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Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae...

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4 Seneca, Epikur und das höchste Gut 4.1 Seneca und Epikur I: Nicht ohne die virtus 4.1.1 Zum Forschungsstand »Die Epikureer sind die Erbfeinde der Stoiker. Der Polemik zwischen den beiden Lagern wird es kein Ende«. Mit diesem Zitat aus Hirschbergers Philosophiege- schichte (I, 275) kennzeichnet Freise gleich zu Beginn seines Aufsatzes¹ treffend das Problem, das sich aus der häufig wohlwollenden Verwendung Epikurs in Se- necas Schriften ergibt. Denn das Verhältnis zwischen Epikureismus und Stoa war durch die gesamte Tradition hinweg von unerbittlichen Grabenkämpfen zwischen beiden Richtungen geprägt; Varro sprach von einer λογομαχία;² ja die Schulgrün- dung der Stoa selbst muss wohl als Gegenreaktion Zenons auf die Ansiedlung von Epikurs ›verweichlichter‹ Schule in Athen verstanden werden.³ Diese unversöhn- liche Feindschaft zum Epikureismus teilte die Stoa bekanntlich mit der Akade- mie und dem Peripatos: Diese drei Schulen erkannten sich – bei allem sonstigen Streit – spätestens seit Panaitios als gemeinsam auf sokratischem Boden stehend an, während sie – bildlich gesprochen – jede für sich auf der Grundstücksgrenze zu Epikurs Garten eine hohe Mauer errichteten. Und während sich fortan die Ver- treter von Akademie und Stoa um Spezialfragen und, wie Cicero im Anschluss an Antiochos von Askalon meint, lediglich um Scheinprobleme und bloß begriffliche Differenzen)⁴ stritten, so fochten sie ihre Kämpfe doch auf der Basis gemeinsamer Grundüberzeugungen und einer gemeinsamen Terminologie aus; Epikur jedoch galt ihnen allen gemeinsam als Feind. Für Seneca aber ist, wie wir bereits skizziert haben (oben Kapitel 1.4.1 ab S. 52) Epikur nicht der traditionelle Lüstling und Unterphilosoph. An gar nicht so we- nigen Stellen schimmert – bei aller grundsätzlicher und gleich bleibender Ableh- nung des Lustprinzips als solchem – sogar eine gewisse Hochachtung dem ›Erb- feind‹ gegenüber hindurch. In den ersten drei Epistelbüchern, also in den Briefen 1 Epikur-Zitate (1989). 2 Porph. ad Hor.Serm. II 4,1 = SVF 3,449: Unde Varro dicit λογομαχίαν inter illos esse. 3 Pohlenz, Stoa, 23: »Aber gegen Epikurs Lehre bäumte sich sein ganzes Innere [sic!] auf. Wenn Epikur das Lebensziel des Menschen in der Lust fand, weil sich auf diese der Grundtrieb aller Lebewesen richte, und wenn er die Welt als Erzeugnis des Zufalls ansah, so degradierte er in Zenons Augen den Menschen zum Tier und verkannte die Hoheit des Logos...« 4 Cic. nat. 1,16. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 9/14/14 9:23 PM
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  • 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    4.1 Seneca und Epikur I: Nicht ohne die virtus

    4.1.1 Zum Forschungsstand

    Die Epikureer sind die Erbfeinde der Stoiker. Der Polemik zwischen den beidenLagern wird es kein Ende. Mit diesem Zitat aus Hirschbergers Philosophiege-schichte (I, 275) kennzeichnet Freise gleich zu Beginn seines Aufsatzes treffenddas Problem, das sich aus der hufig wohlwollenden Verwendung Epikurs in Se-necas Schriften ergibt. Denn das Verhltnis zwischen Epikureismus und Stoa wardurchdie gesamte Traditionhinweg vonunerbittlichenGrabenkmpfen zwischenbeiden Richtungen geprgt; Varro sprach von einer ; ja die Schulgrn-dung der Stoa selbst muss wohl als Gegenreaktion Zenons auf die Ansiedlung vonEpikurs verweichlichter Schule in Athen verstanden werden. Diese unvershn-liche Feindschaft zum Epikureismus teilte die Stoa bekanntlich mit der Akade-mie und dem Peripatos: Diese drei Schulen erkannten sich bei allem sonstigenStreit sptestens seit Panaitios als gemeinsam auf sokratischem Boden stehendan, whrend sie bildlich gesprochen jede fr sich auf der Grundstcksgrenzezu Epikurs Garten eine hohe Mauer errichteten. Und whrend sich fortan die Ver-treter von Akademie und Stoa um Spezialfragen und, wie Cicero im Anschluss anAntiochos vonAskalonmeint, lediglich umScheinproblemeundblo begrifflicheDifferenzen) stritten, so fochten sie ihre Kmpfe doch auf der Basis gemeinsamerGrundberzeugungen und einer gemeinsamen Terminologie aus; Epikur jedochgalt ihnen allen gemeinsam als Feind.

    Fr Seneca aber ist, wiewir bereits skizziert haben (oben Kapitel 1.4.1 ab S. 52)Epikur nicht der traditionelle Lstling und Unterphilosoph. An gar nicht so we-nigen Stellen schimmert bei aller grundstzlicher und gleich bleibender Ableh-nung des Lustprinzips als solchem sogar eine gewisse Hochachtung dem Erb-feind gegenber hindurch. In den ersten drei Epistelbchern, also in den Briefen

    1 Epikur-Zitate (1989).2 Porph. ad Hor.Serm. II 4,1 = SVF 3,449: Unde Varro dicit inter illos esse.3 Pohlenz, Stoa, 23: Aber gegen Epikurs Lehre bumte sich sein ganzes Innere [sic!] auf. WennEpikur das Lebensziel des Menschen in der Lust fand, weil sich auf diese der Grundtrieb allerLebewesen richte, und wenn er die Welt als Erzeugnis des Zufalls ansah, so degradierte er inZenons Augen den Menschen zum Tier und verkannte die Hoheit des Logos. . .4 Cic. nat. 1,16.

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  • 158 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    129, wird Epikur nicht weniger als 41 Mal direkt namentlich erwhnt; dazu kom-men noch einige indirekte Nennungen. Doch es ist vor allem die Art, wie Senecaihn als Autoritt heranzieht, die bei den Lesern, die Seneca als Stoiker kennen,fr Erstaunen sorgen muss. Sein Vorgehen lsst sich auch nicht biographisch etwa unter Berufung auf eine gewisse Altersmilde erklren (s. bereits obenS. 54 gegenWeissenfels). Dennwie aus einer Stelle der wohl in den 50er Jahrenentstandenen Schrift De vita beata hervorgeht, vertritt Seneca bereits mehrereJahre vor Abfassung der Briefe dieselbe, in zwei Aspekte geteilte Einstellung ge-genber Epikur Anerkennung seiner moralischen Integritt bei gleichzeitigerkategorischer Ablehnung seiner Ethik und deren Prinzipien wie spter in denBriefen. Fast die ganze erste Hlfte von De vita beatawidmet sich Seneca der Wi-derlegung des Lustprinzips Epikurs; dennoch bekennt er:

    vit. beat. = dial. 7 13,1 In ea quidem ipse sententia sum invitis hoc nostris popularibusdicam sancta Epicurum et recta praecipere et si propius accesseris tristia; voluptas enim illaad parvum et exile revocatur et quam nos virtuti legem dicimus, eam ille dicit voluptati. Iubetillam parere naturae; parum est autem luxuriae quod naturae satis est.

    Ich selbst habe jedenfalls dieseMeinung das sage ich gegenunsereWortfhrer , dass Epi-kur Heiliges und Rechtes vorschreibt und, wenn du es von nherem besiehst, wenig Freud-volles; jene Lust nmlichwird auf ein kleines und geringesMa beschrnkt, und das Gesetz,daswir fr das tugendhafte Verhalten festlegen, das legt er fr die Lust fest. Er befiehlt jenernmlich [ gemeint ist die Lust (Anm. U.D.) ], der Natur zu gehorchen; fr die Verschwendungs-sucht ist aber zu wenig, was fr die Natur genug ist.

    Hachmann, Spruchepiloge, 398f., folgert aus dieser Stelle, dass Seneca zur Zeit vonDe vitabeata gegenber Epikurs Lehre (zumindest der Ethik) wesentlich positiver eingestellt gewesensei als zur Zeit der Arbeit an den Briefen. Er glaubt, Seneca lasse mit diesen Stzen die stoischeTelosformel secundum naturam vivere (hier: iubet illam parere naturae) auch fr Epikurs Ethikgelten, mit anderen Worten: Seneca spreche hier Epikur die Erfllung des stoischen zu(hnlich Freise, Epikur-Zitate, 542). Das kann aber mit iubet illam parere naturae unmglich ge-meint sein. Das Der-Natur-Gehorchen kann man nmlich nur von der voluptas fordern, nichtaber von der virtus: In der stoischen Telosformel soll der Mensch sich nach der Natur richten,nicht die virtus undwenn er sich nach der Natur richtet, dann besitzt er die virtus (vgl. vit. beat.3,3). Die virtus ist also der Begriff, der genau diesen Zustand des Sich-nach-der -Natur-Richtensbeschreibt. Demnach bedeutetnatura anunserer Stelle demnachnicht die ratio-Allnatur der stoi-schen Telosformel, sondern nichts anderes als das natrlicheBedrfnisma, an dem sich sowohlder Epikureer als auch der stoische Weise auszurichten haben, also die physiologische Seite der

    1 Oder 40 Mal, je nachdem, ob man 20,11 mit Madvig Epicure liest oder mit Beltrami Epicuree;die Stelle ist verderbt; siehe aber unten Anm. 1 auf S. 236.2 Siehe Stroh, Vita beata.3 Am klarsten ist dieses Verhltnis gesehen bei Andr, Snque et lEpicureisme, passim, be-sonders 478; siehe ferner Freise, Epikur-Zitate, 543 und Hachmann, Leserfhrung, 237.

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    menschlichen Natur. Von einem Geltenlassen der Telosformel fr Epikur kann an dieser Stelleund auch sonst bei Seneca keine Rede sein.

    Die partielle Aufwertung Epikurs durch Seneca ist in der Forschung ein be-reits seit langem diskutiertes Problem. Sicherlich zu einfach hat es sich dabeidie quellenkritisch orientierte Forschung um die Wende zum 20. Jahrhundert ge-macht. Sie konnte oder wollte in Senecas Umgang mit Epikur nichts ande-res als eine mehr oder wenige planlose, oberflchliche Kompilationsttigkeit ei-nes gewissenlosen Eklektikers wahrnehmen. Seneca, so beschreibt es z.B. Peter,Brief, habe sich nach seinem Rckzug aus der Politik in seinem von Eitelkeit ge-nhrte[n] Thtigkeitstrieb (226) der Briefschriftstellerei zugewendet, weil dieseForm der von dem dilettierenden Rom bevorzugten Variatio besonders entge-gengekommen sei (230). Der Rckgriff auf Epikur sei dabei mehr oder weniger Zu-fall, eine bloe Frucht von Senecas Lektre: er beschrnkte seine Aufgabe dar-auf, seineMitmenschen sittlich zubessern [...] undentnahmdas fr diesenZweckGeeignete, wo er es fand, sogar mit Vorliebe von Epikur (227). In seiner nicht ge-rade gnstigen Vormeinung ber Seneca meint Peter, Senecas Abkehr von Epi-kur und die Zuwendung zu einer einheitlicheren Themenfhrung in den spterenBriefen getrost auf biographisch zu erklrende Launen des Autors zurckfhrenzu drfen: Er war wohl zu der Erkenntnis gekommen, dass er sich in den Mo-ralbriefen zu sehr verzettelt habe, und hatte sich zugleich in den Gegenstand sovertieft, dass er nunmehr sich auchdemAufbau eines Systems gewachsen fhlte(234f.).

    Demgegenber stellte es einen Fortschritt dar, dass etwas mehr als 10 Jahrenach Peters Abhandlung Mutschmann im Rahmen seines Nachweises, dassSeneca durchaus auch Originalbriefe Epikurs gekannt haben msse (Seneca undEpikur, s. oben S. 49) neben dem ihm ebenfalls gelufigen Gedanken des Abfr-bens epikureischerMotive (vgl. ebd. 324) auch funktionaleberlegungen zur Ver-wendung Epikurs durch Seneca in dieDiskussion einbrachte (protreptische Funk-tion, um den Freund nicht gleich zu Anfang abzuschrecken, 323). Auch wenndadurchdasGesamturteil Mutschmanns ber Seneca nichtwesentlich gnstigerausfllt und er ihn nach wie vor primr als dilettierenden Eklektiker ansieht (vgl.etwa 321f.), so war doch immerhin der Weg gebahnt, nicht nur danach zu fragen,wie stark sich Seneca durch die Tradition hatte beeinflussen lassen, sondern um-gekehrt, inwiefern er selbst die Rezeption des berlieferten steuerte; wenigstensansatzweise kam Senecas Intention fr das Zitieren des philosophischen Gegnersin den Blick.

    1 Noch weiter war Usener in seinen Epicurea gegangen, in denen er Seneca bezichtigte, nichteinmal Epikur selbst, sondern nur ein Gnomologium ausgebeutet zu haben, s. oben S. 49.

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  • 160 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    In den Briefen spiegelt sich Senecas zumindest partielles Wohlwollen ge-genber Epikur insbesondere in der Vielzahl seiner Zitate und positiv verbuchtenexempla namentlich in den ersten drei Briefbchern; jedenfalls lsst sich der er-klrte Stoiker von Beginn an ohne Skrupel und, wie es scheint, nicht ohne einegewisse diebische Freude von seinem philosophischen Gegner sekundieren. Se-neca wei natrlich genau, dass ein solches Vorgehen Erstaunen bei seinen Le-sern wecken muss. Seine Kommentare verraten nur zu deutlich, dass er es aufeben diesen berraschungseffekt abgesehen hat. So hlt er dem verdutzten Leserim zweiten Brief entgegen, er gehe zwar hinber ins feindliche Lager (in alienacastra, 2,5), jedoch nichtwie einberlufer, sondernwie ein Kundschafter (nontamquam transfuga, sed tamquam explorator).

    Berechtigterweise hat daher Schottlaender, Epikureisches bei Seneca,139ff., dagegen protestiert, Senecas Verhltnis zu Epikur in den Briefen aufSchlagworte wie Eklektizismus oder literarische Imitation zu reduzieren, undpochte statt dessen auf Senecas eigenen Gestaltungswillen. Wenn ich Schott-laender trotzdem nicht darin folgen mchte, dass es sich in den Briefen durch-aus nicht nur um eine einseitige Bekehrung des Lucilius durch Seneca handele,sondern zum guten Teil um einen freundschaftlichen Kampf, in dem Seneca nursiegen kann, wenn er nicht blo lehrend, sondern auch lernend sich verhlt(139), so ist doch richtig gesehen, dass Seneca das epikureische Gedankengutnicht etwa (in fast schon passivischer Weise) aufnimmt, kompiliert, nach Be-lieben ausschlachtet oder gar abschreibt sondern dass er es aktiv seineneigenen Absichten unterordnet. Denn Schottlaender hat richtig bemerkt, dassSeneca seine Stoa nie aus den Augen verliert, auch wenn er in guter Nachfolge

    1 Dies spricht m.E. gegen Inwoods berlegung (Inwood, Importance of Form, 146), der denRckgriff auf Epikur im Sinne eines tribute to a generic model and a deliberate indication ofthe target of Senecas literary rivalry verstehen mchte; Its philosophical significance may bemuch less than has been routinely assumed in the past (ebd.). Sicher ist es richtig, dass litera-ry rivalry keine geringe Rolle fr Senecas Briefe spielt (vgl. bereits oben Kapitel 1.3.3 ab S. 45).Doch Seneca reibt seinemLeser die Epikurzitate geradezu ostentativ unter dieNase; und sein Zieldabei ist doch, den vermeintlichen Verrat an der Stoa (vgl. 8,7: [...] quare ab Epicuro tam multabene dicta referam potius quam nostrorum) so auffllig wie mglich hervortreten zu lassen.2 Mehr, wie es scheint, um der Pflicht Genge zu tun bzw. um die Erwartung des Lesers zu er-fllen, schliet Seneca hieran eine Kritik an doch diese Kritik (an Epikurs honesta paupertas)richtete sich eher gegen die Formulierung Epikurs (Schottlaender, Epikureisches bei Seneca,140=176: ein hlzernes Eisen), als dass sie ein echter Einwand in der Sache wre. Und: Bis aufwenige Angriffe in einem einzigen anderen Brief (epist. 9, s. unten Kapitel 4.2.2.2 ab S. 182) er-schpft sich darin auch schon die Kritik an Epikur; was noch folgt, zeigt Seneca weit wenigerbeim Kunschaften in Feindesland als bei Verbrderungen auf gemeinsamem Territorium.

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  • 4.1 Seneca und Epikur I: Nicht ohne die virtus | 161

    seines Lehrers Attalos gern stoische Gedankengnge mit typisch epikureischenLustargumenten versehe.

    Auffllig ist jedoch die unterschiedliche Gewichtung von Anerkennung undAblehnung in den verschiedenen Phasen des Briefwechsels (s. oben Kapitel 1.4.1ab S. 52). Allein dies spricht schon gegen allzuwohlwollende Beurteilungen Sene-cas, er strebe nach einer die Schulgrenzen berwindenden geistigen AneignungEpikurs. Wre das zutreffend, dannmsste Seneca seinem Epikur konstant mitWohlwollenoder ebenmitAbneigunggegenbertreten. Ebendas ist aber nichtder Fall. Lngst ist beobachtet worden, dass sich die positive Wrdigung Epikursin den ersten drei Briefbchern allein auf die ethische Praxis und obendrein zu-meist auf Allgemeinpltze beschrnkt; in den ethischen Prinzipien also in derBestimmung des ist eine solche Annherung zu keiner Zeit festzustellen.

    1 Siehe oben S. 39 mit Anm. 7.2 Diesen Punkt hatte bereits Weissenfels, De Seneca Epicureo, 29 als zentrales Motiv fr Sene-cas Aufwertung Epikurs angesehen.3 Grimal, Seneca, 164: Auf dieser Stufe der Lebenserflltheit gibt es keine Schulen mehr, son-dern nur noch ein gemeinsames Erleben, die Seinserfahrung der menschlichen Seele, die zumvollen Bewusstsein ihrer existentiellen Befindlichkeit, ihres In-der-Welt-Seins herangereift ist;im Anschluss an Grimal spricht auch Freise, Epikur-Zitate, 539 von der gemeinsamen Wahr-heitssuche Senecas undEpikurs; vgl. ferner Gigante, Seneca, Nachfolger Philodems, 33 und be-sonders 41: Seneca [...] widerspenstig und konsequent, Vertreter einer Philosophie ohne Gren-zen sowie Timpe, Epikureismus in der rmischen Kaiserzeit, 50 (Seneca als unabhngiger Au-tor). Wenig berzeugend ist auch diemit einer hnlichen Erklrung verknpfte Theorie Lanas,nach der Seneca die Epikurzitate auch als persnlichen Schutz gegenber mglichen Verdchti-gungen seitens des Tigellinus verwendet habe: die Epikurzitate dienten anzitutto per tener fedealla sua indipendenza di giudizio, che ripetutamente proclama, e per evitare di correre perico-li da parte del principe, a cui Tigellino andava dicendo che gli Stoici erano ostili allimperatoree pronti alle rivolte (Tac. Ann. 14,57,3): ma principalmente perch lepicureismo, e specialmentelepicureismo romano di Lucrezio, era tutto proteso a liberare luomo da ogni terrore: e Seneca,che ha ormai raggiunto la sapienza [...] mira in primo luogo a dare alluomo la vera libert (272).4 Graver, Therapeutic reading, 139: die Epikursentenzen seien often (it must be said) a rat-her commonplace thought.[...] What is remarkable about them is their source, rather then theircontent.5 Zentral hierfr: Andr, Snque et lEpicureisme. Siehe auchMaurach, Bau, 24 Anm. 81; Se-taioli, Seneca e i Greci, 171; Hachmann, Leserfhrung, 220237 (seine Darstellung bleibt aller-dings hinter der Andrs, die er nicht heranzieht, zurck). Freise, Epikur-Zitate, berhrt diesenPunkt merkwrdigerweise nicht. Aufgrund Senecas eigener stoischer Bekenntnisse liest Wild-berger, Seneca und die Stoa, besonders S. xi und xiiixvi, Seneca konsequent aus stoischerSicht.Das ist sicherlichberechtigtundgewinnbringend inAnerkennungdesUmstandes, dassSeneca von vornherein die stoische Perspektive vor Augen hat. Andererseits kann eine solche In-terpretation per definitionem genau das nicht wahrnehmen, worauf Seneca womglich ebenso

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  • 162 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    Schon Schottlaender hat ansatzweise das Richtige gesehen, indem er er-wog, die Epikurzitate als Teil einer pdagogischen oder sonstwie zweckbestimm-ten Taktik (140=WdF 175) anzusehen; doch verfolgte er seine Beobachtungennicht konsequent genug, wenn er behauptete, dies sei allenfalls anfangs (ebd.)so gewesen; zudem habe Seneca im Verlauf der Beschftigungmit Epikur selbstwenn er anderes im Schilde gefhrt habe selber eine Epikurisierung erfahren(140=WdF 176). Zwar ist es richtig, dass er seinem Lucilius sehr weit entgegen-kommt. Doch es darf durchaus gefragt werden, inwieweit dieses Entgegenkom-men echt ist; mir scheint es weitaus wahrscheinlicher, dass es sich so verhlt, wiees Griffin, Seneca, 352 beschreibt: Seneca is happy to exploit Lucilius Epicu-rean beliefs while gradually weaning him on to more solid Stoic fare. Ichmchteim Folgenden zeigen, wie Seneca diesen Gewhnungsprozess ganz gezielt lenktund steuert.

    Hachmanns Beitrge, die genau dieses Gebiet abdeckenmssten, fhren hier leider wenigweiter. Seine berlegungen sind insgesamt zu sehr von Schematismen und willkrlichen Kate-goriebildungen geprgt. Ein Beispiel: Unter Berufung auf 75,7 (Quando tammulta disces? quandoquae didiceris adfiges tibi ita ut excidere non possint? quando illa experieris?) postuliert Hach-mann eine Einteilung der Briefe nach dem Ende der Epikurzitate in drei Gruppen: (a) 3154:discere (Lernen der philosophischen Grundstze) (b) 5564: sibi adfigere (Verinnerlichung durchMeditation im Sinne von bonnes penses [Rabbow]) (c) 65/66124: experiri (Anwendung) Senecahatte sich jedoch an der besagten Stelle nur dagegegen gewendet, zuviel Energie auf das Strebennach eloquenten Formulierungen zu verwenden statt sich auf die Sache selbst zu konzentrie-ren (75,7: Circa verba occupatus es? iamdudum gaude si sufficis rebus!); wenn er also mit Quandotam multa disces? fortfhrt, will er deutlich machen, dass es noch unendlich viele Dinge zu ler-nen gilt, die immer auch gefestigt und in der Praxis erprobt werden wollen. Nichts deutet darauf

    viel Wert gelegt hat: dass die stoische Lesart zumindest in den frhen Briefen eben nicht dieeinzigmgliche ist.1 Auch Freise nimmt durchaus das taktische Element wahr: Da nun Epikur sowohl bei denGebildeten als auch bei der breiten Masse sehr in Ansehen steht (ep. 79,15), ist es besonders wir-kungsvoll, wenn Seneca beim Gegner Stellen findet, welche die eigeneMeinung besttigen. Daskanndann triumphierendals Beweis frdieWahrheit der eigenenStze angefhrtwerden (538);Hier werden offensichtlich, trotz aller ironischen Verkleidung, Stze von Epikur benutzt, umLu-cilius immerweiter in die Philosophie einzufhren, und zwar ausdrcklich in eine stoisch gefrb-te Philosophie (547). Doch ebensowenig wie Schottlaender zieht Freise daraus die logischeKonsequenz, Senecas gesamtes Vorgehen in den jeweiligen taktischen Zusammenhang einzu-ordnen. Denn wennman bestimmte uerungen Senecas als taktisch gefrbt ansieht, kann mannicht andere uerungen absolut setzen und sie ohne weiteres fr seine wahre Meinung hal-ten. Die vorliegende Untersuchung mchte dem abhelfen und nachweisen, dass die Taktik derLeserberzeugung als grundlegendes Interpretationsprinzip fr die Epistulae morales angesetztwerden muss.2 Hachmann, Leserfhrung, 231. 236 u..; ders., Spruchepiloge, passim.3 Ebd., 408.

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    hin (und Hachmann unternimmt nicht einmal den Versuch eines Beweises), dass Seneca hierphilosophische Niveaustufen unterscheiden will und nicht vielmehr Vertiefungsstufen, die beijedem einzelnen Lerngebiet der Ethik vollzogen werden mssen. Abgesehen davon scheint esseltsam, dass Hachmann die Stelle, die noch unendliches Lernen fr die Zukunft verheit, ebenjenem Briefstadium zuschreiben mchte, die das Lernen schon am weitesten hinter sich gelas-sen haben soll. Ferner knnte man einwenden, dass sich die Briefe 65/66124 nur mit Gewaltvorrangig als Anwendungen der zuvor gelernten philosophischen Lehren interpretieren lassen;viele von ihnen widmen sich sogar mehr dem Aspekt des Unterweisens als frhere Briefe; auchkommt die Vertiefung in ihnen keinesfalls zu kurz usw.

    4.1.2 Warum Epikurzitate? Wechselnde Begrndungen

    An einigen Stellen uert sich Seneca selbst dazu, warum er so hufig Epikur zi-tiert. Eine Synopse fhrt leicht die oben erwhnte Methode der berechnendenZurckhaltung vor Augen:

    Beim erstenMalmacht Seneca lediglich geltend, dass klugeGedanken (a) All-gemeinbesitz sind und (b) nicht nur von Philosophen (geschweige denn nur vonEpikureern), sondern genauso auch von Nicht-Philosophen (wie z.B. Dichtern)formuliert werden knnen; mit keinem Wort spricht er etwa eine erzieherischeIntention der Epikurzitate an:

    8,8 Potest fieri utme interroges quare ab Epicuro tammultabene dicta referampotius quamnostrorum: quid est tamen quare tu istas Epicuri voces putes esse, non publicas? Quam multipoetae dicunt quae philosophis aut dicta sunt aut dicenda?

    Es knnte passieren, dass dumich fragst, warum ich lieber von Epikur so viele Aussprchezitiere als von unseren Leuten [d.h. den Stoikern]. Aber warum glaubst du, dass diese Spr-che Epikur gehren und nicht Allgemeingut sind? Wie viele Dichter sprechen das aus, wasvon Philosophen gesagt worden ist oder gesagt werden msste?

    1 Hachmann msste zudem erklren, warum andere Briefe hnliche, jedoch nur zweigeteilteForderungen vorbringen, z.B. 16,1: Sed hoc quod liquet firmandum et altius cotidiana meditationefigendum est: plus operis est in eo ut proposita custodias quam ut honesta proponas; vgl. kurz undbndig 20,1: verba rebus proba. Ferner: Woher nimmt Hachmann die Gewissheit, dass es genaujene von ihm genannten Briefe sind, die als Grenzmarken fr diese Einteilung zu gelten haben?2 S. 112.3 Hilgenfeld, Senecae epistulae morales, 630 wollte hierin einen Beweis fr die Strung derBriefchronologie sehen, da vor dem 8. Brief berhaupt erst zwei Epikurzitate gefallen seien. Pe-ter, Brief, 235f. weist aber zu Recht darauf hin, dass fr diesen Satz das unmittelbar davor gebra-chte Epikurzitat 8,7 mitzuzhlen ist. Dazu kommt, dass offenbar weder Hilgenfeld noch Peterdas nicht namentlich gekennzeichnete, aber durch den Zusatz ex alienis hortulis eindeutig zu-zuordnende Zitat 4,10 miteinberechnen; mit diesem sind es nmlich bis zur vorliegenden Stellevier Epikurzitate (2,5. 4,10. 7,11. 8,7).

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    Die zweite relevante Passage (im 12. Brief) greift den Gedanken des Allgemeinbe-sitzes (a) auf (esse communia). Hinzu tritt aber neu (c) das Motiv der Erziehungdes Lesers: Seneca sagt, er verwende die Epikurzitate nicht, weil er sie gerade frpassend halte, sondern setze sie gezielt ein, um dem ganz offenkundig weiterals Lucilius gefassten Leserkreis diesen Gedanken des Allgemeinbesitzes ein-zutrichtern.

    12,11 Epicurus inquis dixit: quid tibi cum alieno? Quod verum est meum est; perseve-rabo Epicurum tibi ingerere, ut isti qui in verba iurant nec quid dicatur aestimant, sed a quo,sciant quae optima sunt esse communia.

    Epikur, sagst du, hat das gesagt:Was hast dumit einemFremden zu schaffen? Waswahrist, gehrtmir; ichwerde fortfahren, dir Epikur aufzudrngen, damit diejenigen, die (immernur) dieWorte nachbeten undnicht darauf schauen, was gesagtwird, sondern von wem,zur Kenntnis nehmen, dass das, was das beste ist, Allgemeingut ist.

    Das argumentative Ziel, das hinter der Formulierung dieses Gedankens steckt,liegt auf der Hand: Seneca sagt laut: Ich als Stoiker prfe unvoreingenommenauch die Meinungen Epikurs, und wenn sie mir gefallen, erkenne ich sie an. Dasist nicht nur legitim, sondern Pflicht eines Philosophen. Doch indirekt ergibt sichdaraus fr den Leser eine zwanglose Forderung, und zwar folgenden Inhalts:Und ihr mgt ihr nun Epikureer sein oder Anhnger welcher Philosophie auchimmer ihr solltet genauso unvoreingenommen die Meinungen von uns Stoikernprfen. Das ist eure Pflicht, wenn ihr nicht als stumpfsinnige Nachbeter eurerMeister gelten wollt!

    brigens gibt Seneca hier zum ersten Mal zu, dass er seine Zitatserie ber-haupt auf Epikur hin anlegt. Und in der Tat ist die Provenienz der Sprche bis zudiesem 12. Brief weit offener als ab diesem 12. Brief: Von den 26 Zitaten der Brie-fe 112 stammen mehr als zwei Drittel nicht von Epikur; aus dessen Feder kom-men bis dato nur 7 Zitate (2,5. 4,10. 7,11. 8,7. 9,20. 11,8. 12,10). Die Briefsprche der

    1 Diese Gegenberstellung auch 18,7.2 Bei der nicht auf Epikureer beschrnkten Formulierung (isti qui in verba iurant diejenigen,die immer nur dieWorte nachbeten) kann sich ohneweiteres ein Leser jeglicher philosophischerPrgung angesprochen fhlen.3 Hachmann, Spruchepiloge, 394 meint, dahinter stecke offensichtlich Kritik an Anhngernder eigenen Schule (also der Stoa). Doch das Zitat passt, wie gesagt, ohne weiteres auf alle Dog-matiker jeder philosophischen couleur, aber es passt in besonderer Weise auf die Epikureer, beidenen der Meisterkult besonders stark ausgeprgt war, s. oben S. 77.4 Dabei ist die Doppelfassung des Luciliuszitates in 8,10 nur einfach gezhlt.

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  • 4.1 Seneca und Epikur I: Nicht ohne die virtus | 165

    ersten drei Bcher sind also mitnichten von vornherein eine epikureische Sinn-spruchsammlung sie werden erst dazu, und zwar von diesem 12.Brief an.

    Nicht differenziert genug Griffin, Seneca, 351f. Setaioli, Seneca e i Greci, 182, Mazzoli,Valore letterario, 1860 (i primi tre libri . . .accomunati dalla prass i pressoch constantedel la ci tazione epicurea; meine Hervorhebung) und Lana, Lettere a Lucilio, der (264 mitAnm. 26 und 285) die Epikurzitate linear abnehmen sieht, whrend die Stoikerzitate entspre-chend zunhmen. Bis zu diesem 12. Brief ist die Krfteverteilung jedoch viel offener. Die Stoa istdurchausprsent, und zwarwesentlichprsenter als in den Zitaten undPersonennennungen derfolgenden Briefe, wo bis auf eine Ausnahme kein einziger der stoischen Vter genanntwird (dasexemplumdes Cato 24,6 punktet nicht fr die Stoa, sondern fr die rmische Tapferkeit). Und die-se einzige Ausnahme ist in dezidiert abwertendem Kontext! Ariston (29,6). Andererseits istnatrlich der Eindruck, dass Epikur von Anfang an (zunchst jedoch gewissermaen als primusinter pares) imVordergrund steht, nicht falsch: Erwird dadurch erzeugt, dass (a) bereits das erstewirkliche Briefdictum ein Epikurzitat ist; dass (b) auch bis zum 12.Brief von niemandem sonstauchnur annhernd gleichoft Sprche zitiert werden unddass (c) die Zitate Epikurs recht gleich-mig ber die Briefe verteilt sind und ihm damit eine groe Prsenz verschaffen. Dazu kommt,dass (d) Epikur nicht nur als Zitatautor erwhnt wird. So sorgt der 6.Brief, der kein dictum vonihm enthlt, fr die Prsenz Epikurs, indem er ihn als Abschluss einer Exemplum-Serie erwhnt:Metrodorum et Hermarchum et Polyaenummagnos viros non schola Epicuri sed contubernium fecit(6,6).

    Ab diesem 12.Brief jedoch brigens dem Schlussbrief des ersten Buches steht erstens in jedem Brief ein dictum Epikurs. Und zweitens nimmt dieses Epi-kurzitat jetzt auch in den Briefen, in denen dicta verschiedener Autoren stehen,dadurchdie herausgehobene Position ein, dass es jeweils als eigentliches Tribut-dictum hervorgehoben ist (siehe Unterstreichungen in der bersichtstabelle 4.1).Merkwrdigerweise scheint dieKoinzidenzdieses (als solchen lngst bemerkten)

    1 S. Tabelle 4.1 ab S. 167.2 1,5 gibt sich noch wie ein beilufiger Verweis auf eine alte Bauernweisheit. Das Epikurzitat2,5 ist das erste, das explizit zum Zweck einer Meditation vorgebracht wird. Die nchsten Brief-zitate machen daraus allmhlich eine Gewohnheit, doch erst im 6. Brief (6,7) ist daraus wirklicheine Schuld geworden ein Aspekt, der die weiteren Tributzahlungen bestndig begleichenwird.3 Diese Funktion haben die Epikursprche brigens von Anfang an eingenommen. Wenn alsoSeneca ein Epikurzitat vorbringt, dann als Brieftribut. Interessanterweise heit dies jedoch zu-nchst nicht, dass dies der alleinige Brieftribut sein muss: So geht 7,10 einem solchen gleichbe-rechtigt ein dictumDemokrits und das eines unbekanntenAutors voraus. Im8. Brief (8,810)wirddasEpikurwortnochumweitere Zitate andererProvenzienz (Publilius Syrus; Lucilius selbst) ver-lngert. Der Brief fhrt also zwar Epikur als Briefgabe mit, schliet aber nicht mit ihr, sondernmit weiteren Beigaben (nicht unterschieden bei ders., Seneca, 272). Eine solchePraxis der Kon-tamination der Epikur-Tribute durch Zitate anderer Provenienz kommt in den spteren Briefennirgends mehr vor.4 Vgl. z.B. Freise, Epikur-Zitate, 547.

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  • 166 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    bergangs zu Epikur mit der systematischen Ankndigung und Rechtfertigungder Epikurzitate noch nicht registriert worden zu sein.

    Die dritte rechtfertigende Passage (21. Brief) ist voll und ganz getragen vonMotiv (c), doch hat Seneca die Erziehung des Lesers radikal verndert: aus demehemaligen Toleranzgebot ist ein Verbot geworden, ein Verbot, den Geltungs-anspruch des honestum zu leugnen:

    21,9 Eo libentius Epicuri dicta commemoro, ut istis qui ad illum confugiunt spe mala inducti,qui ve lamentum ipsos vitiorum suorum habituros existimant, probent quocumque ierinthoneste esse vivendum.

    Umso lieber zitiere ich Epikurs Sinnsprche, damit sie denen, die aus verwerflicher Hoff-nung heraus ihre Zuflucht zu ihm nehmen undmeinen, sie wrden dann einen Deckman-tel fr ihre Laster haben, begreiflich machen, dass sie, wohin sie sich auch wendeten, an-stndig wrden leben mssen.

    Es ist leicht zu sehen, dass das letzte Zitat bis in die Wortwahl hinein (velamen-tum) an die Position inDe vita beata anschliet. Mit dieser letzten Rechtfertigunghat Seneca nun seinerseits mit Epikur als velamentum fr seine Ziele bewaff-net das Kunststck vollbracht, auch die Lstlinge unter seiner Leserschaft aufdie Respektierung des obersten stoischenWertes zu verpflichten. Zugleich demas-kiert Seneca seine vorherige Zitatpraxis als subtil geplante Angriffsoperation. Zu-nchst unter der Flagge der wechselseitigen Toleranz hat er ganz gezielt daraufhingearbeitet, einer pseudoepikureischen Lebensauffassung (also einer undiffe-renzierten und ungezgelten Ausrichtung auf Lste aller Art) nach und nach denBoden zu entziehen und zugleich den echten Epikur als Botschafter fr die An-erkennung des stoischen honestum zu benutzen fr die Anerkennung wohlge-merkt; den Primat des honestum lsst Seneca vorerst noch aus dem Spiel.

    Es geht demnach bei den Epikurzitaten von vornherein nicht um das Los-lsen von einem geistigen Feindbild, nicht um Toleranz fr den Andersden-kenden schlechthin. Vielmehr ist in Senecas Vorgehen eine ganz berechnendeStaffelung zu erkennen: zunchst ein bescheidener Hinweis, dass die Wahrheitnicht von einer einzigen Gruppe gepachtet ist (Brief 8) eine Bemerkung, dersich der (pseudo-)epikureische Leser umso bereitwilliger anschliet, als sie zuseinen Gunsten zu gehen scheint , dann aber schon mit der Geielung des inverba iurare in Brief 12 die Einforderung von gegenseitiger Toleranz; nunbis zum

    1 Ich folge hier dem Text von Reynolds; die Handschriften berliefern probant. Muret hattebereits probem vorgeschlagen.2 S. oben S. 55.3 Freise, Epikur-Zitate, 555, vgl. auch Hachmann, Spruchepiloge, 394: Zeichen fr Offenheit.

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  • 4.1 Seneca und Epikur I: Nicht ohne die virtus | 167

    21. Brief Weichkochen etwaiger mit Epikur sympathisierender Leser durch Epi-kurzitate, welche vorwiegend den Verzicht auf Reichtum und Besitz predigen mit anderen Worten: welche die etwaigen vulgrepikureischen Hoffnungen aufphilosophische Rechtfertigungen eines lasziven Lebensstils durch eine Berufungauf das ipse dixit des Meisters eine klare Absage erteilen , bis der Leser endlichfr die Forderung des 21. Briefes bereit ist, sein Leben wenn schon nicht unter derFhrung, so doch wenigstens nicht ohne Bercksichtigung des honestum fhrenzu wollen. Und das ist alles, meine ich, was hinter den freundlichen Mahnungenzur Toleranz in den frhen Briefen steckt. Seneca ist ein Taktiker.

    Tab. 4.1 Zitat und Brieftribut: Epikur und die Sinnsprche in den ersten drei Briefbchern

    Beleg Urheber wrtl. Zitat / Paraphrase

    1,5 [maiores nostri] Sera parsimonia in fundo est.

    2,5 Epicurus Honesta res est laeta paupertas.

    3,2 Theophrastus . . .qui, contra praecepta Theophrasti, cum amaverunt iudicant, et nonamant cum iudicaverunt.

    3,6 Pomponius Quidam adeo in latebras refugerunt ut putent in turbido esse quidquidin luce est.

    4,10 [Epicurus] Magnae divitiae sunt lege naturae composita paupertas.

    5,7 Hecato noster Desines timere, si sperare desieris.

    6,7 Hecato Quaeris, quid profecerim? Amicus esse mihi coepi.

    Fortsetzung auf nchster Seite =

    1 Der eigentlich auf Pythagoras gemnzte Ausspruch (Cic. nat. 1,10) passt ebenso gut auf dasSchler-Meister-Verhltnis bei den Epikureern, man vergleiche nur Lukrez, der Epikur im Hym-nus zu Beginn seines 5. Buches sogar zum Gott erheben mchte (5,8: deus ille fuit, deus, inclyteMemmi).2 Unterstreichungen: eindeutig als Brieftribut benutzte Zitate.3 Atellanendichter des 1. Jh. v. Chr.4 et hoc quoque ex alienis hortulis sumptum est.

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  • 168 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    Beleg Urheber wrtl. Zitat / Paraphrase

    7,10 Democritus Unus mihi pro populo est, et populus pro uno.

    7,11 [Anon.] Satis sunt mihi pauci, satis est unus, satis est nullus.

    7,11 Epicurus Haec ego nonmultis, sed tibi; satis enimmagnum alter alteri theatrumsumus.

    8,7 Epicurus Philosophiae servias oportet, ut tibi contingat vera libertas.

    8,9 Publilius Syrus Alienum est omne quidquid optando evenit.

    8,10 2x Lucilius selbst (1) Non est tuum fortuna quod fecit tuum. (2) Dari bonum quod potuitauferri potest.

    9,6 Hecaton Ego tibi monstrabo amatorium sine medicamento, sine herba, sine ul-lius veneficae carmine: si vis amari, ama!

    9,7 Attalus Attalus philosophus dicere solebat iucundius esse amicum facere quamhabere, quomodo artifici iucundius pingere est quam pinxisse.

    9,14 Chrysippus Ait sapientemnulla re egere, et tamen multis illi rebus opus esse: contrastulto nulla re opus est (nulla enim re uti scit) sed omnibus eget.

    9,18 Stilbon (1) Omnia mea mecum sunt. (2) Nihil perdidi.

    9,20 Epicurus Si cui sua non videntur amplissima, licet totius mundi dominus sit, ta-men miser est.

    9,20 [poeta comicus(Publilius Syrus?)]

    Non est beatus, esse se qui non putat.

    10,1 Crates [puer: Mecum loquor ] Cui Crates: Cave rogo et diligenter adtende:cum homine malo loqueris.

    10,5 Athenodorus Tunc scito esse te omnibus cupiditatibus solutum, cum eo pervenerisut nihil deum roges nisi quod rogare possis palam.

    11,8 Epicurus Aliquis vir bonusnobis diligendus est ac semper ante oculoshabendus,ut sic tamquam illo spectante vivamus et omnia tamquam illo videntefaciamus.

    12,7 Heraclitus Unus dies par omni est.

    12,8 Pacuvius , .

    12,9 [Vergilius] vixi et quem dederat cursum fortuna peregi.

    12,10 Epicurus Malum est in necessitate vivere, sed in necessitate vivere necessitasnulla est.

    Fortsetzung auf nchster Seite =

    1 ille, quisquis fuit (ambigitur enim de auctore).2 Seneca schliet noch eine freiere bersetzung an: Miser est qui se non beatissimum iudicat,licet imperet mundo.3 Das sind die Worte Didos (Verg. Aen. 4,653).

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  • 4.1 Seneca und Epikur I: Nicht ohne die virtus | 169

    Beleg Urheber wrtl. Zitat / Paraphrase

    13,16 Epicurus Inter cetera mala hoc quoque habet stultitia: semper incipit vivere.

    14,17 Epicurus autMetrodorus

    Is maxime divitiis fruitur qui minime divitiis indiget.

    15,9 Epicurus Stulta vita ingrata est, trepida; tota in futurum fertur.

    16,7 Epicurus Si ad naturam vives, numquam eris pauper; si ad opinionem, num-quam eris dives.

    17,11 Epicurus Multis parasse divitias non finis miseriarum fuit sed mutatio.

    18,9 Epicurus . . .et quidem gloriatur (Epic.) non toto asse se pasci, Metrodorum, quinondum tantum profecerit, toto.

    18,12 Vergilius Aude, hospes, contemnere opes et te quoque dignum | finge deo.

    18,14 Epicurus Inmodica ira gignit insaniam.

    19,9 Maecenas Ipsa enim altitudo attonat summa.

    19,10 Epicurus Ante circumspiciendum est cum quibus edas et bibas quam quid edaset bibas, nam sine amico visceratio leonis ac lupi vita est.

    20,9 Epicurus Magnificentior, mihi crede, sermo tuus in grabatto videbitur et in pan-no; non enim dicentur tantum illa sed probabuntur.

    21,3 Epicurus Si gloria tangeres, notiorem te epistulae meae facient quam omnia istaquae colis et propter quae coleris.

    21,5 Vergilius Fortunati ambo! Si quid mea carmina possunt, | nulla dies umquammemori vos eximet aevo, | dumdomusAeneae Capitoli immobile saxum| accolet imperiumque pater Romanus habebit.

    21,7 Epicurus Si vis Pythoclea divitem facerenonpecuniae adiciendumsed cupiditatidetrahendum est.

    22,14 Epicurus Nemo non ita exit e vita tamquammodo intraverit.

    23,9 Epicurus Molestum est semper vitam inchoare.

    Fortsetzung auf nchster Seite =

    1 22,15 schliet Seneca eine andere bersetzung an: Nemo aliter quam quomodo natus est exit evita. Zum Aufbau dieses Abschnittes und zu seiner Auslegung siehe Schmid, Epikurdeutung.2 Zweitversion: Male vivunt qui semper vivere incipiunt.

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  • 170 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    Beleg Urheber wrtl. Zitat / Paraphrase

    24,9 Scipio Imperator se bene habet.

    24,21 Lucilius selbst Mors non una venit, sed quae rapit ultima mors est

    24,22 Epicurus Ridiculum est currere ad mortem taedio vitae, cum genere vitae ut cur-rendum ad mortem esset effeceris.

    25,4 Epicurus Nemoadhaec pauper est, intra quae quisquis desideriumsuumclusit cumipso Iove de felicitate contendat, ut ait Epicurus.

    25,5 Epicurus Sic fac omnia tamquam spectet Epicurus.

    26,8 Epicurus Meditare mortem.

    27,9 Epicurus Divitiae sunt ad legem naturae composita paupertas.

    28,2 Socrates Quid miraris nihil tibi peregrinationes prodesse, cum te circumferas?premit te eadem causa quae expulit.

    28,3 Vergilius noster Talemnunc essehabitum tuum cogita qualemVergilius noster vatis inducit iam concitatae et instigataemultumque habentis in se spiritus non sui: Bacchatur vates, magnum si pectore possit | excussissedeum.

    28,9 Epicurus Initium est salutis notitia peccati.

    29,11 Epicurus Numquam volui populo placere; nam quae ego scio non probat popu-lus, quae probat populus ego nescio.

    Anmerkung: Zu den Sinnsprchen habe ich alle Aussprche gezhlt, die zur Untersttzungder Aussage oder als Ausgangspunkt einer moralischen Betrachtung von Seneca herangezogenwerden, also nicht nur die, die explizit als Brieftribut o.. bezeichnet werden. Dementspre-chend habe ich folgende Zitate nicht aufgenommen: das Epikurzitat in 9,8 (ut habeat qui sibiaegro adsideat, succurrat in vincula coniecto vel inopi fliet direkt als Gegeninstanz zur stoi-schen Meinung, nicht als dictum, in die Argumentation ein); ferner 22,5f. (ber das Ma einesAusspruches hinausgewachsene Paraphrase einer Lehrmeinung: Epicuri epistulam ad hanc rempertinentem lege, Idomeneo quae inscribitur, quem rogat ut quantum potest fugiat et properet, an-tequam aliqua vis maior interveniat et auferat libertatem recedendi. Idem tamen subicit nihil essetemptandum nisi cum apte poterit tempestiveque temptari; sed cum illud tempus captatum diu ve-nerit, exiliendum ait. Dormitare de fuga cogitantem vetat et sperat salutarem etiam ex difficillimusexitum, se nec properemus ante tempus nec cessemus in tempore. Puto, nunc et Stoicam sententiamquaeris e.q.s.); ferner die der Satire nahestehendenWortwechsel zwischen Calvisius Sabinus undSatellius Quadratus 27,7f. sowie ber Ariston 29,6 (keinemoralischen dicta); ferner das Vergilzitat28,1 (terraeque urbesque recedant:. bloe Illustration, keine moralische Aussage.)

    1 Gemeint ist Q. Caecilius Metellus Scipio, der Schwiegersohn des Pompeius.2 Zweitversion: Egregia res est mortem condiscere.3 fast identische bersetzung wie 4,10.4 Es ist Vergils Beschreibung der von Apollo inspirierten Sibylla von Cumae.

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  • 4.2 Der Weg zum summum bonum | 171

    4.2 Der Weg zum summum bonum

    Wir konnten im Abschnitt zur Angstbewltigung sehen, dass Seneca je nachEntwicklungsstand des Lucilius ein wachsendes Arsenal von grndlicher inder stoischen Lehre verankerten Argumenten zur Verfgung stand. Mit anderenWorten: Die Entwicklung in der Methodik der Angstbekmpfung spiegelt nur dieEntwicklung der Gterlehre, an die sie untrennbar gekoppelt ist. Der theoreti-sche Hintergrund dafr liegt auf der Hand: Die Angstbekmpfung bewegt sich imBereich der so genannten commoda und incommoda; Angst haben wir vor Din-gen, die von uns normalerweise als unangenehm und unannehmlich beurteiltwerden. Das heit aber aus stoischer Sicht: Wir bewegen uns damit im Bereichder gleichgltigen Dinge (media, indifferentia; ). Es bedarf also beimLeser einerseits einer prinzipiellen Gterkorrektur d.h. er muss zu der ber-zeugung gelangen, dass alle diese angsteinflenden Dinge im Verhltnis aufdas wahre bel und das wahre Gut unerheblich sind , und es bedarf, an die-ser Gterkorrektur ausgerichtet, einer rationalen Neubewertung der incommodauntereinander. Gemessen an ihrer Naturgemheit (secundum naturam, ) muss ihr Wert bzw. Unwert (, ) bestimmt werden, um zuentscheiden, ob sie zu den vorzuziehenden (praeposita, praecipua; )oder den abzulehnenden (reiecta, ) Dingen zu zhlen sind.

    Bevor ich daran gehe darzustellen, wie Seneca die stoische Gterlehre sich inseinen Briefen hat entfalten lassen, mchte ich einen knapp gehaltenen Vergleichzu anderen Autoren durchfhren. Trotz aller Gattungsdifferenzen und sonstigerUnterschiede (dazu gleich mehr) halte ich einen solchen Vergleich fr instruktiv,weil er uns die Augen dafr ffnen kann, welche Darstellungsoptionen Senecaauer derjenigen gehabt htte, die er gewhlt oder besser: geschaffen hat.

    4.2.1 Cicero, Epiktet, Mark Aurel: Konzeptionen stoischer Gterlehre

    Nirgends zeigten sich die Stoiker so unnachgiebig wie in der Gterfrage. Mag dieBewertung der media () auch gewissen Schwankungen unterlegen ha-ben darin, dass allein das sittlich Schne (honestum, ) bzw. die daraufausgerichtete Tugend (virtus, ) als Gut zu gelten habe, waren sich die Stoi-

    1 Vgl. Cic. fin. 3,53: Neque enim illud fieri poterat ullo modo, ut nihil relinqueretur in mediis, quodaut secundum naturam esset aut contra e.q.s.2 Im Lat. hat sich hierfr kein Terminus etabliert. Cicero umschreibt (fin. 3,51) die Sache mit. . .ut essent eorum alia aest imabi l ia, alia contra, alia neutrum. Quae autem aest imandaessent. . .e.q.s.

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  • 172 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    ker aller Epochen einig. Weil sie der Meinung waren, dass (a) allein die sittlicheQualitt des eigenen Strebens nicht aber dessen Resultate in unserer Verf-gungsgewalt (in nostra potestate, ) liege und dass (b) die Vervollkomm-nung dieses Strebens hinreichend dafr sei, das hchstmgliche Glck zu errei-chen, wollten und konnten sie nicht anders, als sich Kompromissen in dieser Fra-ge zu versperren; wussten sie doch, dass ein Zugestndnis in der Gterfrage undsei es noch so gering (darauf pochten ja mit Nachdruck die Akademiker) unwei-gerlich zum Einsturz ihres gesamten Ethikgebudes fhren wrde.

    ber die Kernfrage bestand also groe Einigkeit. Trotzdem gab es Unterschie-de, auf welche Weise und wie offensiv die Gterlehre eingefhrt wird. Allerdingsist unsere Quellenlage das mssen wir vorausschicken insgesamt drftig; dieerste zusammenhngende Darstellung der stoischen Gterlehre haben wir erstmit Ciceros De finibus; und die Quellen, die Seneca selbst eingesehen und an de-nen er selbst studiert hat, sind verloren oder dochnur in solch kurzen Fragmentenbekannt, dass wir aus ihnen nicht mehr ersehen knnen, inwieweit Seneca sichfr seine Prsentation der Gterlehre Anregungen von ihnen hat bekommen kn-nen. Allerdings drfen wir davon ausgehen, dass Cicero nicht nur im Inhalt, son-dern auch in seiner Darstellungsweise einiges von der Beschaffenheit der Quellenwiderspiegelt, die er benutzt hat (v.a. Poseidonios).

    Dazu kommt das Problem, dass die wenigen erhaltenen zusammenhngen-den Darstellungen der stoischen Gterlehre aus verschiedenen Gattungen stam-men: Ciceros De finibus steht in der Tradition des platonisch-peripatetischen Dia-logsund ist zugleich stark vonderRhetorik beeinflusst; Senecas epistulaegehrenals Werk sui generis zwar der ueren Form nach zur Briefliteratur, in der sprach-lichen und gedanklichen Gestaltung hneln sie jedoch seinen dialogi, die wie-derum weit mehr als dem Dialog den Traditionen der von Bion von Borysthenesbegrndeten kynisch-stoischen Diatribe sowie ebenfalls der Rhetorik verpflich-

    1 Diese Position ist geradezu das Markenzeichen der stoischen Schule: Philo Alex. Deposteritate Caini 133 = SVF 3,31 ; hnliche Cha-rakteristiken hufig bei Cicero, vgl. neben der gleich unten zitierten Stelle ausDe finibus auchCic.fin. 3,26 und 36; evident ist das Zeugnis der Tuskulanen (Tusc. 2,45), wo Cicero die Argumenta-tion zur geringen Bedeutung des Schmerzes aus Sicht der Stoa nicht unter ihrem Namen (oderunter Verweis auf einen Vertreter ihrer Schule) einfhrt, sondern sich mit der Umschreibung be-gngt . . .quibus, quod honestum sit, summumbonum, quod turpe, summum videtur malum. Das istoffenkundig ausreichend; die Verbindung zur Stoa ist hergestellt, und kein Leser wundert sich,wenn Cicero gleich darauf die personifizierte Virtus sprechen lsst.2 Ich behalte den einmal eingebrgerten Ausdruck bei, obgleich ich Dihle, Griechische und la-teinische Literatur, 95f. in der Sache nur zustimmen kann (Diatribe heit soviel wie Beschf-tigung, Studium, nicht aber Lehrvortrag).

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  • 4.2 Der Weg zum summum bonum | 173

    tet sind. Noch nher stehen letzteren Arrians Nachschriften von Epiktets Lehre.Mark Aurels Bchlein schlielich richtet sich an ihn selbst und nicht an ein exter-nes Publikum.

    Und doch gibt es einen Aspekt, der alle Schriften gegenber Senecas Briefeneint undder zumindestwahrscheinlichwerden lsst, dass die bliche Vorgehens-weise stoischer Schriften eine andere war, als sie Seneca praktiziert: Alle genann-ten Werke machen kein Hehl aus der stoischen Gterlehre, die sie von Beginn anoffen bekennen. Dieser Unterschied ist sicher nicht dogmatisch begrndet, son-dern allein methodisch. Ich betone das deshalb, weil gerade in diesem Punkt bis-her zuwenig differenziert worden ist. So hat I. Hadot in vielen Punkten hervorra-gend gezeigt, wie hnlich sich Epikur, Seneca und Epiktet in der Anwendung vonTechniken wie der abwechselnden Extension und Komprimierung (ebd. 54)des Gelernten sind. Doch sie sind es gerade nicht hinsichtlich ihres offensiven,d.h. deduktiven Vorgehens. Wer Epiktet liest, wird ein ganz anderes Bild von derMethode des Meisters erhalten, als wenn er sich in Senecas Briefe vertieft.

    Nunmag es, wasMark Aurel betrifft, nicht verwundern, wenn ein Stoiker, umsich selbst zu bestrken, die stoische Gterlehre zum Ausgangspunkt (und nichtzum Ziel) seiner berlegungen macht. Doch wir knnen an Epiktet und Cicerosehen, dass auch an Auenstehende gerichtete Traktate ganz hnlich beginnenund sofort ins Zentrum der stoischen Gterlehre vorstoen.

    Cicero lsst seinen Cato gleich am Anfang Klartext reden:

    Cic. fin. 3,10 (Cicero, der skeptischeAkademiker, trifft in der Bibliothek von Lucullus Tus-culanum auf den Stoiker Cato; es entwickelt sich ein Gesprch:) Tum ille: Tu autem cumipse tantum librorumhabeas, quos hic tandem requiris? Commentariosquosdam, inquam,Aristotelios, quos hic sciebam esse, veni ut auferrem, quos legerem, dum essem otiosus; quodquidem nobis non saepe contingit. Quam vellem, inquit, te ad Stoicos inclinavisses! eratenim, si cuiusquam, certe tuum nihil praeter virtutem in bonis ducere. Vide, ne magis,inquam, tuum fuerit, cum re idem tibi, quod mihi, videretur, non nova te rebus nomina inpo-nere. ratio enimnostra consentit, pugnat oratio. Minime vero, inquit ille, consentit. quic-quid enim praeter id , quod honestum si t , expetendum esse dixer is in bonis-

    1 Siehe oben 1.3.3 ab S. 45 (Briefform); ferner 2.4 ab S. 98 (zum Einfluss der Rhetorik).2 Seelenleitung, 54ff.3 Das zweite Buch, zuerst entstanden und der eigentliche Beginn der Selbstbetrachtungen, be-ginnt mit der Anweisung, sich schon am Morgen zu sagen, es sei normal, dass man unfhigen,undankbaren, schamlosenMenschen begegnenwerde die Ursache bei ihnen sei aber nur (ganzwie es Sokrates sagt) ihre Unkenntnis ber Gter und bel. Und er begrndet sein Vorhaben,bei allem ruhig zu bleiben (2,1,3): [...] - [...] .

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  • 174 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    que numeraver is, et honestum ipsum quasi vi r tut is lumen ext inxer is et vi r-tutem penitus everter is.

    Darauf sagte jener: Aber welche Bcher suchst du hier eigentlich, wo du doch selbst eineso groe Menge besitzt? Ich bin hierhergekommen, sagte ich, um bestimmte Aristote-lesschriften, von denen ichwusste, dass sie hier sind, auszuleihen, um sie zu lesen, solangeich gerade Zeit htte (was bei mir nicht gerade hufig der Fall ist). Wie sehr wnschteich, sagte er, dass du dich den Stoikern zugewendet httest! Wenn berhaupt fr irgend-einen, so htte es sich doch fr dich gehrt, nichts auer der virtus zu den Gtern zu zh-len. Sieh zu, sagte ich, dass es sich nicht eher fr dich gehrt htte wo du doch derSachenach dieselbeberzeugung hastwie ich denDingennicht andere Namen zu verpas-sen. Unsere Meinung stimmt nmlich berein, nur unsere Redeweise liegt miteinander imKampf. Mitnichten stimmt sie berein, sagte er. Egal , was du neben dem hone-stum als anstrebenswert ansetzt und es zu den Gtern zhlst: Damit wirstdu nur das honestum als solches sozusagen als das Licht der vir tus ausl-schen und die vir tus vol lkommen beseit igen.

    Es ist nicht zu verkennen: Hier geht es ohne Umschweife medias in res, mittenhinein in das Zentrum der stoischen Lehre: und das ist offenbar die Frage nachdem Alleinvertretungsanspruch des honestum in der Gterlehre.

    Auch bei Epiktet knnen wir ein solch direktes Vorgehen beobachten. Arrianlsst sowohl Epiktets Diatriben als auch sein selbst daraus zusammengestelltesKompendium (Encheiridion) mit der Frage nach dem , also nachdem,wasin unserer Verfgungsgewalt steht, beginnen. Und er zgert nicht, daran sofortdie typischen Distinktionen und Antithesen anzuschlieen, verwendet, ohne vielAufhebens davon zu machen, die philosophische Fachsprache (welcher Neulingknnte ihmbei der Vielzahl der Begriffe und der schnellen Gedankenentwicklungfolgen?) und lsst die erste Argumentationskette hymnisch in einer Reihung stoi-scher Paradoxa gipfeln. Zu dieser etwas schulmigen Belehrung passt auch derstrenge, Ordnung und bersicht vermittelnde Periodenbau, wie ihn Seneca in allseinen philosophischen Werken gemieden hat:

    Epict. ench. 1,131 ,

    . , , , , , , .

    2 , , ,

    1 Genauer: aus der noch vollstndigen Fassung der von ihm gesammelten Unterweisungen Epik-tets. Unsere heutige Sammlung ist unvollstndig,wie antike Zitate verlorener Stellen als auch derUmstand beweisen, dass es im Encheiridion einiges Gedankengut gibt, das in den auf uns gekom-menen Diatriben nicht enthalten ist.2 S. dazu oben Kapitel 2.4.1, S. 98.

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  • 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut | 175

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    1 Von allem, was es gibt, ist das eine in unserer Gewalt, das andere nicht. In unsererGewalt sind Meinung, Antrieb, Streben, Vermeiden mit einem Wort: alles, was unsereTtigkeiten sind. Nicht in unserer Gewalt sind hingegen der Krper, der Besitz, der gute Rufund Machtpositionen mit einem Wort: alles, was nicht unsere Ttigkeiten sind. 2 Unddas, was in unserer Gewalt ist, ist von Natur aus frei, nicht zu hindern und nicht zurckzu-halten. Das aber, was nicht in unserer Gewalt ist, ist schwach, knechtisch, hinderbar undfremder Besitz. 3 Denk also daran: Wenn du das, was von Natur aus knechtisch ist, frfrei hltst und das, was fremder Besitz ist, fr eigen: Dann wirst du zurckgehalten wer-den, trauern, in Unruhe versetzt werden und Gtter sowie Menschen schmhen; wenn duaber allein das deinige fr deinen Besitzt hltst, fremdes Gut hingegen, wie es ja auch ist,fr fremdes Gut: (dann) wird dich niemals einer zwingen oder hindern, duwirst niemals jemanden schmhen und auch keinem Vorwrfe machen;du wirst auch nicht eine Sache gegen deinen Wil len tun, und niemandwird dir Schaden zufgen; du wirst keinen Feind haben, denn du wirstnichts Schdliches erleiden.

    In diesem Text herrscht Ciceronianische Przision, und das gibt ihm ohne Zwei-fel den Reiz berlegener Klarheit. Doch werden damit eben auch die Rollen klarverteilt: Der Leser nimmt den Platz des Schlers ein und darf sich durch die h-herstehende Autoritt in der Wahrheit unterweisen lassen. Das Hierarchiegefllezwischen Autor und Leser spiegelt sich in dem rhetorischen Druck, den die wie-derholten Antithesenmit ihren zahlreichen Parallelismen undAufzhlungen auf-bauen. Arrian lsst seinen Meister den Gegensatz zwischen dem, was in unsererGewalt ist und was nicht, allein in diesem kurzen Textstck dreimal verwenden.Rechnen wir die parallele Antithese eigen-fremd ( ; ) hinzu, so sind es schon fnf Male, dass der Leser vor die stoischeGrundentscheidung gestellt wird. Die Botschaft ist eindeutig: Du musst dich ent-scheiden entweder du arbeitest hart an dir selbst und erlangst eine innere Frei-heit, ohne freilich uerlich abgesichert zu sein, oder du lsst es eben bleiben.Dein Glck kannst du jedenfalls nur in der stoischen Orientierung auf dein Inne-res erreichen

    Auf was fr ein Publikum passt solch ein Vorgehen? Genau auf eines, wie esEpiktet zuerst in Rom und dann (nach der Philosophenverbannung durch Domi-tian 89 n.Chr.) in Actium-Nikopolis um sich geschart hatte: junge Leute, vorwie-gend aus den breiteren Volksschichten, die bereits gewillt waren, sich in der stoi-

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    schen Philosophie unterweisen zu lassen und die bereits wussten, was sie erwar-tete, aber vielleicht den einen oder anderen Ansto vertragen konnten. Es warein Publikum, das nach Fhrung und Rat verlangte. Deshalb muss sich Epiktetauch nicht scheuen, sofort weitere stoische Termini nachzulegen: erstens verfgtseine Hrerschaft schon ber eine gewisse Vorbildung und zweitens ist sie grund-stzlich schon fr die Stoa gewonnen.

    Ciceros Taktik ist in dieser Hinsicht etwas anders zu bewerten. Zwar gehtauch Cato sogleich daran, die stoische Terminologie ins Lateinische zu bertra-gen. Doch er tut dies unter umfangreichen Erluterungen und Worterklrungen.Das lsst auf einen Adressatenkreis schlieen, bei dem Cicero mit weit geringererphilosophischer Vorbildung rechnen durfte als es offenbar Epiktet mglich war.Zudem vermeidet es Cicero durch die Dialogform und insgesamt durch seinewiederholt zum Ausdruck gebrachte akademisch-skeptische Grundhaltung ,den Leser auf eine Sichtweise festzulegen. Selbst Leser, die sich noch unschlssigsind, ob nicht auch Epikur ernstzunehmen sei, knnen zu diesem Buch greifenund sich ein eigenes Bild von dessen Lehremachen. Bei aller offensichtlichen Ge-ringschtzung von Epikurs philosophischem Niveau stellt Cicero dessen Lehrendennoch vor und lsst sie diskutieren.

    4.2.2 Die Taktik Senecas

    WelchenWegverfolgt nunSeneca?Er selbst ist berzeugter Stoiker (s. obenS. 161).Doch anders als Cicero und anders als Epiktet whlt er, wiewir gesehen haben(oben S. 120ff.), seineWorte zumindest in den ersten Briefenmit groer Rcksichtauf den epikureischen Leser. Daraus ergibt sich die Frage, zu welchem ZeitpunktSeneca eigentlich beginnt, in der philosophischen Gretchenfrage, d.h. in der G-terlehre, Farbe zu bekennen.

    Den stoischen Leitsatz nmlich unum bonum quod honestum , den CicerosCato gleich zu Beginn in die Diskussion fhrte, verwendet auch Seneca. Doch dastut er erst spt. Wirklich unverklausuliert finden wir ihn erst im 66. Brief (66,16:. . .desinit unum bonum esse quod honestum); in einer der Argumentation Epiktets

    1 Vgl. z.B. diatr. 1,9,10ff.2 Vgl. z.B. die etwas einfltige Anfrage, die zur Diatribe fhrte (diatr. 1,11).3 Die Zielgruppe Senecas ist hingegen in dieserHinsicht eher der Epiktets vergleichbar (vgl. obenKapitel 3.3 ab S. 150), nicht aber in Hinsicht auf ihr Schulzugehrigkeitsgefhl.4 Was brigens neben vielen anderen Elementen auch handfeste tagespolitische Konnota-tionen gehabt haben drfte: So waren die meisten Anhnger Csars tendenziell Epikureer, vgl.Fussl, Epikureismus im Umkreis Caesars.

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  • 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut | 177

    (s. obenS. 174) vergleichbarenVerkettungbegegnenwir der Formel erst 74,1. hn-lich klare Worte zur Gterlehre suchen wir hingegen in frheren Briefen verge-bens.

    Das hat seinen guten Grund. Zwar hat eine Vorgehensweise wie die Epiktetseiniges fr sich: Sie ist gerade, direkt, authentisch; sie kann mit einigem Pathosarbeiten sie ist das Richtige fr einen Charismatiker, wie es zur Zeit von SenecasLebensende vielleichtMusonius gewesen ist. Aber daswar nicht unbedingt etwasfr gestandene Mnner der rmischenOberschicht, wie sie Lucilius verkrpert rhetorisch gut ausgebildete und philosophisch vielleicht schon in Richtung desEpikureismus vorgeprgte Laien.

    Deshalb verfolgt Seneca auch auf diesem Gebiet eine hnliche Taktik wie beider Angstbewltigung: Er kennt seinen Hafen gut; er wei genau, wie er ihn errei-chen kann, steuert ihn jedoch nicht auf direktem Kurs an, sondern versucht ihn(gleichsam in einem Kreuzen gegen den Wind) wie beilufig zu erreichen.

    4.2.2.1 Erste SchritteWie geht Seneca dabei vor? Erst einmal stellen wir fest, dass Seneca zunchst ex-akten Formulierungen bezglich der Gterlehre vllig aus demWege geht. Er for-muliert, wie es der einfache Mensch von der Strae auch tun wrde, und verlegtsich frs Erste darauf, die herkmmlichen Gter in Frage zu stellen. Das frhesteBeispiel, wo sich dies auch mit einer Aussage ber Gter verbindet, enthlt der4. Brief:

    4,6 Nullumbonumadiuvat habentemnisi ad cuius amissionempraeparatus est animus; nul-lius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest.

    Kein Gut ntzt dem, der es hat, auer wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet ist;von keiner Sache aber fllt der Verlust leichter, als von der, die, wenn sie verloren ist, nichtzurckersehnt werden kann.

    Gut (bonum) kann man hier sicher auf mannigfache Weise verstehen aber aufkeinen Fall im Sinne der stoischen Gterlehre. Denn ihr Gut, die Vollendung dessittlichen Charakters, ist gerade eines, das einem nicht genommen werden kann.Nur die Gter, die gemeinhin dafr gelten Reichtum, Macht, Ehre, Gesundheit,

    1 Quidni tu,mi Lucili,maximumputes instrumentumvitae beatae hancpersuasionemunumbonumesse quod honestum est? Nam qui alia bona iudicat in fortunae venit potestatem, alieni arbitrii fit:qui omne bonum honesto circumscripsit intra se felix est. S. dazu unten S. 224.2 Vgl. oben Kapitel 1.3.2.3 Zur epikureisierenden Sprache dieses Briefs s. oben S. 40.

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  • 178 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    kurz: alles Dinge, die nicht in unserer Macht stehen und die, wie es oben (S. 175)Epiktet sagte, nicht unsere Ttigkeiten sind nur auf diese passt der Rat, manmsse sich beizeiten auf ihren Verlust einstellen.

    Die erste Wendung zu einem (im stoischen Sinne) niveauvolleren Gterver-stndnis erfolgt im 7. Brief mit seiner Aufforderung, die Gter nach innen (intror-sus) zu verlegen. Es lohnt sich, darauf zu achten, wie Seneca diese Aufforderungeinleitet:

    7,12 (Seneca hatte gemahnt, sich mglichst von der Menge zurckzuziehen und dies mitdem Epikurzitat untermauert Wir beide sind nmlich einander ein gengend groes Thea-ter:) Ista, mi Lucili, condenda in animum sunt, ut contemnas voluptatem ex plu-r ium adsensione venientem. Multi te laudant: ecquid habes cur placeas tibi, si is esquem intellegant multi? introrsus bona tua spectent.

    Diese Worte musst du tief verinnerlichen, damit du die Lust verachtest , die ausden zustimmenden uerungen der Menge herrhrt . Viele loben dich: Hast duetwa deshalb einen Grund, dass du dir gefllst, wenn du einer bist, den viele kennen? Lassdeine Gter nach innen schauen!

    Ut contemnas voluptatemdasklingt bereits sehr nachStoa. Aber Senecamachtdiesen Vorsto durch das kleine partizipialen Anhngsel ex plurium adsensionevenientem umgehend zunichte. So weit ist er nmlich mit Lucilius (d.h. mit demLeser) noch nicht, dass er die Lust als Wert schon komplett diskreditieren knn-te. Jetzt steht erst einmal die biedere epikureische Kunst an, zwischen guten undschlechten, zwischen ntzlichen und schdlichen Lustquellen zu unterscheiden.Aus dem stoischen Himmel sind wir wieder zurck auf die epikureische Erde ge-fallen.

    Niemandmuss natrlich zwingend das gebe ich unumwunden zu auf die-se nur wenige Worte whrende Doppelbdigkeit aufmerksam werden. Doch dieFlle von derlei sprachlichen Kniffen in den Briefen ist erdrckend. Und warumsollten wir gerade angesichts dessen, was wir oben (S. 43) festgestellt haben,dass nmlich Seneca gern mit dem Vorwissen seiner Leser spielt und dass er esauch im Rahmen der Angstbekmpfung liebte, immer wieder die stoische Lsung

    1 hnliche, mit dem alltglichen Gterverstndnis operierende Wendungenin den frhen Brie-fen auch 4,4. 5,9. 19,11.2 Dieselbe Technik eines Angriffs, der sich erst nachtrglich auf einen Teilangriff reduziert, z.B.auch 23,6 (s. unten S. 194 mit Anm. 4). Spter hingegen wird Seneca keine Skrupel zeigen, dieLust insgesamt zu verwerfen, vgl. in einer hnlichen Mahnrede 84,11: . . .relinque corporis atqueanimi voluptates, molliunt et enervant e.q.s.3 Vgl. z.B. die auf ganz hnliche Weise fr wenige Worte in die Irre fhrende Formulierung im27. Brief (u. S. 199).

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  • 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut | 179

    hervorleuchten zu lassen warum sollten wir es da nur fr einen Zufall ansehen,wenn sich Seneca nicht unmissverstndlicher und geradliniger ausdrckt (etwamit Voranstellung des Partizips . . .ut venientem ex plurium adsensione contemnasvoluptatem)?

    Die Formulierungsweise erweckt den Eindruck eines Versuchsballons, denSeneca im Vorbeigehen steigen lsst: Du musst die Lust verachten, Lucilius. . . nein, nichtalle Lust, Lucilius, das hast du gesagt; ichmeinte lediglich: . . .die Lust,die sich aus der Bewunderung durch die Menge ergibt.

    Vorerst setzt er das Werk fort, die herkmmlichen Gtervorstellungen zu er-schttern. Im 8. Brief mahnt er in einer lngeren Parnese die er nach eigenemBekunden (8,2) nicht an Lucilius, sondern an sich und die Nachwelt richtet (wo-durch sich jeder Leser frei fhlen darf, nur so viel auf sich zu beziehen, wie ergleichsam als stiller Beobachter mitnehmen mchte) nicht auf die viscata be-neficia, die mit Vogelleim bestrichenen Geschenke der Fortuna, hereinzufallen:

    8,3.5 3 Clamo: vitate quaecumque vulgo placent, quae casus attribuit; ad omne fortuitumbonum suspiciosi pavidique subsistite: et fera et piscis spe aliqua oblectante decipitur. Mu-nera ista fortunae putatis? insidiae sunt. Quisquis vestrum tutam agere vitam volet, quantumplurimumpotest ista viscata beneficia devitet [...] 5 Hanc ergo sanam ac salubrem formamvitae tenete, ut corpori tantum indulgeatis quantum bonae valetudini satis est. Durius trac-tandum est ne animo male pareat: cibus famem sedet, potio sitim exstinguat, vestis arceatfrigus, domus munimentum sit adversus infesta temporis. [...] Contemnite omnia quae super-vacuus labor velut ornamentum ac decus ponit; cogitate nihil praeter animum esse mirabile,cui magno nihil magnum est.

    3 Ich rufe: Meidet das, was dem Volk gefllt undwas der Zufall einem zuteilt; haltet bei je-dem zuflligenGut argwhnisch und vorsichtig inne: AuchdasWild und der Fischwird her-eingelegt, indemeineHoffnung sie anlockt.Haltet ihrdieseDinge frGeschenkedesGlcks?Sie sind Fallen! Wer auch immer von euch ein sicheres Leben fhren mchte, der sollte sogut er kann diesen vogelleimbestrichenen Wohltaten aus dem Wege gehen [...] 5 Halteteuch also an diese vernnftige und heilsame Lebensform, dass ihr dem Krper nur so weitentgegenkommt, wie es fr die Gesundheit ntig ist. Er ist ein wenig hrter zu behandeln,damit er dem Geist nicht etwa schlecht gehorcht: Die Speise soll den Hunger stillen, dasTrinken den Durst lschen, die Bekleidung die Klte abhalten, das Haus ein Schutz sein

    1 Wie z.B. im 85. Brief (85,14): Praeterea si non contemnit venientes extrinsecus causas et ali-quid timet, cum fortiter eundum erit adversus tela, ignes, pro patria, legibus, libertate, cunctanterexibit et animo recedente.2 Vgl. auch die Doppeldeutigkeit des Zitats des Stoikers Athenodor (10,5): tunc scito esse te om-nibus cupiditatibus solutum, cum eo perveneris ut nihil deum roges nisi quod rogare possis palam die stoische Lesart ist offenkundig; dochmankann das dannwirst du allerWnsche ledig seinohne weiteres auch im Sinne der epikureischen auslegen.3 sc. und nicht irgendwelchen Gelsten dienen.

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    gegen Unbilden des Wetters. [...] Verachtet alles, was berflssige Mhe als zur Prachtent-faltung errichtet; bedenkt, dass nichts auer der Geist wert ist, dass man ihn anstaunt, frden, weil er (selbst) gro ist, nichts (anderes) gro ist.

    Dassdie ganzeMahnredevomGesamtgedankenher stoisch ist, liegt auf derHand.Doch wir drfen die Augen nicht davor verschlieen, dass Seneca den Unent-schlossenen unter seinen Lesern immernoch in einigen gewichtigen Punkten (ab-gesehen von der bereits angesprochenen Fremd-Adressierung) entgegenkommt:

    1) Noch immer wird fr die (aus stoischer Sicht) scheinbaren Gter die Be-zeichnung Gut verwendet: Sie heien nicht fortuita, sondern fortuita bona.Doch eben diese Junktur leitet den Wechsel in der Terminologie ein: Die nur frden bergang geschaffene Verbindung fortuitum bonum verwendet Seneca abhier kein einziges Mal mehr, dafr aber von 8,9 an ber 20 Mal fortuitus (ohneZusatz) als Standard-Ersatzvokabel fr die Scheingter und -bel dieser Welt.Das heit freilich nicht, dass Seneca sogleich ganz auf den alltglichen Gebrauchder Begriffe Gut und bel verzichten wrde. Aber es ist ein bergang zu stoi-schen Formulierungen geschaffen, die den bergang zu stoischen Denkweisenfrdern, und Seneca wird sie mehr und mehr nutzen.

    2) Der Mittelteil ist, obwohl er bereits die Lehre von der Aneignung (concilia-tio; ) vorbereitet, eine unstoische Durchfhrung des stoischen ThemasvomUnwert der ueren Gter. Denn die Orientierung amNaturnotwendigen, oh-ne Zweifel im Alltag auch fr einen Stoiker sinnvoll, ist keine Regel, die auf stoi-schemBoden gewachsen sein kann, sondern ist eine Pflanze aus demGarten Epi-kurs. Bis in die Reihenfolge der Aufzhlungsglieder hinein ist die Formulierungim 8. Brief eine eindeutige Reminiszenz an den epikureischen Katalog der Grund-bedrfnisse non esurire, non sitire, non algere (epist. 4,10). Aus stoischer Sichthatte demgegenber Senecas Lehrer Attalos Recht, wenn er, wie Seneca selbst be-

    1 Negat [sc. Publilius] fortuita in nostro habenda.2 Vgl. 23,3.7. 72,7. 87,12.16.35. 90,2. 98,8; dagegen fortuitus zur Bildung eines Ersatzbegriffs frmalum: 53,12 (fortuita vis). 65,24. 78,17. 85,33. 91,9. 92,5.19. 107,7. 113,27; kollektiv als berbegrifffr scheinbare bona und mala: 66,6.41. 71,19. 98,14. 117,19 (wo Seneca im Sinne der providentiahinterfragt, an et haec quae fortuita dicuntur certa lege constricta sint).3 Vgl. v.a. epist. 14 und 121 (zu letzterem s. unten S. 217).4 Das wrde den ueren Umstnden eine sei es auch geringe Macht ber uns zusprechen,mit anderen Worten: Das Glck wre nicht mehr .5 Die gemischte epikureisch-stoische Argumentation bereits erkannt von Abel, Faktizitt, 486f.6 Dieser wiederum ein direktes Epikurzitat (Epicur. GV 33): , , .Den zweiten Teil (Motiv der Ebenbrtigkeit mit Zeus) verwendet Seneca 25,4; siehe auch die fol-gende Anm.

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  • 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut | 181

    richtet, behauptete, demWeisen genge zur Not nicht nur ein SchlchenGraupenund Wasser, sondern in der allergrten Not auch berhaupt nichts.

    3) Die Motive, mit denen Seneca die Nachwelt fr sich zu gewinnen sucht,sind hier nicht noch nicht! die bekannten stoischen Hymnen auf den Wei-sen, nicht die mit religisem Vokabular eingefrbten Kataloge stolzer Errungen-schaften wie Freiheit, Selbstgengsamkeit, Bestndigkeit, Erhabenheit, Furcht-losigkeit, Unverletzlichkeit usw., und er argumentiert in erster Linie auch nichtmit der Niedrigkeit der irdischen Scheinwerte im Verhltnis zu der Erhabenheitdes Geistes (ansatzweise: nihil praeter animum esse mirabile). Statt dessen stelltSeneca dem Leser bildreich (Angelhaken, Vogelleim) die Gefhrdung vor Augen,die von den sogenannten Gtern ausgeht, und verspricht als Lohn des Rckzugsvon den Karriere- und Wohlstandsplnen (devitet das klingt nach Epikurs !) ein ruhiges und sicheres Leben (tutam agere vitam).

    Interessant ist, wie Seneca, nachdem er mit dem pessimistischen Teil derMahnrede (8,3f.) die Destruktion irdischer Gter frs Erste hinreichend besorgthat, im optimistischen Teil (8,5) sich von einer zunchst ganz und gar epiku-reischen Linie (Orientierung am Ma der natrlichen Bedrfnisse) aufschwingt

    1 Epist. 110,18: Habemus aquam, habemus polentam; Iovi ipsi controversiam de felicitate facia-mus; faciamus, oro te, etiam si ista defuerint: turpe est beatam vitam in auro et argento reponere,aeque turpe in aqua et polenta. Damit ging Attalos bewusst einen Schritt ber Epikur hinaus,vgl. dessen Zitat in der vorigen Anmerkung. Epikur sah wiederum im Bedarf nach dem Natur-notwendigen keine Gefhrdung fr die Autarkie, s. unten S. 192 mit Anm. 1. Zum Gedanken desberbietens auch Sen. const. sap. 2,4.2 Vgl. Epiktets Verheiungen oben (S. 174), zu denen spter auch Seneca bergehen wird, vgl.z.B. 45,9: [ille], cui bonum omne in animo est, erectum et excelsum et mirabilia calcantem, quineminem videt cum quo se commutatum velit, qui hominem ea sola parte aestimat qua homo est,qui natura magistra utitur, ad illius leges componitur, sic vivit quomodo illa praescripsit; cui bonasua nulla vis excutit, qui mala in bonum vertit, certus iudicii, inconcussus, intrepidus; quem aliquavismovet, nulla perturbat; quem fortuna, cumquod habuit telumnocentissimumvimaxima intorsit,pungit, non vulnerat, et hoc raro; nam cetera eius tela, quibus genus humanumdebellatur, grandinismore dissultant, quae incussa tectis sine ullo habitatoris incommodo crepitat ac solvitur. Der ersteAnsatz ist in 41,5 zu sehen (vgl. unten S. 209); weitere Weisenhymnen: 66,6. 115,3f. Zu Letzteremvgl. Coleman, Senecas epistolary style, 278ff.3 Auch bei diesem Wort mssen wir Vorsicht walten lassen, es nicht sofort stoisch im Sinnevon ratio zu interpretieren. Denn ratio (im Sinne von , Vernunft) verwendet Seneca mitgutemGrund erst vom 36. und 37. Brief an (36,12: imGegensatz zur stultitia; 37,4: te subice rationi);das Wort rationalis spart sich Seneca gar bis zum 41. Brief auf, wo es dann explizit zur Bezeich-nung der menschlichen Rationalitt verwendet wird. Das Wort animus verwendet Seneca hinge-genweit ber den 20. Brief hinaus durchweg in allgemeineren Bedeutungenwie etwa Charakter-strke, Mut, Gedchtnis, auch Denken (aber nicht im Sinne des rationalen Denkvermgens,z.B. 4,9Haec et eiusmodi versanda in animo sunt e.q.s.); innerhalb der ersten 20 Briefe gibt es nurdiese eine Stelle im 8. Brief, an der man es mit ratio gleichsetzen knnte.

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  • 182 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    zur dann doch ber Epikur hinausweisenden Forderung, nichts als die eigeneVernunft fr wertvoll zu halten ohne freilich konkreter zu werden, in welcherHinsicht und unter welchen Umstnden der animus bewundernswert zu nennenist.

    Wir knnen festhalten: hnlich wie bei der Furchtbekmpfung geht Senecatendenziell vom epikureischen Argumentationsniveau aus, versucht aber bereitsin Anstzen die stoische Sicht zu platzieren.

    4.2.2.2 Vorsto in neue Hhen: der neunte BriefDas,waswir bisher gelesen haben, knntemanallenfalls den Beginn einer nega-tiven Gterlehre nennen: Zwar hat Seneca einiges dazu gesagt, was keine Gtersind; darber hingegen, worin er das eigentliche Gut sieht, hat er es bei wenigenvagen Andeutungen belassen.

    Seneca hat auch allen Grund dazu. Die stoische Gterlehre widerspricht ekla-tant dem Alltagsempfinden der Menschen; ihre Hauptthese es gebe nichts Gu-tes auer dem sittlich Guten (unum bonum esse quod honestum, ) ist ein Affront gegen das natrliche Werteempfinden. Zugleich ist sienicht nur auf den ersten Blick alles andere als einleuchtend. Wie leicht deshalbdie Stoiker mit ihrer Lehre zum Gesptt der Leute werden konnten, zeigt u.a. dieRede Ciceros Pro Murena, in der Cicero in einer berhmten Passage (6066) diestoischen berzeugungen Catos, des Anklgers der Gegenseite, der Lcherlich-keit preisgibt. Das Werben fr diese Philosophie drohte daher von vornherein zueiner Verteidigungsschlacht zu entarten, sofern es demWerbenden nicht gelang,ihren Vorzgen Gehr zu verschaffen, d.h. eben die Verheiungen anzubringen,welche die Stoa so gern in hymnusartigen Katalogen ausmalte (s. auf der vorhe-rigen Seite mit Anm. 2). Dazu bedurfte es aber einer von Vorurteilen bereinigtenGesprchsgrundlage.

    Ich sehe nun in Senecas taktischemVorgehen denVersuch, genau eine solcheGesprchsgrundlage herbeizufhren, und ich glaube, dass man das gerade auchan dem folgenden, dem neunten Brief erkennen kann. Bemerkenswert ist bereitsder Beginn des Briefes, weil er die Differenzen endlich einmal offen anspricht:

    9,1 Anmerito reprehendat in quadamepistula Epicurus eos qui dicunt sapientem se ipso essecontentum et propter hoc amico non indigere, desideras scire. Hoc obicitur Stilboni ab Epicuroet iis quibus summum bonum visum est animus inpatiens.

    Du willst wissen, ob Epikur zu Recht in einem Brief die tadelt, die sagen, der Weise sei mitsich selbst zufrieden und bedrfe deshalb keines Freundes. Das wird von Epikur Stilbonvorgeworfen und denjenigen, die der Meinung sind, das hchste Gut sei eine geistige Ver-fassung, die durch nichts zu erschttern sei.

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  • 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut | 183

    Unmglich knnte man sich dies als Erffnung der Epistulae morales insgesamtvorstellen. Warum eigentlich? Abgesehen von der Briefkonstellation (der Briefgibt sich als Antwortschreiben auf eine Anfrage von Lucilius) gibt es einige Aspek-te, die das es als wenig geboten htten erscheinen lassen.

    Es sind zwei Elemente der stoischen Gterlehre, die dem Alltagsempfindenbesonders gegen den Strich gehen mussten: (a) die kompromisslose Entwertungund Herabstufung aller ueren Gter zu gleichgltigen Dingen (indifferentia,) und (b) die daraus abgeleitete Unempfindlichkeit () des Wei-sen gegenber allen Gemtsregungen, was zum einen als Ding der Unmglichkeitangesehen und zum andern als Zustand grausamer Gefhlsklte ausgelegt wer-den konnte zumal ja die Stoiker selbst zugaben, der Weise kenne kein Mitleid.

    In beide Richtungen hat Seneca schon Vorarbeit geleistet. Er war (a) darangegangen, die scheinbaren Gter in ihrem Wert zu relativieren. Es wre aber zuwenig, wenn wir das einfach nur zu Protokoll nhmen. Denn wir sollten beach-ten, welcher Art die Gter sind, denen Seneca zu Leibe gerckt ist. Es sind nichtdie Gter, die gewhnlicherweise ohne Einschrnkung als gut empfunden wer-den, wie ein Sieg im Sport, die glckliche Geburt eines Kindes, der Genuss ei-nes guten Buches usw.: Natrlich sind auch dies schne Momente, die schnellwieder zunichte gemacht werden knnen und deren Fortdauer auerhalb unse-rer Macht steht. Doch es ist viel schwieriger, an ihnen zu erklren, warum mansich nicht trotzdem an ihnen freuen sollte, zumal einem die gute Erinnerung ansie nicht genommen werden kann. Statt dessen wendet sich Seneca Gtern zu,deren dunkle Facetten jedermann vertraut sind und deren Wert immens von derinnerenHaltungdessenabhngen, der sie benutzt: DerReichtum ist unvergleich-lich wertloser als der Besitz an Zeit (1,3); Solange man seine innere Gier nicht inden Griff bekommt, bleibt man bei allem Reichtum arm (2,6), dagegen ist Reich-sein leicht, wenn man sich am natrlichen Ma orientiert (2,6. 4,10); Wer nichtgelernt hat, ber dem Leben zu stehen, kann es aus Todesfurcht nicht genieen

    1 Genau auf dieser Klaviatur spielt Cicero, wenn er in der bereits erwhnten Rede Pro Murenaeben diesen Punkt, wie wenn es verschiedene wren, in vierfacher Variation vorbringt (Mur. 61):Sapientem gratia numquam moveri, numquam cuiusquam delicto ignoscere, neminem misericor-dem esse nisi stultum et levem; viri non esse neque exorari neque placari e.q.s.. Mit welcher ma-nipulativen Raffinesse Cicero hier amWerk ist, zeigt Leonhardt, Ciceros Kritik, 127130.2 Vgl. Seneca epist. 59,2f. mit hnlichen Beispielen.3 Das Problemwre nicht damit gelst, dassman einwendete, bei der nchstenNiederlage, beimTod des Kindes, beim Abbruch der Lektre usw. sei der Schmerz nur umso grer und deshalbsei auch hier von vornherein die stoische Ruhe () anzuraten: Wenn man diese Argumen-tation auch auf den Todesfall eines Angehrigen anwenden wrde, wre die Stoa um einen ihrergewichtigsten Trostgrnde in ihrer Konsolationsliteratur gebracht, nmlich um den des Wertesdes bereits gemeinsam verbrachten Lebens und des Fortlebens des Toten in der Erinnerung.

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    (4,46); Reichtumund hohe Stellung sindnur allzu vergnglich (8,36); An denGtern dieser Welt zu hngen, heit unfrei zu sein (8,7f.).

    Hinsichtlich (b) hatte Senecamit der Zielvorgabe, gleichmtig aus demLebenscheiden zu knnen (4,5 . . .ut possis aequo animo vitam relinquere) bereits ein An-wendungsbeispiel stoischer Ruhe vorgestellt, und zwar eines, in dem sie fr jedenerstrebenswert wirkt.

    Mit dem neunten Brief, einer Rechtfertigung der Freundschaft aus stoischerSicht,wagt Seneca nun zumersten Mal den Schritt, die stoischen Positionen auchin kontroversen Beispielen (und gegen Epikur!) zu verteidigen. Das Thema ist da-fr auerordentlich geschickt gestellt. Ich mchte das erst an anderer Stelle nochnicht vertiefen (vgl. aber unten Kapitel 4.3.2 ab S. 237). Hier nur so viel: Die Brief-anlage ermglicht es Seneca, sowohl die Vorurteile gegen die stoische Gterleh-re zu relativieren (die media sind nicht gleichwertig, sondern es gibt Unterschie-de zwischen ihnen), als auch den Bedenken gegenber der stoischen Apathie() den Zahn zu ziehen: Die Strke des Weisen grndet sich nicht etwa aufinnereGefhllosigkeit (daswar dasVorurteil), sondern auf innereUnbesiegbarkeit(das ist das, womit die Stoa wirbt). Dass der Megariker Stilpon, von dem der Briefausging, auch noch als eindrucksvolles exemplum fr ihren praktischenWert her-angezogen werden kann, ist Seneca natrlich hchst willkommen.

    Es passt zur offensiven Gesamtanlage des Briefes, dass hier gleich im ein-leitenden Satz der Begriff summum bonum zum ersten Mal fllt. Und Senecaverwendet ihn gleich noch ein zweites Mal, und zwar in einem Kontext, der ge-wachsenes Selbstvertrauen demonstriert und durch die Aufzhlungsreihe erstehymnische Anstze zeigt; zudem wird das summum bonum erstmals mit dem ty-pischen apagogischen Beweis verteidigt:

    9,15 (Der Weise mchte mglichst viele Freunde haben. Aber wenn das nicht mglich ist,wird er nichtsdestotrotz genauso glcklich leben) Summumbonumextrinsecus instrumen-ta non quaerit; domi colitur, ex se totum est; incipit fortunae esse subiectum si quam partemsui foris quaerit.

    Das hchste Gut sucht keine Hilfsmittel auerhalb; es wird bei daheim verehrt; es existiertganz und gar aus sich selbst heraus; es beginnt, dem Schicksal unterworfen zu sein, wennes einen Teil von sich drauen sucht.

    1 Folgerichtig fllt auch hier der Begriff incommodum zum ersten Mal, der zusammenmit seinempositiven Gegenstck commodum ebenfalls nach und nach zum Ersatzbegriff fr scheinbare G-ter bzw. bel wird. Im Unterschied zu fortuitum (s. oben S. 180, Anm. 2), das den kontingentenCharakter der ueren Gter hervorhebt (also betont, dass sie sind), dient das Wort-paar commodum/incommodumdazu, ihre inneren Unterschiede zu bezeichnen (also zu betonen,dass es innerhalb von ihnen und gibt.. Siehe auchunten Kapitel 5.1 abS. 255.

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  • 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut | 185

    4.2.2.3 Besser kleine Stiche als groe Siege: eine ZwischenreflexionWas fehlt jetzt eigentlich noch, um sagen zu knnen, es gebe kein Gut auer demhonestum?Eigentlichnichts, zumal Senecanoch imselbenBrief (9,19) inderRefle-xion ber Stilpons Zitat Ich habe alle meine Gter bei mir das summum bonumdurch einen kleinen Tugendkatalog konkretisiert: Omnia mea mecum sunt: iu-stitia, virtus, prudentia, hoc ipsum, nihil bonum putare, quod eripi possit. Wer einsund eins zusammenrechnen kann, wei, worauf Seneca hinauswill.

    Aber das ist wohl gar nicht der Punkt. Lucilius wei sowieso, worauf Se-neca hinauswill. Die stoischen Grunddogmen sind ihm, wie wir bereits bemerkthaben, lngst bekannt, so dass er Seneca sogar auf Verste gegen dieselben auf-merksam macht. Das Problem ist eher, dass sie ihn vielleicht nicht restlos ber-zeugen, auch wenn sie ihn anziehen. berreden durch Beweisketten ist deshalbnicht das Mittel der Wahl. Es ist die Methode frherer Schriften Senecas, abernicht die der Briefe.

    Offenbar wenden sich diese an ein Publikum, das berzeugt, aber nicht ber-rumpelt werdenmchte. Solche Vorbehalte waren ja keineswegs neu. Schon Cice-ro hatte seinemWiderwillen gegen stoische Argumentationsfallen Luft gemacht:

    Cic. fin. 4,7 Pungunt quasi aculeis interrogatiunculis angustis, quibus etiam qui assentiun-tur nihil commutantur animo et idem abeunt, qui venerant. res enim fortasse verae, certe gra-ves, non ita tractantur, ut debent [...] .

    Sie [d.h. die Stoiker] pieksen wie mit Stacheln mit ihren in die Enge treibenden Beweislein,durch die sich sogar diejenigen, die ihnen zustimmen, in keinster Weise im Innern vern-dern und genauso wieder fortgehen, wie sie gekommen waren. Die Inhalte mgen ja stim-men und wichtig sein aber sie werden nicht so angegangen, wie sie angegangen werdenmssen [...] .

    Auch wenn Cicero darauf hinauswill, die Rhetorik strker zum Zuge kommen zulassen, sowei sichdochSeneca indiesemPunktemit ihmeinig: EineabgepressteZustimmung ist keinen Pfifferling wert.

    Senecas eigenes Vorgehen scheint mir demgegenber am ehesten von einemIdeal geleitet zu sein, wie er es im 94. Brief beschreibt:

    1 S. oben S. 43.2 Senecas Abneigung gegen die typisch stoischen Beweisketten spiegelt sich vom 45. Brief an inzahlreichen Angriffen. An manchen Stellen wendet er sich zudem gegen ein Zuviel der Rhetorikin der philosophischen Unterweisung. So warnt er im 52. Brief, nachdem er Lucilius die Lektreder Alten anempfohlen hatte, vor rhetorisch brillierenden Zeitgenossen: 52,8 Ex his autem quisunt eligamus non eos qui verba magna celeritate praecipitant et communes locos volvunt et inprivato circulantur, sed eos qui vita docent, qui cum dixerunt quid faciendum sit probant faciendo[...] ; eum elige adiutorem quem magis admireris cum videris quam cum audieris.

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  • 186 | 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut

    94,41 (Auch praecepta und vor allem der persnliche Umgang mit weisen Leuten sindviel wert:) Minuta quaedam ut ait Phaedon animalia cummordent non sentiuntur, adeotenuis illis et fallens in periculum vis est; tumor indicatmorsumet in ipso tumore nullum vulnusapparet. Idem tibi in conversatione virorum sapientium eveniet: non deprehendes quemad-modum aut quando tibi prosit, profuisse deprendes.

    Ganz kleine Tiere, wie Phaidon sagt, merkt man gar nicht, wenn sie stechen, so eineschwache und ber die Gefahr hinwegtuschende Macht haben sie; die Schwellung zeigtdann den Stich an, und auch mitten auf der Schwellung zeigt sich keinerlei Wunde. Das-selbe wird dir im Umgang mit weisen Leuten widerfahren: Du wirst nicht merken, wie oderwann es dir ntzt, aber du wirst merken, dass es gentzt hat.

    Das knnte verstehen lehren,warumSeneca den im9. Brief errungenenArgumen-tationserfolg nicht auskostet und in triumphierenden Phrasen zu Ende fhrt: Esliegt ihm nichts an einem Triumph, weil er nichts wert wre. Und in Wirklichkeitist auch der 9. Brief kein Sieg, sondern nur ein weiterer Mckenstich, der in Lu-cilius arbeiten soll. Und nur weil Lucilius schon bereit dafr war, durfte dieserStich erfolgen. Seneca lotet mit ihm aus, wie weit Lucilius schon mitzugehenbereit ist.

    Die Fortschritte in den Formulierungen (wie z.B. die Neueinfhrung des Be-griffes summum bonum oder der ansatzweise hymnische Stil fr die Autarkie desWeisen im 9. Brief) sind nur bedingt dazu gedacht, Fortschritte beim Leser zu er-zeugen. Sie sind vielmehr Anhaltspunkte dafr, was Seneca glaubt, welche Fort-schritte der Leser mittlerweile gemacht hat.

    Wir knnten jetzt vieles dazu sagen, wie Senca durch kleine Bemerkungenund durch allmhliches Einschleusen stoischer Termini seinen Leser nach undnach darin bestrken mchte, die stoischen Erklrungen als die richtigen an-zusehen. So weigert er sich am Ende des 14. Briefes, eine Garantie dafr abzuge-ben, dass ein Rckzug aus der Politik auch wirklich Sicherheit verschaffe. Nichtshabe man vollkommen in der Hand, sagt er achselzuckend, und fgt, gleichsamunter Berufung auf eine gemeinsame Beweisgrundlage, hinzu: Bei allen Ent-scheidungen blickt der Weise auf die Handlungsintention, nicht auf das Ergeb-nis; die Anfnge nur sind in unserer Hand, ber das Resultat entscheidet dasSchicksal (consilium rerum omnium sapiens, non exitum spectat; initia in potes-

    1 Phaidon von Elis, der Schler des Sokrates, dessen Namen Platon durch den nach ihm be-nannten Dialog verewigte. Die unmittelbaren Sokratesnachfolger wie auch Platon wurden schonlngst nichtmehr als speziell einer Schule zugehrig empfunden. Ihre Lehren wurden sowohl imPeripatos als auch in der Stoa rezipiert.

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  • 4 Seneca, Epikur und das hchste Gut | 187

    tate nostra sunt, de eventu fortuna iudicat, 14,16). Aber es wrde zu weit fhren,all diesen Spuren gesonde


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