanzen in
kleinsten Mengen (ca. 10 mg) sicher
nachgewiesen werden konnten.
Matthias Pailer war ebenfalls Che-
miker, dissertierte noch bei Prof.
Späth, habilitierte sich im Fach orga-
nische Chemie 1942 und war von
1971 – 1979 Ordinarius für pharma-
zeutische Chemie. Sein wissen-
schaftliches Werk reicht von Alkaloi-
den, über die Bestandteile von Schie-
ferölen bis zur Analyse der Zusam-
mensetzung von Tabakrauch (Ben-
zopyren, Amine, Nitrosamine) und
Weihrauchbestandteile im Pyrroly-
sat. Bleibende Verdienste hat sich
Pailer um den Ausbau und die Mo-
dernisierung des Instituts für Phar-
mazeutische Chemie in Wien erwor-
ben.
Wilhelm Fleischhacker prägte
durch seine außerordentlichen Fä-
higkeiten als Forscher, Wissen-
schaftsmanager und Lehrer die Phar-
mazie in Österreich. Er war Ordinari-
us für Pharmazeutische Chemie von
1979 – 1999 und hinterließ als De-
kan der Formal- und Naturwissen-
schaftlichen Fakultät (1991 – 1999)
mit seiner Berufungspolitik bleiben-
de Spuren. Seine wissenschaftlichen
Arbeitsschwerpunkte galten dem
Morphin, Benzodiazepin – Analoga
Rückblick und Ausblick in die Zukunft dieses Faches der Chemie.
Universität Wien: 100 Jahre Pharmazeutische Chemie
Antrittsvorlesung Thierry Langer.
und Arecolin. Wilhelm Fleischhacker
hat über 40 Jahre lang die Lehre in
der Pharmazeutischen Chemie ge-
prägt wie kein anderer (1. Vorlesung
im WS 1971, letzte Vorlesung im SS
2012). Seine Vorlesungen waren
stets auf aktuellstem Stand. Gerade-
zu legendär war sein Blick für struk-
turelle Analogien, schon in der Art
wie Formeln gezeichnet wurden. Er
war maßgeblich an der Planung, Er-
richtung und dem Umzug der Phar-
mazeutischen Institute in ein groß-
zügiges neues Institutsgebäude im
Jahr 1994 beteiligt. Fleischhacker
war übrigens der erste Pharmazeut,
der zum Ordinarius für Pharmazeuti-
sche Chemie berufen wurde.
Christian Noe war von 1999 bis
2012 Ordinarius. Er studierte an der
TU in Wien Chemie und an der Uni-
versität Wien Pharmazie und been-
dete sein Chemiestudium mit sub
auspiciis praesidentis. Später habili-
tierte er sich im Fach Organische
Chemie. 1991 folgte er einem Ruf an
die Universität Frankfurt als Profes-
sor für medizinische Chemie. Von
dort wurde er als Universitätsprofes-
sor für Pharmazeutische Chemie
nach Wien berufen. In seiner Laudati-
on betonte Univ.Prof. Dr. Gerhard
Ecker die visionäre Kraft von Christi-
an Noe, der beim Lesen von Publika-
tionen aus unterschiedlichen Fach-
gebieten sofort neue Ansätze ent-
deckte und sie für die eigene For-
schungstätigkeit nutzte. Unter sei-
ner Führung wurden zwei neue Pro-
fessuren geschaffen, nämlich für
Pharmakoinformatik und Pharma-
ceutical Sciences. Er war insgesamt
fünf Jahre Dekan an seiner Fakultät.
Seit 2009 ist Noe Chairman des
Scientific Advisory Boards der Inno-
vative Medicines Initiative.
Goldenes Ehrenzeichen für Univ.Prof. DDr. Wilhelm Fleisch-hacker
I Wilhelm Fleischhacker erhielt
vom Rektor der Universität Heinz
Engl und dem Dekan der Fakultät für
Lebenswissenschaften Horst Seidler
das goldene Ehrenzeichen der Uni-
versität Wien in Würdigung seiner
Verdienste als Dekan der Formal- und
naturwissenschaftlichen Fakultät
und als Ordinarius für Pharmazeuti-
sche Chemie. In seiner Laudatio un-
terstrich Univ.Prof. Dr. Ernst Urban
seinen unermüdlichen und vorbild-
haften Einsatz für die Forschung und
Lehre im Fachgebiet der Pharmazeu-
tischen Chemie.
Berufungen
I Heinz Engel sieht in den beiden
neuen Berufungen von Thierry Lan-
ger und Manfred Ogris einen wichti-
gen Schritt zur internationalen Aus-
richtung der Universität Wien auf
neue innovative Forschungsfelder.
Univ.Prof. Dr. Manfred Ogris
I Der gebürtige Kärntner Manfred
Ogris studierte an der Universität
für Bodenkultur in Wien, dissertier-
te am Wiener Biozentrum und etab-
lierte sich nach Forschungsaufent-
halten in UK als Forschungsgrup-
penleiter am Department für Phar-
mazie der Ludwig-Maximilians-Uni-
versität, München. Dort habilitierte
er sich 2009 in den Fächern Pharma-
zeutische Biologie und Pharmazeu-
tische Biotechnologie. Seit Oktober
2013 hat er die Professur für Phar-
maceutical Sciences am Depart-
ment für Klinische Pharmazie und
Diagnostik an der Fakultät für Le-
benswissenschaften der Universität
Wien inne. Seine Antrittsvorlesung
trug folgenden Titel: „Gentherapie:
vom gewagten Konzept zur klini-
schen Anwendung“.
Die Theorie klingt einfach: Man
bringt ein bestimmtes Gen dorthin,
wo es gebraucht wird, weil das Origi-
nal defekt ist, oder weil es eventuell
durch eine Mutation nicht mehr ab-
lesbar ist. „Für die praktische Umset-
zung gibt es noch viel Forschungsbe-
darf“, betonte Ogris, denn bisher
wurde in der EU erst ein Genthera-
peutikum (Glybera) über das zentrale
Verfahren zugelassen. Der Genvektor
Alipogen – Tiparvovec in Glybera
steht zur Behandlung des hereditä-
ren Lipoprotein-Lipase-Defizit zur
Verfügung, das eine Inzidenz von 1 /
Antrittsvorlesung Manfred Ogris.
586 BGesellschaft Österreichischer ChemikerV
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Ehrung Prof. Wilhelm Fleischhacker v.l.: O. Univ.Prof. Dr. Horst Seidler Horst Seidler (Dekan der Fakultät für Lebens-
wissenschaften), emer. Univ.Prof. Dr. Wilhelm Fleischhacker, o. Univ.Prof. DI. Dr. Dr.h.c. Heinz W. Engl (Rektor der
Universität Wien). (alle Fotos: www.derknopfdruecker.com)
1 000 000 aufweist und unbehandelt
tödlich verlauft.
Ogris’ Forschungsvorhaben sind
der Tumor-Gentherapie gewidmet.
„Unsere neuen Tumortherapien ba-
sieren auf Nukleinsäure wie DNA
oder RNA bzw. auf makromolekula-
ren Trägersystemen. Dabei schleu-
se ich die Nukleinsäure in den Tu-
mor ein und nutze dort die geneti-
schen Unterschiede zwischen Tu-
mor und gesundem Gewebe, um
spezifische Therapien zu entwi-
ckeln“, erklärt Ogris. Mit Hilfe bild-
gebender Verfahren untersucht er
den farbmarkierten Wirkstoff im
Tumor: „Auf diese Weise können
wir am Bildschirm verfolgen, wo
und wie lange sich der Wirkstoff
festsetzt und wie er wirkt.“ Eines
der Ziele ist die Behandlung von
Metastasen über parenteral verab-
reichte Genvektoren, die im Blut-
strom zirkulieren und sich in Tu-
morzellen anreichern sollen, wo to-
xische Proteine Tumorzellen abtö-
tet. Das bedeutet, dass der Gen-
transfer in jede Tumorzelle erfol-
gen muss. Man setzt im Übrigen
auf die Kombination aller Verfah-
ren, d.h. Gen-, Strahlen- und Che-
motherapie. Das große Problem
liegt in der Heterogenität der Tu-
more: „Die Metastasen unterschei-
den sich vom Primärtumor kom-
plett, und so muss in jeder Behand-
lungsrunde ein neuer Wirkstoff he-
rangezogen werden. Denn der Tu-
mor ist ja nicht nur eine einzelne
Krankheit, sondern im Grunde vie-
le, die bloß unter einer Bezeich-
nung zusammengefasst werden“,
erklärt Ogris die größte Herausfor-
derung in der Krebsforschung.
Univ.Prof. Mag. Dr. Thierry Langer
I Nach dem Pharmaziestudium in
Wien, dissertierte Thierry Langer
1991 in medizinischer Chemie. Die
weitere wissenschaftliche Ausbil-
dung erhielt er an der Louis Pasteur
Universität Straßburg, von wo er
1992 an das Institut für Pharmazeu-
tische Chemie der Universität Inns-
bruck wechselte. Sein wissenschaft-
liches Interesse gilt ganz dem com-
putergestützten Design von Arznei-
mittelwirkstoffen. Er gründete z. B.
mit Kollegen die „Inte: Ligand Soft-
ware-Development and Consulting
Gmbh“. Seine guten Kontakte zur
Industrie brachten ihm 2008 ein An-
gebot von Prestwick Chemical,
Straßburg, als CEO und Präsident zu
fungieren. Mit sechs Jahren Indus-
trieerfahrung kehrte er nun im Ok-
tober 2013 als Ordinarius für Phar-
mazeutische Chemie nach Wien zu-
rück.
„Acadmic Drug Discovery: Eine realisierbare Vision?“
I Eine Arzneimittelentwicklung
dauert heute im Schnitt 12 Jahre und
kostet rund 1 Mrd. Dollar. Aus mehr
als 100 000 neuen Verbindungen
müssen jene 50 identifiziert werden,
von denen dann präklinisch und kli-
nisch ein bis zwei Kandidaten fertig
entwickelt werden, wobei die höchs-
ten Kosten in den letzten Entwick-
lungsstufen anfallen. Langer nannte
zum Vergleich Entwicklungskosten
anderer Bereiche:
• Automobile 0,5 – 2,5 Mrd. USD, je
nach Segment
• Flugzeuge: Airbus A 380 kostete
16,4 Mrd. USD, Boeing 787 13,4
Mrd. USD
Ein totaler Fehlschlag bei einer Neu-
entwicklung ist bei Autos und Flug-
zeugen auszuschließen, bei Arznei-
mittel hingegen durchaus möglich.
Dies war z.B. bei Rimonabant (Acom-
plia) von Sanofi-Aventis der Fall, das
drei Jahre nach der Einführung inter-
national die Zulassung verlor! Phar-
maforschung ist also ein riskantes
Geschäft.
Langer sieht in der Verkürzung der
frühen Phase der Wirkstoffsuche/
-adaption eine Möglichkeit Risiken
zu reduzieren und Entwicklungszeit
zu sparen. Sein Lösungsansatz ist das
computergestützte Design von Mo-
lekülen nach bestimmten Kriterien.
Dazu entwickelte Langer neue Me-
thoden wie die Anwendung von
Mustererkennungsalgorithmen zur
Verbesserung der Beurteilung von Li-
ganden-Rezeptorwechselwirkungen
und ein Parallelscreening für die Pro-
filierung von Wirkstoffen. Damit ge-
lingt ihm schon am Computer eine
Abschätzung der Bindungsenergie
zwischen Ligand und Rezeptor und
eine Vorhersage der Affinität und Se-
lektivität pharmakophorer Gruppie-
rungen im Molekül und damit der
Pharmakodynamik und -kinetik neu-
er Verbindungen. Mit seinen Metho-
den lassen sich sowohl Liganden, als
auch die Rezeptoren systematisch
verändern. Das Resultat ist eine be-
schleunigende und risikomindernde
Unterstützung der industriellen
Wirkstoffsuche mit den Mitteln der
Universität.
Alfred Klement
I Wir gratulieren zum Geburtstag
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