Date post: | 11-Aug-2019 |
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Timm Beichelt
Einführung in die Kulturwissenschaft Vorlesung, Wintersemester 2010/11
Sitzung: 4.1.2012 – Kultur als Bedeutungsgewebe (Clifford Geertz)
19.10. Einführungssitzung 14.12. Symbol und symbolische Formen (Ernst Cassirer)
26.10. Was ist Wissenschaft: das Prinzip der problemorientierten Wissensvermehrung
21.12. Sinnhorizonte und soziale Wirklichkeit(en) (Alfred Schütz)
2.11. Was ist Kultur: Struktur vs. Substanz vs. Interpretation
4.1. Kultur als Bedeutungsgewebe (Clifford Geertz)
9.11. Was ist Kulturwissenschaft: Standbeine, Standpunkte, Standorte
11.1. Politische Kultur als Aggregat von Werten und Einstellungen (Gabriel Almond / Sidney Verba)
16.11. Die anthropologischen Prämissen sozialen Handelns: homo oeconomicus, homo socialis, homo culturalis
18.1. Kulturwissenschaft als Sozialwissenschaft + Kulturgeschichte
23.11. Grundpositionen I: interpretative Kulturtheorien
25.1. Kulturwissenschaft als Linguistik + Literaturwissenschaft
30.11. Grundpositionen II: (neo)strukturalistische Kulturtheorien
01.02. Übung II: Anwendungsbeispiele
7.12. Übung I: Anwendungsbeispiele 08.02 Kulturwissenschaft als Beruf?
Veranstaltungsplan
Heutige Vorlesung
I. Essays II. Anthropologie als
kulturwissenschaftliche Disziplin III. Heutiger Text: Clifford Geertz IV. „Piraten“ und symbolisches Handeln
Essays – Formale Anforderungen
- Essays als kleine Hausarbeiten: - Deckblatt, - Inhaltsangabe, - evtl. Fußnoten, - Literaturliste.
- Bitte nach Möglichkeit zusammenheften und vorher lochen. Ein Einheften in Ordner/Schnellhefter/ Schutzfolien ist nicht nötig.
aus: Reader zur Vorlesung
Essays – weitere Anforderungen
- Verfasserperspektive: externalisiert, Ausrichtung auf (imaginierte) wissenschaftliche Fachöffentlichkeit
- Zentral: wissenschaftlicher Bezug/Kontext. Am besten schon in der Einleitung den roten Faden anlegen
- Quellenarbeit bzw. Literaturliste/Fußnoten. Kriterien: - i.d.R. gut: zusätzlicher wiss. Text wird einbezogen - i.d.R. schlecht: zu viele (nicht wissenschaftliche) Internetquellen
- Zusammenfassender Abschnitt: - Wichtigste Aspekte des zusammengefassten Texts - Wichtigster Zusammenhang im Kontext - Meistens schlecht: „Meiner Meinung nach...“
Sehr gut
Gut / OK
Befriedigend: Deutliche Mängel
Stark verbesse-
rungs-würdig
Allg
em.
Aspe
kte Ausdrucksweise
Qualität der kritischen Diskussion Umgang mit Quellen (Zahl der Quellen, adäquate Verwendung)
Stru
ktur
Klare Gliederung des Essays Die Einleitung führt in das Thema und die Fragestellung des Essays ein und gibt einen Ausblick auf den folgenden Text Überzeugende, eigenständige Argumentation / argumentativer roter Faden Qualität des Schlussteils (der Synthese, des Ausblicks…)
Form
ale
Aspe
kte
Korrekte Rechtschreibung Zitate, Fußnoten und Bibliographie sind korrekt eingefügt Gestaltung des Deckblatts und des Inhaltsverzeichnisses
Bewertungsschema Essays
Heutige Vorlesung
I. Essays II. Anthropologie als
kulturwissenschaftliche Disziplin III. Clifford Geertz IV. „Piraten“ und symbolisches Handeln
Anthropologie I - Disziplinäre Bezeichnungen: Volkskunde, Ethnologie,
Kulturanthropologie, Kultur- und Sozialanthropologie
- Wichtige Etappen: – Ruth Benedict: Patterns of Culture. Kulturen als dauerhafte soziale Muster – Bronislaw Malinowski: Eine Wissenschaftliche Theorie der Kultur. Kultur als funktionales Instrumentarium – Margaret Mead : Sex and Temperament in Three Primitive Societies. Konstruiertheit und Konstruierbarkeit von Geschlechterrollen – Clifford Geertz, Dichte Beschreibung Kultur als Bedeutungsgewebe – George Marcus / Michael Fischer: Anthropology as Cultural Critique Anwendung anthropologischer Erkenntnisse auf “eigene” Gesellschaften
Anthropologie II
Ausgewählte Themengebiete der Anthropologie • Kollektive Identität(en), Ethnizität, Grenzen • Macht und Hierarchie innerhalb von Gruppen und
Gesellschaften • Rituale und Strukturen • Verwandtschaft, Familie, Gruppenzugehörigkeit • Geschlechter(rollen) und ihre konstruktiven Elemente Fremde, nahe und „eigene“ Gesellschaften und Kulturen (Kulturelle) „Praktiken“ als kleinster gemeinsamer Nenner Deutung und Interpretation als konstitutiver Bestandteil
anthropologischer Analyse
„Erklärend-verstehende Soziologie“
Quelle: Esser, Hartmut, 31999: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt: Campus, S. 6.
Situation Akteur Soziales Handeln
Externe Effekte
„subjekti-ver Sinn“ „Ablauf“ „Wirkun-
gen“
Deutendes Verstehen
Ursächliches Erklären
„Anthropologischer Ausschnitt“
Quelle: Esser, Hartmut, 31999: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt: Campus, S. 6.
Situation Akteur Soziales Handeln
Externe Effekte
„subjekti-ver Sinn“ „Ablauf“ „Wirkun-
gen“
Deutendes Verstehen
Ursächliches Erklären
Heutige Vorlesung
I. Essays II. Anthropologie als
kulturwissenschaftliche Disziplin III. Clifford Geertz IV. „Piraten“ und symbolisches Handeln
Clifford Geertz • geb. 1926, US-amerikanischer Ethnologe, wichtigster
Vertreter der interpretativen Ethnologie. Werke: • „The Religion of Java“ (1960) • „Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme“ (1973,
deutsch 2002)
• Beobachtungsobjekt: dechiffrierbare kulturelle Praktiken durch Rituale, Gesten, Begriffe
• Kultur als • „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“; ständige Wandlungs- und
Umdeutungsprozesse • „Codes“ und symbolischer Gehalt • „Text“
Geertz: Ritual und sozialer Wandel „Die These dieses Beitrags ist es, dass einer der Hauptgründe für die Unfähigkeit der funktionalistischen Theorie, dem Wandel Rechnung zu tragen, darin liegt, dass sie die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse nicht gleichwertig behandelt. Fast immer wird eine der beiden Seiten ignoriert und zum bloßen Reflex, zum ‚Spiegelbild‘ der anderen degradiert. Entweder sieht man die ganze Kultur als Derivat der Formen der Sozialorganisation (…) oder man sieht die Formen der sozialen Organisation als behavioristische Verkörperung von kulturellen Mustern. (…) Unter diesen Umständen sind die dynamischen Elemente des sozialen Wandels, die daraus entstehen, dass kulturelle Muster nicht völlig mit den Formen der sozialen Organisation übereinstimmen, kaum formulierbar.“
Geertz, Clifford, 41995: Ritual und sozialer Wandel: ein javanisches Beispiel. In: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 97-98.
Geertz: Balinesischer Hahnenkampf „Eine Behandlung des Themas in dieser Weise verlangt nach einer neuen Metaphorik zur Beschreibung der eigenen Tätigkeit. Die Untersuchung der Kulturformen findet ihre Parallelen nicht mehr im Sezieren eines Organismus, im Diagnostizieren eines Symptoms, in der Dechiffrierung eines Codes oder im Anordnen eines Systems (…), sondern gleicht eher dem Durchdringen eines literarischen Textes. Betrachtet man den Hahnenkampf oder jede andere kollektiv getragene symbolische Struktur als ein Mittel, ‚etwas von etwas auszusagen‘, so sieht man sich nicht einem Problem der gesellschaftlichen Mechanik, sondern der gesellschaftlichen Semantik gegenüber.“
Geertz, Clifford, 41995: „Deep Play“: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 253.
Nun zu: Dichte Beschreibung Situation: • Französische Besatzungsmacht in Nord-Marokko kann ‚primitives‘
Handelspakt-System nicht abschaffen • Konflikt eines angesiedelten Juden (Cohen) mit einem Berber-Stamm • Franzosen wollten Cohen nicht beschützen • Cohen holt sich ‚nach alter Sitte‘ sein Eigentum zurück (= er
verbündet sich + die Berber leisten Schadenersatz) • Franzosen glauben, Cohen würde für Berber spionieren und stecken
ihn ins Gefängnis • Nach der Freilassung: Französischer Oberkommandant („Colonel“)
äußert, die ganze Angelegenheit sei nicht seine Sache.
Geertz, Clifford, 41995: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur. In: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 1-43.
Geertz: Systematische Begriffe
a) „Dünne Beschreibung“ b) „Dichte Beschreibung“ c) Beobachten und interpretieren d) Grenzen des ethnographischen Ansatzes e) Potenzial des ethnographischen
Ansatzes
a) „dünne Beschreibung“
• Beobachtung von Verhalten, • Transkription von Texten, • Niederschrift von Genealogien, • Protokolle von Aussagen von Informanten, • Herstellung von logischen Beziehungen
zwischen Tatsachen. Ethnographisches Handwerkszeug
b) „dichte Beschreibung“ in Zitaten • „Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen“ (15), insbesondere:
„Unterscheidung (...) ungleicher Interprationsrahmen [einer] Situation“ (15)
• Kultur als interpretierbares öffentliches Dokument (16) • sich in den anderen „finden“ (20) • "Erweiterung des menschlichen Diskursuniversums" (20) • Kriterium für gute Ethnographie: inwieweit ihre „wissenschaftliche
Imagination uns mit dem Leben von Fremden in Berührung zu verbringen mag“
• „Erforschung der informellen Logik des menschlichen Lebens“ (25) • „herausfinden, worum es eigentlich geht“ (26) • Bogen eines sozialen Diskurses nachzeichnen (28)
b) „dichte Beschreibung“ in Anwendung Unterschiedliche Interpretationsrahmen: • Berber und eingesessene Bevölkerung insgesamt: Bereitschaft,
problematische Konflikte innerhalb des althergebrachten Aushandlungssystems („Ar“) zu lösen
• Franzosen: gehen von Überlegenheit moderner Handelsbeziehungen aus, müssen daher die Rationalität/ Funktionalität althergebrachter Praktiken der Berber leugnen/ ablehnen
• Cohen: lotet die Gültigkeit der Referenzcodes gegeneinander aus
Situation verweist auf: • Kollektive Identität(en) und/oder Ethnizität • Macht und Hierarchie innerhalb von Gruppen und Gesellschaften • Rituale und Strukturen
c) Beobachten und Interpretieren • Beobachtungen erster, zweiter und dritter Ordnung (22-23) • Drei in der Praxis nicht trennbare Schritte: „beobachten,
festhalten, analysieren“ • Vorgeschlagene alternative Herangehensweise (29-30):
(a) Vermutungen über Bedeutungen anstellen (b) Bewertung der Vermutungen, (c) aus den „besseren“ Vermutungen erklärende Schlüsse ziehen die sich
auf den/einen begrenzten Gegenstand beziehen
• Merkmale der ethnographischen Beschreibung (30): (a) sie ist deutend (b) die Deutung bezieht sich auf den Ablauf eines sozialen Diskurses (c) Deuten heißt, einen sozialen Diskurs dem vergänglichen Augenblick
zu entreißen
d) Grenzen der ethnographischen Methode • Mikroskopische Perspektive; „ethnographische Miniaturen“, die für
sich selbst und i.d.R. nicht für etwas anderes stehen (30) • „Hauptaufgabe“ besteht nicht in der Festschreibung abstrakter
Regelmäßigkeiten, sondern in der Ermöglichung dichter Beschreibung (37)
• „Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig“ (41) • Hohe Anfechtbarkeit der Ergebnisse • Spannungsverhältnis zwischen zwei Ansprüchen blockiert „reine“,
d.h. von konkreten Situationen unabhängige Kulturtheorie (35): a. Mikroskopisch ein fremdes Universum symbolischen Handelns
durchdringen b. Theoriefortschritt durch über das Deuten eines vergänglichen
Augenblicks hinausreichende Abstraktion
e) Potenzial der ethnographischen Methode
Erkenntnisfortschritt durch zwei Operationen (39-40) – Deutung von Handlungen / Ausdeutung von Diskursen bzw.
Bedeutungsmustern – Entwicklung eines analytischen Begriffssystems, das „typische“
Eigenschaften von Bedeutungsstrukturen von untypischen trennen kann
Es entsteht ein analytischer Text, der die untersuchte Kultur dicht beschreibt
„Je tiefer die Untersuchung von Kultur geht, desto unvollständiger wird sie“ (41)
Geertz: „Dilemma“. Reckwitz: kulturtheoretische Sackgasse
Essay nächste Woche Geertz, Clifford, 1995: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Clifford Geertz (Hrsg.): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt: Suhrkamp, S. 7-43.
Alternative 1: Fassen Sie den Text zusammen und diskutieren Sie ihn kritisch.