Standortauswahl – wie lassen sich Endlager in verschiedenen Wirtsgesteinen vergleichen?
Klaus Fischer-Appelt, GRS
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Standortauswahlgesetz (§ 1) : „Ziel des Standortauswahlverfahrens ist
in einem wissenschaftsbasierten und transparenten Verfahren
für die im Inland verursachten, insbesondere Wärme entwickelnden, radioaktiven Abfälle
den Standort für eine Anlage zur Endlagerung […] zu finden,
der die bestmögliche Sicherheit gewährleistet.“
Hierbei ist unter anderem vorgesehen, die Anzahl der Standortkandidaten in folgenden Schritten sukzessive einzuengen:
Auswahl für untertägige Erkundungen (§ 17)
Abschließender Standortvergleich und Standortvorschlag (§ 19)
Standortauswahlverfahren:
Quelle: @Fotolia/Jane
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Systeme in ihrer Gesamtheit sind nicht ohne weiteres gegeneinander abwägbar (insbesondere komplexe Endlagersysteme)!
Selbst einzelne Endlagerkomponenten in verschieden Wirtsgesteinen sind nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar (z.B. unterschiedliche sicherheitskonzeptionelle Anforderungen an Endlagerbehälter)
Je kleiner die zu bewertenden Teilsysteme sind, desto eher sind nachvollziehbare Einzelbewertungen möglich.
Vergleichsproblematik:
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Es gibt weltweit keine Methodik für einen sicherheitsgerichteten systematischen Vergleich
von Endlagersystemen in verschiedenen Wirtsgesteinen
Quelle: @Fotolia/Anton Ignatenco Quelle: @Fotolia/Tim UR
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VerSi: Durchführung Vergleichender Sicherheitsanalysen
BMU/BfS-Verbundforschungsvorhaben, Laufzeit 2007 – 2010, Teilvorhaben:
SR 2538: „Planerische Grundsatzfragen“ Endlagerkonzepte und Standortdaten für zwei Endlagersysteme in Tonstein und Steinsalz
SR 2580: „Szenarienentwicklung“ Zusammenstellung möglicher zukünftiger Entwicklungen der Endlagersysteme und Analyse der Auswirkungen auf den Einschluss
WS 2044: „Langzeitsicherheitsanalysen“ Quantitative Methode, Bewertung von Indikatorwerten auf Basis von probabilistischen Analysen mit Variation von Parameterwerten
SR 2589: „Evaluierung“ Entwicklung einer verbal-argumentativen Vergleichsmethodik inkl. Ableitung von qualitativen Bewertungsgrößen und -maßstäben
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Bei den Standorten, die zur Auswahl für den nächsten Untersuchungsschritt miteinander verglichen werden sollen,
wurde durch die Ergebnisse von Sicherheitsuntersuchungen gezeigt, dass die geowissenschaftlichen Kriterien des Arbeitskreises Auswahlverfahren (AkEnd) Endlagersuche eingehalten werden,
und eine zumindest begründete Aussicht auf Erfüllung der Anforderungen in einem späteren Genehmigungsverfahren (z.B. BMUB-Sicherheitsanforderungen) besteht.
Prinzipielle Eignung auf ausreichendem Sicherheitsniveau (bezogen auf den jeweiligen Kenntnisstand): Standorte, die den o.g. Anforderungen nicht genügen, würden erst gar nicht zum Vergleich anstehen.
Abwägung zwischen mehreren Standorten ggf. in verschiedenen Wirtsgesteinen erforderlich
Für eine Abwägung müssen über die o.g. Kriterien hinaus zusätzliche Qualitäts-merkmale herangezogen werden, z.B. die sicherheitsgerichtete Robustheit 5
Prämissen:
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Robustheit :
Unempfindlichkeit der Sicherheitsfunktionen eines Endlagersystems gegenüber
a) inneren und äußeren Einflüssen sowie gegenüber b) Ungewissheiten
a) Systemrobustheit Systemimmanente Unempfindlichkeit
gegenüber „Störungen“ (z.B. Inlandvereisung)
b) Aussagesicherheit Charakterisierbarkeit
und Prognostizierbarkeit
eines Endlagersystems
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Quelle: @Fotolia/Firma V
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Endlagersystemkomponenten und Sicherheitsfunktionen:
Sicherheitsfunktion: Eigenschaft oder ein im Endlagersystem ablaufender Prozess, die bzw. der in einem sicherheitsbezogenen System oder Teilsystem […] die Erfüllung der sicherheitsrelevanten Anforderungen gewährleistet (BMUB 2010).
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Schritt 1: Erstellung eines synoptischen Sachstandsberichtes
Vorbereitende Informationsgrundlage zum Standortvergleich Indikative (weitgehend objektive) Sach-Ebene, keine Bewertung
(=normative Werte-Ebene)
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Beschreibung der Sicherheitskonzepte und deren technischen Umsetzung entlang der einzelnen Endlagersystemkomponenten
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Schritt 2: Ableitung und Klassifizierung von Sicherheitsfunktionen
1. Rückhaltende Sicherheitsfunktionen (RSF): Wirkung dient primär der Radionuklidrückhaltung (i. S. des Einschlussgedankens) Werden nur den Komponenten zugeordnet, die innerhalb des
einschlusswirksamen Gebirgsbereiches (ewG) liegen Sind für die Robustheitsbewertung wesentlich
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Sicherheitsfunktions-Typen:
2. Integritätsbewahrende Sicherheitsfunktionen (ISF): Wirkung dient primär dem Schutz von Komponenten und damit auch der RSF Können Komponenten zugeordnet werden, die innerhalb oder außerhalb des ewG
liegen Können die Systemrobustheit der RSF gegenüber internen oder externen
Einwirkungen (z.B. thermische oder mechanische Lasten) steigern
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Schritt 2: Ableitung und Klassifizierung von Sicherheitsfunktionen Insgesamt ca. 60 Sicherheitsfunktionen, Beispiele:
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1. Rückhaltende Sicherheitsfunktionen (RSF): Komponente: Schachtverschluss:
Begrenzung von Lösungsbewegung oder Radionuklidtransport durch hydraulischen Widerstand (Dichtwirkung)
2. Integritätsbewahrende Sicherheitsfunktionen (ISF): Komponente: Deckgebirge:
Integritätserhalt des ewG: Schutz vor Erosion durch Inlandeis
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Schritt 3: Relevanzwichtung von Sicherheitsfunktionen
Relevanz: Bedeutsamkeit/Wichtigkeit der Rückhaltenden Sicherheitsfunktionen für die Einschlusswirkung des ewG
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Wichtung entlang von Ordinalskalen/Rangskalen:
5: Sicherheitskonzeptionell unverzichtbar / 4: Hohe Relevanz / 3: Mäßige Relevanz / 2: Geringe Relevanz /1: Vernachlässigbare Relevanz, irrelevant
Jeweils getrennt für 2 Zeiträume:
a) Übergangsphase: t < 10.000 Jahre (Entwicklung Versatz, Zerfallswärme, Gasdruckaufbau, Wirkungszeitraum von techn. Dichtsystemen wie Schacht- und Streckenverschlüsse etc.)
b) Stationäre Langzeitphase: t > 10.000 Jahre (Einschlusswirkung Versatz, Einwirkung von klimatischen Ereignissen etc.)
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Schritt 5a: Identifikation der sicherheitsrelevanten Parameter einer RSF
Problem: Sicherheitsfunktion ist nicht quantifizierbar/messbar
Ziel: Ermittlung und Auflistung der charakteristischen Parameter jeder Rückhaltenden Sicherheitsfunktion (quantifizierbar)
Tabellarische Darstellung:
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Schritt 5b: Bewertung des Vertrauens in die Charakterisierung der RSF-Parameter für den Ist-Zustand • Bewertungsmaßstäbe (geo)technische Komponenten
1. Aussagekraft der Untersuchungsmethoden zum Nachweis der Einhaltung der Auslegungsanforderungen (u.a. Genauigkeit)
2. Stand von W+T bei Konzeption und Erstellung der (geo)technischen Komponente 3. Komplexität des Aufbaus der (geo)technischen Komponente
(u.a. Upscaling von Laborversuchen)
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• Bewertungsmaßstäbe geologische Komponenten 1. Aussagekraft der Untersuchungsmethoden:
Genauigkeit, Repräsentanz 2. Heterogenität: Übertragbarkeit der Messergebnisse
auf die räumliche Variabilität der Parameter 3. Untersuchungsumfang: Betriebener Aufwand bei der Erhebung des
Parameterwertes
Ordinale Bewertung: 5: sehr hoch 4: hoch 3: mäßig 2: gering 1: sehr gering
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Schritt 5b: Beispiel Heterogenität: Übertragbarkeit der Messergebnisse auf die räumliche Variabilität der Parameter (Tonstein) Sedimentationsbedingungen: Vollmarine, landferne
Beckenbildungen Keine Deltaschüttungen Gleichmäßige Sedimentation Tektonische Ruhe Homogenität: Günstig für Charakterisierbarkeit
Syn- und postsedimentäre tektonische Beanspruchung: Mächtigkeitsschwankungen Schieferung Hoher Inkohlungsgrad, Geol. Störungen etc. Heterogenität: Ungünstig für Charakterisierbarkeit
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Schritt 5c: Bewertung der Prognostizierbarkeit der RSF-Parameter und ihrer Systemrobustheit
Prognostizierbarkeit Prozessverständnis
Ungewissheiten bei der Prognose der Veränderung eines Parameterwertes bei veränderten äußeren Randbedingungen
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Dilemma: Die Einschätzung der Systemrobustheit ist in der Praxis nicht von der Prognostizierbarkeit trennbar
Systemrobustheit:
Systemimmanente Unempfindlichkeit gegenüber „Störungen“ (z.B. Inlandvereisung)
Einbeziehung der entsprechenden Schutzwirkungen der integritätsbewahrenden Sicherheitsfunktionen ISF
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Schritt 5c: Prognostizierbarkeit / Systemrobustheit Beispiel:
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Systemrobustheit Zu einem bestimmten (aber nicht genau bekannten) Zeitpunkt nach Lösungsangriff wird sich die integrale Permeabilität der Streckenabdichtung infolge des Durchbruchs der Korrosionsfront um einen bestimmten (aber nicht exakt bekannten) Betrag erhöhen. Je geringer die Änderung dieses Parameterwertes (integrale Permeabilität) ist, desto höher ist i.d.R. die Systemrobustheit.
Prognostizierbarkeit Prozessverständnis Permeabilitätserhöhung einer Streckenabdichtung aus Salzbeton bei Zutritt Mg-haltiger Lösung: Prognose des Ablaufs und der Geschwindigkeit der Korrosion sind mit Ungewissheiten behaftet.
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Erweiterung der Spannweite infolge von Ungewissheiten im Prozessverständnis
Schritt 5c: Zusammenhang Charakterisierbarkeit, Prognostizierbarkeit, Systemrobustheit
Die Ungewissheiten bei der Charakterisierung eines Parameterwertes zum Istzustand erhöhen sich um die Prognoseungewissheiten. Dies überlagert die Bestimmung der tatsächlichen prozessbedingten Änderung des Parameterwertes . 18
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t t1 t2
Parameterspannweite infolge von Ungewissheiten bei der Charakterisierung des Istzustandes
„Wahre“ prozessbedingte Änderung des Parameterwertes ~ Maß für Systemrobustheit
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Schritt 5c: Beispiel Systemrobustheit: Kaltzeitliche Auswirkungen auf die Einschlusswirksamkeit der Endlagersysteme
Einflüsse: • Bildung von glazialen Erosionsrinnen • Permafrost • Reaktivierung des Salzfließens durch
Eisauflast • Temperaturspannungen • etc.
Indikatoren für Systemrobustheit: • Tiefe der Endlager (!!) • Geomechanisch stabiles Verhalten bei
Auflast • Hoher Erosionswiderstand (Deckgebirge) • Lage außerhalb ehemaliger
Vereisungsgrenzen • etc.
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Schritt 5d: Bewertung des Vertrauens in die Erfüllung der sicherheitskonzeptionellen Anforderungen an die RSF-Parameter
Die bisherigen Robustheitsbewertungen in den Schritten 5b und 5c sind noch nicht hinreichend aussagekräftig:
Für die Gesamtrobustheit eines RSF-Parameters ist zu untersuchen, in welchem Verhältnis die Lage der Parameterspannweite zu den sicherheitskonzeptionellen Anforderungen an den Parameter steht
Bewertung jeweils für:
t < 10.000 a und t > 10.000 a
Wahrscheinliche und weniger wahrscheinliche Ereignisse
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Schritt 5d: Bewertung des Vertrauens in die Erfüllung der sicherheitskonzeptionellen Anforderungen an die RSF-Parameter
Sicherheitskonzeptionelle Mindestanforderung
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Struktur Gesamtmethodik
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SynoptischerSachstandsbericht
Globale Standort-
charakterisierung
Ableitung vonSicherheitsfunktionen
RelevanzwichtungSicherheitsfunktionen
Auswirkungen auf den RSF-Parameter
Vergleich mit Auslegungsanforderungen
Vertrauen in die Erfüllung der Auslegungs-anforderungen an den RSF-Parameter
über den Nachweiszeitraum
Robustheit der RSF
MöglicheEinleitungsereignisse
SchutzwirkungISF
Korrelation Relevanz-Robustheit (nur RSF)
Vertrauen in die Charakterisierung
Rückhaltende SFRSF-Parameter
Ergebnisanalyse
AnforderungenAKEnd, BMU
SR 2580
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SR 2538
WS 2044
SR 2538
SR 2538
Aggregation der Einzelbewertungen der
Parameter zu einer Gesamtbewertung der
zugehörigen Sicherheitsfunktion
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Schritt 6: Korrelation Relevanz-Robustheit
Matrix zur Ableitung von potentiellen Robustheitsdefiziten:
Erwartung: Sicherheitsfunktionen sollten eine ihrer Relevanz entsprechend angemessene Robustheitsklasse aufweisen
Ergebnisse < -1 sind Hinweise auf wenig robuste Sicherheitsfunktionen
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Errechnete Zahlenwerte dienen ausschließlich zur Identifikation potentieller Robustheitsdefizite.
Es erfolgt keine mathematische Verrechnung untereinander.
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Schritt 6: Korrelation Relevanz-Robustheit Bewertungsmatrix
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Schritt 7: Ergebnisanalyse
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Schritte:
1. Reflektion der durchgeführten Robustheitsbewertung, insbesondere des Teilschritts, bei dem eine geringe Robustheitsbewertung erfolgte, die zu dem identifizierten Robustheitsdefizit geführt hat
2. Sicherheitskonzeptionelle Bedeutung: Diskussion der Auswirkung des Robustheitsdefizits auf die Sicherheitsperformance des gesamten Endlagersystems
3. Korrekturmöglichkeiten, z.B.: − Reduzierung der Ungewissheiten bei Charakterisierung und Prognose durch F&E − Erhöhung des Untersuchungsaufwandes − Optimierung der technischen Auslegung des Endlagers etc. − Modifikationen am Sicherheitskonzept
Quelle:@ Fotolia/rcx
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Schlussbemerkungen
1. Das verbal-argumentative Abwägungsverfahren trägt dazu bei, eine zielgerichtete und nachvollziehbare Auswahlentscheidung vorzunehmen.
2. Vorteil: Der Anwender ist „gezwungen“, sich detailliert mit der Funktionsweise komplexer Endlagersysteme auseinanderzusetzen und seine Bewertungen jeweils nachvollziehbar zu begründen.
3. Wichtig: Anwender müssen aus Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen bestehen.
4. Ideal: Methodik wird durch mehrere Teams parallel angewendet.
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Aber: Keine Berücksichtigung betriebssicherheitlicher Aspekte. Sicherheitstechnische Robustheit ist sicher nicht das einzige Abwägungskriterium:
Parallel können noch weitere Abwägungskriterien (z.B. Partizipationsbereitschaft / Akzeptanz der Öffentlichkeit, Regionalentwicklungschancen etc. ) in den Entscheidungsprozess einbezogen werden.
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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Link zu den VerSi-Abschlussberichten: http://www.grs.de/search/node/versi
Quelle:@ Fotolia/rcx