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STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

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Jahresgutachten 2003/04 SACHVERSTÄNDIGENRAT zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN
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Jahresgutachten 2003/04

SACHVERSTÄNDIGENRATzur Begutachtung dergesamtwirtschaftlichen Entwicklung

STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN –

STEUERSYSTEM REFORMIEREN

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SACHVERSTÄNDIGENRATzur Begutachtung dergesamtwirtschaftlichen Entwicklung

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STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Jahresgutachten 2003/04

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Sachverständigenrat zur Begutachtungder gesamtwirtschaftlichen EntwicklungStatistisches BundesamtGustav-Stresemann-Ring 1165180 WiesbadenTel.: 0611-75 23 90Fax: 0611-75 25 38E-Mail: [email protected]: http://www.Sachverstaendigenrat.org

Erschienen im Dezember 2003Preis: € 26,– [D] Bestellnummer: 7700000-04700Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, BerlinISBN: 3-8246-0707-7

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Vorwort

1. Gemäß § 6 Absatz 1 des Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamt-wirtschaftlichen Entwicklung vom 14. August 1963 in der Fassung vom 8. November 1966 und vom 8. Juni 19671)

legt der Sachverständigenrat sein 40. Jahresgutachten vor.2)

Das 40-jährige Bestehen hat der Rat zum Anlass genommen, auf seine Entwicklung zurückzuschauen, seine Positionund Wirkung als Gremium der wissenschaftlichen Beratung im Spannungsfeld zur Politik zu erörtern und Perspekti-ven für seine zukünftige Arbeit zu diskutieren. Dazu fand am 6. Mai 2003 in den Räumlichkeiten der KfW in Berlinein Symposium statt, zu dem Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Medien geladen waren.

2. Die deutsche Volkswirtschaft konnte sich auch in diesem Jahr nicht aus der Stagnation lösen; das Bruttoinlands-produkt verharrte auf dem Vorjahresniveau. Vor dem Hintergrund einer robusten weltwirtschaftlichen Belebung wer-den jedoch im kommenden Jahr die positiven außenwirtschaftlichen Einflüsse allmählich auf die Binnenwirtschaftausstrahlen. In geringerem Ausmaß hängt die wirtschaftliche Entwicklung im Jahr 2004 auch davon ab, ob und in-wieweit die vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Gesetze − vor allem das Vorziehen der dritten Stufe derSteuerreform und die begleitenden Finanzierungsmaßnahmen − in Kraft treten werden.

Der seit drei Jahren andauernde Rückgang der Erwerbstätigkeit setzt sich im Jahr 2004 zunächst fort, im weiterenJahresverlauf nimmt die Beschäftigung dann aber leicht zu. Im Jahresmittel wird die Zahl der Erwerbstätigen gleich-wohl zurückgehen. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen wird geringfügig über dem Vorjahresniveau liegen.

3. Der Titel des Jahresgutachtens 2003/04 lautet:

STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Der Sachverständigenrat unterstreicht damit die Bedeutung der Finanzpolitik und der Steuerpolitik im Rahmen einerlangfristig orientierten Wirtschaftspolitik für mehr Wachstum und Beschäftigung. Die Lage der öffentlichen Haus-halte hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert. Durch die absehbare demographische Entwick-lung kommen in den nächsten Jahrzehnten erhebliche zusätzliche Belastungen auf die Gebietskörperschaften undSozialversicherungen zu, die ein rechtzeitiges Umsteuern der Politik verlangen, um die Tragfähigkeit der öffentli-chen Finanzen nicht zu gefährden. Die anhaltende Überschreitung der Defizitgrenzen in einigen Mitgliedstaaten be-droht zudem den Stabilitäts- und Wachstumspakt, einen Grundpfeiler der Europäischen Währungsunion. Gefordertist vor diesem Hintergrund eine Finanzpolitik, die ihre Energien nicht auf kurzfristig wenig effektive, langfristig oftsogar schädliche Versuche einer diskretionären Stabilisierung konjunktureller Schwankungen konzentriert, sondernmit einer konsistenten Konsolidierungsstrategie die Solidität der Staatsfinanzen zurückgewinnt. Eine zentrale Be-deutung für eine die Wachstumskräfte stärkende Finanzpolitik kommt der Steuerpolitik zu. Ein systematisches, in-vestitionsfreundliches Steuersystem trägt in entscheidender Weise zu günstigen Rahmenbedingungen für mehrWachstum und mehr Beschäftigung bei und erleichtert so die notwendige Konsolidierung. Der Sachverständigenratdiskutiert vor diesem Hintergrund zwei mögliche Optionen für eine grundlegende Reform der Einkommens- und Un-ternehmensbesteuerung und plädiert für den Übergang zu einer dualen Einkommensteuer.

4. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr vor allem auf dem Arbeitsmarkt eine Reihe mutiger und beherzter Re-formen auf den Weg gebracht, die mehr darstellen als nur einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Dies schließtKritik im Einzelnen nicht aus: Elemente der beschlossenen Arbeitsmarktreformen, beispielsweise im Bereich desKündigungsschutzes, sind zu zaghaft angegangen worden. In nicht unwichtigen Details der einzelnen arbeitsmarkt-und sozialpolitischen Maßnahmen, beispielsweise bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe,wurden wesentliche Anreizeffekte nicht hinreichend beachtet. Der Sachverständigenrat legt deshalb in seinem aktu-ellen Jahresgutachten konkretisierende und ergänzende Vorschläge für Reformen auf dem Arbeitsmarkt vor.

1) Das Gesetz mit den Änderungen durch das Änderungsgesetz vom 8. November 1966 sind als Anhang I und die den Sachverständigenrat betref-fenden Bestimmungen des „Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ vom 8. Juni 1967 (§§ 1 bis 3) alsAnhang II angefügt. Wichtige Bestimmungen des Sachverständigenratsgesetzes sind im jeweiligen Vorwort der Jahresgutachten 1964/65 bis1967/68 erläutert.

2) Eine Liste der bisher erschienenen Jahresgutachten und Sondergutachten ist als Anhang III abgedruckt.

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Auf anderen Feldern wurden wichtige Weichenstellungen versäumt: Im Gesundheitswesen stellt das GKV-Moderni-sierungsgesetz zwar einen ersten Schritt hin zu einer umfassenderen Gesundheitsreform dar. Eine richtungsweisendeNeuorientierung der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung wurde jedoch noch nicht in Angriff ge-nommen. Der Sachverständigenrat erneuert deshalb sein Plädoyer für eine Finanzierung der Gesetzlichen Kranken-versicherung über ein Gesundheitsprämienmodell.

Erhebliche Sorge bereitet in diesem Jahr die Entwicklung der öffentlichen Haushalte. Mit einem staatlichen Defizitvon 4,1 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt wurde die Vorgabe des Stabilitäts- und Wachstums-pakts im zweiten Jahr in Folge verletzt. Und auch im kommenden Jahr wird es voraussichtlich nicht gelingen, dieDefizitquote unter die 3-vH-Grenze zurückzuführen. Dies bedroht den Stabilitäts- und Wachstumspakt in seiner Sub-stanz. Vor dem Hintergrund der gegen Deutschland, Frankreich und Portugal laufenden Defizitverfahren spricht sichder Sachverständigenrat für eine strikte Anwendung der Regeln des Pakts aus. Ein erneutes Überschreiten der Defi-zitgrenze im kommenden Jahr, ohne dass dies mit Sanktionen verbunden wäre, riskiert die Demontage des Pakts.

Konsolidierungsbedarf besteht nicht nur mit Blick auf die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Eine Ana-lyse der langfristigen Belastungen für die öffentlichen Haushalte und Sozialsysteme aus der zukünftigen demogra-phischen Entwicklung zeigt, dass bei unveränderter Politik die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen nicht gewährleistetist. Erforderlich ist demnach das Nutzen weiterer Konsolidierungsspielräume. Die Bereitschaft, entschlossen Sub-ventionen abzubauen, ist gegenwärtig vorhanden. Der Sachverständigenrat diskutiert in seinem aktuellen Jahresgut-achten die Grundelemente einer solchen Konsolidierungsstrategie und schlägt den Abbau von Finanzhilfen und Steu-ervergünstigungen in einem Gesamtvolumen von mindestens 25 Mrd Euro vor.

Im Bereich der Steuerpolitik bestehen gegenwärtig erhebliche Defizite. Das deutsche Einkommensteuerrecht wirdzunehmend als chaotisch wahrgenommen. Steuerpolitische Einzelmaßnahmen fügen sich nicht in eine erkennbareSystematik ein: Der deutschen Steuergesetzgebung fehlt das Leitbild, an dem sich die Haushalte und Investoren inihrer Einkommensdisposition langfristig ausrichten könnten. Der Sachverständigenrat stellt in diesem Zusammen-hang zwei grundlegende Reformoptionen zur Diskussion und plädiert für eine Reform der Einkommens- und Unter-nehmensbesteuerung mit einem Übergang zu einer dualen Einkommensteuer. Hierbei werden die unterschiedlichenEinkunftsarten zu zwei Kategorien zusammengefasst: Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen. Kapitaleinkom-men werden mit einem niedrigen proportionalen Satz besteuert, Arbeitseinkommen − einschließlich der Unterneh-merlöhne − werden weiterhin progressiv besteuert. Der Steuersatz auf Kapitaleinkommen sollte bei etwa 30 vH lie-gen; bei den Arbeitseinkommen könnte sich der Eingangssteuersatz auf 15 vH und der Spitzensatz auf etwa 35 vHbelaufen. Die Körperschaftsteuer wird in eine umfassende Besteuerung der Kapitaleinkommen integriert. Die Ge-werbesteuer/Gemeindewirtschaftssteuer ist durch ein System kommunaler Zuschläge auf die Steuern auf Kapitalein-kommen und Arbeitseinkommen zu ersetzen. Ein solch grundlegender Umbau des Steuersystems beseitigt die zahl-reichen Verzerrungen, die das heutige System an der Schnittstelle von Einkommens- und Unternehmensbesteuerungaufweist, es schafft ein investitionsfreundlicheres Umfeld und stärkt so die Wachstumskräfte der deutschen Volks-wirtschaft.

5. Der gesetzlichen Regelung entsprechend schied Professor Dr. Dr. h.c. Horst Siebert, Kiel, am 28. Februar 2003aus dem Sachverständigenrat aus. Herr Siebert hat dem Sachverständigenrat zwölf Jahre angehört.

Als Nachfolger von Herrn Siebert wurde Professor Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Franz, Mannheim, durch den Bun-despräsidenten für die Amtsperiode bis zum 28. Februar 2008 in den Sachverständigenrat berufen.

6. Der Sachverständigenrat hatte Gelegenheit, mit dem Bundeskanzler, dem Bundesminister der Finanzen, demBundesminister für Wirtschaft und Arbeit sowie der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung aktu-elle wirtschafts- und sozialpolitische Fragen zu erörtern.

7. Der Präsident, der Vizepräsident und weitere Mitglieder des Vorstands der Deutschen Bundesbank standen wiein den vergangenen Jahren dem Sachverständigenrat für ein Gespräch über die wirtschaftliche Lage und deren abseh-bare Entwicklung sowie über konzeptionelle und aktuelle Fragen der Geld- und Währungspolitik zur Verfügung.

Mit Unterstützung der Deutschen Bundesbank konnten der Sachverständigenrat und das Ifo Institut, München, am28. März 2003 eine Konferenz zum Thema „Arbeitsmarktreformen im Niedriglohnbereich“ durchführen.

8. Ein ausführliches Gespräch über aktuelle arbeitsmarktpolitische Themen führte der Sachverständigenrat mit demVorstandsvorsitzenden, einem Mitglied des Vorstands und leitenden Mitarbeitern der Bundesanstalt für Arbeit, Nürn-berg.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, hat dem Sachverständi-genrat Datenmaterial aus seinem Betriebspanel zur Verfügung gestellt.

9. Mit Dr. Klaus Regling, Generaldirektor bei der Europäischen Kommission, diskutierte der Sachverständigenratdie konjunkturelle Lage und die wirtschaftlichen Aussichten für das Jahr 2004 in den Ländern der EuropäischenUnion sowie Fragen des Stabilitäts- und Wachstumspakts und Aspekte der Erweiterung der Europäischen Union.

Vorwort

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10. Wie in jedem Jahr konnte der Sachverständigenrat auch in diesem Jahr mit den Präsidenten und leitenden Mit-arbeitern der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, des Bundesverbandes der Deutschen Indus-trie, des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks sowie mit führenden Vertretern des Deutschen Gewerkschafts-bundes und des Deutschen Industrie- und Handelskammertages aktuelle wirtschafts- und beschäftigungspolitischeFragestellungen erörtern.

11. Mit den Konjunkturexperten der sechs großen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute diskutierte derSachverständigenrat die Lage der deutschen Wirtschaft sowie weltwirtschaftliche Perspektiven.

12. Mit Herrn Karl-Burkhard Caspari, Vizepräsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Bonn,führte der Sachverständigenrat ein Gespräch zur Situation der Versicherungswirtschaft.

13. Professor Dr. Christoph Spengel, Gießen, hat für den Sachverständigenrat eine ausführliche Expertise überMöglichkeiten der Weiterentwicklung der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung in Deutschland erstellt undumfangreiche Berechnungen zu den gegenwärtigen Kapitalkosten und effektiven Steuerbelastungen durchgeführt.

14. In einer gemeinsamen Expertise haben Professor Dr. Hans Fehr, Würzburg, und Dr. Heinrich Jess, Berlin, dieAnreiz- und Verteilungswirkungen des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften sowie einerReform der Gesetzlichen Krankenversicherung aufgezeigt und hierzu umfangreiche Berechnungen durchgeführt.

15. Professor Dr. Bernd Raffelhüschen, Freiburg i. Br., und seine Mitarbeiter haben für den SachverständigenratBerechnungen zur Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte in Deutschland (Generationenbilanzierung) entspre-chend den Vorgaben des Rates vorgelegt.

16. In einer Expertise hat Professor Dr. Friedrich Breyer, Konstanz, zur Frage der Reform der Systeme der SozialenSicherung Stellung genommen.

17. Das Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht, München, Abteilung Rech-nungslegung und Steuern, hat den Rat in Fragen der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für eine Einfüh-rung der dualen Einkommensteuer in Deutschland beraten.

18. Professor Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Rüthers, Konstanz, stand dem Sachverständigenrat in Fragen des gesetzli-chen Kündigungsschutzes zur Seite.

19. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat auch in diesem Jahr wieder die Ergebnisse der mit demSachverständigenrat erarbeiteten Herbstumfrage, die die Kammern durchgeführt haben, erörtert und dadurch die Ur-teilsbildung des Rates über die wirtschaftliche Lage der Unternehmen und die Perspektiven für das kommende Jahrsehr erleichtert. Der Sachverständigenrat weiß es sehr zu schätzen, dass die Kammern und ihre Mitglieder die nichtunerheblichen zeitlichen und finanziellen Belastungen auf sich nehmen, die mit dieser regelmäßigen Umfrage ver-bunden sind.

20. Umfangreiches Datenmaterial für seine Analysen über wichtige Industrieländer und für seine geld- und wäh-rungspolitischen Ausführungen stellten die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, derInternationale Währungsfonds, die Europäische Zentralbank, die Deutsche Bundesbank und die Europäische Kom-mission dem Rat zur Verfügung.

Ergänzende Informationen zu ausgewählten arbeitsmarktpolitischen Fragestellungen (Arbeitslosengeld II, Kapitalfür Arbeit, Berufsausbildung) erhielt der Rat vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, derKfW sowie vom Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn.

Botschaften, Ministerien und Zentralbanken des Auslands haben den Rat in vielfältiger Weise unterstützt.

21. Bei den Abschlussarbeiten an dem vorliegenden Gutachten fanden wir wieder wertvolle Unterstützung durchProfessor Dr. Peter Trapp, Münster. Ihm gilt der besondere Dank des Rates.

22. Die Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt war auch in diesem Jahr ausgezeichnet. Wie in den ver-gangenen Jahren haben sich viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Amtes in weit über das Normale hinausge-hendem Maße für die Aufgaben des Rates eingesetzt. Dies gilt besonders für die Angehörigen der Verbindungsstellezwischen dem Statistischen Bundesamt und dem Sachverständigenrat. Der Geschäftsführer, Herr Leitender Regie-rungsdirektor Wolfgang Glöckler, und sein Stellvertreter, Herr Oberregierungsrat Bernd Schmidt, sowie die ständi-gen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Frau Anita Demir, Frau Monika Scheib, Herr Klaus-Peter Klein, Herr UweKrüger, Herr Volker Schmitt und Herr Hans-Jürgen Schwab, haben den Rat mit Tatkraft und Anregungen hervorra-gend unterstützt. Allen Beteiligten zu danken, ist uns ein ganz besonderes Anliegen.

Die Statistischen Ämter stellten dem Sachverständigenrat für eine Untersuchung der Verteilung der Markteinkom-men und der Einkommensteuerschuld in Deutschland faktisch anonymisiertes Stichprobenmaterial aus der Lohn-und Einkommensteuerstatistik für die Veranlagungsjahre 1992, 1995 und 1998 zur Verfügung.

Vorwort

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23. Auch dieses Jahresgutachten hätte der Sachverständigenrat ohne die unermüdliche Arbeit seiner wissenschaftli-chen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht erstellen können. Dem Stab des Rates gehörten während der Arbeiten andiesem Gutachten an:

Dr. Martin Albrecht, Dr. Elke Baumann, Dr. Oliver Bode, Diplom-Volkswirt Michael Böhmer, Dr. Christhart Bork,Dr. Annette Fröhling, Dr. Martin Gasche, Dr. Rafael Gerke und Dr. Stephan Kohns.

Ein besonderes Maß an Verantwortung für die wissenschaftliche Arbeit des Stabes hatte der Generalsekretär desSachverständigenrates, Diplom-Volkswirt Jens Ulbrich, zu tragen. Sein Vorgänger, Dr. Jens Weidmann, hat bis zuseinem Ausscheiden im Frühjahr 2003 wertvolle Anregungen für dieses Jahresgutachten gegeben.

Fehler und Mängel, die das Gutachten enthält, gehen allein zu Lasten der Unterzeichner.

Wiesbaden, 7. November 2003

Wolfgang Franz Jürgen Kromphardt Bert Rürup Axel A. Weber Wolfgang Wiegard

Vorwort

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I n h a l t

Seite

Erstes Kapitel: Eine kürzere Fassung Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren . . . . . . . . . . 1

I. Weltwirtschaft: Aufschwung bei anhaltenden Unsicherheiten . . . . . . . 3

II. Deutschland: Außenwirtschaftliche Belebung bei schwacher Binnennachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004: Konjunktur-hoffnungen ruhen auf der Weltwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

III. Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren . . . . . . . . . . 12

1. Öffentliche Haushalte sanieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2. Steuerpolitik: Vom Chaos zum System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

3. Lohnpolitik und Arbeitsmarkt: Chancen für mehr Beschäftigung verantwortungsvoll wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

4. Geldpolitik: Revision der geldpolitischen Strategie . . . . . . . . . . . 26

Zweites Kapitel: Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003 . . . . . . . . . . . . 27

I. Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten . . . . . . . . . 27

1. Vereinigte Staaten: Erholung bei expansiver Wirtschaftspolitik . . 28Exkurs: Ist das Leistungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

2. Japan: Wende zum Besseren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

3. Schwellenländer auf dem Pfad der wirtschaftlichen Erholung . . . 43

4. Institutionelle Regelwerke: Stillstand und Fortschritt . . . . . . . . . . 44

II. Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld . . . . . . . . . . 56

1. Konjunkturelle Belebung ließ weiter auf sich warten . . . . . . . . . . 56

2. Der monetäre Rahmen im Euro-Raum – Geldpolitik weiterhin expansiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

Exkurs: Strategieanpassung der Europäischen Zentralbank – Auf dem Weg zur Inflationssteuerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

3. EU-Osterweiterung und institutionelle Entwicklungen . . . . . . . . . 92Beitrittsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen . . . . . . . . . . . 92Exkurs: Konvergenz zwischen den Beitrittsländern und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98Konvent zur Zukunft Europas - Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101Änderung der Abstimmungsregeln im EZB-Rat . . . . . . . . . . . . 104Reform der Europäischen Agrarpolitik: Zu kurz gesprungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

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III. Deutschland in der Stagnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

1. Binnenkonjunktur bleibt schwach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109Schwaches Potentialwachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109Anhaltende Investitionsschwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110Konsum: Zögerliche Verbesserung der Konsumentenstimmung 120Volatiler Außenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124Entstehungsseite: Industrie und Dienstleistungen schwach . . . . 128Preisentwicklung: Niedrige Inflationsraten – aber keine Deflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

2. Arbeitsmarkt: Weiterhin Warten auf die Wende . . . . . . . . . . . . . . 132Erwerbstätigkeit und Zahl der Erwerbspersonen rückläufig . . . 132Arbeitslosigkeit weiter gestiegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134Berufsausbildungsstellenmarkt angespannt . . . . . . . . . . . . . . . . 136Arbeitsmarktreformen und die Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142Tarifpolitik: Viel Streit bei geringem Verteilungsspielraum . . . 158

3. Öffentliche Finanzen: Ein ausgeglichener Staatshaushalt in weiter Ferne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Defizitquote des Staates übersteigt 4 vH-Marke . . . . . . . . . . . . 165Weiterer Anstieg der Staatsausgaben – nur leichte Zunahme der Einnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167Bund, Länder und Gemeinden: defizitäre Haushalte auf allen Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167Steueraufkommen leicht steigend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176Schuldenstand weiter zunehmend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179Bedeutende Reformvorhaben im Bereich der öffentlichen Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

IV. Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen . . . 194

1. Gesetzliche Krankenversicherung: Reformschritte und fortbestehender Reformdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Die finanzielle Lage der Gesetzlichen Krankenversicherung . . . 195Gesundheitsreform: Nur eine Atempause . . . . . . . . . . . . . . . . . 195Reform des Finanzierungssystems: Pauschalprämie versus Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203Gesundheitsprämienmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208Vergleich des Gesundheitsprämienmodells mit der Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211Mischformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

2. Rentenversicherung: Vor einer Fortentwicklung der Rentenreform 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

Die finanzielle Lage der Gesetzlichen Rentenversicherung . . . . 216Reformvorschläge und Reformvorhaben in der Gesetzlichen Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters . . . . . . . . . . . . 222

Inhalt

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Modifikation der Rentenanpassungsformel: der Nachhaltig-keitsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224Reformvorhaben der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

3. Pflegeversicherung: Reform unvermeidlich . . . . . . . . . . . . . . . . . 230Die finanzielle Lage der Sozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . 230Reformvorschlag der Rürup-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Drittes Kapitel: Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004 . . . . . 234

I. Überblick: Konjunkturhoffnungen ruhen auf der Weltwirtschaft . . . . 234

II. Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236Kräftige Belebung der Weltkonjunktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236Moderate Erholung im Euro-Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237Deutschland: Nur verhaltene Erholung trotz kräftiger Impulse von außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Viertes Kapitel: Öffentliche Haushalte sanieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

I. Wirtschaftspolitik im ersten Jahr der 15. Legislaturperiode . . . . . . . . . 249

II. Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert . . . . . . . . 256Ausgestaltung und Begründung des Stabilitäts- und Wachstumspakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257Hat der Pakt versagt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260Die aktuelle Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262Der Pakt vor der Zerreißprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264Fazit: Der Pakt ist besser als sein Ruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

III. Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern . . . . . . . . . . . . . . . . 270Nachhaltigkeit, Tragfähigkeit, explizite und implizite Staats-schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270Quantifizierung von Tragfähigkeitslücken und Konsolidierungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276Bestimmungsgründe der Tragfähigkeitslücke und Sensitivitätsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277Rentenreform und Tragfähigkeitslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280Fazit: Tragfähigkeitslücken berechnen, aber vorsichtig interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

IV. Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen . . . . . . . . . . . . . . . 283Grundsätzliche Fragen zur Konsolidierungsstrategie . . . . . . . . . 284Mögliche Ansatzpunkte einer konkreten Konsolidierungs-strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288Konsolidierung durch Rückführung von Finanzhilfen . . . . . . . . 289Konsolidierung durch Rückführung der aktiven Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293Konsolidierung durch die Abschaffung von Steuer-vergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

V. Föderalismus mutig reformieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

Inhalt

XI

Page 14: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Seite

Fünftes Kapitel: Die Politikbereiche im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . 308

I. Steuerpolitik: Vom Chaos zum System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308Verschlechterung der steuerlichen Rahmenbedingungen . . . . . . 309Weiter schwindende Systematik und zunehmende Schedularisierung der Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316Kriterien für und Ausblick auf eine Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324Steuerreformoption I: Integration von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328Steuerreformoption II: Duale Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . 333Vergleich der Steuerreformoptionen des Sachverständigenrates mit dem „Karlsruher Entwurf“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341Schlussfolgerungen: Zehn Thesen zur Steuerreform . . . . . . . . . 347Exkurs I: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer dualen Einkommensteuer in Deutschland . . . . . . . . . . . . . 348Exkurs II: Duale Einkommensbesteuerung in Finnland, Norwegen und Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

II. Arbeitsmarkt: Chancen für neue Arbeitsplätze verantwortungsvoll wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

1. Die Verantwortung der Tarifvertragsparteien: Auf einen beschäftigungsfreundlichen Kurs einschwenken . . . . . . . . . . . . . . 361

2. Die Verantwortung des Gesetzgebers: Kurs bei Arbeitsmarkt-reformen halten, weitere Herausforderungen annehmen . . . . . . . . 378

2.1 Nach der Reform ist vor der Reform: Hartz und danach . . . . . . . . 378

2.2 Kündigungsschutz: Mehr Rechtssicherheit und Chancengleichheit 382Die Problematik des geltenden Kündigungsschutzrechts . . . . . . 383Reform des gesetzlichen Kündigungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . 388

2.3 Arbeitslosenversicherung und Mindestsicherung: Reformen ausbauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

Arbeitslosenversicherung: Arbeitsanreize stärken, Quersubventionierung verringern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392Ein Reformvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397Mindestsicherung: Unzureichende Anreize zur Arbeitsaufnahme 402

III. Europäische Geldpolitik: Preisniveaustabilität erreicht . . . . . . . . . . . . 403Zielgerichtete Geldpolitik fortgesetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404Geldpolitische Strategie mit der Praxis in Einklang gebracht . . 407Ausblick auf das Jahr 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

Analysen zu ausgewählten Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

I. Das Produktionspotential in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

II. Tragfähigkeit der Finanzpolitik: Messkonzepte und Datenbasis . . . . . 425

III. Finanzpolitik in der Europäischen Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . 437

IV. Verteilung der Markteinkommen und der Einkommensteuerschuld in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456

Inhalt

XII

Page 15: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Seite

Anhang

I. Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . 473

II. Auszug aus dem Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

III. Verzeichnis der Gutachten des Sachverständigenrates . . . . . . . . . . . . 476

IV. Methodische Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478

V. Statistischer Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489Allgemeine Bemerkungen und Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489Erläuterung von Begriffen aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen für Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490Verzeichnis der Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494Tabellenteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

A. Internationale Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497B. Tabellen für Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529

I. Makroökonomische Grunddaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529II. Ausgewählte Daten zum System der Sozialen Sicherung . . 606

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623

Inhalt

XIII

Page 16: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ve r z e i c h n i s d e r S c h a u b i l d e r i m Te x t

Seite Seite1 Voraussichtliche Wirtschaftsentwicklung . . .

2 Konjunkturimpulse der Geldpolitik und derFinanzpolitik seit dem Jahr 2000 . . . . . . . . . .

3 Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts unddes Handelsvolumens in der Welt . . . . . . . . .

4 Gesamtwirtschaftliche Entwicklung und derBeitrag der Verwendungskomponenten . . . .

5 Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo inRelation zum Produktionspotential in denVereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6 Entwicklung des realen Bruttoinlandspro-dukts in ausgewählten Industrieländern . . . .

7 Leistungsbilanzsaldo und realer effektiverWechselkurs der Vereinigten Staaten . . . . . .

8 Leistungsbilanzsaldo und Finanzierungssal-do in den Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . .

9 Möglichkeiten zur Bewertung des Kreditrisi-kos nach Basel II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10 Konjunkturindikatoren für den Euro-Raum .

11 Kontemporäre Korrelationen der Konjunktur-verläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12 Dynamische Korrelationen zwischen denKonjunkturverläufen ausgewählter Länder . .

13 Entwicklung der Verbraucherpreise und derKerninflation im Euro-Raum . . . . . . . . . . . . .

14 Entwicklung der Verbraucherpreise in Län-dern des Euro-Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 Entwicklung der Erzeugerpreise im Euro-Raum und des Preises für Rohöl am Welt-markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 Nominaler Außenwert des Euro gegenüberausgewählten Währungen . . . . . . . . . . . . . . .

17 Entwicklung der Aktienkurse und ihre Volati-lität in Deutschland und im Euro-Raum . . . .

18 Zinsdifferenzen am europäischen Renten-markt für unterschiedliche Schuldnerklassen

19 Zinsdifferenzen im Euro-Raum . . . . . . . . . . .

20 Monetäre Entwicklung im Euro-Raum . . . . .

21 Geldlücken im Euro-Raum . . . . . . . . . . . . . .

22 Relative Einkommensniveaus und Konver-genzraten der mittel- und osteuropäischenBeitrittsländer zur Europäischen Union . . . .

23 ß-Konvergenz der Einkommensniveaus fürdie mittel- und osteuropäischen Beitrittslän-der zur Europäischen Union . . . . . . . . . . . . .

24 Output-Lücken im Euro-Raum und in ausge-wählten Beitrittsländern . . . . . . . . . . . . . . . .

25 Beispiel für die Zusammensetzung des EZB-Rates bei 25 Mitgliedsländern . . . . . . . . . . .

26 Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts . . . .

27 Gesamtwirtschaftliche Entwicklung und derBeitrag der Verwendungskomponenten . . . .

28 Entwicklung konjunkturell wichtiger Aggre-gate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 Investitionsmotive deutscher Unternehmen .

30 Entwicklung der Aktienkurse von Banken .

31 Einschätzung der Banken zum Kreditgeschäftmit Unternehmen in Deutschland . . . . . . . . .

32 Gewinnentwicklung deutscher Unternehmen

33 Entwicklung der Bauinvestitionen in Deutsch-land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 Verfügbares Einkommen, Sparquote undKonsumausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 Reaktionen der Privaten Konsumausgabenauf einen Impuls des Verbrauchervertrauensund der Veränderung der Arbeitslosenquote

36 Exporte, Importe und Außenbeitrag . . . . . . .

37 Auftragseingang und Nettoproduktion in derIndustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 Auftragslage im Verarbeitenden Gewerbe . .

39 Entwicklung der Verbraucherpreise in Deutsch-land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40 Entwicklung der Außenhandelspreise, Roh-stoffpreise und Erzeugerpreise . . . . . . . . . . .

41 Entwicklung der registrierten Arbeitslosigkeit

42 Bewegungen am Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . .

43 Entwicklung der Ausbildungsvergütung undder Tarifverdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44 Arbeitslosengeld II (Hartz-IV-Gesetz) undExistenzsicherung (Hessen-Modell): Grenz-belastung für Alleinstehende . . . . . . . . . . . .

45 Arbeitslosengeld II (Hartz-IV-Gesetz) undExistenzsicherung (Hessen-Modell): Grenz-belastung für Ehepaare mit einem Kind . . . .

46 Anteil der Zinsausgaben und des Bundeszu-schusses an die Gesetzliche Rentenversiche-rung an den Gesamtausgaben des Bundes . .

47 Einnahmequoten und Steuerquoten der Ge-bietskörperschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48 Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens

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3

4

4

5

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XIV

Page 17: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Seite Seite49 Finanzierungssalden der staatlichen Ebenen .

50 Grenzbelastungen des Gesundheitsprämien-modells und der Bürgerversicherung im Ver-gleich zum Status quo . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 Verteilungseffekte des Gesundheitsprämien-modells für typisierte Versicherte in derGesetzlichen Krankenversicherung im Ver-gleich zum Status quo . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52 Empirische Verteilungseffekte des Gesund-heitsprämienmodells und der Bürgerversiche-rung im Vergleich zum Status quo . . . . . . . .

53 Annahmen zur ferneren Lebenserwartung von65-jährigen Frauen und Männern . . . . . . . . .

54 Erwartete Entwicklung der Beitragssätze inder Gesetzlichen Rentenversicherung für un-terschiedliche Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . .

55 Nominale implizite Renditen in der Gesetzli-chen Rentenversicherung für unterschiedlicheAnnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56 Nominale implizite Renditen in der Gesetzli-chen Rentenversicherung nach Anhebung desgesetzlichen Renteneintrittalters . . . . . . . . . .

57 Beitragssatzpfad in der Gesetzlichen Renten-versicherung im Status quo und nach Ver-wirklichung der Kommissionsvorschläge . . .

58 Bruttorentenniveau im Status quo und nachVerwirklichung der Kommissionsvorschläge

59 Nominale implizite Renditen in der Gesetzli-chen Rentenversicherung für Männer im Sta-tus quo und nach Verwirklichung derKommissionsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . .

60 Konjunkturklima und Bruttoinlandsprodukt .

61 Voraussichtliche Wirtschaftsentwicklung . . .

62 Das Verfahren bei einem übermäßigen Defi-zit nach Artikel 104 EG-Vertrag . . . . . . . . . .

63 Konvergenz der Finanzierungssalden desStaates im Zeitraum 1995 bis 2002 . . . . . . . .

64 Primärdefizit in Relation zum Bruttoinlands-produkt für die Jahre 2002 bis 2050 . . . . . . .

65 Generationenbilanz 2002 . . . . . . . . . . . . . . . .

66 Tragfähigkeitslücke für das Jahr 2002 . . . . .

67 Tragfähigkeitslücken für das Jahr 2002 inSimulationsexperimenten . . . . . . . . . . . . . . .

68 Einfluss von Rentenreformvorschlägen aufdie Tragfähigkeitslücke . . . . . . . . . . . . . . . .

69 Aufkommenseffekte bei Auslandsdividendenund Abzug von Beteiligungsaufwendungen

70 Entwicklung des Keils zwischen Produzen-tenlohn und Konsumentenlohn und seinerKomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 Verbraucherpreisentwicklung und Inflations-erwartungen für den Euro-Raum . . . . . . . . .

72 Zinspolitik der Europäischen Zentralbank undTaylor-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73 Gesamtwirtschaftliches Produktionspotentialnach der SVR-Methode . . . . . . . . . . . . . . . .

74 Wachstumsraten des Produktionspotentialsnach ausgewählten Schätzverfahren . . . . . .

75 Relative Output-Lücken nach ausgewähltenSchätzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 Wachstum des Produktionspotentials und re-lative Output-Lücke für das univariate undmultivariate Zustandsraummodell . . . . . . . .

77 Veränderung der Quoten des Finanzierungs-saldos und der Schuldenstandsquoten in denLändern des Euro-Raums zwischen 1995 und2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 Durchschnittlich jährliche Primärsaldenquo-ten in den Ländern des Euro-Raums im Zeit-raum der Jahre 1995 bis 2002 . . . . . . . . . . . .

79 Dynamik der staatlichen Schuldenstandsquo-ten in Abhängigkeit von konjunkturellen unddiskretionären Einflüssen der Konsolidierungin den Ländern des Euro-Raums . . . . . . . . .

80 Konjunkturreagibilität der staatlichen Haus-halte in den Ländern des Euro-Raums vor undnach Beginn des Maastricht-Konvergenzpro-zesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 Lorenzkurven für die steuerlichen Einkunfts-arten im Veranlagungsjahr 1998 . . . . . . . . . .

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205

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441

466

Verzeichnis der Schaubilder im Text

XV

Page 18: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ve r z e i c h n i s d e r Ta b e l l e n i m Te x t

Seite Seite1 Gesamtwirtschaftliche Entwicklung in ausge-

wählten Ländergruppen und Ländern . . . . . .

2 Wirtschaftliche Eckdaten für Deutschland . .

3 Finanzielle Auswirkungen der Reformmaß-nahmen der Bundesregierung . . . . . . . . . . . .

4 Eckdaten der weltwirtschaftlichen Entwick-lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5 Wirtschaftsdaten für die Vereinigten Staaten

6 Preiselastizitäten für den Handel von Warenund Dienstleistungen in den G7-Ländern . . .

7 Wirtschaftsdaten für Japan . . . . . . . . . . . . . . .

8 Eigenkapitalanforderungen: Änderungen durchBasel II gegenüber Basel I . . . . . . . . . . . . . . .

9 Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisseim Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10 Wirtschaftsdaten für die Länder der Europäi-schen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 Finanzplanung der öffentlichen Hand in denLändern der Europäischen Union . . . . . . . . .

12 Wirtschaftsdaten für ausgewählte mittel- undosteuropäische Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 Kalendarium für die Europäische Union . . . .

14 Geldpolitisch und währungspolitisch wichtigeEreignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 Geldpolitische Konzeptionen im Vergleich .

16 Ergebnisse der Volksabstimmungen in denzehn EU-Beitrittsländern . . . . . . . . . . . . . . . .

17 Finanzrahmen für die Osterweiterung derEuropäischen Union für die Jahre 2004bis 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 Sitze und Stimmengewichte nach Erweite-rung der Europäischen Union gemäß demVertrag von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 Ökonomische Anforderungen an den Beitrittzur Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 Einkommensniveaus in den mittel- und ost-europäischen Beitrittsländern im Jahr 2002 .

21 Konvergenzdaten zur Europäischen Wäh-rungsunion: Situation in den mittel- und ost-europäischen Beitrittsländern im Jahr 2002 .

22 Zusammensetzung des EZB-Rates: MöglicheRangfolgen als Grundlage der Gruppenbil-dung für das Rotationsprinzip bei 25 Teilneh-mer-Ländern (Stand: 2002) . . . . . . . . . . . . . .

23 Ertragslage der deutschen Kreditinstitute . . .

24 Entwicklung des deutschen Außenhandelsnach Ländern und Ländergruppen . . . . . . . .

25 Der Arbeitsmarkt in Deutschland . . . . . . . . .

26 Offene und verdeckte Arbeitslosigkeit inDeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 Berufsausbildungsstellenmarkt in Deutsch-land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge imJahr 2002 in Deutschland nach Ausbildungs-bereichen und Schulbildung der Auszubil-denden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 Gesetze zur Reform des Arbeitsmarkts . . . .

30 Lohn und Produktivität . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 Finanzierungssalden und Finanzierungsquo-ten in den öffentlichen Haushalten . . . . . . . .

33 Einnahmen und Ausgaben des Staates in derAbgrenzung der Volkswirtschaftlichen Ge-samtrechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 Einnahmen und Ausgaben des Bundes in derAbgrenzung der Volkswirtschaftlichen Ge-samtrechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 Einnahmen und Ausgaben der Länder in derAbgrenzung der Volkswirtschaftlichen Ge-samtrechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36 Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden inder Abgrenzung der VolkswirtschaftlichenGesamtrechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 Einnahmen und Ausgaben der Sozialversi-cherung in der Abgrenzung der Volkswirt-schaftlichen Gesamtrechnungen . . . . . . . . . .

38 Kassenmäßiges Aufkommen wichtiger Steu-erarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 Schuldenaufnahme und Schuldentilgung so-wie Schuldenstand im Jahr 2002 . . . . . . . . .

40 Finanzielle Auswirkungen der Gesetzent-würfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41 Finanzpolitisch und sozialpolitisch wichtigeEreignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42 Entlastungswirkung durch die Gesundheits-reform 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 Beschäftigungseffekte des Pauschalprämien-modells im Vergleich zur Basissimulation .

44 Beschäftigungseffekte der Bürgerversiche-rung im Vergleich zur Basissimulation . . . .

3

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Page 19: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Seite Seite45 Entwicklung der Beitragssätze in der Sozialen

Pflegeversicherung nach dem Reformvor-schlag der Rürup-Kommission . . . . . . . . . . .

46 Die voraussichtliche Entwicklung in ausge-wählten Ländern und Ländergruppen . . . . . .

47 Die wichtigsten Daten der Volkswirtschaft-lichen Gesamtrechnungen für Deutschland . .

48 Der Arbeitsmarkt in Deutschland . . . . . . . . .

49 Einnahmen und Ausgaben des Staates . . . . .

50 Finanzierungssalden des Staates in den Län-dern der Europäischen Union . . . . . . . . . . . .

51 Umlagefinanziertes Rentensystem . . . . . . . . .

52 Kreditfinanzierung von Transfers . . . . . . . . .

53 Geburtenziffer und Lebenserwartung in aus-gewählten Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54 Annahmen zur demographischen Entwick-lung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 Sensitivitätsanalysen im Hinblick auf dasZins-Wachstums-Differential bei der Basis-simulation 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56 Sensitivität der Tragfähigkeitslücke und derimpliziten Staatsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 Mögliche Ansatzpunkte für eine Haushalts-konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58 Steuerbelastung von Kapitalgesellschaftenauf Unternehmensebene im europäischenVergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 Effektive Steuerbelastungen von Kapitalge-sellschaften und Personenunternehmen inDeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 Wirkungen der Gemeindewirtschaftssteuerauf die effektiven Steuerbelastungen für dasJahr 2003 auf der Grundlage des Entwurfs zurReform der Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . .

61 Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit:Jahreseinkommen gegenüber Lebenseinkom-men . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62 Synopse wichtiger Regelungen der Steuer-reformoptionen des Sachverständigenratesund des Karlsruher Entwurfs . . . . . . . . . . . . .

63 Duale Einkommensteuer in nordischen Staa-ten: Tarifliche Steuersätze . . . . . . . . . . . . . . .

64 Steuerbelastungen auf Unternehmensebene inausgewählten europäischen Ländern für dasJahr 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65 Effektive Steuerbelastungen bei Investitio-nen deutscher Kapitalgesellschaften im Aus-land (Outbound-Investitionen) für dasJahr 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66 Kapitalkosten und effektive Durchschnitts-steuerbelastung bei deutschen Investitionenim Ausland (Outbound-Investitionen) für dasJahr 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 Effektive Durchschnittssteuerbelastungen beiInvestitionen einer US-amerikanischen Kapi-talgesellschaft in ausgewählten europäischenLändern für das Jahr 2003 . . . . . . . . . . . . . .

68 Kapitalkosten und effektive Steuerbelastun-gen bei Investitionen ausländischer Kapital-gesellschaften in Deutschland (Inbound-Investitionen) für das Jahr 2003 . . . . . . . . . .

69 Kapitalkosten und effektive Steuerbelastun-gen von Kapitalgesellschaften in Deutsch-land für das Jahr 2003 auf Unternehmens-ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 Kapitalkosten und effektive Steuerbelastun-gen von Personenunternehmen in Deutsch-land für das Jahr 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 Kapitalkosten und effektive Steuerbelastun-gen von Kapitalgesellschaften in Deutschlandfür das Jahr 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72 Belastungsunterschiede von Kapitalgesell-schaften im Vergleich zu Personenunterneh-men in Deutschland für das Jahr 2003 . . . . .

73 Wirkungen der Gemeindewirtschaftssteuerauf die effektiven Steuerbelastungen für dasJahr 2003 bei voller Abzugsfähigkeit (vollerHinzurechnung) von Dauerschuldzinsen . . .

74 Entwicklung der Arbeitsproduktivitäten undder Löhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 Korrelationsmatrix für die Wachstumsratendes Produktionspotentials und des Brutto-inlandsprodukts für den Zeitraum der Jahre1974 bis 2002 nach ausgewählten Schätzver-fahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 Primärüberschuss- und -defizitquoten beitragfähiger Finanzpolitik . . . . . . . . . . . . . . .

77 Reagibilität der Primärsaldenquote auf kon-junkturelle Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 Reagibilität der Primärsaldenquote in Abhän-gigkeit von der Position im Konjunkturzyklus

79 Reagibiliät der bereinigten Primärsaldenquoteauf konjunkturelle Einflüsse . . . . . . . . . . . . .

80 Jahre erfolgreicher und nicht erfolgreicherKonsolidierung in den Ländern des Euro-Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 Veränderung einnahmeseitiger und ausgaben-seitiger Größen in Konsolidierungsphasen imEuro-Raum im Zeitraum 1970 bis 2002 . . . .

232

238

242

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449

Verzeichnis der Tabellen im Text

XVII

Page 20: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Seite Seite82 Veränderung von gesamtwirtschaftlichen

Rahmendaten vor, während und nach Konso-lidierungsphasen in den Ländern des Euro-Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83 Panelschätzung nicht-keynesianischer Effekteauf die Zuwachsrate des privaten Konsums .

84 Der Einfluss der staatlichen Einnahmen undAusgaben auf das Wachstum . . . . . . . . . . . . .

85 Der Einfluss ausgewählter staatlicher Einnah-me- und Ausgabenkomponenten auf dasWachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86 Struktur der steuerlichen Einkunftsarten . . . .

87 Bedeutung der negativen Einkünfte aus Ge-werbebetrieb und aus Vermietung und Ver-pachtung im Veranlagungsjahr 1998 . . . . . . .

88 Verteilung innerhalb der steuerlichen Ein-kunftsarten (Dezilanteile) . . . . . . . . . . . . . . .

89 Durchschnittliche Einkünfte in den Dezilen

90 Gini-Koeffizienten der einzelnen Einkunfts-arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 Dezilanteile und Gini-Koeffizienten für daszu versteuernde Einkommen und für die Ein-kommensteuerschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92 Zu versteuerndes Einkommen und Einkom-mensteuerschuld geschichtet nach der Summeder Einkünfte im Veranlagungsjahr 1998 . .

93 Struktur der steuerlichen Einkünfte nach Bun-desländern im Veranlagungsjahr 1998 . . . . .

94 Verteilung der Steuerpflichtigen nach Ein-kommensklassen und Bundesländern im Ver-anlagungsjahr 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ve r z e i c h n i s d e r K ä s t e n i m Te x t

Seite Seite

1 Die Bedeutung des US-amerikanischen Im-mobilienmarkts und Hypothekenmarkts . . . .

2 Inflationssteuerung: Ausgestaltungsmöglich-keiten und empirische Ergebnisse . . . . . . . . .

3 Zur Kreditvergabe der deutschen Banken . . .

4 Empirische Analyse zum Einfluss von (Ein-kommens-) Unsicherheit und Verbraucher-vertrauen auf die Privaten Konsumausgaben

5 Der Berufsausbildungsstellenmarkt in Deutsch-land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6 Befristete Beschäftigung und Leiharbeit iminternationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . .

7 Zur finanziellen Lage der Kommunen . . . . . .

8 Simulationsanalyse der Beschäftigungseffek-te des Pauschalprämienmodells und der Bür-gerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 Das Konzept der impliziten Renditen . . . . .

10 Rentenniveau, Beitragssatz und einnahme-orientierte Ausgabenpolitik . . . . . . . . . . . . .

11 Annahmen der Prognose . . . . . . . . . . . . . . . .

12 Weiterreichende Vorschläge zur längerfristi-gen Reform des Stabilitäts- und Wachstums-pakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 Implizite Staatsverschuldung umlagefinan-zierter Rentensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 Elemente des Karlsruher Entwurfs . . . . . . . .

15 Beschäftigung, Reallohn und Produktivitäten

16 Empirische Evidenz zur Lohnzurückhaltung .

17 Verschiedene Konzepte zur Darstellung deröffentlichen Haushaltsposition . . . . . . . . . . .

31

87

113

122

139

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173

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439

Verzeichnis der Tabellen im Text

XVIII

Page 21: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ve r z e i c h n i s d e r Ta b e l l e n i m s t a t i s t i s c h e n A n h a n g

Seite SeiteA. Internationale Tabellen

1* Bevölkerung und Erwerbstätige in derEuropäischen Union und in ausgewähltenLändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2* Beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitslosen-quoten in der Europäischen Union und in aus-gewählten Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3* Bruttoinlandsprodukt in der EuropäischenUnion und in ausgewählten Ländern . . . . . . .

4* Private Konsumausgaben in der Europäi-schen Union und in ausgewählten Ländern

5* Konsumausgaben des Staates in der Europäi-schen Union und in ausgewählten Ländern

6* Bruttoanlageinvestitionen in der Europäi-schen Union und in ausgewählten Ländern

7* Exporte/Importe von Waren und Dienstleis-tungen in der Europäischen Union und in aus-gewählten Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8* Industrieproduktion und Verbraucherpreisein der Europäischen Union und in ausgewähl-ten Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9* Salden der Handelsbilanz und der Leistungs-bilanz in ausgewählten Ländern . . . . . . . . . .

10* Zinssätze in der Europäischen Union und inausgewählten Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11* DM-Wechselkurse und Euro-Kurse für aus-gewählte Währungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12* Geldmengenaggregate in der EuropäischenWährungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13* Ausgewählte Wirtschaftsdaten für die EU-Beitrittsländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14* Bruttoinlandsprodukt und Aggregate für dieEU-Beitrittsländer − in jeweiligen Preisen . .

15* Bruttoinlandsprodukt und Aggregate für dieEU-Beitrittsländer − in Preisen von 1995 . . .

16* Indikatoren für die Welt und für ausgewählteLändergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Tabellen für Deutschland

I. Makroökonomische Grunddaten

17* Bevölkerungsstand und Bevölkerungsvoraus-berechnung für die Bundesrepublik Deutsch-land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18* Ausländer in Deutschland nach der Staats-angehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19* Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit . . . . . .

20* Struktur der Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . .

21* Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen . .

22* Arbeitnehmer nach Wirtschaftsbereichen . .

23* Bruttowertschöpfung, Bruttoinlandsprodukt,Volkseinkommen, Nationaleinkommen . . .

24* Bruttowertschöpfung nach Wirtschaftsberei-chen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25* Verwendung des Volkseinkommens . . . . . .

26* Unternehmens- und Vermögenseinkommender Gesamtwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27* Arbeitnehmerentgelte nach Wirtschaftsberei-chen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28* Bruttolöhne und -gehälter nach Wirtschafts-bereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29* Verwendung des Bruttoinlandsprodukts in je-weiligen Preisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30* Verwendung des Bruttoinlandsprodukts inPreisen von 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31* Konsumausgaben der privaten Haushaltenach Verwendungszwecken . . . . . . . . . . . . .

32* Bruttoinvestitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33* Anlageinvestitionen nach Wirtschaftsberei-chen in jeweiligen Preisen . . . . . . . . . . . . . .

34* Anlageinvestitionen nach Wirtschaftsberei-chen in Preisen von 1995 . . . . . . . . . . . . . . .

35* Primäreinkommen, verfügbares Einkommenund Sparen der privaten Haushalte . . . . . . .

36* Lohnkosten, Produktivität und Lohnstück-kosten der Gesamtwirtschaft . . . . . . . . . . . .

37* Lohnkosten nach Wirtschaftsbereichen . . . .

38* Produktivität nach Wirtschaftsbereichen . . .

39* Deflatoren aus den VolkswirtschaftlichenGesamtrechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40* Vermögensbildung und ihre Finanzierung .

41* Einnahmen und Ausgaben des Staates . . . . .

42* Einnahmen und Ausgaben von Bund, Län-dern und Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43* Ausgaben und Einnahmen der staatlichen undkommunalen Haushalte nach Ländern . . . . .

44* Kassenmäßige Steuereinnahmen . . . . . . . . .

45* Verschuldung der öffentlichen Haushalte . .

46* Absatz und Erwerb von Wertpapieren . . . . .

47* Ausgewählte Zinsen und Renditen . . . . . . .

48* Zahlungsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

498

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XIX

Page 22: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Seite Seite49* Kapitalverkehr mit dem Ausland . . . . . . . . .

50* Auftragseingang im Verarbeitenden Gewerbe

51* Umsatz im Bergbau und im VerarbeitendenGewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52* Index der Nettoproduktion im Produzieren-den Gewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53* Beschäftigte und geleistete Arbeitsstundenim Bergbau und im Verarbeitenden Gewerbe

54* Kapazitätsauslastung im Verarbeitenden Ge-werbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55* Baugenehmigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56* Auftragseingang im Bauhauptgewerbe nachBauarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57* Auftragsbestand im Bauhauptgewerbe . . . . .

58* Umsatz, Beschäftigte und Produktion imBauhauptgewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59* Außenhandel (Spezialhandel) . . . . . . . . . . . .

60* Ausfuhr und Einfuhr nach ausgewählten Gü-tergruppen der Produktionsstatistik . . . . . . . .

61* Ausfuhr nach Warengruppen der Außenhan-delsstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62* Einfuhr nach Warengruppen der Außenhan-delsstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63* Warenausfuhr nach Ländergruppen . . . . . . .

64* Wareneinfuhr nach Ländergruppen . . . . . . . .

65* Einzelhandelsumsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66* Index der Erzeugerpreise gewerblicher Pro-dukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67* Index der Ausfuhrpreise . . . . . . . . . . . . . . . .

68* Index der Einfuhrpreise . . . . . . . . . . . . . . . . .

69* Preisindizes für Neubau und Instandhaltung,Baulandpreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70* Verbraucherpreisindex für Deutschland(2000 = 100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71* Preisindex für die Lebenshaltung nach Haus-haltstypen (1995 = 100) . . . . . . . . . . . . . . . .

72* Löhne und Gehälter . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Ausgewählte Daten zum System der Sozialen Sicherung

73* Sozialbudget: Leistungen nach Institutionen

74* Sozialbudget: Leistungen nach Funktionen .

75* Sozialbudget: Finanzierung nach Arten undQuellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76* Beiträge und Leistungen in der GesetzlichenRentenversicherung (Arbeiter und Ange-stellte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77* Struktur der Leistungsempfänger in der Ge-setzlichen Rentenversicherung (Arbeiter undAngestellte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78* Finanzielle Entwicklung in der GesetzlichenRentenversicherung (Arbeiter und Ange-stellte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79* Gesundheitsausgaben in Deutschland . . . . .

80* Gesundheitspersonal nach Berufen, Ein-richtungen und Alter in den Jahren 1998und 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81* Krankenversicherungsschutz der Bevölke-rung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82* Beiträge und Versicherte in der GesetzlichenKrankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83* Struktur der Einnahmen und Ausgaben in derGesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . .

84* Leistungsausgaben für die Mitglieder der Ge-setzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . .

85* Finanzentwicklung und Versicherte in derSozialen Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . .

86* Leistungsempfänger in der Sozialen Pflege-versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87* Einnahmen und Leistungsempfänger in derArbeitslosenversicherung . . . . . . . . . . . . . . .

88* Sozialhilfe: Empfänger, Ausgaben und Ein-nahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Tabellen im statistischen Anhang

XX

Page 23: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

S t a t i s t i s c h e M a t e r i a l q u e l l e n – A b k ü r z u n g e n

Angaben aus der amtlichen Statistik für die Bundesrepublik stammen, soweit nicht anders vermerkt, vom Statisti-schen Bundesamt. Diese Angaben beziehen sich auf Deutschland; andere Gebietsstände sind ausdrücklich ange-merkt.

Material über das Ausland wurde in der Regel internationalen Veröffentlichungen entnommen. Darüber hinaus sindin einzelnen Fällen auch nationale Veröffentlichungen herangezogen worden.

AAÜG = Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz

AFG = Arbeitsförderungsgesetz

AMA = Advanced Measurement Approaches

ARIMA = Autoregressive Integrated Moving Average

AÜG = Arbeitnehmerüberlassungsgesetz

BA = Bundesanstalt für Arbeit

BAFin = Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht

BEA = Bureau of Economic Analysis, Vereinigte Staaten

BetrVG = Betriebsverfassungsgesetz

BLS = Bureau of Labor Statistics, Vereinigte Staaten

BMF = Bundesministerium der Finanzen

BMGS = Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung

BMWA = Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit

BSHG = Bundessozialhilfegesetz

BSP = Bruttosozialprodukt

DAX = Deutscher Aktienindex

DBA = Doppelbesteuerungsabkommen

DIHK = Deutscher Industrie und Handelskammertag

DIW = Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin

ECOFIN = Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der Mitgliedsländer der EU

EGV = Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) vom 7. Februar 1992 in der Fassungvom 2. Oktober 1997

EONIA = Euro Overnight Index Average

ERP = Europäisches Wiederaufbauprogramm (Marshallplan)

ESF = Europäischer Sozialfonds

ESRI = Economic and Social Research Institute, Japan

EStG = Einkommensteuergesetz

ESVG = Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen

ESZB = Europäisches System der Zentralbanken

EU = Europäische Union

EuGH = Europäischer Gerichtshof

EURIBOR = Euro Interbank Offered Rate

EURO/ECU = Europäische Währungseinheit

Eurostat = Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften

EVS = Einkommens- und Verbrauchsstichprobe

XXI

Page 24: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

EWS = Europäisches Währungssystem

EWU = Europäische Währungsunion

EZB = Europäische Zentralbank

Fannie Mae = Federal National Mortgage Association

Freddie Mac = Federal Home Loan Mortgage Corporation

GKV = Gesetzliche Krankenversicherung

GRV = Gesetzliche Rentenversicherung

HP = Hodrick-Prescott

HVPI = Harmonisierter Verbraucherpreisindex

HWWA = HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung, Hamburg

IAB = Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg

Ifo = Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, München

IfW = Institut für Weltwirtschaft, Kiel

IG Metall = Industriegewerkschaft Metall

IAO/ILO = Internationale Arbeitsorganisation, Genf

IuK = Informations- und Kommunikationstechnologien

IWF = Internationaler Währungsfonds, Washington

IWH = Institut für Wirtschaftsforschung Halle

IZA = Institut zur Zukunft der Arbeit, Bonn

JG = Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-wicklung

KfW = Kreditanstalt für Wiederaufbau

KMU = Kleine und Mittlere Unternehmen

KKS = Kaufkraftstandards

KSchG = Kündigungsschutzgesetz

KStG = Körperschaftsteuergesetz

KV = Kassenärztliche Vereinigung

KVdR = Krankenversicherungsschutz der Rentner

MERCOSUR = Gemeinsamer Markt in Südamerika

MFI = Monetäre Finanzinstitute

NASDAQ = National Association of Securities Dealers Automated Quotation

NBER = National Bureau of Economic Research

NEMAX = Neuer Markt Index

Nikkei = Nihon Keizai Shimbun, Inc.

OECD = Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Paris

OPEC = Organisation erdölexportierender Länder, Wien

PKV = Private Krankenversicherung

PSA = Personal-Service-Agenturen

RSA = Risikostrukturausgleich

RWI = Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung, Essen

Statistische Materialquellen – Abkürzungen

XXII

Page 25: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

SARS = Severe Acute Respiratory Syndrome

SG = Sondergutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-wicklung

SGB = Sozialgesetzbuch

SOEP = Sozio-oekonomisches Panel des DIW

TOPIX = Tokyo stock price index

TVG = Tarifvertragsgesetz

UMTS = Universal Mobile Telecommunications System

VAR = Vektorautoregression

VDR = Verband Deutscher Rentenversicherungsträger

WIIW = Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche

WKM II = Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystem

WSI = Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf

WTO = Welthandelsorganisation

WWU = Wirtschafts- und Währungsunion

WZ = Klassifikation der Wirtschaftszweige

ZEW = Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim

Z e i c h e n e r k l ä r u n g

– = nichts vorhanden

0 = weniger als die Hälfte der kleinsten dargestellten Einheit

. = kein Nachweis

… = Angaben fallen später an

– oder | = der Vergleich ist durch grundsätzliche Änderungen beeinträchtigt

X = Nachweis ist nicht sinnvoll beziehungsweise Fragestellung trifft nicht zu

( ) = Aussagewert eingeschränkt, da der Zahlenwert statistisch

relativ unsicher ist

Kursiv gedruckte Textabschnitte enthalten Erläuterungen zur Statistik oder methodische Erläuterungen zu denKonzeptionen des Rates.

In Textkästen gedruckte Textabschnitte enthalten analytische oder theoretische Ausführungen oder bieten detail-lierte Information zu Einzelfragen, häufig im längerfristigen Zusammenhang.

Statistische Materialquellen – Abkürzungen

XXIII

Page 26: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN
Page 27: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

ERSTES KAPITEL

Eine kürzere Fassung

Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

1. In Deutschland dauerte die wirtschaftliche Schwä- schwach; der außenwirtschaftliche Funke sprang in die-

chephase das dritte Jahr in Folge an. Das Bruttoinlands-produkt stagnierte (Schaubild 1). Die Hoffnung des ver-gangenen Jahres auf eine sich allmählich kräftigendeErholung zerschlug sich im Frühjahr durch die Abküh-lung des weltwirtschaftlichen Umfelds und durch dieAuswirkungen der Euro-Aufwertung. Dies drückte sichin zurückgehenden Zuwachsraten des Bruttoinlandspro-dukts und in einer deutlichen Verschlechterung der Lageam Arbeitsmarkt aus. Ab der Jahresmitte erholte sich dieExportkonjunktur vor dem Hintergrund einer Belebungder Weltwirtschaft merklich und trug maßgeblich zu denleicht positiven Zuwachsraten der Produktion in diesemZeitraum bei. Die Binnennachfrage blieb erneut sehr

sem Jahr nicht auf die inländische Verwendung über. DieAussichten für das nächste Jahr lassen zwar etwas Lichtam konjunkturellen Horizont erkennen; mit einem An-stieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1,5 vHbleibt die Erholung jedoch verhalten und wird nochnicht zu einer verringerten Unterauslastung der gesamt-wirtschaftlichen Kapazitäten beitragen.

Die Prognose für die gesamtwirtschaftliche Zuwachsrateunterstellt den gesetzgeberischen Status quo zum Zeit-punkt der Prognoseerstellung. Berücksichtigt wurdendiejenigen steuerpolitischen Maßnahmen, die in diesemJahr mit Wirkung für das kommende Jahr bereits gesetz-lich beschlossen sind und solche Maßnahmen, die– obgleich noch nicht verabschiedet – nicht der Zustim-mung des Bundesrates bedürfen. In einer Alternativrech-nung wurde unterstellt, dass die im Bundesrat zustim-mungspflichtigen Maßnahmen, also vor allem dasgeplante Vorziehen der Steuerreform und die Konsoli-dierungsmaßnahmen des Haushaltsbegleitgesetzes – mitden von der Bundesregierung veranschlagten Entlas-tungs- und Belastungseffekten für die öffentlichenHaushalte –, für das kommende Jahr realisiert werden.Unter diesen Annahmen ergibt sich ein Zuwachs desBruttoinlandsprodukts im kommenden Jahr von 1,7 vH.Die geringfügigen Unterschiede in den Zuwachsraten er-klären sich dadurch, dass sich die in der Alternativrech-nung ergebende Nettoentlastung der Haushalte und Un-ternehmen durch das Vorziehen der Steuerreform inHöhe von 15,6 Mrd Euro aufgrund der diversen finanz-politischen Sparmaßnahmen auf knapp 4 Mrd Euro re-duziert.

2. Für die Frage der Intensität der konjunkturellen Bele-bung ist das Wachstum des Produktionspotentials einentscheidender Einflussfaktor, denn es signalisiert dasTempo, mit dem eine Volkswirtschaft in der mittlerenFrist spannungsfrei wachsen kann. Je niedriger das Poten-tialwachstum ist, desto eher stößt ein Aufschwung anvorhandene Kapazitätsgrenzen und desto eher wird beinegativen konjunkturellen Impulsen ein Zustand dergesamtwirtschaftlichen Stagnation erreicht. Dem Poten-tialwachstum kommt damit sowohl für die Konjunktur-analyse, als auch für die Wirtschaftspolitik eine ent-scheidende Bedeutung zu. Eine empirische Analyse desProduktionspotentials unter Verwendung unterschiedli-cher Schätzverfahren zeigt, dass sich das Potentialwachs-tum in Deutschland in den zurückliegenden Jahren merk-lich verlangsamt hat und gegenwärtig bei rund 1,5 vHliegen dürfte (Ziffern 734 ff.). Die Unterauslastung der

Schaubild 1

1) Vierteljahreswerte: Saisonbereinigung nach dem Census-VerfahrenX-12-ARIMA.– 2) Zahlenangaben: Veränderung gegenüber dem Vor-jahr in vH.

Voraussichtliche Wirtschaftsentwicklung1)

Mrd Euro

Log. Maßstab

Prognose2)

Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 1995

Log. Maßstab

Mrd Euro

Prognosezeitraum

1,5 vH

Jahresdurchschnitte2)

-0,0 vH0,2 vH

I II III IV I II III IV I II III IV2002 2003 2004

480

490

500

510

520

480

490

500

510

520

SR 2003 - 12 - 0650

1

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Eine kürzere Fassung

gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten betrug im vergan-genen Jahr etwa 1,0 vH. Diese Werte deuten ebenfallsdarauf hin, dass die konjunkturelle Erholung eherverhalten ausfallen wird. Das Potentialwachstum istallerdings keine Naturkonstante, sondern durch wirt-schaftspolitische Maßnahmen beeinflussbar (JG 2002Ziffern 205 ff.).

3. Die Gründe für die Wachstumsschwäche sind vomSachverständigenrat vielfach diagnostiziert und Wegezu ihrer Beseitigung aufgezeigt worden. In den vergan-genen Monaten hat die Bundesregierung zahlreiche Re-formen auf den Weg gebracht. Dies gilt vor allem fürden Arbeitsmarkt, aber auch in der Gesetzlichen Ren-tenversicherung ist angesichts der belastenden Finanz-probleme eine Reihe langfristig angelegter Anpassungs-maßnahmen beschlossen worden. Schließlich wurde imBereich der Gesetzlichen Krankenversicherung ein ers-ter Schritt in Richtung einer umfassenden Gesundheits-reform eingeleitet. Gegenwärtig ist für viele derReformmaßnahmen noch nicht hinreichend klar, in wel-cher Form sie den komplizierten Gesetzgebungspro-zess verlassen werden; eine abschließende Beurteilungdes „deutschen Reformherbstes“ ist deshalb zum gegen-wärtigen Zeitpunkt noch nicht möglich. Betrachtet manaber die bereits beschlossenen Maßnahmen und dieGrundtendenz der sich noch im parlamentarischen Ver-fahren befindenden Vorschläge, dann fällt das Gesamt-urteil positiv aus. Die noch vor Jahresfrist richtungs-lose Politik hat in den vergangenen Monateninsbesondere mit Blick auf den Arbeitsmarkt ein Maß-nahmenbündel auf den Weg gebracht, das mehr ist alsnur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Diesschließt Kritik nicht aus: Einzelne Elemente der be-schlossenen Arbeitsmarktreformen, beispielsweise imBereich des Kündigungsschutzes, sind zu zaghaft ange-gangen worden; in nicht unwichtigen Details der einzel-nen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen,beispielsweise bei der Zusammenlegung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe, wurden wesentliche Anreizef-fekte nicht hinreichend beachtet. Schließlich hat man inder Gesetzlichen Krankenversicherung eine richtungs-weisende Weichenstellung sowohl auf der Finanzie-rungsseite als auch auf der Leistungsseite in diesemJahr versäumt. Bemerkenswert ist aber dennoch, dasssich das Diskussionsklima in der Politik spürbar gewan-delt hat: Sowohl für die Regierungsparteien als auch fürdie Opposition liegen von Kommissionen ausgearbei-tete Entwürfe zu einer weitergehenden Reform der So-zialsysteme vor, die bei allen Unterschieden dennochrichtungsweisende Gemeinsamkeiten enthalten. Ange-sichts der Tatsache, dass der Sachverständigenrat in sei-nem letzten Jahresgutachten die Reformen für die Sozi-alversicherungen ausführlich thematisiert hat, und dadie Regierungskommission viele der Vorschläge auf-griff, werden in diesem Jahresgutachten keine weiterenVorschläge unterbreitet, sondern die Ergebnisse der Rü-rup-Kommission dargestellt und kommentiert. Für denBereich des Arbeitsmarkts stellt der Sachverständigen-rat in diesem Jahr Vorschläge zur Diskussion, die die

Ausführungen des letztjährigen Gutachtens konkretisie-ren und ergänzen.

4. Die Auswirkungen der anhaltenden wirtschaftli-chen Schwächephase zeigten sich in diesem Jahr in allerDeutlichkeit in den öffentlichen Haushalten. Die Defizit-grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts wurde mit4,1 vH erneut deutlich überschritten, und auch im kom-menden Jahr wird es aller Voraussicht nach nicht gelin-gen, die 3 vH-Vorgabe aus Brüssel einzuhalten. Zwar istein nicht unbedeutender Teil der hohen Neuverschul-dung durch die schlechte Konjunktur bedingt; eine Kre-ditaufnahme, die bei einem gegenüber dem Vorjahrkaum verschlechterten Zuwachs des Bruttoinlandspro-dukts allein für den Bundeshaushalt die Planansätze indiesem Jahr um mehr als das Doppelte überstieg, signali-siert aber auch, dass die öffentlichen Haushalte einerNeuausrichtung bedürfen: Vor allem geht es darum, ver-lässliche Rahmenbedingungen für die Einkommenspers-pektiven und Einkommensdispositionen der Unterneh-men und Haushalte zu schaffen. Angesichts der aus demRuder laufenden staatlichen Defizite verlangt dies zumeinen die Formulierung und Durchsetzung einer schlüs-sigen und auf Dauer angelegten Strategie zur Rückfüh-rung der staatlichen Kreditaufnahme. Die Politik hat hierin diesem Jahr bereits beträchtliche mittelfristige Kon-solidierungsschritte, vor allem in der GesetzlichenRentenversicherung und in der Gesetzlichen Kranken-versicherung, eingeleitet. Die Umsetzung der diversensteuerpolitischen Maßnahmen ist jedoch gegenwärtigmit vielen Fragezeichen versehen. Zudem mangelt esden zahlreich vorgetragenen Sparmaßnahmen an einerklaren Systematik. Der Sachverständigenrat widmet des-halb der Frage der Haushaltskonsolidierung besondereAufmerksamkeit. Grundsätzlich liegt in der Steuerpoli-tik gegenwärtig vieles im Argen: Es ist vor allem keinkonsistentes Leitbild erkennbar, an dem sich die Steuer-gesetzgebung ausrichtet. Ohne ein solches Leitbild aberfehlt es den steuerpolitischen Einzelmaßnahmen an Sys-tematik, und einzelne Maßnahmen werden vielfach alswidersprüchliche Ad-hoc-Interventionen wahrgenom-men. Dieses steuerpolitische Chaos verstärkt – über dasdem Wirtschaftsgeschehen ohnehin inhärente Ausmaßhinaus – die Unsicherheit bezüglich der zukünftigenEinkommensentwicklung und Ertragserwartungen undist Gift für einen robusten Aufschwung aus eigenerKraft. Verlässlichkeit erfordert zudem, die mittelfristi-gen und langfristigen Folgen der Finanzpolitik und derSozialpolitik in den Blick zu nehmen. Insbesonderedurch die demographischen Veränderungen in den kom-menden Jahrzehnten ist ohne grundlegende Politikände-rungen die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen be-droht.

Die Diskussion wirtschaftspolitischer Handlungsoptio-nen im Bereich der Finanzpolitik steht deshalb im Vor-dergrund des diesjährigen Jahresgutachtens, das unterden Titel „Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystemreformieren“ gestellt wurde.

2

Page 29: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

I. Weltwirtschaft: Aufschwung bei anhaltenden Unsicherheiten

5. Geopolitische Unsicherheiten im Vorfeld des Kriegsim Irak sowie die Verbreitung der LungenkrankheitSARS dämpften die konjunkturelle Dynamik der Welt-wirtschaft zu Beginn dieses Jahres. Nach dem raschenEnde der militärischen Konflikthandlungen und begüns-tigt durch eine Erholung an den internationalen Finanz-märkten hellte sich das internationale Stimmungsbild abdem Frühjahr auf. Die positiven Signale der Vertrauens-indikatoren schlugen sich ab der Jahresmitte auch zu-nehmend in den Produktionsdaten nieder. Vor allem inden Vereinigten Staaten und in Japan übertraf das Aus-maß der Erholung die allgemeinen Erwartungen(Tabelle 1). In Europa hingegen verlief die konjunktu-relle Entwicklung gedämpft, gleichwohl stellte sich auchhier eine leichte Verbesserung in der zweiten Jahres-hälfte ein. Gestützt wurde die weltwirtschaftliche Dyna-mik durch eine stimulierende Ausrichtung der Geld- undFinanzpolitik in den großen Wirtschaftsräumen mit al-lerdings markanten Unterschieden in der Intensität derdiskretionären Impulse (Schaubild 2).

6. Niedrige Inflationsraten, die bereits reichlich vor-handene Liquiditätsausstattung sowie die Erwartung,dass die Notenbanken in den Industriestaaten auf abseh-bare Zeit nicht die zinspolitischen Zügel straffen wer-den, führten in der ersten Jahreshälfte auf den internatio-

nalen Finanzmärkten zu einem kräftigen Rückgang derlangfristigen Zinsen. Die Renditen langfristiger Staats-anleihen erreichten in zahlreichen Ländern den niedrigs-ten Stand seit mehr als 40 Jahren. Ab der Jahresmittekam es infolge des zunehmenden Optimismus darüber,dass die Talsohle der weltwirtschaftlichen Entwicklungdurchschritten sei, aber auch infolge der stärker in dasBlickfeld der Anleger rückenden gestiegenen Bud-getdefizite zu einem deutlichen Anstieg der langfristigenNominalzinsen. Gemessen an ihren langjährigen

Schaubild 2

-4

-3

-2

-1

1

2

0

Gel

dp

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03in

Pro

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-5 -4 -3 -2 -1 10

Fiskalpolitischer StimulusVeränderung des strukturellen Haushaltssaldos

2000 bis 2003 in Prozentpunkten

Konjunkturimpulse der Geldpolitik und der Finanzpolitikseit dem Jahr 2000

Quellen: CBO, OECD

Vereinigte Staaten

Vereinigtes Königreich

Frankreich

Deutschland

EWU

Japan

SR 2003 - 12 - 0663

Ta b e l l e 1

Gesamtwirtschaftliche Entwicklungin ausgewählten Ländergruppen und Ländern

2003 2004 2002

Europäische Union4) ...... + 0,7 + 1,9 54,7

Euro-Raum4) ................ + 0,4 + 1,8 42,6 darunter:

Deutschland ............. - 0,0 + 1,5 X

Frankreich ............... + 0,2 + 1,7 10,8

Italien ...................... + 0,4 + 1,5 7,3

Niederlande ............. - 0,7 + 0,9 6,1

Vereinigtes König- + 2,0 + 2,9 8,4 reich ........................

Vereinigte Staaten ....... + 2,9 + 4,0 10,3

Japan ............................ + 2,7 + 1,8 1,9

Mittel- und Osteuropa5) + 3,3 + 3,8 8,8

Lateinamerika6) ............. + 1,0 + 3,7 2,0

SüdostasiatischeSchwellenländer7) ........ + 3,0 + 4,6 3,5

1) Eigene Schätzung auf Basis von Angaben internationaler und natio-naler Institutionen. - 2) Spezialhandel. Vorläufige Ergebnisse. - 3) Die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr für die Ländergruppen sind gewichtet mit ihren Anteilen am nominalen Bruttoinlandsprodukt der Welt in jeweiligen Preisen und Kaufkraftparitäten im Jahr 2002. -4) Die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr sind gewichtet mit denAnteilen am realen Bruttoinlandsprodukt (in Euro) der EuropäischenUnion im Jahr 2002. - 5) Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn. - 6) Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru, Venezu-ela. - 7) Hongkong (China), Malaysia, Singapur, Südkorea, Taiwan, Thailand.

Ländergruppe/Land

Bruttoinlands-produkt(real)1)

Anteil an der Ausfuhr2)

Deutschlands

Veränderunggegenüber

dem Vorjahrin vH3)

vH

3

Page 30: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Eine kürzere Fassung

Durchschnitten lagen diese aber auch zum Jahresendeimmer noch auf einem niedrigen Niveau.

7. Nicht zuletzt aufgrund der schwachen Entwicklungin der Europäischen Währungsunion nahm die weltweiteProduktion im Jahresdurchschnitt mit 3,5 vH lediglichwenig stärker zu als im vergangenen Jahr. Die Kapazi-tätsauslastung im globalen Maßstab lag in diesem Jahrnoch geringfügig niedriger als in der Abschwungsphasezu Beginn der neunziger Jahre. Das Welthandelsvolu-men expandierte in diesem Jahr mit 3,7 vH nur wenigmehr als das globale Bruttoinlandsprodukt(Schaubild 3).

8. Die Konjunktur in den Vereinigten Staaten blieb zuBeginn des Jahres verhalten. Nach einem schwachenersten Quartal kam es dann vor allem aufgrund gesunke-ner geopolitischer Unsicherheiten zu einer kräftigen Er-holung. Im dritten Quartal verzeichnete die Zunahmedes Bruttoinlandsprodukts nach ersten vorläufigenSchätzungen die stärkste Dynamik seit dem Jahr 1984.Der Aufschwung wurde maßgeblich begünstigt durchdie überaus expansive Ausrichtung der Geldpolitik undder Finanzpolitik: Die privaten und öffentlichen Kon-sumausgaben waren Motor der gesamtwirtschaftlichen

Entwicklung (Schaubild 4). Der private Konsum wurdedurch die neuerliche Zinssenkung der US-amerikani-schen Notenbank und durch zusätzliche steuerliche Ent-lastungen gestützt. Der Zielsatz für Tagesgeld (FederalFunds Rate) liegt seit Juni bei 1 %, dem niedrigsten Wert

seit 45 Jahren. Im Verlaufe des Jahres erreichten auchdie Renditen der langfristigen staatlichen SchuldtitelTiefstände, die letztmals im Jahr 1958 zu beobachtenwaren. Das niedrige Zinsniveau wirkte zusätzlich bele-bend auf den Konsum, da es den Verbrauchern erlaubte,bestehende Hypothekenkredite zu niedrigeren Sätzen zurefinanzieren und dadurch frei werdende Mittel zu Kon-sumzwecken zu verwenden. Mit dem Anstieg der lang-fristigen Zinsen ab der Jahresmitte verlor dieser Effekt

Schaubild 3

-2

2

4

6

8

10

12

14

0

-2

2

4

6

8

10

12

14

0

1995 96 97 98 99 2000 01 02 03

Entwicklung des Bruttoinlandsproduktsund des Handelsvolumens in der Welt

Veränderung gegenüber dem Vorjahr

Handelsvolumen

Bruttoinlandsprodukt

Quelle: IWF

vH vH

a) Eigene Schätzung aufgrund von Angaben internationaler und natio-naler Institutionen.

a)

SR 2003 - 12 - 0652

S c h a u b i l d 4

Gesamtwirtschaftliche Entwicklung und derBeitrag der Verwendungskomponenten

Jahr 20031)

PrivateKonsum-ausgaben

Konsum-ausgabendes Staates

Bruttoanlage-investitionen

Außenbeitrag

Vorratsver-änderungen4)

Bruttoinlands-produkt2)

Vereinigte Staaten

1) Eigene Schätzung aufgrund von Angaben internationaler und nationaler In-stitutionen.– 2) – 3) Zur Verän-Veränderung gegenüber dem Jahr 2002 in vH.derung des Bruttoinlandsprodukts.– 4) Einschließlich Nettozugang an Wert-sachen.

Japan

Euro-Raum ohne Deutschland

Deutschland

-2 -1 1 2 30

in Prozentpunkten

Beitrag der Verwendungskomponenten3)

SR 2003 - 12 - 0665

4

Page 31: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Weltwirtschaft: Aufschwung bei anhaltenden Unsicherheiten

auf die Entwicklung des privaten Verbrauchs jedoch anBedeutung.

Im Unternehmensbereich machte die Bilanzkonsolidie-rung weitere Fortschritte. Die Verschuldung der nichtfi-nanziellen Unternehmen in Relation zum nominalenBruttoinlandsprodukt, die von Anfang des Jahres 1998bis Ende des Jahres 2001 um mehr als zehn Prozent-punkte zunahm, hat sich seitdem stabilisiert. Die Bilanz-bereinigung der Unternehmen hatte deren Investitions-bereitschaft in den vergangenen Jahren merklichgedämpft. Seit dem zweiten Quartal war jedoch eine zu-nehmende Dynamik bei den Bruttoanlageinvestitionenzu verzeichnen, so dass der Aufschwung an Breite ge-wann.

Die gedämpfte Entwicklung zu Jahresbeginn führte al-lerdings dazu, dass mit einem Zuwachs des Brutto-inlandsprodukts in diesem Jahr von 2,9 vH das Poten-tialwachstum erneut, wenn auch nur noch leichtunterschritten wurde.

9. Angesichts des an Fahrt gewinnenden Aufschwungsrückte die mittelfristige Ausrichtung der US-amerikani-schen Wirtschaftspolitik stärker in den Blickpunkt. Ins-besondere die Finanzpolitik hat in diesem Jahr erneut dasöffentliche Defizit merklich ausgeweitet. Der Großteildes Defizitanstiegs beruhte auf zusätzlichen steuerlichen

Entlastungen sowie gestiegenen Verteidigungsausgaben.Damit erhöhte sich das konjunkturbereinigte Defizit imFiskaljahr 2003 auf 3,1 vH in Relation zum nominalenProduktionspotential. Das konjunkturbereinigte Defizitwird im kommenden Fiskaljahr voraussichtlich noch-mals um rund 0,6 Prozentpunkte ansteigen. Die Ver-schlechterung der US-amerikanischen Haushaltspositionseit dem Jahr 2000 hat, gemessen am konjunkturberei-nigten Defizit, die Konsolidierungserfolge der neunzigerJahre vollständig eliminiert (Schaubild 5).

Konjunkturbereinigte Defizite in dieser Größenordnungwerden in den kommenden Jahren schwer aufrechtzuer-halten sein. Dies nicht zuletzt, weil auch in den Vereinig-ten Staaten in der absehbaren Zukunft Belastungen ausder demographischen Entwicklung auf die öffentlichenHaushalte zukommen werden. Die allmähliche Rück-nahme der fiskalischen Stimuli und die Rückkehr zu ei-ner tragfähigen Haushaltspolitik ist auch angesichts dessich abermals ausweitenden Leistungsbilanzdefizits derVereinigten Staaten ein Thema von erheblicher Relevanzfür die Weltwirtschaft. Eine abrupte Anpassung derLeistungsbilanz ginge vermutlich mit einer weiterenmassiven Abwertung des US-Dollar einher. Dies stelltein nicht zu vernachlässigendes Risiko für die konjunk-turelle Entwicklung in Europa und damit auch inDeutschland dar.

Schaubild 5

-6

-5

-4

-3

-2

-1

1

2

0

vH

-6

-5

-4

-3

-2

-1

1

2

0

vH

62 67 72 77 82 87 92 97 02

Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo in Relation zum Produktionspotential in den Vereinigten Staaten1)

1) Konjunkturbereinigter Finanzierungssaldo des Staates in Relation zum Produktionspotential in jeweiligen Preisen; Berechnungen für das Fiskaljahr (1. Oktoberbis 30. September).– a) Für die Jahre 2003 und 2004 des CBO.Prognose

Quelle: CBOSR 2003 - 12 - 0664

19 2004a)

Defizit (-), Überschuss (+)

5

Page 32: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Eine kürzere Fassung

10. Besser als erwartet verlief die Entwicklung inJapan; das Bruttoinlandsprodukt nahm mit einer Ratevon 2,7 vH zu. Hierfür war insbesondere die private In-vestitionstätigkeit verantwortlich. Im zweiten Halbjahrwirkten zusätzlich positive Impulse von der Exportseite.Die Tatsache, dass die konjunkturelle Dynamik nichtdurch zusätzliche staatliche Stimulierungsmaßnahmenverursacht war, begründet einen vorsichtigen Optimis-mus, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft ihre langan-haltende Stagnationsphase allmählich überwindenkönnte. Dennoch bestehen nicht unerhebliche Risikenfür eine nachhaltige Erholung: Die Deflation hat dasLand weiterhin im Griff; die Arbeitslosigkeit verharrtauf einem für japanische Verhältnisse sehr hohen Niveauund die Probleme im Finanzsektor bestehen weiterhin.Die Quasi-Verstaatlichung einer japanischen Großbankin diesem Jahr war ein deutliches Signal, dass dieSchwierigkeiten im Bankensektor alles andere als über-wunden sind. Der monetäre Transmissionsprozess istweiterhin gestört: Eine fortgesetzt massive Ausweitungder Zentralbankgeldmenge schlägt sich nicht in den brei-ten Geldmengenaggregaten und der Kreditentwicklungnieder.

11. In den Schwellenländern Südostasiens kam es indiesem Jahr zu einer leicht schwächeren Entwicklung:Der Einfluss der Lungenkrankheit SARS, aber auch bin-nenwirtschaftliche Probleme in einer Reihe von Ländernführten insbesondere in der ersten Jahreshälfte zu einermerklichen Eintrübung. Mit der globalen konjunktu-rellen Belebung und der anziehenden Nachfrage ins-besondere nach Produkten der Informations- und Kom-munikationstechnologien seitens der Industrieländerverbesserte sich die gesamtwirtschaftliche Entwicklungjedoch im Jahresverlauf zunehmend. Trotz der vorhan-denen hemmenden Einflussfaktoren bildeten die Staatendes asiatisch-pazifischen Raums erneut die am dyna-mischsten wachsende Region der Weltwirtschaft. Insbe-sondere China erwies sich mit Zuwachsraten von über7 vH in den vergangenen Jahren als weitgehend robustgegenüber negativen externen Einflüssen. Hier treten ge-genwärtig allerdings strukturelle Probleme stärker in denVordergrund der Diskussion, vor allem im Bankenbe-reich. Ihre Beseitigung ist eine wesentliche Vorausset-zung für eine allmähliche Flexibilisierung des Wechsel-kurses.

12. Die konjunkturelle Dynamik im Euro-Raum kamin der ersten Jahreshälfte zum Erliegen. Die Bruttoanla-geinvestitionen verringerten sich nochmals und ent-täuschten die Hoffnungen des Vorjahres auf ein Ende derInvestitionszurückhaltung. Der kräftigste negative Im-puls ging jedoch von der Außenwirtschaft aus: Die Ex-porte sanken wechselkursbedingt in den ersten beidenQuartalen mit einer annualisierten Rate von über 4 vHgegenüber dem zweiten Halbjahr des Jahres 2002. Stüt-zend wirkten einzig die privaten und staatlichen Kon-sumausgaben. Die weltwirtschaftliche Erholung ab derJahresmitte erreichte den Euro-Raum mit zeitlicher Ver-zögerung und auch nur in abgeschwächter Form. Sieführte zu einer merklichen Belebung der Ausfuhr. Die

Investitionstätigkeit blieb weiterhin schwach. Im Jahres-durchschnitt nahm die Produktion um 0,4 vH zu. Ge-messen an früheren konjunkturellen Abschwüngen er-wies sich im aktuellen Zyklus der Arbeitsmarkt alserstaunlich robust. Zwar stagnierte die Beschäftigungmehr oder weniger seit Ende des Jahres 2002, aber ange-sichts einer ebenfalls stagnierenden Produktion wäreneher stärkere Rückgänge der Zahl der Beschäftigten zuerwarten gewesen. Gleiches galt mit umgekehrtem Vor-zeichen für die Arbeitslosenquote. In beiden Fällen dürf-ten sich die in den vergangenen Jahren in einer Reihevon Ländern durchgeführten Arbeitsmarktreformen po-sitiv ausgewirkt haben.

Der konjunkturelle Verbund zwischen den Mitgliedslän-dern der Währungsunion hat sich seit dem Jahr 1999 er-kennbar verstärkt. Die kontemporäre Korrelation der na-tionalen gesamtwirtschaftlichen Auslastungsgrade hatsich zwischen den großen Volkswirtschaften des ge-meinsamen Währungsgebiets erhöht, und es lässt sicheine generelle Tendenz hin zu einem stärkeren zykli-schen Gleichlauf erkennen. Diese Entwicklung ist si-cherlich zu einem Teil durch die Tatsache erklärbar, dassder Abschwung der letzten beiden Jahre von einer Reihesymmetrisch wirkender globaler Schocks verursachtwurde. Ungeachtet dessen bedeutet die stärkere Paralle-lität der Konjunkturverläufe eine willkommene Bot-schaft für die gemeinsame Geldpolitik, denn je wenigerheterogen die Zyklen in den einzelnen Mitgliedsländernverlaufen, desto angemessener ist für sie der von der No-tenbank gesetzte einheitliche Leitzins.

Die Wirtschaftspolitik im Euro-Raum setzte im Ver-gleich zu den Vereinigten Staaten deutlich weniger aufdiskretionäre antizyklische Impulse. Das konjunkturbe-reinigte Defizit in Relation zum nominalen Bruttoin-landsprodukt erhöhte sich seit dem Jahr 2000 um0,4 Prozentpunkte auf 2,3 vH; das unbereinigte Defizit(ohne UMTS-Erlöse) verschlechterte sich durch dasWirken der automatischen Stabilisatoren um 2,0 Pro-zentpunkte. Die Europäische Zentralbank senkte imLaufe des Jahres den Leitzins in zwei Schritten um75 Basispunkte auf 2 %. Die Leitzinsen haben in denLändern der Europäischen Währungsunion damit dasniedrigste Niveau in der Nachkriegszeit erreicht. Diezinspolitische Lockerung erfolgte dabei als Reaktion aufdie eingetrübte realwirtschaftliche Lage. Die Inflations-erwartungen signalisierten zudem keine Gefahren für diemittelfristige Preisniveaustabilität. Die Geldpolitik bliebdamit angesichts der schwachen konjunkturellen Ent-wicklung unverändert expansiv. Betrachtet man die eu-ropäische Geldpolitik seit Beginn der Währungsunionmittels der populären Taylor-Regel, dann lässt sich dievielfach anzutreffende Kritik, die Europäische Zentral-bank sei in ihren Zinsentscheidungen „auf dem konjunk-turellen Auge blind“, auch schon für die vergangenenJahre nicht belegen.

Am 1. Mai kommenden Jahres wird die EuropäischeUnion um zehn Länder erweitert. Dazu wurde mit Ab-schluss der Beitrittsverhandlungen sowie der Unter-zeichnung und Ratifizierung des Beitrittsvertrags in die-

6

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Weltwirtschaft: Aufschwung bei anhaltenden Unsicherheiten

sem Jahr der Weg geebnet. Da alle beitretenden Länderein deutlich geringeres Wohlstandsniveau als die bishe-rigen Mitgliedsländer aufweisen, wird die Struktur- undRegionalpolitik der Europäischen Union vor neue He-rausforderungen gestellt. Das Einkommen je Einwohnerin den acht mittel- und osteuropäischen Beitrittsländernliegt gegenwärtig bei weniger als 50 vH des EU-Durch-schnitts. Zwar befinden sich diese Länder in einem real-wirtschaftlichen Konvergenzprozess, sollte dieser je-doch nicht an Tempo gewinnen, wird es noch mehrereJahrzehnte dauern, bis der Einkommensrückstand zurEuropäischen Union auch nur halbiert sein wird. Hin-sichtlich einer späteren Teilnahme dieser Länder an derEuropäischen Währungsunion dürften die öffentlichenDefizite, vor allem in den größeren Ländern, aus heuti-ger Sicht die höchste Hürde im Rahmen der Maastricht-Kriterien darstellen.

II. Deutschland: Außenwirtschaftliche Belebung bei schwacher Binnennachfrage

13. Die Hoffnungen auf eine konjunkturelle Belebungwurden in diesem Jahr erneut enttäuscht (Tabelle 2). DasBruttoinlandsprodukt stagnierte im dritten Jahr in Folge.Dass es in diesem Jahr nicht zu einem positivenZuwachs des Bruttoinlandsprodukts kam, hatte seine Ur-sachen in einer weiterhin sehr schwachen Inlandsnach-frage und in ausgeprägt dämpfenden außenwirtschaftli-chen Einflüssen in der ersten Jahreshälfte. Zu tief warnach drei Jahren der Stagnation die Skepsis über einedurchgreifende Verbesserung der Einkommensperspekti-ven und Ertragserwartungen bei den Haushalten und Un-ternehmen verankert, so dass selbst der kräftige Impulsüber eine anziehende Weltkonjunktur in der zweiten Jah-reshälfte, der sich in einem deutlichen Exportanstiegniederschlug, nicht auf die Binnenwirtschaft übersprang.Bei einem robusten weltwirtschaftlichen Umfeld undohne zusätzliche negative Wechselkurseinflüsse erholtensich zum Jahresende hin aber auch die Komponenten derInlandsnachfrage allmählich.

– Die Verlangsamung der weltwirtschaftlichen Dyna-mik zu Beginn des Jahres und die Auswirkungen derAufwertung des Euro führten zu einem Rückgang derAusfuhr in den ersten sechs Monaten: Der Exportvon Waren und Dienstleistungen schrumpfte in die-sem Zeitraum mit einer annualisierten Rate von über2,5 vH gegenüber dem zweiten Halbjahr des Vorjah-res. Mit der Verbesserung des internationalen Um-felds ab dem Frühjahr kam es jedoch ab dem drittenQuartal zu einer merklichen Erholung der Ausfuhren.Dies bestätigt, dass für die deutsche Ausfuhr der Ein-kommenseffekt eine bedeutendere Rolle spielt als derWechselkurseffekt. Die schwache inländische Nach-frage führte zu einem Rückgang der Importe, so dassder Außenbeitrag in der zweiten Jahreshälfte denstärksten Beitrag zum Zuwachs des Bruttoinlandspro-dukts beisteuerte.

– Die Investitionstätigkeit war mit einem Rückgangder Bruttoanlageinvestitionen um 1,9 vH auch in die-sem Jahr ein belastender Faktor. Der Abschwung derInvestitionen, der in der zweiten Jahreshälfte 2000eingesetzt hatte, fand noch kein Ende. Die Ausrüs-tungsinvestitionen gingen erneut um 0,3 vH zurück.Dies kontrastierte ein wenig mit den positiven Anzei-chen der Geschäftsklima-Indikatoren ab der Jahres-mitte. Letztere signalisierten aber bereits auch schonim Jahr 2002 eine Erholung, die sich dann nicht inden Produktionsdaten wiederfand. In diesem Jahrdürfte die verbesserte Exportkonjunktur die Unter-nehmensaussichten positiv beeinflusst haben, in denInvestitionszahlen schlug sich diese Entwicklung je-doch nicht nieder. Hierfür spricht auch, dass die Ver-besserung der Auftragslage in der zweiten Jahres-hälfte nahezu ausschließlich durch eine gestiegeneAuslandsnachfrage zustande kam. Angesichts einerweiterhin unterdurchschnittlichen Kapazitätsauslas-tung konnte diese auch ohne zusätzliche Erweite-rungsinvestitionen befriedigt werden. Die Bauinves-titionen verringerten sich um 3,6 vH und trugenhauptsächlich zur negativen Entwicklung der Anlage-investitionen bei. Mit Ausnahme des Jahres 1999 wardamit in jedem Jahr seit dem Jahr 1995 ein Rückgangder Bauinvestitionen zu verzeichnen. Der Investi-tionsrückgang verlangsamte sich allerdings in diesemJahr. Hieraus lässt sich jedoch noch kein deutlichesSignal für ein Ende des Anpassungsprozesses imBaugewerbe ablesen, denn die Entwicklung wurde inder Hauptsache durch den Wohnungsbau verursacht,bei dem angesichts der Diskussion um die Eigen-heimzulage und die Beseitigung der Flutschäden inOstdeutschland in diesem Jahr Einmaleffekte zumTragen kamen.

– Der Konsum der privaten Haushalte erholte sichnur unmerklich. Nachdem es im vergangenen Jahrerstmals seit der Vereinigung zu einem Rückgangdieser Nachfragekomponente gekommen war, bliebder Zuwachs in diesem Jahr mit 0,2 vH erneut hinterden Erwartungen zurück: Die enttäuschende Ent-wicklung am Arbeitsmarkt – das bezahlte Arbeitsvo-lumen verringerte sich um 1,1 vH – sowie die ausge-prägte Lohndrift von minus 1,2 Prozentpunktenführten zu leicht sinkenden Bruttolöhnen und -gehäl-tern. Zusätzlich belasteten die über eine Ausweitungder Beitragsbemessungsgrenze und Beitragssatzerhö-hungen gestiegenen Sozialversicherungsbeiträge dieNettolöhne und -gehälter, die um einen vollen Pro-zentpunkt niedriger waren als im Vorjahr. Der sichdennoch ergebende Anstieg der verfügbaren Einkom-men der privaten Haushalte um 1,4 vH in diesem Jahrist in der Hauptsache den empfangenen Sozialleistun-gen und Transfers geschuldet. Vor diesem Hinter-grund und angesichts der durch die fortgesetzten Dis-kussionen um steuerliche und sozialpolitischeMaßnahmen erzeugten Ungewissheit über die zu-künftige Einkommensentwicklung blieb auch dasKonsumentenvertrauen schwach.

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Eine kürzere Fassung

Ta b e l l e 2

Einheit 2000 2001 2002 20031) 20041)

Bruttoinlandsprodukt ......................... vH2) 2,9 0,8 0,2 -0,0 1,5

Inlandsnachfrage3) ............................. vH2) 1,8 -0,8 -1,6 0,0 0,9

Ausrüstungsinvestitionen .............. vH2) 10,1 -4,9 -9,1 -0,3 3,0

Bauinvestitionen ........................... vH2) -2,6 -4,8 -5,8 -3,6 0,2

Sonstige Anlagen .......................... vH2) 9,0 5,6 1,6 1,9 4,5

Konsumausgaben .......................... vH2) 1,7 1,3 -0,3 0,3 0,6

Private Haushalte4) ....................... vH2) 2,0 1,4 -1,0 0,2 0,8

Staat ........................................... vH2) 1,0 1,0 1,7 0,6 0,1

Exporte von Waren undDienstleistungen ........................... vH2) 13,7 5,6 3,4 1,1 4,8

Importe von Waren undDienstleistungen ........................... vH2) 10,5 0,9 -1,7 1,4 3,4

Erwerbstätige (Inland)5) ....................... Tausend 677 163 -240 -545 -122

Registrierte Arbeitslose5) ..................... Tausend -210 -37 208 323 16

Arbeitslosenquote6) .............................. vH 9,6 9,4 9,8 10,5 10,6

Verbraucherpreise7) ............................. vH 1,4 2,0 1,4 1,1 1,2

Finanzierungssaldo des Staates8) ......... vH -1,2 -2,8 -3,5 -4,1 -3,4

1) Jahr 2003: eigene Schätzung, Jahr 2004: Prognose (Ziffern 360 ff.). - 2) In Preisen von 1995; Veränderung gegenüber dem Vorjahr. - 3) In-ländische Verwendung. - 4) Einschließlich der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck. - 5) Veränderung gegenüber dem Vorjahr. - 6) An-teil der registrierten Arbeitslosen an allen zivilen Erwerbspersonen (abhängig zivile Erwerbspersonen, Selbständige, mithelfende Familienange-hörige). Von 2000 bis 2002 Quelle: BA. - 7) Verbraucherpreisindex (2000 = 100); Veränderung gegenüber dem Vorjahr. - 8) Finanzierungssal-do der Gebietskörperschaften und Sozialversicherung in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in Relation zum nomina-len Bruttoinlandsprodukt. - a) Mit Berücksichtigung der UMTS-Lizenzeinnahmen: + 1,3 vH.

Wirtschaftliche Eckdaten für Deutschland

a)

14. Die Situation der öffentlichen Haushalte ver- sich das Wirken der automatischen Stabilisatoren wider-

schlechterte sich in diesem Jahr nochmals merklich. Miteinem gesamtstaatlichen Defizit von 4,1 vH in Relationzum nominalen Bruttoinlandsprodukt wurde die Defizit-grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts zum zwei-ten Mal in Folge deutlich überschritten. Die Defizite be-trafen sämtliche Gebietskörperschaften – insbesondereden Bund und die Länder –, aber auch die Sozialversi-cherungen. Der Hauptanteil der Defizitausweitung in die-sem Jahr entfällt allerdings auf den Bundeshaushalt, vorallem bedingt durch höhere Ausgaben aufgrund der ge-stiegenen Arbeitslosigkeit. Bereits im Oktober legte dieBundesregierung einen Nachtragshaushalt vor, der eineErhöhung der Nettokreditaufnahme von 18,9 Mrd Euroauf 43,4 Mrd Euro vorsah. Die höhere Neuverschuldungdes Bundes überstieg seine investiven Ausgaben inHöhe von 26,7 Mrd Euro deutlich. Um nicht gegenArtikel 115 Absatz 1 Grundgesetz zu verstoßen, musstedie Bundesregierung erneut eine Störung des gesamt-wirtschaftlichen Gleichgewichts erklären. Neben derkonjunkturell verschlechterten Haushaltsposition, in der

spiegelt, wurde der Spielraum des Bundes aber auchdurch strukturelle Faktoren wesentlich eingeengt.

Die Überschreitung der 3 vH-Grenze des Stabilitäts- undWachstumspakts bereits im vergangenen Jahr führte zuder Eröffnung eines Verfahrens bei übermäßigem Defizitdurch die Europäische Kommission und den ECOFIN-Rat. Im Jahresverlauf wurde zunehmend deutlich, dassim kommenden Jahr aller Wahrscheinlichkeit nach die3 vH-Grenze erneut überschritten wird. In Reaktion da-rauf zeichnete sich vor dem Hintergrund des parallelenVerfahrens gegen Frankreich ab, dass die EuropäischeKommission Deutschland gegen eine Konsolidierungs-vorgabe von einem Prozentpunkt der konjunkturberei-nigten Defizitquote ein Überschreiten auch für das kom-mende Jahr zugestehen würde.

Angesichts der ausufernden Defizite hat die Bundesre-gierung in diesem Jahr ein steuerpolitisches und sozial-politisches Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht,das den Gesamtstaat in den kommenden Jahren in be-

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Deutschland: Außenwirtschaftliche Belebung bei schwacher Binnennachfrage

trächtlichem Ausmaß entlasten wird. Für das Jahr 2005sind hierbei Einsparungen in Höhe von über20 Mrd Euro veranschlagt, die sich bis zum Jahr 2007auf über 26 Mrd Euro erhöhen sollen. Für das kom-mende Jahr bedeutet das geplante Vorziehen der drittenStufe der Steuerreform jedoch einen verringerten Konso-lidierungsimpuls, insbesondere für die Haushalte desBundes und der Länder (Tabelle 3 und Tabelle 40,Seite 186). Allerdings ist neben der Frage des Vorzie-hens der Steuerreform ein Großteil der steuerpolitischenEinsparmaßnahmen angesichts der Zustimmungspflichtdes Bundesrates in ihren Auswirkungen auf die öffent-lichen Haushalte ungewiss. Darüber hinaus sind dieEntlastungseffekte einiger Maßnahmen, beispielsweiseder erwarteten Einnahmen aus der Regelung zur Steuer-amnestie, die mit 5 Mrd Euro veranschlagt werden, alsüberaus optimistisch zu betrachten.

15. Im Zuge der schwachen gesamtwirtschaftlichenEntwicklung verschlechterte sich die Lage auf demArbeitsmarkt in diesem Jahr weiter. Es kam zu einemnochmals verstärkten Rückgang der Erwerbstätigkeitum 1,4 vH auf 38,13 Millionen Erwerbstätige. Die re-gistrierte Arbeitslosigkeit nahm auf 4,38 Millionen Per-sonen im Jahresdurchschnitt zu. Dies entspricht einerQuote von 10,5 vH gegenüber 9,8 vH im Vorjahr. Ins-besondere in der ersten Jahreshälfte verlief die Ent-wicklung auf dem Arbeitsmarkt sehr schwach: ImJahresverlauf stabilisierte sich die saisonbereinigte Ar-beitslosenzahl. Verantwortlich hierfür war allerdingsnicht eine Verbesserung der konjunkturellen Rahmenbe-dingungen, sondern eine Neuausrichtung der Arbeits-marktpolitik an dem Prinzip „Fördern und Fordern“.Hierbei wurde die tatsächliche Arbeitsbereitschaftdurch die Arbeitsämter verstärkt überprüft und die Mel-depflichten strenger durchgesetzt. Infolgedessen nah-men die Abmeldungen bisher registrierter Arbeitsloserin die Nichterwerbstätigkeit stärker zu. Zudem wurde

die aktive Arbeitsmarktpolitik zunehmend auf dieFörderung regulärer Beschäftigung ausgerichtet, die In-strumente der „Beschäftigung schaffenden Maßnah-men“ und der beruflichen Weiterbildung wurden merk-lich zurückgefahren. Dies ist angesichts der bisherverfügbaren empirischen Evidenz zur Wirksamkeit die-ser arbeitsmarktpolitischen Instrumente ein richtigerSchritt.

Das Jahr 2003 war geprägt durch eine Vielzahl von Re-formmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt. Im Septemberwurde mit dem „Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt“eine Neuregelung des gesetzlichen Kündigungsschutzessowie der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds verab-schiedet. Mit der Verkürzung der Bezugsdauer des Ar-beitslosengelds auf grundsätzlich maximal zwölf Mo-nate (18 Monate für Personen nach Vollendung des55. Lebensjahres) hat der Gesetzgeber einen wichtigenSchritt zur Verringerung der Arbeitslosigkeit getan. Esist ein auch empirisch gut dokumentierter Befund, dassdie Dauer der Unterstützungszahlungen bei Arbeitslo-sigkeit einen negativen Effekt auf die Höhe und dieDauer der Arbeitslosigkeit hat. Da die Neuregelung al-lerdings mit einer zweijährigen Übergangsfrist beschlos-sen wurde, werden die positiven Arbeitsmarkteffektedieser Maßnahme (und auch die fiskalischen Einsparun-gen) erst ab dem Jahr 2006 anfallen. Bei der Neurege-lung des Kündigungsschutzes hat den Gesetzgeber je-doch der reformerische Mut weitgehend verlassen. Diesbetrifft sowohl die Regelung des Schwellenwerts, abdem der Kündigungsschutz greift, als auch die Frage derAbfindungen bei betriebsbedingten Kündigungen. Zubegrüßen ist hingegen die Klarstellung der Kriterien ei-ner Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen,die erleichterten Ausnahmeregelungen im Rahmen einervorzunehmenden Sozialauswahl sowie die Einschrän-kungen der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Auswahl-tatbestände im Rahmen eines betrieblichen Interessen-ausgleichs. Die Rechtsunsicherheit für Arbeitnehmerund Arbeitgeber im Kündigungsverfahren, die vielfachals das schwerstwiegende Hemmnis der bisherigenRegelung angesehen wird, verringert sich durch die Re-form jedoch nicht merklich. Der Sachverständigenrat er-gänzt deshalb in diesem Gutachten seine bisherigenAusführungen zu einer Reform des Kündigungsschutzesund stellt diese in einen engeren Zusammenhang zueinem weitergehenden Reformvorschlag für die Ar-beitslosenversicherung, da beide institutionellen Regel-werke nicht unabhängig voneinander betrachtet werdensollten.

16. Die im Rahmen des Vierten „Gesetzes für moderneDienstleistungen am Arbeitsmarkt“ geplante Zusam-menlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfebeseitigt das Nebeneinander von zwei parallelen steuer-finanzierten Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosig-keit und ist insofern uneingeschränkt zu begrüßen. UmLangzeitarbeitslosigkeit zu verringern, ist es jedoch not-wendig, die Anreize zur Aufnahme einer regulären Er-werbstätigkeit stärker zu erhöhen, als dies die bisherigenPläne vorsehen. Im Modell des Sachverständigenrateszur Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und

Tabelle 3

Mio Euro2)

2004 2005 2006 2007

Bund ................ - 2 834 + 7 347 + 7 733 + 8 607 Länder .............. - 4 126 + 2 699 + 3 235 + 3 529 Gemeinden ....... + 1 443 + 4 020 + 4 194 + 4 980 Sozialver- sicherungen .... + 6 260 + 5 350 + 6 250 + 6 750Insgesamt ........... + 2 643 +21 916 +23 912 +26 366

1) Haushaltsbegleitgesetz 2004, Reform der Gewerbesteuer, Förderungder Steuerehrlichkeit, Korb II, Steueränderungsgesetz 2003, Altersein-künftegesetz, Zweites und Drittes Gesetz zur Änderung des SGB VIund anderer Gesetze, Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen amArbeitsmarkt, GKV-Modernisierungsgesetz, Gesetz zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchsteuergesetze; zu den Ein-zelheiten siehe Tabelle 40, Seite 186. - 2) Belastungen (-).

Finanzielle Auswirkungen der Reformmaßnahmender Bundesregierung1)

9

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Eine kürzere Fassung

Sozialhilfe in eine einheitliche Unterstützungszahlungfür erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger und bedürftigeBezieher von Arbeitslosenhilfe ist zusätzlich zu der auchvon der Bundesregierung geplanten Regelung eine groß-zügigere Anrechnung von zusätzlichem Arbeitseinkom-men auf das neue Arbeitslosengeld II als bisher – undauch großzügiger als in der geplanten Neuregelung –vorgesehen (JG 2002 Ziffern 447 ff.). Zudem wird imModell des Sachverständigenrates über eine Absenkungdes Regelsatzes für Bezieher von Arbeitslosengeld II dieAufnahme einer Beschäftigung am ersten Arbeitsmarktattraktiver. Diese Anreizproblematik wird durch die ge-plante Reform des Niedriglohnsektors nicht entschiedengenug berücksichtigt, da sie auf eine Kombination vonmehr Hinzuverdienstmöglichkeiten und einer Absen-kung der Regelleistung verzichtet. Damit steht zu be-fürchten, dass die geplante Reform ihr Ziel, nämlich eineErhöhung der Beschäftigung gering Qualifizierter, nichterreichen wird. Vor diesem Hintergrund ist auch der vor-gesehene zweijährige Zuschlag für vormalige Beziehervon Arbeitslosenhilfe kontraproduktiv. Gleiches gilt fürdie Regelung, dass bei Arbeitsaufnahme ein Tariflohnoder ortsüblicher Mindestlohn gezahlt werden muss. Beialler Kritik an dieser Abschwächung der Zumutbarkeits-regelung ist jedoch zu beachten, dass für Bezieher vonArbeitslosengeld II zukünftig jede Tätigkeit als zumut-bar gilt, unabhängig von ihrer Qualifikation und ihremfrüheren Beruf.

Die seit April gültigen Regelungen zu den Mini- undMidi-Jobs werden die Beschäftigungschancen geringQualifizierter ebenfalls nicht wesentlich verbessern.Zwar bedeuten sie eine teilweise Flexibilisierung desArbeitsmarkts im Bereich niedrig entlohnter Beschäfti-gung, wobei das zusätzliche Beschäftigungspotential ge-genwärtig mangels eindeutiger statistischer Angabennicht exakt zu quantifizieren ist. Aber dieses Mehr anBeschäftigung dürfte zu einem großen Teil bei Personen-gruppen entstehen, die nicht zu den Problemfällen amArbeitsmarkt zählen. Für Bezieher von ArbeitslosengeldII bleibt die Aufnahme einer Beschäftigung im Rahmeneines Mini- oder Midi-Jobs wegen der nur in begrenztemUmfang besseren Hinzuverdienstmöglichkeiten hinge-gen unattraktiv.

17. Auf dem Berufsausbildungsstellenmarkt zeichnetesich im Laufe des Berufsberatungsjahres 2002/2003 eindeutlicher Bewerberüberhang ab, und zeitweise wurdeeine Lücke von bis zu 70 000 fehlenden Lehrstellen be-fürchtet. Diese Entwicklung stieß, wie zu erwarten, wie-der einmal die Diskussion um die Einführung einer Aus-bildungsplatzabgabe als Instrument zur Sicherstellungeines ausreichenden Angebots an Ausbildungsplätzenan. Am Ende des Berufsberatungsjahres hatte sich dieSchere zwischen der Zahl der noch unvermittelten Be-werber und den noch nicht besetzten Ausbildungsplät-zen zwar wieder etwas geschlossen, gleichwohl bestandnoch ein rechnerischer Bewerberüberhang von rund20 000 Personen. Ob diese Lücke bis zum Jahresendenoch geschlossen werden kann, lässt sich noch nicht ab-sehen, denn es kommt aufgrund von nicht angetretenenoder abgebrochenen Ausbildungsverhältnissen zur

Nachmeldung sowohl von Bewerbern als auch von Aus-bildungsplätzen. Ungeachtet dessen hält der Sachver-ständigenrat das Konzept einer Ausbildungsplatzabgabe,wie sie inzwischen auch von Teilen der Regierungskoali-tion angestrebt wird, nach wie vor für nicht sachdienlichund im Ergebnis kontraproduktiv (JG 97 Ziffer 367).Eine derartige Abgabe wirft mannigfaltige Problemehinsichtlich der konkreten Ausgestaltung auf, etwa wasdie adäquate Bemessungsgrundlage oder die Behand-lung von Betrieben ohne Ausbildungsberechtigung an-geht, und zu befürchten sind neben einer teuren Bürokra-tisierung der Ausbildung erhebliche Mitnahmeeffekteauf der einen und das Loskaufen vom Zwang zur Ausbil-dung auf der anderen Seite. Ein Mehr an Ausbildungs-plätzen und eine Stärkung der Berufsausbildung werdendadurch nicht erreicht.

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004: Konjunkturhoffnungen ruhen auf der Weltwirtschaft

18. Die Hoffnungen für das Jahr 2004 richten sich dar-auf, dass sich der Aufschwung der Weltwirtschaft fort-setzt und der außenwirtschaftliche Funke im kommen-den Jahr auf die Binnenwirtschaft überspringt. DieAusgangsbedingungen sind günstig. Insgesamt wird diegesamtwirtschaftliche Produktion in den meisten Indus-trieländern im Jahr 2004 deutlich stärker zunehmen alsin diesem Jahr.

Die Perspektiven für die deutsche Binnenwirtschaft sindweniger klar. Die Europäische Zentralbank verfolgt ei-nen expansiven Kurs: Die Realzinsen sind auf einemsehr niedrigen Stand, und gegenwärtig spricht vieles fürein Beibehalten des derzeitigen Leitzinsniveaus bis weitin das nächste Jahr hinein. Die Finanzpolitik steht unterKonsolidierungsdruck. In diesem Jahr wurde insbeson-dere in den Sozialversicherungen ein Maßnahmebündelbeschlossen, das für das kommende Jahr beträchtlicheNettoentlastungen vorsieht. Bei steuerpolitischen Vorha-ben ist die Umsetzung hingegen mit zahlreichen Frage-zeichen versehen. Dies betrifft vor allem das Vorziehender Steuerreform und deren Gegenfinanzierung sowiedie Reform der Gewerbesteuer. Die bisher beschlosse-

Die voraussichtliche Entwicklung im kommenden Jahr

– Die konjunkturelle Entwicklung in Deutschlandbleibt verhalten. Sie wird sich, gezogen von demweltweiten Aufschwung, im Jahr 2004 nur langsambeleben. Das Bruttoinlandsprodukt wird ohne Vor-ziehen der Steuerreform um 1,5 vH steigen, mitSteuerreform und weitgehender Gegenfinanzierungwird der Zuwachs 1,7 vH betragen.

– Die Preisniveaustabilität ist auch im Jahr 2004nicht gefährdet.

– Die Arbeitslosenquote verharrt auf über 10 vH.

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Deutschland: Außenwirtschaftliche Belebung bei schwacher Binnennachfrage

nen Sparmaßnahmen haben für sich genommen einenkontraktiven Effekt. Dem steht die dadurch ermöglichteBeitragssatzsenkung in der Gesetzlichen Krankenversi-cherung entgegen. Zudem sollte von den bereits in An-griff genommenen Strukturreformen ein positiver Er-wartungseffekt auf die Unternehmen ausgehen: DerReformstau in Deutschland beginnt sich aufzulösen. Mitraschen und kräftigen Wirkungen der Reformen ist je-doch kurzfristig nicht zu rechnen; der Einfluss auf dieinländische Wirtschaftsentwicklung im Jahr 2004 wirddaher eher in einer Verbesserung des Vertrauens in dieHandlungsfähigkeit der Politik bestehen als in konkretenBeschäftigungs- und Produktionseffekten. Zusammenmit den Impulsen aus dem Ausland dürfte dies aber aus-reichen, um eine moderate Erholung der Inlandsnach-frage herbeizuführen.

19. Der Sachverständigenrat erstellt seine Prognose zurgesamtwirtschaftlichen Entwicklung für das kommendeJahr regelmäßig unter der Annahme des gesetzgeberi-schen Status quo. Das bedeutet, dass bei Gesetzesände-rungen nur diejenigen Maßnahmen einfließen, die zumZeitpunkt der Prognoseerstellung bereits verabschiedetsind oder bei denen keine Zustimmungspflicht des Bun-desrates besteht. Dieses Vorgehen ist im Regelfall un-problematisch. Angesichts der Vielzahl der im kommen-den Jahr finanzwirksamen Gesetze, deren Umsetzungdurch die Beteiligung des Bundesrates im weiteren Ver-lauf der Gesetzgebung gegenwärtig ungewiss ist, entste-hen aber für die Prognose des kommenden Jahres erheb-liche Unsicherheiten. Dies betrifft das Vorziehen derSteuerreform sowie die steuerpolitischen Einsparmaß-nahmen (Haushaltsbegleitgesetz, Reform der Gewerbe-steuer, Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit,Korb II, Steueränderungsgesetz 2003 und Hartz IV-Ge-setz). Die Auswirkungen dieser Maßnahmen werdendeshalb in der Basisprognose nicht berücksichtigt. Unterdiesen Annahmen ergibt sich für das kommende Jahreine Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts von 1,5 vH.In einer Alternativprognose wird unterstellt, dass dieentsprechenden Gesetze, so wie vom Deutschen Bundes-tag beschlossen, in Kraft treten. Unter dieser Annahmeergibt sich für das kommende Jahr eine Zuwachsrate desBruttoinlandsprodukts von 1,7 vH.

20. Den beiden Prognoseszenarien unterliegt eineReihe identischer Annahmen. So ist unterstellt, dass derÖlpreis im kommenden Jahr durchschnittlich 27 US-Dollar pro Barrel der Sorte Brent betragen wird. ImJahresdurchschnitt wird das Welthandelsvolumen nacheiner verhaltenen Zunahme in diesem Jahr um 3,7 vH imJahr 2004 um 7,4 vH steigen. Der reale effektive Wech-selkurs des Euro bleibt gegenüber seinem Niveau vomNovember 2003 unverändert. Die Inflationsrisiken blei-ben niedrig und veranlassen die Europäische Zentral-bank nicht zu einer Änderung des gegenwärtigen Leit-zinsniveaus.

21. Im Zuge der fortgesetzten weltwirtschaftlichen Be-lebung wird sich der Exportzuwachs im nächsten Jahr auf4,8 vH belaufen. Auch die Importe werden zulegen, we-gen der moderaten Erholung im Inland aber schwächer alsdie Exporte. Der Beitrag des Außenhandels zum Anstieg

der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Inland wird inder Größenordnung von 0,7 Prozentpunkten liegen.

Die Bruttoanlageinvestitionen expandieren im kommen-den Jahr mit 1,6 vH verhalten. Die Ausrüstungsinvesti-tionen erholen sich im Zuge der robusten Ausfuhr-konjunktur im Jahresverlauf sukzessive. Mit einerSteigerungsrate von 3 vH lässt sich jedoch noch keinedurchgreifende Belebung der Investitionstätigkeit erken-nen. Das dominierende Investitionsmotiv werden weiter-hin Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen bleiben.Die Investitionstätigkeit am Bau bleibt ebenfalls ge-dämpft. Einzig der Wohnungsbau sollte von den Sonder-effekten der Diskussion um die Eigenheimzulage profi-tieren. Mit einer jahresdurchschnittlichen Zuwachsratevon 0,2 vH wird für die Bauinvestitionen der Rückgangim kommenden Jahr jedoch erstmals seit dem Jahr 1999zum Stillstand kommen.

Die privaten Verbrauchsausgaben tragen im nächstenJahr leicht zur Konjunkturbelebung bei. Nach einer Er-höhung um 0,2 vH in diesem Jahr ist im nächsten Jahrmit einem Zuwachs von 0,8 vH zu rechnen. ImJahr 2004 wird das verfügbare Einkommen lediglich ineiner ähnlichen Größenordnung zunehmen wie in die-sem Jahr. Die Steigerungsrate der Verbraucherpreisebleibt mit 1,2 vH im kommenden Jahr gegenüber diesemJahr nahezu unverändert.

22. Der seit drei Jahren andauernde Rückgang der Er-werbstätigkeit setzt sich im Jahr 2004 zunächst fort, imweiteren Jahresverlauf kommt es dann aber zu einemleichten Beschäftigungsanstieg; im Jahresmittel wird dieZahl der Erwerbstätigen gleichwohl um 0,3 vH auf38,00 Millionen im Inland zurückgehen (Tabelle 48,Seite 245). Die Zahl der registrierten Arbeitslosen wirdmit 4,40 Millionen nur geringfügig über dem Vorjahres-niveau liegen. Dies widerspricht der Erfahrung, nach derdie Zahl der Arbeitslosen der Entwicklung der Erwerbs-tätigkeit nachläuft, so dass im Jahr 2004 eigentlich einstärkerer Anstieg zu erwarten wäre. Dass es nicht sokommt, liegt daran, dass wie bereits im Jahr 2003 diekonjunkturelle Entwicklung durch Änderungen in derPolitik der Arbeitsverwaltung überlagert wird, die bei-spielsweise zu verstärkten Abgängen von Nichtleis-tungsempfängern aus der registrierten Arbeitslosigkeitführen und damit den aufgrund der Beschäftigungsent-wicklung eigentlich zu erwartenden Anstieg der Arbeits-losigkeit dämpfen.

23. Im kommenden Jahr wird das staatliche Finanzie-rungsdefizit nach einem Betrag von 86,6 Mrd Euro indiesem Jahr mit etwa 74,8 Mrd Euro zwar etwas vermin-dert, aber es befindet sich noch immer auf einem hohenNiveau. Das Ziel, eine Defizitquote von unter 3,0 vH zurealisieren, wird damit zum dritten Mal in Folge ver-fehlt. In der Basisprognose beträgt das Defizit in Rela-tion zum nominalen Bruttoinlandsprodukt 3,4 vH, in derAlternativprognose steigt es auf 3,6 vH. Kommt es hin-gegen ausschließlich zu einem Vorziehen der drittenStufe der Steuerreform ohne die geplanten Konsolidie-rungsmaßnahmen, würde das staatliche Defizit in Rela-tion zum nominalen Bruttoinlandsprodukt mit 4,1 vHgenauso hoch ausfallen wie in diesem Jahr.

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Eine kürzere Fassung

III. Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

24. Die deutsche Volkswirtschaft konnte sich auch indiesem Jahr nicht aus den Fesseln der Stagnation be-freien: Das Wenige, was sich unter der Rubrik Dynamikverbuchen lässt, ist in der Hauptsache außenwirtschaftli-chen Einflüssen geschuldet. Die Arbeitslosigkeit isterneut gestiegen. Von den vier großen makroökonomi-schen Zielen – stabiles Preisniveau, außenwirtschaftli-ches Gleichgewicht, hoher Beschäftigungsstand sowieangemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum –, dieder Sachverständigenrat gemäß seinem gesetzlichenAuftrag zu untersuchen hat, wurden in diesem Jahr diebeiden letztgenannten Ziele zum wiederholten Male ver-fehlt. Diese enttäuschende Bestandsaufnahme unter-scheidet sich im Grundsatz nicht von derjenigen desletzten Jahresgutachtens. Damals hatte der Sachverstän-digenrat angesichts einer weitgehend richtungslosenWirtschaftspolitik das Fehlen einer in sich schlüssigenStrategie für mehr Wachstum und Beschäftigung konsta-tiert. Seitdem – und dies ist der wesentliche Unterschiedzur Situation von vor einem Jahr – hat sich in der Wirt-schaftspolitik einiges bewegt. Dieses grundsätzlicheUrteil soll nicht verdecken, dass es im Hinblick auf dieUngewissheit über die Umsetzung vieler Maßnahmenein gehöriges Maß an Vorschusslorbeeren enthält unddass in Teilbereichen durchaus Kritik angebracht ist:Aber die Richtung stimmt und insofern fällt die Beurtei-lung der Wirtschaftspolitik positiver aus als noch vorJahresfrist.

25. Dieses Urteil ist allerdings zu differenzieren: Esgilt im Grundsatz für die eingeleiteten Maßnahmen aufdem Arbeitsmarkt und in den Systemen der Sozialen Si-cherung. Es gilt nicht für die Finanzpolitik im Allgemei-nen und die Steuerpolitik im Besonderen. Zwar habendie Probleme, vor denen die öffentlichen Haushalte ge-genwärtig stehen, teilweise konjunkturelle Ursachen,und unzweifelhaft sind sie auch zum Teil das Resultatnur halbherziger Reformen der Vergangenheit in den So-zialversicherungen. Kommt dann eines zum anderensind öffentliche Defizite in der Größenordnung, wie sieletztes und dieses Jahr zu verzeichnen waren, die fastunvermeidliche Folge. Die Finanzpolitik ist aber weni-ger für die konjunkturbedingte Verschlechterung der öf-fentlichen Defizite zu kritisieren, sondern vielmehr da-für, dass sie in ihrer ureigenen Domäne im vergangenenJahr zu wenig getan hat, die Aussichten für mehr Wachs-tum und Beschäftigung zu verbessern: Die Konsolidie-rung der öffentlichen Haushalte mit dem Ziel einerRückführung der staatlichen Verschuldung, ein Ziel, dasder Sachverständigenrat ausdrücklich unterstützt undmit dem die Finanzpolitik in den vergangenen JahrenVertrauenskapital aufgebaut hatte, wurde zunehmendunter Konjunkturvorbehalt gestellt. Die Vorgaben desStabilitäts- und Wachstumspakts wurden angesichts derkonjunkturellen Lage immer stärker als wachstumshem-mendes Zwangskorsett angesehen, dessen man sich übereine flexible Interpretation des Regelwerks entledigenkönne. Die Nettokreditaufnahme des Bundeshaushalts

überstieg wiederum die Ausgaben für die öffentlichenInvestitionen, und die Verzerrungen an der Schnittstellevon Einkommens- und Unternehmensbesteuerung wur-den nicht beseitigt. Im Bereich der Steuerpolitik hat dieGesetzgebung nicht nur jeglichen perspektivischen Elanverloren, die Systematik des Einkommensteuerrechtsschwindet zunehmend. Stattdessen gewann die Idee ei-ner diskretionären konjunkturstabilisierenden Rolle derFinanzpolitik an Prominenz.

26. Der Sachverständigenrat beurteilt die Wirtschafts-politik daran, eine konsistente Strategie für mehr Wachs-tum und Beschäftigung zu formulieren und umzusetzen.Hierzu gehört auch, dass die Wirtschaftspolitik ange-sichts der zukünftigen demographischen Veränderungendie Konsequenzen der gegenwärtigen Politik unter ei-nem langfristigen Zeithorizont erfasst. Dies gilt insbe-sondere für die Finanzpolitik und die Sozialpolitik. Vordem Hintergrund der eingeleiteten Reformmaßnahmenund der bestehenden Reformdefizite legt das diesjährigeJahresgutachten deshalb einen Schwerpunkt auf dieRolle, die der Finanzpolitik im Rahmen einer solchenPolitikkonzeption zukommt. Angesichts der weiterhinbestehenden Zielverfehlungen auf dem Arbeitsmarktstellt der Sachverständigenrat darüber hinaus Vorschlägezur Diskussion, die die bisher eingeleiteten Reformmaß-nahmen ergänzen sollen.

1. Öffentliche Haushalte sanieren(Ziffern 390 ff.)

27. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jah-ren die Notwendigkeit einer Konsolidierung der öffentli-chen Haushalte zu einem integralen Bestandteil ihrerFinanzpolitik gemacht. In den „Finanzpolitischen Leit-planken“ wurden im Jahr 2000 als grundsätzliche Zieleder Finanzpolitik „ein Schuldenabbau für nachhaltigesolide Staatsfinanzen“ sowie „die Förderung von Wachs-tum und Beschäftigung durch ein tragfähiges und ge-rechtes Steuer- und Abgabensystem“ formuliert. Diesgeschah in der Erkenntnis: „Schulden von heute sind dieSteuern und Abgaben von morgen“. Im vergangenenJahr wurde jedoch das dieser Philosophie unterliegendestrikte Konsolidierungserfordernis durch eine stärker aufdie Stabilisierung der Konjunktur ausgerichtete Rolleder Finanzpolitik abgeschwächt. Es ist geplant, die dritteStufe der Steuerreform vorzuziehen. Begründet wirddieses Vorhaben mit dem Erfordernis, die notwendigenStrukturreformen und den eingeschlagenen Konsolidie-rungskurs angesichts der schwachen gesamtwirtschaftli-chen Entwicklung mit einem konjunkturellen Impuls zustützen. In der Tat wurde in der Steuerpolitik und in derSozialpolitik ein Bündel an Maßnahmen geschnürt, dasin den kommenden Jahren einen deutlichen Konsolidie-rungseffekt entfalten wird, vorausgesetzt, die Maßnah-men werden in der veranschlagten Größenordnung um-gesetzt. Hier sind aber gerade bei den steuerlichenEinsparmaßnahmen gegenwärtig viele Fragen, sowohldie Umsetzung als auch die Finanzierung betreffend, of-fen. Dies gilt auch für die steuerliche Entlastung selbst.Damit ist die Entwicklung der öffentlichen Haushalte im

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

kommenden Jahr mit erheblichen Unsicherheiten behaf-tet: Kommt es zu einem Vorziehen der Steuerreform undwerden die entsprechenden Gegenfinanzierungsmaßnah-men über den Bundesrat realisiert, dann dürfte das Defi-zit der öffentlichen Haushalte im kommenden Jahr3,6 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandsproduktbetragen.

28. Die Hoffnung auf einen mit dem Vorziehen derSteuerreform verbundenen positiven konjunkturellenImpuls nimmt in Kauf, dass im kommenden Jahr die er-neute Verletzung der Defizitvorgabe des Stabilitäts- undWachstumspakts wahrscheinlicher wird. Angesichts derempirischen Evidenz zu den geringen kurzfristigen ge-samtwirtschaftlichen Auswirkungen einer diskretionärenkreditfinanzierten Steuersenkung ist dies ein hoher Preis,denn es besteht die Gefahr, dass die Finanzpolitik in demSpagat zwischen langfristigen Konsolidierungserforder-nissen und kurzfristigem Stabilisierungsziel als inkon-sistent in ihren Zielen wahrgenommen wird. Der damitverbundene Glaubwürdigkeitsverlust wäre insbesonderedann groß, wenn die steuerliche Entlastung beschlossenwürde und die steuerlichen Konsolidierungsmaßnahmenin den Verhandlungen zwischen Bundesregierung undOpposition im Vermittlungsverfahren auf der Streckeblieben. Dies ist aus politökonomischen Gründen nichtunwahrscheinlich. Das Schicksal des Steuervergüns-tigungsabbaugesetzes liefert das beste Anschauungs-beispiel, wie finanzpolitische Konsolidierungsmaßnah-men im System des „kooperativen Föderalismus“bundesdeutscher Prägung bis zur Unkenntlichkeit ver-wässert werden können. Angesichts des dringlichenKonsolidierungsbedarfs wäre dies die schlechteste allerLösungen.

Renaissance der diskretionären Finanzpolitik

29. Die Vorstellung, dass mit den Instrumenten der Fi-nanzpolitik der gegenwärtigen konjunkturellen Schwä-che wirksam entgegengesteuert werden kann und sollte,hat in den zurückliegenden Jahren nicht nur in Deutsch-land an Gewicht gewonnen: Das prominenteste Beispielhierfür sind die Vereinigten Staaten, die in zunehmen-dem Maße die Finanzpolitik diskretionär zur Stabilisie-rung der Gesamtwirtschaft einsetzen. Mit dem geplantenVorziehen der dritten Stufe der Steuerreform beabsich-tigt die Bundesregierung nun ebenfalls eine teilweisekreditfinanzierte Entlastung in Höhe von rund15,6 Mrd Euro für das kommende Jahr. Auf den Bundes-haushalt entfallen davon rund 7 Mrd Euro, von denen5 Mrd Euro über eine höhere Verschuldung finanziertwerden sollen. Für die Länder und Gemeinden ist die Fi-nanzierung ungeklärt. Die vorliegenden empirischenStudien zu den Auswirkungen einer kreditfinanziertenSteuersenkung kommen in der Mehrzahl zu dem Ergeb-nis, dass eine solche Maßnahme kurzfristig positive kon-junkturelle Effekte entfaltet. Die entsprechenden Multi-plikatoren sind aber regelmäßig gering. Eine Senkungder Steuerbelastung gemessen am nominalen Bruttoin-landsprodukt um einen Prozentpunkt erhöht demgemäßden Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Produktion

kurzfristig um rund 0,2 bis 0,5 Prozentpunkte. Diesergeringe positive gesamtwirtschaftliche Impuls der steu-erlichen Entlastung war abzuwägen gegen den mit ei-nem höheren Defizit verbundenen möglichen Vertrau-ensverlust in die Glaubwürdigkeit des mittelfristigenKonsolidierungspfads. Der Sachverständigenrat hätteangesichts dieser Alternative und eines strukturellen De-fizits von 3½ vH im Jahr 2003 in Relation zum nomina-len Bruttoinlandsprodukt von dem Vorziehen der Steuer-reform abgeraten. Da aber inzwischen der DeutscheBundestag das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerre-form beschlossen hat, sollte dieser Schritt auch umge-setzt werden. Das ständige Hin und Her in der Steuerpo-litik muss endlich ein Ende haben; denn auch so wirddas Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit derPolitik beschädigt. Zu warnen ist allerdings davor, zu-künftig eine Renaissance der diskretionären Finanzpoli-tik einzuläuten. Groß sind bei nur geringen konjunktu-rellen Effekten die Risiken einer prozyklischen Politik,die daraus entstehen, dass die politischen Maßnahmenangesichts der zeitlichen Verzögerung im Diagnose- undEntscheidungsprozess zu spät kommen und nicht mehrantizyklisch wirken, sondern den Zyklus noch verstär-ken. Die Stabilisierungsaufgabe der Finanzpolitik wirddamit nicht negiert; als Regel sollte aber gelten, dass siediese Aufgabe über das Wirken der automatischen Stabi-lisatoren gewährleistet und nicht ihre Energien im politi-schen Gezerre um konjunkturstimulierende Maßnahmenerschöpft. Dazu sind die übrigen unerledigten Problemeder Finanzpolitik zu bedeutend.

Stabilitäts- und Wachstumspakt

– Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ein sinn-volles und notwendiges Regelwerk. Er soll dieTragfähigkeit der nationalen Finanzpolitiken imEuro-Raum sicherstellen und möglichen Konflik-ten zwischen der einheitlichen Geldpolitik und dennationalen Finanzpolitiken vorbeugen.

– Die Europäische Kommission wird derzeit ihrerRolle als Hüterin des Pakts nicht gerecht. Sie sollteden Pakt konsequent anwenden und Verstößen ge-gen den Pakt entschlossener entgegentreten.

– Mehr noch als die Europäische Kommission trägtgegenwärtig der ECOFIN-Rat zur Demontage desPakts bei. Er hat die Entscheidung über weitereSchritte im Defizitverfahren gegen Frankreich mitungewissem Ausgang vertagt. Werden fortgesetztVerstöße gegen die Vorgaben des Pakts nicht sank-tioniert, ist der Pakt faktisch tot.

– Als Konsequenz der wiederholten und andauern-den Verstöße gegen die Haushaltsregeln des Paktsmüssen in Deutschland umgehend entschlosseneKonsolidierungsmaßnahmen eingeleitet werden.Andernfalls sind mögliche Sanktionen − zunächstdie Hinterlegung einer zinslosen Bareinlage − zuakzeptieren.

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Eine kürzere Fassung

Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert

30. Deutschland verfehlte in diesem Jahr mit einem De-fizit von 4,1 vH in Relation zum nominalen Bruttoin-landsprodukt im zweiten Jahr in Folge die Defizitober-grenze von 3 vH des Stabilitäts- und Wachstumspakts.Und auch im kommenden Jahr wird es nicht gelingen, dieDefizitquote unter diese Grenze zurückzuführen. Mit ei-nem strukturellen Defizit von über 3 vH ist man zudemweit entfernt von dem mittelfristigen Ziel eines ausgegli-chenen Haushalts. Insofern war es konsequent, zu Be-ginn dieses Jahres ein Defizitverfahren gegen Deutsch-land zu eröffnen. Auch gegen Frankreich wurde einVerfahren eingeleitet. Diese weitgehend zeitgleichenVerfahren gegen die beiden größten Länder der Europäi-schen Währungsunion bedeuteten die erste große Bewäh-rungsprobe für den Pakt. Diese endete vorläufig mit derEntscheidung des ECOFIN-Rates, die Empfehlungen derEuropäischen Kommission an Frankreich im Rahmendes Artikel 104 Absatz 9 EG-Vertrag auf seiner SitzungAnfang November zu vertagen, in einer existentiellenKrise des Pakts. Die Empfehlung der EuropäischenKommission, Frankreich gegen das Versprechen einerZurückführung der konjunkturbereinigten Defizitquoteum einen Prozentpunkt, ein Überschreiten der 3 vH-Grenze bis zum Jahr 2005 zu gestatten, war schon einVorgehen, mit dem die Flexibilität des Stabilitäts- undWachstumspakts bis an die Grenze strapaziert wurde.Dadurch, dass sich der ECOFIN-Rat bisher nicht mit dernotwendigen Mehrheit auf diese ohnehin laxe Vorgabeeinigen konnte, riskiert er die Demontage des Pakts.

31. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ein sinnvol-les Regelwerk. Er soll mögliche Konflikte zwischen dereinheitlichen europäischen Geldpolitik und den weiter-hin nationalen Finanzpolitiken in den Mitgliedstaaten derEuropäischen Währungsunion verhindern und darüberhinaus die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen si-chern und so die langfristigen Wachstumsaussichten stär-ken. Dass solide öffentliche Finanzen einen positivenEinfluss auf das langfristige Niveau der Produktion ha-ben, findet für die Mitgliedsländer der EuropäischenWährungsunion auch empirische Bestätigung (Zif-fern 789 ff.). Die genannten Ziele erfordern in der Logikdes Pakts eine ausgeglichene Haushaltsposition und da-mit für Länder, in denen der konjunkturbereinigte Haus-halt defizitär ist, eine entsprechende Konsolidierungsan-strengung. In einer ganzen Reihe von Ländern ist in denvergangenen Jahren eine deutliche Rückführung der De-fizite und Schuldenstandsquoten erreicht worden. Ausge-hend von der Situation eines ausgeglichenen Haushaltsist dann auch bei normalen konjunkturellen Schwankun-gen eine über die automatischen Stabilisatoren wirkendeStabilisierung durch die Finanzpolitik möglich, ohne mitder 3-vH-Defizitvorgabe in Konflikt zu geraten. Insofernist die Möglichkeit, dass es – wie im Falle Deutschlandsund Frankreichs – angesichts einer nicht übermäßigschweren gesamtwirtschaftlichen Abschwungsphase zueinem Überschreiten der Defizitgrenze kommt, nur miteinem Konsolidierungsversagen in der jüngeren Vergan-genheit erklärbar.

32. In diesem Fall ist dann in der Tat ein Zielkonfliktzwischen den kurzfristigen stabilisierungspolitischen Er-fordernissen und den Defizitvorgaben des Pakts vorhan-den. Die Logik des Pakts lässt den betreffenden Ländernaber zwei prinzipielle Möglichkeiten: Verfolgt die Poli-tik das Ziel, die öffentlichen Defizite unter die 3-vH-Grenze zu bringen, impliziert dies eine prozyklischePolitik; will man diese vermeiden, dann ist gemäß dengeltenden Regeln ein Defizitverfahren mit seinen mögli-chen Folgen zu akzeptieren. Ein Land, das sich in einersolch schwierigen Situation befindet, ist demnach nichtunter allen Umständen zu einer die Konjunkturschwan-kungen verstärkenden Politik gezwungen, hat dann aberdie Konsequenzen dieser Entscheidung zu akzeptieren.Diesen Zielkonflikt nicht offen zu Tage treten zu lassen,sondern das wiederholte Überschreiten der Defizit-grenze ohne entsprechende Sanktionierung zu gestatten,eröffnet die Gefahr, dass der Stabilitäts- und Wachs-tumspakt zu einer formaljuristischen Hülse verkommt.Deshalb sind die Beschlüsse der Europäischen Kommis-sion und des Ministerrats im laufenden Defizitverfahrengegenüber Frankreich so kritisch zu sehen.

33. Eine strikte Auslegung des Pakts würde spätestensEnde 2004 die Verhängung von Sanktionen erfordern, essei denn, die Defizite würden im kommenden Jahr unterdie 3-vH-Grenze geführt. Dies ist im Falle Deutschlandsund Frankreichs unrealistisch. Als Konsequenz müsstendann die Regeln wie vorgesehen angewandt werden. AlsSanktion ist in der Regel zunächst eine unverzinslicheBareinlage vorgesehen. Diese wäre in den konkretenFällen vermutlich nicht vor Ende 2004 zu hinterlegenund würde in den Jahren 2005 und 2006 vergleichsweisegeringe finanzielle Belastungen nach sich ziehen, da nuretwaige Zinszahlungen für die Finanzierung der Barein-lage als Kosten anfallen. Erst danach wird bei fortge-setztem Verstoß die Bareinlage in eine Geldbuße umge-wandelt.

34. Der Sachverständigenrat spricht sich gegen eine ra-dikale Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts aus.Keine der von der Politik oder der Wissenschaft vorge-schlagenen Alternativen bietet so eindeutige Vorteile,dass sie das Risiko einer weit reichenden Umgestaltungdes Pakts in der gegenwärtigen Situation aufwiegen.Dies schließt nicht die Möglichkeit gradueller Reformenaus, diese lassen sich aber weitgehend im Rahmen desgegenwärtigen Regelwerks umsetzen. Hierzu zählt dieStärkung der Europäischen Kommission bei Frühwar-nungen und im Verlauf des Defizitverfahrens.

Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

– Zur Beurteilung der Tragfähigkeit der öffentlichenHaushalte sind neben den expliziten staatlichenSchulden auch die impliziten Staatsschulden zu be-rücksichtigen, die insbesondere aus der Gesetzli-chen Rentenversicherung, der Gesetzlichen Kran-kenversicherung und den Pensionsansprüchen derBeamten resultieren.

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

35. Eines der zentralen Ziele des Stabilitäts- undWachstumspakts ist die Sicherung der Nachhaltigkeitder Finanzpolitik. Die Mitgliedsländer der EuropäischenWährungsunion sind gemäß Artikel 121 Absatz 1 EG-Vertrag verpflichtet, „eine auf Dauer tragbare Finanzlageder öffentlichen Hand“ sicherzustellen. Die Beurteilungnachhaltiger öffentlicher Finanzen erfolgt dabei über dieHöhe der gesamtstaatlichen Finanzierungssalden undSchuldenstände. Diese Indikatoren haben allerdings le-diglich eine begrenzte Aussagekraft für die Frage, obeine Finanzpolitik nachhaltig ist. In ihnen drückt sich,im Falle der Defizitquote, lediglich die aktuelle oder, imFalle der Schuldenstandsquote, die vergangene Ausrich-tung der Finanzpolitik aus. Damit erfassen beide Indika-toren nicht, dass neben der verbrieften expliziten staatli-chen Schuld eine zweite Form der Staatsschuld existiert,die impliziten Verbindlichkeiten. Letztere entstehen alsDifferenz aus den auf der Grundlage der gegenwärtigenPolitik erzeugten zukünftigen unverbrieften Leistungs-versprechen und den diese Ansprüche deckenden zu-künftigen Einnahmen. Derartige unverbriefte zukünftigeLeistungsansprüche haben ihre Ursachen vor allem inden Leistungszusagen der Sozialversicherungen, aberauch in den zukünftig zu erfüllenden Pensionsverpflich-tungen des Staates. Reichen – auf die Gegenwart bezo-gen – die zukünftigen Einnahmen nicht aus, die zukünf-tigen Leistungsversprechen zu erfüllen, dann liegt eineimplizite Schuld vor.

36. Damit wird deutlich, dass die Frage der nachhalti-gen oder tragfähigen Finanzpolitik nicht durch eine al-leinige Betrachtung der aktuellen öffentlichen Defiziteoder des ausgewiesenen Schuldenstands beantwortetwerden kann. Notwendig ist darüber hinaus vielmehreine langfristige Betrachtung der Konsequenzen, diesich aus einer Fortschreibung der gegenwärtigen Politikergeben. Der Sachverständigenrat legt in diesem Jahres-gutachten erstmals eine Analyse der Tragfähigkeit derFinanzpolitik im Rahmen des Konzepts der Generatio-nenbilanzierung vor. Die Ergebnisse belegen einen er-heblichen zukünftigen Konsolidierungsbedarf der öf-fentlichen Haushalte: Bezogen auf das nominaleBruttoinlandsprodukt des Jahres 2002 beträgt der Anteilder impliziten Schulden ein Mehrfaches der Quote derexpliziten Schulden von 60,8 vH. Die gesamte Tragfä-higkeitslücke, definiert als Summe beider Schulden-

standsquoten, macht im Basisszenario rund 330 vH aus.Eine Schließung dieser Tragfähigkeitslücke zur Gewähr-leistung tragfähiger öffentlicher Finanzen verlangte beiunveränderten Einnahmen eine Kürzung sämtlicher heu-tiger und zukünftiger Staatsausgaben um rund 12 vH.Bezogen auf das Jahr 2002 bedeutete dies eine Rückfüh-rung der staatlichen Ausgabenquote von 48,5 vH auf42,6 vH beziehungsweise eine Kürzung der laufendenstaatlichen Ausgaben um über 120 Mrd Euro. Ange-sichts der vielfältigen Abgrenzungs-, Zurechnungs- undPrognoseprobleme, die mit einer solchen langfristigenAnalyse verbunden sind, sollte man zwar die konkretennumerischen Werte für die ermittelten Tragfähigkeitslü-cken mit einer gewissen Vorsicht interpretieren. Deutlichwird aber trotz dieser qualifizierenden Einschränkung,dass der tatsächliche Konsolidierungsbedarf, vor demdie deutsche Finanzpolitik in den kommenden Jahrzehn-ten steht, ein Mehrfaches dessen ist, was ein Blick aufdie laufenden Defizite und die ausgewiesene Schulden-standsquote suggeriert.

37. Eine Analyse der Ursachen der Tragfähigkeitslückezeigt, dass diese in der Hauptsache durch die Kombina-tion zweier Sachverhalte verursacht wird: der demogra-phischen Entwicklung in den kommenden Jahrzehntensowie der umlagefinanzierten Systeme der Sozialen Si-cherung. An der demographischen Entwicklung kann diePolitik wenig ändern, deshalb muss eine Verringerungder Tragfähigkeitslücke an den Sozialsystemen anset-zen. So würde eine Rentenreform, wie sie die Kommis-sion „Nachhaltigkeit in der Finanzierung der SozialenSicherungssysteme“ (Rürup-Kommission) vorgeschla-gen hat, über eine Verlängerung des gesetzlichen Ren-teneintrittsalters und einen die demographischen Verän-derungen berücksichtigenden Nachhaltigkeitsfaktor dieQuote der impliziten Schuld nahezu halbieren. Zu be-herzten Reformen der Gesetzlichen Rentenversicherungund der Gesetzlichen Krankenversicherung gibt es vordiesem Hintergrund in einer den zukünftigen Herausfor-derungen gerecht werdenden Konsolidierungsstrategiekeine Alternative.

– Die Tragfähigkeitslücke zeigt einen unabweisbarenfinanzpolitischen und sozialpolitischen Handlungs-bedarf an. Nach unseren Berechnungen beträgt sieein Mehrfaches der expliziten staatlichen Schul-denstandsquote von 60,8 vH im Basisjahr 2002.

– Die Höhe der impliziten Staatsschuldenquote kannin etwa halbiert werden, wenn das gesetzliche Ren-teneintrittsalter langfristig von 65 auf 67 Jahre he-raufgesetzt und die Rentenanpassungsformel umeinen Nachhaltigkeitsfaktor ergänzt wird.

Soziale Sicherung

– Mit der Gesundheitsreform 2003 (GKV-Moderni-sierungsgesetz) wurden wichtige, allerdings viel zuzaghafte Schritte zur Stärkung des Wettbewerbsvorgenommen.

– Das vom Sachverständigenrat zur Reform des Fi-nanzierungssystems der Gesetzlichen Krankenversi-cherung vorgeschlagene Pauschalprämienmodell istin allokativer, vor allem in beschäftigungspoliti-scher Hinsicht einer Bürgerversicherung überlegen.

– Die Anhebung des gesetzlichen Renteneintritts-alters und die Ergänzung der Rentenanpassungs-formel um einen Nachhaltigkeitsfaktor sind dazugeeignet, die Gesetzliche Rentenversicherung lang-fristig zu stabilisieren.

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Eine kürzere Fassung

Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen(Ziffern 289 ff.)

38. Entsprechende Reformvorschläge für die einzelnenZweige der Sozialversicherungen wurden durch dieKommissionen der Bundesregierung und der CDU/CSUvorgelegt. Trotz aller Unterschiede in Einzelfragenkennzeichnet beide Reformentwürfe die Einsicht in dieNotwendigkeit, angesichts der demographischen Ent-wicklung und der lohnabhängigen Finanzierung die Sys-teme der umlagefinanzierten Sozialen Sicherung neu zujustieren. Die Bundesregierung hat im Bereich der Ge-setzlichen Krankenversicherung und der GesetzlichenRentenversicherung erste gesetzgeberische Schritte zurUmsetzung der Vorschläge der Rürup-Kommission ein-geleitet. Da der Sachverständigenrat sich in seinem letz-ten Jahresgutachten ausführlich zu den Reformoptionenim Bereich der Sozialversicherungen geäußert hat, wer-den für diese Politikbereiche in diesem Gutachten dieMaßnahmen der Bundesregierung sowie die Vorschlägeder Rürup-Kommission anhand der Vorstellungen desSachverständigenrates beurteilt.

39. In der Gesetzlichen Krankenversicherung wurde mitdem GKV-Modernisierungsgesetz der Einstieg in eineumfassendere Gesundheitsreform eingeleitet. Das imKonsens mit der CDU/CSU-Opposition verabschiedeteGesetz sieht wichtige Maßnahmen auf der Ausgabenseiteund zur Stärkung des Wettbewerbs vor. Durch den ver-stärkten Einsatz von Zuzahlungen sowie durch die Ein-führung von Praxisgebühren sollen die gesetzlichenKrankenkassen im kommenden Jahr um 3,2 Mrd Euroentlastet werden. Ab dem Jahr 2005 ist mit der Ausglie-derung des Zahnersatzes aus dem Regelleistungskatalogder Gesetzlichen Krankenversicherung eine Einsparungvon rund 3,5 Mrd Euro verbunden. Ab dem Jahr 2006wird das Krankengeld zumindest teilweise über einenSonderbeitrag von den Versicherten allein finanziert. Dieletztgenannte Lösung kann aus konzeptionellen Gründennicht überzeugen, da der direkte Bezug zum Kranken-geld nicht hergestellt wurde, sondern einzig eine ein-malige Verschiebung in der paritätischen Finanzierungherbeigeführt wird. Da sich damit die gesamte Abgaben-belastung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht ver-ändert, sind von dieser Maßnahme auch keine wesentli-chen Beschäftigungseffekte zu erwarten. Kritisch zusehen ist auch der beschlossene Einstieg in die Finanzie-rung über Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Gedecktwerden sollen damit versicherungsfremde Leistungen;der Zuschuss wurde aber nicht explizit an diese Ausga-ben gekoppelt, sondern wird als pauschale Zuweisung indas System eingespeist und über eine mehrstufige Erhö-hung der Tabaksteuer finanziert. Welche Dynamik derar-tige Zuschüsse, einmal etabliert, entfalten können undwelche Einschränkung des finanzpolitischen Bewe-gungsspielraums mit ihnen verbunden sein kann, dafürliefert die Gesetzliche Rentenversicherung ein Beispiel(Ziffer 268). Im Arzneimittelvertrieb wurden erste zag-hafte Wettbewerbselemente beschlossen. Insgesamtwurde mit der Reform, nicht zuletzt durch den Einflussklientelpolitisch motivierter Interventionen im Prozess

der Konsenssuche, der Wettbewerb auf der Ebene derLeistungserbringer aber nur unzureichend gestärkt. DieBundesregierung erhofft sich durch die Reformmaßnah-men eine Senkung des Beitragssatzes auf 13,6 vH imkommenden Jahr. Diese Prognose erscheint zu opti-mistisch.

40. Eine Entscheidung über eine grundlegende Reformder Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherungkam in diesem Jahr nicht zustande. Die Rürup-Kommis-sion stellte dem Gesetzgeber diesbezüglich zwei alterna-tive Modelle zur Auswahl: eine Finanzierung der Ge-sundheitsleistungen über Pauschalprämien mit sozialemAusgleich sowie eine Finanzierung über eine Bürgerver-sicherung, das heißt eine einkommensbezogene Kran-kenversicherung mit einer Ausweitung des Kreises derVersicherungspflichtigen und der einzubeziehenden Ein-kommensarten sowie einer Anhebung der Beitragsbe-messungsgrenze. Der Sachverständigenrat sprach sichschon in seinem letzten Jahresgutachten nachdrücklichfür ein Prämienmodell aus. Dies vor allem aus folgendenGründen: Eine Prämienlösung koppelt die zukünftigeEntwicklung der Gesundheitsausgaben von denbisherigen auf das Arbeitseinkommen bezogenen Beiträ-gen ab; dies erhöht die Arbeitsanreize für den Großteilder Einkommensbezieher merklich. Zudem wird dieÄquivalenz zwischen Beiträgen zur und Leistungen ausder Gesetzlichen Krankenversicherung erhöht. Auch dasPrämienmodell enthält, dies wird in der Politik und denMedien nicht selten verkürzt dargestellt, einen sozialenAusgleich für die Bezieher niedriger Einkommen, derüber die Ausschüttung an die Arbeitnehmer und die an-schließende Versteuerung des bisherigen Arbeitgeberan-teils zur Krankenversicherung finanziert werden soll.

Das Alternativmodell einer Bürgerversicherung ist mitBlick auf die Beschäftigungseffekte den Gesundheits-prämien eindeutig unterlegen. Durch die Einbeziehungzusätzlicher Einkommen wird nur eine begrenzte Ab-koppelung der Beiträge vom Lohn erreicht. Dies wird er-kauft durch zusätzliche Verzerrungen, die über eine Er-höhung der Beitragsbemessungsgrenze und dieEinbeziehung zusätzlicher Einkommen entstehen. ImErgebnis sind damit sogar negative Effekte auf dieBeschäftigung zu erwarten. Die Popularität der Bürger-versicherung erklärt sich primär durch die als gerechterempfundenen Verteilungswirkungen dieses Modells ge-genüber der Gesundheitsprämie. Hier sollte man aberbedenken, dass gerade aus Verteilungsaspekten weniggewonnen ist, wenn die Verteilungsmasse durch die ver-meintlich gerechteren Maßnahmen eher verringert, dennvergrößert wird.

41. Im Bereich der Gesetzlichen Rentenversicherungdrohte auch in diesem Jahr insbesondere durch die Ero-sion der Einnahmeseite ein Beitragssatzanstieg; und wiein den Vorjahren wurde diesem durch Ad-hoc-Maßnah-men entgegengesteuert. Dies mag man unter dem Blick-winkel der Beschäftigungssicherung begrüßen, dasVertrauen in die Verlässlichkeit der Gesetzlichen Ren-tenversicherung wurde dadurch aber erneut beschädigt.Beschlossen wurde unter anderem eine Aussetzung der

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Rentenanpassung im Jahr 2004, eine weitere Absenkungder Schwankungsreserve sowie die alleinige Finanzie-rung des Beitrags zur Pflegeversicherung durch dieRentner im kommenden Jahr. Letzteres bedeutet einefaktische Kürzung der Nettorenten um 0,85 vH.

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Wachstumsschwä-che und angesichts eines sich gegenüber den Annahmender Rentenreform 2001 abzeichnenden verstärkten de-mographischen Drucks wurden weitere mittelfristig wir-kende rentenrechtliche Maßnahmen notwendig. DieBundesregierung beabsichtigt vor diesem Hintergrunddie Abschaffung der bewerteten Anrechnungszeiten beischulischer Ausbildung, die Erhöhung des tatsächlichenRenteneintrittsalters durch den Abbau von Anreizen zurFrühverrentung sowie eine Modifikation der Rentenan-passungsformel, mit der sowohl einer niedrigeren Ge-burtenhäufigkeit als auch einer steigenden Lebenserwar-tung Rechnung getragen wird. Diese Maßnahmen sindrichtig. Insbesondere der von der Rürup-Kommissionvorgeschlagene Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenfor-mel als Ausdruck einer einnahmeorientierten Ausgaben-politik ist angesichts der demographischen Entwicklungeine zielführende Innovation. Die Heraufsetzung des tat-sächlichen Renteneintrittsalters, so begrüßenswert dieRückführung der Anreize zur Frühverrentung auch ist,muss jedoch durch eine Anhebung des gesetzlichen Ein-trittsalters in die Rente ergänzt werden. Der Sachver-ständigenrat hat hierzu – wie die Rürup-Kommission –eine allmähliche Erhöhung des Renteneintrittsalters,beginnend ab dem Jahr 2011, als geeigneten Weg vor-geschlagen. Die von der Rürup-Kommission empfohle-nen Maßnahmen würden den Beitragssatzanstieg biszum Jahr 2030 unter 22 vH begrenzen. Die sinnvolleOrientierung an einer derartigen stärker einnahmeorien-tierten Ausgabenpolitik führt allerdings zu niedrigerenimpliziten Renditen für die mittleren und jüngerenJahrgänge sowie zu einer deutlichen Absenkung desBruttorentenniveaus. Im Gegenzug gewinnen die jünge-ren Geburtsjahrgänge aber finanziellen Spielraum füreine ergänzende kapitalgedeckte Eigenvorsorge, mitdem die Leistungsrücknahmen des Umlagesystems ge-mildert oder gar – in Abhängigkeit von der erzieltenRendite und dem Ansparzeitraum – überkompensiertwerden können. Vor dem Hintergrund des demographi-schen Drucks auf die Tragfähigkeit des umlagefinanzier-ten Rentensystems und damit die öffentlichen Haushaltebefürwortet der Sachverständigenrat eine möglichst ra-sche Umsetzung der diesbezüglichen Vorschläge derRürup-Kommission.

42. Auch in der Sozialen Pflegeversicherung ist ange-sichts der Defizitentwicklung in den vergangenen Jahreneine Reform erforderlich. Hier hat die Bundesregierungjedoch noch nicht einmal den Vorschlag der Rürup-Kommission aufgegriffen, der im Wesentlichen daraufabzielt, das derzeitige System beizubehalten und übereine Höherbelastung der Rentner sowie den Aufbau ei-nes individuellen Kapitalstocks die Beitragsbelastungkonstant zu halten. Besser wäre ohnehin ein – auchheute noch möglicher – Übergang zu einer kapitalge-deckten Privaten Pflegeversicherung. Die Entwicklung

der vergangenen Jahre, in denen es zu einem merklichenAbschmelzen der zunächst nach Einführung der Pflege-versicherung im Jahr 1995 aufgebauten Reserven kam,zeigt deutlich, dass es ein Fehler war, die Pflegeversi-cherung in der Form einer Umlageversicherung zu orga-nisieren. Ein Umstand, auf den der Sachverständigenratim Vorfeld mit Nachdruck hingewiesen hatte (SG 94 ab-gedruckt in JG 95 Anhang).

Konsolidierung der öffentlichen Haushalte: Strategien und Optionen(Ziffern 455 ff.)

43. Über die Beschlüsse und Vorhaben in den Syste-men der Sozialen Sicherung hinaus, für die in den kom-menden Jahren eine beträchtliche Nettoentlastung er-wartet wird, hat die Bundesregierung ein umfangreichessteuerliches Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht.Dieses wird bei vollständiger Umsetzung – ein-schließlich des Vierten Gesetzes für Moderne Dienstleis-tungen am Arbeitsmarkt – für die Gebietskörperschaftenab dem Jahr 2005 veranschlagte jährliche Mehrein-nahmen in einer Größenordnung von über 17 Mrd Euroerbringen. Im kommenden Jahr wird bei Vorziehen der

Haushaltskonsolidierung

– Haushaltskonsolidierung sollte der Realisierunglangfristiger Ziele dienen.

– Konsolidierungen durch Ausgabenkürzungen sinderfahrungsgemäß nachhaltiger als solche überEinnahmeerhöhungen. Eine erfolgreiche Haus-haltskonsolidierung benötigt kein günstiges kon-junkturelles Umfeld.

– Der Abbau von Steuervergünstigungen zur Finan-zierung von Tarifsenkungen hat positive gesamt-wirtschaftliche Effekte. Eine Rückführung vonSteuervergünstigungen ist aber auch zu Konsoli-dierungszwecken angebracht.

– Ein gezielter, kriteriengeleiteter Abbau von Finanz-hilfen und Steuervergünstigungen ist der Rasenmä-hermethode überlegen.

– Das Volumen der hier vorgeschlagenen Ausgaben-kürzungen und Rücknahmen von Steuererleichte-rungen beläuft sich nach Auslaufen dieser Maßnah-men auf über 25 Mrd Euro pro Jahr. Nichtberücksichtigt sind dabei Steuervergünstigungenim Unternehmensbereich; ihr Abbau muss in eineReform der Unternehmensbesteuerung integriertwerden.

– Das Ehegattensplitting ist keine Steuervergünsti-gung. Die Entfernungspauschale ist nicht generelleine Steuervergünstigung; daher ist eine Kürzungvertretbar.

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Eine kürzere Fassung

dritten Stufe der Steuerreform einschließlich der geplan-ten Einsparmaßnahmen allerdings eine Mindereinnahmevon annähernd 4 Mrd Euro zu verzeichnen sein. Ange-sichts der aus dem Ruder laufenden Defizite und derfestgestellten Tragfähigkeitslücke ist ein darüber hinaus-gehender mittelfristiger Konsolidierungsbedarf aber of-fensichtlich und unabweisbar: Die Hoffnung, dass alleinüber ein höheres Wirtschaftswachstum diesem Druckausgewichen werden könnte, ist unrealistisch. Insoweitsind die Maßnahmen der Bundesregierung richtig undnotwendig, wenn auch nur ein erster Schritt. Vor diesemHintergrund wäre es fatal, wenn sich das Schicksal desSteuervergünstigungsabbaugesetzes erneut wiederholte.Die Einsicht, dass die öffentlichen Haushalte einer drin-genden Sanierung bedürfen, setzt sich jedoch mehr undmehr über die Parteigrenzen hinweg durch. In den ver-gangenen Monaten war beinahe ein Überbietungswett-lauf zu beobachten, was potentielle Sparmaßnahmenangeht. Woran es aber nach Einschätzung des Sachver-ständigenrates mangelt, das ist eine ökonomisch fun-dierte Analyse der Ansatzpunkte und Handlungsfeldereiner erfolgversprechenden Konsolidierungsstrategie.Mit anderen Worten: Es ist ein Leichtes, eine milliarden-schwere Liste von Einsparmaßnahmen zusammenzustel-len, es ist aber ohne überzeugende Argumente ungleichschwerer, sie im politischen Prozess durchzusetzen.

44. Konsolidierung bedeutet eine Verbesserung derkonjunkturbereinigten öffentlichen Primärsalden, alsodes Saldos aus staatlichen Einnahmen und Ausgabenohne Berücksichtigung von konjunkturellen Effektenund ohne Berücksichtigung der Zinsausgaben der öffent-lichen Hand. Konsolidierungsanstrengungen können da-mit prinzipiell über die Ausgabenseite und/oder die Ein-nahmeseite des staatlichen Gesamthaushalts erfolgen.Die Erfahrungen von Konsolidierungsphasen in denLändern der Europäischen Währungsunion belegen aber,dass am ehesten eine dauerhafte Verbesserung der öf-fentlichen Haushalte gelingt, wenn die Konsolidierungauf der Ausgabenseite ansetzt. Darüber hinaus zeigtsich, dass kräftige Sparmaßnahmen auch in einem ge-samtwirtschaftlich schwierigen Umfeld eingeleitet wer-den können, ohne dass sich die mit den kurzfristigenKonsolidierungsmaßnahmen befürchteten konjunkturel-len Verschlechterungen einstellen müssen. Oft lässt sichsogar der gegenteilige Effekt feststellen. Insofern ist esnicht angebracht, den notwendigen Konsolidierungsbe-darf unter den Generalvorbehalt einer günstigen kon-junkturellen Ausgangslage zu stellen. Der Sachverstän-digenrat plädiert deshalb für eine konsistente und aufDauer angelegte Konsolidierungsstrategie. Diese sollteunabhängig von den zyklischen Schwankungen über dasErwirtschaften konjunkturbereinigter Primärüberschüsseerfolgen und die Aufgabe der konjunkturellen Stabilisie-rung an die automatischen Stabilisatoren delegieren.

45. In der politischen Diskussion über Konsolidierungwird oftmals ein Streichen von Steuervergünstigungenohne eine entsprechende Senkung der Steuersätze alsSteuererhöhung gebrandmarkt, die abzulehnen sei. Die-ses Argument überzeugt aus einer Reihe von Gründen

nicht. So ist die Unterscheidung zwischen Steuerver-günstigungen und staatlichen Ausgaben oft nicht so ein-deutig, wie es in der öffentlichen Diskussion denAnschein hat. Eine ganze Reihe von Steuervergünsti-gungen, wie beispielsweise die Eigenheimzulage, die inder Finanzstatistik als Minderung der Steuereinnahmenverbucht wird, ist ökonomisch einer Ausgabe äquiva-lent. Wichtiger noch ist aber, dass die Beseitigung vonsteuerlichen Subventionstatbeständen über eine Verbrei-terung der steuerlichen Bemessungsgrundlage die ver-zerrenden Effekte und damit die Zusatzlasten der Be-steuerung verringert. Dies ist unmittelbar einsichtig,wenn gleichzeitig mit der Verbreiterung der Bemes-sungsgrundlage auch die Steuersätze reduziert werden.Es gilt aber im Grundsatz auch, wenn anstelle der Steu-ersatzsenkungen die öffentlichen Defizite und damit diezukünftigen Zinslasten des Staates zurückgeführt wer-den. Das Streichen von Steuervergünstigungen darf des-halb kein Tabu in einer glaubwürdigen Konsolidierungs-strategie sein.

46. Der Abbau von Subventionen, also Finanzhilfenund Steuervergünstigungen, sollte dabei gezielt und kri-teriengeleitet erfolgen. Die „Rasenmähermethode“, dieein Kürzen sämtlicher Tatbestände um einen einheitli-chen Prozentsatz bedeutet, ist deshalb abzulehnen. Nichtjede Finanzhilfe und Steuervergünstigung ist unberech-tigt und eine gleichmäßige Kürzung unterscheidet nichtzwischen den Sachverhalten, die stark verzerrende Ef-fekte aufweisen, und den Sachverhalten, bei denen diesnur in sehr viel geringerem Ausmaß der Fall ist oder fürdie sich gar ökonomisch gute Gründe anführen lassen.Das Kriterium, mit dem der Sachverständigenrat die re-levanten Subventionen auf ihre Berechtigung hin beur-teilt, ist das der Effizienz: Subventionen müssen selektivgekürzt werden und zuerst und am stärksten dort, wo siedie größten nachteiligen Wohlfahrtseffekte hervorrufen.Von einer effizienzmindernden und damit Beschäftigungund Wachstum beeinträchtigenden Verzerrung staatli-cher Eingriffe spricht man üblicherweise dann, wenn dieEntscheidung eines Individuums aufgrund eines staatli-chen Eingriffs, zum Beispiel einer steuerlichen Maß-nahme, über den primären Einkommensentzug hinausverzerrt wird, kurz: wenn Zusatzlasten auftreten.

47. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Jahresgut-achten eine Reihe von Ausgaben und Subventionenidentifiziert und ökonomisch analysiert, von denen vieleseit geraumer Zeit eine bedeutende Rolle in der öffentli-chen Diskussion um relevante Konsolidierungstatbe-stände spielen. Hierzu zählt der Bereich der aktiven Ar-beitsmarktpolitik als ein gewichtiger Ausgabenblock.Darüber hinaus werden wichtige Finanzhilfen und Steu-ervergünstigungen betrachtet. Das Gesamtvolumen derin die Betrachtung einbezogenen Maßnahmen beträgtrund 60 Mrd Euro. Das Gesamtvolumen der betrachtetenund gänzlich abzuschaffenden Sachverhalte beläuft sichauf eine Summe von rund 25 Mrd Euro. Darüber hinauslässt sich eine Reihe von Subventionen identifizieren,bei denen, wenn auch keine vollständige Abschaffung sodoch eine merkliche Rückführung in Betracht kommt.

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Ein Teil davon ist bereits im Haushaltsbegleitgesetz ent-halten. Ein nicht unbeträchtlicher Teil ist aber bishernicht entschlossen genug angegangen worden. DieseSpielräume für weitere Konsolidierungen gilt es, in denkommenden Jahren zu nutzen. So sollte im Bereich deraktiven Arbeitsmarktpolitik der begonnene Prozess derKürzung wenig erfolgversprechender Maßnahmen zügigfortgesetzt werden. Hierbei handelt es sich vor allem umdie „Beschäftigung schaffenden Maßnahmen“ sowieTeile des Weiterbildungsangebots. Von den gewichtigenFinanzhilfen sind abzuschaffen: die Zuschüsse für denAbsatz deutscher Steinkohle sowie die Förderung desWohnungsbaus (einschließlich der Eigenheimzulage).Im Rahmen der als Steuervergünstigung gewährten Sub-ventionen lässt sich keine Berechtigung der steuerfreienZuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit be-gründen. Gleiches gilt beispielsweise für den Sparerfrei-betrag, den Sonderausgabenabzug für Beiträge zu Le-bensversicherungen, die Steuerfreiheit für Erträge ausLebensversicherungen, die Übungsleiterpauschale undden Sonderausgabenabzug für Spenden an Kirchen, Par-teien und gemeinnützige Zwecke. Die heftig diskutierteEntfernungspauschale lässt sich demgegenüber nichtpauschal als Steuervergünstigung einordnen. Hier isteine Reduzierung vertretbar, eine komplette Streichungwäre aus Effizienzüberlegungen heraus nicht begründ-bar. Steuersystematisch korrekt, und damit nicht abzu-schaffen, ist auch das Ehegattensplitting. Nicht einge-schlossen in diese Berechnung ist der Abbau vonSteuervergünstigungen im Unternehmensbereich, dadies in eine Reform der Unternehmensbesteuerung inte-griert werden sollte.

In einer Analyse zur Verteilung des Markteinkommensund der Einkommensteuerschuld, die der Sachverständi-genrat in diesem Jahr erstmals durchgeführt hat, zeigtsich mit Blick auf Einkünfte aus Vermietung und Ver-pachtung, dass rund die Hälfte der Steuerpflichtigen mitpositiven Einkünften von über 250 000 Euro negativeEinkünfte aus Vermietung und Verpachtung zu verzeich-nen hatte. Bemerkenswert ist ferner, dass die negativenEinkünfte aus dieser Einkunftsart mit zunehmenden posi-tiven Einkünften stiegen und in den Einkommensklassenab einer Summe der positiven Einkünfte von mehr als500 000 Euro im Durchschnitt zwischen 130 000 Euround 510 000 Euro betrugen (Ziffern 822 ff.). Hier liegtdie Vermutung nahe, dass die Verluste über großzügigeAbschreibungsregelungen rein steuerlich bedingt wa-ren.

Reform des Föderalismus: Entscheidungsblockaden aufbrechen

48. Eine auf Dauer angelegte, ökonomisch begründeteKonsolidierungsstrategie wird sich in Deutschland nurdann umsetzen lassen, wenn es gelingt, politische Ent-scheidungsblockaden aufzubrechen. Derartige Blocka-den, das haben die zurückliegenden Monate erneut be-wiesen, liegen nur zum Teil darin begründet, dass es fürdie Politik schwierig ist, Mehrheiten in den eigenen Rei-hen für einen Kurs zu finden, der teilweise erheblicheEinschnitte mit sich bringt. Bedeutender für die quälendlangsamen Entscheidungsprozesse ist die föderale Struk-tur des politischen Systems. Die politischen Entschei-dungsprozesse in Deutschland sind seit geraumer Zeitlangsam, undurchsichtig und unberechenbar. Dies ver-unsichert die Bürger und erzeugt eine permanente Unge-wissheit über die Belastungen und Entlastungen selbst inder unmittelbaren Zukunft. So war bis Mitte Novembernoch immer nicht entschieden, ob die dritte Stufe derSteuerreform vorgezogen wird und welche Gegenfinan-zierungsmaßnahmen realisiert werden. Die praktischeAusgestaltung des Föderalismus in Deutschland bildetein hohes, vielleicht sogar das höchste Hindernis für dieUmsetzung grundlegender Reformen, unbeschadet, dassin einigen Fällen der Bundesrat ein sinnvolles Korrektiveinzelner Gesetzesvorhaben darstellen kann. Aber esgeht hier nicht um die Inhalte einzelner Entscheidungen,sondern um den Entscheidungsmechanismus. Eine Re-form des „kooperativen Föderalismus“ ist unumgäng-lich, soll die Wirtschafts- und Finanzpolitik mehr Ver-lässlichkeit gewinnen.

49. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Föderalis-musreform ist in der Politik vorhanden. Am 16. Oktober2003 hat der Deutsche Bundestag eine gemeinsameKommission von Bundestag und Bundesrat zur Moder-nisierung der bundesstaatlichen Ordnung eingesetzt.Grundsätzlich ist die Einsetzung dieser Kommission zubegrüßen. Zu hoffen ist, dass sie sich zu mutigen Refor-mempfehlungen durchringen kann, die dann auch vonder Politik zügig umgesetzt werden. Zu befürchten ist je-doch, dass diese Hoffnung enttäuscht wird. Zentrale Fra-gestellungen sind nicht in den Untersuchungsauftrag derneu gebildeten Kommission eingegangen. Dazu gehöreninsbesondere eine Überarbeitung der Finanzverfassungmit einer Steuerentflechtung zwischen Bund undLändern sowie eine damit verbundene (begrenzte)Steuerautonomie für die Bundesländer. Gegenwärtig ist

Föderalismusreform

– Die politischen Entscheidungsprozesse in Deutsch-land sind langsam, undurchsichtig und unberechen-bar. Wichtigste Ursache für dieses Politikversagensind die föderalen Entscheidungsstrukturen.

– Der kooperative Föderalismus muss durch einenwettbewerblichen Föderalismus ersetzt werden;Föderalismus ohne Wettbewerb ist eigentlich keinFöderalismus.

– Zu einem funktionierenden Föderalismus gehörteine begrenzte Steuerautonomie der Bundesländer.

– Die Mischfinanzierungen zwischen Bund und Län-dern sind zurückzuführen.

– Die Rahmengesetzgebung des Bundes und die kon-kurrierende Gesetzgebung sind einzuschränken.

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Eine kürzere Fassung

jegliche Modifikation von Steuersätzen und Bemes-sungsgrundlagen der Gemeinschaftssteuern – sie ma-chen rund zwei Drittel des gesamten Steueraufkommensin Deutschland aus – nur mittels Zustimmung des Deut-schen Bundestages und des Bundesrates erreichbar. Diedadurch möglichen Entscheidungsblockaden müssenaufgelöst werden, sonst bleibt jede Föderalismusreformunvollständig.

50. In Rede steht dabei nicht die Abschaffung der föde-ralen Struktur der Bundesrepublik. Gefordert ist abereine Lösung aus der „Politikverflechtungsfalle“, diedurch die Verschränkungen der Gebietskörperschaftenauf der Einnahmeseite und im Gesetzgebungsprozessüber den Bundesrat im Laufe der vergangenen Jahr-zehnte entstanden ist. Eine durchgreifende Neugestal-tung der bundesstaatlichen Ordnung muss auf mehrWettbewerb zwischen den einzelnen staatlichen Ebenensetzen. Dies lässt sich nur erreichen über eine höhereAutonomie bei der Erfüllung der Aufgaben und vorallem bei der Erzielung der Einnahmen. Hier bestehenderzeit gravierende Mängel: Die Bundesländer habenpraktisch keine Gestaltungsfreiheit bei den Steuerein-nahmen; durch Mischfinanzierungen und Gemein-schaftsaufgaben kommt es zu Fehlanreizen und einerVermengung von Verantwortlichkeiten; die eine Ebenekann über Aufgaben und Ausgaben entscheiden, die eineandere Ebene zu übernehmen hat. In all diesen Berei-chen besteht dringender Handlungsbedarf. Darauf hatder Sachverständigenrat wiederholt hingewiesen(JG 2000 Ziffern 169 ff.). Grundelemente eines refor-mierten föderalen Systems sollten sein: mehr Steuerau-tonomie der Länder, sei es über ein Trennsystem oder– die wohl realistischere Variante – über ein Zuschlag-system auf einen bundesweit einheitlichen abgesenktenTarif beziehungsweise auf das daraus resultierende Steu-eraufkommen sowie ein weitgehender Abbau der zahl-reichen Mischfinanzierungstatbestände, bis auf dieFälle, bei denen ausgeprägte länderübergreifende ex-terne Effekte zu vermuten sind, beispielsweise in derGrundlagenforschung.

2. Steuerpolitik: Vom Chaos zum System(Ziffern 518 ff.)

51. Neben dem Schuldenabbau war eine der von derBundesregierung im Jahr 2000 für die Finanzpolitik for-mulierten zwei „Finanzpolitischen Leitplanken“ die„Förderung von Wachstum und Beschäftigung durch eintragfähiges und gerechtes Steuer- und Abgabensystem“.Das Steuersystem des Jahres 2003 ist weit entfernt vondiesen Zielen. Eine entsprechende Untersuchung dersteuerlichen Attraktivität von Investitionsentscheidun-gen im Vergleich zu wichtigen europäischen Partnerlän-dern anhand der effektiven Grenz- und Durchschnitts-steuersätze zeigt, dass der Standort Deutschland in denvergangenen beiden Jahren an Boden verloren hat. FürUnternehmen ist Deutschland weiterhin ein Hochsteuer-land. Dies gilt für inländische und grenzüberschreitendeInvestitionen gleichermaßen.

Es ist aber nicht nur die Standortattraktivität, die gelittenhat. Vielmehr noch schwindet die Systematik des deut-schen Einkommensteuerrechts zusehends. Die Einkom-mensteuer entwickelt sich immer mehr zu einer unsyste-matischen Schedulensteuer, ohne dass ein neuessteuerliches Leitbild erkennbar wäre. Hinzu kommt,dass die deutsche Steuerpolitik aufgrund ihrer Sprung-haftigkeit auch an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. DieSteuerpolitik ist zum Spielball widerstreitender Interes-sen innerhalb der Bundesregierung, zwischen Bund,Ländern und Gemeinden sowie zwischen Regierung undOpposition geworden. Für die Planungssicherheit vonKonsumenten und Investoren und für den StandortDeutschland allgemein stellt dies eine fatale Entwick-lung dar.

Durchbrechung des Prinzips der synthetischen Einkommensteuer im geltenden Recht und Reformoptionen

52. Den Referenzpunkt des geltenden Einkommensteu-ersystems bildet die klassische synthetische Einkom-mensteuer. Im Idealfall werden hierbei sämtliche Ein-kommen, gleich aus welcher Einkunftsquelle und gleichwelcher Herkunft, im Wohnsitzland besteuert. Für dieunterschiedlichen Einkunftsarten wird dabei weder inder steuerlichen Bemessungsgrundlage noch im Steuer-

Steuerpolitik

– Deutschland ist − bezogen auf die effektiven Steu-erbelastungen von Unternehmen − immer noch einHochsteuerland.

– Die deutsche Steuerpolitik hat aufgrund ihrerSprunghaftigkeit erheblich an Glaubwürdigkeiteingebüßt; die Systematik des Steuerrechts hat wei-ter abgenommen.

– Zur Stärkung der Standortattraktivität und zum Ab-bau der Verzerrungen bei den Investitions- und Fi-nanzierungsentscheidungen sowie bei der Rechts-formwahl bieten sich entweder eine Integration derKörperschaftsteuer in die Einkommensteuer (Steu-erreformoption I) oder eine duale Einkommen-steuer (Steuerreformoption II) an.

– Die Gewerbesteuer/Gemeindewirtschaftssteuer istin ein kommunales Zuschlagsmodell zur Einkom-mensteuer und Körperschaftsteuer (Option I) oderzur Steuer auf Arbeitseinkommen und Kapitalein-kommen (Option II) zu überführen.

– Der Sachverständigenrat hält die duale Einkom-mensteuer für die vorteilhaftere Steuerreform-option; der proportionale Steuersatz auf Kapital-einkommen sollte bei etwa 30 vH liegen, derEingangssteuersatz der Besteuerung von Arbeits-einkommen bei 15 vH und der Spitzensteuersatzbei etwa 35 vH.

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

tarif differenziert. Das gegenwärtige Steuersystemdurchbricht dieses Prinzip in vielfältiger Weise. Von ei-ner einheitlichen Besteuerung der unterschiedlichen Ein-kunftsarten kann keine Rede sein.

– Dieses Prinzip wird systematisch durch die unter-schiedliche Art der Einkünfteermittlung – Gewinn-einkünfte auf der einen Seite und Überschussein-künfte auf der anderen Seite – verletzt. Dies führt zuUnterschieden in der Besteuerung von Veräußerungs-gewinnen: Grundsätzliche Steuerfreiheit bei Über-schusseinkünften, Steuerpflicht bei Gewinneinkünf-ten. Ebenfalls systematische Unterschiede zeigen sichin der Behandlung der Kapitaleinkünfte. Sie werdenüber den Sparerfreibetrag gegenüber anderen Ein-kunftsarten privilegiert. Weiterhin ergeben sich durchdie Einführung des Halbeinkünfteverfahrens Unter-schiede in der Besteuerung von ausgeschütteten Ge-winnen und Einkommen in gleicher Höhe aus ande-ren Einkunftsquellen. Einkünfte aus gewissenkapitalbildenden Lebensversicherungen sind steuer-frei.

– Durch das Nebeneinander von Einkommen- und Kör-perschaftsteuer entstehen Verzerrungseffekte bei denFinanzierungsentscheidungen und bei der Rechts-formwahl der Unternehmen.

– In einer synthetischen Einkommensteuer sind da-rüber hinaus Gewinne und Verluste steuerlich gleichzu behandeln. Das deutsche Steuerrecht enthält abereine Reihe von Beschränkungen des Verlustaus-gleichs innerhalb einer Einkunftsart und auch überunterschiedliche Einkunftsarten hinweg.

– Ein wesentliches Prinzip der Einkommensbesteue-rung ist das Nettoprinzip. Es gewährleistet insbeson-dere die Abzugsfähigkeit der betrieblich oder beruf-lich veranlassten Ausgaben, den so genanntenErwerbsausgaben. Verstöße gegen dieses Prinzip fin-den sich im geltenden Einkommensteuerrecht bei-spielsweise in der Behandlung des Aufwands für Be-teiligungen an Kapitalgesellschaften sowohl vonnatürlichen Personen als auch von Körperschaften.Insbesondere die Frage der Absetzbarkeit des Beteili-gungsaufwands bei grenzüberschreitenden Beteili-gungen führt zudem zu erheblichen Problemen der Si-cherung des nationalen Steueraufkommens.

53. Diese Beispiele, die durchweg nicht Randbereichedes deutschen Einkommensteuerrechts betreffen, ma-chen deutlich, dass sich die deutsche Einkommensteuerbeträchtlich von dem Idealtypus einer synthetischen Ein-kommensteuer entfernt hat. Der sich hieraus ergebendeBefund ist eindeutig: Deutschland bedarf einer grundle-genden Reform der Einkommens- und Unternehmensbe-steuerung. Der Sachverständigenrat stellt hierzu in sei-nem Jahresgutachten zwei Reformoptionen vor. In derSteuerreformoption I wird die Körperschaftsteuer in dieEinkommensteuer integriert. In der SteuerreformoptionII, einer dualen Einkommensteuer, werden Kapitalein-kommen und Arbeitseinkommen unterschiedlich besteu-ert. Bei Zugrundelegung eines expliziten Krite-rienkatalogs und unter Abwägung der jeweiligen

Vorteile und Nachteile beider Optionen spricht sich derSachverständigenrat für den Übergang zu einer dualenEinkommensteuer aus.

Die Steuerreformoption I bleibt dem Ideal einer synthe-tischen Einkommensteuer verhaftet. Mit der dualen Ein-kommensteuer wird hingegen eine Modifikation diesesPrinzips vollzogen. Hierbei ist aber zu beachten, dassauch mit der Steuerreformoption I nicht das Idealbild ei-ner synthetischen Einkommensteuer nach dem Wohn-sitzprinzip verwirklicht werden kann. Denn dann müsstekonsequenterweise zu einem Vollanrechnungsverfahrenvon im Ausland erzielten Einkommen übergegangenwerden, was angesichts der geltenden Doppelbesteue-rungsabkommen, die regelmäßig eine Freistellung dieserEinkünfte vorsehen, keine realistische Option darstellt.Im Bereich der Körperschaftsteuer müsste zudem auf-grund EG-rechtlicher Vorgaben die Belastung von Ge-winnen mit ausländischer Körperschaftsteuer voll ange-rechnet werden. Dies würde das Steueraufkommen imInland unter Umständen erheblich gefährden, denn in ei-nem Vollanrechnungsverfahren wäre auf die im Auslanderzielten Einkünfte die dort gezahlte Steuer vom deut-schen Fiskus anzurechnen. Angesichts dieser Problemeist ein Vollanrechnungsverfahren, obwohl von der Kon-zeption her überzeugend, keine realistische Option fürjedweden Reformvorschlag.

Steuerreformoption I: Integration der Körperschaftsteuer in die Einkommensteuer

54. In der Steuerreformoption I wird die Körperschaft-steuer in die Einkommensteuer in der Form integriert,dass der Spitzensatz der Einkommensteuer dem Körper-schaftsteuersatz entspricht. Damit die Belastung von Ka-pitalgesellschaften international attraktiv bleibt, mussein niedriger Spitzensatz der Einkommensteuer erreichtwerden. Ein Wert von 30 vH bis maximal 35 vH stellthier eine realistische Obergrenze dar. Konsequenter-weise verlangt eine Angleichung der Spitzensteuersätzevon Einkommen- und Körperschaftsteuer dann die Frei-stellung von im Inland erzielten Dividendeneinkommenund Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an Ka-pitalgesellschaften. Andernfalls käme es auf der Anteils-eignerebene zu einer Höherbesteuerung von Dividenden.Mit der Angleichung wäre aber, solange an einem pro-gressiven Einkommensteuersystem festgehalten wird,keine Neutralität in der Wahl der Unternehmensrechts-form und der Finanzierung zu erreichen.

55. Während bei dieser Reformoption Veräußerungsge-winne von Anteilen an Kapitalgesellschaften steuerfreisein müssen, werden die Gewinne aus einer Veräußerungvon Anteilen an Personenunternehmen und die Gewinnevon im Privatvermögen gehaltenen Grundstücken in vol-ler Höhe der Einkommensbesteuerung unterworfen.Auch dies führt dazu, dass keine Rechtsformneutralitäthergestellt werden kann. Die Freistellung von im Inlanderzielten Dividendeneinkommen führt aufgrund EU-rechtlicher Diskriminierungsverbote dazu, dass auch dieins Ausland fließenden Dividenden nicht besteuert wer-den dürfen. Ebenso müssten auch die aus dem Ausland

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Eine kürzere Fassung

empfangenen Dividendeneinkommen und Veräuße-rungsgewinne im Inland steuerfrei gestellt werden. Da-mit würde das Quellenprinzip, also die Besteuerung vonEinkommen an dem Ort, an dem sie erwirtschaftet wur-den, sehr weitgehend verwirklicht. Von einer Einkom-mensbesteuerung nach dem Wohnsitzprinzip wäre mandemzufolge weit entfernt. Zudem birgt eine umfassendeQuellenbesteuerung die Gefahr eines internationalenSteuersenkungswettlaufs, was unter Umständen die Not-wendigkeit bedeutet, aus Wettbewerbsgründen den Spit-zensatz der Einkommensteuer weiter zu senken, mit al-len Folgen für das nationale Steueraufkommen.

56. Wenn auch mit der Steuerreformoption I keinevollständige Neutralität in der Wahl der Unternehmens-rechtsform erreicht werden kann und sich auch die Ver-zerrungen in den Finanzierungsentscheidungen nichtgänzlich beheben lassen, so werden beide Probleme ge-genüber dem Status quo doch erheblich reduziert. DieKoppelung des Körperschaftsteuersatzes an den Spitzen-satz der Einkommensteuer hat jedoch die Konsequenz,dass – will man ein wettbewerbsfreundliches Niveau derTarifbelastung erreichen – der Einkommensteuertarif inder Spitze merklich abgesenkt werden muss. Dies wirdbei Sicherung des Steueraufkommens nur gelingen,wenn zugleich die steuerliche Bemessungsgrundlagedrastisch verbreitert wird. Die Attraktivität und die Er-folgschance dieser Reformoption hängt damit entschei-dend davon ab, ob ein konsequenter Abbau von Steuer-vergünstigungen gelingt.

Steuerreformoption II: Duale Einkommensteuer

57. Die Steuerreformoption II modifiziert das Leitbildeiner synthetischen Einkommensteuer. An ihre Stelle trittmit der „dualen Einkommensteuer“ eine systematischausgestaltete Steuer, die zwischen zwei Einkunftsartenunterscheidet − umfassend definierten Kapitaleinkom-men und Arbeitseinkommen – und diese unterschiedlichbesteuert. Kapitaleinkommen, bestehend aus den Gewin-nen von Einzelunternehmern und Personenunternehmen,Dividenden, Zinsen, Einkünften aus Vermietung undVerpachtung sowie privaten Veräußerungsgewinnen,werden mit einem niedrigen proportionalen Satz besteu-ert. Wie bei der ersten Steuerreformoption sollte eineGesamtbelastung von 30 vH nicht überschritten werden.Arbeitseinkommen werden demgegenüber progressivbesteuert und umfassen vor allem Löhne, einschließlichkalkulatorischer Unternehmerlöhne, Pensionen, gesetzli-che Altersrenten und staatliche Transferleistungen. ZurBegrenzung von Steuerarbitrage sollte der Spitzensteu-ersatz allerdings nicht wesentlich über dem Kapitalein-kommensteuersatz liegen, gleichwohl besteht hier mehrGestaltungsfreiheit für die Steuerpolitik als in derReformoption I. Die separate Besteuerung von Kapital-gesellschaften mit Körperschaftsteuer wird beibehalten.Allerdings sind Körperschaftsteuer und Kapitaleinkom-mensteuer vollständig aufeinander abgestimmt. Dieswird über zweierlei Maßnahmen sichergestellt: Zum ei-nen stimmt der Körperschaftsteuersatz mit dem proporti-onalen Satz der Kapitaleinkommensteuer überein. Zumanderen werden die Doppelbesteuerung von Ausschüt-tungen sowie von Gewinnen aus der Veräußerung von

Anteilen an Kapitalgesellschaften vollständig vermie-den. Somit kann in der Tat von einer dualen Einkom-mensteuer gesprochen werden: Der Besteuerung vonArbeitseinkommen steht die Besteuerung von Kapi-taleinkommen gegenüber, mit vollständig integrierterKörperschaftsteuer.

58. Für den Übergang zu einer dualen Einkommen-steuer sprechen vor allem Effizienzüberlegungen. Eineduale Einkommensbesteuerung stärkt die Neutralität derBesteuerung im Hinblick auf Investitions-, Finanzie-rungs- und Rechtsformentscheidungen, und sie erhöhtdie Standortattraktivität vor dem Hintergrund der zuneh-menden internationalen Kapitalmobilität. Dies führt zueiner Verbesserung der Wachstumsbedingungen und derChancen der Arbeitnehmer auf höhere Einkommen.Gegenüber den geltenden Regelungen wird zudem dieSystematik des Steuerrechts durch eine konsistente undeinheitliche Besteuerung von Kapitaleinkommen verbes-sert. Im Einzelnen bietet eine duale Einkommensteuergegenüber dem geltenden System die folgenden Vor-teile:

– Neutralität der Unternehmensbesteuerung: Die An-gleichung der Steuersätze für Unternehmensgewinnebeziehungsweise private Kapitaleinkommen an denKörperschaftsteuersatz, die vollständige Integrationder Körperschaftsteuer in die Kapitaleinkommen-steuer sowie durchgängig proportionale Steuersätzefür sämtliche Kapitaleinkommen stellen grundsätz-lich die Finanzierungsneutralität der Besteuerungsicher. Sämtliche Finanzierungswege werden unab-hängig von den persönlichen Verhältnissen der Kapi-talgeber in gleicher Höhe belastet. Damit differen-ziert die Besteuerung auch nicht im Hinblick auf dieUnternehmensrechtsform.

– Standortattraktivität: Für eine Tarifdifferenzierungzwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen lassen sichvor allem Effizienzgesichtspunkte anführen. Kapi-taleinkommen sind international wesentlich mobilerals Arbeitseinkommen. Mit der Abkoppelung desSteuersatzes für Kapitaleinkommen von der Besteue-rung der Arbeitseinkommen wird somit ein flexiblesInstrument geschaffen, um im internationalen Steuer-wettbewerb bestehen zu können, ohne dass unmittel-bar das gesamte Steueraufkommen in Mitleidenschaftgezogen wird.

– Verbesserte Systematik: Eine umfassende Besteue-rung der Kapitaleinkommen mit einem proportiona-len Satz begrenzt Möglichkeiten zur Steuerarbitragezwischen den betroffenen Einkünften und vermindertin erheblichem Maße Abgrenzungsprobleme bei derZuordnung von Einnahmen und Ausgaben.

59. Ebenso wie bei der Steuerreformoption I werdenauch bei einer dualen Einkommensteuer die im Inlanderzielten Dividenden freigestellt. Zwar existiert auch dieMöglichkeit eines Vollanrechnungsverfahrens, aber die-ses ist angesichts der potentiellen Aufkommenswirkun-gen nicht zu empfehlen. Ebenfalls sind aus Praktikabili-tätsgründen Gewinne aus der Veräußerung von Anteilenan Kapitalgesellschaften von der Steuer zu befreien.

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Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Gleiches gilt für Auslandsdividenden und entsprechendeVeräußerungsgewinne. Damit wird auch bei einer dualenEinkommensteuer die Besteuerung grenzüberschreiten-der Einkommen dem Quellenprinzip folgen. Im Gegen-satz zur Steuerreformoption I ist es bei einer dualen Ein-kommensteuer aufgrund der gespaltenen Steuersätzeaber möglich, aus Gründen der Standortattraktivität denSteuersatz auf Kapitaleinkommen zu senken, ohne dass– zumindest in Grenzen – dies eine parallele Senkungder Sätze in der Einkommensteuer erforderte.

60. Eines der wesentlichen Probleme einer dualen Ein-kommensteuer ist die Abgrenzung von unternehmeri-schen Gewinneinkünften und Arbeitseinkommen inForm von Unternehmerlöhnen. Die Tatsache, dass Kapi-taleinkommen im Regelfall niedriger besteuert werdenals Arbeitseinkommen, erzeugt bei Personenunterneh-men Anreize, Arbeitseinkommen in Gewinneinkommenumzudeklarieren, um so die steuerliche Gesamtbelastungzu senken. Eine perfekte Lösung wird hier nicht möglichsein. Zur Lösung der damit verbundenen Abgrenzungs-probleme lässt sich allerdings auf die Erfahrungen derskandinavischen Staaten zurückgreifen, die in der erstenHälfte der neunziger Jahre zu einer dualen Einkommen-steuer übergegangen sind. Dort wird in der Regel dasGewinneinkommen über eine unterstellte Verzinsung deseingesetzten Eigenkapitals errechnet; das dem progressi-ven Einkommensteuersystem unterworfene Arbeitsein-kommen ergibt sich dann als Restgröße zwischen demausgewiesenen bilanziellen Gewinn und dem errechne-ten Gewinneinkommen. Die Anreize zur Arbitragezwischen den beiden Einkunftskategorien sind umso ge-ringer, je weniger sich der Spitzensatz der Einkommen-steuer von dem auf Kapitaleinkommen unterscheidet.Dies spricht dafür, die Sätze relativ nahe beieinander zulassen. Dann allerdings verringert sich auch der mit einerdualen Einkommensteuer mögliche Umverteilungsspiel-raum.

Zur Reform der Gewerbesteuer: Ein Trauerspiel

61. Zur Stärkung der Rechtsform- und Finanzierungs-neutralität der Besteuerung ist die Gewerbesteuer inihrer jetzigen Ausgestaltung abzuschaffen. Ein kommu-nales Zuschlagsrecht zur Einkommen- und Körper-schaftsteuer, für das der Sachverständigenrat plädiert,lässt sich demgegenüber problemlos in eine reformierteEinkommen- und Körperschaftsteuer integrieren. DasHin und Her um die Reform der Gewerbesteuer und ihreUmbenennung in „Gemeindewirtschaftssteuer“ zeigtnicht nur, wie quälend eine Steuerreformdiskussion seinkann; es verdeutlicht auch, wie durch massive Interven-tionen von Verbänden oder Interessenvertretern ein ur-sprünglich noch akzeptables Reformmodell zu einerselbst gegenüber dem Status quo schlechteren Lösungmutieren kann.

Das vom Deutschen Bundestag am 17. Oktober diesesJahres verabschiedete Gesetz sieht neben einer Anhe-bung der Steuermesszahl von ursprünglich vorgesehenen3 vH auf 3,2 vH auch unverändert die hälftigeZurechnung von Schuldzinsen und von anderen ertrags-unabhängigen Elementen vor. Der ursprüngliche Geset-

zesentwurf der Bundesregierung vom 8. September be-inhaltete demgegenüber noch die nahezu vollständigeStreichung gewinnunabhängiger Bestandteile.

Im Vergleich zum Status quo bewirken die bislang vomDeutschen Bundestag beschlossenen Regelungen zurGemeindewirtschaftssteuer (Ziffer 531) eine weitereVerschlechterung der steuerlichen Rahmenbedingun-gen. Bei nationaler Geschäftstätigkeit erhöhen sich beiKapitalgesellschaften die effektiven Grenzsteuerbelas-tungen und Durchschnittssteuerbelastungen um bis zueinen Prozentpunkt. Richtiger wäre es gewesen, wie imursprünglichen Regierungsentwurf vorgesehen, auf diehälftige Hinzurechnung der Dauerschuldzinsen ganz zuverzichten, weil dadurch der Standort Deutschland insteuerlicher Hinsicht an Attraktivität gewonnen hätte.Bei Kapitalgesellschaften wären die effektiven Grenzbe-lastungen bei Einbeziehung der Kapitalgeberseite unddurchschnittlichen Finanzierungswegen um rund 2 Pro-zentpunkte geringer ausgefallen als bei den jetzt be-schlossenen Regelungen.

Lohnpolitik und Arbeitsmarkt

– Die Tarifvertragsparteien sollten auf einen beschäf-tigungsfreundlichen Kurs einschwenken und beider Tariflohnentwicklung den Verteilungsspiel-raum nicht voll ausschöpfen.

– Die qualifikatorische Lohnstruktur sollte insbeson-dere im Bereich gering qualifizierter Arbeit weitergespreizt werden.

– Das Tarifvertragsrecht ist zu flexibilisieren.

– Das Kündigungsschutzrecht sollte modifiziert underweitert werden. Dazu gehören die Einschränkun-gen der Beweistatbestände bei arbeitgeberseitigenKündigungen und eine weitere Flexibilisierungdurch Optionen bei Abdingung des gesetzlichenKündigungsschutzes.

– Beim Arbeitslosengeld I sollten die Anreize zu ei-ner zügigeren Arbeitsaufnahme verstärkt werden,indem diese Leistung zwar für die erste Phase derArbeitslosigkeit angehoben wird, dann aber mit zu-nehmender Dauer der Arbeitslosigkeit sinkt.

– Die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversiche-rung sollten teilweise unternehmensspezifisch aus-gestaltet werden und zwar in Anlehnung an dieNettokosten, die betriebsbedingt entlassene Arbeit-nehmer des betreffenden Unternehmens bei der Ar-beitslosenversicherung verursachen.

– Der Sachverständigenrat erneuert seinen Vor-schlag einer grundlegenden Reform der Sozial-hilfe/Arbeitslosengeld II, damit mehr Beschäfti-gung im Niedriglohnbereich geschaffen wird. Vonder Einführung einer staatlich festgelegten Lohn-untergrenze im Rahmen der Zumutbarkeitsrege-lung sollte abgesehen werden.

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Eine kürzere Fassung

3. Lohnpolitik und Arbeitsmarkt: Chancen für mehr Beschäftigung verantwortungsvoll wahrnehmen

(Ziffern 633 ff.)

62. Die ohnehin bedrückende Lage auf dem Arbeits-markt hat sich in diesem Jahr noch weiter verschlechtert.Die Bundesregierung hat allerdings mit einer Reihe mu-tiger Reformschritte auf die andauernde Misere reagiert.Wichtige Gesetzentwürfe sind auf den Weg gebrachtworden, einige bereits verabschiedet, während anderenoch der parlamentarischen Umsetzung harren. Letzterebetreffen vor allem die Zusammenlegung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe. Hier will die Opposition überihre Bundesratsmehrheit bei der Frage der Anreize zurAufnahme einer regulären Beschäftigung für die er-werbsfähigen Empfänger von Arbeitslosengeld II nochüber die Vorhaben der Bundesregierung hinausgehen.Diese Überlegungen gehen aus Sicht des Sachverständi-genrates im Grundsatz in die richtige Richtung, weisengleichwohl Probleme eigener Art auf. Die schlechtesteLösung für die Beschäftigungschancen der Betroffenenwäre es aber, wenn im Gesetzgebungsverfahren übereine gegenseitige Blockade kein Kompromiss zustandekäme. Alles in allem ist aber auf dem Arbeitsmarkt eini-ges in Bewegung geraten. Diese Chancen für mehr Be-schäftigung gilt es in den kommenden Jahren zu nutzen.Hier stehen die Tarifvertragsparteien in einer besonderenVerantwortung.

Die Verantwortung der Tarifvertragsparteien und des Gesetzgebers

63. Gefordert ist eine verstetigte maßvolle Lohnpolitik.Diese sollte auf betriebsspezifische und qualifikatori-sche Belange Rücksicht nehmen und, solange eineUnterbeschäftigungssituation vorliegt, den Verteilungs-spielraum nicht ausschöpfen. Kollektive Lohnvereinba-rungen legitimieren sich nicht zuletzt dadurch, dass siesolche gesamtwirtschaftlichen Belange beachten. DerSachverständigenrat erläutert in seinem diesjährigenGutachten ausführlich diese lohnpolitische Konzeptionund setzt sich mit einer Reihe von Einwänden auseinan-der. Diese betreffen insbesondere die Frage der gesamt-wirtschaftlichen Auswirkungen einer Strategie derLohnzurückhaltung sowie die Frage der korrekten Be-messung des zur Verfügung stehenden Verteilungsspiel-raums. In der Öffentlichkeit weithin beachtete Größenfür die Ausrichtung der Lohnpolitik, insbesondere dieLohnstückkosten, weisen eine Reihe konzeptionellerSchwächen auf und sind als Indikatoren einer zurückhal-tenden Lohnpolitik nur sehr bedingt geeignet. Worauf esankommt, das ist die Arbeitsproduktivität, und zwar dieum Beschäftigungsänderungen bereinigte Grenzproduk-tivität. Wird der hierdurch definierte Verteilungsspiel-raum überschritten, dann kommt es zu Arbeitsplatz-abbau. Wird der Verteilungsspielraum vollständigausgeschöpft, dann wird lediglich Arbeitsplatzabbauverhindert. Erst wenn ein gewisser Abschlag von der be-reinigten Produktivitätsentwicklung vorgenommen wird,entstehen per saldo Arbeitsplätze. Eine dieser Maxime

verpflichtete Lohnpolitik sollte, um den UnternehmenPlanungssicherheit zu gewährleisten, längerfristig ange-legt sein und sich an branchen- oder betriebsspezifischenKennziffern ausrichten. Eine nachträgliche Beurteilungder Tariflohnpolitik ist allerdings angesichts erheblicherDatenprobleme auf eine Beurteilung der entsprechendengesamtwirtschaftlichen Kennziffern angewiesen. Hierzeigt sich, dass die Tariflohnpolitik ihrer Verantwortungfür mehr Beschäftigung auch im Jahr 2003 nicht nachge-kommen ist: Die Tarifvertragsparteien nahmen keinenAbschlag vom erwarteten Verteilungsspielraum vor; le-diglich durch Kürzungen der übertariflichen Leistungen,also durch eine negative Lohndrift, war es den Unterneh-men möglich, eine vollständige Ausschöpfung des tat-sächlich realisierten Verteilungsspielraums zu verhin-dern.

Die vielfach geäußerte Befürchtung einer geringerenNachfrage aufgrund einer solchen tarifpolitischen Stra-tegie, gerade wenn sie verlässlich und glaubwürdig übereinen längeren Zeitraum angelegt ist, erweist sich nachAnsicht des Sachverständigenrates als nicht stichhaltig.Denn beschäftigungsfreundliche Anhebungen der Tarif-verdienste stellen eine Verbesserung der Angebotsbedin-gungen dar – eine Verbilligung des Faktors Arbeit, hö-here internationale Wettbewerbsfähigkeit und aufgrundhöherer Gewinne potentiell auch eine Ausweitung derInvestitionstätigkeit –, über die sich dann auch ein Be-schäftigungsaufbau einstellt. Dies bedeutet demnachnicht, dass die Nachfrageseite der Volkswirtschaft un-wichtig sei – oder gar irrelevant. Es bedeutet vielmehr,dass die gesamtwirtschaftliche Kausalitätskette, die vonLohnmoderation zu mehr Beschäftigung führt, sich nichthinreichend über eine rein verwendungsseitig orientierteAnalyse ermitteln lässt. Kurz gesagt: Beschäftigung ent-steht primär durch die Bedingungen auf dem Arbeits-markt.

64. Die Auswirkungen der Tarifpolitik sind nicht alleinden Tarifvertragsparteien zuzuschreiben. Vielmehr müs-sen auch im Tarifvertragsrecht selbst die Voraussetzun-gen für eine beschäftigungsfreundliche Lohnpolitik ge-setzt werden. Hierauf weist der Sachverständigenrat seitmehreren Jahren beständig hin, ohne dass bis jetzt we-sentliche Flexibilisierungen vorgenommen worden wä-ren. Zu den Forderungen in diesem Bereich gehören bei-spielsweise eine Neuregelung des Günstigkeitsprinzips,eine Aufhebung der Sperrwirkung des § 77 Absatz 3 Be-triebsverfassungsgesetz für tarifungebundene Arbeitneh-mer, die Verkürzung der Tarifbindung bei Austritt einesUnternehmens aus dem Arbeitgeberverband oder dieAbschaffung von Allgemeinverbindlicherklärungen.Schließlich ist zu prüfen, inwieweit im Tarifvertragsge-setz eine wirksame Öffnungsklausel vorgeschriebenwerden kann, um tarifgebundenen Unternehmen auf be-trieblicher Ebene Abmachungen zu ermöglichen.

Zu den in den letzten beiden Ziffern formulierten Posi-tionen gibt es abweichende Meinungen, die in den Text-ziffern (659 ff. und 675 ff.) begründet sind.

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Page 51: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren

Kündigungsschutz: Mehr Rechtssicherheit und Chancengleichheit

65. Zu begrüßen ist der von der Bundesregierung mitdem Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt modifizierteKündigungsschutz insoweit, als er nun eine Eingrenzungder Kriterien der Sozialauswahl sowie eine einge-schränkte gerichtliche Überprüfbarkeit im Rahmen einesInteressenausgleichs zwischen Arbeitgeber und Betriebs-rat vorsieht. Damit sind wichtige Voraussetzungen ge-schaffen worden, die die Probleme des bislang geltendenKündigungsschutzes in einem gewissen Ausmaß zu redu-zieren vermögen. Allerdings sollten darüber hinaus auchdie Beweistatbestände bei arbeitgeberseitigen Kündigun-gen eingeschränkt werden, um die hier weiterhin beste-hende Rechtsunsicherheit im Kündigungsprozess, diestarke Inanspruchnahme von Arbeitsgerichten und die da-mit einhergehenden hohen Kosten für die Unternehmenweiter zu verringern. Über die mit der Gesetzesänderungvorgesehene Möglichkeit hinaus, zum Zeitpunkt der Ent-lassung eine Abfindung im Rahmen eines Auflösungsver-trags zu vereinbaren, sollten auch Ex-ante-Regelungennach Beendigung der Probezeit in Erwägung gezogenwerden. Hierbei sind zwei Optionen möglich. Einerseitskann für den Fall einer späteren betriebsbedingten Kündi-gung freiwillig auf den Kündigungsschutz verzichtet wer-den, wenn gleichzeitig eine in diesem Fall zu zahlendeAbfindung vereinbart wird. Andererseits könnte dem Ar-beitnehmer die Möglichkeit eingeräumt werden, im Ein-vernehmen mit dem Arbeitgeber vollständig auf den Kün-digungsschutz zu verzichten und im Gegenzug dafür einhöheres Gehalt auszuhandeln. Die Höhe der Abfindungenbeziehungsweise des Lohnzuschlags sollte individuellzwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber geregelt wer-den, um unternehmensspezifischen Gegebenheiten ange-messen Rechnung zu tragen. Mit der Realisierung dieserOptionen würde Arbeitnehmern und Arbeitgebern einegroße Flexibilität eingeräumt, so dass die Präferenzenbeider Seiten berücksichtigt würden.

Reformvorschläge für die Arbeitslosenversicherung und die Mindestsicherung

66. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr bei denLohnersatzleistungen und im Bereich der Mindestsiche-rung Reformen angestoßen, bei denen teilweise aber dasGesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist.Zu nennen sind insbesondere die Verkürzung der maxi-malen Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld, das zukünf-tig als Arbeitslosengeld I bezeichnet wird, auf12 Monate und auf 18 Monate für über 55-jährigeArbeitnehmer sowie die Zusammenlegung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II.Obwohl einige der Regelungen dem Ziel, die Arbeits-anreize für erwerbsfähige Arbeitslose zu stärken, zuwi-derlaufen – zu nennen sind hier insbesondere der zwei-jährige Zuschlag zum Arbeitslosengeld II für vormaligeBezieher von Arbeitslosengeld I und die Einführungeines Mindestlohns im Rahmen der Zumutbarkeits-regeln –, handelt es sich gleichwohl um mutige und ziel-führende Reformen. Damit wurden auch einige wichtigeVorschläge aufgegriffen, die der Sachverständigenrat inseinem letzten Jahresgutachten unterbreitet hat.

67. Um für Bezieher von Arbeitslosengeld I die An-reize zu einer zügigen Arbeitssuche über die Verkürzungder Bezugsdauer hinaus zu stärken, entwickelt der Sach-verständigenrat seine Vorschläge fort und stellt eine wei-terführende Reform zur Diskussion: Das Arbeitslosen-geld I sollte zwar für die erste Phase der Arbeitslosigkeitüber das bisherige Niveau angehoben werden, dann abermit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit sinken. Dergenaue zeitliche Verlauf der Lohnersatzquote ist dabeiso auszugestalten, dass die Reform für die Arbeitslosen-versicherung kostenneutral ist. Der erhöhte Satz für Ar-beitslose mit unterhaltspflichtigen Kindern ist in der Ar-beitslosenversicherung systemfremd und im Hinblickauf das Ziel der Förderung von Familien mit Kindernoder Alleinerziehenden nicht sachgerecht, da die Höheder Förderung nicht mit der Zahl der Kinder, sondernmit dem früheren Arbeitseinkommen steigt: Der erhöhteSatz sollte daher abgeschafft und – wenn der Gesetzge-ber das für notwendig erachtet – durch einen steuerfi-nanzierten Zuschlag zum Kindergeld ersetzt werden.

68. Fehlanreize erzeugt das gegenwärtige System derArbeitslosenversicherung jedoch auch bei den Unterneh-men, und zwar infolge einer unzureichenden Internali-sierung der durch eine Entlassung verursachten Kosten;neben dem Verlust des betriebsspezifischen Humankapi-tals und des sozialen Umfelds sind dies insbesondere dieAusgaben der Arbeitslosenversicherung. Der einheitli-che Beitragssatz der Arbeitgeber führt zu einer Quersub-ventionierung zwischen Unternehmen mit unterschiedli-chem Entlassungsverhalten und zu gesamtwirtschaftlichineffizienten Entlassungsentscheidungen. Anstatt zu ver-suchen, diese über einen rigiden, uniformen Kündi-gungsschutz zu kompensieren, sollte der Gesetzgebersich auch auf dem Arbeitsmarkt die Lenkungswirkungvon am Verursacherprinzip orientierten Abgaben zu-nutze machen. Der Sachverständigenrat wirbt daher fürdie Einführung teilweise unternehmensspezifisch diffe-renzierter Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversiche-rung, wobei die Arbeitgeberbeiträge sich an den tatsäch-lich bei der Arbeitslosenversicherung verursachtenNettokosten von betriebsbedingten Entlassungen orien-tieren sollten. Ein solches, in anderen Ländern auch un-ter dem Begriff „Experience Rating“ bekanntes Systemwürde zudem durch die gezielte Verteuerung vongesamtwirtschaftlich kostenträchtigen Entlassungen teil-weise die Aufgabe des Kündigungsschutzes überneh-men. Dieser ließe sich im Gegenzug bei betriebsbeding-ten Kündigungen lockern und könnte auf den Schutz vorDiskriminierung und den Ausgleich von unmittelbar miteiner Entlassung verbundenen Nachteilen zurückgeführtwerden.

Geldpolitik

– Die Geldpolitik hat ein hohes Maß an Preisniveau-stabilität gesichert und die Inflationserwartungenauf einem niedrigen Niveau verankert. Die Euro-päische Zentralbank sollte diese zielgerichtete Poli-tik fortsetzen. Die reichlich vorhandene Liquiditätund die historisch niedrigen Zinssätze sind gute Vo-raussetzungen für eine Wirtschaftsbelebung.

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Page 52: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Eine kürzere Fassung

4. Geldpolitik: Revision der geldpolitischen Strategie

(Ziffern 719 ff.)

69. Nach mehr als vier Jahren Erfahrungen mit der ein-heitlichen Geldpolitik überprüfte die Europäische Zen-tralbank zum Beginn dieses Jahres ihre geldpolitischeStrategie und nahm eine Reihe sinnvoller Anpassungenvor. Ein Resultat der Strategieüberprüfung ist die Kon-kretisierung der Definition von Preisniveaustabilität.Hierunter versteht die Europäische Zentralbank nunmehreinen Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisin-dex in der mittleren Frist von „unter, aber nahe 2 vH“gegenüber dem Vorjahr. Die neue Festlegung soll stärkerals früher neben den Inflationsgefahren auch vor Defla-tionsrisiken schützen, mögliche statistische Messfehlerbei der Verbraucherpreisentwicklung berücksichtigenund die Heterogenität der Inflationsraten im Euro-Raum

angemessen reflektieren. Dies ist positiv zu werten, je-doch hätte eine genauere numerische Festlegung des In-flationsziels und des geldpolitischen Entscheidungshori-zonts zu mehr Transparenz beigetragen. Ein zweitesErgebnis der Strategieprüfung ist die Umstrukturierungund Neugewichtung der beiden Säulen der Strategie. Diekonzeptionell richtige Klärung der Rolle breiter Geld-mengenaggregate ist zu begrüßen, ebenso wie die weni-ger prominente Rolle der Geldmenge. Konsequenterwäre es jedoch gewesen, die beiden Säulen der geldpoli-tischen Strategie zu verschmelzen. Auch sollte die Euro-päische Zentralbank klarer herausarbeiten, welche Infor-mationen sie aus den verschiedenen Indikatoren derwirtschaftlichen und monetären Analyse zieht, wie siediese Informationen kombiniert und wechselseitig über-prüft und wie daraus ein entscheidungsrelevantes undwiderspruchsfreies Bild über die Wirtschaftslage imEuro-Raum entsteht. Der Sachverständigenrat ist derAuffassung, dass dies am leichtesten durch die stärkereEinbindung von quantitativen Inflationsprognosen in diegeldpolitische Strategie zu erreichen wäre. Dies solltenicht als Forderung nach einer rein modellbasierten me-chanistischen Form der Geldpolitik interpretiert werden,die sich ausschließlich an formalen Modellen zu orien-tieren hätte. In die Prognosen können auch modellexo-gene Informationen einfließen, die sich in der aktuellenEntscheidungssituation als relevant für die Beurteilungder Inflationsrisiken erweisen. Eine stärkere Fokussie-rung auf Prognosen würde jedoch die Transparenz derEntscheidungsfindung erhöhen. Ihr höherer Stellenwertauch in der Kommunikation würde es der EuropäischenZentralbank zudem erleichtern, die Markterwartungenim Vorfeld zinsentscheidender Sitzungen des EZB-Rateszu steuern, ohne deutlich einen anstehenden Zinsschrittsignalisieren zu müssen.

– Im Zuge der Strategierevision wurde das Preis-niveaustabilitätsziel konkretisiert und die konzep-tionelle Rolle breiter Geldmengenaggregate an-gemessen geklärt. Die zunehmend integrierteGesamtsicht aller Risiken für die Preisniveaustabi-lität ist sinnvoll, eine vollständige Integration bei-der Strategiesäulen wäre konsequenter gewesen.

– Die Verfahren zur Bündelung der entscheidungsre-levanten Informationen könnten transparenter undnachvollziehbarer gestaltet werden. Die Europäi-sche Zentralbank sollte die Rolle ihrer Inflations-und Konjunkturprognosen in der Entscheidungsfin-dung und Kommunikation weiter stärken.

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ZWEITES KAPITEL

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

I. Weltwirtschaft: Erholung bei liche Entwicklung gewann im Jahresverlauf zunehmend

andauernden Unsicherheiten

70. Nachdem die weltwirtschaftliche Entwicklung auf-grund geopolitischer Unsicherheiten, vor allem verur-sacht durch den militärischen Konflikt im Irak, im erstenQuartal nur eine sehr geringe Dynamik aufgewiesenhatte, mehrten sich im weiteren Verlauf des Jahres zu-nächst zögerlich die Zeichen eines an Kraft gewinnen-den Aufschwungs. In wichtigen Industrieländern erhol-ten sich die Aktienmärkte, die Erwartungen derUnternehmer und Verbraucher hinsichtlich der weiterenEntwicklung verbesserten sich zunehmend, und auch re-alwirtschaftliche Indikatoren zeigten einen Aufwärts-trend. Der Ölpreis der Sorte Brent, zu Anfang des Jahresnoch auf nahezu 35 US-Dollar je Barrel gestiegen, bliebim weiteren Verlauf des Jahres im Durchschnitt auf ei-nem Niveau knapp oberhalb des von der OPEC anvisier-ten Bands von 22 bis 28 US-Dollar. Gründe hierfür wa-ren die geringen Ölvorräte insbesondere in denVereinigten Staaten, die eingeschränkte Produktion nichtnur des Irak, sondern auch, wegen innenpolitischer Pro-bleme, Venezuelas und Nigerias, sowie zuletzt die Ein-schränkung der Förderquote der OPEC.

Zwar verschärften sich die fundamentalen Ungleichge-wichte in den Vereinigten Staaten – das Leistungsbilanz-defizit und das staatliche Haushaltsdefizit – weiter undnährten Zweifel an einem nachhaltigen Aufschwung. Je-doch ließen in diesem Jahr die Bremswirkungen der ver-gangenen Rezession nochmals nach, und die wirtschaft-

an Dynamik. Japan überraschte mit einer deutlich überden Erwartungen liegenden gesamtwirtschaftlichen Pro-duktion, zu der neben den Exporten erstmals seit demJahr 2000 auch die privaten Investitionen wieder positivbeitrugen. Deutlich verhaltener verlief die gesamtwirt-schaftliche Entwicklung demgegenüber in Europa: Ohneeinen kräftigen außenwirtschaftlichen Impuls und ange-sichts einer schwachen Binnennachfrage stagnierte diewirtschaftliche Entwicklung in der Europäischen Unionin diesem Jahr nahezu.

Die südostasiatischen Schwellenländer einschließlichChina hatten zu Anfang des Jahres neben der schwachenweltwirtschaftlichen Entwicklung zusätzlich mit denAuswirkungen der Lungenkrankheit SARS (SevereAcute Respiratory Syndrome) zu kämpfen, die jedochnach dem Abklingen der Epidemie rasch an Bedeutungverloren. Insgesamt expandierte diese Region zwar we-niger stark als im letzten Jahr, erreichte aber dennoch– insbesondere dank der unverändert dynamischen Ent-wicklung Chinas – wieder die weltweit höchste Zu-wachsrate der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Brasi-lien und Argentinien überwanden größtenteils ihreinnenpolitischen Schwierigkeiten, die im letzten Jahr diedortigen wirtschaftlichen Probleme verschärft und zu ei-ner Rezession in den lateinamerikanischen Schwellen-ländern geführt hatten, so dass diese Region einen– wenn auch nur schwachen – positiven Zuwachs ihresBruttoinlandsprodukts verzeichnen konnte (Tabelle 4).

Ta b e l l e 4

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 20031)

Welthandel2) ................ 3,4 4,3 3,7 9,1 9,0 7,0 10,4 4,4 5,8 12,6 0,1 3,2 3,7 Weltproduktion3) ......... 1,6 2,2 2,4 3,7 3,7 4,0 4,2 2,8 3,6 4,8 2,4 3,0 3,5

darunterIndustrieländer4) ....... 1,0 1,9 1,2 3,1 2,5 2,8 3,3 3,0 3,1 3,6 1,0 1,6 2,0 Schwellenländer ......

darunterLateinamerika5) ...... 4,1 3,5 4,2 5,2 1,6 3,7 5,3 2,0 0,0 4,1 0,5 -0,3 1,0 Südostasien6) .......... 8,2 6,9 7,2 8,2 8,1 6,6 4,3 -4,6 7,1 7,7 1,0 4,8 3,0 China .................... 9,2 14,2 13,5 12,6 10,5 9,6 8,8 7,8 7,1 8,0 7,5 8,0 8,5

1) Eigene Schätzung auf Basis von Angaben internationaler und nationaler Institutionen. - 2) Waren und Dienstleistungen; Durchschnitt ausAusfuhr und Einfuhr, insgesamt. - 3) Reales Bruttoinlandsprodukt. - 4) Advanced economies (siehe IWF: World Economic Outlook, September2003) ohne die südostasiatischen Schwellenländer Hongkong (China), Südkorea, Singapur und Taiwan. - 5) Argentinien, Brasilien, Chile, Ko-lumbien, Mexiko, Peru, Venezuela. - 6) Hongkong (China), Südkorea, Malaysia, Singapur, Taiwan, Thailand.

Quelle: IWF

Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vHEckdaten der weltwirtschaftlichen Entwicklung

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Insgesamt nahm die weltweite Produktion in diesemJahr um 3,5 vH zu; dies waren wegen der zunächst nurzögerlichen wirtschaftlichen Entwicklung hauptsächlichin der ersten Jahreshälfte lediglich 0,5 Prozentpunktemehr als im letzten Jahr. Das Welthandelsvolumen vonWaren und Dienstleistungen stieg mit 3,7 vH zwar eben-falls 0,5 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr; seine Zu-wachsrate lag damit aber immer noch knapp 3 Prozent-punkte unter dem Durchschnitt der letzten zehn Jahre.

1. Vereinigte Staaten: Erholung bei expansiver Wirtschaftspolitik

71. Die konjunkturelle Erholung in den VereinigtenStaaten verlief in diesem Jahr stetiger als im Vorjahr,wenngleich sich die Entwicklung im dritten Quartal miteiner annualisierten Zuwachsrate des Bruttoinlandspro-dukts von 7,2 vH kräftig beschleunigte. Mit dem Nach-lassen der geopolitischen Unsicherheiten, die das ersteVierteljahr geprägt hatten, entfaltete sich eine deutlichewirtschaftliche Dynamik. Der größte Beitrag zur Zu-nahme des Bruttoinlandsprodukts kam in diesem Jahrwiederum vom privaten Konsum, unterstützt durch eineexpansive Geldpolitik. Die Niedrigzinspolitik wirktesich auch auf die Hypothekenzinsen aus und verstärktedamit den Zuwachs im privaten Wohnungsbau und dieRefinanzierungsaktivitäten nochmals. Darüber hinauswurde hauptsächlich der private Konsum von den neuer-lichen Steuerentlastungen stimuliert, aber auch die pri-vaten Investitionen in Ausrüstung und Software zeigtenab dem zweiten Quartal beachtliche Zuwachsraten. Da-neben trug der kräftige Anstieg der Staatsausgaben, ins-besondere für Verteidigung und Militär, wesentlich zumAnstieg des Bruttoinlandsprodukts bei. Gleichzeitig ver-bunden waren damit aber auch Zweifel an der Dauerhaf-tigkeit des Aufschwungs. So dehnten sich das staatlicheBudgetdefizit und das Leistungsbilanzdefizit weiter aus.Ferner blieben insbesondere die Kapazitätsauslastungsowie die Lage am Arbeitsmarkt deutlich hinter den Er-wartungen zurück. Insgesamt legte die gesamtwirt-schaftliche Aktivität in den Vereinigten Staaten in die-sem Jahr um 2,9 vH zu, und damit 0,5 Prozentpunktemehr als im vergangenen Jahr (Tabelle 5). WesentlicheImpulse auf die Konjunktur der anderen Industrieländerblieben allerdings auch im zweiten Jahr nach der US-amerikanischen Rezession aus, die nach Ansicht des Na-tional Bureau of Economic Research im November 2001beendet war (Schaubild 6).

72. In diesem Jahr kam es erneut zu einem kräftigenProduktivitätsfortschritt: Die Produktion je geleiste-ter Arbeitsstunde im Unternehmenssektor ohne Land-wirtschaft stieg um 4,3 vH rascher als im Vorjahr. Somiterwies sich der seit dem Jahr 1996 zu verzeichnendedurchschnittlich höhere Anstieg der Produktivität mitrund 3 vH gegenüber dem Trend der 20 Jahre zuvor(1,4 vH) weiterhin als beständig (JG 2000 Zif-fern 199 ff.).

Die durchschnittliche Produktivität entwickelte sich seitder letzten Rezession deutlich anders als nach früherenRezessionen. Während oder nach früheren Rezessionen

nahm die Produktivität stark ab und stieg in der Folge ingeringerem, höchstens annähernd gleichem Ausmaß wiedas Bruttoinlandsprodukt. Demgegenüber lag der Pro-duktivitätsfortschritt seit der letzten Rezession in der Re-gel deutlich über dem Zuwachs der gesamtwirtschaftli-chen Aktivität. Zu beachten ist, dass seit Beginn dieserRezession allerdings auch die Beschäftigungsentwick-lung viel schwächer verlief als im Gefolge früherer Re-zessionen. Als ein weiterer Grund für die anhaltendstarke Produktivitätszunahme wird eine mögliche Unter-schätzung des Einflusses der Neuen Ökonomie währendder Boomphase genannt. Danach war gerade für In-vestitionen in Informations- und Kommunikations-technologien zunächst häufig eine Reihe von Weiterbil-dungsmaßnahmen erforderlich, die anfangs noch nichtproduktionswirksam wurden, sich dagegen aber direktim Arbeitsvolumen niederschlugen. Im nachfolgenden

Ta b e l l e 5

2000 2001 2002 20032)

Bruttoinlandsprodukt,in Preisen von 1996 ....... 3,8 0,3 2,4 2,9 Private Konsum-

ausgaben ..................... 4,3 2,5 3,1 3,2 Private Bruttoanlage-

investitionen ............... 6,1 -3,8 -3,1 4,1 Konsum und Brutto-

investitionen3) desStaates ......................... 2,7 3,7 4,4 3,3

Exporte von Waren undDienstleistungen ......... 9,7 -5,4 -1,6 1,3

Importe von Waren undDienstleistungen ......... 13,2 -2,9 3,7 3,5

Leistungsbilanzsaldo4) ....... -4,2 -3,9 -4,6 -5,0 Verbraucherpreise ............ 3,4 2,8 1,6 2,4 Kurzfristiger

Zinssatz (%)5) .................. 6,5 3,7 1,8 1,2 Langfristiger

Zinssatz (%)6) .................. 6,1 5,6 5,3 4,6 Arbeitslosenquote7) ............ 4,0 4,7 5,8 6,0 Beschäftigung8) .................. 2,5 0,0 -0,3 0,8 Finanzierungssaldo des

Staates4) ........................... 1,4 -0,5 -3,4 -5,2 Schuldenstand des

Staates4) ........................... 58,8 58,7 60,8 63,7

1) Soweit nicht anders definiert: Veränderung gegenüber dem Vor-jahr. - 2) Eigene Schätzung auf Basis von Angaben internationalerund nationaler Institutionen. - 3) Bruttoanlageinvestitionen ein-schließlich Vorratsveränderungen. - 4) In Relation zum nominalenBruttoinlandsprodukt in vH. - 5) Für Dreimonatswechsel (Jahres-durchschnitte). - 6) Für Staatsschuldpapiere mit einer Laufzeit von10 Jahren und mehr (Jahresdurchschnitte). - 7) Arbeitslose in vHder zivilen Erwerbspersonen. - 8) Zivile Erwerbstätige.

Quelle: OECD

Wirtschaftsdaten für die Vereinigten StaatenvH1)

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

Abschwung und bis hinein in die Erholungsphasemachten sich diese Investitionen durch eine höhereWertschöpfung bei entlassungsbedingt niedrigerem Ar-beitseinsatz in der weiteren Produktivitätszunahme be-merkbar.

Da die deutliche Produktivitätszunahme teilweise entlas-sungsbedingt war, ist sie aber auch auf die negative Ent-wicklung am Arbeitsmarkt zurückzuführen. Die Ar-beitslosenquote stieg noch leicht über das letztjährigeNiveau hinaus auf 6,0 vH im Jahresdurchschnitt an. Ne-ben der Industrieproduktion erwies sich der Arbeits-markt somit als einer der wesentlichen Schwachpunkteder wirtschaftlichen Erholungsphase. Während anderewichtige Konjunkturindikatoren – das Bruttoinlandspro-dukt, persönliche Einkommen und Umsätze des Produ-zierenden Gewerbes und des Handels –, die vom Natio-nal Bureau of Economic Research zur Bestimmung derKonjunkturzyklen hauptsächlich herangezogen werden,

bereits über ihrem Niveau vor der Rezession lagen, gingdie Beschäftigung, das heißt die Zahl der außerhalb derLandwirtschaft abhängig beschäftigten Personen, um0,3 vH im Vergleich zum Vorjahr erneut zurück. Demge-genüber stieg allerdings die Zahl aller Erwerbstätigenum 0,8 vH im Jahresdurchschnitt an.

Die divergierende Entwicklung zwischen der Zahl derabhängig Beschäftigten und derjenigen der Erwerbstäti-gen beruht im Wesentlichen auf der Tatsache, dass dieseErgebnisse aus zwei verschiedenen Befragungen – einerUnternehmensbefragung und einer Haushaltsbefra-gung – abgeleitet werden. Während die Entwicklung derabhängig Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaftgemäß der Unternehmensbefragung seit Beginn der Re-zession im Mittel unverändert rückläufig war, stieg dieBeschäftigung in der gleichen Abgrenzung gemäß derHaushaltsbefragung seit Beginn letzten Jahres trendmä-ßig leicht an. Das Bureau of Labor Statistics weist dar-auf hin, dass die Angaben der Unternehmensbefragungverlässlicher bezüglich der derzeitigen trendmäßigenEntwicklung der Beschäftigung seien: Zum einen basie-ren sie auf einer größeren Stichprobe, die rund ein Drit-tel aller Arbeitsplätze umfasst, und unterliegen geringe-ren Schwankungen; zum anderen werden ihre Angabenjährlich an die Referenzgröße aus den Daten derArbeitslosenversicherung angepasst, die 97 vH allerStellen außerhalb der Landwirtschaft abdeckt. Eine vor-läufige Schätzung dieser im kommenden Februar anfal-lenden Revision weist auf eine Abwärtskorrektur derBeschäftigung hin, die den gemäß dieser Umfrage zuverzeichnenden Rückgang der Beschäftigung zusätzlichbestätigt. Da im Januar dieses Jahres die Beschäftigunggemäß der Haushaltsbefragung deutlich nach oben an-gepasst wurde, die Daten der Vergangenheit diesbezüg-lich aber nicht korrigiert wurden, sind zudem die Be-schäftigungsdaten dieser Befragung vor Januar 2003nicht direkt mit denen danach vergleichbar. Neben die-sen Argumenten, die für die eher schlechte Entwicklungder Beschäftigung sprechen, ist allerdings eine Unter-schätzung der Beschäftigung durch die Unternehmens-befragung nicht auszuschließen. Sie könnte darauf zu-rückzuführen sein, dass die Zahl der per saldo neugegründeten Unternehmen – für die die Angaben aus derUnternehmensbefragung stets korrigiert werden – auf-grund einer Veränderung der Sektorstruktur derzeitnicht korrekt geschätzt wird. Dies könnte insbesonderevor dem Hintergrund zunehmender Auslagerungen vonUnternehmensteilen von Bedeutung sein.

Die deutlich schlechtere Entwicklung der Beschäftigung(gemäß der Unternehmensbefragung) im Vergleich zufrüheren auf eine Rezession folgenden Phasen könntegemäß einer Studie der Federal Reserve Bank of NewYork auf eine Strukturverschiebung zurückzuführen sein,die mit der letzten Rezession einherging. Danach warenzu Beginn der Rezession im März 2001 rund 80 vH derBeschäftigten in einem Wirtschaftsbereich tätig, derauch einer nicht-konjunkturellen Änderung unterlag,während nur 20 vH der Beschäftigten in Bereichen ar-beiteten, in denen die Anpassungen der Beschäftigung inder Rezession und der nachfolgenden Erholung zyklischbedingt waren. Damit unterscheidet sich die letzte Re-zession deutlich von den Rezessionen der siebziger und

S c h a u b i l d 6

1) Den Messziffernreihen liegen saisonbereinigte Daten in Landeswäh-rung mit unterschiedlichen Preisbasen zugrunde: EU-15: in Preisenund Kaufkraftparitäten von 1995; Japan: in Preisen von 199 ; Ver5 einig-te Staaten: in Preisen von 199 .6 – a) Für Japan ab 3. Vierteljahr, für Ver-einigte Staaten 4. Vierteljahr eigene Schätzung.

Quelle für Grundzahlen: OECD

Entwicklung des realen Bruttoinlandsproduktsin ausgewählten Industrieländern1)

98

102

104

106

108

110

100

Log. Maßstab1. Vj. 2000 = 100

98

102

104

106

108

110

100

Log. Maßstab1. Vj. 2000 = 100

I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV2000 2001 2002 2003

VereinigteStaaten

Japan

a)

EuropäischeUnion

SR 2003 - 12 - 0601

29

Page 56: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

achtziger Jahre, in denen sich zyklische und nicht-kon-junkturelle Anpassungen in etwa die Waage hielten.Selbst in der Rezession zu Beginn der neunziger Jahrewar der Anteil zyklischer Anpassungen lediglich auf43 vH geschrumpft. Dabei lag nach dieser Definitioneine nicht nur zyklisch bedingte Veränderung vor, wennsowohl während der Rezession als auch in den zwölfdem Ende der Rezession folgenden Monaten die Be-schäftigungsanpassung gleichgerichtet war. Zu den da-von negativ betroffenen Branchen zählen insbesondereUnternehmensdienstleistungen, Kommunikation, elek-tronische Ausrüstung, Luftfahrt und Transport sowie Fi-nanzdienstleistungen. Unterstützt wird diese These da-durch, dass während der letzten Rezession der Beitragpermanenter Entlassungen zum Anstieg der Arbeitslo-senquote deutlich größer war als jener von lediglichtemporären Entlassungen. Allerdings bleibt abzuwarten,ob sich diese Veränderungen als persistent erweisenoder ob es sich lediglich um eine ungewöhnlich lang-same Beschäftigungsanpassung handelt.

73. Der gegenwärtige Aufschwung wird im Wesentli-chen von den Privaten Konsumausgaben getragen, diein diesem Jahr mit 3,2 vH leicht stärker als im letztenJahr zulegten. Verantwortlich hierfür waren vor allem er-neute Rabattaktionen insbesondere in der Automo-bilbranche sowie ein steigendes reales verfügbares Ein-kommen. Dessen Zuwachs belief sich in den ersten neunMonaten gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf 2,4 vH,im Wesentlichen hervorgerufen durch das In-Kraft-Tre-ten der diesjährigen Steuerreform und die damit verbun-denen Rückerstattungen von zuviel gezahlten Steuern abJuli 2003. Auch vom Immobilienmarkt gingen in diesemJahr noch positive Effekte auf den privaten Konsum aus:Die Hypothekenzinsen erreichten im Laufe dieses Jahresdas niedrigste jemals realisierte Niveau; dies vergüns-tigte die Refinanzierung bestehender und die Aufnahmeneuer Hypotheken. Allerdings ließen diese konjunktur-stimulierenden Effekte zu Mitte des Jahres aufgrund desAnstiegs der langfristigen Zinssätze und der dadurchverringerten Zinsdifferenz zwischen bestehenden undneuen Hypotheken nach (Kasten 1).

74. Ein Risiko für die private Konsumtätigkeit wirdhäufig in den seit dem Jahr 2000 eingetretenen Nettover-mögensverlusten infolge der Kurseinbrüche am Aktien-markt gesehen; diese Einbrüche konnten nur zu rund derHälfte durch einen höheren Wert des Immobilienvermö-gens und anderen finanziellen Vermögens kompensiertwerden. Ein Rückgang des Nettovermögens dürfte aller-dings, sollte er sich als permanent herausstellen, mittel-fristig mit niedrigeren Konsumausgaben und – als Kehr-seite der Konsumreaktion – einer höheren Ersparniseinhergehen, wenn man der permanenten Einkommens-hypothese folgt. Danach orientieren sich die Verbraucherbei ihrer Entscheidung zwischen Konsum und Ersparnislangfristig in erster Linie an ihrem erwarteten permanen-ten Einkommen. Vielfach wird befürchtet, die mit demRückgang des Nettovermögens verbundene Verringe-rung des permanenten Einkommens habe sich bislangnoch nicht in einem ausreichend hohen Anstieg derSparquote der privaten Haushalte niedergeschlagen.

Nachdem die Sparquote seit dem Jahr 1992 von 8,7 vH– dies entsprach nahezu ihrem Mittel in den 20 Jahrenzuvor – auf fast 2 vH zu Beginn der Rezession imMärz 2001 gefallen war, ist sie seitdem lediglich aufdurchschnittlich 3,3 vH in diesem Jahr angestiegen. Esstellt sich daher die Frage, ob mittelfristig ein weitausstärkerer Anstieg der Sparquote zu erwarten ist, der ei-nen Rückgang der Privaten Konsumausgaben und damiteine deutlich gedämpftere wirtschaftliche Dynamik be-dingen würde.

Schätzungen eines langfristigen Konsummodells desInternationalen Währungsfonds auf der Grundlage derpermanenten Einkommenshypothese, in welches das ver-fügbare Einkommen sowie die verschiedenen Vermö-gensarten – Immobilienvermögen, Aktienvermögen undnicht in Aktien gehaltenes finanzielles Vermögen – sepa-rat eingehen, geben allerdings keinen Hinweis auf einsignifikantes Abweichen von der Langfristbeziehungzwischen permanentem Einkommen und Konsum in denVereinigten Staaten. Demzufolge liegt die daraus abge-leitete Sparquote der privaten Haushalte lediglich einenProzentpunkt unterhalb ihres geschätzten Langfristni-veaus. Der Anstieg der Sparquote in den letzten beidenJahren ist dabei im Wesentlichen auf die überproportio-nal starken Einkommenszunahmen sowie auf den Rück-gang der Aktienkurse zurückzuführen, während der kräf-tige Anstieg des Immobilienvermögens und anderenfinanziellen Vermögens außer Aktien – hierzu zählen ins-besondere sehr liquide Anlagen wie Sichteinlagen undGeldmarktfondsanteile – für sich genommen die Spar-quote reduzierten. Käme es allerdings zu einer Anpas-sung der Sparquote um einen Prozentpunkt nach oben, sowürde die Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts kurz-fristig um rund dreiviertel Prozentpunkte sinken.

Auch ein Blick auf die Entwicklung des Nettovermögensund der Ersparnisse legt die Vermutung eines nur gerin-gen Anpassungsbedarfs der Sparquote nahe. Das Netto-vermögen der privaten Haushalte ist vom knapp Fünffa-chen des verfügbaren Einkommens im Jahr 1990 aufnahezu das 6½ Fache im Jahr 1999 gestiegen. Seitdemhat es sich bis auf das Fünffache im letzten Jahr redu-ziert, steigt seit dem dritten Quartal 2002 aber wieder an.Damit ist die Nettovermögensquote seit ihrem Hoch-punkt im Jahr 1999 relativ weniger gefallen (– 20 vH),als die Sparquote seit diesem Zeitpunkt angestiegen ist(+ 38 vH). Aufgrund des inversen Zusammenhangs zwi-schen diesen beiden Größen scheint sich die Sparquotebereits im Wesentlichen an die veränderten Vermögens-verhältnisse angepasst zu haben.

Selbst wenn sich die Sparquote derzeit nahe ihrem ge-schätzten Langfristniveau befindet, gilt dies allerdingsnur für die jetzige Nettovermögensposition der privatenHaushalte. Gerade vom Immobilienmarkt geht, sofern esdort zu einem abrupten Preisverfall kommen sollte, dasRisiko eines weiteren Vermögensrückgangs und damiteinhergehend eines stärkeren Anstiegs der Sparquote aus.Zudem könnte der Bankensektor in Mitleidenschaft gezo-gen werden, dessen Gewinne in den letzten Jahren we-sentlich von den Hypothekengeschäften getragen wurden.

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

K a s t e n 1

Die Bedeutung des US-amerikanischen Immobilienmarkts und Hypothekenmarkts

Aufgrund ihrer Bedeutung für die Vermögenssituation der privaten Haushalte spielen der US-amerikanische Im-mobilienmarkt und der Markt für Hypotheken und Hypothekenanleihen eine wichtige Rolle für die dortige wirt-schaftliche Entwicklung. Das in den letzten Jahren rückläufige Zinsniveau und der Anstieg der Immobilienpreisehaben zu einem Boom am Immobilienmarkt geführt, und das Volumen der Hypothekenanleihen hat sich seit demJahr 1990 verdreifacht, so dass der Hypothekenmarkt mittlerweile die Größe des Markts für Staatsanleihen er-reicht hat. Zwar wurde der bis zum vergangenen Jahr verzeichnete Anstieg der Immobilienpreise (bereinigt umden Anstieg der Verbraucherpreise) in den Vereinigten Staaten um 27 vH seit dem Jahr 1996 von anderen Ländern– jeweils bezogen auf den letzten Hochpunkt –, wie zum Beispiel dem Vereinigten Königreich mit 70 vH seit demJahr 1994 oder Irland von mehr als 100 vH seit dem Jahr 1992, deutlich übertroffen. Jedoch ist die Gefahr nichtvernachlässigbar, dass es im Zuge einer Erhöhung des allgemeinen Zinsniveaus zu einem Immobilienpreisverfallkommt. Die Sorge über ein vom Immobilienmarkt ausgehendes Risiko vergrößerte sich seit Mitte dieses Jahres:Die Renditen an den Anleihemärkten und damit auch auf dem Hypothekenmarkt stiegen kräftig – allein zwischenMitte Juni und Mitte August kletterte der Zinssatz für zehnjährige Staatsanleihen um 130 Basispunkte auf 4,5 %,wenngleich er am aktuellen Rand wieder geringfügig sank – und verteuerten so die Finanzierung.

Gemäß einer Querschnittsuntersuchung des Internationalen Währungsfonds für 14 Industrieländer im Zeitraumder Jahre 1970 bis 2002 liegt die Wahrscheinlichkeit bei 40 vH, dass einem Immobilienboom ein plötzlicher undstarker Fall der Immobilienpreise folgt. Im Falle des Platzens einer Blase fielen die Preise an den Immobilien-märkten um durchschnittlich 30 vH über einen Zeitraum von 1½ Jahren. Meist waren schwere weitere ökonomi-sche Beeinträchtigungen die Folge. Daher ist die Frage von erheblicher Bedeutung, ob sich am Immobilienmarkteine spekulative Blase gebildet hat, deren Platzen den Hypothekenmarkt und damit den privaten Konsum in Mit-leidenschaft ziehen würde.

Der Immobilienmarkt

Aus einem Preisrückgang am Immobilienmarkt können folgende Effekte resultieren. Ein starker Preisverfall dortverringert über eine Verminderung des Nettovermögens die Privaten Konsumausgaben. Darüber hinaus sinkt dieKreditvergabe, da nur noch geringere Immobilienwerte als Sicherheiten zur Verfügung stehen, was wiederum aucheine niedrigere Investitionstätigkeit nach sich zieht. Ein weiteres Risiko für die Immobilienpreise besteht in einemAnstieg des Marktzinses, der über einen höheren Schuldendienst die Nachfrage der privaten Haushalte nach Im-mobilien reduziert. Dies betrifft zum einen diejenigen Schuldner, die variabel verzinste Hypotheken halten; ihrAnteil an allen Hypothekenschuldnern ist jedoch mit 20 vH eher gering. Zum anderen werden aber Eigenheimeinsgesamt weniger erschwinglich, da sich neue Kredite verteuern.

Um festzustellen, ob Immobilien überbewertet sind und deshalb eine Korrektur der Preise nach unten zu erwartenist, können unterschiedliche Indikatoren herangezogen werden. Der starke Anstieg der Immobilienpreise relativzum unterstellten Mietwert in den letzten sechs Jahren bis auf zuletzt rund 14 vH über den langfristigen Durch-schnitt könnte ein Hinweis auf eine Überbewertung der Immobilien sein. Der Anpassungsprozess zum langjähri-gen Durchschnitt muss jedoch nicht unbedingt über einen Rückgang der Immobilienpreise erfolgen. Dies ist ins-besondere vor dem Hintergrund relevant, dass ein Rückgang nominaler Immobilienpreise für die VereinigtenStaaten, zumindest für einen längeren Zeitraum, bislang nicht verzeichnet werden konnte. Vielmehr wäre aucheine Rückkehr zum langfristigen Durchschnitt innerhalb von zwei bis drei Jahren vorstellbar, wenn die unterstell-ten Mietpreise gemäß ihrem langfristigen Trend anstiegen und die Immobilienpreise gleichzeitig stagnierten.

Relativiert werden die Risiken eines Preisverfalls auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt auch dadurch,dass die Entwicklung der realen Immobilienpreise in den letzten Jahren weitgehend von fundamentalen Faktoren,wie dem starken Anstieg des realen verfügbaren Einkommens und den niedrigen Zinsen in der zweiten Hälfte derneunziger Jahre, gestützt zu sein scheint. So ist der Index für die Erschwinglichkeit von Immobilieneigentum, dersich aus dem Verhältnis vom Median-Haushaltseinkommen zum Marktwert eines existierenden Einfamilienhausesergibt, in den letzten Jahren konstant geblieben. Die weiterhin geringen Zinssätze haben zudem die Schulden-dienstlast der Haushalte unverändert gelassen. Darüber hinaus ist der Immobilienpreisanstieg von einer verstärk-ten Nachfrage aufgrund einer Zunahme der Einpersonen-Haushalte und eines Anstiegs der Zuwanderung begleitetworden. Ferner haben Effizienzverbesserungen am Hypothekenmarkt, hervorgerufen durch die gestiegene Bedeu-tung überregionaler Hypothekenbanken mit einheitlichen Kreditaufnahmebedingungen und standardisierten Re-finanzierungsmöglichkeiten, die Transaktionskosten verringert. Empirische Untersuchungen zur Entwicklung derImmobilienpreise in den einzelnen Regionen haben lediglich für einige wenige Metropolen im Westen und Nord-osten eine Überbewertung der dortigen Immobilien festgestellt. Nicht zuletzt hat sich die Gefahr eines Einbruchsder Immobilienpreise durch den in letzter Zeit deutlich verlangsamten Immobilienpreisanstieg verringert.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Der Hypothekenmarkt

Wesentliches Charakteristikum des US-amerikanischen Immobilienmarkts ist die Möglichkeit für den Schuldner,vorhandene Hypotheken ohne Vorfälligkeitsentschädigung zu kündigen und den Kredit damit jederzeit kosten-günstig abzulösen. Im Falle sinkender Zinsen kann eine Festzins-Hypothek gekündigt und durch eine Hypothek zuniedrigerem Festzins ersetzt werden. Bei 40 vH der Umfinanzierungen wird die Zinsersparnis zur Erhöhung derHypothek verwendet; diese zusätzlichen Kreditmittel werden überwiegend zur Anschaffung langlebiger Konsum-güter genutzt.

Die Banken ihrerseits sichern sich gegenüber dem Zinsänderungsrisiko und der dadurch ausgelösten vorzeitigenTilgung der Hypotheken derart ab, dass sie die Hypothekenkredite zu Portefeuilles bündeln, welche dann über dieBegebung spezieller Hypothekenanleihen refinanziert werden. Hierzu werden häufig die staatlich subventionier-ten Hypothekenagenturen Federal Home Loan Mortgage Corporation (Freddie Mac) und Federal National Mort-gage Association (Fannie Mae) eingeschaltet, die die Rückzahlung der Hypothekenkredite durch die Eigenheim-besitzer garantieren und inzwischen fast die Hälfte des Hypotheken-Sekundärmarkts abdecken. Kennzeichen derHypothekenanleihen ist es, dass sie ebenfalls vorzeitig getilgt werden können. Das Zinsniveau bestimmt somitweitgehend das erwartete Volumen vorzeitiger Tilgungen und damit die Veränderung der Laufzeit von Hypothe-ken und hypothekenbesicherten Anleihen. Die Hypotheken-Refinanzierer müssen daher ihre Aktiva durch dyna-mische Absicherungsgeschäfte ständig anpassen, um die veränderte Laufzeit ihrer Anlagen zu kompensieren. DerAnpassungsbedarf im Rahmen dynamischer Absicherungsgeschäfte auf dem Hypothekenmarkt ist dabei stärkerals bei konventionellen Anleihen. Bei einem Zinsanstieg kommt neben dem normalen Effekt, das heißt einer An-passung der Rendite über den Kursrückgang bei steigendem Zinsniveau, zusätzlich der Laufzeit-Effekt zum Tra-gen: Aufgrund der mit steigendem Zins abnehmenden Wahrscheinlichkeit der vorzeitigen Tilgung verlängert sichdie erwartete durchschnittliche Laufzeit des Zahlungsstroms der Hypotheken. Kommt es zu einem Zinsrückgang,kaufen die Hypotheken-Refinanzierer Staatsanleihen oder Terminkontrakte beziehungsweise tätigen Swapge-schäfte. Dazu zahlen sie über einen bestimmten Zeitraum einen variablen Zins, um eine Festverzinsung zu erhal-ten. Erhöht sich der Marktzins, so verkaufen sie die Staatsanleihen wieder beziehungsweise zahlen im Swapge-schäft einen Festzins, um den im jeweiligen Zeitraum gültigen variablen Zins zu erhalten. Der Anpassungsbedarfder Kurssicherungsgeschäfte kann selbst bei gleichbleibendem Zins bestehen bleiben, wenn sich der Anteil vor-zeitiger Kündigungen über die Zeit weiter verändert. Damit verstärken die dynamischen Absicherungsgeschäftedie Effekte von Zinsänderungen auf den Finanzmärkten und beeinflussen insbesondere die Kurse und Zinsen amMarkt für Staatsanleihen wesentlich. Aufgrund der riesigen Bilanzpositionen der beiden halbstaatlichen Hypothe-kenagenturen sind die Finanzmärkte im Falle drastischer Zinsänderungen einer erheblichen Volatilität ausgesetzt.

Sollte es zu einem nachhaltigen Anstieg der Zinsen kommen, könnten zudem die halbstaatlichen Hypotheken-Re-finanzierer ein Risiko darstellen, da es Befürchtungen gibt, sie seien unzureichend kapitalisiert – ihre Kernkapital-quote belief sich Ende 2002 auf lediglich 3,2 vH bezogen auf die Summe der risikogewichteten Aktiva. In diesemFall könnte es diesen Instituten misslingen, die dann größtenteils langfristigen Anlagen mit niedriger Verzinsungdurch kurzfristige Schulden mit hohen Zinssätzen zu refinanzieren. Zwar verfügen die beiden halbstaatlichen Kre-ditinstitute über Kreditlinien beim US-amerikanischen Finanzministerium, die als weitreichende implizite Kredit-garantien interpretiert werden; der US-amerikanische Staat ist aber gesetzlich nicht verpflichtet, im Ernstfall ein-zuspringen. Zudem bestehen ordnungspolitische Bedenken, da der Wettbewerb mit anderen Kreditinstitutenverzerrt wird. Während in der Großen Depression die Illiquidität der Finanzmärkte die Gründung von Fannie Maerechtfertigte, dürften die Hypothekenmärkte mittlerweile ohne eine solche staatlich geförderte Institution auskom-men. Sie reduziert jedoch die Zinskosten um etwa einen viertel Prozentpunkt, da die Anleihen dieser Institute alsfast so sicher wie Staatsanleihen gelten. Allerdings haben in diesem Jahr eine intransparente Offenlegung einge-gangener Risikopositionen und Unregelmäßigkeiten bei der Bilanzierung von Gewinnen über einen Zeitraum vondrei Jahren bei Freddie Mac zu Vertrauensverlusten geführt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die größeren Gefahren am Immobilienmarkt von der Finanzierungsseiteund weniger von der Entwicklung der Immobilienpreise herrühren, sollte es vom derzeit im langfristigen Ver-gleich immer noch niedrigen Hypothekenzinsniveau zu einem plötzlichen und starken Anstieg kommen.

75. Die privaten Bruttoanlageinvestitionen verzeich- ware mit hohen Raten zu. Demgegenüber war der Bei-

neten in diesem Jahr erstmals seit dem Jahr 2000 wiedereinen Zuwachs, der mit 4,1 vH recht kräftig ausfiel. Erkam zunächst hauptsächlich vom privaten Wohnungs-bau, der durch die weiterhin sehr niedrigen Hypotheken-zinsen angetrieben wurde. Im Laufe des Jahres nahmenaber auch die Investitionen in Ausrüstungen und Soft-

trag der Lagerhaltung zum Zuwachs der gesamtwirt-schaftlichen Produktion in diesem Jahr negativ:Während es im vergangen Jahr zu einem deutlichen La-geraufbau kam, führte die im ersten Halbjahr verstärktzu spürende Unsicherheit über die weitere wirtschaftli-che Entwicklung zwischenzeitlich wieder zu einem Ab-

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

bau, der erst zum Jahresende in einen erneuten Aufbauder Lagerhaltung überging.

Ein wesentlicher Hemmschuh für einen noch stärkerengesamtwirtschaftlichen Aufschwung war die Kapazi-tätsauslastung der Industrie (ohne Baugewerbe), dienach einem leichten Anstieg in der ersten Jahreshälfte2002 bis Mitte dieses Jahres wieder rückläufig war. Sieverharrte mit durchschnittlich rund 75 vH auf äußerstniedrigem Niveau; niedriger war sie lediglich in denRezessionsjahren 1975 und 1982. Allerdings unterschei-det sich die Kapazitätsauslastung relativ stark zwischenden Branchen: Während sie im Bereich der Hochtechno-logie bei lediglich knapp über 60 vH lag, wiesen Mine-ralöl- und Kohleindustrie Auslastungsgrade von fast90 vH auf.

Der Korrelationskoeffizient zwischen Auslastungsgradder Industrie und privaten Bruttoanlageinvestitionen istsignifikant von null verschieden und beläuft sich für denZeitraum seit dem Jahr 1982 auf 0,4 bei Vorlauf der Ka-pazitätsauslastung um vier Quartale und 0,2 bei Gleich-lauf der beiden Indikatoren. Die Granger-Kausalitätwirkt in beide Richtungen, wenn auch diejenige von Ka-pazitätsauslastung auf Investitionen ein höheres Signifi-kanzniveau besitzt. Dieses Ergebnis ließe somit eineeher schwache private Investitionstätigkeit in der Zu-kunft vermuten.

Neben der Kapazitätsauslastung spielen jedoch andereFaktoren eine Rolle, die für verbesserte Investitionsaus-sichten sprechen und den tatsächlichen realisierten Zu-wachs der privaten Bruttoanlageinvestitionen erklärenkönnen. So mögen geringere Nutzungsdauern insbeson-dere im Bereich der Informations- und Kommunika-tionstechnologien sowie ein mit durchschnittlich8,3 Jahren für Ausrüstung und Software relativ hohesAlter der Anlagen im Verarbeitenden Gewerbe dazu bei-getragen haben, dass die Investitionstätigkeit wiederstärker anstieg. Darüber hinaus ist beim Kapazitätsaus-lastungsgrad zu beachten, dass er nur die Industrie reprä-sentiert, deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt lediglichbei 17 vH liegt.

76. Die Binnennachfrage wurde auch wesentlich vonden staatlichen Konsumausgaben und Bruttoinvesti-tionen gestützt, die in diesem Jahr mit 3,3 vH gegenüberdem Vorjahr erneut kräftig anstiegen. Hierzu trugen vorallem die Verteidigungsausgaben bei, die sich imFiskaljahr 2003 auf Bundesebene um 16 vH erhöhten.Dies war die höchste Zuwachsrate während der letzten20 Jahre; sie lag mehr als doppelt so hoch wie die Zu-nahme der Staatsausgaben ohne Verteidigung (7 vH). Inletzterem Bereich stiegen die Ausgaben für Heimat-schutz und Bildung besonders stark. Demgegenüber san-ken die Zinszahlungen auf die bundesstaatliche Ver-schuldung in dem im September abgelaufenen Fiskaljahrum knapp 10 vH. Da es sich bei der Ausgabenerhöhungim Bereich Verteidigung und Militär vermutlich nichtum eine dauerhafte Ausweitung des Staatskonsums han-delt, lässt dies an der Nachhaltigkeit des Aufschwungsin den Vereinigten Staaten zumindest teilweise zweifeln.Die Defizitfinanzierung dieser Maßnahmen wie auch die

der Steuerentlastungen wird den öffentlichen Haushalt inder Zukunft darüber hinaus mit höheren Zinszahlungenbelasten.

77. Der Beitrag des Außenhandels zum Anstieg desBruttoinlandsprodukts war in diesem Jahr wiederum ne-gativ. Zwar kam es zu einer leichten Zunahme der Ex-porte von Waren und Dienstleistungen, jedoch war diesezu schwach, um den kräftigeren Anstieg der Importe zukompensieren, der sich trotz einer Abwertung des US-Dollar ergab. Das hatte eine nochmalige Ausweitung desLeistungsbilanzdefizits auf eine Rekordhöhe von 5,0 vHin Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt zurFolge und stand damit neben dem ausufernden staatli-chen Haushaltsdefizit im Mittelpunkt der Diskussion umdie anhaltenden Ungleichgewichte in der US-amerikani-schen Volkswirtschaft (Ziffern 82 ff.).

78. Die Geldpolitik der US-amerikanischen Noten-bank war auch im Jahr 2003 äußerst expansiv, der Ziel-satz der Federal Funds Rate wurde im Juni auf 1 % ge-senkt und war damit so niedrig wie zuletzt vor45 Jahren. Die Geldmenge M2 nahm in den ersten neunMonaten dieses Jahres um 7,5 vH im Vergleich zumVorjahreszeitraum zu, etwas schwächer als im gleichenZeitraum des letzten Jahres. Die Veränderungsrate desVerbraucherpreisindex stieg entgegen anfänglichen Be-fürchtungen hinsichtlich verstärkter deflationärer Ten-denzen auf 2,4 vH an, nachdem sie im letzten Jahr noch1,6 vH betragen hatte. Demgegenüber kam es jedoch zueinem Rückgang der Kerninflationsrate (Inflationsrateohne Nahrungsmittel und Energie) von 2,3 vH auf1,6 vH. Die kurzfristigen Realzinsen (auf Basis des De-flators des Bruttoinlandsprodukts) sanken zu Beginn desJahres unter null und beliefen sich auf durchschnittlich- 0,5 % in den ersten drei Quartalen. Auch die langfristi-gen Realzinsen gingen in diesem Zeitraum auf durch-schnittlich 3,1 % zurück.

Allerdings gab das sehr niedrige Leitzinsniveau Anlasszur Sorge, die Zinspolitik würde im Falle eines deflatio-nären Schocks aufgrund der bindenden Nullzinsgrenzewirkungslos und der Realzins würde steigen. Die poten-tielle Gefahr negativer Inflationsraten veranlasste einigeMitglieder des Offenmarktausschusses deshalb zu derAnkündigung, im Notfall auch unkonventionelle Politik-maßnahmen wie den Ankauf von Staatsanleihen oder an-derer zinstragender Vermögenswerte vorzunehmen, umso die Zinsstruktur und den Wechselkurs zu beeinflus-sen. Allerdings wären für eine spürbare Wirkung mas-sive Ankäufe notwendig, deren makroökonomische Ef-fekte mangels Erfahrungen mit solchen Maßnahmenschwer einzuschätzen sind. Daher lehnte die US-ameri-kanische Zentralbank den Einsatz dieser Maßnahmenzunächst ab und versuchte über ihre Kommunikationnach außen, zur Senkung der langfristigen Zinsen beizu-tragen. So unterschied die Zentralbank in ihren Mittei-lungen nach den Offenmarktausschusssitzungen des Fe-deral Reserve Board im Mai dieses Jahres erstmalszwischen den konjunkturellen und den inflationären Ri-siken. Während sie konjunkturelle Chancen und Risikenals ausgeglichen einschätzte, sah sie die „Gefahr einesunwillkommenen substantiellen Rückgangs der Inflation

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

als – wenn auch nur geringfügig – größer an als dieje-nige eines Anstiegs der bereits sehr niedrigen Inflations-rate“. Die Märkte interpretierten diese Äußerungen alsHinweis auf eine Politik anhaltend niedriger Zinsen, wasüber das gesamte Laufzeitenspektrum rückläufige Zins-sätze zur Folge hatte. Allerdings missglückte die Kom-munikationspolitik der Zentralbank insofern, als derZentralbankpräsident im Sommer die Deflationssorgenals sehr entfernt herausstellte. Zusammen mit den insge-samt verbesserten Konjunkturindikatoren führte diesdazu, dass das niedrige Niveau langfristiger Zinssätzesprunghaft verlassen wurde – allein zwischen Mitte Juniund Mitte August stieg der Zinssatz für zehnjährige US-Staatsanleihen um 130 Basispunkte auf 4,5 %. Wenn-gleich die Finanzierungsbedingungen im historischenVergleich weiter günstig waren, trafen höhere Langfrist-zinsen insbesondere Bauunternehmen und Herstellerlanglebiger Konsumgüter. Diese hatten zuvor von denniedrigen Zinsen profitiert, da die Verbraucher ihre Hy-potheken auf günstigere Zinsen umgeschuldet und damitzusätzliche Konsumausgaben finanziert hatten.

79. Neben der Geldpolitik war auch die Finanzpolitikerneut expansiv ausgerichtet, insbesondere durch dieVerabschiedung einer erneuten Steuerreform (Jobs andGrowth Tax Relief Reconciliation Act of 2003), die ne-ben dem Vorziehen bereits im Jahr 2001 beschlossenerzukünftiger Steuersenkungen weitere Steuervergünsti-gungen mit sich bringt. Über eine Laufzeit von zehn Jah-ren sind Steuerentlastungen in Höhe von 350 Mrd US-Dollar oder 0,25 vH in Relation zum über diese Jahrekumulierten prognostizierten nominalen Bruttoinlands-produkt vorgesehen, wobei 85 vH der Entlastungen aufdie ersten drei Jahre entfallen, allein 109 Mrd US-Dollaroder 1 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandspro-dukt auf dieses Jahr. Allerdings sollen erste Vergünsti-gungen bereits im Jahr 2005 wieder wegfallen.

Mit 29 Mrd US-Dollar brachte die vorgezogene Reduzie-rung der Einkommensteuersätze die größte Entlastungs-wirkung der Steuerreform in diesem Jahr mit sich. AufEbene der privaten Haushalte wurde die Einkommens-grenze für den Eingangssteuersatz von 10 vH für diesesund das kommende Jahr erhöht. Für Ehepaare, die nachUS-amerikanischem Steuerrecht gegenüber Alleinste-henden benachteiligt werden (Marriage Penalty), wurdedie bereits in der Steuerreform 2001 geplante Einfüh-rung eines pauschalen Freibetrags, der zunächst demDoppelten desjenigen für Alleinstehende entspricht, aufdieses Jahr vorgezogen. Ebenso ist der Einkommensbe-reich, in dem ein Steuersatz von 15 vH gilt, für Ehepaareauf das Doppelte des Bereichs für Alleinstehende ausge-dehnt worden. Familien mit geringerem Einkommen wer-den schließlich über die vorgezogene Erhöhung der Steu-ergutschrift für Kinder bessergestellt. Der Steuersatz aufKapitalgewinne wurde von 20 vH auf 15 vH für dieJahre 2003 bis 2008 beziehungsweise für Steuerzahler inden unteren Einkommensklassen von 10 vH auf 5 vH fürdie ersten fünf Jahre und 0 vH für das Jahr 2008 redu-ziert. Für Dividenden, die bislang der unbeschränktenDoppelbesteuerung unterlagen, gelten ab sofort die glei-chen Steuersätze wie für Kapitalgewinne. Der Entlas-tungseffekt dieser beiden Maßnahmen beträgt in diesem

Jahr 8 Mrd US-Dollar. Außerdem wurde der Freibetragfür die alternative Mindeststeuer angehoben, die auchangemessen hohe Steuereinnahmen von solchen Steuer-zahlern sichern soll, welche gemäß dem normalen Steu-ertarif verschiedene Vergünstigungen in Anspruch neh-men können und so trotz eines hohen, tatsächlichenEinkommens bei Anwendung des regulären Steuertarifsauf ein nur geringes steuerliches Einkommen kommen.Ziel war es, auch dieser Steuerzahlergruppe die Entlas-tungen durch die vorgezogenen Steuersatzsenkungen zu-kommen zu lassen. Auf Unternehmensseite stellte dieAusweitung der Sonderabschreibungen im Anschaf-fungsjahr von 30 vH auf 50 vH die mit 20 Mrd US-Dol-lar veranschlagte größte Entlastung in diesem Jahr dar.Sie ist bis Ende nächsten Jahres gültig. Des Weiterenwurde für diesen und die folgenden beiden Veranla-gungszeiträume der Betrag für sofort abziehbare Investi-tionsausgaben kleiner Unternehmen erhöht. Gleichzeitigwurde der Kreis der begünstigten kleinen Unternehmendadurch ausgeweitet, dass der Schwellenwert des Inves-titionsvolumens, bis zu dem die Vergünstigung in An-spruch genommen werden kann, angehoben wurde.

Das Gesetz trat rückwirkend zum 1. Januar 2003 in Kraft,ab Juli wurden Steuerschecks für bereits zuviel geleisteteSteuerzahlungen versandt. Diese Steuererleichterungenzusammen mit den Entlastungen, die in den beiden vor-angegangenen Jahren in Kraft getreten waren, werden ge-mäß Berechnungen des Institute on Taxation and Econo-mic Policy das Perzentil der einkommensstärksten US-Amerikaner bis zum Jahr 2010 mit einer Verminderungihrer Bundessteuerschuld um durchschnittlich 15 vH amstärksten entlasten. Während sich die Steuerlast der un-tersten drei Quintile in diesem Zeitraum im Durchschnittum 10 vH, 12 vH beziehungsweise 9 vH verringert, be-trägt die Entlastung der restlichen Einkommensgruppenim Durchschnitt lediglich 7 vH. Die unterproportionaleEntlastung der mittleren Einkommensbereiche sowie derlediglich temporäre Effekt aufgrund des Auslaufens vie-ler Vergünstigungen bereits nach wenigen Jahren werdenvermutlich mittelfristig nur zu einer geringen Nachfrage-steigerung führen, abgesehen von dem durch die Versen-dung der Steuerschecks entfachten Strohfeuer. Darüberhinaus konterkarierten Abgabenerhöhungen und Einspa-rungen auf der Ebene der Bundesstaaten die Entlastungs-wirkungen auf Bundesebene.

Die im Wesentlichen aufgrund der Steuererleichterungengesunkenen Steuereinnahmen verzeichneten auf Bun-desebene mit 16,1 vH in Relation zum nominalen Brut-toinlandsprodukt den niedrigsten Stand seit demJahr 1962, nachdem sie noch im Jahr 2000 einenHöchststand von 20,2 vH erreicht hatten. Zusätzlich zuden Steuererleichterungen legte die Bundesregierung ein20 Mrd US-Dollar-Programm zur Unterstützung derBundesstaaten auf, das für dieses und nächstes Jahr eineAnhebung des Bundesanteils an den Ausgaben für Me-dicaid, der Krankenversicherung für Personen und Fami-lien mit niedrigem Einkommen und Vermögen, und dieBereitstellung von Mitteln für öffentliche Dienstleistun-gen vorsieht. Zudem wurde der Bezug von Arbeitslosen-geld von 26 auf 39 Wochen verlängert. Dies war mitAusgaben von insgesamt rund 7,25 Mrd US-Dollar ver-

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

bunden. Der Irak-Krieg verursachte einen zusätzlichenAusgabenschub in Höhe von 79 Mrd US-Dollar, die ineinem Nachtragshaushalt für das Fiskaljahr 2003 bewil-ligt wurden. Auch Hilfszahlungen an Luftfahrtgesell-schaften und Bundesstaaten erhöhten die öffentlichenAusgaben in diesem Jahr.

80. Während die Steuerreform darauf abzielte, den pri-vaten Konsum und die Unternehmensinvestitionen zustimulieren, verschlechterte sie die ohnehin durch dieschwache wirtschaftliche Entwicklung in Mitleiden-schaft gezogene Haushalte der Bundesstaaten, die– außer Vermont – per Verfassung oder Gesetz keine De-fizite haben dürfen.

Trotz der Verpflichtung zu einem ausgeglichenen Budgetist es den meisten Staaten erlaubt, sich auf die eine oderandere Art zu verschulden, zumindest für ein Fiskaljahr.Die Budgetregeln der Bundesstaaten können grob in dreiKategorien eingeteilt werden: In fast allen Staaten mussder Gouverneur ein ausgeglichenes Staatsbudget vorle-gen. In einigen Staaten gelten in dieser Hinsicht restrik-tivere Vorschriften, die auch die Legislative an einenausgeglichen Haushalt binden − dieses Erfordernis giltin 41 Bundesstaaten. Allerdings können auch hier dietatsächlichen Ausgaben von den erzielten Einnahmenabweichen. Die strikteste Form des Budgetausgleichs istgegeben, wenn zusätzlich ein Defizitvortrag ausge-schlossen ist, was generell eher in kleinen Staaten derFall ist. Selbst bei dieser Form unterliegen nicht alleAusgaben der Budgetausgleichsrestriktion. Im Falle vonBudgetdefiziten, die sich im ein- bis zweijährigen Bud-getplanungszeitraum ergeben, haben die Bundesstaatenmehrere Optionen, diese zu finanzieren: Sie können ne-ben der Vornahme von Steuererhöhungen oder Ausga-bensenkungen bis zu einem gewissen Grad buchhalte-risch die Behandlung bestimmter Einnahmen undAusgaben verändern, auf Rücklagen zurückgreifen oderteilweise auch auf kurzfristige Kassenkredite auswei-chen. Schließlich gibt es keinen Sanktionsmechanismus,der eventuelle Abweichungen vom definierten Budget-ausgleich bestraft.

Die fiskalischen Auswirkungen des Steuerpakets auf dieHaushalte der Bundesstaaten belaufen sich auf insge-samt etwa 3 Mrd US-Dollar für dieses und das nächsteFiskaljahr. Zwar haben die Steuersatzsenkungen und dieAusweitungen der Einkommensgrenzen keinen Einflussauf die Einnahmen der Bundesstaaten, da deren Tarifge-staltung von der des Bundes abweicht. Vielmehr kom-men die Mindereinnahmen über die Ausweitung derSonderabschreibungen und der Sofortabschreibung fürkleine und mittlere Unternehmen sowie die Erhöhungdes pauschalen Freibetrags für Ehepaare zustande, da diemeisten Bundesstaaten ihre Steuergesetze in dieser Hin-sicht an das Bundessteuergesetz gekoppelt haben.

Die Bundesstaaten erhöhten Steuern und Gebühren– insbesondere im Bildungsbereich – und kürzten Aus-gaben – hier vor allem Sozialprogramme –, um ihreHaushalte im jeweils erforderlichen Umfang auszuglei-chen. Ihr Finanzierungsdefizit im Fiskaljahr 2003, das inden meisten Staaten im Juli endete, betrug insgesamt

knapp 80 Mrd US-Dollar, im folgenden Fiskaljahr wirdes sich voraussichtlich auf insgesamt mehr als70 Mrd US-Dollar belaufen. Fiskalisch am stärksten be-einträchtigt war Kalifornien, dessen für dieFiskaljahre 2003 und 2004 veranschlagtes Defizit beiinsgesamt 38,2 Mrd US-Dollar liegt. Nachdem eine Ra-tingagentur die Kreditwürdigkeit dieses Bundesstaatesin mehreren Stufen auf knapp über das Niveau spekulati-ver Ratingklassen (Junk Bond) herabgestuft hatte, er-höhten sich zudem die Finanzierungskosten Kaliforniensdrastisch.

81. Zusammengenommen ließen die Mehrausgabenund die Mindereinnahmen die Staatsverschuldung sostark, ansteigen dass der US-Kongress in diesem Jahr er-neut eine permanente Anhebung der Obergrenze für dieStaatsverschuldung auf Bundesebene von 6,4 BillionenUS-Dollar um 984 Mrd US-Dollar beschloss, nachdemsie erst letztes Jahr um 650 Mrd US-Dollar erhöht wor-den war. Die Defizitquote des Bundeshaushalts stieg indiesem Fiskaljahr deutlich um 1,7 Prozentpunkte auf5,0 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandspro-dukt, unter Berücksichtigung der Überschüsse in der So-zialversicherung lag sie bei 3,5 vH. Bezogen auf dasKalenderjahr 2003 nahm die gesamtstaatliche Defizit-quote auf 5,2 vH zu. Dieser stärkere Anstieg war im We-sentlichen durch weitere Mindereinnahmen infolge derSteuerreform sowie die in einem Nachtragshaushalt ver-abschiedeten zusätzlichen Ausgaben für die Aktivitätenim Irak und in Afghanistan bedingt. Nach Ausschaltungkonjunktureller Effekte belief sich die Defizitquote desBundes zum Ende des Fiskaljahres 2003 auf 3,2 vH,nachdem sie im Vorjahr noch 1,7 Prozentpunkte niedri-ger gelegen hatte. Damit war die diesjährige Ausweitungdes Budgetdefizits nahezu ausschließlich strukturell be-dingt.

Insgesamt haben insbesondere die seit Beginn des Ab-schwungs in Kraft getretenen steuerlichen Entlastungs-programme sowie die zusätzlichen diskretionären Aus-gaben im Bereich Verteidigung und Militär einen starkenfiskalischen Stimulus bewirkt, der die zyklisch berei-nigte Defizitquote seit dem Jahr 2000 um 4,3 Prozent-punkte steigen ließ. In Kombination mit einer sehr ex-pansiven Geldpolitik, die die kurzfristigen Realzinsen indiesem Zeitraum um 4,7 Prozentpunkte reduzierte, wa-ren die konjunkturstimulierenden Maßnahmen in denVereinigten Staaten im Vergleich zu anderen vom Ab-schwung betroffenen Industrieländern äußerst massiv(Ziffer 5).

Durch die Steuerreform und die Finanzierung des Irak-Kriegs verschiebt sich der Ausgleich des Staatshaushaltsweit über das zunächst angestrebte Jahr 2007 hinaus undwird gemäß Projektionen des Congressional Budget Of-fice frühestens im Jahr 2012 erreicht. Sollten entgegenden gesetzlichen Regelungen die vorübergehenden Steu-ersenkungen jedoch in permanente umgewandelt wer-den, wofür Präsident Bush bereits mehrfach plädiert hat,ist mit einer weiteren Verschiebung in die Zukunft zurechnen.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Exkurs: Ist das Leistungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten?

82. In der wirtschaftspolitischen Diskussion über dieDauerhaftigkeit des US-amerikanischen Aufschwungsspielte das hohe Leistungsbilanzdefizit in diesem Jahreine wichtige Rolle. Nachdem die Leistungsbilanz derVereinigten Staaten letztmalig im Jahr 1991 einen leich-ten Überschuss aufgezeigt hatte, kehrte sich ihr Saldo inein Defizit um, das nahezu kontinuierlich anstieg. In die-sem Jahr erreichte es mit rund 550 Mrd US-Dollar be-ziehungsweise 5,0 vH in Relation zum nominalen Brut-toinlandsprodukt einen historischen Höchststand. Überdie Beurteilung des Leistungsbilanzdefizits herrscht Un-einigkeit. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Frage,ob es Bestand haben kann und ob eine mögliche Korrek-tur derart abrupt abliefe, dass sie wirtschaftliche Pro-bleme in den Vereinigten Staaten mit Auswirkungen fürden Rest der Welt auslösen würde.

Der Leistungsbilanzsaldo entspricht der Differenz zwi-schen nationaler Ersparnis und inländischer Investitions-nachfrage, ein Defizit muss demnach über Nettokapital-zuflüsse aus dem Ausland finanziert worden sein. EinLeistungsbilanzdefizit wird dann als tragfähig bezeich-net, wenn es selbst keine Marktkräfte freisetzt– beispielsweise eine Änderung des Wechselkurses oderdes Zinssatzes –, die seine Höhe verändern. Dabei mussstets die intertemporale Budgetrestriktion eines Landeserfüllt sein, wonach ein heutiges Leistungsbilanzdefizitdem Wert der heutigen Auslandsverbindlichkeiten unddem Barwert zukünftig fällig werdender Forderungendes Auslands an Ressourcen des Inlands entspricht, diedann nicht für inländischen Konsum oder inländische In-vestitionen zur Verfügung stehen. Für die Tragfähigkeitist nicht nur die Interaktion zwischen Spar- und Investi-tionsentscheidungen des privaten und des staatlichenSektors relevant, sondern auch die Investitionsentschei-dungen der ausländischen Kapitalanleger spielen eineRolle. Deshalb sind zur Bestimmung der Tragfähigkeitneben der Verwendung der Importe und der Art der Fi-nanzierung des Leistungsbilanzdefizits auch die Höheder Zinsdifferenz und des Wechselkurses sowie die Pro-duktivitätsunterschiede zwischen den Vereinigten Staa-ten und dem Rest der Welt von Belang. Im Folgendenwerden diese Faktoren gegeneinander abgewogen, umzumindest qualitative Aussagen über die Tragfähigkeitdes US-amerikanischen Leistungsbilanzdefizits und dieAuswirkungen möglicher Anpassungsmechanismen ab-leiten zu können.

Beurteilungskriterien

83. Ein hohes Leistungsbilanzdefizit muss für eineVolkswirtschaft nicht per se ein Problem darstellen.Vielmehr kommt es auf die Verwendung der mit demLeistungsbilanzdefizit finanzierten Importe an, dasheißt, ob sie einer Ausweitung der Investitionen oder desKonsums dienen. Während in den neunziger Jahren dasLeistungsbilanzdefizit von einem starken Anstieg der In-vestitionen, einem deutlichen Produktivitätsfortschritt,hohen Renditen sowie zuletzt auch staatlichen Budget-

überschüssen begleitet wurde, sind aufgrund der nunwieder steigenden Budgetdefizite und der nur zum Teilinvestiven Verwendung des Kapitals geringere Produk-tivitätssteigerungen und Wachstumsaussichten zu erwar-ten. Damit werden die Vereinigten Staaten wenigerattraktiv für ausländisches Kapital; dies reduziert wie-derum die Finanzierungsbasis des Leistungsbilanzdefi-zits und erhöht die Abwertungswahrscheinlichkeit desUS-Dollar.

84. Da der Leistungsbilanzsaldo der Veränderung desNettoauslandsvermögens entspricht, können auch hier-aus Informationen über die Tragfähigkeit des Leistungs-bilanzdefizits gezogen werden. Die Vereinigten Staatenverwandelten sich Mitte der achtziger Jahre von einemNettogläubiger in einen Nettoschuldner gegenüber demAusland. Belief sich das Nettoauslandsvermögen zu An-fang der achtziger Jahre noch auf 13 vH in Relation zumnominalen Bruttoinlandsprodukt, so hatten sich bis Endeletzten Jahres Nettoschulden gegenüber dem Ausland inHöhe von 23 vH in Relation zum nominalen Bruttoin-landsprodukt angehäuft. Dies ist zwar im Vergleich zuanderen Industrieländern noch nicht übermäßig viel– Australien hatte bereits ein Niveau von mehr als 60 vHMitte der neunziger Jahre und Irland von 75 vH in denfrühen achtziger Jahren zu verzeichnen, ohne in Zah-lungsschwierigkeiten zu gelangen. Allerdings ist derTrend deutlich aufwärts gerichtet.

Fortschreibungen des Internationalen Währungsfondszeigen, dass sich die Nettoauslandsvermögenspositionder Vereinigten Staaten in den nächsten Jahren um wei-tere 10 Prozentpunkte verschlechtern wird, wenn sichalle makroökonomischen Variablen gemäß ihren durch-schnittlichen Veränderungsraten der letzten zehn Jahreentwickeln. Bei Auftreten eines negativen Schocks, dersich in den Preisen, den Zinssätzen oder dem Bruttoin-landsprodukt manifestieren könnte, würden sich die Net-toauslandsschulden sogar auf bis über 40 vH in Relationzum nominalen Bruttoinlandsprodukt erhöhen und damitdie Tragfähigkeit des Leistungsbilanzdefizits in verstärk-tem Umfang in Frage stellen.

Mit zunehmender Auslandsverschuldung muss in Zu-kunft ein höherer Anteil der inländischen Wertschöpfungzur Bedienung der im Ausland aufgenommenen Schul-den aufgewendet werden. Dies erhöht die Gefahr, dasses aufgrund verminderter Renditeaussichten und erhöh-ter Abwertungserwartungen für den US-Dollar zu einemplötzlichen Ende des Zuflusses ausländischen Kapitalsoder gar einem Kapitalabzug kommt. Die Gefahr derAbwertung wird allerdings dadurch relativiert, dass derUS-Dollar in vielen Ländern als Reserve- und Anker-währung fungiert. Insbesondere die feste Kopplung vonWährungen einiger wichtiger Handelspartner, wieChina, Hongkong, Malaysia oder Saudi-Arabien, an denUS-Dollar und die im ersten Halbjahr ausgeprägten In-terventionen Japans zur Abwehr einer weiteren Yen-Aufwertung sprechen gegen ein plötzliches Ausbleibender Kapitalzuflüsse. Die Politik dieser Länder – hierbeisind China mit inzwischen 21 vH und Japan mit 12 vHdie wichtigsten Finanziers des US-Leistungsbilanzdefi-zits – ist derzeit auf die Erzielung von Exportüberschüs-

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

sen ausgerichtet. Ein plötzlicher Kapitalabzug ist darü-ber hinaus um so weniger wahrscheinlich, je mehrAnlagen in langfristigen Anlageformen gehalten wer-den. In den Vereinigten Staaten sind rund drei Viertel al-ler ausländischen privaten Investitionen langfristig ange-legt, also insbesondere als Direktinvestitionen sowielanglaufende Anleihen. Dies macht das Leistungsbilanz-defizit von dieser Seite her weniger anfällig.

Schließlich sind nahezu die gesamten umlaufenden Aus-landsverbindlichkeiten in US-Dollar denominiert. DieVereinigten Staaten sind demnach nicht dem Risiko aus-gesetzt, das für viele in ausländischer Währung hochver-schuldete Schwellenländer existiert.

85. Ein weiterer Indikator für die Tragfähigkeit desLeistungsbilanzdefizits ist die Zusammensetzung derNettokapitalzuflüsse. Während der Anteil von Unter-nehmensanleihen bereits seit Beginn der achtzigerJahre trendmäßig ansteigt, nahm im vergangenen Jahrauch derjenige der Nettokäufe von US-amerikanischenStaatsanleihen wieder zu. Demgegenüber sinkt der An-teil von Nettokäufen von Aktien seit dem Jahr 1999und von Kapitalzuflüssen durch ausländische Direkt-investitionen seit dem Jahr 2000. Diese Umschichtung

hin zu im Durchschnitt weniger riskanten Anlagen ver-deutlicht die erhöhte Risikoaversion ausländischerInvestoren, die zusammen mit den steigenden Budget-defiziten und der insgesamt zugenommenen Nettoaus-landsverschuldung für sich genommen die Anfälligkeitgegenüber einem plötzlichen Rückzug ausländischenKapitals erhöhen.

Mechanismen einer Anpassung des Leistungsbilanzdefizits

86. Bereits in den achtziger Jahren hatte sich schoneinmal ein hohes Leistungsbilanzdefizit aufgebaut. In-folge einer beträchtlichen Abwertung des US-Dollar re-duzierte es sich (Schaubild 7). Allerdings kam es zu-nächst zu einem J-Kurven-Effekt, das heißt zu einerweiteren Ausweitung des Leistungsbilanzdefizits, underst im Jahr 1987, nach einer realen Abwertung gegenü-ber den wichtigsten Währungen von fast 30 vH inner-halb von zwei Jahren, setzte die Verbesserung der Leis-tungsbilanz ein. Eine ähnlich verzögerte Reaktion,allerdings in umgekehrter Richtung, war bereits zu Endeder siebziger Jahre sowie – in Grenzen – auch Mitte derneunziger Jahre zu beobachten.

S c h a u b i l d 7

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Leistungsbilanzsaldo und realer effektiver Wechselkurs der Vereinigten Staaten

1) Leistungsbilanzsaldo in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt.– 2) Gegenüber den wichtigsten Währungen (enger Index).

Quellen: Federal Reserve Board, OECD

März 1973 = 100vH

Leistungsbilanzsaldo1) (linke Skala)

Realer effektiver Wechselkursdes US-Dollar2) (rechte Skala)

SR 2003 - 12 - 0602

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Deutschland war von der Abwertung des US-DollarMitte der achtziger Jahre besonders betroffen: Der US-Dollar wertete gegenüber der Deutschen Mark vonAnfang 1985 bis Ende 1987 real (auf Basis der Verbrau-cherpreise) um fast 90 vH ab. Der Zuwachs des deut-schen Bruttoinlandsprodukts ging in diesem Zeitraum je-doch nur relativ moderat von 2,2 vH auf 1,5 vH zurück.Dem Rückgang der Veränderungsrate der Exporte von7,3 vH auf 0,7 vH standen allerdings eine verstärkte Zu-nahme der Privaten Konsumausgaben sowie imJahr 1986 auch ein deutlicher Anstieg der Bruttoinvesti-tionen gegenüber.

Der reale effektive Wechselkurs des US-Dollar sanknach der starken Abwertung zwischen den Jahren 1985und 1987 in den Folgejahren bis 1995 per saldo nur nochleicht. Danach stieg er bis Anfang des Jahres 2002 umknapp 40 vH an, annähernd im gleichen Umfang undZeitraum wie vor der Trendwende im Jahr 1985. DerLeistungsbilanzsaldo verringerte sich bereits seit demJahr 1991 wieder.

Der US-Dollar hat real gegenüber den wichtigsten Wäh-rungen seit Anfang des Jahres 2002 bis Oktober 2003fast 20 vH beziehungsweise in einer breiteren Abgren-zung knapp 10 vH an Wert verloren. Dabei teilt sichdiese Abwertung sehr ungleich über die Länder auf:Während der Euro gegenüber dem US-Dollar real um36 vH aufwertete, stieg der reale Wert des Yen lediglichum 24 vH an, wobei der größte Teil der Yen-Aufwertungseit September stattfand. Hierzu hat die Glättung derWechselkursbewegungen mittels der erheblichen Inter-ventionen der japanischen Notenbank nicht unwesent-lich beigetragen: Nachdem der Yen zu Anfang des Jah-res gegenüber dem US-Dollar aufgewertet hatte,verstärkte Japan seine US-Dollarkäufe, um eine weitereAufwertung des Yen zu verhindern. Gewichtet mit ihremjeweiligen Handelsanteil trug der Euro damit 60 vH, derYen jedoch lediglich 37 vH zum Rückgang des Index ge-genüber den sieben wichtigsten Währungen bei. Wegender US-Dollar-Fixierung hauptsächlich asiatischer Wäh-rungen, werden im Falle einer Anpassung des Leistungs-bilanzdefizits somit vermutlich die frei schwankendenWährungen – insbesondere der Euro – die Hauptlast tra-gen müssen.

87. Inwiefern und wann eine Abwertung des US-Dol-lar eine Korrektur des Leistungsbilanzdefizits auslöst,hängt auch von der Außenhandelsstruktur ab. Gemäßder Marshall-Lerner-Bedingung verringert eine realeAbwertung das Leistungsbilanzdefizit nur dann, wennExport- und Importmengen ausreichend elastisch aufVeränderungen des realen Wechselkurses reagieren.Denn neben dem Mengeneffekt tritt bei einer realen Ab-wertung stets bei den Importen auch ein Werteffekt auf,der für sich genommen das Leistungsbilanzdefizit aus-weitet.

Selbst wenn es zu einer weiteren US-Dollarabwertungkommt, ist eine Korrektur des Handelsbilanzdefizits, dasheißt eine Erhöhung der Nettoexporte nicht zwingend.Exportunternehmen haben in stärker verflochtenen inter-

nationalen Märkten eine geringere Preissetzungsmacht.Daher werden Wechselkursveränderungen – zumindestzu einem gewissen Grad – eher zu Schwankungen in denGewinnmargen der Unternehmen als zu einer Erhöhungder Importpreise und damit einer Reduktion des Import-volumens in die Vereinigten Staaten führen. Dieses Ver-halten gilt gerade für die Importe der Vereinigten Staa-ten, die im internationalen Vergleich selbst langfristigeine sehr niedrige Elastizität bezüglich der Wechselkurs-entwicklung aufweisen, wie eine Studie der US-ameri-kanischen Notenbank für die G7-Länder belegt(Tabelle 6).

Um der Simultaneität zwischen Einkommen, Preisen so-wie den Handel von Waren und Dienstleistungen Rech-nung zu tragen, werden die Elastizitäten mittels Kointe-grations- und Fehlerkorrekturmodellen für den Zeitraumder Jahre 1960 bis 1996 geschätzt. Danach führt einezehnprozentige Abwertung des realen handelsgewichte-ten US-Dollar gegenüber den Währungen der übrigenG7-Länder kurzfristig nur zu einer Verminderung desImportvolumens um 1 vH und langfristig um 3 vH. DiePreissensitivität der Exporte liegt dagegen höher: EineAbwertung des US-Dollar um 10 vH hat danach kurz-fristig einen Anstieg des Exportvolumens um 5 vH undlangfristig um 15 vH zur Folge.

Damit die Marshall-Lerner-Bedingung erfüllt ist, mussdie Summe aus dem absoluten Wert der Exportpreiselas-tizität, multipliziert mit dem Werteverhältnis der Exportezu den Importen, und dem absoluten Wert der Import-preiselastizität größer als eins sein. Für die VereinigtenStaaten beträgt das Werteverhältnis der Exporte zu den

Ta b e l l e 6

Deutschland ................ 0,2 * 0,1 0,1 0,3 *Frankreich ................... 0,1 0,4 * 0,1 0,2 *Italien .......................... 0,0 0,4 * 0,0 * 0,9Japan ........................... 0,1 0,3 * 0,5 * 1,0 *Kanada ........................ 0,1 0,9 * 0,5 * 0,9 *Vereinigte Staaten ...... 0,1 0,3 * 0,5 * 1,5 *Vereinigtes Königreich 0,0 0,6 0,2 * 1,6 *

1) Reaktion der Importe beziehungsweise Exporte in vH auf eine Än-derung des realen effektiven Wechselkurses um 1 vH. Zugrunde geleg-ter Zeitraum: Jahre 1960 bis 1996.* bezeichnet Signifikanz auf dem 5 %-Niveau.

Quelle: Board of Governors of the Federal Reserve System

Preiselastizitäten1) für den Handel von

in den G7-Ländern

Importe Exporte

Waren und Dienstleistungen

kurz-fristig

lang-fristig

kurz-fristig

lang-fristig

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

Importen derzeit rund 0,75. In der kurzen Frist ist dem-nach die Marshall-Lerner-Bedingung nicht erfüllt. Erstlangfristig führt eine Abwertung des US-Dollar zu einerVerringerung des Leistungsbilanzdefizits.

Zusätzlich ist aber auch die Interdependenz von realemEinkommen und Außenhandel im Zusammenhang miteiner Veränderung des realen Wechselkurses zu berück-sichtigen. Ein Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Akti-vität geht langfristig mit einer deutlich stärkeren Zu-nahme der Importe als der Exporte einher. DieVereinigten Staaten weisen im Vergleich zu den anderenG7-Staaten langfristig eine sehr hohe marginale Import-neigung auf: Ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um1 vH ist von einer Ausweitung der Importe durch Ver-braucher und Unternehmen um 1,8 vH begleitet. Dage-gen nehmen die Exporte mit 0,8 vH nur unterproportio-nal bei einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von1 vH zu. Unter Berücksichtigung der Einkommenselasti-zitäten ist eine starke Abwertung notwendig, damit derAußenbeitrag steigt.

Eine weitere Liberalisierung des Dienstleistungshan-dels in diesem Bereich könnte allerdings eine graduelleAbschwächung des Leistungsbilanzdefizits unterstützen,da die Einkommenselastizität von Dienstleistungsimpor-ten geringer und diejenige von Dienstleistungsexportenhöher ist als die entsprechenden Einkommenselastizitä-ten des Warenhandels. Schätzungen hierzu gehen im Be-reich des Dienstleistungshandels sogar von einem umge-kehrten Verhältnis aus, das heißt, eine Erhöhung derRealeinkommen ist mit einer vergleichsweise stärkerenZunahme des Exportvolumens verbunden.

Darüber hinaus würde eine kräftige wirtschaftlicheDynamik im Ausland die Rückführung des Leistungs-bilanzdefizits erleichtern. In diesem Fall würden die US-amerikanischen Exporte über eine anziehende Import-nachfrage des Auslands stimuliert, womit die Auswir-kungen einer Abwertung des US-Dollar abgefedert wür-den.

88. Auch eine Zunahme der Ersparnis in den Verei-nigten Staaten, entweder über eine Ausweitung der pri-vaten Ersparnisse oder eine Rückführung des öffentli-chen Budgetdefizits, stellt eine Möglichkeit zu einemAbbau des Leistungsbilanzdefizits dar. Während im letz-ten Jahr – jeweils in Relation zum nominalen Brutto-inlandsprodukt – die Nettoersparnisse der privatenHaushalte wieder deutlich und die Nettoersparnisse derUnternehmen leicht zugenommen haben, ist das öffentli-che Budgetdefizit stark angestiegen. Das Bestehen die-ses so genannten Zwillingsdefizits erhöht die Wahr-scheinlichkeit, dass das Leistungsbilanzdefizit und dieNettoverbindlichkeiten der Vereinigten Staaten gegen-über dem Ausland weiter ansteigen. Dies verstärkt dieZweifel an der Tragfähigkeit des Leistungsbilanzdefi-zits. Zudem erwächst aus dem Budgetdefizit bei sichkräftigender wirtschaftlicher Entwicklung die Gefahrsteigender Zinsen, die tendenziell private Investitionen

verdrängen. Dies würde zwar das Leistungsbilanzdefizitfür sich genommen verringern, aber verglichen mit demSzenario einer höheren Ersparnis über sinkende Haus-haltsdefizite wäre dieser Anpassungsmechanismus fürdie Wachstumsaussichten der US-amerikanischen Volks-wirtschaft nachteilig.

Bereits Anfang der achtziger Jahre bewegten sich dieDefizite der Leistungsbilanz und des Staatbudgets in diegleiche Richtung (Schaubild 8, Seite 40). Die paralleleAusweitung der beiden Defizite ist auch in jüngster Zeitwieder zu beobachten. Allerdings scheint es zwischender Entwicklung des Leistungsbilanzsaldos und desstaatlichen Finanzierungssaldos keinen systematischenZusammenhang zu geben. Beispielsweise ging der Rück-gang der öffentlichen Defizitquote im Laufe der neunzi-ger Jahre mit einem zunehmenden Leistungsbilanzdefiziteinher. Jedoch kann das Zusammentreffen verschiedenerFaktoren zur Entstehung eines Zwillingsdefizits beitra-gen. In den achtziger Jahren war zum einen die Entwick-lung privater Investitionen und privater Ersparnissegleichgerichtet, so dass die Entwicklung des Leistungs-bilanzdefizits im Wesentlichen von der Entwicklung desstaatlichen Budgetdefizits geprägt war. Zum anderen be-dingten die damals expansive Finanzpolitik und die rest-riktive Geldpolitik steigende Zinsen. Sie erhöhten inVerbindung mit der robusten wirtschaftlichen Dynamikdie Attraktivität der Vereinigten Staaten als Kapitalanla-geland, und der US-Dollar wertete auf. Dies alles führtedazu, dass sich das Leistungsbilanzdefizit und die staatli-che Defizitquote gleichzeitig erhöhten. Während dieserZusammenhang im Laufe der neunziger Jahre nicht mehrexistierte und sich die beiden Defizite entgegengerichtetentwickelten, kam es mit der Abkehr von der Haushalts-disziplin sowie infolge der weiterhin bestehendenWachstumsunterschiede zwischen den Vereinigten Staa-ten einerseits und der Europäischen Union und Japansandererseits zu einer erneuten parallelen Ausweitung derbeiden Defizite seit dem Jahr 2001.

89. Eine Aussage über die Entwicklung des Leistungs-bilanzdefizits in der kurzen Frist zu treffen, stellt sich alsäußerst schwierig dar. Vermutlich ist zunächst aber eineStabilisierung auf dem jetzigen Niveau das wahrschein-lichste Szenario, da den Risiken einer Korrektur eineVielzahl von Argumenten für eine Konstanz der derzeiti-gen Nettoschuldnerposition der Vereinigten Staatenentgegensteht. Nicht zu vernachlässigen ist dabei dasausufernde Budgetdefizit, das zu einer fortgesetztenAusweitung des Leistungsbilanzdefizits beiträgt. Füreine graduelle Rückführung des Leistungsbilanzdefizitswäre daher neben einer Reduzierung der Haushaltsdefi-zite in den Vereinigten Staaten eine stärkere wirtschaftli-che Dynamik insbesondere der übrigen Industrieländerhilfreich, die jedoch aufgrund ihrer gegenwärtig schwa-chen wirtschaftlichen Entwicklung derzeit keinen aus-reichend starken Gegenpol zur größten Volkswirtschaftder Welt bilden.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

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in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt

Leistungsbilanzsaldo und Finanzierungssaldo in den Vereinigten Staaten

1) Finanzierungssaldo des Staates (Bund, Bundesstaaten und Gemeinden sowie Sozialversicherung).

Quellen: BEA, OECD

Leistungsbilanzsaldo

Finanzierungssaldo1)

SR 2003 - 12 - 0608

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2. Japan: Wende zum Besseren? sem Jahr nach Rückgängen in den vergangenen Jahren

90. Die japanische Wirtschaft entwickelte sich in die-sem Jahr verglichen mit den schwachen Vorjahren uner-wartet positiv. Entscheidend für diese Entwicklung warendie japanischen Unternehmen, deren Investitionen erst-mals seit dem Jahr 2000 wieder anstiegen. Ein weitererpositiver Impuls kam in der zweiten Jahreshälfte von denExporten, sowohl in die südostasiatischen Schwellenlän-der als auch in die Vereinigten Staaten. Nicht zuletzt trugder hohe statistische Überhang von 1,1 vH aus dem ver-gangenen Jahr zu dem positiven Jahresergebnis bei: Ins-besondere die letzten beiden Quartale des Jahres 2002hatten schon eine deutliche Dynamik aufgewiesen, wäh-rend die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate von0,1 vH vom statistischen Unterhang des Jahres 2001 inHöhe von 1,2 vH geprägt gewesen war. Diese Effekteführten zusammengenommen dazu, dass das japanischeBruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 2,7 vH anstieg(Tabelle 7). Allerdings stellen der Arbeitsmarkt, der pri-vate Konsum, das immer noch anfällige Bankensystemsowie die Deflation weiterhin nicht zu vernachlässigendeRisiken für eine nachhaltige Dynamik in Japan dar.

91. Weiterhin schwach entwickelten sich die PrivatenKonsumausgaben, die lediglich um 1,1 vH zunahmen,obwohl die realen Bruttolöhne und -gehälter und damiteinhergehend das reale verfügbare Einkommen in die-

erstmals wieder deutlich anstiegen. Die Konsumschwä-che lässt sich im Wesentlichen mit der für japanischeVerhältnisse äußerst schlechten Arbeitsmarktlage erklä-ren: Die Arbeitslosenquote verharrte mit 5,3 vH auch indiesem Jahr auf historischem Höchststand, obwohl dieZahl der Erwerbspersonen per saldo aus demographi-schen Gründen und aufgrund des Rückzugs entmutigterArbeitsloser vom Arbeitsmarkt leicht abgenommen hat.Jedoch nahmen die Unternehmen im Zuge ihrer Restruk-turierungs- und Kostensenkungsmaßnahmen weiterhinEntlassungen und Frühverrentungen vor. Zudem belaste-ten Anhebungen der Tabaksteuer und der Selbstbeteili-gung an den Arztkosten die Privaten Konsumausgaben.

92. Die privaten Bruttoanlageinvestitionen setztenihren Ende letzten Jahres begonnenen Anstieg infolgeverbesserter Gewinne in erheblich verstärktem Umfangfort (8,1 vH). Diese Zunahme ging allein auf die Aus-weitung der gewerblichen Investitionen zurück, währenddie Wohnungsbauinvestitionen weiter rückläufig waren.Ursächlich für den Anstieg der Investitionen waren dieverbesserten Ertragsaussichten, die sich infolge zuvorgetätigter Sanierungen vieler Unternehmen ergaben. Derdeutliche Anstieg der Aktienkurse – der Topix stieg seitEnde April dieses Jahres allein in den darauffolgendensechs Monaten um 43 vH, wenngleich er bis Anfang

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

November wieder um 6 vH nachgab – hatte zudem dieFinanzierungssituation der Unternehmen verbessert. DesWeiteren nahm die Zahl der Unternehmensinsolvenzenab. Die Lager wurden im Laufe des Jahres abgebaut, mitabnehmenden Überkapazitäten kam es zu Jahresendedann wieder zu einem Lageraufbau.

93. Der Außenhandel war zunächst noch von denAuswirkungen der Lungenkrankheit SARS in Formeiner geringeren Nachfrage der betroffenen südostasiati-schen Länder und damit geringerer Exporte beeinträch-tigt. Im Zuge der verbesserten weltwirtschaftlichen Pers-pektiven in der zweiten Jahreshälfte erholten sich dieExporte von Waren und Dienstleistungen merklich,konnten mit durchschnittlich 7,8 vH aber den Zuwachsdes Vorjahres nicht überbieten. Demgegenüber nahmendie Importe mit 4,1 vH stärker als im letzten Jahr zu, so

dass der Beitrag des Außenhandels zum Zuwachs desBruttoinlandsprodukts mit 0,5 Prozentpunkten eher ge-ring war. Die Exportdynamik dürften auch die massivenInterventionen der japanischen Zentralbank auf dem De-visenmarkt begünstigt haben, welche die Kursschwan-kungen des Yen gegenüber dem abwertenden US-Dollarglätten sollten. Allein in der ersten Jahreshälfte wurdenhierfür 7,0 Billionen Yen (dies entsprach etwa51 Mrd Euro) aufgewendet. Die Regierung begründetedie Interventionen damit, nur über eine kräftige Export-nachfrage die Konjunktur stimulieren zu können. Es ge-lang ihr, den Yen vis-à-vis dem US-Dollar stabil zu hal-ten und damit gleichzeitig auch gegenüber China, dasseine Währung fest an den US-Dollar gekoppelt hat. Al-lerdings steht der Yen aufgrund des Leistungsbilanz-überschusses weiterhin unter Aufwertungsdruck, ob-wohl er im Herbst bereits etwas aufwertete.

94. Vom öffentlichen Sektor ging ein negativer Nach-frageimpuls aus, da der Ausgabenspielraum durch diehohe Verschuldung begrenzt war. Insbesondere die staat-lichen Investitionen wurden zurückgefahren. Die Schul-denlast implizierte eine starke Belastung durch Zinszah-lungen, die durch die Deflation real erhöht wurden.Hinzu kamen Risiken vom Anleihemarkt: Spiegelbild-lich zur Erholung des Aktienmarkts gaben die Anleihennach, und die Renditen stiegen, was die Zinslast für neuausgegebene Staatsanleihen zusätzlich ansteigen ließ.Die Zinszahlungen beliefen sich auf rund ein Fünftel dergesamten Ausgaben und auf etwa 1,5 vH in Relationzum nominalen Bruttoinlandsprodukt. Die steigendenZinsen treffen die öffentlichen Haushalte wegen ihrerhohen Bruttoschuldenaufnahme besonders hart. Dies be-wirkte eine weitere Zunahme des Schuldenstands in Re-lation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt um 7,3 Pro-zentpunkte auf 154,6 vH; die Defizitquote stieg auf7,4 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandsproduktan. Diese Situation veranlasste die Regierung, die Fi-nanzpolitik kontraktiv auszugestalten und insbesonderevon fiskalischen Stimulierungsmaßnahmen abzusehen,so dass sich die Konsumausgaben und Bruttoinvestiti-onen des Staates in diesem Jahr um 1,5 vH verringerten.

95. Die Situation im Bankensektor besserte sich indiesem Jahr nur teilweise. Vermehrte Anstrengungen in-folge des im Oktober letzten Jahres beschlossenen „Pro-gramms zur Belebung der japanischen Wirtschaft“(JG 2002 Ziffer 55) führten zu einem Rückgang der inden Bankbilanzen stehenden notleidenden Kredite zumEnde des Geschäftsjahres 2002 um 7,9 Billionen auf35,3 Billionen Yen. Den größten Rückgang verzeichne-ten die Großbanken mit 6,5 Billionen auf 20,2 BillionenYen, der Betrag ist jedoch immer noch der zweithöchsteseit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes zum finanziellenWiederaufbau aus dem Jahr 1998, das den Abbau notlei-dender Kredite erstmals explizit vorschrieb. Der Anteilnotleidender Kredite am gesamten Kreditbestand verrin-gerte sich von 9,2 vH auf 7,5 vH. Dass es nicht zu einemstärkeren Rückgang dieses Anteils kam, ist auf diegleichzeitige und mit 4,8 vH im Vergleich zum Vor-jahresdurchschnitt unverändert stark rückläufige Kredit-vergabe zurückzuführen. Gleichzeitig wurden die elf

Ta b e l l e 7

2000 2001 2002 20032)

Bruttoinlandsprodukt,in Preisen von 1995 ....... 2,8 0,4 0,1 2,7 Private Konsum-

ausgaben ..................... 1,0 1,7 1,4 1,1 Private Bruttoanlage-

investitionen ............... 7,8 0,0 -4,8 8,1 Konsum und Brutto-

investitionen3) desStaates ......................... -0,1 0,6 0,3 -1,5

Exporte von Waren undDienstleistungen ......... 12,4 -6,1 8,2 7,8

Importe von Waren undDienstleistungen ......... 9,5 0,1 2,0 4,1

Leistungsbilanzsaldo4) ....... 2,5 2,1 2,8 2,9 Verbraucherpreise ............ -0,7 -0,7 -0,9 -0,3 Kurzfristiger

Zinssatz (%)5) .................. 0,2 0,1 0,1 0,1 Langfristiger

Zinssatz (%)6) .................. 1,7 1,3 1,3 1,1 Arbeitslosenquote7) ............ 4,7 5,0 5,4 5,3 Beschäftigung8) .................. -0,2 -0,5 -1,3 -0,1 Finanzierungssaldo des

Staates4) ........................... -7,4 -6,1 -7,1 -7,4 Schuldenstand des

Staates4) ........................... 133,0 141,5 147,3 154,6

1) Soweit nicht anders definiert: Veränderung gegenüber dem Vor-jahr. - 2) Eigene Schätzung auf Basis von Angaben internationalerund nationaler Institutionen. - 3) Bruttoanlageinvestitionen ein-schließlich Vorratsveränderungen. - 4) In Relation zum nominalenBruttoinlandsprodukt in vH. - 5) Für Dreimonatswechsel (Jahres-durchschnitte). - 6) Für Staatsschuldpapiere mit einer Laufzeit von10 Jahren und mehr (Jahresdurchschnitte). - 7) Arbeitslose in vHder zivilen Erwerbspersonen. - 8) Zivile Erwerbstätige.

Quellen: ESRI, OECD

Wirtschaftsdaten für JapanvH1)

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Großbanken erneut einer strengeren Überprüfung ihrerAktiva unterzogen. Im Vergleich zum vorangegangenenUntersuchungszeitraum war eine Verlagerung zuschlechteren Risikoklassen hinsichtlich der Kreditneh-mer und damit ein Anstieg der Rückstellungen für Ver-luste aus notleidenden Krediten zu verzeichnen, obwohlinsgesamt betrachtet das Volumen der notleidenden Kre-dite abgenommen hatte.

96. Zum Ende des Geschäftsjahres im März hatten diejapanischen Großbanken wieder Rekordverluste ver-bucht. Bis auf die Resona-Holding konnten sie aber ihrKapital durch die Ausgabe neuer Aktien ausreichend er-höhen, um Dividenden zahlen zu können. Diese Maß-nahme wird von vielen Banken ergriffen, um eine sonstdrohende Zwangsumwandlung staatlicher Vorzugsaktienin stimmberechtigte Aktien und damit eine teilweise Ver-staatlichung des jeweiligen Kreditinstituts zu verhin-dern. Die Kernkapitalquote der nur im Inland tätigenResona-Bankengruppe betrug zunächst nach ihren eige-nen Darstellungen 6 vH in Relation zu den risikogewich-teten Aktiva − und damit mehr als die erforderlichen4 vH. Kernkapital, das neben dem Ergänzungskapitalzum haftenden Eigenkapital gehört, besteht im Wesentli-chen aus dem von den Gesellschaftern eingezahlten so-wie aus thesaurierten Gewinnen entstandenen Eigenka-pital. Vor der Vorlage der Resultate für das beendeteGeschäftsjahr 2002 verweigerten die Wirtschaftsprüferihr Testat wegen der nach ihrer Ansicht zu großzügigenAnrechnung vorgetragener Steuerrückerstattungen(Tax Deferred Assets) auf das Kernkapital.

Im Zuge der verstärkt angemahnten Reduktion notlei-dender Kredite in ihren Bilanzen waren die Banken dazuübergegangen, häufig von zu optimistischen Gewinner-wartungen auszugehen und damit entsprechend hohevorgetragene Steuerrückerstattungen in ihren Bilanzeneinzustellen. Vorgetragene Steuerrückerstattungen kön-nen bis zur Höhe der gesamten in den nächsten fünf Jah-ren erwarteten Gewinne angesetzt werden; diese Ober-grenze ist damit kaum bindend. So belaufen sich dievorgetragenen Steuerrückerstattungen der Großbankenmittlerweile auf rund 50 vH ihres Kernkapitals. Ver-wendbar sind diese Steueransprüche als immaterielleVermögenswerte jedoch nur, wenn innerhalb von fünfJahren entsprechend hohe Gewinne erwirtschaftet wer-den. Bei Auftreten eines Verlusts können die Banken die-sen nicht mit den vorgetragenen Steuerrückerstattungenausgleichen.

Im Falle der Resona-Holding forderten die Wirtschafts-prüfer eine Anpassung der Gewinnerwartungen nachunten, die dann allerdings die Kernkapitalquote unterdie erforderlichen 4 vH hätte sinken lassen, wobei dieschwere Aktienbaisse und entsprechend hohe Verlusteauf Wertpapierbestände die Lage zusätzlich verschärfthätten. Um die damit drohende Unterkapitalisierung zuvermeiden, beschloss die Regierung, öffentliches Kapitalin Höhe von 1,96 Billionen Yen in die Bank einzubrin-gen, womit die Kernkapitalquote auf 12,2 vH anstieg.Dadurch gingen mehr als zwei Drittel der Stimmrechteauf den Staat über, der eine marktorientierte Neuaus-richtung des Instituts plant. Um einen Ansturm der Anle-ger auf Filialen zu vermeiden, wurden zudem sämtliche

Einlagen staatlich gesichert; sie hatten Ende letztenJahres rund 34 Billionen Yen betragen. Bereits im Zeit-raum der Jahre 1998 bis 2000 hatte die japanische Re-gierung Zahlungen in Höhe von fast 10 Billionen Yen anGroßbanken und einige Regionalbanken geleistet. ImGegenzug erhielt sie damals Vorzugsaktien im Wert vonrund 700 Mrd Yen.

Obwohl gemäß dem Arbeitsplan des „Programms zurBelebung der japanischen Wirtschaft“ bis zum Ende desGeschäftsjahres 2002 die Obergrenze für vorgetrageneSteuerrückerstattungen, die in die Kernkapitalquote miteinbezogen werden können, reduziert und die externeÜberprüfung der Kernkapitalquote transparenter gestal-tet werden sollte, konnte sich die dazu eingesetzte Kom-mission bislang nicht zu einem konkreten Vorschlagdurchringen.

97. Nach den neuen Richtlinien der Finanzaufsichtkann international tätigen Großbanken zum Ende deslaufenden Geschäftsjahres am 31. März 2004, Regional-banken ein Jahr später die Zwangsumwandlung staatli-cher Vorzugsaktien in stimmberechtigte Aktien drohen.Dies käme bei einigen Banken, bei denen der Staat damitgrößter Aktionär würde, einer Verstaatlichung gleich.

Eine solche Maßnahme soll erwogen werden, wenn einerder folgenden vier Fälle eintritt:

– Die Bank zahlt zwei Jahre in Folge keine Dividendefür Vorzugsaktien. Diese Regel gilt rückwirkend seitdem Fiskaljahr 2002.

– Die Gewinnziffern verschlechtern sich zwei Jahre inFolge maßgeblich.

– Die Bank leidet unter akuter Unterkapitalisierung,das heißt, sie weist eine Eigenkapitalquote von weni-ger als 2 vH im Falle von Regionalbanken oder weni-ger als 4 vH im Falle international tätiger Großban-ken auf.

– Das Management der Bank verbessert sich trotz auf-sichtsrechtlicher Anweisungen nicht.

Allerdings ist zu kritisieren, dass die Anforderungen sehrlax sind. Beispielsweise liegen die Mindest-Eigenkapi-talquoten nach internationalen Richtlinien bei 4 vH fürnational und 8 vH für international tätige Banken.Ebenso wenig unterliegt das Ergreifen von Maßnahmeneinem Automatismus.

98. Wegen seiner engen Kreditbeziehungen zu undÜberkreuzbeteiligungen mit den Banken stellt sich auchder Bereich der Lebensversicherer als potentieller Kri-senherd für neue notleidende Kredite dar. Bisher gibt eskeine Risikorückstellungen für Lebensversicherer. Solltediese Branche allerdings zur Vermeidung ihres Kollap-ses den Garantiezins senken, müssten die Banken fürihre Kredite an die betreffende Versicherung vorsorglichRisikorückstellungen bilden, was eine deutlich negativeSignalwirkung hätte. Dieser Fall gilt als nicht unwahr-scheinlich, da im Juli ein Gesetz in Kraft getreten ist, dases Versicherern erlaubt, den Garantiezins auch laufenderVerträge zu senken. Allerdings betonten alle Lebensver-

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

sicherer, diese Option nicht in Anspruch nehmen zu wol-len.

99. Die Geldpolitik der japanischen Zentralbank bliebunter dem neuen Präsidenten im Wesentlichen unverän-dert. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Bestrebungen, dieDeflation zu bekämpfen, als auch hinsichtlich der Wei-gerung, ein Inflationsziel einzuführen. Als Stützungs-maßnahme für die Aktienkurse vor Ende des japanischenGeschäftsjahres erhöhte die Zentralbank im März dieGrenze für bis September 2004 vorzunehmende Aktien-käufe von Geschäftsbanken von 2 auf 3 Billionen Yen.Im Laufe des Jahres dehnte sie das Zielband für die vonden Geschäftsbanken bei ihr gehaltenen Liquiditäts-reserven von 17 bis 22 Billionen Yen über 22 bis 27 Bil-lionen Yen auf zuletzt 27 bis 32 Billionen Yen aus. ImOktober bekräftigte die japanische Notenbank zudemdie Beibehaltung der quantitativ expansiven Geldpolitikexplizit für solange, bis die Kerninflationsrate über meh-rere Monate nicht mehr negativ sei. Darüber hinaus wei-tete sie die maximale Fristigkeit von Pensionsgeschäftenmit Staatstiteln von einem halben auf ein ganzes Jahraus.

Das größere Angebot der Geldbasis konnte aber auch indiesem Jahr keinen Impuls geben, der geldpolitischeTransmissionskanal blieb weiterhin gestört. Die Geldba-sis nahm mit 15 vH deutlich weniger zu als im vergange-nen Jahr (25 vH), in ähnlichem Ausmaß geringer waraber auch die Zunahme der nachfragerelevanten Geld-menge M2 plus Certificates of Deposit in Höhe von nurnoch 1,7 vH gegenüber 3,4 vH im Vorjahr.

100. Gemessen am Verbraucherpreisindex, der nurnoch um 0,3 vH gegenüber 0,9 vH im Vorjahr zurück-ging, schien die Deflation in diesem Jahr schwächer zuwerden. Nimmt man allerdings den Deflator des Brutto-inlandsprodukts als Maßstab, so hat sich das Deflations-problem verschärft, da der Deflator um 1 Prozentpunktauf -2,6 vH fiel. Die Divergenz der beiden Indikatorenfür das Ausmaß der Deflation lag im Wesentlichen andem ölpreisbedingten Anstieg des Importpreisindex, derauf die Verbraucherpreise unmittelbar durchwirkt, sichaber im Deflator des Bruttoinlandsprodukts nicht nieder-schlägt.

Als neues Mittel geldpolitischer Lockerungen im Kampfgegen die Deflation und zur Öffnung eines alternativenTransmissionskanals führte die japanische NotenbankMitte dieses Jahres den Kauf verbriefter Forderungenein. Zwischen Juli 2003 und März 2006 will sie von Fi-nanzinstituten und Unternehmen für bis zu 1 Billion Yenbesicherte Anleihen mit einer zumindest zufriedenstel-lenden Bonität kaufen. Ziel ist es, einen funktionieren-den Markt für solche Papiere aufzubauen, um mittelstän-dischen Unternehmen, die sich im Vergleich zu großenUnternehmen im Wesentlichen über Fremdkapital finan-zieren, eine Alternative zur Kreditaufnahme im Banken-sektor zu bieten. Da der japanische Markt für forde-rungsbesicherte Wertpapiere kleiner und mittlererUnternehmen klein ist, dürften die gesamtwirtschaftli-chen Auswirkungen zwar vernachlässigbar sein, aber zu-

mindest auf Unternehmensebene ist eine leichtere Kapi-talbeschaffung zu erwarten.

3. Schwellenländer auf dem Pfad der wirtschaftlichen Erholung

101. Nachdem die Lungenkrankheit SARS, die in denersten Monaten dieses Jahres die wirtschaftliche Ent-wicklung in den südostasiatischen Ländern und insbe-sondere in China beeinträchtigt hatte, abgeklungen war,erholten sich die südostasiatischen Schwellenländer– hierzu zählen Hongkong, Malaysia, Singapur, Südko-rea, Taiwan und Thailand – relativ schnell. Allerdingsblieben sie mit einer Zunahme ihrer gesamtwirtschaftli-chen Aktivität von 3,0 vH hinter der im letzten Jahrerreichten Zuwachsrate von 4,8 vH zurück. Dies istmaßgeblich auf die schwächere Zunahme des Bruttoin-landsprodukts Hongkongs und Singapurs – sie waren amstärksten von SARS betroffen – zurückzuführen. Da-rüber hinaus war die Binnennachfrage in einigen Län-dern geschwächt: In Südkorea kam es aufgrund im letz-ten Jahr eingeführter Kreditbeschränkungen für privateHaushalte zu einem Nachfrageeinbruch, und Hongkonglitt weiterhin an persistenter Deflation und hoher Ar-beitslosigkeit. Demgegenüber verzeichneten Malaysiaund Thailand eine stärkere Binnennachfrage, die vonwirtschaftspolitischen Maßnahmen unterstützt wurde.Aufgrund der insgesamt verhaltenen Inflation blieb dieGeldpolitik in den meisten Ländern dieser Region ex-pansiv ausgerichtet; zusätzliche Nachfrageimpulse gin-gen von fiskalpolitischen Maßnahmen aus. Diese wirt-schaftspolitischen Maßnahmen sowie die im zweitenHalbjahr anziehende Erholung in den Industrieländern,die ein Wiedererstarken der Exporttätigkeit, insbeson-dere im Bereich der Güter der Informations- und Kom-munikationstechnologien, zur Folge hatte, kräftigten diewirtschaftliche Dynamik der südostasiatischen Schwel-lenländer und führten die Region auf ihren bisherigenWachstumspfad zurück.

102. Hervorzuheben ist die wirtschaftliche Entwick-lung der Volksrepublik China, die aufgrund ihrer wirt-schaftlichen Dynamik und des großen Handelsvolumensverstärkt an Bedeutung für die Weltwirtschaft gewinnt.Sie wies trotz SARS auch in diesem Jahr wieder diehöchste Zuwachsrate wirtschaftlicher Aktivität in dieserRegion auf (8,5 vH). Allerdings lasten die dort bestehen-den Ungleichgewichte, wie eine unterbewertete Wäh-rung und ein stark gestiegenes Geldangebot, auf der zu-künftigen Entwicklung. Der chinesische Renminbi Yuanist fest an den US-Dollar gekoppelt; seit dem Jahr 1994wird er in einem Band über 8 Yuan je US-Dollar gehal-ten, derzeit zwischen 8,276 und 8,280 Yuan je US-Dol-lar. Aufgrund des zunehmenden Leistungsbilanzdefizitsder Vereinigten Staaten wird nun vermehrt insbesondereseitens der Vereinigten Staaten auf eine Aufwertung derchinesischen Währung gedrungen. Der Nachteil für dieVereinigten Staaten aus dieser Situation wird jedoch da-durch gemildert, dass China im Gegenzug zum Exportseiner Waren in die Vereinigten Staaten im WesentlichenUS-Staatsanleihen erwirbt: Dieser Kapitalzufluss in die

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Vereinigten Staaten belief sich in diesem Jahr auf rundein Fünftel des US-amerikanischen Leistungsbilanzdefi-zits. Allerdings haben der Zufluss ausländischer Direkt-investitionen und die Exportgewinne das chinesischeGeldangebot stark erhöht und damit die Überhitzungser-scheinungen verstärkt, mit denen das Land zunehmendzu kämpfen hat. Eine Anpassung der chinesischen Wäh-rung über eine vollständige Freigabe des Renminbi wirdvon China jedoch nicht in Erwägung gezogen, da daschinesische Finanzsystem aufgrund der notleidendenKredite und der niedrigen Eigenkapitalquote im Banken-sektor, der unterentwickelten Wertpapiermärkte undmangelnder Absicherungsinstrumente noch recht insta-bil ist. Eine starke Aufwertung könnte zudem dazuführen, dass aufgrund des reduzierten Preisvorteils fürausländische Unternehmen deren Direktinvestitionen inChina unterblieben. Des Weiteren würde damit einRückfall in die auslaufende Phase sinkender Preise ge-fördert.

Ein weiteres Problem, das die chinesische Volkswirt-schaft kennzeichnet, ist das hohe Geldangebot und derdamit verbundene Zuwachs der Kreditvergabe. Derstarke Geldmengenzuwachs erhöht die Gefahr, dass sichdie zunehmende Überhitzung der Wirtschaft durch dieBildung spekulativer Blasen am Immobilienmarkt undam Aktienmarkt manifestiert. Dem versucht die chinesi-sche Zentralbank mittels des Verkaufs von Staatspapie-ren zu begegnen, um so die Liquidität zu verknappenund die Kreditvergabebereitschaft der Banken zu redu-zieren. Darüber hinaus hat sie den Mindestreservesatzfür Einlagen bei der Notenbank um 100 Basispunkte auf7 % angehoben. Dies wird zwar wenig Geld aus demUmlauf ziehen, könnte allerdings von den Banken alsSignal für eine restriktivere Geldpolitik verstandenwerden. Letztmalig war der Mindestreservesatz imJahr 1998 erhöht worden. Eine weitere Maßnahme ge-gen Überhitzungserscheinungen am Immobilienmarktwar die Ausweitung der Restriktionen auf dem Hypothe-kenmarkt.

103. Die Schwellenländer Lateinamerikas verzeich-neten nach der Rezession im letzten Jahr wieder einenzögerlichen Zuwachs ihrer wirtschaftlichen Aktivität inHöhe von 1,0 vH. Getragen wurde die Erholung voneiner Zunahme der Exporte, einer zunehmenden Risiko-bereitschaft der dort ansässigen Investoren sowie einerinsgesamt stabileren politischen Lage. Positiv hervorzu-heben ist die Erholung sowohl in Argentinien als auch– wenngleich in deutlich schwächerem Ausmaß – inBrasilien, deren wirtschaftliche Dynamik im letzten Jahrzusätzlich unter innenpolitischen Problemen zu leidenhatte. Die Verhandlungen Argentiniens mit dem Interna-tionalen Währungsfonds schritten zwar so langsamvoran, dass Argentinien Anfang September mit seinenRückzahlungen in Verzug geriet, letztendlich konnteaber eine Einigung über eine Stundung der in den kom-menden drei Jahren fällig werdenden Kredite in Höhevon rund 12,5 Mrd US-Dollar erzielt werden; nur dieZinszahlungen muss die argentinische Regierung leisten.Allerdings stehen diesem Zugeständnis kaum ZusagenArgentiniens gegenüber. Lediglich für das kommende

Jahr wurde die Erzielung eines Primärüberschusses deröffentlichen Haushalte von 3 vH in Relation zum nomi-nalen Bruttoinlandsprodukt vereinbart. Auch hinsicht-lich der Umschuldung von Verbindlichkeiten gegenüberprivaten Gläubigern zeigte sich die argentinische Regie-rung unnachgiebig, indem sie forderte, dass diese auf75 vH ihrer Forderungen verzichten sollten. Außerdemlehnte sie jegliche Verantwortung für ausgebliebeneZinszahlungen ab, so dass sich der Verzicht der privatenGläubiger faktisch auf über 80 vH erhöhen würde. Aller-dings verbesserte sich die wirtschaftliche Lage in Argen-tinien zunehmend. Die vollständige Aufhebung derSperrung von Bankeinlagen ging ohne weitere Problemevonstatten, der Peso wertete deutlich auf, die kurzfristi-gen Zinsen waren leicht rückläufig und die Devisenre-serven stiegen wieder an. Die Lage in Brasilien verbes-serte sich insoweit, als die neue Regierung schnellbestehende Zweifel hinsichtlich ihrer wirtschaftspoliti-schen Ausrichtung aus dem Weg räumen und Strukturre-formen voranbringen konnte. Zudem verringerte sich derAnstieg der Verbraucherpreise im Laufe des Jahres deut-lich, was Zinssenkungen nach sich zog. Der Real werteteweiter auf und verringerte damit den Wert der in auslän-discher Währung denominierten Schulden. Dennochblieb die wirtschaftliche Entwicklung verhalten. Amschlimmsten betroffen von den lateinamerikanischenLändern war in diesem Jahr Venezuela, das über das ge-samte Jahr unter den Folgen des Generalstreiks zu An-fang des Jahres zu leiden hatte: Die Streiks in der Ölin-dustrie hatten den Ausstoß auf ein Viertel des bisherigenNiveaus fallen lassen, was die Rezession, in der sich dasLand – bislang fünftgrößter Ölexporteur – bereits seitletztem Jahr befand, deutlich verschärfte.

4. Institutionelle Regelwerke: Stillstand und Fortschritt

WTO: Stillstand in der Doha-Runde

104. Das Jahr 2003 markierte die Halbzeit der imJahr 2001 begonnenen Doha-Runde der Welthandelsor-ganisation (WTO). Sie soll als Entwicklungsrunde ins-besondere die Interessen der Entwicklungsländer för-dern, die mittlerweile rund vier Fünftel aller Mitgliederstellen. Allerdings blieb der Stand der Zwischenergeb-nisse weit hinter dem Arbeitsplan zurück. So war ge-plant, bereits frühzeitig vor dem Ministertreffen im Sep-tember dieses Jahres in Cancún wichtige Abschlüssehinsichtlich des Agrarhandels und der Verringerung derHandelszölle sowie ein Abkommen über günstigere Im-porte von bestimmten Arzneimitteln in Entwicklungs-länder zu erzielen. Stattdessen behinderten bilateraleStreitigkeiten Fortschritte in den Verhandlungen.

Stand der Verhandlungen vor der Ministerkonferenz in Cancún

105. Erst kurz vor dem Ministertreffen in Cancún leg-ten die Vereinigten Staaten und die Europäische Unioneinen gemeinsamen Vorschlag zur Rückführung vonHandelshemmnissen im Agrarbereich vor. Eine Eini-gung war schließlich zum einen aufgrund der im Juni

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

dieses Jahres verabschiedeten Reform der GemeinsamenAgrarpolitik möglich geworden, die der EuropäischenUnion beim Abbau interner Stützungsmaßnahmen einengrößeren Verhandlungsspielraum eingeräumt hatte. Zumanderen waren die Vereinigten Staaten der EuropäischenUnion insbesondere durch eine flexible Marktzugangs-formel und die Einbeziehung von Exportkrediten bei derSenkung von Exportsubventionen entgegengekommen.Der Vorschlag blieb allerdings vage hinsichtlich desZeitplans und des Umfangs der Reduktion der Handels-beschränkungen: Viele Subventionen und Vergünstigun-gen sollen danach aufrecht erhalten bleiben und Einfuhr-zölle nur mit einem einheitlichen Prozentsatz reduziertwerden. Insbesondere Brasilien, China, Indien sowieAustralien lehnten das Papier als unzureichend ab, wäh-rend es Japan zu weit ging.

Zusammen mit Kanada erarbeiteten die VereinigtenStaaten und die Europäische Union auch eine Alterna-tive zum bisherigen Vorschlag zur Senkung der Indu-striezölle. Zur Erleichterung des Handels mit Industrie-gütern sollen sich danach alle WTO-Mitglieder auf eineeinfache, die Zollsätze harmonisierende Formel einigen.Für Entwicklungsländer sind differenzierte Bestimmun-gen vorgesehen, die es ihnen erlauben sollen, höhereZölle zu erheben, sofern ihre wirtschaftliche Lage dieserfordert.

Ende August wurde zudem der Streit um den Zugang zulebenswichtigen Medikamenten zur Bekämpfung vonMassenkrankheiten, wie Aids, Malaria oder Tuberku-lose, für Entwicklungsländer ohne eigene Produktions-kapazitäten beigelegt. Die Vereinigten Staaten gaben ih-ren bisherigen Widerstand gegen entsprechendeRegelungen auf. Die erzielte Einigung gewährt armenEntwicklungsländern den Import kostengünstiger Medi-kamente aus Herstellerländern von Nachahmer-Medika-menten. Die Herstellerländer müssen allerdings ange-messene Maßnahmen ergreifen, damit die an armeLänder verkauften Medikamente oder Inhaltsstoffe nichtin reiche Länder exportiert werden.

Ergebnisse der Ministerkonferenz

106. Gegenstand der Diskussion bei der Ministerkon-ferenz in Cancún im September waren insbesondere fol-gende Themen: Liberalisierung des Agrarhandels,Marktzugang für Nicht-Agrarprodukte, Fortsetzung derZollsenkungen für Industriegüter sowie weitere handels-bezogene Aspekte. Zu Letzteren gehörten insbesonderedie Singapur-Themen, nämlich die Regeln für Investitio-nen und Wettbewerb im Handel, die Transparenz im öf-fentlichen Beschaffungswesen sowie der Abbau derZollbürokratie. Die Konferenz endete ohne eine Eini-gung auf eine Abschlusserklärung. Wesentlicher Grundfür das Scheitern war die fehlende Übereinkunft im Be-reich der Singapur-Themen. Bei dieser Ministerkonfe-renz hatte sich erstmals eine Gruppe von 21 Schwellen-und Entwicklungsländern (G21), im Wesentlichen unterder Führerschaft von Brasilien, als Verhandlungsmachtgegenüber den Industrieländern positioniert. Diese G21-Länder hatten bereits im Vorfeld der Ministerkonferenz

einer Verhandlung und Implementierung der Singapur-Themen kritisch gegenübergestanden, da sie diese The-men als nachrangig gegenüber den eigentlichen Zielendieser Entwicklungsrunde ansahen. Demgegenüber hat-ten wichtige Industrieländer eine Verhandlung andererFragen an die Behandlung der Singapur-Themen ge-knüpft. In der abschließenden Ministererklärung wurdevereinbart, die Verhandlungen auf Arbeitsebene fortzu-setzen. Ihre Ergebnisse sollen bei einem weiteren Tref-fen vor dem 15. Dezember 2003 vorgelegt werden.

Ausblick nach Scheitern der Ministerkonferenz

107. Mit dem Scheitern der Ministerkonferenz ist auchdie Wahrscheinlichkeit, dass die Doha-Runde pünktlichzum Ende nächsten Jahres abgeschlossen wird, deutlichgesunken. Darüber hinaus wird befürchtet, dass die inder letzten Dekade verstärkte Tendenz, Konflikte eherdirekt zwischen den betroffenen Regionen als mit Hilfemultilateraler WTO-Regeln zu lösen, intensiviert wird,obwohl viele Länder schwierige Themen inzwischen le-diglich auf der WTO-Ebene vereinbaren wollen. Insbe-sondere die Vereinigten Staaten haben sich bereits füreine Konzentration auf bilaterale Handelsvereinbarun-gen ausgesprochen. Ebenso ist unter den südostasiati-schen Staaten ein verstärktes Interesse an bilateralenFreihandelsabkommen zu beobachten. Derzeit sind be-reits 176 regionale Handelsverträge in Kraft, nur vierWTO-Mitglieder sind noch nicht Partner eines solchenVertrags. Mitglieder derartiger regionaler Abkommenerhoffen sich durch Präferenzzölle, die bereits für 43 vHdes Welthandels gelten, oder zollfreie Importe eine Aus-weitung ihres Handels.

108. Bilaterale Handelsvereinbarungen können für diebeteiligten Länder dann vorteilhaft sein, wenn sie starkregional diversifiziert werden und möglichst viele Berei-che des Handels abdecken. Des Weiteren gelingt die Be-rücksichtigung bestimmter Reformaspekte zunächst häu-fig leichter in bilateralen Vereinbarungen. Insbesonderegroße Handelspartner haben hierbei aber auch einmachtpolitisches Interesse, da sie gegenüber ihren Ver-tragspartnern solche Normen durchsetzen können, bei-spielsweise im Sozial- und Umweltbereich, für die aufmultilateraler Ebene kein Konsens gefunden werdenkann. Seitens der kleineren Vertragspartner ist insbeson-dere bei Abkommen mit den Vereinigten Staaten zubeobachten, dass ihnen der aus den bilateralen Vereinba-rungen hervorgerufene Stimulus für ausländische Di-rektinvestitionen häufig wichtiger ist als die eigentlicheLiberalisierung des Marktzugangs.

Allerdings ist eine Abkehr von multilateralen Vereinba-rungen kritisch zu sehen, da nicht nur weitere WTO-Ge-spräche in den Hintergrund gedrängt würden. Bislangvereinbarte Regeln, die das multilaterale Verhandlungs-system untermauern, könnten an Glaubwürdigkeit verlie-ren. Darüber hinaus können Handelsverzerrungen resul-tieren, wenn günstigere Produkte anderer Länder durchteurere Importe aus den Vertragspartnerländern substitu-iert werden. Die Wohlfahrt der nichtteilnehmenden Län-der sinkt durch den ineffizienten Ressourceneinsatz;

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

selbst für die teilnehmenden Länder ist eine Wohlfahrts-erhöhung nicht zwingend. Des Weiteren ist der Ver-waltungsaufwand hoch, zumal die Vorteile bilateralerVereinbarungen aufgrund multilateraler Vorgaben häufignur kurzlebig sind. Nicht selten kommt es zu einerÜberfrachtung der Abkommen. Werden Vereinbarungenbeispielsweise über Arbeitsbedingungen, Umweltstan-dards oder geistiges Eigentum nicht hinreichend genauausgestaltet und kann ihre Einhaltung nicht vollständigüberprüft werden, sind der gewünschten Handelslibe-ralisierung entgegenwirkende Effekte nicht auszuschlie-ßen.

Zur Reform der internationalen Richtlinien zur Eigenkapital-Unterlegung im Kreditgeschäft (Basel II)

109. Am 29. April 2003 hat der Basler Ausschuss fürBankenaufsicht das nunmehr dritte Konsultationspapier(CP 3) zur Neufassung der Eigenkapitalanforderungenim Kreditgeschäft (Basel II) veröffentlicht. Ergänzendwurden am 5. Mai 2003 die Ergebnisse der dritten Aus-wirkungsstudie (QIS 3) bekannt gegeben, an der insge-samt 365 Banken aus 43 Ländern teilgenommen hatten,darunter 93 deutsche Banken. Mit dieser Studie solltendie Auswirkungen der seit dem zweiten Konsultations-papier (CP 2) im Januar 2001 vorgenommenen Ände-rungen der Eigenmittelvorschriften abgeschätzt und In-formationen für die „Feinkalibrierung“ der Vorschriftenim dritten Konsultationspapier zusammengetragen wer-den. Der neue Basler Akkord soll – wie bei seiner jüngs-ten Modifikation im Oktober 2003 festgelegt – in derendgültigen Fassung nicht später als Mitte des Jahres2004 verabschiedet werden und zum Jahresende 2006den alten Eigenkapitalakkord von 1988 (Basel I) ablö-sen.

Das Drei-Säulen-Konzept

110. Das Basel II-Konzept besteht aus drei Säulen: ImRahmen der ersten Säule wird die Unterlegung von Risi-kopositionen aus dem Kreditgeschäft mit Eigenkapitalgeregelt. In diesem Zusammenhang erfolgte die Einfüh-rung einer neuen Risikokategorie „Operationelle Risi-ken“ – mögliche Verluste als Folge von unzulänglichenGeschäftsabläufen, Sicherheitsmängeln, Rechtsrisiken,menschlichem Versagen oder bankexternen Ereignissen.Die Eigenkapitalunterlegung der Banken wird im Rah-men der zweiten Säule permanent durch die Bankenauf-sicht vor Ort kontrolliert. Jede Bank muss künftig überein internes Verfahren verfügen, in dem das vorzuhal-tende Eigenkapital in Relation zum Risikoprofil derBank festgelegt wird. Die Bankenaufsicht muss die Ver-fahrensqualität beurteilen und gegebenenfalls auf Unzu-länglichkeiten hinweisen. Die dritte Säule soll einegrößere Transparenz der Eigenmittelunterlegung garan-tieren. Sie basiert auf erweiterten Offenlegungspflichtenzur Kontrolle durch den Markt.

111. Die erste Säule steht im Mittelpunkt der Reform.Hier soll vor allem eine – verglichen mit dem gültigen

Basel I-Akkord – differenziertere Verknüpfung von Kre-ditrisiko und Eigenkapitalunterlegung vorgenommenwerden. Trotz der differenzierten Bewertungsmethodikist es explizite Vorgabe der Reform, dass die Eigenkapi-talunterlegung im Durchschnitt über alle Institute wei-terhin 8 vH der risikogewichteten Aktiva beträgt.Basel II lässt den Instituten die Wahl zwischen zweigrundsätzlichen Methoden zur Bewertung des Kreditri-sikos – dem Standardansatz und dem internen Rating(IRB-Ansatz). Beim internen Rating wird zudem zwi-schen dem Basisansatz und dem fortgeschrittenen An-satz unterschieden. Beim Standardansatz werden verge-bene Kredite in Abhängigkeit von Ratings externerAgenturen in bonitätsabhängige Risikogruppen einge-stuft, denen spezielle Risikogewichte zugeordnet sind(Schaubild 9 sowie JG 2001 Ziffer 82).

Beim internen Rating (IRB-Ansatz) ist das Risikoge-wicht beziehungsweise die Risikogewichtungsfunktionebenfalls abhängig von der zugrunde liegenden Risiko-klasse sowie darüber hinaus von den Größen Aus-fallwahrscheinlichkeit (PD), Verlustrate (LGD) undRestlaufzeit (M). Diese Komponenten werden im Basis-ansatz größtenteils extern vorgegeben; im fortgeschritte-nen IRB-Ansatz müssen sie überwiegend bankintern er-mittelt werden. Das Risikogewicht nimmt dabei mit dengenannten Kennziffern zu. Überdies werden Privatkun-denportfolios als risikoärmer eingeschätzt und habendeshalb grundsätzlich niedrigere Risikogewichte als Un-ternehmenskredite, das heißt, die Risikogewichtungs-funktion für Privatkundenkredite verläuft flacher. Lang-fristig wird die Ermittlung der Eigenkapitalvorhaltungauf der Basis interner Ratings angestrebt. Die Bankensollen zügig Methoden zur internen Bewertung entwi-ckeln, und es sollen Anreize für die Banken geschaffenwerden, diese Methoden im Laufe der Zeit zu verbes-sern.

Beseitigung von Kritikpunkten am zweiten Konsultationspapier

112. Nach Veröffentlichung des zweiten Konsultati-onspapiers im Januar 2001 entbrannte heftige Kritik amBasel II-Konzept (JG 2001 Ziffern 83 ff.). Insbesonderein Deutschland wurde vielfach befürchtet, die mittelstän-dische Wirtschaft könne durch die Reform per saldo ei-nen relativen oder absoluten Finanzierungsnachteil erlei-den. Diese befürchteten Auswirkungen führten zu zweiin das dritte Konsultationspapier aufgenommenen we-sentlichen Änderungen: Unternehmenskredite von bis zu1 Mio Euro können dem Privatkundenportfolio zugeord-net werden (Standard- und IRB-Ansatz) und erhaltendamit geringere Risikogewichte. Überdies wurden dieRisikogewichte für Kredite an mittelständische Unter-nehmen mit bis zu 50 Mio Euro Jahresumsatz gesenkt(IRB-Ansatz). Eine Begründung hierfür liegt in der stär-keren Berücksichtigung von Granularitätseffekten, alsoder Tatsache, dass mittelständische Kreditportfolios derBanken generell weniger großvolumige Kredite enthal-ten.

46

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

S c h a u b i l d 9

Möglichkeiten zur Bewertung des Kreditrisikos nach Basel II

Standard-Ansatz: Eigenmittel-Unterlegung

Exposure-at-Default (EAD)� im Wesentlichen die

Kredithöhe= �

Risikogewicht:Festlegung durch externe Rating-Agenturenin Abhängigkeit von der jeweiligenRisikoklasse

Solvabilitäts-koeffizient (8 vH)

IRB-Ansatz: Eigenmittel-Unterlegung

Exposure-at-Default (EAD)� einfacher IRB-Ansatz:� bankenaufsichtlich

vorgegeben� fortgeschrittener IRB-Ansatz:

bankinterne Schätzung�

=�

Risikogewicht:Festlegung über unterschiedliche Risiko-gewicht sfunktionen in Abhängigkeitungvon der jeweiligen Risikoklasse und denGrößen PD, LGD sowie M:� einfacher IRB-Ansatz:

PD : bankinterne SchätzungLGD: bankenaufsichtlich vorgegebenM : keine explizite Anrechnung

� fortgeschrittener IRB-Ansatz:PD : SchätzungbankinterneLGD: SchätzungbankinterneM : bankenaufsichtlich vorgegeben

Solvabilitäts-koeffizient (8 vH)

EAD = Exposure-at-Default (erwartete ausstehende Forderungen bei Ausfall)PD = Probability of Default (Ausfallwahrscheinlichkeit)LGD = Loss Given Default (Verlustrate)M = Maturity (Restlaufzeit)

SR 2003 - 12 - 0669

Die Ergebnisse der dritten Auswirkungsstudie zeigen, höhere notwendige Rückstellungen für unsicher gewor-

dass durch diese Neuerungen die zumeist stark im mittel-ständischen Kreditgeschäft engagierten kleineren Insti-tute (Gruppe 2-Banken) größere Vorteile durch denBasel II-Akkord haben als große Institute (Gruppe 1-Banken), die sich im Kreditgeschäft auf große Firmen-kunden konzentrieren. Gruppe 2-Banken können teil-weise deutliche Reduzierungen bei ihren Eigenkapitalan-forderungen – um bis zu 10 vH in Deutschland und 19 vHim Durchschnitt der G10-Länder – erwarten (Tabelle 8,Seite 48). Gruppe 1-Banken werden dagegen maximalum 2 vH entlastet. Die Ergebnisse der dritten Auswir-kungsstudie zeigen überdies, dass die Kapitalanforderun-gen für Kredite an kleine und mittlere Unternehmen inDeutschland und den G10-Ländern grundsätzlich nichthöher sein werden als jetzt, sondern meistens – um bis zu26 vH – niedriger. Es stellt sich jedoch die Frage, ob an-gesichts der empirisch vielfach bestätigten höheren Aus-fallwahrscheinlichkeit von Krediten an kleine und mitt-lere Unternehmen die aktuellen Modifikationen durcheine unangemessene Entlastung dieses Kreditsegmentsüber das Ziel hinausgeschossen sein könnten.

113. Befürchtet wurden zudem prozyklische Effektebei der Kreditvergabe, welche aus der stärkeren Risiko-sensitivität des Basel II-Konzepts resultieren. Zum Bei-spiel halten sich Finanzinstitute in einer konjunkturellenAbschwungphase aufgrund gestiegener Kosten durch

dene Kredite bei der Kreditvergabe zurück. Ein höhererBedarf an regulatorischem Eigenkapital durch eine nied-rigere Bonitätsbewertung im Abschwung könnte dieseWirkung verstärken. Dieser Effekt wurde durch die Ab-flachung der Risikogewichtungsfunktionen reduziert.Eine gewisse Prozyklizität ist einem risikosensitivenAnsatz jedoch systemimmanent und lässt sich daher nieganz vermeiden. Die daraus resultierenden Gefahrenwerden vom Basler Ausschuss jedoch als gering einge-schätzt, verglichen mit den Vorteilen einer stärker boni-tätsorientierten Kreditrisikobewertung.

Es ist von wissenschaftlicher Seite zudem betont worden,dass Risiko aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive eineendogene Größe sei, die sich aus dem Zusammenspielder beteiligten Akteure ergibt. Durch gleichgerichtetesVerhalten der Marktteilnehmer besteht nämlich die Ge-fahr, dass negative Tendenzen verstärkt werden. Bankin-terne Risikomodelle vernachlässigen regelmäßig dieseDimension und behandeln Risiko als exogene, für dasInstitut gegebene Größe. Dies ist unter normalen wirt-schaftlichen Rahmenbedingungen unbedenklich, in öko-nomischen Ausnahmezeiten, das heißt unter krisenhaftenUmständen, ist diese Annahme jedoch nicht mehr gültig.Dieser Spielart prozyklischen Verhaltens unter ungünsti-gen Rahmenbedingungen wird durch einige Neuerun-gen im dritten Konsultationspapier Rechnung getragen:

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Page 74: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Ta b e l l e 8

Eigenkapitalanforderungen: Änderungen durch Basel II gegenüber Basel IvH

RWA4) Beitrag5) RWA4) Beitrag5) RWA4) Beitrag5) RWA4) Beitrag5) RWA4) Beitrag5)

Gesamtänderung .............. 12 12 +0 +0 16 16 -10 -10 5 5 Kreditrisiko insgesamt .. 6 6 -9 -9 6 6 -18 -18 -6 -6 darunter:

Unternehmen ............. 5 1 -2 -0 7 2 -22 -5 1 0

KMU gesamt6) ............ -4 -1 -11 -4 -22 -4 -17 -5 -26 -7 Operationelles Risiko .... - 6 - 9 - 9 - 8 - 11

Gesamtänderung ............... 11 11 3 3 3 3 -19 -19 -2 -2 Kreditrisiko insgesamt .. 0 0 -11 -11 -7 -7 -26 -27 -13 -13 darunter:

Unternehmen ............. 1 1 -10 -1 -9 -2 -27 -4 -14 -4

KMU gesamt6) ............ -4 -1 -6 -2 -15 -2 -17 -4 -13 -3 Operationelles Risiko .... - 10 - 15 - 10 - 7 - 11

1) Die Gesamtänderung der risikogewichteten Aktiva (RWA) für deutsche Gruppe 2-Banken im fortgeschrittenen IRB-Ansatz beläuft sich auf -8 vH, aufgrund der geringen Fallzahlen ist dieses Ergebnis vorsichtig zu interpretieren, für die G10-Länder ist kein Ergebnisnachweis möglich. - 2) Große international tätige Banken mit einem Kernkapital von mindestens 3 Mrd Euro. - 3) Kleinere und mittlere Banken. - 4) Änderung der risikogewichteten Aktiva (RWA). - 5) Beitrag eines Portfolios zur Gesamtänderung der RWA, das heißt Änderung der RWA in einer Forderungs-klasse gewichtet mit dem Anteil dieser Forderungsklasse an den derzeitigen Eigenkapitalanforderungen. - 6) Forderungskategorie für kleine und mittlere Unternehmen. - 7) Alle 13 Mitgliedsländer des Basler Ausschusses: Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Luxem-burg, Niederlande, Schweden, Schweiz, Spanien, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten. Zu den Einzelheiten siehe: Bank for In-ternational Settlements (2003) Quantitative Impact Study 3 (QIS 3) – Overview of Global Results, S. 5 ff. sowie Deutsche Bundesbank (2003) Ergebnisse der dritten Auswirkungsstudie zu Basel II – Länderbericht Deutschland, S. 3 ff.

Deutschland

G10-Länder7)

ForderungskategorienGruppe 1-Banken2) Gruppe 2-Banken3)

Fortgeschrittener

IRB-Ansatz1)

Gruppe 1-Banken2) Gruppe 2-Banken3) Gruppe 1-Banken2)

Standardansatz Einfacher IRB-Ansatz

So müssen Banken, die den IRB-Ansatz verwenden, überfundierte Stresstest-Verfahren zur Beurteilung derAngemessenheit ihrer Eigenkapitalausstattung verfügen.Neben diesen grundsätzlichen Tests müssen die von denBanken intern ermittelten Größen Ausfallwahr-scheinlichkeit, Verlustquote bei Ausfall und erwarteterForderungsausfall hinreichend stress-getestet sein, dasheißt, ihre Höhe muss auch die Auswirkungen vonleichten Rezessions-Szenarien − wie einen Null-Zu-wachs in zwei aufeinander folgenden Quartalen − wi-derspiegeln.

114. Auch die Benachteiligung der für Deutschland ty-pischen langfristigen Kreditverträge scheint beseitigt zusein, denn mit dem dritten Konsultationspapier wird eskeine Laufzeitzuschläge im Standardansatz, im einfa-chen IRB-Ansatz sowie für das Privatkundengeschäftgeben. Zudem gelten im IRB-Ansatz Ausnahmeregelun-gen für Kredite an Unternehmen mit einem Jahresumsatzund einer Bilanzsumme von bis zu 500 Mio Euro.

Ergänzende Neuerungen

115. Erstmals enthält das dritte Konsultationspapierein schlüssiges Gesamtkonzept zur Behandlung von

Verbriefungen, wie zum Beispiel forderungsbesicherteWertpapiere (Asset Backed Securities-ABS), mit derenHilfe Banken Kreditrisiken am Markt weiterverkaufenkönnen. Durch die Neuerung erkennt der Basler Aus-schuss die Bedeutung von Verbriefungen für die Risiko-streuung und die Finanzmarktstabilität an. Gleichzeitigwerden für den stark wachsenden Verbriefungsmarktverbesserte Wettbewerbsbedingungen geschaffen. Au-ßerdem bestünde ohne eine entsprechende Regelung dieGefahr der Eigenkapitalarbitrage, da einige Verbrie-fungstransaktionen es den Banken im Rahmen der aktu-ellen Eigenkapitalvereinbarung ermöglichen, geringereEigenmittel zu halten, als angesichts der Risiken, denensie ausgesetzt sind, angemessen wäre. Bei der Messungdes Kreditrisikos von Verbriefungen stehen ebenfallsStandard- und IRB-Ansätze zur Verfügung. Mit der imOktober 2003 vorgenommenen Modifikation des drittenKonsultationspapiers wurde die Behandlung von aktiva-besicherten Wertpapieren weiter vereinfacht, und dievergleichsweise niedrigen Kapitalanforderungen im in-ternen Ratingansatz für das Privatkundengeschäft wur-den auf die Verbriefungsregeln übertragen. Die zuvorgültige Regelung setzte kaum Anreize zur Verbriefungvon Krediten an kleine und mittlere Unternehmen.

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

Das mögliche Volumen für Verbriefungen in Form vonABS wird in Europa auf über 300 Mrd Euro geschätzt.Das tatsächliche Verbriefungsvolumen in Deutschlandlag jedoch im Jahr 2002 mit 10,0 Mrd Euro im europäi-schen Vergleich hinter dem im Vereinigten Königreich(53,1 Mrd Euro), in Italien (24,1 Mrd Euro), den Nieder-landen (21,8 Mrd Euro), Spanien (19,8 Mrd Euro) undFrankreich (10,3 Mrd Euro) nur auf dem sechsten Platz.

Ursache für die mangelnde Verbreitung von Verbriefun-gen in Deutschland, bei denen sowohl das Kreditrisikoals auch die Forderung selbst gebündelt an eine Zweck-gesellschaft verkauft, in Wertpapiere umgewandelt undam Kapitalmarkt platziert werden, war lange Zeit vor al-lem die Ausgestaltung des deutschen Gewerbesteuerge-setzes, welches die Zweckgesellschaften der Gewerbe-steuer unterwarf. Wegen dieser steuerlichen Hürde griffdie deutsche Finanzbranche bisher vor allem auf syn-thetische Verbriefungen zurück, bei denen nur dasKreditausfallrisiko ausplatziert wird, ohne dass die For-derungen verkauft werden. Mit der Abschaffung der Ge-werbesteuer für Verbriefungen − die auch auf eine vomBundesministerium der Finanzen Anfang des Jahres insLeben gerufene „Verbriefungsinitiative“ zurückgeht −ist das Haupthindernis zur Gründung von Zweckgesell-schaften und damit für die stärkere Verbreitung von Ver-briefungen aus dem Weg geräumt worden.

Fast zeitgleich mit der Gesetzesänderung haben13 Banken Mitte des Jahres eine Absichtserklärung fürdie Gründung einer ersten Zweckgesellschaft zur Kredit-verbriefung in Deutschland unterzeichnet. Diese soll alsGmbH einen Sitz in Frankfurt am Main erhalten undwird nicht nur Kreditportfolios der Gesellschafter, son-dern auch von nicht-beteiligten Banken verbriefen. Da-bei werden ausschließlich Kredite berücksichtigt, diestets ordnungsgemäß bedient worden sind − ohne Zah-lungsverzug oder Ausfälle.

116. Für die Messung des operationellen Risikos fin-den sich in der neuesten Version des Akkords deutlichkonkretere Vorgaben als im zweiten Konsultationspa-pier: Es kann grundsätzlich zwischen einfachen und fort-geschrittenen Verfahren unterschieden werden. Die bei-den einfachen Messansätze – der Basisindikatoransatzund der Standardansatz – richten sich vor allem an Ban-ken mit geringeren operationellen Risiken. Im Rahmendieser Ansätze muss das operationelle Risiko mit Eigen-kapital in Höhe eines festen Prozentsatzes einer spezifi-schen Risikomessgröße unterlegt werden. Beim Basis-indikatoransatz beträgt die Eigenkapitalunterlegung15 vH des durchschnittlichen jährlichen Bruttoertrags ei-ner Bank in den vorangegangenen drei Jahren. BeimStandardansatz werden die Tätigkeiten der Bank in meh-rere Geschäftsfelder aufgeteilt. Auf den Bruttoertragdieser Geschäftsfelder werden festgelegte Sätze ange-wendet, die zwischen 12 vH und 18 vH liegen. Die ge-samte Eigenkapitalanforderung ergibt sich dann aus derSumme des aufsichtsrechtlichen Eigenkapitalbedarfs fürjedes der Geschäftsfelder. Voraussetzung für die Ver-wendung dieses Ansatzes ist die Existenz eines bankei-genen Systems zur Messung des operationellen Risikos,das den Mindestkriterien des dritten Konsultationspa-piers entspricht. Bei den fortgeschrittenen Messverfah-ren (Advanced Measurement Approaches) können Ban-

ken ihre eigenen Beurteilungsmethoden für dasoperationelle Risiko anwenden, solange diese ausrei-chend umfassend und systematisch sind. Diese Ansätzesollen vor allem von international tätigen Banken undBanken mit hohen operationellen Risiken angewendetwerden. Unter bestimmten Voraussetzungen wird es denInstituten erlaubt sein, die fortgeschrittenen Messverfah-ren zeitlich befristet auch nur für einzelne Geschäftsfel-der anzuwenden. Die dritte Auswirkungsstudie hat erge-ben, dass bei in G10-Staaten ansässigen Banken dieeinfacheren Ansätze zur Messung des operationellen Ri-sikos überwiegend zu einer Eigenkapitalunterlegung inHöhe von 12 vH der gegenwärtigen Mindesteigenkapi-talanforderung führen, was der Zielsetzung entspricht.Allerdings wiesen die Ergebnisse der Banken je nachLand erhebliche Unterschiede auf.

117. Im dritten Quartal des Jahres 2003 wurden vonder US-amerikanischen Bankenaufsicht Forderungenvorgebracht, es solle ausschließlich für unerwarteteVerluste Eigenkapital vorgehalten werden, weil erwar-tete Verluste bereits durch Risikovorsorge und Wertbe-richtigungen abgesichert seien und keiner zusätzlichenEigenkapital-Unterlegung bedürften. Der Basler Aus-schuss hatte ähnliche Forderungen von deutscher Seiteim Jahr 2001 mit der Begründung abgelehnt, Rücksichtauf unterschiedliche Wertberichtigungspraktiken in ein-zelnen Ländern nehmen zu wollen. Daher sah das DritteKonsultationspapier noch eine Eigenkapitalunterlegungunerwarteter und erwarteter Verluste im internen Rating-ansatz vor. Allerdings konnten Wertberichtigungen so-wie teilweise Zinsmargen mit dem erwarteten Verlustverrechnet werden. Die von den US-Banken geforderteKonzentration auf unerwartete Verluste hätte im Rah-men der bestehenden Regelung eine Verletzung des Ka-pitalziels von 8 vH sowie eine unerwünschte Verände-rung des Verhältnisses von Kern- und Ergänzungskapitalbedeutet. Um die ebenfalls von den US-amerikanischenBanken angeregte Neudefinition des Kernkapitals unddamit verbundene langwierige Debatten sowie eine Au-ßerkraftsetzung des Zeitplans zu umgehen, hat der Bas-ler Ausschuss am 11. Oktober 2003 folgende Änderun-gen des Akkords vorgenommen, die bis zum Ende desJahres von den Banken kommentiert werden sollten:

– Erstens müssen nur noch unerwartete Verluste zu denrisikogewichteten Aktiva hinzugerechnet und mit Ei-genkapital unterlegt werden. Sind die erwarteten Ver-luste größer als die vorgenommenen Wertberichti-gungen (Shortfall-Position), so reduziert dies dasanrechenbare Eigenkapital, im umgekehrten Fall (Ex-cess-Position) gilt dies analog.

Shortfall-Positionen müssen vom haftenden Eigenka-pital abgezogen werden − zu 50 vH vom Kernkapital(Tier-One) und zu 50 vH vom Ergänzungskapital(Tier-Two). Excess-Positionen können dem Ergänz-ungskapital hinzugerechnet werden. Allerdings darfder Anteil der Excess-Positionen am Ergänzungs-kapital 20 vH nicht übersteigen. Diese Behandlungvon Excess-Positionen entspricht der Beschränkungdes Wertberichtigungsanteils am Ergänzungskapitalnach Maßgabe des dritten Konsultationspapiers.Durch sie sollen ausreichende Anreize für die Banken

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Page 76: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

gesetzt werden, Wertberichtigungen für erwarteteVerluste vorzunehmen.

– Zweitens wird die mit der Herausrechnung „erwarte-ter Verluste“ verbundene Verringerung des Eigenkapi-talbedarfs durch eine Anhebung der Risikogewichte jeAusfallwahrscheinlichkeit, differenziert nach denfünf Basel II-Kreditklassen ausgeglichen.

Eine Neudefinition des Kernkapitals ist damit zunächstnicht mehr notwendig. Und auch die Eigenkapital-Er-mittlung im Standardansatz bleibt unverändert.

Abschließende Bewertung

118. Die Ziele des Basler Ausschusses werden aufG10-Ebene, aber auch in Deutschland insgesamt er-reicht. Zum einen bleibt die Eigenkapitalunterlegungnach Angaben der Deutschen Bundesbank im gesamtendeutschen Bankensystem nahezu unverändert. Zum an-deren zeigt sich, dass aus Sicht der Banken hoch entwi-ckelte Bewertungsmethoden zur Berechnung des Kredit-risikos einfacheren Risikokontrollmethoden vorzuziehensind, da bei ersteren – vor allem für das Kreditrisiko –tendenziell weniger Eigenkapital gehalten werden muss.Die Entlastung steigt dabei – wie vom Basler Ausschussbeabsichtigt – mit zunehmender Differenzierung der Ri-sikoberücksichtigung an: Im Vergleich zum Standardan-satz ist das Eigenmittelerfordernis für Kreditrisiken imIRB-Ansatz zum Beispiel um bis zu 15 Prozentpunktegeringer (Tabelle 8). Basel II setzt somit die gewünsch-ten Anreize einer höheren Sensitivität für das Ausmaßan Bankrisiken. Allerdings zeigen die Einzelergebnisseeine zum Teil breite Streuung zwischen den teilnehmen-den Banken. Der Basler Ausschuss führt dieses unein-heitliche Abschneiden auf zwei Ursachen zurück. Zumeinen variiert der Anteil des risikoärmeren Privatkun-denbereichs am gesamten Bankgeschäft zwischen denInstituten sehr stark. Zum anderen müssen insbesonderespezialisierte Banken durch die nunmehr berücksichtig-ten operationellen Risiken deutlich mehr Eigenkapital

vorhalten als unter Basel I. Es ist aber zu erwarten, dasssich die Resultate im Laufe der Zeit annähern, wenn dieInstitute größere Erfahrungen mit der Anwendung derneuen Regelungen haben.

Vielfach wurde kritisiert, dass in den Vereinigten Staatenlediglich zehn bis zwölf Institute auf den Akkord ver-pflichtet werden. Über die Brüsseler Richtliniensetzungwerden Basler Regelungen dagegen auf alle Kreditinsti-tute und Wertpapierhäuser in der Europäischen Unionanzuwenden sein. Der eingeschränkte Anwendungs-kreis von Basel II in den Vereinigten Staaten ist zwar– nach heutiger Kenntnis – kein allzu großer Wettbe-werbsnachteil für europäische Institute: Zum einen ent-fallen auf die zehn bis zwölf größten Banken in den Ver-einigten Staaten etwa 95 vH des internationalenGeschäftsvolumens aller US-amerikanischen Banken;erwartet wird zum anderen, dass weitere zehn großeBanken freiwillig den neuen Basler Standard anwenden,so dass ein Abdeckungsgrad von 99 vH erreicht wird. Esist aber nicht ausgeschlossen, dass regional tätige ameri-kanische Banken, die nicht Basel II unterliegen, Kreditean ausländische Kunden vergeben und somit zu Konkur-renten von europäischen Banken werden. Zudem ist dieBefürchtung geäußert worden, Kreditinstitute könntenmit im Ausland ansässigen Tochterunternehmen unter-schiedlichen Regelungen unterliegen und es könntedurch die unterschiedliche Ausübung von nationalenWahlrechten sowie differierende Zulassungsverfahrenfür interne Risikomessmethoden zu Doppelrechnungenund Mehraufwand kommen. Um solche Probleme mög-lichst zu vermeiden, wurde mit der „Accord Implemen-tation Group“ des Basler Ausschusses eigens ein Forumgeschaffen, in dem über Fragen der Implementierung derneuen Regelungen diskutiert werden kann. Insgesamtbleibt zu wünschen, dass der vorgesehene Zeitplan zurEinführung des neuen Akkords eingehalten wird, damitdie Stabilität des internationalen Finanzsystems durchzeitgemäße Eigenkapitalregeln für Kreditinstitute undeine wirksame Bankenaufsicht gestärkt wird.

Ta b e l l e 9

Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

Datum

2003 Internationale Ereignisse

24. Januar Der Internationale Währungsfonds gewährt Argentinien einen Zahlungsaufschub für seine bisAugust fälligen Kredite in Höhe von rund 6,6 Mrd US-Dollar. Auf diese Vereinbarung solltenach den Präsidentschaftswahlen im April ein längerfristiges Abkommen mit der neuen Regie-rung folgen.

1. – 3. Juni G8-Gipfel in Evian-les-Bains, Frankreich. Die Teilnehmer einigen sich auf eine Stärkung desweltweiten Wachstums durch Voranbringen von Strukturreformen und zielführenden Verhand-lungen in der Welthandelsrunde von Doha, eine Förderung der nachhaltigen Entwicklung in denEntwicklungsländern und eine Verbesserung der internationalen Sicherheitslage. Darüber hin-aus findet ein Dialog der G8-Staaten mit zwölf Staats- und Regierungschefs aus Schwellen- undEntwicklungsländern statt, darunter auch die Fortsetzung der besonderen Gespräche mit Afrika.

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

noch 2003 noch Internationale Ereignisse

29. Juni Die Volksrepublik China schließt mit Hongkong eine Vereinbarung zur engen wirtschaftlichenZusammenarbeit, die insbesondere Zollsenkungen seitens des chinesischen Festlands und einenbesseren Marktzugang für Dienstleistungen vorsieht.

25. August Der Mercosur - bestehend aus Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay sowie Bolivienund Chile als assoziierte Mitglieder - schließt ein Freihandelsabkommen mit Peru ab. Das Ab-kommen sieht ein stufenweises Auslaufen der Zölle vor. Außerdem eröffnet es die Möglichkeitbilateraler Abkommen zwischen dem Mercosur und anderen Andenländern.

10. – 14. September

WTO-Ministerkonferenz in Cancún, Mexiko.

– Gegenstand der Diskussion: Liberalisierung des Agrarhandels, Marktzugang für Nicht-Agrarprodukte, Fortsetzung der Zollsenkungen für Industriegüter sowie weitere handelsbe-zogene Aspekte, insbesondere die Singapur-Themen (Regeln für Investitionen und Wettbe-werb im Handel, Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen sowie Abbau der Zoll-bürokratie).

– Die Konferenz endet ohne eine Einigung auf eine Abschlusserklärung. Abschluss der Doha-Runde innerhalb der geplanten Zeit − bis Ende 2004 − gefährdet.

– Mit Kambodscha und Nepal werden zum ersten Mal zwei der ärmsten Entwicklungsländerin die WTO aufgenommen, die damit auf 148 Mitglieder angewachsen ist. Der Beitritt die-ser Länder wird formell 30 Tage nach Unterzeichnung des Vertrags durch die nationalenParlamente vollzogen.

11. September Der Internationale Währungsfonds und Argentinien unterschreiben eine gemeinsame Absichts-erklärung über ein drei Jahre laufendes Kreditabkommen im Umfang von 12,5 Mrd US-Dollar,nachdem Argentinien tags zuvor die Rückzahlung der fälligen Kredittranche in Höhe von2,9 Mrd US-Dollar an den Internationalen Währungsfonds verweigert hatte. Dabei kommt derFonds weitgehend Argentinien entgegen, indem er auf einen Zeitplan verzichtet, der festlegt,wie die Geschäftsbanken für die ihnen entstandenen Schäden durch die gespaltene Umrechnungbei der Umwandlung in Peso von der Regierung entschädigt werden sollten. Außerdem fallendie Zielvorgaben für die Primärüberschüsse der nächsten Jahre vage aus. Schließlich erhaltenauch die argentinischen Versorgungsunternehmen zunächst keine Zusagen, ihre Tarife erhöhenzu dürfen. Mit dieser Absichtserklärung ist neben der Stabilisierung der Wirtschaft und demVorhandensein einer handlungsfähigen Regierung die letzte Voraussetzung für die Aufnahmevon Umschuldungsgesprächen geschaffen.

21. September Treffen der Finanzminister beim Jahrestreffen der Weltbank und des Internationalen Währungs-fonds in Dubai, Vereinigte Arabische Emirate. Forderung nach Strukturreformen und Fortfüh-ren der in Cancún abgebrochenen WTO-Verhandlungen. Darüber hinaus sollen Wechsel-kursthemen vom Internationalen Währungsfonds weiterhin thematisiert werden. DieMitgliedsländer sprechen sich für flexible Wechselkurse aus.

5. – 8. Oktober ASEAN-Gipfel auf Bali, Indonesien. Gemäß der Bali-II-Übereinstimmung wollen die ASEAN-Mitgliedsländer bis zum Jahr 2020 einen gemeinsamen Markt schaffen. Genehmigung bilatera-ler Abkommen, solange diese offen für weitere Teilnehmer sind. Neben den Vertretern der zehnMitgliedsländer nehmen auch Staats- und Regierungschefs aus China, Japan, Südkorea und In-dien teil, mit denen der Aufbau und Ausbau einer engen Zusammenarbeit vereinbart wird. MitChina, Indien und Japan sollen in den nächsten zehn Jahren Freihandelszonen umgesetzt wer-den.

20. – 21. Oktober Gipfeltreffen der 21 Pazifikanrainerstaaten der Asien-Pazifik-Kooperation (APEC) in Bang-kok, Indonesien. Die Teilnehmer einigen sich auf die Förderung von Handels- und Investitions-liberalisierung im multilateralen Rahmen. Diese Liberalisierung solle nicht zu Lasten der öf-fentlichen Sicherheit gehen: Einigung auf gemeinsames Vorgehen zur Verhinderung vonTerrorismus und bei der Bekämpfung schwerer Krankheiten wie SARS oder Aids.

Ta b e l l e 9

Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

Datum

n o c h Tabelle 9

noch: Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

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Page 78: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2003 noch Internationale Ereignisse

26. – 27. Oktober Jahrestagung der Finanzminister und Notenbankpräsidenten der wichtigsten Industrie- undSchwellenländer (G20) in Morelia, Mexiko. Diskussion über Krisenvorbeugung und -bewälti-gung, über die Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung sowie über die Finanzierung der Ent-wicklungshilfe. Der Abschluss multilateraler Handelsvereinbarungen soll gefördert werden.

2002 Vereinigte Staaten

25. November Präsident Bush unterzeichnet ein Gesetz zur Schaffung eines eigenständigen Ministeriums fürHeimatschutz (Department of Homeland Security). Durch eine Reorganisation der Bundesver-waltung sollen 22 bereits bestehende Behördenstellen mit fast 170 000 Mitarbeitern in diesesneue Ministerium überführt werden.

26. November Präsident Bush unterzeichnet ein Gesetz zur Terrorismusversicherung. Darin wird Anbieternvon Terrorismusversicherungen eine zeitlich befristete staatliche Beteiligung an durch Terroris-mus ausgelöste Schäden zugesichert, die in den Jahren 2003 bis 2005 jeweils 90 vH der über ei-nen Betrag von 10 Mrd US-Dollar (15 Mrd US-Dollar im Jahr 2005) liegenden Schadens-summe als Folge eines Terroranschlags beträgt.

2003

8. Januar Präsident Bush unterzeichnet ein Gesetz zur Verlängerung der Arbeitslosengeldbezugsdauer. Esgewährt Arbeitslosen nach dem Auslaufen ihres auf 26 Wochen begrenzten Arbeitslosen-geldanspruchs finanzielle Unterstützung für weitere 13 Wochen. Die gesamten Ausgaben derVerlängerung belaufen sich planmäßig auf rund 7,25 Mrd US-Dollar, wobei jeder Arbeitsloseim Durchschnitt 250 US-Dollar pro Woche erhält.

9. Januar Die Federal Reserve führt neue Kreditprogramme im Diskontgeschäft, dem so genannten Dis-kontfenster, ein. Der neue Primary Credit ersetzt die bisherigen Anpassungskredite und derSecondary Credit die Überbrückungskredite. Diese unterscheiden sich von ihren Vorgängerpro-grammen im Wesentlichen dadurch, dass die Zinssätze oberhalb der Federal Funds Rate gesetztwerden und die Restriktionen zur Nutzung des Primary Credit deutlich geringer für die Ge-schäftsbanken sind, solange ihr finanzieller Status gesund ist. Der Secondary Credit, dessenZinssatz über dem für den Primary Credit liegt, ist für jene Kreditinstitute gedacht, die den Pri-mary Credit nicht in Anspruch nehmen können. Das Diskontfenster stellt lediglich eine zusätz-liche Finanzierungsquelle dar, die Kredite sollen die Finanzierung im Falle eines temporärenLiquiditätsengpasses gewährleisten; in der Regel werden sich Banken aber über andere, günsti-gere Quellen finanzieren.

16. Januar In Chicago wird von 13 größeren Unternehmen und der Stadtverwaltung die erste Klimabörsefür Treibhausgase (Chicago Climate Exchange) gegründet. Die von den Teilnehmern diesesProjekts vereinbarte Reduktion der Konzentration des Kohlenstoffdioxids und anderer Treib-hausgase beträgt 4 vH gegenüber den eigenen durchschnittlichen Emissionen der Jahre 1998bis 2001. Dieser Wert muss über die nächsten vier Jahre erreicht werden. Bei einer Reduktionüber dieses Ziel hinaus werden Gutschriften erteilt, die an der Börse veräußert werden können.

22. März Die US-amerikanische Regierung nimmt ein Jahr nach der Verhängung von Strafzöllen aufStahlimporte weitere 295 Produktkategorien von der Maßnahme aus, nachdem sie bereits imvergangenen Jahr 727 Produktkategorien mit einem Importvolumen von 3 Mio Tonnen befreithatte. Die neuerliche Befreiung umfasst etwa 0,4 Mio Tonnen. Die Stahlimporte werden imzweiten Jahr der drei Jahre währenden Regelung mit Zollzuschlägen zwischen 7 vH und 24 vHbelastet.

16. April Präsident Bush unterzeichnet einen Nachtragshaushalt in Höhe von 79 Mrd US-Dollar für dieAusgaben im Irak-Krieg, aber auch für internationale Unterstützung und den Wiederaufbau imIrak, für die innere Sicherheit und Finanzhilfen für die Luftfahrtindustrie.

Ta b e l l e 9

Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

Datum

n o c h Tabelle 9

noch: Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

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Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

noch 2003 noch Vereinigte Staaten

6. Mai Die US-amerikanische Notenbank unterscheidet in ihren Mitteilungen nach den Offenmarkt-ausschusssitzungen des Federal Reserve Board für den Ausblick der nächsten Quartale erstmalsin konjunkturelle und inflationäre Risiken. Während sie die konjunkturellen Risiken für ausge-wogen hält, sei ihrer Ansicht nach die „Wahrscheinlichkeit eines unwillkommenen substantiel-len Rückgangs der Inflation − wenn auch nur geringfügig − größer als diejenige eines Anstiegsder bereits sehr niedrigen Inflationsrate“.

27. Mai Die gesetzlich festgelegte Obergrenze für die Staatsverschuldung wird permanent um984 Mrd US-Dollar auf 7,384 Billionen US-Dollar angehoben.

28. Mai Präsident Bush unterzeichnet den Jobs and Growth Tax Relief Reconciliation Act of 2003, derüber eine Laufzeit von zehn Jahren Steuerentlastungen in Höhe von 350 Mrd US-Dollar vor-sieht und zurückwirkend ab dem 1. Januar 2003 in Kraft tritt.

25. Juni Die US-amerikanische Zentralbank senkt die Federal Funds Rate und den Diskontsatz (PrimaryCredit Rate) um je 25 Basispunkte auf 1 % beziehungsweise 2 %.

15. Juli Gemäß dem überarbeiteten Haushalt für das Fiskaljahr 2004 betragen die planmäßigen Ausga-ben 2,270 Billionen US-Dollar, wovon 55 vH auf gesetzlich vorgegebene Ausgaben entfallen.Diskretionäre Ausgaben werden um 3,5 vH gegenüber dem vorherigen Fiskaljahr ansteigen,wobei der größte Zuwachs bei den Nicht-Verteidigungs-Ausgaben für Heimatschutz liegt(20,3 vH), absolut aber die Zunahme der Ausgaben des Verteidigungsministeriums mit15 Mrd US-Dollar am höchsten ist.

3. September Präsident Bush unterzeichnet Freihandelsabkommen mit Chile und Singapur. Das Abkommenmit Chile enthält Bestimmungen über die Behandlung geistigen Eigentums, einen verbindli-chen Rechtsrahmen für US-Investoren sowie Bestimmungen zu Arbeits- und Umweltschutzbe-dingungen und sieht darüber hinaus die Abschaffung oder die Senkung der Zölle bei 85 vH derWaren im Handel zwischen den beiden Ländern vor. Mit Singapur, dem mittlerweile zwölft-größten Handelspartnerland der Vereinigten Staaten, wurden neben Bestimmungen zu Arbeits-und Umweltschutzbedingungen auch Regelungen für geistiges Eigentum und Internethandelgetroffen.

1. Oktober Präsident Bush unterzeichnet erstmals ein Gesetz zur Bereitstellung von Mitteln für das neueHeimatschutzministerium. Es erhält ein Budget von 37,6 Mrd US-Dollar für das Fiskaljahr 2004.

6. November Präsident Bush unterzeichnet einen Nachtragshaushalt für das Fiskaljahr 2004 in Höhe von87,5 Mrd US-Dollar für das US-Engagement im Irak und in Afghanistan. Danach sind65 Mrd US-Dollar für US-Truppen in den beiden Ländern und 18,6 Mrd US-Dollar für denWiederaufbau im Irak vorgesehen.

2002 Japan

22. November Das Kabinett beschließt einen Nachtragshaushalt in Höhe von 3 Billionen Yen, der jeweils hälf-tig für soziale Sicherungsmaßnahmen für Leidtragende einer beschleunigten Banksanierungund für öffentliche Infrastrukturprojekte verwendet werden soll. Darüber hinaus sind1,2 Billionen Yen für Maßnahmen der Sozialen Sicherung und zur Katastrophenbehebung, wei-tere 2 Billionen Yen als Ausgleich für die erwarteten Steuermindereinnahmen vorgesehen. Da-mit steigt die Gesamtsumme der Anleihen im Fiskaljahr 2002 über die von PremierministerKoizumi angestrebte Höchstgrenze von 30 Billionen Yen.

29. November Start des Aktienankaufsprogramms der japanischen Notenbank.

Ta b e l l e 9

Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

Datum

n o c h Tabelle 9

noch: Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2002 noch Japan

11. Dezember Verabschiedung eines Gesetzentwurfs zur Verbesserung des Einlagensicherungsgesetzes. Da-nach sind Kontokorrenteinlagen, reguläre und spezifizierte Einlagen bis zum 31. März 2005vollständig gesichert, über diese Frist hinaus werden nur noch solche, die keine Zinsen tragen.Demgegenüber besteht für andere Einlagen wie Termineinlagen permanent nur bis zu10 Mio Yen einschließlich Zinsen eine Sicherungsgarantie.

13. Dezember Die drei Regierungsparteien geben Einzelheiten der Steuerreform für das Haushaltsjahr 2003bekannt. Während für die kommenden Jahre per saldo Steuererhöhungen vorgesehen sind,kommt es im nächsten Fiskaljahr zu einer Nettoentlastung als Maßnahme gegen die Deflation:Die Steuersenkungen von bis zu 2 Billionen Yen überwiegen die vorgesehenen Steuererhöhun-gen von bis zu 200 Mrd Yen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Maßnahmen:

– Erhöhung der Steuern auf Malzbier, Wein und Zigaretten.

– Abschaffung des Sonderabzugs für Ehegatten bei der Einkommensteuer.

– Einführung einer Einheitssteuer für Unternehmen (Veranlagung nach Unternehmensgröße),die von den Präfekturen erhoben werden soll.

– Steuersenkungen und -vergünstigungen für Unternehmen (Forschungs- und Entwicklungs-ausgaben sowie Investitionen).

– Senkung der steuerlichen Belastung auf Erträge von Wertpapieren.

– Steuersenkung bei Eigentumsumschreibungen im Zuge von Immobilieninvestitionen undEinfrieren der Grundsteuer mit dem Ziel der Stimulation der stagnierenden Grundstücksver-käufe.

2003

20. März Toshihiko Fukui, der bereits zwischen 1994 und 1998 stellvertretender Notenbankgouverneurwar, wird neuer Gouverneur der japanischen Notenbank.

25. März Auf einer Sondersitzung nach Beginn des Irak-Kriegs beschließt die japanische Notenbank,die Grenze für Aktienkäufe von Banken von 2 auf 3 Billionen Yen zu erhöhen. Begründetwird der Schritt damit, dass die Bereitstellung zusätzlicher Liquidität angesichts der Irak-Krise allein nicht ausreiche, die Stabilität des Markts zu sichern. Zudem wird die Ober-grenze für den Aufkauf von Wertpapieren insgesamt praktisch außer Kraft gesetzt. Darüberhinaus verzichtet die Zentralbank auf unbegrenzte Zeit darauf, die Anzahl der Arbeitstage,an denen der Diskontsatz bei der Lombard-Refinanzierung angewandt werden darf, zu be-schränken.

28. März Verabschiedung des Haushalts für das Fiskaljahr 2003 mit einem Gesamtvolumen von81,79 Billionen Yen. Vorgesehen ist ein sehr geringer Anstieg der Staatsausgaben um 0,7 vH,der im Wesentlichen auf die durch die demographische Entwicklung bedingten höheren Ausga-ben für Soziale Sicherung (+ 3,9 vH) zurückzuführen ist. Die vorgesehene Neuemission vonStaatsanleihen beträgt mehr als 36 Billionen Yen (+ 21,5 vH), womit der Anteil an den Gesamt-einnahmen erstmals bei deutlich mehr als 40 vH liegen wird.

1. April Das staatliche Postunternehmen wird in ein Postdienstleistungsunternehmen in der Rechtsformeiner unabhängigen öffentlichen Körperschaft umgewandelt. Das Unternehmen bietet nebendem Postzustelldienst auch Postspardienstleistungen sowie Lebensversicherungen an und stelltsomit die weltgrößte Finanzinstitution dar: Sie hält rund ein Drittel aller privaten japanischenErsparnisse, und ihr Marktanteil an Versicherungsanteilen liegt bei 40 vH.

Ta b e l l e 9

Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

Datum

n o c h Tabelle 9

noch: Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

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Page 81: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Weltwirtschaft: Erholung bei andauernden Unsicherheiten

noch 2003 noch Japan

4. April Die japanische Finanzaufsichtsbehörde veröffentlicht neue Regeln zur Verstaatlichung vonBanken, das heißt zur Umwandlung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien, die der Staat hält, instimmberechtigte Aktien.

30. April Die japanische Notenbank beschließt angesichts der weiterhin volatilen Verfassung der Finanz-märkte und der schwachen konjunkturellen Entwicklung, das Zielband für die von den Ge-schäftsbanken bei ihr gehaltenen Liquiditätsreserven von 17 bis 22 Billionen Yen auf 22 bis27 Billionen Yen zu erhöhen.

8. Mai Die Industrial Revitalization Corporation, die in den nächsten fünf Jahren hochverschuldete,aber insgesamt zukunftsfähige Unternehmen bei ihrer Umstrukturierung unterstützen soll,nimmt ihre Arbeit auf. Sie wird in Höhe von 10 Billionen Yen mit öffentlichen Geldern sowiezusätzlich von Banken und Investmentfonds finanziert. Im Unterschied zur staatlichen Auf-fanggesellschaft, der Resolution and Collection Corporation, kann sie den Kaufpreis für dieKredite selbst bestimmen.

20. Mai Die japanische Notenbank beschließt angesichts der zunehmenden Unsicherheiten über diewirtschaftliche Erholung in den Vereinigten Staaten und in Europa, den unsicheren Folgen derLungenkrankheit SARS, instabilen Aktien- und Devisenmärkten sowie zur Beruhigung der An-leger im Hinblick auf die Verfassung des Bankensystems, das Zielband für die von den Ge-schäftsbanken bei ihr gehaltenen Liquiditätsreserven abermals von 22 bis 27 Billionen Yenauf 27 bis 30 Billionen Yen zu erhöhen.

10. Juni Die Regierung beschließt offiziell die Kapitalspritze in Höhe von 1,96 Billionen Yen für dieResona-Bankengruppe, die die Bankengruppe am 30. Mai 2003 beantragt hatte.

11. Juni Die japanische Notenbank kündigt an, zwischen Juli 2003 und März 2006 für bis zu1 Billion Yen besicherte Anleihen mit einer zumindest zufriedenstellenden Bonität direkt vonFinanzinstituten und Unternehmen kaufen zu wollen. Damit will sie die Deflation bekämpfen,da Unternehmen somit ein alternatives Finanzierungsinstrument zur Verfügung steht.

25. Juli Das japanische Unterhaus verabschiedet ein Gesetz, das es den Lebensversicherern gestattet,ihren Garantiezins in laufenden Verträgen nachträglich zu senken, um dadurch einen Zusam-menbruch abzuwenden. Das Gesetz tritt Ende Juli in Kraft.

20. September Bei den Wahlen zum Vorsitz der Liberaldemokratischen Partei wird Ministerpräsident Koizumiim Amt bestätigt; er betont, den eingeschlagenen Kurs bei den Strukturreformen fortsetzen zuwollen.

10. Oktober Die japanische Notenbank weitet das Zielband für die von den Geschäftsbanken bei ihr gehalte-nen Liquiditätsreserven von 27 bis 30 Billionen Yen auf 27 bis 32 Billionen Yen aus. Darüberhinaus erhält sie die akzeptierte Restlaufzeit von Staatspapieren für Repo-Geschäfte von bis zusechs Monaten auf bis zu ein Jahr. Sie entschließt sich zudem, ihre geldpolitischen Entschei-dungen und ihre Beurteilung der realwirtschaftlichen und monetären Entwicklung rascher undtransparenter nach den geldpolitischen Treffen zu veröffentlichen. Sie bekräftigt, die quantitativexpansive Geldpolitik solange beizubehalten, bis die Kerninflationsrate über mehrere Monatenicht mehr negativ ist.

Ta b e l l e 9

Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

Datum

n o c h Tabelle 9

noch: Ausgewählte wirtschaftspolitische Ereignisse im Ausland

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Page 82: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

II. Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

119. Die wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Raumverlief in diesem Jahr äußerst schwach; das Bruttoin-landsprodukt nahm nur um 0,4 vH gegenüber dem Vor-jahr zu. Bei verhaltener außenwirtschaftlicher Entwick-lung gingen die stärksten Impulse vom privaten Konsumaus. Die Lage der öffentlichen Haushalte im Euro-Raumverschlechterte sich weiter, und einige Mitgliedsländerverfehlten erneut das Defizitkriterium des Stabilitäts-und Wachstumspakts. Deutlich günstiger verlief die kon-junkturelle Entwicklung im Vereinigten Königreich so-wie in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern.Die monetären Rahmenbedingungen im Euro-Raum wa-ren bei sinkenden Leitzinsen und allgemein niedrigenkurzfristigen und langfristigen Realzinsen erneut expan-siv. Von dem weiterhin hohen Liquiditätszuwachs, dervor allem auf Portfolioumschichtungen und das niedrigeZinsniveau zurückzuführen war, ging wie im Vorjahrkein Inflationsdruck aus. Der wegen der verhaltenenkonjunkturellen Entwicklung und der Euro-Aufwertunggeringe realwirtschaftliche Inflationsdruck führte dazu,dass die Inflationsrate auf einem Niveau von durch-schnittlich 2,0 vH verharrte; dies entsprach etwa der imRahmen der Strategierevision konkretisierten Zielvor-gabe von „unter“, aber „nahe 2 vH“. Die Verhandlungenüber die Osterweiterung der Europäischen Union wur-den im Dezember vergangenen Jahres abgeschlossen.Trotz einiger bislang noch bestehender Defizite in denBereichen Marktwirtschaft und Wettbewerb, zwei derKopenhagener Kriterien, werden im Mai 2004 zehn Län-der der Europäischen Union beitreten. Vor dem Hinter-grund der Erweiterung legte der Konvent zur ZukunftEuropas einen Entwurf über eine europäische Verfas-sung vor. Diese soll sowohl die Handlungsfähigkeit ei-ner auf 27 oder mehr Mitglieder erweiterten Europäi-schen Union gewährleisten als auch Demokratie undTransparenz auf europäischer Ebene erhöhen. Um dieHandlungsfähigkeit des geldpolitischen Entscheidungs-gremiums nach der Osterweiterung zu gewährleisten, hatauch der EZB-Rat eine Reform der Abstimmungsregelnbeschlossen. Eine Reform war zudem in der Europäi-schen Agrarpolitik zu verzeichnen. Sie betraf die lang-same Zurückführung der Direktzahlungen und ihre Ent-koppelung von der Produktion. Ein darüber hinausgehender großer Wurf wurde jedoch nicht gewagt.

1. Konjunkturelle Belebung ließ weiter auf sich warten

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung im Euro-Raum

120. Nachdem die wirtschaftliche Aktivität im Euro-Raum bereits in den beiden vergangenen Jahren sehrverhalten gewesen war, ließ sie im Jahr 2003 nahezu jeg-liche Dynamik vermissen. Die für den späteren Jahres-verlauf zunächst erwartete konjunkturelle Belebung fielschwach aus; eine durchgreifende Erholung war nochnicht zu beobachten. Der Zuwachs des Brutto-inlandsprodukts betrug im Euro-Raum nur 0,4 vH undin der Europäischen Union 0,7 vH (Tabelle 10, Seite 58).Berücksichtigt man den statistischen Überhang aus dem

Jahr 2002 in Höhe von 0,3 Prozentpunkten, so zeigtsich, dass die gesamtwirtschaftliche Aktivität im Euro-Raum in diesem Jahr annähernd stagnierte. Nur Grie-chenland und Spanien wiesen mit Zuwachsraten von4,0 vH respektive 2,3 vH eine dynamische Entwicklungauf. Griechenland, wo der durch den Beitritt zum Euro-Raum induzierte Investitionsschub andauerte, erlebte zu-sätzlich eine Sonderkonjunktur durch die Vorbereitun-gen auf die Olympischen Spiele in Athen im kommen-den Jahr. Demgegenüber befanden sich die Niederlandeund Portugal mit Rückgängen des Bruttoinlandsproduktsvon 0,7 vH und 0,8 vH in einer Rezession. Währendnoch im Vorjahr der Außenbeitrag maßgeblich für diewirtschaftliche Dynamik im Euro-Raum verantwortlichgewesen war, bremste er im Jahr 2003 die konjunktu-relle Entwicklung. Der größte Beitrag entfiel auf die Pri-vaten Konsumausgaben, gefolgt vom öffentlichen Kon-sum; die Investitionstätigkeit war wiederum rückläufig.121. Die Privaten Konsumausgaben nahmen in die-sem Jahr mit 1,1 vH stärker zu als im Vorjahr (0,5 vH)und leisteten damit auf der Verwendungsseite den ent-scheidenden Beitrag dafür, dass die Veränderung desBruttoinlandsprodukts positiv ausfiel. Diese relativ ro-buste Entwicklung wurde begünstigt durch die Aufwer-tung des Euro, welche die Importe verbilligte und dieKaufkraft der realen Einkommen erhöhte. Unterstütztdurch die Wechselkursentwicklung stieg der Harmoni-sierte Verbraucherpreisindex (HVPI) im Frühjahr lang-samer und stabilisierte sich im weiteren Jahresverlaufbei Werten um 2 vH, was den Zuwachs der Realeinkom-men der privaten Haushalte im Vergleich zu vormals hö-heren Inflationsraten ebenfalls begünstigte. Zudem er-höhten sich die Kurse an den Aktienmärkten nach denmassiven Kursrückgängen wieder und wirkten positivauf die Vermögen der Verbraucher. Seit ihren Tiefstän-den im März verzeichneten bis Ende Oktober dieses Jah-res beispielsweise der DAX, der französische CAC undder italienische MIB Zuwächse in Höhe von 60 vH,40 vH beziehungsweise 30 vH; der Euro-STOXX 50 ge-wann um 40 vH an Wert. Förderlich für den Konsumwar ferner die Lohnentwicklung der Arbeitnehmer. Diereale Entlohnung je Beschäftigten stieg in diesem Jahrum 0,6 vH; die realen verfügbaren Einkommen erhöhtensich um 1,2 vH. Bei annähernd konstanter Sparquotekonnten somit die Verbrauchsausgaben mit ähnlicherRate zunehmen. Jedoch zeigte der von der EuropäischenKommission erhobene Indikator des Konsumentenver-trauens, der sich nach starken Rückgängen im vergange-nen Winterhalbjahr seit dem zweiten Quartal dieses Jah-res leicht erhöht hat, bis zum Herbst keinedurchgreifende Erholung und lag weit unterhalb seineslangjährigen Durchschnitts (Schaubild 10).122. Die Arbeitsmarktentwicklung im Euro-Raumverlief vor dem Hintergrund der schwachen konjunktu-rellen Lage verhältnismäßig robust. Die Zahl der Be-schäftigten war in diesem Jahr leicht rückläufig, nach-dem Ende der neunziger Jahre jährliche Zuwachsratenvon rund 2 vH verzeichnet worden waren und die Be-schäftigung im Vorjahr noch um 0,5 vH zugenommenhatte. Insgesamt waren im Euro-Raum im Jahr 2003rund 131 Millionen Personen beschäftigt. Bei einer Aus-weitung der Zahl der Erwerbspersonen um 0,5 vH nahm

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Page 83: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

die Arbeitslosigkeit im Jahresverlauf zu; im Jahres-durchschnitt lag die Arbeitslosenquote bei 8,9 vH nach8,4 vH im Vorjahr. Die mit Abstand höchste Arbeits-losenquote wies erneut Spanien auf (11,3 vH); ebensowie die übrigen Mittelmeeranrainerstaaten verzeichne-ten auch Finnland und Deutschland eine überdurch-schnittliche Arbeitslosigkeit. Deutlich günstiger stelltesich die Arbeitsmarktlage nach wie vor in den kleinerenLändern dar, allen voran in Luxemburg, aber selbst inder von einer Rezession betroffenen niederländischenVolkswirtschaft.

123. Die öffentlichen Konsumausgaben erhöhtensich in diesem Jahr um 1,6 vH und damit deutlich gerin-ger als in den Vorjahren, in denen die Zuwächse bei über2 vH gelegen hatten. Die schwächere Ausdehnung desöffentlichen Verbrauchs erstreckte sich über alle Länderdes Euro-Raums; in Portugal und Österreich waren so-gar Rückgänge zu verzeichnen. In dieser Entwicklungspiegeln sich die Bemühungen vieler Länder wider, ihrekonjunkturbereinigten öffentlichen Defizite zu verrin-gern oder auf einem niedrigen Niveau zu halten. Konter-kariert wurden diese Anstrengungen durch zusätzlicheSozialausgaben im Zuge der konjunkturellen Schwächeund des Anstiegs der Arbeitslosigkeit. Im Rahmen derschwachen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung trugendie öffentlichen Konsumausgaben mit einem Beitragvon 0,3 Prozentpunkten gleichwohl maßgeblich zum Zu-wachs des Bruttoinlandsprodukts bei.

124. Nach dem Rückgang im Vorjahr von annähernd3 vH begannen sich die Bruttoanlageinvestitionen imVerlauf dieses Jahres zu stabilisieren. Das Niveau desJahres 2002 wurde im Durchschnitt des Euro-Raums je-doch noch einmal um 1,1 vH unterschritten. DeutlichenInvestitionsausweitungen vor allem in Griechenland, aberauch in Spanien, standen Rückgänge in den meisten übri-gen Ländern gegenüber, insbesondere in Portugal, denNiederlanden und Finnland. Insgesamt lagen in diesemJahr noch keine Voraussetzungen für eine durchgreifendeInvestitionsbelebung vor. Wenngleich die Zinsen auf einsehr niedriges Niveau sanken, blieb das Investitionsum-feld angespannt. Mit der Unsicherheit über die künftigekonjunkturelle Entwicklung in Europa und in den Verei-nigten Staaten und damit über die Produktions- und Ab-satzmöglichkeiten der Unternehmen, dem Druck auf diepreisliche Wettbewerbsfähigkeit im Zuge der Aufwertungdes Euro und der nach wie vor unterdurchschnittlichenKapazitätsauslastung bestanden Hemmnisse, die die Un-ternehmen von (Erweiterungs-) Investitionen in größe-rem Umfang abhielten. Der Auslastungsgrad in der Ver-arbeitenden Industrie nahm bis zum dritten Quartal desJahres weiter ab und blieb mit 80,6 vH unter seinem lang-fristigen Durchschnitt von 82,0 vH. Angesichts zurück-haltender Produktionserwartungen wurden die bestehen-den Produktionskapazitäten in einem Großteil derUnternehmen als ausreichend erachtet. Neben den rück-läufigen Ausrüstungsinvestitionen wirkte auch die Bau-konjunktur bremsend; hierfür war die Entwicklung inPortugal und vor allem in Deutschland verantwortlich.Die zurückhaltende private Bauinvestitionstätigkeitwurde zum Teil durch öffentliche Investitionen – mit ei-nem Zuwachs von über 2,0 vH – kompensiert.

S c h a u b i l d 10

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J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

Konjunkturindikatoren für den Euro-RaumSaisonbereinigt

Durchschnitt 1991 bis 2002

Kapazitätsauslastung4)

Vertrauensindikatoren1)

Indikator des Vertrauens in derVerarbeitenden Industrie2)

Indikator des Verbrauchervertrauens3)

0 0

80

83

86

80

83

86

I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV2000 2001 2002 2003

Durchschnitt für die Verarbeitende Industrie 1991 bis 2002

Durchschnitt für das Verbrauchervertrauen 1991 bis 2002

Quelle: EU

1) Saldo zwischen dem jeweiligen Prozentsatz der positiven und ne-gativen Antworten.– 2) Arithmetisches Mittel aus den Indikatoren:Produktionsaussichten, Fertigwarenlager und Auftragsbestand.–3) Der Indikator entspricht dem arithmetischen Mittel der Ergebnisseauf fünf Fragen, nämlich der zwei Fragen über die finanzielle Lageder Haushalte (jeweils in den letzten und den nächsten 12 Monaten),der zwei Fragen über die allgemeine Wirtschaftslage (jeweils in denletzten und den nächsten 12 Monaten) und der Frage nach dengrößeren Anschaffungen.– 4) Nach Befragung der Unternehmen inder Verarbeitenden Industrie.

SaldoSaldo

SR 2003 - 12 - 0603

vH vH

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Page 84: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Ta b e l l e 10

Wirtschaftsdaten für die Länder der Europäischen Union

2000 2001 2002 20034) 2000 2001 2002 20034) 2000 2001 2002 20034)

Belgien + 3,8 + 0,6 + 0,7 + 0,8 + 3,4 + 0,8 + 1,1 + 1,6 + 2,7 + 2,7 + 0,1 + 1,8 Deutschland + 2,9 + 0,8 + 0,2 - 0,0 + 2,0 + 1,4 - 1,0 + 0,2 + 1,0 + 1,0 + 1,7 + 0,6 Finnland + 5,1 + 1,2 + 2,2 + 1,3 + 3,1 + 2,0 + 1,5 + 3,2 + 0,0 + 2,2 + 4,0 + 1,7 Frankreich + 3,8 + 2,1 + 1,2 + 0,2 + 2,6 + 2,7 + 1,2 + 1,4 + 2,8 + 2,9 + 4,1 + 2,5

Griechenland5) + 4,4 + 4,0 + 3,8 + 4,0 + 2,0 + 2,9 + 2,8 + 2,9 + 2,2 - 1,0 + 5,1 + 3,6 Irland +10,1 + 6,2 + 6,9 + 1,6 + 8,3 + 5,3 + 2,0 + 2,0 + 8,4 +11,5 +10,7 + 3,5 Italien + 3,1 + 1,8 + 0,4 + 0,4 + 2,7 + 1,0 + 0,4 + 1,9 + 1,6 + 3,6 + 1,7 + 1,5 Luxemburg + 9,1 + 1,2 + 1,3 + 1,3 + 4,6 + 4,5 + 2,3 + 1,8 + 4,8 + 7,0 + 4,2 + 3,7 Niederlande + 3,5 + 1,2 + 0,2 - 0,7 + 3,5 + 1,4 + 0,8 - 1,0 + 2,0 + 4,2 + 3,8 + 0,8 Österreich + 3,4 + 0,8 + 1,4 + 0,8 + 3,3 + 1,4 + 0,8 + 1,2 - 0,1 - 1,4 + 0,1 - 0,2 Portugal + 3,7 + 1,6 + 0,4 - 0,8 + 2,6 + 1,2 + 0,6 - 0,9 + 4,0 + 3,4 + 2,9 - 0,9 Spanien + 4,2 + 2,8 + 2,0 + 2,3 + 4,0 + 2,8 + 2,6 + 3,1 + 5,1 + 3,6 + 4,4 + 3,8

Euro-Raum6) + 3,5 + 1,6 + 0,9 + 0,4 + 2,7 + 1,8 + 0,5 + 1,1 + 2,1 + 2,4 + 2,8 + 1,6 Dänemark + 2,9 + 1,4 + 2,1 + 0,7 - 1,9 + 0,4 + 1,9 + 0,9 + 1,1 + 2,1 + 2,1 + 0,9 Schweden + 4,4 + 1,1 + 1,9 + 1,4 + 4,9 + 0,2 + 1,3 + 1,8 - 1,1 + 0,9 + 2,1 + 0,8 Vereinigtes Königreich + 3,8 + 2,1 + 1,7 + 2,0 + 4,6 + 3,1 + 3,6 + 2,4 + 1,9 + 1,7 + 2,4 + 3,7 EU-15 + 3,6 + 1,7 + 1,0 + 0,7 + 3,0 + 2,0 + 1,0 + 1,3 + 1,9 + 2,3 + 2,7 + 1,8

Industrieproduktion2) Erwerbstätige2) Arbeitslosenquote8)

2000 2001 2002 20037) 2000 2001 2002 20034) 2000 2001 2002 20034)

Belgien + 5,4 - 3,3 + 1,3 - 0,6 + 1,9 + 1,5 - 0,3 + 0,0 6,9 6,7 7,3 8,1Deutschland + 6,2 + 0,5 - 1,1 + 0,5 + 1,8 + 0,4 - 0,6 - 1,4 7,8 7,8 8,6 9,3Finnland +11,9 + 0,1 + 1,7 + 0,5 + 1,8 + 1,5 + 0,4 + 0,1 9,8 9,1 9,1 9,3Frankreich + 3,6 + 1,1 - 1,0 - 0,5 + 2,6 + 1,8 + 0,8 + 0,6 9,3 8,5 8,8 9,4

Griechenland5) + 0,5 + 1,4 + 0,4 + 1,5 + 0,3 - 0,3 + 0,1 + 0,3 11,0 10,4 10,0 9,5Irland +15,4 +10,2 + 7,8 + 5,7 + 4,7 + 3,0 + 1,3 + 1,3 4,3 3,9 4,4 4,9Italien + 4,1 - 1,2 - 1,3 - 0,6 + 1,9 + 1,9 + 1,4 + 1,2 10,4 9,4 9,0 8,8Luxemburg + 4,2 + 1,8 + 1,0 + 2,5 + 5,6 + 5,7 + 3,2 + 2,0 2,3 2,1 2,8 3,7Niederlande + 4,0 + 1,4 - 2,1 - 1,4 + 2,2 + 1,8 + 0,9 + 0,3 2,8 2,4 2,7 4,2Österreich + 8,8 + 0,8 + 0,1 + 2,3 + 0,7 + 0,6 - 0,2 - 0,2 3,7 3,6 4,3 4,5Portugal - 2,0 + 3,1 - 0,3 + 0,1 + 2,3 + 1,6 + 0,7 + 0,7 4,1 4,1 5,1 6,6Spanien + 4,5 - 1,5 + 0,2 + 1,2 + 3,5 + 2,3 + 1,5 + 1,8 11,3 10,6 11,3 11,3

Euro-Raum6) + 5,0 + 0,3 - 0,5 + 0,2 + 2,2 + 1,4 + 0,5 + 0,5 8,4 8,0 8,4 8,9Dänemark + 6,2 + 1,7 + 0,0 + 0,8 + 0,5 + 0,4 - 0,6 + 0,1 4,4 4,3 4,5 5,6Schweden + 6,8 - 1,1 - 0,7 + 0,3 + 2,5 + 1,9 + 0,2 + 0,1 5,6 4,9 4,9 5,5Vereinigtes Königreich + 1,7 - 2,3 - 3,5 - 0,6 + 1,1 + 0,6 + 0,1 + 0,7 5,4 5,0 5,1 5,0 EU-15 + 4,6 + 0,0 - 1,0 + 0,1 + 2,0 + 1,2 + 0,4 + 0,6 7,8 7,4 7,7 8,1

Zinssätze in Prozent p.a.

kurzfristig9) langfristig10)

2000 2001 2002 2003 2000 2001 2002 2003 2000 2001 2002 2003Belgien X X X X 5,6 5,1 5,0 4,1 X X X XDeutschland X X X X 5,3 4,8 4,8 4,0 X X X XFinnland X X X X 5,5 5,0 5,0 4,1 X X X XFrankreich X X X X 5,4 4,9 4,9 4,1 X X X X

Griechenland5) 7,7 X X X 6,1 5,3 5,1 4,2 +11,1 X X XIrland X X X X 5,5 5,0 5,0 4,1 X X X XItalien X X X X 5,6 5,2 5,0 4,2 X X X XLuxemburg . . . . 5,5 4,9 4,7 3,3 X X X XNiederlande X X X X 5,4 5,0 4,9 4,1 X X X XÖsterreich X X X X 5,6 5,1 5,0 4,1 X X X XPortugal X X X X 5,6 5,2 5,0 4,1 X X X XSpanien X X X X 5,5 5,1 5,0 4,1 X X X X

Euro-Raum6) 4,4 4,3 3,3 2,4 5,4 5,0 4,9 4,1 + 4,3 + 8,0 + 6,6 + 7,8 Dänemark 5,0 4,7 3,5 2,5 5,6 5,1 5,1 4,2 - 3,2 + 7,9 +10,7 +20,2 Schweden 4,1 4,1 4,2 3,3 5,4 5,1 5,3 4,6 + 2,8 + 6,7 + 4,5 + 4,8 Vereinigtes Königreich 6,2 5,0 4,1 3,7 5,3 5,0 4,9 3,9 +11,4 +10,8 + 4,3 - 3,7 EU-15 4,8 4,4 3,5 2,6 5,4 5,0 4,9 4,1 + 5,6 + 9,1 + 4,6 + 5,3 1) In Preisen von 1995. - 2) Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH. - 3) Einschließlich Konsumausgaben der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck. - 4) Eigene Schätzung. - 5) Bis 2000 nicht Mitglied in der Europäischen Währungsunion. - 6) Ab 2001 einschließlich Griechen-land . - 7) Für Finnland und Portugal: Januar bis September. Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Nieder-lande, Schweden, Spanien und Vereinigtes Königreich: Januar bis August. Für Griechenland: Januar bis Juli. Für Österreich: Januar bis März. - 8) Von der EU harmonisierte Arbeitslosenquoten. Arbeitslose in vH der Erwerbspersonen. - 9) Für Dreimonatsgeld. Für 2003 Durchschnitt der Monate Januar bis September. - 10) Von der EU harmonisierte Staatsanleihen (einschließlich Reihen des Konvergenzkriteriums der WWU) mit einer Restlaufzeit von mindestens 10 Jahren. Für 2003 Durchschnitt der Monate Januar bis September. - 11) Jahresdurchschnitte; für 2003: Mo-natsdurchschnitte Januar bis August 2003; für Dänemark: Januar bis September 2003.

Land/Ländergruppe

Land/Ländergruppe

Land/Ländergruppe

Geldmenge M32)11)

Bruttoinlandsprodukt1)2) Konsumausgaben

der Privaten Haushalte1)2)3) des Staates1)2)

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Page 85: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

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Wirtschaftsdaten für die Länder der Europäischen Union

2000 2001 2002 20034) 2000 2001 2002 20034) 2000 2001 2002 20034)

+ 4,4 + 0,3 - 2,5 + 0,0 + 8,4 + 1,3 + 1,0 - 1,7 + 8,5 + 1,1 + 1,2 - 0,8 Belgien+ 2,7 - 4,2 - 6,7 - 1,9 +13,7 + 5,6 + 3,4 + 1,1 +10,5 + 0,9 - 1,7 + 1,4 Deutschland+ 4,1 + 4,3 - 4,0 - 2,9 +19,3 - 0,8 + 4,9 + 1,7 +16,9 + 0,2 + 1,3 + 1,0 Finnland+ 7,7 + 2,3 - 1,6 - 1,2 +12,6 + 1,6 + 1,5 - 1,8 +14,6 + 1,3 + 0,6 + 1,3 Frankreich

+ 8,0 + 6,5 + 5,7 + 8,8 +14,1 - 1,1 - 7,7 + 1,5 + 8,9 - 3,4 - 4,7 + 2,3 Griechenland5)

+ 7,1 + 0,2 + 1,5 - 1,0 +20,6 + 8,3 + 6,2 - 4,0 +21,3 + 6,5 + 2,3 - 5,2 Irland+ 7,1 + 2,6 + 0,5 - 2,1 +11,7 + 1,1 - 1,0 - 2,4 + 8,9 + 1,0 + 1,5 + 1,4 Italien- 3,5 +10,1 - 1,4 - 1,6 +16,8 + 2,6 - 0,3 + 0,2 +14,8 + 4,8 - 1,6 + 0,8 Luxemburg+ 1,4 - 0,1 - 4,5 - 3,0 +11,3 + 1,7 + 0,1 + 0,7 +10,5 + 2,4 - 0,2 + 0,9 Niederlande+ 6,2 - 2,3 - 2,8 + 2,1 +13,4 + 7,5 + 3,7 + 1,0 +11,6 + 5,9 + 1,2 + 1,0 Österreich+ 4,4 + 0,1 - 5,1 - 9,2 + 8,0 + 1,9 + 2,1 + 2,6 + 5,4 + 0,9 - 0,5 - 3,0 Portugal+ 5,7 + 3,3 + 1,0 + 2,8 +10,0 + 3,6 - 0,0 + 4,0 +10,6 + 4,0 + 1,8 + 6,6 Spanien

+ 4,9 - 0,1 - 2,9 - 1,1 +12,6 + 3,3 + 1,7 - 0,0 +11,3 + 1,8 + 0,1 + 1,6 Euro-Raum6)

+ 8,6 + 2,1 + 0,3 - 2,2 +13,0 + 3,0 + 5,8 + 2,1 +11,3 + 1,9 + 4,2 + 1,2 Dänemark+ 6,6 + 0,8 - 2,5 - 1,0 +11,3 - 0,8 + 0,4 + 4,1 +11,5 - 3,5 - 2,7 + 4,5 Schweden+ 3,6 + 3,6 + 1,8 + 3,1 + 9,4 + 2,5 - 0,9 - 0,7 + 9,1 + 4,5 + 3,6 + 0,9 Vereinigtes Königreich+ 4,9 + 0,4 - 2,2 - 0,6 +12,2 + 3,0 + 1,5 + 0,1 +10,9 + 2,0 + 0,6 + 1,5 EU-15

Lohnstückkosten2)13) Erzeuger- /Großhandelspreise2)14) Verbraucherpreise2)15)

2000 2001 2002 20034) 2000 2001 2002 200316) 2000 2001 2002 20034)

+ 0,2 + 4,5 + 3,2 + 1,1 + 9,8 - 0,5 - 0,3 + 0,2 + 2,7 + 2,4 + 1,6 + 1,5 Belgien+ 1,0 + 1,3 + 0,7 + 0,6 + 3,2 + 1,4 + 0,3 + 1,0 + 1,4 + 1,9 + 1,3 + 1,1 Deutschland+ 0,9 + 5,0 + 0,4 + 1,4 + 9,7 - 1,1 - 2,4 - 0,3 + 3,0 + 2,7 + 2,0 + 1,3 Finnland+ 1,2 + 2,3 + 2,3 + 2,5 + 2,0 + 1,1 - 0,1 + 0,6 + 1,8 + 1,8 + 1,9 + 2,0 Frankreich

+ 1,6 + 0,9 + 4,5 + 3,3 + 5,2 + 2,8 + 2,6 + 2,7 + 2,9 + 3,7 + 3,9 + 3,6 Griechenland5)

+ 2,8 + 5,7 - 0,3 + 4,3 + 6,9 + 1,6 - 1,1 - 7,9 + 5,3 + 4,0 + 4,7 + 4,1 Irland+ 1,7 + 2,9 + 3,1 + 3,7 + 6,1 + 1,9 + 0,2 + 2,2 + 2,6 + 2,3 + 2,6 + 2,8 Italien+ 1,4 + 8,2 + 5,1 + 3,0 + 4,7 + 0,3 - 1,1 + 2,2 + 3,8 + 2,4 + 2,1 + 2,3 Luxemburg+ 3,1 + 5,5 + 4,9 + 3,9 +11,6 + 1,4 - 1,0 + 3,4 + 2,3 + 5,1 + 3,9 + 2,4 Niederlande- 0,2 + 1,3 + 0,8 + 1,6 + 4,0 + 1,6 - 0,4 + 1,4 + 2,0 + 2,3 + 1,7 + 1,3 Österreich+ 4,1 + 5,2 + 5,1 + 2,5 +15,1 + 2,7 + 0,4 + 1,2 + 2,8 + 4,4 + 3,7 + 3,3 Portugal+ 3,1 + 3,4 + 3,3 + 3,5 + 5,5 + 1,8 + 0,6 + 1,9 + 3,5 + 2,8 + 3,6 + 3,2 Spanien

+ 1,4 + 2,6 + 2,3 + 2,2 + 5,1 - 1,8 + 0,1 + 1,3 + 2,1 + 2,4 + 2,3 + 2,0 Euro-Raum6)

+ 1,4 + 3,7 + 1,2 + 2,2 + 4,1 + 2,9 + 1,0 + 0,5 + 2,7 + 2,3 + 2,4 + 2,1 Dänemark+ 5,0 + 5,8 + 2,1 + 2,0 + 4,2 + 1,6 - 0,6 - 0,5 + 1,3 + 2,7 + 2,0 + 2,2 Schweden+ 3,2 + 3,1 + 2,6 + 2,8 + 2,6 + 0,2 + 0,3 + 1,5 + 0,8 + 1,2 + 1,3 + 1,4 Vereinigtes Königreich+ 1,9 + 2,8 + 2,3 + 2,2 + 4,6 + 1,2 + 0,2 + 1,3 + 1,9 + 2,2 + 2,1 + 1,9 EU-15

2000 2001 2002 20034) 2000 2001 2002 20034) 2000 2001 2002 20034)

+ 4,1 + 4,0 + 4,7 + 4,9 49,4 49,4 50,3 51,1 + 0,2 + 0,6 + 0,1 - 0,1 Belgien- 1,4 + 0,2 + 2,7 + 2,4 45,7 48,3 48,5 49,2 + 1,3 - 2,8 - 3,5 - 4,1 Deutschland+ 7,6 + 7,2 + 7,6 + 6,6 49,0 49,1 50,0 50,9 + 7,1 + 5,2 + 4,2 + 2,5 Finnland+ 1,3 + 1,6 + 2,0 + 0,8 52,6 52,5 53,5 54,7 - 1,4 - 1,5 - 3,1 - 4,1 Frankreich

- 6,9 - 6,2 - 6,4 - 5,5 49,8 47,8 46,9 46,3 - 1,9 - 1,5 - 1,2 - 1,7 Griechenland5)

- 0,4 - 0,7 - 0,7 - 0,7 32,1 33,9 33,3 34,8 + 4,4 + 0,9 - 0,2 - 1,0 Irland- 0,6 - 0,1 - 0,6 - 0,8 46,9 48,5 47,7 48,5 - 0,6 - 2,6 - 2,3 - 2,7 Italien+13,6 + 9,0 +10,9 +10,0 38,5 39,1 44,2 48,0 + 6,4 + 6,1 + 2,5 - 0,4 Luxemburg+ 2,2 + 2,0 + 1,4 + 2,4 45,3 46,6 47,5 48,5 + 2,2 + 0,0 - 1,6 - 2,4 Niederlande- 2,6 - 1,9 + 0,4 + 0,0 52,4 51,8 51,3 51,2 - 1,5 + 0,3 - 0,2 - 1,2 Österreich-10,9 - 9,4 - 7,1 - 5,0 45,2 46,3 46,1 46,9 - 2,8 - 4,2 - 2,7 - 3,0 Portugal- 3,4 - 2,8 - 2,4 - 2,9 39,8 39,5 39,8 39,8 - 0,8 - 0,3 + 0,1 + 0,0 Spanien

- 0,5 + 0,2 + 1,1 + 1,1 47,1 48,1 48,3 49,0 + 0,2 - 1,6 - 2,2 - 2,9 Euro-Raum6)

+ 1,5 + 3,1 + 2,5 + 3,0 54,7 55,3 55,5 55,4 + 2,6 + 3,1 + 2,1 + 1,2 Dänemark+ 3,9 + 3,9 + 4,1 + 3,8 57,4 57,1 58,5 59,0 + 3,4 + 4,5 + 1,3 + 0,2 Schweden- 2,1 - 1,8 - 1,8 - 2,2 39,3 40,2 40,7 42,8 + 3,8 + 0,7 - 1,5 - 2,9 Vereinigtes Königreich- 0,6 + 0,0 + 0,7 + 0,7 46,1 47,1 47,4 48,4 + 1,0 - 0,9 - 1,9 - 2,7 EU-15

12) Waren und Dienstleistungen. - 13) Arbeitnehmerentgelte in Relation zum realen Bruttoinlandsprodukt. Gesamtwirtschaft. - 14) Erzeuger-preise: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Schweden, Spanien, Vereinig-tes Königreich. Großhandelspreise: Österreich, Griechenland (Industriegüter). - 15) Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI). - 16) 1. Halb-jahr 2003 gegenüber 1. Halbjahr 2002. - 17) Leistungsbilanzsaldo in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH. - 18) Staatsausgaben in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH; ab 2000 mit Griechenland. - 19) Finanzierungsdefizit (-) / -überschuss (+) des Staates in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH; ab 2000 mit Griechenland. Deutschland: 2000 einschließlich UMTS-Erlöse.

Quellen: EU, OECD

Importe1)2)12)

Leistungsbilanzsaldo17) Staatsquote18)

Land/Ländergruppe

Land/Ländergruppe

Land/Ländergruppe

Finanzierungssaldo19)

Bruttoanlageinvestitionen1)2) Exporte1)2)12)

59

Page 86: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

125. Im Gegensatz zu früheren Jahren ging vom Au-ßenbeitrag in diesem Jahr kein positiver Impuls auf diekonjunkturelle Entwicklung im Euro-Raum aus. Die Ex-porte von Waren und Dienstleistungen stagnierten, nacheiner Zunahme von 1,7 vH im Vorjahr. Durch die Aus-dehnung der Importe um 1,6 vH – nach 0,1 vH imVorjahr – verringerte sich der Außenbeitrag. Eine Aus-weitung der Exporte wurde im Wesentlichen durch zweiFaktoren verhindert: Zum einen stellte sich die weltwirt-schaftliche Lage als zu labil dar, so dass von außerhalbdes Euro-Raums keine starken zusätzlichen Nachfrage-impulse ausgingen. Zum anderen wirkte sich die Auf-wertung des Euro negativ auf die preisliche Wettbe-werbsfähigkeit der europäischen Unternehmen aus.Wenngleich der im Jahresverlauf starke Aufwertungs-druck zwischenzeitlich abnahm, stieg der reale effektiveWechselkurs des Euro (gegenüber 38 Handelspartnerlän-dern) in den ersten neun Monaten des Jahres um 5,4 vH.Zwar wirkt eine Aufwertung in der Regel erst mit mehr-monatiger Verzögerung auf das Außenhandelsvolumen– insbesondere aufgrund von Währungssicherungsge-schäften und kurzfristigen Inflexibilitäten auf Seiten derausländischen Abnehmer –, nachdem der Euro jedochbereits im vergangenen Jahr deutlich an Wert gewonnenhatte, ergaben sich im gesamten Jahresverlauf wäh-rungsbedingte Belastungen für den Export. Vor diesemHintergrund überrascht es nicht, dass im Jahr 2003 dieLieferungen von Waren in Länder außerhalb des Wäh-rungsgebiets stärker zurückgingen als die Ausfuhren in-nerhalb des Euro-Raums.

Seit Beginn der dritten Stufe der Europäischen Wäh-rungsunion im Jahr 1999 hat sich die regionale Vertei-lung des Güteraustauschs weiter zu Gunsten des Euro-Raums verschoben. Während die gesamten Warenaus-fuhren des Euro-Raums im Zeitraum der Jahre 1999bis 2002 um 32,7 vH zunahmen, wurden innerhalb desEuro-Raums 35,2 vH mehr Waren grenzüberschreitendgehandelt; die Ausfuhren in Drittländer erhöhten sichum 30,2 vH. Hinsichtlich der Importe war der Unter-schied der Zuwachsraten zwischen den beiden Regionenmit annähernd neun Prozentpunkten noch größer. Somitkonnte der Anteil der Wareneinfuhren aus dem Euro-Raum an allen Wareneinfuhren um 1,7 Prozentpunkteauf 49,0 vH zulegen, dies entspricht einem Wert von977 Mrd Euro. Der entsprechende Anteil der Wa-renexporte stieg um rund einen Prozentpunkt und be-trug im vergangenen Jahr erstmals mehr als 50 vH(1 078 Mrd Euro). Diese Entwicklung der regionalenAußenhandelsstruktur der Länder des Euro-Raums inden ersten vier Jahren der Europäischen Währungsu-nion deutet darauf hin, dass ein Ziel der Gemeinschafts-währung, die Intra-EWU-Handelsbewegungen zu inten-sivieren, bereits erreicht wird. Nach Schätzungen derEuropäischen Kommission sind je nach Ansatz zwischen7 vH und 18 vH des zusätzlichen Handels auf den Ein-fluss der Währungsunion zurückzuführen. Die starke Zu-nahme des Gesamthandelsvolumens liefert zudem einenHinweis darauf, dass durch die Gemeinschaftswährungzusätzlicher Handel induziert wurde. Die Daten spre-chen nicht dafür, dass durch den Rückgang der wäh-rungsbedingten Transaktionskosten im Euro-Raum der

Handel mit Drittstaaten in bedeutendem Maße umge-lenkt wurde.

126. Auf der Entstehungsseite hat der Dienstleistungs-bereich, aus dem rund zwei Drittel der Wertschöpfungdes Euro-Raums stammen, im Vergleich zu den vergan-genen Jahren an Kraft eingebüßt. Ursächlich hierfür warunter anderem, dass in den Vorjahren stärkere Impulsevon Deregulierungsmaßnahmen auf den Gütermärkten– wie beispielsweise im Telekommunikationsbereich –ausgingen, als dies in diesem Jahr der Fall war. Zudementwickelte sich der Bereich der Informations- undKommunikationstechnologien seit dem Boom zu Beginndes Jahrzehnts moderater. Bremsend auf den Dienstleis-tungsbereich wirkten ferner die weltweiten politischenUnsicherheiten, die insbesondere die Tourismusbranchenicht unberührt ließen. Schließlich litten Finanzdienst-leister unter dem starken Rückgang der Aktienkurse inden zurückliegenden Jahren. In der Folge war eine zu-rückhaltendere und risikoaversere Geschäftstätigkeit zubeobachten.

127. Auch die Produktion im Verarbeitenden Ge-werbe verlief äußerst schleppend. In den ersten achtMonaten des Jahres ging die Industrieproduktion (ohneBaugewerbe) um 0,4 vH zurück; im Vorjahresvergleichentspricht dies einem Rückgang von 0,3 vH. DieseWerte korrespondierten zunächst mit schwach ausge-prägten Indikatoren des Industrievertrauens im erstenHalbjahr 2003. Erst im Herbst dieses Jahres hellten sichdie Stimmungsindikatoren auf. Das Vertrauen in derBauwirtschaft blieb weiterhin gedämpft. Dort ent-wickelte sich die Produktion mit einer Zunahme von1,4 vH in den ersten sechs Monaten des Jahres nur etwasgünstiger als in der Industrie; wiederum bremste dieschwache deutsche Baukonjunktur maßgeblich. Belas-tend wirkten neben den Konsolidierungsprozessen inden öffentlichen Haushalten einiger Länder die pessi-mistischen Konjunkturerwartungen der Unternehmenwie der privaten Haushalte, die sich in der Folge beiBauvorhaben zurückhielten.

128. Die Lage der öffentlichen Finanzen in den Län-dern des Euro-Raums hat sich als Folge der konjunk-turellen Schwäche weiter verschlechtert; mit Ausnahmevon Finnland und Spanien wiesen im Jahr 2003 die öf-fentlichen Haushalte aller Mitgliedsländer negative Fi-nanzierungssalden auf (Tabelle 11). Damit verfehltenbeinahe sämtliche Länder die Vorgaben ihrer aktuellenStabilitätsprogramme, denen zu optimistische Konjunk-turerwartungen zugrunde lagen. Das aggregierte Defizitder Länder des Euro-Raums, das bereits im vergangenenJahr auf 2,2 vH in Relation zum nominalen Bruttoin-landsprodukt angestiegen war, verschlechterte sich nocheinmal und betrug in diesem Jahr 2,9 vH. Es ist jedochzu berücksichtigen, dass die Defizitausweitung – mitAusnahme von Frankreich – überwiegend konjunkturellbedingt ist. Das konjunkturbereinigte Defizit sank ge-mäß Berechnungen der Europäischen Kommission indiesem Jahr leicht um 0,1 Prozentpunkte auf 2,3 vH. Da-mit stellt sich die Haushaltssituation für die meisten der-

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

jenigen Länder, deren Konsolidierungsbemühungen dervergangenen Jahre bereits zu einem (nahezu) ausgegli-chenen konjunkturbereinigten Haushalt führten, als ver-hältnismäßig unproblematisch dar. Im Zuge der Auswei-tung der nicht bereinigten Defizite stieg nach Jahren derRückführung die gesamtstaatliche Schuldenstandsquoteerstmals wieder. Der aggregierte öffentliche Schulden-stand der Länder des Euro-Raums erhöhte sich um1,2 Prozentpunkte und betrug in diesem Jahr 70,2 vH inRelation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt.

129. Deutschland und Frankreich überschritten – zumwiederholten Male – die im Stabilitäts- und Wachstum-spakt festgeschriebene Obergrenze für das gesamtstaat-liche Defizit von 3 vH. Auch die Schuldenstände nah-men in diesen Ländern besonders stark zu. Durch einenZuwachs der Schuldenstandsquote um 3,0 Prozent-punkte stieg die gesamtstaatliche Verschuldung inFrankreich in diesem Jahr auf 62,0 vH und lag damiterstmals oberhalb der Grenze von 60 vH in Relationzum nominalen Bruttoinlandsprodukt; in Deutschlandnahm die entsprechende Quote um 3,4 Prozentpunkteauf 64,2 vH zu.

130. Bereits im November vergangenen Jahres als– auf Basis der Herbstvorausschätzungen der Europäi-schen Kommission und zuvor durch eine entsprechende

Meldung des Bundesfinanzministers – deutlich wurde,dass Deutschland im Jahr 2002 das 3-vH-Kriterium ver-fehlen würde – das Defizit belief sich schließlich auf3,5 vH –, verabschiedete die Brüsseler Behörde einenBericht zur Lage der Staatsfinanzen in Deutschland undleitete damit ein Verfahren bei einem übermäßigenDefizit gemäß Artikel 104 Absatz 3 EG-Vertrag ein. An-fang Januar 2003 legte die Europäische Kommission ineinem weiteren Schritt gemäß Artikel 104 Absatz 5 EG-Vertrag dem ECOFIN-Rat eine Stellungnahme vor, inder sie zu dem Schluss kam, dass in Deutschland einübermäßiges Defizit bestehe. Der ECOFIN-Rat schlosssich wenig später dieser Auffassung an und führte dasStrafverfahren fort. Deutschland wurde eine Frist biszum 21. Mai dieses Jahres gesetzt, wirksame Maßnah-men zur Rückführung des Haushaltsfehlbetrags zu er-greifen. Es wurde betont, dass das übermäßige Defizitweder aus ungewöhnlichen Ereignissen, die Deutschlandnicht zu vertreten habe, noch aus einer (ernsten) Rezes-sion resultiere. Vielmehr seien die Ursachen in einemseit dem Jahr 2000 gestiegenen konjunkturbereinigtenDefizit, in einer Unterschätzung der Folgen der Körper-schaftsteuerreform und in Ausgabenüberschreitungeninsbesondere im Gesundheitswesen zu suchen. Deutsch-land erhielt die Auflage, das öffentliche Defizit imJahr 2003 zurückzuführen, jedoch nur, falls der Zuwachsdes Bruttoinlandsprodukts nicht deutlich schlechter

Ta b e l l e 11

Ist Planung3) Ist Planung3)

2002 20034) 2003 2004 2005 2006 2002 20034) 2003 2004 2005 2006

Belgien .................... + 0,1 - 0,1 + 0 + 0,3 + 0,5 . 106,1 103,9 102,3 97,9 93,6 .

Deutschland ............ - 3,5 - 4,1 - 2,8 - 1,5 - 1,0 + 0 60,8 64,2 61,5 60,5 59,5 57,5

Finnland .................. + 4,2 + 2,5 + 2,7 + 2,1 + 2,6 + 2,8 42,7 39,2 41,9 41,9 41,4 40,7

Frankreich ............... - 3,1 - 4,1 - 2,6 - 2,1 - 1,6 - 1,0 59,0 62,0 59,1 58,9 58,3 57,0

Griechenland ........... - 1,2 - 1,7 - 0,9 - 0,4 + 0,2 + 0,6 104,7 98,6 100,2 96,1 92,1 87,9

Irland ....................... - 0,2 - 1,0 - 0,7 - 1,2 - 1,2 . 32,4 32,4 34,0 34,5 34,9 .

Italien ...................... - 2,3 - 2,7 - 1,5 - 0,6 - 0,2 + 0,1 106,7 105,9 105,0 100,4 98,4 96,4

Luxemburg .............. + 2,4 - 0,4 - 0,3 - 0,7 - 0,1 . 5,7 5,9 4,1 3,8 2,9 .

Niederlande ............. - 1,6 - 2,4 - 1,0 - 0,7 - 0,4 + 0,1 52,4 53,7 51,2 49,0 47,4 45,3

Österreich ................ - 0,2 - 1,2 + 0 + 0,2 + 0,5 . 66,7 66,5 57,2 54,7 52,1 .

Portugal.................... - 2,7 - 3,0 - 2,4 - 1,9 - 1,1 - 0,5 58,1 59,6 58,7 57,5 55,3 52,6

Spanien ................... + 0,1 + 0,0 + 0 + 0 + 0,1 + 0,2 53,8 50,6 53,1 51,0 49,0 46,9

Euro-Raum ............. - 2,2 - 2,9 - 1,8 - 1,1 - 0,7 . 69,0 70,2 68,6 66,8 65,4 .

Dänemark ............... + 1,9 + 1,2 + 2,2 + 2,5 + 2,4 + 2,2 45,5 43,0 42,1 39,2 36,7 24,6

Schweden ................ + 1,3 + 0,2 + 1,5 + 1,6 . . 52,7 50,7 50,9 49,3 . .

Vereinigtes

Königreich ............ - 1,5 - 2,9 - 2,2 - 1,7 - 1,6 - 1,6 38,5 39,7 38,8 38,9 38,9 39,1

1) Finanzierungsdefizit (-) / -überschuss (+) des Staates in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (ESVG 1995) in Rela-tion zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH. - 2) Schuldenstand in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH gemäß Maastricht-Vertrag. - 3) Gemäß den Stabilitätsprogrammen der Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion sowie den Konvergenzprogrammen derübrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom Oktober 2002 bis Januar 2003. - 4) Eigene Schätzung.

Quelle: EU

Finanzplanung der öffentlichen Hand in den Ländern der Europäischen Union

Finanzierungssaldo1) Schuldenstand2)

Länder

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Page 88: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

ausfällt als im Haushalt unterstellt – seinerzeit rechnetedie deutsche Bundesregierung mit einer Rate von 1 vH.

Für den Fall, dass nach 2003 auch im kommenden Jahrdie Grenze von 3 vH überschritten werden sollte, drohenDeutschland gemäß Artikel 104 Absatz 11 EG-Vertragprinzipiell Sanktionen; im Regelfall sollen dies unver-zinsliche Einlagen beziehungsweise Geldbußen in Höhevon bis zu 0,5 vH in Relation zum nominalen Bruttoin-landsprodukt sein. Eine derartige Sanktion würde indeserst einige Jahre nach dem Auftreten des Defizits fällig,da Artikel 3 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97,die Artikel 104 EG-Vertrag konkretisiert, vorsieht, dassdie Korrektur eines übermäßigen Defizits nicht im Fol-gejahr der Realisierung, sondern erst im Folgejahr derFeststellung erreicht werden soll. Gegenwärtig ruht dasDefizitverfahren gegen Deutschland. Ein derartiges Ver-fahren wird beendet, sobald das betroffene Land die3-vH-Grenze erstmals wieder unterschreitet, unabhängigdavon, in welchem Stadium des Sanktionsverfahrens essich befindet.

Neben Deutschland wurde auch gegen Frankreich, dasim Jahr 2002 eine gesamtstaatliche Defizitquote von3,1 vH aufwies, ein Verfahren bei übermäßigem Defiziteingeleitet. Zuvor hatte die Europäische Kommission inihrer Bewertung des aktualisierten französischen Stabili-tätsprogramms mangelnde Anstrengungen zur Rückfüh-rung des konjunkturbereinigten Defizits in Frankreichkritisiert. In der Feststellung eines übermäßigen Defizitsdurch die Europäische Kommission und den ECOFIN-Rat wurde betont, dass die schwache konjunkturelle Ent-wicklung allein die Ausweitung der Neuverschuldungnicht erklären könne und es sich hierbei mithin nicht umein vorübergehendes Phänomen handele. Vielmehr seienAusgabenüberschreitungen und Steuersenkungen inHöhe eines halben Prozentpunkts in Relation zum nomi-nalen Bruttoinlandsprodukt die Hauptursachen; die Ver-schlechterung der französischen Haushaltslage imJahr 2002 sei zu zwei Dritteln auf einen Anstieg deskonjunkturbereinigten Defizits zurückzuführen. Frank-reich wurde zunächst aufgefordert, das übermäßige De-fizit so rasch wie möglich, spätestens im kommendenJahr zurückzuführen – später wurde diese Frist bis zumJahr 2005 verlängert – und bis zum 3. Oktober diesesJahres entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Im Ge-gensatz zu Deutschland weigerte sich die französischeRegierung jedoch wiederholt, für dieses Jahr Anstren-gungen zur Haushaltssanierung zu unternehmen; diesschloss auch die Ablehnung ein, das konjunkturberei-nigte Defizit – wie im vergangenen Herbst von der Euro-päischen Kommission angemahnt – jährlich um 0,5 Pro-zentpunkte zu verringern. Erst für das Jahr 2005 strebeman eine Rückführung unter das Limit von 3 vH an.

Anfang Oktober dieses Jahres wurde das Defizitverfah-ren gegen Frankreich fortgeführt, indem die EuropäischeKommission feststellte, dass Frankreich keine wirksa-men Maßnahmen ergriffen habe, das gesamtstaatlichekonjunkturbereinigte Defizit zurückzuführen. DieserEntschließung zufolge sollte Frankreich, neue Maßnah-men ergreifen, um das Haushaltsdefizit zu verringern.Unter Berücksichtigung der konjunkturellen Schwächein diesem Jahr wurde Frankreich dabei zugestanden, erst

im Jahr 2005 das Defizit unter die Marke von 3 vH zuführen. Gleichzeitig ist die Auflage seitens der Europäi-schen Kommission vorgesehen, das konjunkturberei-nigte Defizit im kommenden Jahr um einen Prozent-punkt zu verringern – zuvor waren 0,5 Prozentpunktegefordert worden, der französische Haushaltsentwurfsah einen Wert von 0,7 Prozentpunkte vor. Zudem sollFrankreich verpflichtet werden, etwaige gegenüber denErwartungen höhere Einnahmen im kommenden Jahrzum Defizitabbau zu verwenden und das konjunkturbe-reinigte Defizit schneller zurückzuführen. Darüber hin-aus soll Frankreich der Europäischen Kommission biszum 15. Dezember dieses Jahres einen Bericht vorlegen,aus dem hervorgeht, welche konkreten Maßnahmen zumAbbau des Haushaltsfehlbetrags ergriffen werden sollen.Der ECOFIN-Rat, der über diese Empfehlung der Euro-päischen Kommission entscheiden muss, hat eine Be-schlussfassung innerhalb der vorgesehenen Frist gemie-den und diese am 4. November auf Ende Novembervertagt (Ziffer 426).

Auch die Lage der öffentlichen Finanzen in Italien warGegenstand der Kritik durch die Europäische Kommis-sion. Es wurde bemängelt, dass die Einhaltung der 3-vH-Grenze wesentlich durch kurzfristige Einmalmaßnah-men wie Veräußerungen und Verbriefungen von Immo-bilien erreicht würde und der Konsolidierungspfad fürdie folgenden Jahre zu vage formuliert sei. Zudem wur-den die von der italienischen Regierung im Stabilitäts-programm zugrunde gelegten Zuwachsraten des Brutto-inlandsprodukts als zu optimistisch betrachtet. In derFolge sah die Europäische Kommission die Gefahr, dassItalien im Jahr 2004 das Limit von 3 vH überschreitenkönnte.

131. Die verschlechterte Haushaltssituation vor allemin den großen Ländern des Euro-Raums, die bisher un-zureichend konsolidiert haben, löste eine heftige Dis-kussion um Modifikationen des Stabilitäts- undWachstumspakts aus (Ziffern 434 ff.). Die EuropäischeKommission signalisierte bereits im Jahr 2002 die Be-reitschaft, die Regelungen des Pakts flexibler anzuwen-den als zuvor sowie die Grenze von 3 vH nicht mehr alsalleiniges Kriterium zur Einleitung eines Defizitverfah-rens heranzuziehen. Sie weist nunmehr darauf hin, dassim Rahmen der mittelfristigen Konsolidierung unterBerücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung dieReduktion des konjunkturbereinigten Defizits um0,5 Prozentpunkte pro Jahr Vorrang vor der jährlichenRückführung des nominalen Defizits habe. In diesemZusammenhang wurde Deutschland ausdrücklich zuge-standen, der Gefahr einer erneuten Überschreitung derDefizitgrenze in diesem Jahr nicht entgegenwirken zumüssen, falls – und dies ist eingetreten – der Zuwachsdes Bruttoinlandsprodukts deutlich unter der imHaushalt 2003 unterstellten Rate von 1 vH liegen würde.Auch kann unter Umständen eine vorübergehende Ver-schlechterung des konjunkturbereinigten Haushaltssal-dos in einem Mitgliedstaat hingenommen werden, fallsdiese Verschlechterung als Folge einer umfangreichenStrukturreform auftritt und die 3-vH-Grenze nicht über-schritten wird. Ferner ist die Europäische Kommissionbestrebt, künftig stärker das Kriterium des Schulden-

62

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

stands zu berücksichtigen. Sie behält sich daher vor,auch gegen hochverschuldete Länder, die ihren Schul-denstand nicht rasch genug unter die Grenze von 60 vHzurückführen, ein Defizitverfahren gemäß Artikel 104EG-Vertrag einzuleiten. In Ländern hingegen, deren ge-samtstaatliche Verschuldung deutlich unter dem Refe-renzwert von 60 vH liegt, könnten längerfristige geringeAbweichungen von der Anforderung eines (nahezu) aus-geglichenen Haushalts toleriert werden. Mit dieser Fle-xibilisierung gibt die Europäische Kommission zusätzli-chen Spielraum, die automatischen Stabilisatoren wirkenzu lassen, kommt Kritikern entgegen, die den Stabilitäts-und Wachstumspakt als zu starr erachten, und versuchtsomit, Bestrebungen entgegenzuwirken, den Pakt grund-legend zu verändern oder gar abzuschaffen.

132. Bereits im Vorfeld der Europäischen Währungsu-nion war, im Vergleich zu den siebziger und achtzigerJahren, eine Stärkung des Konjunkturverbunds zwi-schen den Ländern des Euro-Raums zu beobachten(JG 98 Ziffern 266 ff.). Eine weitgehend symmetrischeEinkommensentwicklung, die sich in einem Gleichlaufder Konjunkturen ausdrückt, ist eine wichtige Vorausset-zung für die Vorteilhaftigkeit eines einheitlichen Wäh-rungsgebiets. Dies ist damit zu begründen, dass im Falleasymmetrischer Schocks oder erheblicher Unterschiedein den Wirtschaftsstrukturen bei geringer Mobilität undFlexibilität der Arbeitskräfte nominale Wechselkurs-änderungen eine rasche Stabilisierung bewirken können.Diesen wichtigen Anpassungsmechanismus gibt es inder Währungsunion aber nicht. Ferner besteht– abhängig von der Homogenität des geldpolitischenTransmissionsmechanismus – die Gefahr, dass eine ge-meinsame Geldpolitik, die sich am Währungsgebiet alsGanzem orientiert, für einige Länder suboptimal seinkönnte. Für diejenigen Mitgliedsländer, die sich am obe-ren Rand des Konjunkturspektrums befinden, wäre dieGeldpolitik gegebenenfalls zu expansiv ausgerichtet, fürjene am unteren Rand zu restriktiv. Auch die Homogeni-tät der Inflationsraten zwischen den Mitgliedsländernwird durch einen Gleichlauf der Konjunkturzyklen er-höht: Je weniger die Output-Lücken in den einzelnenLändern zu einem jeweiligen Zeitpunkt differieren,desto geringer sind die Unterschiede hinsichtlich deskonjunkturbedingten Einflusses auf die Inflation.

133. Zur Analyse der Veränderung des Konjunkturver-bunds zwischen den Ländern des Euro-Raums seit Be-ginn der Europäischen Währungsunion wird auf zweiMaße abgestellt. Zum einen wird untersucht, ob die kon-temporären Korrelationen der Konjunkturverläufe seitdem Jahr 1999 zugenommen haben. Zum anderen wirdmittels dynamischer Korrelationen betrachtet, wie sichder konjunkturelle Vorlauf oder Nachlauf verändert hat.Dabei dient die Output-Lücke als Maß für die Konjunk-turkomponente. Die zwei miteinander verglichenen Un-tersuchungszeiträume umfassen die Jahre 1991 bis 1998sowie 1999 bis 2003 (2. Quartal).

Verwendet werden saisonbereinigte Quartalsdaten vonEurostat für das Bruttoinlandsprodukt, die Konsumaus-gaben, die Bruttoanlageinvestitionen sowie die Exportevon Waren und Dienstleistungen. Aus Gründen derÜbersichtlichkeit beschränkt sich der betrachtete Län-

derkreis auf Deutschland, Spanien, Frankreich, Italienund die Niederlande. Diese fünf Volkswirtschaften er-wirtschaften rund 87 vH des Bruttoinlandsprodukts desEuro-Raums. Zur Ermittlung der Output-Lücken werdendie logarithmierten Quartalsdaten für die einzelnenAggregate mit Hilfe des Hodrick-Prescott-Filters (HP-Filter) in eine Trendkomponente und eine Konjunktur-komponente zerlegt. Als Glättungsparameter wird – wiefür Quartalsdaten üblich – der Wert 1600 gewählt. Da-bei entspricht die Output-Lücke der Differenz zwischenden Ausgangsdaten und den durch den HP-Filter geglät-teten Werten.

134. Schon vor Beginn der Europäischen Währungsu-nion wiesen die Konjunkturverläufe der einzelnen Län-der – mit Korrelationskoeffizienten in einer Bandbreitevon 0,47 für Deutschland und die Niederlande bis 0,88für Spanien und die Niederlande – vergleichsweise engeZusammenhänge auf. In Bezug auf Deutschland ist zubemerken, dass durch die vereinigungsbedingte Sonder-konjunktur ab Ende 1991 die bilateralen Korrelationenfür die Jahre 1991 bis 1998 tendenziell geringer ausfal-len als zwischen den übrigen Ländern. Für die zweitePeriode nach Beginn der Europäischen Währungsunionist für alle Länderpaare eine deutliche Zunahme der Kor-relationen zu beobachten; Koeffizienten von bis zu 0,95weisen auf einen ausgeprägten kontemporären Verbundder Konjunkturverläufe hin (Schaubild 11).

S c h a u b i l d 11

0,4

0,5

0,6

0,7

0,8

0,9

1,01999 - 2003

0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,01991 - 1998

Kontemporäre Korrelationen der Konjunkturverläufe1)

DE/NL

IT/NL ES/IT

ES/FI

ES/NL

DE/ES

FR/NL

FR/ITDE/IT

1) Differenzen der Output-Lücken in den betrachteten Zeiträumen. Be-trachtete Länder: Deutschland (DE), Finnland (FI), Frankreich (FR), Ita-lien (IT), Niederlande (NL), Spanien (ES).

Quelle für Grundzahlen: EU

SR 2003 - 12 - 0643

DE/FR

63

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Allerdings werden mit diesem Maß die sich über meh-rere Quartale erstreckenden Zusammenhänge, das heißtdie dynamischen Beziehungen, nicht erfasst. Diese kön-nen mit Hilfe von dynamischen Korrelationen gemessenwerden. Hier wird der Zusammenhang der Output-Lü-cken eines Landes mit den um bis zu acht Quartale ver-zögerten oder vorlaufenden Output-Lücken eines ande-ren Landes betrachtet. Dabei deutet eine hoheKorrelation zwischen dem Konjunkturverlauf des erstenLandes und dem entsprechenden vorlaufenden Wert desanderen Landes auf einen Nachlauf des zweiten Landeshin; so läuft beispielsweise in der Periode ab 1999 dieitalienische der spanischen und der niederländischenKonjunktur leicht nach. Diese Analyse zeigt insgesamteine Stärkung des konjunkturellen Gleichlaufs zwischenden betrachteten Ländern (Schaubild 12).

Betrachtet man die einzelnen Hauptaggregate des Brut-toinlandsprodukts, so zeigt sich ein weniger einheitli-ches Bild. Während sich die Zusammenhänge bei denBruttoanlageinvestitionen ähnlich darstellen wie beimBruttoinlandsprodukt, zeigen die Exporte erst seit Be-ginn der Europäischen Währungsunion einen ausgepräg-ten Gleichlauf; die kontemporären Korrelationen liegenjeweils über denen der neunziger Jahre. Diese Ent-wicklung ist aufgrund der Absenz von bilateralenWechselkursveränderungen seit dem Jahr 1999 nichtverwunderlich. Betrachtet man die dritte Hauptverwen-dungskomponente, die Konsumausgaben, so wird deut-lich, dass sich der Zusammenhang in diesem Bereichzwar verstärkt hat, zwischen einigen Ländern jedoch bisheute noch nicht von einem ausgeprägten Verbund ge-sprochen werden kann.

135. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu be-rücksichtigen, dass die zweite Periode von 1999 bisMitte 2003 mit nur 18 beobachteten Quartalen sehr kurzist und dass die Konjunktur im Euro-Raum seit demJahr 2000 wesentlich durch symmetrische Schocks wieden Abschwung in den Vereinigten Staaten oder die Öl-preisentwicklung beeinflusst war. Insgesamt lässt sichfesthalten, dass der Gleichlauf zwischen den Konjunk-turverläufen in den betrachteten Ländern seit Beginn derEuropäischen Währungsunion zugenommen hat. Sowohldie kontemporären Korrelationen als auch die dynami-schen Korrelationen zeigen einen enger werdenden Kon-junkturverbund seit dem Jahr 1999 an. Insoweit ist dieAufgabe der Europäischen Zentralbank, eine gemein-schaftsorientierte Geldpolitik zu betreiben, bislang vonparallelen Konjunkturverläufen begünstigt worden. DieAnalyse zeigt auch, dass sich der Euro-Raum in dieserHinsicht in den vergangenen Jahren weiter in Richtungeines homogeneren Währungsraums entwickelt habendürfte.

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung im Vereinigten Königreich

136. Die konjunkturelle Lage stellte sich auch imJahr 2003 im Vereinigten Königreich deutlich besserdar als im Euro-Raum. Das Bruttoinlandsproduktnahm in diesem Jahr um 2,0 vH zu, nach 1,7 vH im

Vorjahr. Die Privaten Konsumausgaben – weiterhinStütze der Konjunktur – entwickelten sich mit einer Zu-wachsrate von 2,4 vH schwächer als im Vorjahr(3,6 vH). Neben den niedrigen Zinsen wirkten bei breitgestreutem Immobilienbesitz die nach wie vor gestiege-nen Hauspreise unterstützend, da sie für das Gros derKonsumenten abermals einen positiven Vermögensef-fekt bedeuteten und die Möglichkeiten zur Aufnahmevon Konsumentenkrediten verbesserten. Allerdings ver-lief die Hauspreisentwicklung im Jahr 2003 langsamerals zuvor – die monatlichen Preissteigerungen fielenmit einer durchschnittlichen Rate von 1,3 vH in denersten zehn Monaten des Jahres um rund ein Drittelniedriger aus als im Vorjahr –, was die Gefahr plötzli-cher Preisrückgänge mindert.

Weitere Unterstützung erhielt der private Konsum vonder Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Im Gegensatzzum Euro-Raum stieg im Vereinigten Königreich die Be-schäftigung in diesem Jahr weiter an und erhöhte sichum 0,7 vH. Die Arbeitslosenquote, berechnet nach dervon der Europäischen Union verwendeten Definition,sank gegenüber dem Vorjahr leicht auf 5,0 vH. Aller-dings entfiel ein Großteil des Beschäftigungsaufbaus aufden öffentlichen Bereich und hier vor allem auf das Ge-sundheitswesen. So waren die Ausgaben des Staatesauch die zweite wichtige Stütze der Konjunktur. Nebenden Konsumausgaben (+ 3,7 vH) erhöhte der Staat vorallem seine Investitionen stark (+ 29 vH) und setzte da-mit die im Vorjahr eingeleitete finanzpolitische Kehrt-wende fort. Die höhere Staatstätigkeit resultierte nebeneiner Expansion der Militärausgaben vor allem in derersten Jahreshälfte daher, dass die bereits zuvor eingelei-teten Anstrengungen zur Verbesserung des staatlichenGesundheitssystems und der öffentlichen Infrastrukturfortgesetzt wurden. Mit einem Anteil der öffentlichenInvestitionen am Bruttoinlandsprodukt von immer nochweniger als 2 vH befand sich das Vereinigte Königreichgleichwohl noch leicht unterhalb des Durchschnitts desEuro-Raums. In Folge der zusätzlichen öffentlichenAusgaben verschlechterte sich der Finanzierungssaldodes Staates weiter und belief sich in diesem Jahr auf– 2,9 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandspro-dukt nach – 1,3 vH im Vorjahr. Als Nicht-Mitglied derEuropäischen Währungsunion hätte das Vereinigte Kö-nigreich jedoch auch bei einer Defizitquote von über3 vH keine Sanktionen seitens der Europäischen Unionzu befürchten. Bremsend auf die konjunkturelle Ent-wicklung wirkten die privaten Investitionen und der Au-ßenbeitrag. Trotz gesunkener Zinsen verhielten sich dieUnternehmen sehr zurückhaltend und ließen ihr Investi-tionsniveau im Vergleich zum Vorjahr konstant. Hierspiegelten sich die nach wie vor dümpelnde Industrie-produktion, die in den ersten acht Monaten des Jahresum 0,5 vH zurückging, und die schwache Exportent-wicklung im Zuge konjunktureller Schwächen in ande-ren Regionen der Welt wider. Die Ausfuhr nahm mit ei-ner Rate von 0,7 vH in diesem Jahr sogar ab; die Einfuhrwurde um 0,9 vH gesteigert; der Außenbeitrag fiel wieschon in den Vorjahren negativ aus.

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Page 91: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

S c h a u b i l d 12

Dynamische Korrelationen zwischen den Konjunkturverläufen ausgewählter Länder1)

-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8

-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8

Deutschland - Spanien

-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8

-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8

-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8-1,0

-0,5

0,5

1,0

0

-8 -7 -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6 7 8

Periode I: 1. Vj. 1991 bis 4. Vj. 1998

1) Differenz zwischen dem logarithmierten Bruttoinlandsprodukt und dem Hodrick Prescott [1600] Trend im erstgenannten Land zum zweitgenannten Land-mit acht bis null Quartalen Verzögerung und einem bis acht Quartalen Vorlauf. Ein rechtsschiefer (linksschiefer) Verlauf der dynamischen Korrelationen zeigteinen Vorlauf (Nachlauf) des erstgenannten Landes.

Quelle für Grundzahlen: EU

Deutschland - Frankreich

Deutschland - Italien Deutschland - Niederlande

Spanien - Frankreich Spanien - Italien

Spanien - Niederlande Frankreich - Italien

Frankreich - Niederlande Italien - Niederlande

Periode II: 1. Vj. 1999 bis 2. Vj. 2003

SR 2003 - 12 - 0653

65

Page 92: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Vor dem Hintergrund der zunächst etwas zurückhalten-deren Konjunkturentwicklung senkte die Bank of Eng-land den Leitzins im Februar und Juli dieses Jahres uminsgesamt 50 Basispunkte auf 3,5 %; dies war der tiefstenominale Leitzinssatz seit dem Jahr 1954. Zwar lag derfür die Notenbank relevante VerbraucherpreisindexRPIX bis September dieses Jahres stets über der Ziel-marke von 2,5 vH, die Bank of England vertrat jedochzunächst die Ansicht, dass die moderaten Zinssenkungenlangfristig nicht dazu führten, die Inflationserwartungenund nachfolgend die Inflationsraten zu erhöhen. Erst alssich im Herbst dieses Jahres die Inflationsrisiken kon-junkturbedingt erhöhten, leitete die britische Notenbankmit einer Erhöhung des Repro-Satzes um 25 Basispunkteeine Zinswende ein.

Seit Ende des Jahres 2003 zieht die Bank of England nichtmehr den nationalen Konsumentenpreisindex (RPIX) alsMaßstab ihrer Geldpolitik heran, sondern orientiert sichwie die Europäische Zentralbank am Harmonisierten Ver-braucherpreisindex (HVPI). Zugleich wurde der numeri-sche Wert des Inflationsziels herabgesetzt. Die Unter-schiede zwischen beiden Indizes machten in denvergangenen Jahren jeweils mehrere zehntel Prozent-punkte aus. Ursächlich hierfür war vor allem, dass Immo-bilienpreise im HVPI ein geringeres Gewicht aufweisenals im RPIX und dies insbesondere bei den stark gestiege-nen Hauspreisen im Vereinigten Königreich in den ver-gangenen Jahren beträchtlich zu Buche schlug. Zudemspielen bei der geometrischen Mittelung der Preissteige-rungsraten im HVPI Ausreißer eine geringere Rolle alsbei der arithmetischen Mittelwertberechnung des RPIX.

Am 9. Juni dieses Jahres beschloss die britische Regie-rung, weiterhin von einem Beitritt zur EuropäischenWährungsunion abzusehen und kein Referendum überdiese Frage abzuhalten. Wenngleich ein prinzipiellerNutzen der Euro-Einführung für das Vereinigte König-reich konzediert wurde, sei ein Beitritt zur Währungsu-nion zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vorteilhaft. AufGrundlage von 18 Studien entschied die Regierung, dassvier der fünf von ihr aufgestellten so genannten ökono-mischen Kriterien derzeit nicht erfüllt seien. Allein dieWettbewerbsfähigkeit des britischen Finanzsektorswürde gegenwärtig Vorteile aus einer Ausweitung derGemeinschaftswährung auf das Vereinigte Königreichhaben. Gleichzeitig wurde angekündigt, dass sich einekünftige Überprüfung der Beitrittsfähigkeit auf zwei Kri-terien beschränken werde. Erstens: Sind die Konjunktur-zyklen und ökonomischen Strukturen beider Währungs-räume kompatibel, so dass beide Ökonomien dauerhaftmit einem einheitlichen Zinssatz leben könnten? Zwei-tens: Verfügt man, sollten Schwierigkeiten auftreten,über genügend Flexibilität, diese zu lösen? Wann einenächste Überprüfung stattfinden soll, ist offen.

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den Beitrittsländern

137. Auch im Jahr 2003 zeigten sich die mittel- und ost-europäischen Beitrittsländer verhältnismäßig robust ge-genüber der konjunkturellen Flaute im Euro-Raum. DasBruttoinlandsprodukt der acht Staaten nahm in diesem

Jahr insgesamt um 3,1 vH und damit etwas stärker als imVorjahr zu. Der realwirtschaftliche Aufholprozess gegen-über den Ländern des Euro-Raums setzte sich fort. Je-doch fiel der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts in denmeisten Beitrittsländern etwas geringer aus als imJahr 2002, und der stärkere Zuwachs in der gesamten Re-gion war im Wesentlichen durch die positive Entwick-lung in Polen begründet (Tabelle 12). Diese mit Abstandgrößte Volkswirtschaft der mittel- und osteuropäischenBeitrittsländer, in der die Konjunktur in den Vorjahrenäußerst schwach verlaufen war, näherte sich mit einerSteigerung des Bruttoinlandsprodukts um 3,1 vH lang-sam wieder den Raten Ende der neunziger Jahre an. Diebaltischen Staaten waren mit Zuwachsraten zwischen4,7 vH und 6,5 vH weiterhin die sich am dynamischstenentwickelnden Länder. Allerdings befinden sich dieseStaaten hinsichtlich ihrer Einkommensposition noch im-mer auf dem niedrigsten Niveau aller Beitrittsländer. Wieschon in den Vorjahren wurde die gesamtwirtschaftlichePosition der mittel- und osteuropäischen Länder durchden Prozess des Beitritts zur Europäischen Union unter-stützt. Gleichwohl sollte nicht erwartet werden, dassdiese Länder im kommenden Jahr allein durch den for-malen Beitritt einen bedeutenden Wachstumsschub er-fahren werden. Die Integration der Beitrittsländer in dieEuropäische Union begann vor mehr als zehn Jahren; be-reits während der Vor-Beitrittsphase wurden Güterhandelund Kapitalverkehr weitgehend liberalisiert, und dieFreizügigkeit von Arbeitnehmern aus den Beitrittslän-dern, die tendenziell eine bremsende Wirkung auf ihrewirtschaftliche Entwicklung hätte, bleibt auch nach dem1. Mai 2004 zunächst ausgesetzt.

Die Privaten Konsumausgaben stellten wiederum diewichtigste Stütze der Wirtschaftsentwicklung in denBeitrittsländern dar; sie nahmen in diesem Jahr um4,5 vH zu. Neben weiter gesunkenen Zinsen war diesdarauf zurückzuführen, dass der Abbau der Beschäfti-gung zum Stillstand kam; nach einem Rückgang von0,6 vH im Vorjahr. Die Arbeitslosenquote stieg jedochweiter leicht an und betrug im Jahresdurchschnitt15,0 vH (gemäß Definition der Europäischen Union).Aufgrund der starken Produktivitätszuwächse in denBeitrittsländern bestehen weiterhin hohe Beschäfti-gungsschwellen, so dass die beachtlichen Zuwachsratendes Bruttoinlandsprodukts bisher nicht ausreichend wa-ren, um die Beschäftigung zu erhöhen. Die Investi-tionstätigkeit wurde in diesem Jahr wieder ausgeweitet(2,4 vH). Hier spiegeln sich die nach wie vor reichlichfließenden ausländischen Direktinvestitionen sowie dieVorbereitungen auf den EU-Beitritt wider.

Die Beitrittsländer konnten trotz der konjunkturellenFlaute in den Partnerländern – rund zwei Drittel der Ex-porte entfallen auf die Europäische Union – ihre Export-position stärken. Unterstützung erfuhr die Ausfuhr vonden Abwertungen einiger Währungen. So gaben in denersten zehn Monaten des Jahres der ungarische Forintum 8,4 vH und der polnische Zloty um 15,3 vH gegen-über dem Euro nach. Bei gleichzeitig weiterhin hohenImportzuwächsen blieben die Leistungsbilanzen – mitAusnahme Sloweniens – jedoch mit einem durchschnitt-lichen negativen Saldo von 4,2 vH in Relation zum

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Page 93: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

Ta b e l l e 12

Wirtschaftsdaten für ausgewählte mittel- und osteuropäische Länder

Bruttoinlandsprodukt, real1) 2000 5,4 7,3 6,8 4,0 4,0 2,2 2,2 4,1 3,3 5,2

2001 4,1 6,5 7,9 6,5 1,0 5,7 3,3 2,9 3,1 3,9

2002 4,8 6,0 6,1 6,7 1,4 4,9 4,4 3,0 2,0 3,5

20032) 4,5 4,7 5,9 6,5 3,1 4,5 3,9 2,4 2,2 2,9

Bruttoinlandsprodukt3) pro Kopf

- in Kaufkraftstandards (KKS) 2000 5 780 9 080 6 970 7 990 9 150 5 290 10 660 15 890 12 700 11 2402001 5 750 9 360 7 840 8 880 9 430 5 620 11 200 16 830 13 810 12 2702002 5 940 10 020 8 460 9 390 9 460 5 890 11 350 17 710 14 370 13 420

- EU-15 = 100 (vH)4) 2000 25,5 40,1 30,7 35,2 40,4 23,3 47,0 70,1 56,0 49,6

2001 24,6 40,1 33,6 38,0 40,4 24,1 48,0 72,1 59,1 52,5

2002 24,7 41,7 35,2 39,1 39,4 24,5 47,3 73,7 59,8 55,9

- in Euro 2000 1 680 4 070 3 280 3 460 4 610 1 800 4 059 10 270 5 430 4 9602001 1 930 4 580 3 650 3 810 5 290 2 000 4 340 10 920 6 220 5 6802002 2 110 5 070 3 820 4 220 5 180 2 160 4 680 11 700 7 210 6 780

Verbraucherpreise (HVPI)1) 2000 10,3 3,9 2,6 0,9 10,1 45,7 12,2 8,9 3,9 10,0

2001 7,4 5,6 2,5 1,3 5,3 34,5 7,0 8,6 4,5 9,1

2002 5,8 3,6 2,0 0,4 1,9 22,5 3,3 7,5 1,4 5,2

20032) 3,0 1,7 2,6 - 0,9 0,7 15,5 8,1 5,8 0,1 4,7

Finanzierungssaldo des Staates5) 2000 - 0,5 - 0,3 - 2,7 - 2,3 - 2,5 - 4,6 - 13,5 - 3,1 - 4,0 - 3,0

2001 0,2 0,3 - 1,6 - 2,2 - 3,1 - 3,3 - 7,2 - 1,3 - 5,8 - 4,2

2002 - 0,7 0,9 - 3,0 - 1,7 - 3,9 - 2,6 - 7,2 - 2,3 - 7,1 - 9,2

20032)- 0,6 - 0,1 - 2,8 - 2,4 - 4,4 - 2,7 - 5,0 - 1,9 - 7,8 - 5,2

Bruttoschuldenstand des Staates5) 2000 73,6 5,0 13,9 24,3 37,2 23,9 46,9 26,4 16,6 55,5

2001 66,2 4,7 15,7 23,4 37,2 23,1 48,8 25,9 23,3 53,4

2002 53,2 5,7 15,2 22,7 41,6 22,7 44,3 27,0 27,1 56,3

20032) 50,8 5,4 16,7 23,3 45,1 21,5 45,1 27,4 30,7 57,9

Leistungsbilanzsaldo5) 2000 - 5,5 - 5,8 - 6,9 - 6,0 - 6,1 - 4,1 - 2,5 - 2,8 - 5,3 - 6,3

2001 - 6,1 - 6,0 - 9,6 - 4,8 - 2,9 - 5,6 - 7,4 0,1 - 6,2 - 3,4

2002 - 4,7 - 12,3 - 7,8 - 5,4 - 3,5 - 3,5 - 8,1 1,7 - 5,3 - 4,0

20032)- 5,8 - 15,0 - 8,8 - 5,6 - 3,0 - 4,0 - 3,8 0,5 - 6,5 - 6,1

Arbeitslosenquote (vH)6) 2000 16,4 12,5 13,7 15,7 16,4 6,8 18,7 6,6 8,7 6,3

2001 19,2 11,8 12,8 16,1 18,5 6,6 19,4 5,8 8,0 5,6

2002 18,1 9,1 12,8 13,1 19,9 7,0 18,6 6,0 7,3 5,6

20032) 16,0 8,8 12,2 12,0 20,0 7,5 17,8 6,4 7,6 5,7

Nachrichtlich:

Deutsche Netto-Direktinvestitionen7)

Mio Euro (Kapitalexport: - ) 2000 - 45 - 10 - 46 - 4 - 839 - 160 -1 042 - 64 -1 234 -1 162

2001 - 65 + 3 - 65 - 53 -1 369 - 124 - 455 + 7 - 972 - 995

2002 - 58 - 14 + 45 - 51 - 705 - 176 -2 078 - 25 -4 728 - 434

20038) - 150 - 2 - 6 - 8 - 485 - 61 - 84 - 6 + 762 + 132

Deutsche Exporte9) 2000 0,1 0,1 0,1 0,2 2,4 0,4 0,6 0,4 2,1 1,7

2001 0,2 0,1 0,1 0,2 2,4 0,5 0,6 0,4 2,3 1,6

2002 0,2 0,1 0,1 0,2 2,5 0,5 0,6 0,4 2,5 1,7

1) Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH. - 2) Eigene Schätzung aufgrund von Angaben nationaler und internationaler Institutionen. - 3) Injeweiligen Preisen. - 4) Bezogen auf KKS. - 5) In Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH. - 6) Arbeitslose in vH der Erwerbsperso-nen (ILO-Konzept). - 7) Ohne reinvestierte Gewinne und ohne Verluste. - Quelle: Deutsche Bundesbank. - 8) Für 2003: 1. Halbjahr. - 9) Anteilan der Gesamtausfuhr Deutschlands (Spezialhandel) in vH; Jahr 2002 vorläufige Ergebnisse.

Quellen: EU, OECD

Jahr UngarnTsche- chische

Republik

Bul- garien

Lettland LitauenSlowa-

keiRumä-

nienEstland Polen

Slowe- nien

67

Page 94: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

nominalen Bruttoinlandsprodukt auch in diesem Jahrstark defizitär. Berücksichtigt man die nach wie vor ho-hen Zuflüsse von Direktinvestitionen in die meistenLänder – in der Tschechischen Republik beispielsweiseüberschritten im vergangenen Jahr die ausländischen Di-rektinvestitionen das Leistungsbilanzdefizit um dasDoppelte –, ist diese Situation jedoch prinzipiell nichtproblematisch (JG 2002 Ziffer 71). Zudem ist davonauszugehen, dass sich die Situation der Leistungsbilan-zen ab dem kommenden Jahr tendenziell verbessernwird, da alle Länder nach dem Beitritt zur EuropäischenUnion Nettoempfänger gegenüber der EuropäischenUnion sein werden (Ziffer 158). Die öffentlichen Haus-halte der Beitrittsländer waren im Jahr 2003 ausnahms-los defizitär, mit einem Durchschnitt von – 4,8 vH in Re-lation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt. Estland undSlowenien standen hier mit Haushaltsfehlbeträgen vonweniger als 2 vH am günstigsten da. Problematisch bliebdie Situation in den größeren Beitrittsländern Polen, derSlowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn, dieöffentliche Defizite zwischen 4,4 vH und 7,8 vH aufwie-sen. Im Hinblick auf einen späteren Beitritt zur Europäi-schen Währungsunion dürfte dieses Kriterium diehöchste Hürde darstellen.

Die Inflationsraten waren im Durchschnitt in den Bei-trittsländern in diesem Jahr wiederum moderat. DerVerbraucherpreisindex über alle Länder stieg um2,1 vH. Angesichts dieser Entwicklung wurden diegeldpolitischen Zügel in einigen Ländern weiter gelo-ckert. Die tschechische Notenbank reduzierte ihrenHauptzinssatz für Refinanzierungsgeschäfte bis zumHerbst des Jahres um 75 Basispunkte auf nunmehr2,0 %. Um den Zufluss spekulativen Kapitals zu ver-hindern, folgt die Geldpolitik in der Tschechischen Re-publik bereits seit einiger Zeit den geldpolitischen Ent-scheidungen der Europäischen Zentralbank. Resultatdieser Strategie sind neben einem niedrigen Zinsniveaudie seitdem geringsten Wechselkurschwankungen allerBeitrittsländer mit flexiblem Wechselkurs gegenüberdem Euro. Der polnische Zloty hingegen erfuhr nichtzuletzt wegen kurzfristig abfließenden Kapitals zu Be-ginn des Jahres einen deutlichen Wertverlust. Die Zen-tralbank in Warschau, die keine Wechselkurspflege be-treibt, senkte unterdessen den Leitzins in sechsSchritten um insgesamt 150 Basispunkte auf 5,25 %,bei einem Preisniveauanstieg von nur 0,7 vH bleibt diepolnische Geldpolitik damit jedoch restriktiv ausgerich-tet.

Ta b e l l e 13

Kalendarium für die Europäische Union

Datum

2002 Europäische Union

19. November Die Europäische Kommission eröffnet gemäß Artikel 104 Absatz 3 EG-Vertrag ein Verfahrenbei einem übermäßigen Defizit gegen Deutschland (Ziffer130).

25. November Der Rat der Europäischen Union beschließt, die europäischen Märkte für Strom und Gas weiterzu liberalisieren. Derzeit ist nur für Großkunden die freie Wahl des Energielieferanten vorge-schrieben. Gemäß der Entscheidung des Ministerrates, die das Europäische Parlament am4. Juni 2003 bestätigt, wird diese Marktöffnung ab dem 1. Juli 2004 auf alle Unternehmen aus-geweitet. Spätestens am 1. Juli 2007 müssen die Energiemärkte vollständig, also auch für Pri-vatkunden, geöffnet werden. Zudem werden die europäischen Energieunternehmen zur Tren-nung von Netz und Vertrieb verpflichtet.

27. November Der Rat der Europäischen Union beschließt eine Reform des EU-Kartellrechts. Das neue Regel-werk basiert auf zwei Hauptpfeilern. Erstens wird das bisherige Anmelde- und Genehmigungs-verfahren durch ein „Legalausnahmensystem“ ersetzt. Das heißt, dass Unternehmen selbstdarauf achten müssen, dass ihre Vereinbarungen untereinander, etwa über Forschungszusam-menarbeit, mit dem EU-Kartellrecht konform sind. Bislang sind sämtliche dieser, meist harm-losen Absprachen bei der Europäischen Kommission anzumelden, was für beide Seiten einenerheblichen administrativen Aufwand mit sich bringt. Zweitens gibt die Europäische Kommis-sion ihr bisheriges Monopol hinsichtlich der europäischen Wettbewerbsregeln auf. Künftigwird sie gemeinsam mit den nationalen Wettbewerbsbehörden das EU-Kartellrecht anwenden.Sie behält jedoch das Recht, grenzüberschreitende Fälle an sich zu ziehen. Die Verordnung trittam 1. Mai 2004 in Kraft.

12./13. Dezember Der Europäische Rat schließt bei seiner Tagung in Kopenhagen die Verhandlungen mit zehnStaaten über den Beitritt zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 ab (Ziffern 156 ff.).

68

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

noch 2002 noch Europäische Union

19. Dezember Das Europäische Parlament verabschiedet den EU-Haushalt für das Jahr 2003. Er umfasst99,69 Mrd Euro, dies sind 0,26 vH mehr als im Vorjahr. Die Ausgaben entsprechen 1,02 vH inRelation zum gemeinschaftlichen nominalen Bruttovolkseinkommen. Der größte Budgetpostenentfällt mit 48,4 Mrd Euro oder 48,6 vH des Gesamthaushalts auf die Ausgaben für die Ge-meinsame Agrarpolitik einschließlich ländliche Entwicklung, gefolgt von den Ausgaben für re-gionalpolitische Maßnahmen mit einem Volumen von 21,9 Mrd Euro (22,0 vH des EU-Haus-halts).

2003

1. Januar Griechenland übernimmt den Vorsitz des Rates der Europäischen Union.

1. Februar Der Vertrag von Nizza tritt in Kraft (JG 2001 Ziffern 126 ff.).

3. März Der Rat der Europäischen Union beschließt die Einführung eines EU-Gemeinschaftspatents.Damit soll innerhalb der Europäischen Union ein kostengünstigerer Patentschutz gewährleistetwerden. Die Einigung sieht zudem die Einrichtung eines EU-Patentgerichtes in Luxemburg vor.Um ein Gemeinschaftspatent zu erhalten, muss dieses künftig in den drei Amtssprachen(deutsch, englisch und französisch) des Europäischen Patentamts (EPA), München, angemeldetwerden. Die Patentansprüche sind jedoch – spätestens zwei Jahre nach Patenterteilung – in alleEU-Amtssprachen zu übersetzen. Neben dem Gemeinschafspatent wird es auch in Zukunft dasebenfalls vom EPA vergebene Europäische Patent geben. Dieses beschränkt sich auf vom An-tragsteller auszuwählende Mitgliedsländer, wodurch im Vergleich zum EU-Gemeinschaftspa-tent Übersetzungskosten gespart werden können.

20. März Der ECOFIN-Rat beschließt bei seiner Tagung in Brüssel eine Teilharmonisierung der Energie-besteuerung. Gemäß dieser Richtlinie, die zu Beginn des Jahres 2004 in Kraft tritt, sind Min-destsätze für die Verbrauchsteuern auf alle konkurrierenden Energieträger, soweit sie als Treib-stoff oder zur Heizung eingesetzt werden, zu erheben. Die bisherige Regelung erfasst nurMineralöl. Zudem werden die seit dem Jahr 1992 unveränderten Mindestsätze für Mineralöl er-höht. Allerdings können die Mitgliedstaaten energieintensiven Betrieben unter bestimmtenUmständen Steuerermäßigungen von bis zu 100 vH gewähren; bei den übrigen Unternehmenkönnen die Abzüge bis zu 50 vH betragen.

2. April Die Europäische Kommission eröffnet gemäß Artikel 104 Absatz 3 EG-Vertrag ein Verfahrenbei einem übermäßigen Defizit gegen Frankreich (Ziffer 130).

16. April In Athen wird der Vertrag über den Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten zur EuropäischenUnion unterzeichnet.

13. Mai Der Europäische Gerichtshof entscheidet in den Fällen einiger spanischer Unternehmen und ei-nes britischen Unternehmens, dass die dort bestehenden staatlichen Sonderstimmrechte in Formvon „Goldenen Aktien“ nicht mit dem freien Kapitalverkehr in der Europäischen Union verein-bar sind. Das Gericht sieht das Gebot der Nicht-Diskriminierung von Ausländern beziehungs-weise das Prinzip der Verhältnismäßigkeit – unter bestimmten Umständen wäre eine öffentlicheEinflussnahme gerechtfertigt – in den vorliegenden Fällen verletzt.

Der Rat der europäischen Finanzminister verabschiedet eine Richtlinie zu Pensionsfonds. Da-mit werden die bisher sehr unterschiedlichen Vorschriften zum Verbraucherschutz und zur Ka-pitalanlage für Pensionsfonds in der Europäischen Union vereinheitlicht. Die Richtlinie siehtvor, dass Pensionsfonds bis zu 70 vH ihres Portfolios in Aktien und bis zu 30 vH ihres Kapitalsin ausländischen Währungen halten dürfen.

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Kalendarium für die Europäische Union

Datum

n o c h Tabelle 13

noch: Kalendarium für die Europäische Union

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Page 96: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2003 noch Europäische Union

3. Juni Der ECOFIN-Rat verabschiedet eine Richtlinie über die Einführung einer grenzüberschreiten-den Zinsbesteuerung. Ab dem 1. Januar 2005 tauschen zwölf Mitgliedsländer automatisch In-formationen über Kapitalerträge von EU-Ausländern untereinander aus; Belgien, Luxemburgund Österreich erheben stattdessen zunächst eine Quellensteuer auf die Kapitalerträge inHöhe von 15 vH (in den Jahren 2005 bis 2007), 20 vH (in den Jahren 2008 bis 2010) bezie-hungsweise 35 vH (ab dem Jahr 2011). Das Aufkommen aus der Quellensteuer fließt zu75 vH in das Steuersitzland des Anlegers und verbleibt zu 25 vH in dem erhebenden Land.Mit Drittländern wie der Schweiz soll bis spätestens Mitte 2004 eine ähnliche Regelung wiefür Belgien, Luxemburg und Österreich vereinbart werden. Diese drei Länder müssen zumautomatischen Informationsaustausch übergehen, wenn die in die Vereinbarung einbezogenenDrittstaaten einen Informationsaustausch auf Anfrage gemäß den Standards der OECD leis-ten.

19./20. Juni Der Europäische Rat begrüßt bei seiner Tagung in Thessaloniki den vom Europäischen Kon-vent vorgelegten Verfassungsentwurf und beschließt auf Grundlage dieses Entwurfs, ab Okto-ber dieses Jahres eine Regierungskonferenz einzuberufen, die die Aufgabe hat, einen endgülti-gen Verfassungsvertrag auszuhandeln (Ziffern 173 ff.).

1. Juli Italien übernimmt den Vorsitz des Rates der Europäischen Union.

2. Juli Das Europäische Parlament beschließt auf Grundlage einer Entscheidung der EU-Umweltmi-nister vom 9. Dezember 2002, ab dem Jahr 2005 einen Handel mit CO2-Zertifikaten einzufüh-ren. Die Regelung umfasst zunächst den CO2-Ausstoß bei der Stromerzeugung sowie bei derStahl-, Glas-, Papier- und Zementproduktion. Die Teilnahme ist für die rund 10 000 betroffenenUnternehmen in der Europäischen Union ab dem Jahr 2008 verbindlich. Zuvor ist eine Freistel-lung möglich, sofern die nationalen Emissionsziele gemäß der Kyoto-Vereinbarung etwa durcheine Selbstverpflichtung oder durch eine Ökosteuer erreicht werden. Den teilnehmenden Unter-nehmen werden Zertifikate kostenlos auf Grundlage historischer Referenzwerte zugeteilt(Grandfathering). Dazu müssen die Mitgliedsländer der Europäischen Kommission bis zumFrühjahr 2004 ihre Zuteilungspläne für die Emissionsrechte vorlegen. Mit Hilfe des Emissions-handels strebt die Europäische Union an, ihre in der Vereinbarung von Kyoto eingegangenenVerpflichtungen zu erfüllen; danach muss der Ausstoß von Treibhausgasen bis zum Jahr 2012um 8 vH gegenüber dem des Jahres 1990 zurückgeführt werden.

4. Oktober In Rom tritt die Regierungskonferenz über den Vertragsentwurf über eine Verfassung für Eu-ropa erstmals zusammen.

16./17. Oktober Der Europäische Rat beschließt bei seiner Tagung in Brüssel, eine europäische Wachstums-initiative einzuleiten. Dabei fordert er die Europäische Kommission, die Europäische Investi-tionsbank und zuständige Ministerräte auf, Vorschläge vorzulegen, auf deren Basis der Euro-päische Rat bei seiner Tagung im Dezember dieses Jahres konkrete Beschlüsse fassen kann.Bereits am 1. Oktober 2003 verabschiedet die Europäische Kommission erste Vorschläge füreine Wachstumsinitiative. Die Vorschläge konzentrieren sich auf Projekte der Transeuropäi-schen Netze (TEN) sowie auf Forschung, Entwicklung und Innovationen. Die TEN-Vorha-ben, mit denen unter anderem grenzüberschreitende Verkehrsinfrastruktur finanziert werdensoll, umfassen 29 Projekte mit veranschlagten Gesamtkosten in Höhe von rund 220 Mrd Eurobis zum Jahr 2020. Die europäische Wachstumsinitiative soll im Wesentlichen durch Mittelder Europäischen Investitionsbank, darüber hinaus durch den EU-Haushalt gewährleistet wer-den.

Ta b e l l e 13

Kalendarium für die Europäische Union

Datum

n o c h Tabelle 13

noch: Kalendarium für die Europäische Union

70

Page 97: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

2003 Frankreich

17. März Eurostat stellt fest, dass das gesamtstaatliche Defizit im Jahr 2002 in Frankreich die Referenz-marke von 3 vH überschritten hat, in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt korrigiertdas europäische Statistische Amt den von der französischen Regierung gemeldeten Wertvon 3,04 auf 3,13. Grund für diese Korrektur, die ein Verfahren wegen übermäßigen Defizitsgegen Frankreich nach sich zieht, ist die Berücksichtigung von Zahlungen an das für das fran-zösische Schienennetz verantwortliche Staatsunternehmen Réseau Ferré de France in Höhe von1,36 Mrd Euro.

24. Juli Die französische Nationalversammlung verabschiedet eine Reform der Gesetzlichen Renten-versicherung. Die Reform sieht vor, bis zum Jahr 2008 die zum Bezug einer abschlagsfreienRente erforderliche Beitragszeit der Beschäftigten des Öffentlichen Diensts – bislang37,5 Jahre – auf 40 Jahre an die der Arbeitnehmer in privaten Unternehmen anzupassen. An-schließend soll die Beitragszeit für beide Gruppen bis zum Jahr 2012 auf 41 Jahre und bis zumJahr 2020 auf 42 Jahre angehoben werden. Zudem wird mit der Reform die staatliche Förde-rung der privaten Altersvorsorge auf alle Beschäftigten ausgedehnt.

25. September Die französische Regierung legt ihren Haushaltsentwurf für das Jahr 2004 vor. Der Etat, derauf einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von 1,7 vH basiert, sieht einen Anstieg derAusgaben um 1,5 vH auf 278 Mrd Euro vor. Die Nettoneuverschuldung soll 56 Mrd Euro be-tragen; daraus ergibt sich zusammen mit den übrigen Gebietskörperschaften und den Sozial-versicherungen ein gesamtstaatliches Defizit in Höhe von 3,6 vH in Relation zum nominalenBruttoinlandsprodukt. Dabei soll im kommenden Jahr das konjunkturbereinigte Defizit um0,7 Prozentpunkte zurückgeführt werden. Insgesamt sieht der Haushaltsentwurf 23 fiskalischeMaßnahmen vor, von denen nur die Anhebung der Dieselsteuer eine Steuererhöhung betrifft.Demgegenüber ist für das Jahr 2004 eine weitere Senkung der Einkommensteuer um 3 vHvorgesehen; dies führt zu Steuermindereinnahmen von 1,8 Mrd Euro. Weiterhin wurdebeschlossen, die Zahl der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst im kommenden Jahr um4 500 Personen zu reduzieren.

1. November Christian Noyer wird neuer Gouverneur der Banque de France. Das vormalige Mitglied desEZB-Direktoriums folgt Jean-Claude Trichet nach, der Präsident der Europäischen Zentralbankwird.

2002 Italien

27. Dezember Das italienische Parlament verabschiedet das Haushaltsgesetz für das Jahr 2003. Dies sieht un-ter anderem weitere Amnestien für Steuersünder vor, von denen sich die italienische RegierungMehreinnahmen in Höhe von 8 Mrd Euro verspricht. Die Steueramnestie für illegales Kapital,das repatriiert wird, gilt künftig außer für natürliche Personen auch für juristische Personen. Zu-dem sinkt die Besteuerung von durch Privatpersonen legalisiertem Schwarzgeld. Ferner werdenSteuerentlastungen für Bezieher niedriger Einkommen sowie eine Reduktion der Körperschaft-steuer von 36 vH auf 34 vH – einhergehend mit der Abschaffung von steuerlichen Ausnahme-tatbeständen – ab dem 1. Januar 2003 beschlossen.

2003

6. Februar Das italienische Parlament verabschiedet eine punktuelle Reform des Arbeitsmarkts. DieÄnderungen sehen eine Privatisierung der Arbeitsvermittlung sowie die Zulassung neuer, je-doch stark reglementierter Beschäftigungsformen wie des „Job-Sharing“ oder „Job-Leasing“vor. Zudem wird die auch bislang schon mögliche Inanspruchnahme von Teilzeitarbeit erleich-tert.

Ta b e l l e 13

Kalendarium für die Europäische Union

Datum

n o c h Tabelle 13

noch: Kalendarium für die Europäische Union

71

Page 98: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2003 noch Italien

15. September Die italienische Regierung beschließt eine Reform der Rentengesetzgebung, die im Jahr 2008in Kraft treten soll. Dem Vorstoß zufolge wird die Schwelle für eine frühzeitige Pensionierungauf 40 Berufsjahre erhöht. Bislang können Arbeitnehmer, die Ende des Jahres 1995 mehr als18 Beitragsjahre vorweisen konnten, bereits im Alter von 57 Jahren in Rente gehen, sofern sie35 Berufsjahre hinter sich haben. Personen hingegen, die nach dem Jahr 1996 ins Erwerbslebeneintraten, haben keinen Anspruch auf eine derartige Frühverrentung. Ihr Rentenanspruch be-misst sich ausschließlich an der Höhe der geleisteten Beiträge, so dass ein Ausscheiden aus demErwerbsleben vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter (65 Jahre für Männer und 60 Jahre fürFrauen) mit Abschlägen verbunden ist. Die Regierung erwartet durch diese Reform ab Mittedes kommenden Jahrzehnts Einsparungen in Höhe von etwa 12 Mrd Euro. Die parlamentari-sche Verabschiedung steht noch aus.

29. September Die italienische Regierung legt ihren Budgetentwurf für das Jahr 2004 vor. Dieser sieht Entlas-tungen für den Haushalt in Höhe von 16 Mrd Euro vor. Ähnlich wie in den Vorjahren entfallenrund zwei Drittel dieses Betrags auf Einmalmaßnahmen. So sieht der Entwurf weitere umfang-reiche Immobilienverkäufe in Höhe von 5 Mrd Euro vor. Etwa der gleiche Betrag soll durchverschiedene (erneute) Amnestien für Steuer-, Sozialabgaben- und Baudelikte eingenommenwerden. Längerfristig wirksame Einschnitte sind in einer Höhe von 5,5 Mrd Euro vorgesehen;diese betreffen vor allem Transferzahlungen an die Kommunen und die Gesundheitsausgaben.Mit Hilfe dieser Einsparmaßnahmen - denen veranschlagte Ausgabenerhöhungen in einem Vo-lumen von 5 Mrd Euro gegenüberstehen - hofft die italienische Regierung das gesamtstaatlicheDefizit im kommenden Jahr auf 2,2 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt redu-zieren zu können.

2003 Vereinigtes Königreich

6. Februar Die Bank of England senkt den Repo-Satz von 4 % auf 3,75 %.

9. April Der britische Finanzminister Brown legt seinen Haushaltsentwurf für das Fiskaljahr 2003/2004vor. Dieser umfasst Ausgaben in Höhe von 456 Mrd Pfund Sterling. Die beiden größten Bud-getpositionen bilden die Ausgaben für soziale Sicherung mit 133 Mrd Pfund Sterling sowie dieAufwendungen für Gesundheit mit 72 Mrd Pfund Sterling. Dem Entwurf liegt die Annahme ei-nes Zuwachses des Bruttoinlandsprodukts von gut 2 vH in diesem und gut 3 vH im kommendenJahr zugrunde.

9. Juni Die britische Regierung entscheidet erneut gegen eine baldige Teilnahme des Vereinigten Kö-nigreichs an der Europäischen Währungsunion (Ziffer 136).

1. Juli Mervyn King wird neuer Gouverneur der Bank of England. Der vormalige Chefökonom undVize-Gouverneur der Notenbank löst Sir Edward George ab.

10. Juli Die Bank of England senkt den Repo-Satz von 3,75 % auf 3,5 %.

6. Oktober Die zuvor geltende Mindesteinkommensgarantie für einkommensschwache Rentner und Pen-sionäre wird durch ein neues System der „Pension Credits“ abgelöst. Dadurch wird die staatli-che Basisrente von 77,45 Pfund Sterling auf 102,10 Pfund Sterling je Woche angehoben. FürEhepaare gilt ein Satz von 155,80 Pfund Sterling. Nach Regierungsangaben wird durch diesesInstrument, für das die Hälfte der 11 Millionen britischen Rentner anspruchsberechtigt ist, dasdurchschnittliche Renteneinkommen um 400 Pfund Sterling pro Jahr steigen. Die Bezugsbe-rechtigung von „Pension Credits“ ist wie im vorherigen System an die wirtschaftliche Situationder Rentner gekoppelt. Jedoch sind die Transferentzugsraten für zusätzliches Einkommen oderVermögen deutlich reduziert. Zudem wird die Regelung, dass Pensionäre den Behörden wö-chentlich ihre finanzielle Situation offen legen müssen, durch eine Überprüfung mit bis zu fünf-jähriger Gültigkeit ersetzt.

6. November Die Bank of England erhöht den Repo-Satz von 3,5 % auf 3,75 %.

Ta b e l l e 13

Kalendarium für die Europäische Union

Datum

n o c h Tabelle 13

noch: Kalendarium für die Europäische Union

72

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

2. Der monetäre Rahmen im Euro-Raum – Geldpolitik weiterhin expansiv

138. Die Europäische Zentralbank hat seit Ende letztenJahres den Mindestbietungssatz für die Hauptrefinanzie-rungsgeschäfte in drei Schritten um insgesamt 125 Ba-sispunkte auf 2,0 % gesenkt: am 5. Dezember 2002 undam 5. Juni 2003 jeweils um 50 Basispunkte sowie am6. März 2003 um 25 Basispunkte. Die Zinssätze für dieSpitzenrefinanzierungsfazilität und die Einlagefazilitätwurden seitdem im insgesamt gleichen Ausmaß auf3,0 % beziehungsweise 1,0 % verringert. Damit erreich-ten die Leitzinsen in den Mitgliedsländern der Europäi-schen Währungsunion das niedrigste Niveau der Nach-kriegszeit.

Die Geldpolitik hat somit in diesem Jahr vor dem Hin-tergrund der schwachen konjunkturellen Entwicklungim Euro-Raum eine expansive Wirkung entfaltet. Diedurch die Aufwertung des Euro ermöglichten Zinssen-kungsspielräume wurden genutzt. Zwar signalisierte dieEntwicklung des breiten Geldmengenaggregats M3 eineungebrochen dynamische Liquiditätsversorgung; ange-sichts der weiterhin gedämpften Kreditentwicklungdürfte von dem entstandenen Liquiditätsüberschuss je-doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine unmittelbare

Inflationsgefahr ausgehen. Allerdings verlangt die über-reichliche Liquiditätsausstattung in einem im kommen-den Jahr verbesserten gesamtwirtschaftlichen Umfeldeine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Notenbank.

Die im Mai abgeschlossene Überprüfung der geldpoliti-schen Strategie hat neben einer Klarstellung des Stabili-tätsziels vor allem die Rolle der monetären Analyse kon-zeptionell präzisiert. Die trendmäßige Veränderung desGeldmengenwachstums soll in einer Gesamtschau der In-flationsrisiken fortan die Informationen der realwirt-schaftlichen Indikatoren, die zur Analyse der kurzfristigenbis mittelfristigen Inflationsentwicklung verwendet wer-den, aus mittelfristiger bis langfristiger Sicht ergänzen.

Preisniveaustabilität: Inflationsraten auf niedrigem Niveau

139. Im Rahmen der Strategierevision wurde die Defi-nition des Ziels der Preisniveaustabilität konkretisiert.Es ist nun erreicht, wenn die jährliche Steigerungsratedes Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) mit-telfristig „unter“, aber „nahe 2 vH“ liegt. Mit einemdurchschnittlichen Wert von 2,1 vH in den ersten neunMonaten lag die Inflationsrate im Euro-Raum erneut ge-ringfügig über dieser Obergrenze (Schaubild 13). Nach

S c h a u b i l d 13

Entwicklung der und der Kerninflation im Euro-RaumVerbraucherpreise 1)

Veränderung eszeitraumgegenüber dem Vorjahr

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

0

vH

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

0

vH

J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

HVPI, insgesamt (100)

HVPI ohne Energie (91,8)

1) Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI) insgesamt beziehungsweise ohne schwankungsanfällige Teilkomponenten, 1996=100; Angaben in Klammern:Wägungsgewichte in vH für das Jahr 2003.

Quelle: EU

SR 2003 - 12 - 0604

HVPI ohne Energie undunverarbeitete Nahrungsmittel (84,2)

73

Page 100: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

einem leichten Abwärtstrend der jährlichen Steigerungs-rate des HVPI im zweiten Quartal stabilisierte sich dieInflationsrate im weiteren Verlauf des Jahres auf einemNiveau von 2,0 vH.

Maßgeblich für die – wenn auch geringen – Schwankun-gen im Jahresverlauf waren zum einen die vor allemdurch die Ölpreisentwicklung getriebene Veränderungder Energiepreise und zum anderen der Euro-Außen-wert. Vor allem im ersten Quartal spielten auch Basisef-fekte bei unverarbeiteten Nahrungsmitteln, bei Dienst-leistungen und bei Energiepreisen eine Rolle.

Die Preisniveauentwicklung in den Mitgliedsländerndes Euro-Raums verlief auch in diesem Jahr relativ he-terogen (Schaubild 14). Am deutlichsten stieg das Preis-niveau während der ersten drei Quartale in Irland(4,3 vH), Portugal (3,5 vH) und Griechenland (3,6 vH);zu den Ländern mit den niedrigsten Inflationsraten zähl-ten Deutschland (1,0 vH), Finnland (1,4 vH) und Öster-reich (1,3 vH).

Die Entwicklung der Inflationsraten scheint im Vergleichzur Periode vor Beginn der Europäischen Währungs-union ferner durch eine zunehmende Dispersion gekenn-zeichnet zu sein. Auskunft hierüber geben alternativestatistische Kennziffern zur Streuung der Inflationsraten.Das Inflationsgefälle kann beispielsweise durch die Dif-ferenz zwischen der höchsten und der niedrigsten Inflati-onsrate, durch die Standardabweichung der nationalenTeuerungsraten oder als Verhältnis der Standardabwei-chung zum Mittelwert der Inflationsraten (Variations-koeffizient) gemessen werden. Die ungewichtete Stan-dardabweichung misst allen Ländern dieselbeBedeutung bei, während der gewichtete Messwert dieGröße der Länder – entsprechend den HVPI-Gewichtenauf Basis der Ausgaben für den privaten Verbrauch – be-rücksichtigt.

Die gewichtete Standardabweichung der Inflationsratenim Euro-Raum zeigt, dass die Verbraucherpreisentwick-lung in den zwölf Euro-Teilnehmerländern seit Beginnder dritten Stufe der Währungsunion heterogener gewor-den ist: Zwischen Januar 1996 und Februar 1999 sankdie gewichtete Standardabweichung von 2,2 auf einMinimum von 1,0. Danach hat die Heterogenität derInflationsentwicklung wieder zugenommen. Seit demJahr 2001 stabilisierte sich die Standardabweichung umden Wert 1,8. Bei Betrachtung der ungewichteten Stan-dardabweichung ergibt sich ein ganz ähnliches Bild,allerdings sind die Schwankungen etwas geringer. DieEuropäische Zentralbank führt die derzeitigen Inflati-onsunterschiede auf national differierende Entwicklun-gen von Gewinnmargen und Lohnstückkosten, Abwei-chungen bei den administrierten Preisen und indirektenSteuern sowie Unterschiede in den jeweiligen konjunktu-rellen Zyklen zurück. Neben diesen Faktoren spielenauch Effekte der nominalen Konvergenz durch die Wäh-rungsunion, die Auswirkungen von strukturellen Rigidi-täten sowie Auswirkungen der Einkommenskonvergenzund des Balassa-Samuelson-Effekts eine Rolle. Die Eu-ropäische Zentralbank weist darauf hin, dass die Infla-tionsunterschiede nach wie vor nicht größer sind als

zwischen den Regionen in den Vereinigten Staaten(JG 2001 Ziffern 485 ff.).

140. Bei der Analyse der Inflationsursachen wird häu-fig auf bestimmte Kerninflationsraten abgestellt, diedurch Bereinigung des HVPI um unterschiedlicheschwankungsanfällige Teilkomponenten ermittelt wer-den. Gemessen an der Entwicklung des HVPI ohne Nah-rungsmittel und Energie sank die Kerninflationsrate imersten Quartal dieses Jahres auf ein Niveau unterhalb derInflationsrate des HVPI. Dies verdeutlicht den dominie-renden Einfluss der Energiepreise auf den Inflationsan-stieg zu Jahresbeginn. Seit April waren Richtung undNiveau von Kerninflationsrate und HVPI-Inflationsratenahezu gleich.

141. Auf den Vorstufen der Verbraucherpreisebenelag der Preisniveauanstieg im Euro-Raum, gemessen amIndex der industriellen Erzeugerpreise (ohne Bauge-werbe), im Durchschnitt der ersten sieben Monate bei1,9 vH. Die im Jahresverlauf schwankende Entwicklungder Produzentenpreise kann ebenfalls primär auf dieEnergiepreise und damit auf den Rohölpreis zurückge-führt werden (Schaubild 15, Seite 76). Dieser stieg An-fang März wegen des Generalstreiks in Venezuela, derglobal niedrigen Lagerbestände und des drohendenKriegsausbruchs im Irak auf ein Höchstniveau von34 US-Dollar je Barrel der Sorte Brent. Nach Beendi-gung des Kriegs sank der Ölpreis – unterstützt durch dieallgemein geringere Ölnachfrage sowie die Entspannungder Lage in Venezuela – vorübergehend bis auf einNiveau von 23 US-Dollar je Barrel Ende April. Ein Ge-neralstreik in Nigeria, Anschläge auf Pipelines der iraki-schen Ölindustrie sowie damit verbundene Unsicherhei-ten über die Zukunft der irakischen Exporte trugenjedoch dazu bei, dass der Ölpreis – trotz guterAngebotslage – bis Anfang August wieder auf ein Ni-veau von über 30 US-Dollar je Barrel anstieg. Mit derschwindenden Sorge über zu geringe Rohölvorräte inden Vereinigten Staaten gab der Ölpreis erneut nach. Beieinem Wert von 26 US-Dollar je Barrel Rohöl Ende Sep-tember stoppte die OPEC den Ölpreisrückgang durchAnkündigung reduzierter Förderquoten ab November, sodass der Ölpreis Mitte Oktober erneut Werte von 31 US-Dollar je Barrel erreichte, zum Monatswechsel aber wie-der auf 28 US-Dollar je Barrel sank. Im Durchschnitt derersten zehn Monate lag der Ölpreis mit 29 US-Dollar jeBarrel um mehr als 3 US-Dollar oberhalb des Vorjahres-niveaus.

Außenwert des Euro: Zwischenzeitlich auf Rekordhoch

142. Von der Entwicklung des Euro ging ein inflations-dämpfender Effekt aus: Die Mitte 2001 begonnene Auf-wertung des Euro gegenüber dem US-Dollar, dem briti-schen Pfund Sterling und dem japanischen Yen sowieden wichtigsten anderen Währungen setzte sich im Ver-lauf dieses Jahres fort. So stieg der Euro von 1,05 US-Dollar je Euro Anfang des Jahres 2003 auf ein Niveauvon fast 1,19 US-Dollar je Euro Mitte Juni (Schau-bild 16, Seite 77). Zwischen Mitte Juni und Anfang Sep-tember büßte der Euro einen Teil seiner vorherigen

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

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Entwicklung der Verbraucherpreise in Ländern des Euro-Raums1)

Veränderung gegenüber dem Vorjahreszeitraum

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Euro-Raum2)

Griechenland

Deutschland

Frankreich

1) Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI), 1996=100.– 2) Ab 2001 einschließlich Griechenland (EU-12).– 3) Berechnet mit den Ländergewichten des Har-monisierten Verbraucherpreisindex: Bis 1998 mit den Gewichten des Jahres 1998, ab 1999 mit denen des jeweiligen Jahres.

Quelle: EU

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Streuung der Inflationsraten im Euro-Raum(gewichtete Standardabweichung)3)

Monatswerte

Jahresdurchschnitte

SR 2003 - 12 - 0605

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

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J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

Entwicklung der Erzeugerpreise im Euro-Raum und des Preises für Rohöl am Weltmarkt

Erzeugerpreise1)

(linke Skala)

Rohölpreis2)

(rechte Skala)

1) Gesamtindex der industriellen Erzeugerpreise (ohne Baugewerbe); 2000=100. .– 2) Weltmarktpreis für Rohöl, Brent.Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH

Quellen: EU, IWF

vH US $/Barrel

SR 2003 - 12 - 0606

Kursgewinne gegenüber (fast) allen Währungen wiederein, stieg jedoch seit Anfang September erneut an, sodass der bilaterale Wechselkurs Ende Oktober wieder einNiveau von 1,16 US-Dollar je Euro erreichte. Maßgeb-lich für die schwankende Entwicklung des Euro-Kursesin diesem Jahr war das zwiespältige Bild der US-ameri-kanischen Daten: Auf der einen Seite stärkten die Sorgeum das US-amerikanische Zwillingsdefizit und die zu-nächst positive Zinsdifferenz zwischen dem Euro-Raumund den Vereinigten Staaten den Euro. Hinzu kam, dassdie Dollar-Abwertung wegen Interventionen im asiati-schen Raum – insbesondere in der ersten Jahreshälfte –vor allem den Euro traf. Auf der anderen Seite haben diein der zweiten Jahreshälfte anziehende Konjunktur inden Vereinigten Staaten, die sich ausweitende Wachs-tumsdifferenz zum Euro-Raum sowie der stärkere An-stieg der US-amerikanischen Zinsen und die damit ver-bundene vorübergehende Umkehr der internationalenZinsdifferenz vor allem zu Beginn des dritten Quartalszu verstärkten Dollarkäufen geführt. Im Mittel der erstenzehn Monate belief sich der Wert des Euro-Kurses auf1,12 US-Dollar je Euro. Damit entsprach er ungefährseinen historischen Durchschnittswerten, gemessen abdem Jahr 1979 und bei Zugrundelegung des ECU-Kur-ses zum US-Dollar für die Zeit vor Beginn der Europäi-schen Währungsunion, lag aber um ungefähr 0,17 US-Dollar – das sind 18 vH – über seinem durchschnittli-chen Vorjahresniveau.

Die Entwicklung des Euro zum japanischen Yen undzum britischen Pfund Sterling entsprach bis Mitte Sep-tember weitgehend derjenigen zum US-Dollar. Seitdemwertete dieser gegenüber dem Euro ab, während der Yen

seinen im Juni begonnenen Aufwärtstrend gegenüberdem Euro fortsetzte. Der nominale effektive Wechsel-kurs, welcher sich als gewogener Durchschnitt der Euro-Wechselkurse für ausgewählte Währungen ergibt, ent-wickelte sich weitgehend parallel zum US-Dollar und istseit Jahresbeginn um 6 vH gestiegen.143. Die Auswirkungen einer Abwertung des US-Dollar auf die Inflation im Euro-Raum lassen sich mitHilfe von unterschiedlichen makroökonometrischenMehrländermodellen simulieren. Entsprechende Stu-dien der OECD und der Deutschen Bundesbank deutendarauf hin, dass eine zehnprozentige Abwertung des US-Dollar zu einer Verringerung der europäischen Inflati-onsrate um 0,4 bis 0,7 Prozentpunkte in den beiden Fol-gejahren führt (Deutschland: 0,1 bis 0,5 Prozentpunkte).Im gleichen Zeitraum würde sich die Zuwachsrate desBruttoinlandsprodukts im Euro-Raum (genauso wie inDeutschland) um 0,1 bis 0,4 Prozentpunkte verringern.In den Vereinigten Staaten wäre infolge der Abwertungdes US-Dollar ein Anstieg der Inflationsrate um 0,6 bis1,1 Prozentpunkte sowie eine um 0,2 bis 0,7 Prozent-punkte höhere Zuwachsrate des Bruttoinlandsproduktszu erwarten.

Internationale Aktienmärkte: Erholung im Jahresverlauf

144. Nachdem sich die Aktienmärkte in Europa und inden Vereinigten Staaten zum Ende des Jahres 2002 nochleicht erholt zeigten, sanken die Aktienpreise im erstenQuartal des Jahres unter dem Eindruck der zunehmendengeopolitischen Spannungen sowie aufgrund nach untenkorrigierter Gewinnprognosen. Im Euro-Raum kamenenttäuschte Konjunkturerwartungen erschwerend hinzu.

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

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Log. Maßstab1. Woche 1999 = 100

J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

Nominaler Außenwert des Euro gegenüber ausgewählten Währungen1)

US-Dollar

Effektiver Wechselkursdes Euro2)

1) Wochendurchschnitte.– 2) Berechnungen der Europäischen Zentralbank anhand der gewogenen Durchschnitte der Euro-Wechselkurse für ausgewählteWährungen. Die Gewichte beruhen auf dem Handel mit gewerblichen Erzeugnissen von 1995 bis 1997 mit folgenden Handelspartnern: Australien, Dänemark,Griechenland (bis Dezember 2000), Hongkong (China), Japan, Kanada, orea, Norwegen, Schweden, Schweiz, Singapur, Vereinigtes Königreich,Südk Ver-einigte Staaten.

Japanischer Yen

SR 2003 - 12 - 0607

Im März fielen die Kurse auf den tiefsten Stand seit demJahr 1996 (Schaubild 17, Seite 78). Der Kursrückgangwar begleitet von einer großen Unsicherheit – gemessenetwa an einer bis Mitte März hohen impliziten Volatilitätdes DAX 30.

Die implizite Volatilität von Aktienindizes wird aus Prei-sen von Optionen auf diese Aktienindizes abgeleitet. Siebeschreibt die erwartete Standardabweichung der pro-zentualen Veränderungen der Aktienkurse in einem Zeit-raum von bis zu drei Monaten.

Unter dem Eindruck abnehmender Unsicherheit nachdem Kriegsende im Irak sank auch die implizite Volatili-tät wieder deutlich, und die Anleger begannen, ihr Ver-mögen aus weniger risikobehafteten Anlagen wie Anlei-hen und Gold in Aktien zurückzuschichten. Hinzu traten– vor allem in den Vereinigten Staaten – positive Datenzur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie ein zu-nehmender Optimismus über die Ertragsaussichten derUnternehmen.

Die positivere Entwicklung am europäischen Aktien-markt schlug sich im Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) desDow-Jones-Euro-STOXX nieder. Es ist definiert alsQuotient aus dem Aktienkursindex sowie den gewichte-ten (erwarteten) Gewinnen der in diesem Index notiertenUnternehmen und lag im Mittel des Jahres 2002

bei 16,1. Mit einem durchschnittlichen Wert von 13,8 lagdas KGV in den ersten neun Monaten des Jahres 2003um 14 vH unterhalb des Vorjahresniveaus, stieg aber imVerlaufe des Jahres an.

Die Aktienmärkte in Deutschland und im übrigen Eu-ropa vollzogen im Wesentlichen die Entwicklungen inden Vereinigten Staaten nach, allerdings mit größererAmplitude: So fiel der S&P 500-Index im ersten Quartaldieses Jahres „lediglich“ um 10 vH, während der Dow-Jones-Euro-STOXX sowie der DAX 30 Wertverluste indoppeltem Ausmaß verzeichneten. Mitte Juni erreichtenalle Aktienindizes wieder ihr Niveau vom Ende desJahres 2002, und bis November waren weitere Kursan-stiege zu verzeichnen.

Rentenmärkte: Im Zeichen der Zinswende

145. Wegen der geopolitischen Unsicherheiten und da-mit verbundener Portfolioumschichtungen aus Aktien inRentenwerte setzte sich zu Beginn des Jahres der seitdem Frühjahr 2002 anhaltende Renditerückgang zehn-jähriger Staatsanleihen fort. Verstärkt wurde diese Ent-wicklung durch die verschlechterten Konjunkturaussich-ten. Über das gesamte Laufzeitenspektrum hinweg warenrückläufige Renditen zu beobachten, die vor allem durchÄußerungen US-amerikanischer Notenbankvertreter

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

über Deflationsgefahren und mögliche Interventionenam Sekundärmarkt hervorgerufen wurden. Mitte Junisanken die Renditen zehnjähriger europäischer Staatsan-leihen auf einen historischen Tiefstand von 3,5 %. SeitJuni war im Euro-Raum ein kräftiger Zinsanstieg zu be-obachten, der auf abflauende Deflationsängste und stei-gende Vertrauensindikatoren sowie das damit verbun-dene erneute Interesse an Aktien zurückgeführt werdenkann. Im August erreichten die Renditen der zehnjähri-gen Staatsanleihen mit 4,2 % wieder das Niveau des Jah-resbeginns und stiegen bis Anfang November um wei-tere 15 Basispunkte an.

146. Ein ganz ähnliches Verlaufsmuster wiesen in die-sem Jahr sowohl die langfristigen als auch die kurzfristi-gen Realzinsen auf. Die Differenz zwischen den Nomi-nalzinsen zehnjähriger europäischer Staatsanleihen undden Inflationserwartungen – gemessen mit Hilfe franzö-sischer indexierter Staatsanleihen – betrug im Juni 2,1 %und lag somit rund 40 Basispunkte unterhalb des Ni-veaus zum Jahresbeginn. Gemessen anhand der tatsäch-lichen Veränderungsrate des HVPI verringerten sich dieRealzinsen im gleichen Zeitraum um 35 Basispunkte auf1,8 %. Dem gleichen Trend folgten auch die Realzinsender zweijährigen Staatsanleihen, welche zur Jahresmittenahezu bei null lagen und sich damit um 250 Basis-punkte unterhalb ihres Durchschnitts der vergangenenzehn Jahre bewegten. In der zweiten Jahreshälfte stiegendie Realzinsen wieder leicht an und erreichten im Au-

gust ihr Jahresanfangsniveau. Im Durchschnitt lagen dieRenditen der zehnjährigen Staatsanleihen auf einem Ni-veau von 2,0 % und die der zweijährigen bei 0,4 %. Legtman bei der Ermittlung der Realzinsen wiederum die ausfranzösischen indexierten Anleihen abgeleiteten Inflati-onserwartungen zugrunde, so ergeben sich mit 2,2 % be-ziehungsweise 0,6 % etwas höhere Durchschnittswerte.Im Vergleich zum Vorjahr weitete sich der reale Rendite-abstand zwischen zehn- und zweijährigen Staatsanleihenim Euro-Währungsgebiet – unabhängig vom zugrundeliegenden Messkonzept – um rund 40 Basispunkte aus.

Die Renditen der Unternehmensanleihen folgten demTrend der Staatsanleihen und gaben bis Juni 2003 eben-falls nach. Vor allem Schuldner geringer Bonität parti-zipierten an dem Anstieg der Nachfrage nach rendite-trächtigeren Anleihetiteln. Die Renditedifferenz vonUnternehmensanleihen geringer Bonität zu Staatsanlei-hen sank im Zeitablauf deutlich und unterschritt seit Junidas Niveau des Jahres 1999. Die Risikoaufschläge fürUnternehmensanleihen guter Bonität nahmen ebenfallsab, wenn auch in geringerem Umfang (Schaubild 18).Diese Entwicklung dürfte durch die Bemühungen deremittierenden Unternehmen, ihren relativen Verschul-dungsgrad zu senken, gefördert worden sein. Insgesamthaben sich die Finanzierungsbedingungen auf demMarkt für Unternehmensanleihen im Euro-Raum günstigentwickelt.

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J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

Entwicklung der Aktienkurse und ihre Volatilität in Deutschland und im Euro-Raum

Dow-Jones-Euro-STOXX-Index1)

(linke Skala)

DAX 30-Index2)

(linke Skala)

1) Dow-Jones-Euro-STOXX-Index für das Euro-Währungsgebiet; Wochendurchschnitte.– 2) Deutscher Aktien Index; Wochendurchschnitte.– 3) Die impliziteVolatilität von Aktienindizes wird aus Preisen von Optionen auf diese Aktienindizes abgeleitet und beschreibt die erwartete Standardabweichung der prozen-tualen Veränderungen der Aktienkurse in einem Zeitraum von bis zu drei Monaten.

1. Januar 1998 = 100

Quelle: Deutsche BundesbankSR 2003 - 12 - 0609

Implizite Volatilität desD 30AX 3)

(rechte Skala)

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

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Zinsdifferenzen am europäischen Rentenmarkt für unterschiedliche Schuldnerklassen1)

AAA zu Staatsanleihen

BBB zu Staatsanleihen

1) Anleihen .für S s Ratings nach Standard & Poor´schuldner in der Systematik de

Quelle für Grundzahlen: Thomson Financial

BBB zu AAA

SR 2003 - 12 - 0614

147. Die internationale Zinsdifferenz zwischen den zinsänderungen der Europäischen Zentralbank – von

zehnjährigen Staatsanleihen des Euro-Raums und denender Vereinigten Staaten unterlag im JahresverlaufSchwankungen mit einer Spannbreite von 80 Basispunk-ten. Nachdem sich der Zinsabstand zunächst ausweiteteund die europäischen Renditen die US-amerikanischenum bis zu 48 Basispunkte übertrafen, kehrte sich dieZinsdifferenz zur Jahresmitte um. Im August lagen dieRenditen der zehnjährigen US-amerikanischen Staatsan-leihen um bis zu 35 Basispunkte oberhalb der europäi-schen. Die Umkehr der internationalen Zinsentwicklungwar maßgeblich auf den außergewöhnlich starken Ren-diteanstieg der US-amerikanischen Anleihen zurück-zuführen. Ursächlich hierfür waren das mit der hohenamerikanischen Staatsverschuldung steigende US-ame-rikanische Anleihe-Angebot und die vor allem in denVereinigten Staaten verbesserten Konjunkturaussichten.Bis September sanken die amerikanischen Renditen– vor allem wegen der weniger erfreulichen amerikani-schen Arbeitsmarktdaten – wieder auf das europäischeNiveau. Seitdem schwankte die Zinsdifferenz um null.

Geldmarkt: Tiefstand der Zinsen

148. Die Situation am Geldmarkt wird vor allem beein-flusst durch die (erwartete) Entwicklung der Leitzinsen.Bis zum Juli dieses Jahres setzte sich der seit MitteMai 2002 zu beobachtende Rückgang der Geldmarktzin-sen fort. Die Zinssätze am kurzen Ende des Geldmarktssanken seit November 2002 – bedingt durch die Leit-

3,2 % schrittweise auf 2,1 % im Juni dieses Jahres(Tabelle 14, Seiten 82 ff.). Der Zins der Übernachteinla-gen, EONIA, lag bis auf wenige Ausnahmen stabil amMindestbietungssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte.Die Entwicklung der Geldmarktzinsen am langen Endeverlief bis Mitte Juni parallel zu der am kurzen Ende, al-lerdings bei inverser Zinsstruktur (Schaubild 19,Seite 80). Seit Mitte Juni stiegen die Zinsen für Zwölf-monatsgelder deutlich stärker an als die kurzfristigen,und seit August hat sich die Zinsdifferenz zwischen Drei-und Zwölfmonatsgeld wieder normalisiert. Dies deutetdarauf hin, dass die Märkte im Jahresverlauf eher stei-gende Kurzfristzinsen erwarteten. Gestützt wird dieseEinschätzung durch die Tatsache, dass sich der Dreimo-nats-EURIBOR seit Juni um ungefähr 13 Basispunkteoberhalb des Hauptrefinanzierungssatzes bewegte.Schließlich zeigt auch der Vergleich von Dreimonats-zinssätzen und Preisen für entsprechende Terminkon-trakte im Euro-Währungsgebiet seit dem Ende des drit-ten Quartals höhere Zinserwartungen für den Geldmarktan: Anfang Juli lagen die Zinsen für Dreimonats-Ter-minkontrakte mit Fälligkeit im September und Dezem-ber 2003 sowie im März und Juni 2004 noch unterhalbdes zu diesem Zeitpunkt geltenden Dreimonats-EURIBOR. Anfang September waren die Terminzins-sätze für Kontrakte mit identischer Fälligkeit dagegenum bis zu 55 Basispunkte höher als der – zu diesem Zeit-punkt gestiegene – Dreimonats-EURIBOR.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

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J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

Zinsdifferenzen im Euro-Raum1)

Geldmarkt3)

1) Wochen-Endstände. 2) gen Staats -– – 3 -Rendite von langfristi anleihen (10 Jahre) abzüglich Zinssatz für EURIBOR.Zwölfmonats ) Zinssatz für ZwölfmonatsEURIBOR abzüglich Zins monats EURIBOR.satz für Drei -

Quelle für Grundzahlen: EZB

Kapitalmarkt2)

Prozentpunkte Prozentpunkte

SR 2003 - 12 - 0613

M3-Zuwachs: Weiterhin deutlich oberhalb des ren die hohe Unsicherheit an den Finanzmärkten und die

Referenzwerts

149. Auch in diesem Jahr setzte sich die Geldmengen-expansion ungebremst fort: So stieg die Geldmenge M3in den ersten neun Monaten um durchschnittlich 8,1 vHgegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum(Schaubild 20). Zwar war zur Mitte des Jahres eineleichte Abschwächung der Expansion zu beobachten,insgesamt lag die Zuwachsrate von M3 jedoch weiterhindeutlich über dem im Dezember 2002 bestätigten Refe-renzwert in Höhe von 4,5 vH. Ursächlich hierfür war– wie im vergangenen Jahr – die starke Ausweitung derGeldmenge M1 sowie der marktfähigen Finanzinstru-mente, unter denen den Geldmarktfondsanteilen nachwie vor ein besonderes Gewicht zukam.

Die marktfähigen Finanzinstrumente umfassen dieRepogeschäfte, Geldmarktfondsanteile und Geldmarkt-papiere sowie Schuldverschreibungen mit einer Ur-sprungslaufzeit von bis zu zwei Jahren. Sie entsprechensomit der Differenz zwischen den Geldmengen M3und M2. Der Bestand an marktfähigen Finanzinstrumen-ten lag in der ersten Jahreshälfte im Durchschnitt rund8 vH oberhalb des Vorjahresniveaus und 45 vH überdem Niveau des Jahres 1998. Als Gründe für diese ho-hen Zuwachsraten können wie in den vergangenen Jah-

konjunkturellen wie geopolitischen Risiken angeführtwerden. Diese veranlassten die Anleger, ihre Beständean relativ risikoreichen Vermögenswerten wie Aktiengegen die relativ liquiden und risikoärmeren, in M3 ent-haltenen Vermögenswerte zu substituieren. Eine Korrek-tur der Zunahme des Bestands an marktfähigen Finanz-instrumenten – und damit auch von M3 – blieb bisheraus.

Da auch die Bestandteile des engen Geldmengenag-gregats M1 als sicherer Hafen gelten, in den bei Unsi-cherheiten von den Kapitalmärkten abgezogene Mittelfließen, war ebenso wie bei den marktfähigen Finanzin-strumenten auch bei der Geldmenge M1 eine überpro-portionale Veränderung zu beobachten. Hier spieltenaber auch die aufgrund des niedrigen Zinsniveaus imEuro-Währungsgebiet geringen Opportunitätskosten derGeldhaltung eine Rolle. Auffällig war auch, dass derkontraktiven Entwicklung der Bargeldmenge im Jahr2002 in den ersten Monaten dieses Jahres eine sehr aus-geprägte Ausdehnung der Bargeldbestände mit Ratenum bis zu 30 vH folgte. Offenbar wurden die Bargeld-bestände wieder aufgebaut, nachdem im Vorfeld derEuro-Bargeldeinführung zu Beginn des Jahres 2002 einevorübergehende Umschichtung in kurzfristige Einlageneingesetzt hatte. Hinzu kam eine steigende Euro-

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

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Geldmenge M13)

1) Geldmenge M1 zuzüglich Einlagen mit vereinbarter Laufzeit undvereinbarter Kündigungsfrist bis zu drei Monaten (ohne Einlagen derZentralstaaten) zuzüglich Repogeschäfte, Geldmarktpapiere sowieSchuldverschreibungen bis zu zwei Jahren.– 2) Ordinatenmaßstabgegenüber der Darstellung von M3 gestaucht.– 3) Bargeldumlauf,täglich fällige Einlagen (ohne Einlagen von Zentralstaaten) und mo-netäre Verbindlichkeiten der Zentralstaaten.– 4) Kredite von mone-tären Finanzinstituten.

Quelle: EZB

MFI-Kredite anUnternehmen undPrivatpersonen4)

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J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

Geldmenge M31)

GleitenderDreimonats-durchschnitt

Referenzwertfür M3 (4 1/2 vH)

Ausgewählte Komponenten von M32)

Geldmenge M3

Monetäre Entwicklung im Euro-RaumVeränderung gegenüber dem Vorjahr

SR 2003 - 12 - 0610

Bargeldnachfrage von Ansässigen außerhalb des Euro-Währungsgebiets. Insgesamt wurde in diesem Jahr wie-der das Niveau der Bargeldbestände aus dem Jahr 2001erreicht. Im Gegenzug normalisierte sich die Entwick-lung der täglich fälligen Einlagen.

Die weiterhin reichliche Liquiditätsversorgung spie-gelte sich ebenfalls in den Indikatoren der Überschussli-quidität wider. So überstiegen die Werte der nominalenund der realen Geldlücke erneut ihre Vorjahresniveaus(Schaubild 21, Seite 82).

Die nominale Geldlücke beschreibt die relative Abwei-chung des tatsächlichen M3-Geldmengenbestands voneiner hypothetischen Geldmenge, die sich aus einemdem Referenzwert entsprechenden monetären Zuwachsergeben hätte. Die reale Geldlücke gibt analog die Ab-weichung des realen Geldmengenbestands von der obenbeschriebenen Referenz-Geldmenge an, wenn man diesemit einem hypothetischen, dem Preisniveaustabilitätszielder Europäischen Zentralbank genügenden Preisindexdeflationiert.

150. Bei den zuvor beschriebenen Gründen für diestarke Expansion der Geldmenge M3 und dem damitverbundenen Aufbau von Überschussliquidität handeltes sich hauptsächlich um Sondereffekte, die sich der üb-lichen Modellierung im Rahmen von Geldnachfrage-funktionen weitgehend entziehen. Dass das hohe M3-Wachstum überwiegend durch Portfolioumschichtungenzu begründen ist, zeigt sich auch an den Gegenpostender Geldmenge: So sank die Zuwachsrate der Kreditevon Monetären Finanzinstituten an Ansässige im Euro-Währungsgebiet (ohne Monetäre Finanzinstitute und öf-fentliche Haushalte) im ersten Quartal dieses Jahres aufunter 5,0 vH und hat sich seitdem auf diesem Niveaustabilisiert. Insgesamt spricht das niedrige Niveau desKreditwachstums dafür, dass der Liquiditätsüberhangbisher keine Tendenz anzeigt, realwirtschaftlich nachfra-gewirksam zu werden und sich auf mittlere Frist inPreisniveausteigerungen zu entladen. Auch die bislangtrotz sehr günstiger Finanzierungsbedingungen verhal-tene Investitionstätigkeit und die niedrige Kapazitätsaus-lastung im Euro-Raum lassen dieses Szenario als wenigwahrscheinlich erscheinen.

151. Das Vorliegen geringer Inflationsrisiken spiegeltsich ferner in den stabilen Inflationserwartungen wi-der. Die von der Europäischen Zentralbank im Augustdieses Jahres veröffentlichten Ergebnisse der Umfragenunter Prognostikern (Survey of Professional Forecasters)weisen längerfristige Inflationserwartungen in Höhe von1,9 vH aus. Werden die langfristigen Inflationserwartun-gen alternativ aus der Renditedifferenz zwischen nomi-nalen und an den HVPI des Euro-Raums indexiertenfranzösischen Staatsanleihen abgeleitet, so ergibt sichfür dieses Jahr ein durchschnittlicher Wert in Höhe von1,8 vH. Damit zeigen beide Indikatoren weitgehend kon-stante Inflationserwartungen an, was darauf hinweist,dass die Märkte – ebenso wie die Notenbank – in demaufgebauten Liquiditätsüberschuss kein Inflationsrisikosehen.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

S c h a u b i l d 21

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Geldpolitisch und währungspolitisch wichtige Ereignisse

Datum

2002

5. Dezember Der EZB-Rat senkt den Mindestbietungssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte – begin-nend mit dem am 11. Dezember 2003 abzuwickelnden Geschäft – um 50 Basispunkte auf2,75 %. Gleichzeitig senkt er die Zinssätze für die Spitzenrefinanzierungsfazilität und die Ein-lagefazilität mit Wirkung vom 6. Dezember 2003 um jeweils 50 Basispunkte auf 3,75 % bezie-hungsweise 1,75 %.

Des Weiteren legt der EZB-Rat einen mit 4½ vH unveränderten Referenzwert für das Wachs-tum der Geldmenge M3 fest. Den Berechnungen liegen die folgenden Annahmen zugrunde:Eine trendmäßige Abnahme der Umlaufgeschwindigkeit von M3 in einer Größenordnung von½ vH bis 1 vH, ein Potentialwachstum zwischen 2 vH und 2½ vH sowie eine mittelfristigeZielmarke für die Preisniveaustabilität in Höhe von unter 2 vH.

-4

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2

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6

8

10

0

vH

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vH

J A J O J A J O J A J O J A J O J A J O J A J O J A J O1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003

Geldlücken im Euro-Raum1)

Nominale Geldlücke2)

Reale Geldlücke3)

SR 2003 - 12 - 0612

1) Basisperiode für die Berechnung der Geldlücken: Dezember 1998.– 2) Relative Abweichung der nominalen Geldmenge M3 von einer mit dem Referenzwert-wachstum von 4,5 vH kompatiblen Geldmenge.– menge M3 von der gleichgewichtigen realen Geldmenge (Annahme:3) Relative Abweichung der realen GeldZuwachs der nominalen Geldmenge M3 von 4,5 vH gegenüber Vorjahr, gleichgewichtiger HVPI-Anstieg von 1,5 vH gegenüber Vorjahr).

Quelle für Grundzahlen: EZB

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

2003

6. März Der EZB-Rat senkt den Mindestbietungssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte – begin-nend mit dem am 12. März 2003 abzuwickelnden Geschäft – um 25 Basispunkte auf 2,50 %.Außerdem senkt er die Zinssätze für die Spitzenrefinanzierungsfazilität und die Einlagefazilitätmit Wirkung vom 7. März 2003 um jeweils 25 Basispunkte auf 3,50 % beziehungsweise1,50 %.

Bundesfinanzminister Hans Eichel stellt den Finanzmarktförderplan 2006 vor. Ziel dieses Plansist es, den Anlegerschutz weiter zu verbessern und den deutschen Kapitalmarkt – auch im Ver-gleich zu seiner internationalen Konkurrenz – zu stärken. Der Plan ist eng verknüpft mit derSchaffung eines einheitlichen europäischen Finanzmarkts, wie er durch die Umsetzung des EU-Aktionsplans Finanzdienstleistungen im Jahr 2005 entstehen soll. Der Finanzmarktförderplanenthält die Elemente des am 25. Februar 2003 vorgestellten 10-Punkte Programms der Bundes-regierung zur Verbesserung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes. Ein weitererwesentlicher Bestandteil ist das Investmentgesetz 2003. Dieses schafft erstmals in Deutschlandeinen gesetzlichen Rahmen für Anbieter von Hedge-Fonds. Es soll zudem Wettbewerbsnach-teile des Standorts Deutschland bei Fonds beseitigen, das Umfeld und die Verwaltung von In-vestmentfonds verbessern und die vielfältigere Ausgestaltung von Fonds ermöglichen. Schließ-lich sieht der Finanzmarktförderplan neue Wege bei der Erschließung des Markts fürVerbriefungen (Asset-Backed-Securities) vor. Kreditinstitute können nunmehr in Deutschlandihre Kreditforderungen und Kreditrisiken in Zweckgesellschaften bündeln und daraus Wertpa-piere an den Kapitalmarkt bringen.

21. März Der Europäische Rat verabschiedet den vom EZB-Rat am 3. Februar empfohlenen Beschlussüber eine Änderung der Abstimmungsregeln im EZB-Rat. Zu den Einzelheiten sieheZiffern 176 ff.

24. März Die am 1. Januar 2003 begonnene Neustrukturierung des deutschen Aktienmarkts ist abge-schlossen. Mit dem Inkrafttreten der geänderten Börsenordnung wurden zwei zentrale Seg-mente an der Frankfurter Wertpapierbörse eingeführt: der Prime Standard und der GeneralStandard. Im Unterschied zu Unternehmen des General Standard müssen – inländische wieausländische – Unternehmen des Prime Standard zusätzlich zu den gesetzlichen Anforderun-gen internationale Berichtspflichten erfüllen. Die Entwicklung aller deutschen Werte desPrime und des General Standard, also des gesamten Deutschen Aktienmarkts wird durch denCDAX-Index gemessen, der zu den sogenannten Benchmark-Indizes gehört; ebenso wie derPrime All Share-Index, der lediglich die im Prime Standard enthaltenen Unternehmen um-fasst. Der Prime All Share-Index ist in 18 Branchenindizes eingeteilt. Diese werden ab dem24. März in einer einheitlichen Struktur und ausschließlich für das Prime-Segment berechnetund setzen die Indexhistorie der CDAX-Branchen fort. Auch für die Aufnahme von Unterneh-men in die Auswahlindizes DAX, MDAX, SDAX und TecDAX ist die Zulassung zum PrimeStandard Voraussetzung. Der DAX bleibt im Zuge der Neustrukturierung unverändert undumfasst weiterhin die 30 größten deutschen Unternehmen. Der MDAX wird verkleinert aufdie 50 vorwiegend mittelständische Unternehmen (Midcaps) der klassischen Branchen; ge-nauso wie der SDAX, der in Zukunft nur noch die 50 kleineren Unternehmen (Smallcaps) derklassischen Branchen umfaßt. Die 30 größten Werte der Technologiebranche finden sich indem am 24. März neu eingeführten TecDAX – dem verkleinerten Nachfolgeindex vonNEMAX 50, der zum Ende des Jahres 2004 ausläuft. Die Werte von DAX, MDAX undTecDAX bilden zusammen das Indexportfolio des HDAX, dessen Historie direkt aus der vomDAX 100 hervorgeht.

8. Mai Der EZB-Rat gibt die Ergebnisse der Überprüfung der geldpolitischen Strategie bekannt. Zuden Einzelheiten siehe Ziffern 152 ff. und Ziffern 723 ff.

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Geldpolitisch und währungspolitisch wichtige Ereignisse

Datum

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noch: Geldpolitisch und währungspolitisch wichtige Ereignisse

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2003

1. Juni Die ehemalige Vizegouverneurin der Österreichischen Nationalbank, Gertrude Tumpel-Gugerell, tritt die Nachfolge der Finnin Sirkka Hämäläinen als Mitglied des sechsköpfigenEZB-Direktoriums an.

5. Juni Der EZB-Rat senkt den Mindestbietungssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte – begin-nend mit dem am 9. Juni 2003 abzuwickelnden Geschäft – um 50 Basispunkte auf 2,0 %. Au-ßerdem senkt er die Zinssätze für die Spitzenrefinanzierungsfazilität und die Einlagefazilitätmit Wirkung vom 6. Juni 2003 um jeweils 50 Basispunkte auf 3,0 % beziehungsweise 1,0 %.

9. Juni Die britische Regierung beschließt, weiterhin von einem Beitritt zur Europäischen Währungs-union abzusehen und kein Referendum über diese Frage abzuhalten. Zu den Einzelheiten sieheZiffern 136.

9. Juli Die sogenannte „True Sales Initiative (TSI)“ wird ins Leben gerufen: 13 Banken unterzeicheneine Absichtserklärung für die Gründung einer Zweckgesellschaft zur Kreditverbriefung inDeutschland. Teilnehmer dieser Verbriefungsinitiative sind die staatliche Kreditanstalt für Wie-deraufbau (KfW), vier deutsche Großbanken (Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank,HypoVereinsbank) sowie ihr Joint Venture Eurohypo, die genossenschaftliche DZ-Bank, dieCitigroup sowie fünf Institute aus dem Sparkassen- und Landesbankensektor (Bayrische Lan-desbank, DekaBank, Helaba, HSH Nordbank, WestLB). Vorausgegangen war am 6. Juni derBeschluss des Kleinunternehmerförderungsgesetzes (KFG) durch den Bund und im Rahmendieses Artikelgesetzes eine gewerbesteuerliche Entlastung vom Zweckgesellschaften zur Kre-ditverbriefung. Dadurch wurden steuerliche Nachteile von Verbriefungen im Vergleich zumAusland beseitigt. Zuvor hatte Bundesfinanzminister Eichel am 29. Januar eine „Verbriefung-sinitiative“ ins Leben gerufen.

14. Juli Die Auffanggesellschaft „Protektor Lebensversicherungs-AG“, die im Falle der finanziellenNotsituation einer Lebensversicherung deren vertragliche Pflichten gegenüber den Kundenübernimmt, beginnt mit der Übernahme der Policen der Mannheimer Lebensversicherung ihreArbeit, nachdem sie im November 2002 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Die zehnGründungsunternehmen von Protektor haben 3,2 Mio Euro Grundkapital eingezahlt. Alle120 Lebensversicherer, die Mitglied im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft(GDV) sind, mussten Protektor beitreten und maximal ein Prozent ihrer eigenen Kapitalanlagenzur Sanierung der Bestände zur Verfügung stellen. Damit ist sichergestellt, dass Protektor imBedarfsfall ausreichend Kapital – maximal 5,2 Mrd Euro – zur Verfügung steht.

Der Garantiezins für alle Neuverträge im Bereich der Lebensversicherungen wird ab dem 1. Ja-nuar 2004 auf 2,75 % gesenkt. Jahrzehntelang lag der Garantiezins bei 3 %, ehe er im Jahr 1987auf 3,5 % sowie im Jahr 1995 auf 4 % erhöht und im Jahr 2000 wieder auf 3,25 % reduziertwurde.

15. August Das Gesetz zur Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes tritt in Kraft. Es setzt die Zu-sammenlegung der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und der Deutschen Ausgleichsbank(DtA) als Bestandteil der Mittelstandsoffensive der Regierung sowie die Verständigung mit derEU-Kommission zu Anstaltslast und Gewährträgerhaftung vom 27. März 2002 hinsichtlich derselbständigen öffentlich-rechtlichen Förderbanken des Bundes um. Verbunden mit der Zusam-menlegung von KfW und DtA ist die Übertragung des Vermögens der DtA auf die KfW unterAuflösung der DtA.

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Geldpolitisch und währungspolitisch wichtige Ereignisse

Datum

n o c h Tabelle 14

noch: Geldpolitisch und währungspolitisch wichtige Ereignisse

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

noch 2003

14. September Die schwedischen Wähler entscheiden sich in einem Referendum erneut gegen die Einführungdes Euro: 56,1 vH der Wähler sprechen sich gegen einen Beitritt ihres Landes zur EuropäischenWährungsunion aus, 41,8 vH stimmen dafür. Die Wahlbeteiligung beträgt 81,2 vH. Mit diesemnegativen Votum ist eine Beteiligung Schwedens an der Gemeinschaftswährung in weite Fernegerückt. Auch ohne Ausnahmeregelungen, wie sie für das Vereinigte Königreich und Dänemarkgelten, kann Schweden so lange auf einen Beitritt zur Europäischen Währungsunion verzichten,wie es nicht mindestens zwei Jahre lang dem Europäischen Währungssystem II angehört; einBeitritt zu diesem System ist jedoch freiwillig.

19. September Die Europäische Zentralbank unterbreitet im Rahmen ihrer auf Ersuchen des Rates der Euro-päischen Union verabschiedeten Stellungnahme einige Verbesserungsvorschläge zu dem Ent-wurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Diese beziehen sich vor allem auf die Ar-tikel 1 – 3 und 1 – 29. Zu den zentralen Forderungen der Europäischen Zentralbank gehörterstens die Aufnahme eines Hinweises auf „nichtinflationäres Wachstum“ oder „Preisstabilität“in den Zielkatalog der Union. Gemäß der gegenwärtigen Ausgestaltung wird das Ziel der Preis-stabilität erst im Zusammenhang mit der Europäischen Zentralbank genannt. Im Zielkatalog desEG-Vertrages sind dagegen ein „nichtinflationäres Wachstum“ und „stabile Preise“ als Ziele derEuropäischen Union enthalten. Zweitens fordert die Europäische Zentralbank eine Klarstellungdes Verfassungsentwurfs in der Hinsicht, dass die sie zwar Teil des institutionellen Rahmensder Union ist, aufgrund ihrer speziellen institutionellen Eigenschaften aber nicht zu den Orga-nen der Union gehört. Im Entwurf rangiert die Europäische Zentralbank zusammen mit demRechnungshof unter „Sonstige Organe und Einrichtungen“ und wird auch explizit als Organ be-zeichnet. Als Organ wäre die Europäische Zentralbank verpflichtet, mit den anderen Organender Europäischen Union „loyal zusammenzuarbeiten“. Drittens fordert die Europäische Zen-tralbank die Aufnahme eines Hinweises auf die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbankenzusätzlich zu ihrer eigenen Unabhängigkeit.

7. Oktober Der EZB-Rat erlässt die Verordnung EZB/2003/9, welche ab März 2004 Änderungen im geld-politischen Handlungsrahmen des Eurosystems vorsieht und auf eine Entscheidung des EZB-Rates vom 23. Januar 2003 zurückgeht: Zum einen beginnt die Mindestreserve-Erfüllungsperi-ode künftig immer am Abwicklungstag des Hauptrefinanzierungsgeschäfts, das im Anschlussan die EZB-Ratssitzung durchgeführt wird, in welcher die monatliche Erörterung der Geldpoli-tik erfolgt. Zum zweiten wird die Laufzeit der Hauptrefinanzierungsgeschäfte von zwei Wo-chen auf eine Woche verkürzt. Von einer – ursprünglich ebenfalls vorgesehenen – Aussetzungder längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte (LRGs) wurde dagegen abgesehen. Mit diesenMaßnahmen soll im Wesentlichen verhindert werden, dass während einer Erfüllungsperiodeaufkommende Zinsänderungsspekulationen die Bedingungen am ganz kurzen Ende des Geld-marktes negativ beeinflussen.

11. Oktober Der Basel II-Akkord zur Neufassung der Eigenkapitalanforderungen im Kreditgeschäft wird er-neut modifiziert und seine Verabschiedung um ein halbes Jahr auf Mitte 2004 verschoben. Zu-vor waren am 5. Mai die dritte Auswirkungsstudie (QIS 3) und am 29. April das dritte Konsul-tationspapier (CP 3) veröffentlicht worden. Zu den Einzelheiten siehe Ziffern 109 ff.

1. November Der ehemalige Chef der Banque de France, Jean-Claude Trichet, tritt die Nachfolge von WillemF. Duisenberg als Präsident der Europäischen Zentralbank für eine Amtszeit von acht Jahren an.Neuer Chef der französischen Zentralbank wird Christian Noyer, der am 1. Juni 2002 von sei-nem Amt als Vizepräsident der Europäischen Zentralbank zurückgetreten war.

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Geldpolitisch und währungspolitisch wichtige Ereignisse

Datum

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noch: Geldpolitisch und währungspolitisch wichtige Ereignisse

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Page 112: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2003

3. November Die Deutsche Börse verkürzt die Handelszeiten im elektronischen Xetra-Handel und verlegtden Handelsschluss von bisher 20 Uhr wieder auf 17.30 Uhr vor. Die Ausweitung bis 20 Uhrhatte auf dem Höhepunkt des Börsenbooms vor drei Jahren stattgefunden, um die Reaktionszeitauf die US-Börsenentwicklung zu verlängern und der stark gestiegenen Zahl der Privatanlegerden Handel zu erleichtern. Die Hoffnungen der Deutschen Börse auf einen verstärkten Umsatzin den Abendstunden erfüllten sich jedoch nicht. Zudem war der Abendhandel für die Bankenmit einem hohen Personalaufwand verbunden. Der Parketthandel wird unverändert bis 20 Uhrfortgeführt.

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Geldpolitisch und währungspolitisch wichtige Ereignisse

Datum

Exkurs: Strategieanpassung der Europäischen Zen- allem ihre Verpflichtung unterstreichen, für eine aus-

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noch: Geldpolitisch und währungspolitisch wichtige Ereignisse

tralbank − Auf dem Weg zur Inflationssteuerung?

152. Am 8. Mai 2003 verkündete die Europäische Zen-tralbank die Ergebnisse der seit Dezember 2002 durch-geführten Revision ihrer geldpolitischen Strategie. Zielwar es, diese vor dem Hintergrund der praktischenErfahrungen, der öffentlichen Diskussion sowie einerReihe von theoretischen Analysen zu überprüfen und ge-gebenenfalls anzupassen. Als Ergebnis der Überprüfunglassen sich folgende Änderungen festhalten:

– Erstens hat die Europäische Zentralbank ihre Defini-tion des Preisniveaustabilitätsziels konkretisiert: Esist dabei geblieben, dass Preisniveaustabilität als An-stieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex von„unter 2 vH“ gegenüber dem Vorjahr definiert wird.Diese muss mittelfristig gewährleistet sein. Aller-dings wird die Europäische Zentralbank in Zukunftversuchen, die Preisniveausteigerungsrate „nahe2 vH“ zu halten.

– Zweitens haben die „Einleitenden Bemerkungen“des EZB-Präsidenten – die monatliche öffentliche Er-läuterung der geldpolitischen Maßnahmen – eineneue Struktur erhalten: Seit Mai beginnen sie mitden Ergebnissen der „wirtschaftlichen Analyse“ zurErmittlung der kurzfristigen bis mittelfristigen Risi-ken für die Preisniveaustabilität. Diese Strategiesäuleumfasst vor allem die Analyse realwirtschaftlicherIndikatoren mit Blick auf ihre Inflationseffekte. Hier-auf erfolgt die Darstellung der Ergebnisse der „mone-tären Analyse“, bei der mittelfristige bis langfristigeInflationsrisiken mit Hilfe einer Reihe von monetärenIndikatoren bewertet werden.

– Drittens hat die Europäische Zentralbank beschlos-sen, die Überprüfung des Referenzwerts für das an-gestrebte Geldmengenwachstum nicht mehr jährlich,sondern nur noch bei Änderungen des langfristigenWachstumspfads vorzunehmen.

153. Mit der „Klarstellung“ der Definition von Preis-niveaustabilität will die Europäische Zentralbank vor

reichende Sicherheitsmarge zum Schutz gegen De-flationsrisiken, gegen eventuelle Messfehler beimHVPI und gegen die Auswirkungen von Inflationsun-terschieden innerhalb des Euro-Währungsgebiets zusorgen (JG 2001 Ziffern 480 ff.). Außerdem wird durcheine leicht positive Inflationsrate die Flexibilität derReallöhne, welche die Anpassungsfähigkeit der Ar-beitsmärkte infolge externer Schocks bei nach untenstarren Nominallöhnen positiv beeinflusst, tendenziellerhöht.

Die neue Struktur der „Einleitenden Bemerkungen“ sollbesser verdeutlichen, dass die beiden Säulen einander er-gänzende Analyserahmen darstellen und dass die mone-täre Analyse in erster Linie dazu dient, die Aussagen derwirtschaftlichen Analyse aus mittelfristiger bis langfris-tiger Perspektive zu überprüfen. Faktisch bedeutet dieModifikation eine veränderte Gewichtung von erster undzweiter Säule der geldpolitischen Strategie und kommteiner Herabstufung der Bedeutung der Geldmengegleich. Dadurch soll die Kommunikation bei einem Auf-treten von widersprüchlichen Informationen hinsicht-lich der Risiken für die Preisniveaustabilität vereinfachtwerden.

Trotz gegenteiliger Aussagen der Europäischen Zentral-bank mag die ursprünglich jährliche Überprüfung desReferenzwerts zudem den Eindruck erweckt haben, eshandele sich dabei um eine Zwischenzielgröße, derenVerfehlung zwingend Reaktionen der Zentralbank her-vorrufe. Dies schuf einen Erklärungsbedarf für die Euro-päische Zentralbank, wenn es zu Abweichungen des tat-sächlichen Geldmengenzuwachses vom Referenzwertkam. Durch die nur noch bei Änderungen in denlangfristigen Rahmenbedingungen vorgenommeneÜberprüfung des Referenzwerts soll dessen Natur alslängerfristiger Richtwert für das Geldmengenwachstumunterstrichen werden.

154. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dassdie von der Europäischen Zentralbank praktizierte Geld-

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

politik sich durch die beschriebenen Modifikationen derStrategie nicht grundlegend ändern wird. Ihre Klar-stellung stellt eher eine Anpassung an die bereitspraktizierte Vorgehensweise bei geldpolitischen Ent-scheidungen dar. Daher erscheinen Befürchtungen alsunbegründet, die Europäische Zentralbank könne ihrePolitik zukünftig stärker an konjunkturellen Belangenausrichten und so eine offene Flanke gegenüber politi-schem Druck bieten. Ein Blick auf die unveränderten In-flationserwartungen zeigt, dass diese Geringschätzungder angesprochenen Gefahren von den Marktteilneh-mern geteilt wird.

Kritisiert wird die nach wie vor wenig scharfe Definitiondes Preisniveaustabilitätsziels. Manche Beobachter derEuropäischen Zentralbank hätten daher statt der vagenZieldefinition – unter, aber nahe 2 vH – ein konkretesPunktziel bevorzugt. Die vermeintlichen Nachteile einesgewissen Unschärfebereichs bei der Zielfestlegungscheinen in der Praxis jedoch nicht von Bedeutung zusein (Ziffer 726).Die Konkretisierung des Verhältnisses der beiden Strate-giesäulen zueinander mag zu einem besseren Verständ-nis des geldpolitischen Konzepts beitragen. Offen bleibtjedoch weiterhin, wie die Europäische Zentralbank diein die monetäre und wirtschaftliche Analyse einbezo-genen Variablen, ihre quantitative Bedeutung für die

künftige Inflation im Euro-Raum und ihre Gewichtungim geldpolitischen Entscheidungsprozess konkret spe-zifiziert. Möglich wäre zum Beispiel eine Verdichtungder Einzelindikatoren zu einer Inflationsprognose, unterderen Verwendung die geldpolitischen Maßnahmen ent-schieden und kommuniziert werden. Eine solche Vorge-hensweise steht im Zentrum der (direkten) Inflations-steuerung (Kasten 2). Diese würde auch eine stärkereIntegration und interaktive Interpretation der Indikato-ren der beiden Strategiesäulen erlauben (JG 2002 Zif-fern 565 ff.).

155. Mit den durchgeführten Strategieänderungen hatdie Europäische Zentralbank bewusst auf eine stärkereAnlehnung an das Konzept der Inflationssteuerung ver-zichtet. Statt dessen betont sie, dass ihr geldpolitischerAnsatz weiterhin eine wirtschaftliche und eine monetäreAnalyse beinhaltet und somit das „Zwei-Säulen-Konzeptbei der Aufarbeitung, der Beurteilung und der Gegen-prüfung der für die Geldpolitik relevanten Informatio-nen“ beibehält. Als Begründung für die Beibehaltungder beiden Strategiesäulen verweist die EuropäischeZentralbank auf Vorteile ihrer Konzeption bei der Be-rücksichtigung instabiler Vermögenspreise oder Immo-bilienpreise. De facto bestehen jedoch große Ähnlichkei-ten zwischen der Inflationssteuerung und der EZB-Strategie.

K a s t e n 2

Inflationssteuerung: Ausgestaltungsmöglichkeiten und empirische Ergebnisse

Inflationssteuerung als geldpolitische Strategie

Eine geldpolitische Strategie hat zwei wesentliche Aufgaben zu erfüllen: Zum einen soll sie einen bindenden Rah-men für das geldpolitische Handeln und damit eine klare Struktur liefern, um die Entscheidungsfindung der geld-politisch Verantwortlichen zu erleichtern. Zum anderen soll sie im Rahmen der Kommunikation mit der Öffent-lichkeit helfen, die Entscheidungen der Notenbank verständlich zu machen und so die Glaubwürdigkeit derGeldpolitik fördern. Ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit ist eine notwendige Voraussetzung für die Stabilisierungder Inflationserwartungen auf einem niedrigen Niveau und damit für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik. Von ei-ner verbesserten Kommunikation mit der Öffentlichkeit ist zudem eine schnellere Reaktion der Markterwartungenauf eventuelle Politikänderungen und eine beschleunigte Transmission geldpolitischer Impulse über die Anpas-sung von Löhnen, Wechselkursen, Aktienpreisen und Zinsen zu erwarten.

Zwischenzielregeln nahmen lange Zeit eine prominente Stellung unter den geldpolitischen Strategien ein. Die vonden Zentralbanken traditionell verwendeten Zwischenziele, in der Regel die Geldmenge oder der Wechselkurs, er-wiesen sich jedoch angesichts der neueren Erfahrungen mit instabilen Geldnachfragefunktionen und krisenhaftenWechselkursschwankungen − wie etwa aufgrund spekulativer Attacken − zunehmend als problematischer geldpo-litischer Anker ohne Halt. Einfache Instrumentenregeln − beispielsweise in Gestalt einer Taylor-Regel − sind da-gegen zu mechanistisch, um der Komplexität des geldpolitischen Entscheidungsprozesses gerecht zu werden.Diese unterschiedlichen Probleme alternativer geldpolitischer Strategien förderten die rasche Verbreitung der (di-rekten) Inflationssteuerung (Inflation Targeting). Eine (direkte) Inflationssteuerung wurde erstmals im Jahr 1990von der neuseeländischen Notenbank eingeführt. In den Folgejahren übernahm eine ganze Reihe von Länderndiese neue Form der geldpolitischen Strategie (unter anderem Kanada 1991, das Vereinigte Königreich undIsrael 1992, Finnland und Schweden 1993, Australien und Spanien 1994, die Tschechische Republik undPolen 1998, Norwegen und Ungarn 2001).

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Die (direkte) Inflationssteuerung lässt sich im Rahmen der geldtheoretischen Literatur den so genannten Steue-rungsregeln (Targeting Rules) zurechnen. Unter einer Steuerungsregel wird eine monetäre Regel verstanden, beider die Zielfunktion einer Notenbank über endogene Zielvariablen (hier: Steuerungsvariablen) optimiert wird.Standardmäßig wird angenommen, die zu minimierende Verlustfunktion der Notenbank

sei linear-quadratisch und berücksichtige die Abweichung der Inflation π von einem Inflationsziel π∗ sowie dieStabilisierung der Realwirtschaft − ausgedrückt durch die Outputlücke yg. Als Nebenbedingung muss der Trans-missionsweg monetärer Impulse berücksichtigt werden. Verfolgt die Zentralbank eine strikte Inflationssteuerung,so geht einzig die Abweichung der tatsächlichen Inflationsrate von einer bestimmen Zielrate in die Zielfunktionder Notenbank ein (λ = 0).

Eine Inflationssteuerung ist − nach Svensson (2000) und Bernanke et al. (1999) − durch drei Kennzeichen ge-prägt: Erstens verfolgt die Zentralbank das langfristige geldpolitische Ziel einer niedrigen Inflationsrate. Für dasInflationsziel wird über einen bestimmten Zeithorizont ein offizieller quantitativer Zielwert oder Zielbereich fest-gelegt. Angesichts der verzögerten Wirkung monetärer Impulse auf die Inflation können jedoch nicht die tatsächli-chen Werte der Inflation von der Notenbank gesteuert werden, sondern Prognosen dieser Größe. Zweitens stehtdaher die Erstellung von Inflationsprognosen im Mittelpunkt der Inflationssteuerung, welche im Rahmen von In-flationsberichten veröffentlicht werden und eine intensive Kommunikation der Notenbank mit der Öffentlichkeitermöglichen. Wegen der zentralen Bedeutung der Inflationsvorhersage als Zwischenziel für die Zinsentscheidungder Notenbank wird die Strategie der Inflationssteuerung auch als Inflationsprognosesteuerung (Inflation ForecastTargeting) charakterisiert. Drittens existieren neben den Inflationsberichten üblicherweise institutionelle Mecha-nismen zur Sicherung der Rechenschaftspflicht der Zentralbank. Beispiele für derartige Mechanismen in anderenLändern sind die gerichtliche Überprüfung der von der Zentralbank durchgeführten Maßnahmen oder finanzielleSanktionen bis hin zur Entlassung von Mitgliedern der geldpolitischen Beschlussorgane bei deutlichen Verfehlun-gen der geldpolitischen Ziele.

Im Rahmen der strikten Inflationssteuerung lässt sich vor dem Hintergrund der verwendeten einfachen Modelleeine optimale Entscheidungsregel für die Geldpolitik formulieren: Der Leitzins ist dann bestmöglich gesetzt, wenndie Inflationsprognose für einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem der geldpolitische Übertragungsprozess weitge-hend abgeschlossen ist, dem Inflationsziel entspricht. Liegt die Inflationsprognose über (unter) dem Zielwert, sosollte die Notenbank die Leitzinsen erhöhen (verringern). Eine solche Geldpolitik, die einzig die strikte Verfol-gung des Preisniveaustabilitätsziels im Auge behält, erzeugt im Mittel jedoch eine hohe Volatilität der Produktion:In Erwartung beispielsweise eines Angebotsschocks, der zu einem Anstieg der Inflationsprognose bei gleichzeitigverringertem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts führen würde, müsste die Geldpolitik bei strikter Regelanwen-dung restriktiv agieren, um die Inflationsprognose mit dem angestrebten Zielwert in Übereinstimmung zu bringen.Diese Maßnahme würde den Produktionsrückgang zusätzlich verstärken. Viele Zentralbanken verfolgen dahereine flexible Inflationssteuerung. Dabei beinhaltet die Zielfunktion der Notenbank neben dem Ziel der Preisni-veaustabilität auch ein realwirtschaftliches Stabilisierungsziel in Gestalt der Vorgabe, die Differenz zwischen tat-sächlicher Produktion und Produktionspotential zu minimieren; es gilt λ > 0. Bei der flexiblen Inflationssteuerungwerden die geldpolitischen Entscheidungsträger eine drohende Abweichung der Inflationsprognose vom Inflati-onsziel − beispielsweise infolge eines Angebotsschocks − somit nicht vollständig korrigieren, um eine Verstär-kung der Schockwirkung zu vermeiden.

Die relativ einfachen Entscheidungsregeln werden als Hauptvorteil der Inflationssteuerung betrachtet. Sie ermög-lichen eine klar strukturierte Kommunikation der Notenbank mit der Öffentlichkeit − etwa mit Hilfe einesInflationsberichts − und sichern damit ein hohes Maß an Transparenz der Geldpolitik. Gleichzeitig vereinfacheneine verbesserte Kommunikation und eine größere Transparenz die Erfüllung der Rechenschaftspflicht. Schließ-lich wird als Vorteil der Inflationssteuerung angeführt, diese Strategie ermögliche es − anders als traditionelleZwischenzielstrategien −, alle geldpolitisch relevanten Variablen ihrer jeweiligen Prognosequalität entsprechendin den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Hierbei besteht auch die Möglichkeit, diskretionäre Entscheidungs-spielräume im Prognoseverfahren zu bewahren. Die Inflationssteuerung ist damit kein rein mechanistisch modell-basiertes Konzept.

Vt = ( ) ( )[ ]∑∞

=++ +−

0

22*

2

1

τττ

τ λππδ gttt yE

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

Als Nachteil der Inflationssteuerung wird häufig gerade dieser diskretionäre Spielraum betrachtet, der unter Um-ständen dazu führt, dass die Geldpolitik sich zu sehr an Fehlentwicklungen der Vergangenheit orientiert. Überdieskönnte fälschlicherweise der Eindruck entstehen, die Zentralbank habe eine vollständige Kontrolle über die Infla-tion. Eine Begründung von Zielverfehlungen ist daher für die Sicherung der Glaubwürdigkeit der geldpolitischenInstanz von großer Bedeutung. Insofern relativieren sich die Vorteile einer geldpolitischen Strategie der Inflations-steuerung im Vergleich zu traditionellen Zwischenzielregeln. Die Notwendigkeit zur Verankerung der Inflationser-wartungen durch die Inflationsprognosen verdeutlicht, warum den zusätzlichen Mechanismen der Rechenschafts-pflicht und der Kommunikation eine besondere Bedeutung zukommt.

Inflationssteuerung: Das Beispiel der Bank of England

Eine verständliche Kommunikationsstrategie, hohe Transparenz sowie schnelle Entscheidungsprozesse kenn-zeichnen die Geldpolitik der Bank of England. Dort hat die Politik der Inflationssteuerung in den vergangenenzehn Jahren zu einem hohen Grad an Preisniveaustabilität bei gleichzeitig kräftigem Wirtschaftswachstum beige-tragen.

Formal ist die Bank of England − wie die Europäische Zentralbank und im Unterschied zur US-amerikanischenZentralbank − dem Ziel der Gewährleistung von Preisniveaustabilität verpflichtet (Tabelle 15). Die Festlegung desZielwerts obliegt dem Finanzminister − im Unterschied zum Eurosystem, wo Preisniveaustabilität vom EZB-Ratquantifiziert wird. Im Mittelpunkt der geldpolitischen Strategie der Bank of England steht die Inflationsprognosedes Geldpolitischen Ausschusses. Es handelt sich dabei um eine bedingte Prognose, das heißt, es werden für denPrognosezeitraum konstante Leitzinsen unterstellt. Die wichtigsten Informationen aus der Inflationsprognose füreinen Zeithorizont von 24 Monaten werden in einem Fächerdiagramm zusammengefasst. Dieses Diagrammnimmt eine herausragende Stellung im Inflationsbericht der Bank of England ein. Grundlage der Inflationsprog-nose sind mehrere in der Bank of England entwickelte alternative Prognosemodelle. Im Mittelpunkt steht ein gro-ßes makroökonometrisches Modell. Ergänzend werden mehrere kleinere Modelle herangezogen. Daneben fließenauch subjektive Urteile der Mitglieder des Geldpolitischen Ausschusses in die Prognose ein. Das wahrschein-lichste Szenario bildet die Basis für die zentrale Projektion des Ausschusses. Zusätzlich werden Prognosen überdie Produktionsentwicklung erstellt sowie in eigenständigen Fächerdiagrammen veröffentlicht und verschiedeneSchocks analysiert, deren mögliche Auswirkungen in der Fächerbreite der Inflationsrate − also bei der Beschrei-bung der Prognoseungenauigkeit − berücksichtigt werden.

Weil die britische Notenbank eine flexible Inflationssteuerung verfolgt, wird der Leitzins grundsätzlich so gesetzt,dass die Inflationsprognose für den Zeithorizont von 24 Monaten, innerhalb dessen der geldpolitische Übertra-gungsprozess weitgehend abgeschlossen ist, dem Inflationsziel entspricht. Lediglich im Falle gravierender Abwei-chungen der Inflationsprognose vom Zielwert aufgrund von Schocks wird diese einfache Entscheidungsregel fle-xibel gehandhabt. Um den Eindruck zu vermeiden, das Einfließen subjektiver Einschätzungen in die Vorhersageführe zu einer bewussten Verzerrung der Inflationsprognose, sichern mehrere Vorkehrungen eine hohe Qualität derVorhersagen: Zum einen wird die Prognose umfassend erläutert und mit anderen Prognosen verglichen. Zum ande-ren ließe sich im Nachhinein ohne großen Aufwand feststellen, ob sich der Geldpolitische Ausschuss systematischverschätzt hat. Schließlich ist der Gouverneur der Bank of England im Falle einer Verfehlung der Zielinflations-rate um mehr als einen Prozentpunkt verpflichtet, einen offenen Brief an den Finanzminister zu schreiben und da-rin zu erläutern, warum die Inflationsrate den Toleranzbereich überschritten hat und durch welche Maßnahmeneine Rückkehr zum Ziel gewährleistet werden soll. Bisher war dies jedoch nicht erforderlich.

Empirische Beurteilung der Erfolge von Inflationssteuerung

Eine Reihe von empirischen Studien zur Inflationssteuerung untersucht, ob sich das ökonomische Umfeld in Län-dern, die eine Strategie der Inflationssteuerung eingeführt haben, gemessen an dem Niveau sowie der Variabilitätder Größen Inflation, Produktion und Zinsen positiv entwickelt hat. Die Studien weisen nach, dass die Verbesse-rungen im Vergleich zu Ländern ohne Inflationssteuerung im selben Zeitraum überdurchschnittlich waren. Die Be-rücksichtigung dieser Kontrollgruppe soll ausschließen, dass die globale Änderung des ökonomischen Umfeldsoder eine stärkere Inflationsaversion die positive Entwicklung in Ländern mit Inflationssteuerung ausgelöst haben.

Unberücksichtigt bleiben bei den Studien zumeist jedoch die unterschiedlichen Ausgangssituationen in den einzel-nen Ländern. Dies führt zu einer Verzerrung der Ergebnisse, da ein Wechsel zur Inflationssteuerung häufig geradeals Folge einer ausgeprägten Inflationsphase in dem betroffenen Land stattfand und dementsprechend eine über-durchschnittliche Inflationsverringerung nach der Strategieänderung nicht allzu überraschend ist. Bei Berücksich-tigung derartiger Anfangseffekte sind die Ergebnisse der empirischen Studien zur Inflationssteuerung wenigerklar. Die Überlegenheit dieser Strategie ist empirisch somit nicht eindeutig belegbar. Allerdings liefern die Unter-suchungen auch keine Argumente, die gegen eine Hinwendung zu einer Inflationssteuerung sprechen.

89

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

US Federal Reserve Eurosystem Bank of England

Ziele

Festlegung eines vorrangigen Endziels

Quantifizierung des Endziels

Nein; vier gleichbe-rechtigte Ziele: Wirt-schaftswachstum, hohes Beschäftigungs-niveau, stabile Preise, angemessenes langfris-tiges Zinsniveau

Nein

Preisniveaustabilität

Quantitative Defini-tion durch EZB-Rat

Preisniveaustabilität

Inflationsziel der Regierung

Strategie

Bekanntgabe und Begründung der geldpolitischen Strategie

Bekanntgabe eines Zwischen-ziels

Bekanntgabe herausgehobener Indikatoren

Nein

Nein

Zielbereiche für Geld-mengen- und Kredit-wachstum1)

Zwei-Säulen-Strategie

Nein

Referenzwert für M3-Wachstum

Inflation Targeting

Inflationsprognose als Zwischenzielersatz

Keine spezifischen

Daten und Prognosen

Veröffentlichung von Daten über Zwischenziele/Indikatoren und Erläuterung möglicher Ab-weichungen

Veröffentlichung einer Infla-tionsprognose und Erläuterung von Zielabweichungen

Ja2)

Zweimal im Jahr3)

Ja

Halbjährliche Infla-tions- und Wachstums-prognosen seit Dezem-ber 2000; (spielen nur eine Nebenrolle in der EZB-Strategie)

Ja

Vierteljährlich

Entscheidungen

Bekanntgabe der geldpolitischen Beschlüsse

Richtungsaussagen zur künftigen Zins-politik

Ja

Risikobewertung des FOMC (zuvor: Zins-bias)

Ja

Gelegentlich

Ja

Nein

Ta b e l l e 15

Geldpolitische Konzeptionen im Vergleich1)

90

Page 117: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

US Federal Reserve Eurosystem Bank of England

Kommunikationsmittel

Jahresbericht

Parlamentarische Anhörungen

Berichte zur Wirtschaftslage und zur Geldpolitik

Pressekonferenzen zur Wirt-schaftslage und zur Geldpolitik

Publikation der Sitzungsproto-kolle

Publikation des Abstimmungs-verhaltens der einzelnen Mit-glieder

Ja

Mindestens zweimal im Jahr

Halbjahresbericht (Monatsbericht)

Nein

Nach sechs bis acht Wochen

Nach sechs bis acht Wochen

Ja

Mindestens viermal im Jahr

Monatsbericht

Monatlich5)

Nein

Nein

Ja

Regelmäßig4)

Vierteljährlicher Inflationsbericht

Vierteljährlich zum Inflationsbericht

Nach zwei Wochen

Nach zwei Wochen

1) Zu den Angaben siehe Deutsche Bundesbank (2002) Transparenz in der Geldpolitik, in: Monatsbericht März, Seite 20, sowie Bley, Andreas(2003) Was kann die Europäische Zentralbank von der Bank of England lernen? in: Wirtschaftsdienst, Heft 7, Seite 478 bis 484. – 2) DurchGesetz vorgeschrieben; in der praktischen Geldpolitik jedoch heute von untergeordneter Bedeutung. – 3) Im Rahmen der Berichte, die der Prä-sident des Federal Reserve Board nach dem Humphrey-Hawkins-Act vor dem Kongress abzugeben hat. – 4) Außerdem Rechenschaftspflichtdes Zentralbankgouverneurs gegenüber der Regierung, wenn die Inflation das Zielband verlässt. – 5) Unmittelbar im Anschluss an die ersteEZB-Ratssitzung des Monats.

Literatur

Ball, L. und N. Sheridan (2003) Does Inflation Targeting Matter? Working Paper No. W9577, NBER.

Bernanke, B., T. Laubach, F. Mishkin und A. Posen (1999) Inflation Targeting: Lessons from the International Ex-perience, Princeton.

Bley, A., (2003) Was kann die EZB von der Bank of England lernen? in: Wirtschaftsdienst, Heft 7, 478 – 484.

Blinder, A., C. Goodhart, P. Hildebrand et al. (2001) How Do Central Banks Talk? Geneva Reports on the WorldEconomy Report No. 3

Deutsche Bundesbank (2000) Transparenz in der Geldpolitik, in: Monatsbericht März, 15 – 30.

Mishkin, F. S. und K. Schmidt-Hebbel (2001) One decade of Inflation Targeting in the World: What Do We Knowand What Do We Need to Know?, Working Paper No. W8397, NBER.

Neumann, M. J. M. und J. von Hagen (2002) Does Inflation Targeting Matter?, Quarterly Review, 127 – 154,Federal Reserve Bank of St. Louis.

Svensson, L. (2001) Inflation Targeting: Should it be Modeled as an Instrument or a Targeting Rule? www.prince-ton.edu/~svensson/

Svensson, L. (2000) The first year of the Eurosystem: Inflation Targeting or not? Working Paper 7598, NBER.

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Svensson, L. (2002a) What is Wrong with Taylor Rules? Using Judgment in Monetary Policy through TargetingRules, www.princeton.edu/~svensson/

Svensson, L. und M. Woodford (2003) Implementing Optimal Policy through Inflation-Forecast Targeting,www.princeton.edu/~svensson/

Woodford, M. (1999) Optimal Monetary Policy Inertia, www.princeton.edu/~woodford/

n o c h Tabelle 15

Geldpolitische Konzeptionen im Vergleich

91

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

3. EU-Osterweiterung und institutionelle Entwicklungen

Beitrittsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen

156. Am 13. Dezember 2002 schloss der EuropäischeRat bei seiner Tagung in Kopenhagen mit zehn Länderndie Verhandlungen über den Beitritt zur Europäi-schen Union ab. Die acht mittel- und osteuropäischenLänder Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei,Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn so-wie Malta und Zypern werden ab dem 1. Mai 2004 derEuropäischen Union angehören. Da es zwischen beidenTeilen Zyperns nicht zu einer Einigung hinsichtlich einerÜberwindung der Teilung gekommen ist, wird die An-wendung des gemeinsamen Besitzstands (Acquis Com-munautaire) auf den Nordteil ausgesetzt. Bulgarien undRumänien, mit denen die Verhandlungen noch nicht soweit fortgeschritten sind, wurde ein Beitritt im Jahr 2007in Aussicht gestellt. Bezüglich der Türkei beschloss derEuropäische Rat, über eine mögliche Eröffnung von Bei-trittsverhandlungen im Dezember 2004 zu entscheiden.

Nachdem Anfang April dieses Jahres das EuropäischeParlament dem Beitritt jedes der zehn Kandidatenländermit jeweils großer Mehrheit zugestimmt hatte, wurde am16. April 2003 in Athen der Vertrag über den Beitrittdieser Länder zur Europäischen Union unterzeichnet.Bevor der Vertrag in Kraft tritt, muss er von allen Unter-zeichnerstaaten ratifiziert werden. In den bisherigenMitgliedsländern erfolgt dies durch die nationalen Parla-mente. Die Beitrittsländer hingegen – außer Zypern –hielten Volksabstimmungen ab, die mit Ausnahme vonEstland und Malta für die jeweiligen nationalen Parla-mente bindend waren. In der Tschechischen Republik er-setzte ein solches positives Votum die Zustimmung desParlamentes. In allen abstimmenden Kandidatenländernsprach sich eine meist deutliche Mehrheit der Wähler fürdie Mitgliedschaft ihres Landes in der EuropäischenUnion aus, und die in einigen Ländern erforderlicheWahlbeteiligung von 50 vH der Wahlberechtigten wurdebei allen Referenden erreicht (Tabelle 16).

157. Grundsätzlich werden die Beitrittsländer denAcquis Communautaire der Europäischen Union ab dem1. Mai 2004 vollständig übernehmen. Um weiteren An-passungserfordernissen Rechnung zu tragen, wurden je-doch in einigen Bereichen zeitlich befristete Über-gangsregelungen vereinbart. Schwierig gestalteten sichhierbei bis zuletzt die Kapitel Landwirtschaft sowie Fi-nanz- und Budgetvorgaben. Im Bereich der finanzinten-siven Regionalpolitik wird der Acquis Communautaireunmittelbar zur Anwendung kommen. Über den eben-falls sensiblen Aspekt der Freizügigkeit von Arbeitskräf-ten konnte bereits zuvor Übereinkunft erzielt werden(JG 2002 Ziffer 110).

158. Mit dem Tag der Erweiterung werden die Bei-trittsländer in vollem Umfang zur Finanzierung der Aus-gaben der Europäischen Union beitragen. Gleichzeitigfallen für diese Länder die Vor-Beitrittshilfen weg.

Um zu verhindern, dass sich ein Beitrittsland ab demJahr 2004 finanziell schlechter stellt als in der Vor-Bei-trittsphase, gewährt die Europäische Union Malta, Slo-wenien, der Tschechischen Republik und Zypern vorü-bergehende Ausgleichszahlungen. Für diese Zahlungensind bis zum Jahr 2006 insgesamt rund 1,1 Mrd Euro an-gesetzt. Da diese, wie andere Summen, in Preisenvon 1999 ausgedrückt sind, liegen die nominalen Wertedarüber.

Auch ohne diese Ausgleichszahlungen wäre die Gefahrfür einzelne Länder, zu Nettozahlern zu werden, gering.Nach Berechnungen des Wiener Instituts für Internatio-nale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) müssten die Beitritts-länder in den ersten drei Jahren ihrer Mitgliedschaft inder Europäischen Union mindestens 44 vH, 30 vH bezie-hungsweise 18 vH der ihnen zur Verfügung stehendenStrukturmittel abrufen, um nicht in eine Nettozahlerposi-tion zu geraten. Trotz der hohen formalen und materiel-len Anforderungen bei der Nutzung der Strukturfonds er-scheinen diese Werte erreichbar. Zudem weist das WIIWdarauf hin, dass die neuen Mitgliedsländer in den erstenJahren eine Nettoempfängerposition gegenüber demEU-Haushalt von höchstens 0,9 vH in Relation zu ihremjeweiligen nominalen Bruttoinlandsprodukt einnehmenwerden, sie erhalten damit deutlich weniger als die Mit-gliedstaaten Griechenland und Portugal.

Zudem werden allen zehn Beitrittsländern bis zumJahr 2006 als „besondere Cashflow-Fazilitäten“ dekla-rierte Zahlungen in Höhe von insgesamt 2,2 Mrd Eurogewährt, um die nationale Haushaltssituation zu verbes-sern. Letztlich ist dies ein zusätzlicher Transfer, den dieBeitrittsländer aushandeln konnten. Diese Summe bein-haltet allerdings 1 Mrd Euro allein für Polen und100 Mio Euro für die Tschechische Republik, die aus

Ta b e l l e 16

Nachrichtlich:

vH1) vH2)

Estland .......... 64,1 66,8 868 Lettland ......... 72,5 67,0 1 416 Litauen .......... 63,4 91,1 2 639 Malta ............. 91,0 53,6 297 Polen ............. 58,9 77,5 29 868 Slowakei ....... 52,2 92,5 4 174 Slowenien ..... 60,3 89,6 1 610 Tschechische Republik ...... 55,2 77,3 8 260 Ungarn .......... 45,6 83,8 8 042

Zypern ...........1) In vH der Wahlberechtigten. - 2) Anteil an den gültigen Stimmen.

Quelle: EU

kein Referendum

Ergebnisse der Volksabstimmungenin den zehn EU-Beitrittsländern

Tausend Personen

Wahl- beteiligung

Zu- stimmungs-

quote

Wahl-berechtigte

92

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

künftigen Strukturfondsmitteln für diese Länder umge-widmet wurden. Vorteilhaft ist diese Verschiebung fürdie Empfänger, weil die Mittel im Haushalt nunmehr freiverfügbar und nicht wie Strukturfondsmittel an festeProjekte gebunden sind, die zudem national kofinanziertwerden müssen. Aus Sicht der Europäischen Union hin-gegen bedeutet diese Maßnahme eine Schwächung derStrukturkomponente der Gesamttransfers.

Die budgetären Kosten der Osterweiterung betragengemäß EU-Planungen 40,85 Mrd Euro bis zumJahr 2006 (Tabelle 17). Sie liegen damit etwas über derursprünglichen Verhandlungsposition, jedoch deutlichunter den Ansätzen der Agenda 2000. Damit bestehtkeine Gefahr, durch die Erweiterung in Konflikt mit dervom Europäischen Rat im Jahr 1999 in Berlin vereinbar-ten Eigenmittelobergrenze in Höhe von 1,24 vH (invormaliger Rechnung 1,27 vH) in Relation zum ge-meinschaftlichen Bruttonationaleinkommen zu geraten(JG 2002 Ziffer 214).

159. Im Kapitel Landwirtschaft wurde vereinbart, dieDirektzahlungen an die Landwirte der Beitrittsländer nurschrittweise einzuführen. Damit soll verhindert werden,dass die starke landwirtschaftliche Orientierung vielermittel- und osteuropäischer Länder zementiert wird undinfolge ausbleibender Umstrukturierungen die Produkti-vität in diesem Sektor auf dem derzeit niedrigen Niveauverbleibt. Zudem würde eine unmittelbare vollständigeEinführung der Beihilfen die Einkommen der Landwirteweit über das Durchschnittseinkommen in diesen Län-dern steigen lassen. Ab dem Jahr 2004 werden die Di-rektzahlungen in den Beitrittsländern zunächst 25 vHdes Niveaus in der bisherigen Europäischen Union aus-machen und in den beiden Folgejahren auf 30 vH bezie-hungsweise 35 vH ansteigen. Nach weiteren schrittwei-sen Anhebungen soll die Förderung im Jahr 2013 demdann gültigen – im Vergleich zu heute niedrigeren – EU-

Niveau entsprechen. Da die Beitrittsländer in diesemSystem eine Ungleichbehandlung zwischen alten undneuen Mitgliedern sahen, wurde ihnen zugestanden,diese Förderung aufzustocken. Es besteht die Möglich-keit, auf nationaler Basis entweder die Direktzahlungenum bis zu 30 Prozentpunkte über das jährliche Förderni-veau zu erhöhen oder sie bis zu 110 vH der Höhe der Di-rektzahlungen aufzustocken, welche die Landwirte vordem Beitritt im Rahmen einer vergleichbaren nationalenRegelung erhalten haben. In jedem Fall dürfen die Zah-lungen nicht das Niveau der Direktzahlungen über-schreiten, die ein vergleichbarer Landwirt in einem der-zeitigen Mitgliedstaat erhält. Bis zum Jahr 2006 kanndiese Aufstockung mit bis zu 40 vH aus EU-Mitteln fürländliche Entwicklung finanziert werden; danach mussdie Finanzierung zusätzlicher Zahlungen ausschließlichaus den nationalen Haushalten geleistet werden. Insge-samt verfügen die Beitrittsländer für die Entwicklungdes ländlichen Raums kumuliert bis zum Jahr 2006 überMittel in Höhe von 5,1 Mrd Euro (in Preisen von 1999)und damit über eine relativ bessere Mittelausstattung, alssie den bisherigen Mitgliedstaaten für vergleichbareMaßnahmen zur Verfügung steht. Für den gesamten Be-reich Landwirtschaft beläuft sich die Summe für die Bei-trittsländer bis zum Jahr 2006 auf 9,8 Mrd Euro.

160. Die Strukturpolitik, bei der keine der Verhand-lungsparteien Übergangsregelungen anstrebte, stellt miteinem Volumen von 21,8 Mrd Euro die größte Haus-haltsposition im Zusammenhang mit den Transfers zurOsterweiterung dar. Das vergleichsweise große Volumender Mittel für Verpflichtungen in diesem Bereich resul-tiert daraus, dass im Gegensatz zu den Direktzahlungenin der Landwirtschaft die strukturpolitischen Maßnah-men unmittelbar in voller Höhe auf die Beitrittsländerübertragen werden. Zudem sind 37 der 41 Regionen derBeitrittsländer so genannte Ziel-1-Regionen mit einemEinkommen je Einwohner (in Kaufkraftstandards) vonweniger als 75 vH des EU-Durchschnitts – in den bishe-rigen EU-Regionen lautet das Verhältnis 47 zu 208. NurPrag (121 vH), Bratislava (98 vH), Zypern sowie Kö-zép-Magyarország (jeweils 76 vH) befinden sich nichtauf der höchsten Förderstufe, der 93,5 vH aller Struktur-fondsmittel für die Beitrittsländer gewidmet sind. Durchdie Osterweiterung fallen rechnerisch zahlreiche heutigeZiel-1-Regionen, die im vergangenen Jahr 63 vH derMittel der Strukturfonds erhielten, aus dieser höchstenFörderstufe heraus. Es wäre angezeigt, dies in der kom-menden Finanzplanungsperiode ab dem Jahr 2007 zu be-rücksichtigen und die Förderung der dann relativ reichergewordenen Regionen tatsächlich zurückzuführen. In-wieweit dies politisch gewollt und durchsetzbar ist,bleibt indes abzuwarten.

Die Strukturpolitik der Europäischen Union umfasst imWesentlichen die Strukturfonds und den Kohäsionsfonds.Mit den Strukturfonds wird das Ziel verfolgt, durch fi-nanzielle Hilfen zur Beseitigung struktureller wirtschaft-licher und sozialer Probleme in einzelnen Regionen bei-zutragen. Das höchste Förderniveau erhalten dieeuropäischen Regionen, deren Einkommen je Einwohnerunter 75 vH des EU-Durchschnitts liegt. Dazu gehören

Ta b e l l e 17

2004 2005 2006

Mittel für Verpflichtungen insgesamt ...................... 11 200 13 813 15 841 darunter: Landwirtschaft ............. 1 897 3 747 4 147 Strukturpolitische Maßnahmen ............... 6 070 6 907 8 770 Interne Politikbereiche 1 457 1 428 1 372 Verwaltung .................. 503 558 612 Rubrik X1) ..................... 1 273 1 173 940

1) Besondere Cashflow-Fazilität und vorübergehende Ausgleichszah-lungen.

Quelle: EU

Mio Euro in Preisen von 1999

Finanzrahmen für die Osterweiterung der Europäischen Union für die Jahre 2004 bis 2006

93

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

gegenwärtig unter anderem alle Regionen Ostdeutsch-lands. Für die Förderung dieser Regionen stehen vierverschiedene Fonds zur Verfügung:

– Mit Hilfe des Europäischen Fonds für regionale Ent-wicklung werden Maßnahmen zur Beseitigung vonUngleichgewichten zwischen Regionen oder sozialenGruppen unterstützt. Dies können etwa Investitionenin Infrastruktur oder die Unterstützung kleiner undmittlerer Unternehmen sein.

– Aus dem Europäischen Sozialfonds werden Maßnah-men zur Beschäftigungsförderung, wie zum Beispielberufliche Eingliederungsmaßnahmen, finanziert.

– Der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefondsfür die Landwirtschaft, Abteilung Ausrichtung, hatdie Aufgabe, Strukturreformen in der Landwirtschaftund Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichenRaums zu unterstützen.

– Mit dem Finanzinstrument für die Ausrichtung derFischerei werden Strukturreformen in diesem Bereichgefördert.

Im Unterschied zum regionenspezifischen Ansatz derStrukturfonds hat der Kohäsionsfonds einen nationalenFokus. Er wurde mit dem Vertrag von Maastricht einge-richtet, damit weniger wohlhabende Mitgliedstaaten imRahmen ihres realwirtschaftlichen Aufholprozesses um-fangreiche Investitionen tätigen können, gleichzeitigaber in der Lage sind, die fiskalischen Vorgaben des Ver-trages von Maastricht bei Teilnahme an der Europäi-schen Währungsunion einzuhalten. In Ländern, in denendas Einkommen je Einwohner unterhalb von 90 vH desDurchschnitts der Europäischen Union liegt, werden ausdem Kohäsionsfonds insbesondere Projekte, die die Um-welt und die Verkehrsinfrastruktur fördern, unterstützt.Im Widerspruch zu der Motivation dieses Fonds steht dieTatsache, dass die Kohäsionsländer – Griechenland, Ir-land, Portugal und Spanien – nach wie vor mit diesemInstrument gefördert werden, obschon sie der Europäi-schen Währungsunion angehören; zudem weist Irlandmittlerweile ein überdurchschnittliches Einkommen jeEinwohner auf.

Die Europäische Kommission wies im Sommer diesesJahres darauf hin, dass die Vorbereitungen der Beitritts-länder auf den Empfang von Struktur- und Kohäsions-mitteln bislang ungenügend seien. Vor diesem Hinter-grund und aus der Erfahrung der Vor-Beitrittsphase istdavon auszugehen, dass die Mittel für Verpflichtungenfür strukturpolitische Maßnahmen – 21,8 Mrd Euro biszum Jahr 2006 – bei weitem nicht ausgeschöpft werden.

Um die Fördermittel der Strukturpolitik zu erhalten, sindumfangreiche Vorgaben hinsichtlich der Beantragung,Genehmigung, Durchführung und Kontrolle der geför-derten Maßnahmen zu erfüllen. Laut Europäischer Kom-mission wiesen die dazu notwendigen gesetzlichen undinstitutionellen Rahmenbedingungen in den Beitrittslän-dern zahlreiche Mängel auf. Darüber hinaus fehle es inden meisten Ländern an gezielten Mittelansätzen undZeitplänen für künftige Projekte. Für den Bereich derStrukturfonds könne ferner auch die schwierige Lage inden öffentlichen Haushalten dazu beitragen, dass die

notwendige nationale Kofinanzierung eines Projektsnicht gewährleistet werden kann. Innerhalb der mittel-und osteuropäischen Länder werden der TschechischenRepublik und Estland die besten Voraussetzungen attes-tiert; die größten Mängel wiesen die Slowakei und Lett-land auf.

161. Nach Erweiterung der Europäischen Union müs-sen gemäß dem Vertrag von Nizza, der am 1. Februar2003 in Kraft trat, die Stimmengewichte im Europäi-schen Parlament und im Europäischen Rat sowie dieZusammensetzung der Europäischen Kommission ange-passt werden. Zwischen Mai 2004 und der Konstituie-rung des im Juni 2004 neu zu wählenden EuropäischenParlamentes werden die neuen Mitgliedstaaten durcheine entsprechende Anzahl von Abgeordneten repräsen-tiert, die von den nationalen Parlamenten berufen wer-den. In der Legislaturperiode 2004 bis 2009 wird dasEuropäische Parlament gemäß dem Vertrag von Nizzadann 732 Sitze umfassen; das sind 106 Sitze mehr alsgegenwärtig. Im Sinne einer höheren Effizienz und einerBegrenzung des administrativen Aufwands wäre zumin-dest eine Stabilisierung der Zahl der Sitze wünschens-wert gewesen. Es wurde nicht einmal auf die bereits fürBulgarien und Rumänien vorgesehenen 50 Sitze ver-zichtet, die stattdessen auf die 25 Mitgliedsländer ver-teilt werden; zusätzlich erhalten die Tschechische Repu-blik und Ungarn je drei weitere Sitze (Tabelle 18). Fürdie Zeit vom 1. Mai bis zum 31. Oktober 2004 werdendie Stimmengewichte im Europäischen Rat gemäß demVertrag von Maastricht zunächst beibehalten und dieneuen Mitgliedsländer in dieses System einbezogen. DieSchwelle für eine qualifizierte Mehrheit liegt dannbei 88 von 124 Stimmen. Im November 2004 treten dieBestimmungen des Vertrages von Nizza über die Be-schlussfassung im Europäischen Rat und über die Euro-päische Kommission in Kraft (JG 2001 Ziffern 126 ff.,Tabelle 13). Vom 1. Mai kommenden Jahres werdenzehn vom Europäischen Rat zu ernennende Kommissaredie Europäische Kommission auf 25 Mitglieder vergrö-ßern, die mit Zustimmung des Europäischen Parlamen-tes im November 2004 eingesetzt wird. Erst die An-nahme des vom Konvent zur Zukunft Europasvorgelegten Verfassungsentwurfs würde eine Reduzie-rung der Zahl der (stimmberechtigten) Kommissare nachsich ziehen.

162. Anfang Juni dieses Jahres beschloss das Europäi-sche Parlament, die Besoldung der Abgeordneten aufeine einheitliche Rechtsgrundlage zu stellen. Bislangorientieren sich die Diäten an nationalem Recht, dasheißt im Wesentlichen an den Bezügen der nationalenParlamentarier. Dass die Mitglieder des EuropäischenParlamentes nicht die Europäische Union, sondern ge-mäß Artikel 189 EG-Vertrag die „Völker der in der Ge-meinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ repräsen-tieren, rechtfertigt die bisherige Regelung. Ab derkommenden Legislaturperiode sollen demgegenüber– vorbehaltlich der Zustimmung des Rates – die Diätenfür alle Mitglieder des Europäischen Parlamentes aufmonatlich 8 671 Euro vereinheitlicht und zudem in dasgünstige Steuersystem für EU-Beamte einbezogen wer-

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

den. Bei einem bisherigen Durchschnitt von 5 677 Eurokäme diese Harmonisierung einer deutlichen Diätener-höhung für die Abgeordneten fast aller Mitgliedsländergleich. Auch die vereinbarte Übergangsoption für dieneuen Mitgliedsländer würde diesen Umstand nicht zuheilen vermögen. Für Abgeordnete einiger Länderkönnte sich die Situation ergeben, dass ihr Verdienstkünftig über dem von Ministern oder gar des Minister-präsidenten liegt.

163. Dem Beitritt eines neuen Mitgliedslands geht diePrüfung seiner Beitrittsfähigkeit zur EuropäischenUnion voraus. Im Jahr 1993 entschied der EuropäischeRat bei seiner Tagung in Kopenhagen, dass die Mitglied-schaft in der Europäischen Union an eine Reihe von Kri-terien gebunden ist, die ein Kandidatenland erfüllenmuss. Diese so genannten Kopenhagener Kriterienumfassen drei Bereiche:

– Das politische Kriterium erfordert „eine institutio-nelle Stabilität als Garantie für die demokratische und

rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschen-rechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten.“

– Das ökonomische Kriterium erfordert „eine funkti-onsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, demWettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalbder Union standzuhalten.“

– Das dritte Kriterium (Besitzstandskriterium) beziehtsich auf die Umsetzung und Anwendung des AcquisCommunautaire und verlangt „die Fähigkeit, die auseiner Mitgliedschaft erwachsenen Verpflichtungen zuübernehmen und sich auch die Ziele der politischenUnion sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zueigen zu machen.“

Bei Abschluss der Verhandlungen über den Beitritt imvergangenen Jahr wurde den Kandidatenländern dieErfüllung des politischen Kriteriums bescheinigt unddie Überzeugung geäußert, dass die zehn Länder außer-dem bis zum Jahr 2004 in der Lage sein werden, das

Ta b e l l e 18

Anteil in vH

Anzahl vH Anzahl vH Anzahl vH Anzahl vH EU-25 = 100

Deutschland ........ 99 15,8 99 13,5 10 8,1 29 9,0 18,1

VereinigtesKönigreich ....... 87 13,9 78 10,7 10 8,1 29 9,0 13,1

Frankreich ........... 87 13,9 78 10,7 10 8,1 29 9,0 13,4

Italien .................. 87 13,9 78 10,7 10 8,1 29 9,0 12,7

Spanien ............... 64 10,2 54 7,4 8 6,5 27 8,4 8,9

Polen ................... . . 54 7,4 8 6,5 27 8,4 8,5

Niederlande ......... 31 5,0 27 3,7 5 4,0 13 4,0 3,5

Griechenland ....... 25 4,0 24 3,3 5 4,0 12 3,7 2,4

TschechischeRepublik .......... . . 24 3,3 5 4,0 12 3,7 2,2

Belgien ................ 25 4,0 24 3,3 5 4,0 12 3,7 2,3

Ungarn ................ . . 24 3,3 5 4,0 12 3,7 2,2

Portugal ............... 25 4,0 24 3,3 5 4,0 12 3,7 2,3

Schweden ............ 22 3,5 19 2,6 4 3,2 10 3,1 2,0

Österreich ............ 21 3,4 18 2,5 4 3,2 10 3,1 1,8

Slowakei .............. . . 14 1,9 3 2,4 7 2,2 1,2

Dänemark ............ 16 2,6 14 1,9 3 2,4 7 2,2 1,2

Finnland .............. 16 2,6 14 1,9 3 2,4 7 2,2 1,1

Irland ................... 15 2,4 13 1,8 3 2,4 7 2,2 0,9

Litauen ................ . . 13 1,8 3 2,4 7 2,2 0,8

Lettland ............... . . 9 1,2 3 2,4 4 1,2 0,5

Slowenien ............ . . 7 1,0 3 2,4 4 1,2 0,4

Estland ................ . . 6 0,8 3 2,4 4 1,2 0,3

Zypern ................. . . 6 0,8 2 1,6 4 1,2 0,2

Luxemburg .......... 6 1,0 6 0,8 2 1,6 4 1,2 0,1

Malta ................... . . 5 0,7 2 1,6 3 0,9 0,1

Alle Länder ......... 626 100 732 100 124 100 321 100 100

1) Für die bisherigen Mitgliedstaaten entspricht dies auch der Stimmenverteilung in der EU-15. - 2) Im Jahr 2002.

Quelle: EU

Nachrichtlich:

Bevölkerung2)

Sitze und Stimmengewichte nach Erweiterung der Europäischen Uniongemäß dem Vertrag von Nizza

ab 1. November 20041999 bis 2004

Sitze im Europäischen Parlament

2004 bis 2009 1. Mai bis 31. Oktober 20041)

Stimmen im Europäischen Rat

95

Page 122: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

ökonomische Kriterium sowie das Besitzstandskriteriumvollständig zu erfüllen. Das wirtschaftliche Kriteriumwird in die beiden Subkriterien „funktionierende Markt-wirtschaft“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ aufgespalten,die mit Hilfe einer Reihe von Merkmalen operationali-siert werden (Tabelle 19).

Die Fortschrittsberichte der Europäischen Kommissionsowie eine Analyse des Osteuropa-Instituts, München,zeigen, dass die Beitrittsländer im Wesentlichen funkti-onsfähige Marktwirtschaften sind, jedoch bei dem Wett-bewerbskriterium noch einige Defizite aufweisen.

164. Mit Blick auf das Kriterium einer funktionsfähi-gen Marktwirtschaft wurde festgestellt, dass die au-ßenwirtschaftliche Liberalisierung der Beitrittsländerweit fortgeschritten ist und sich der Güteraustausch mitanderen Ländern auf hohem Niveau befindet. Hingegensind im Bereich der Preisliberalisierung noch Defizitefestzustellen, die sich aus dem relativ hohen Anteil ad-ministrierter Preise ergeben. Bezüglich des Abbaus vonMarkteintrittsschranken und Marktaustrittsschrankensind Estland und Ungarn am weitesten fortgeschritten.Aber auch in den übrigen Beitrittsländern bestehen keinewesentlichen Hürden zum Markteintritt. Schwieriger ge-stalten sich Marktaustritte, bei denen größere rechtlicheund institutionelle Hindernisse zu überwinden sind. Ins-besondere wird die mangelnde Durchführung von Insol-venzverfahren aufgrund ungenügender Verwaltungska-pazitäten beklagt. Ein sicherer Rechtsrahmen mit klardefinierten und durchsetzbaren Eigentumsrechten ist un-erlässlich für eine funktionierende Marktwirtschaft undvielleicht das wichtigste der betrachteten Merkmale. Al-len Beitrittsländern wird bescheinigt, dass die rechtli-chen Rahmenbedingungen an entsprechende marktwirt-schaftliche Erfordernisse angepasst wurden, wenngleich

die Standards der gegenwärtigen EU-Länder noch nichterreicht werden. Auffällig ist das Ausmaß der Korrup-tion, das in allen Ländern außer Estland und Slowenienals ernstes Problem eingestuft wird.

Die Aspekte der makroökonomischen Stabilität werdenzum Teil durch die Konvergenzkriterien zur Teilnahmean der Europäischen Währungsunion erfasst. Darüber hi-naus erfordert makroökonomische Stabilität eine tragfä-hige Leistungsbilanz. Diese ist in den meisten Beitritts-ländern defizitär, stellt jedoch aufgrund des hohenZuflusses ausländischer Direktinvestitionen und ausrei-chend vorhandener Währungsreserven keine ernsthafteGefahr dar. Dem Merkmal des Konsens in der Wirt-schaftspolitik liegt der Gedanke zugrunde, dass bei ei-nem Regierungswechsel nicht die Gefahr einer Abkehrder eingeschlagenen marktorientierten Wirtschaftspoli-tik bestehen sollte. Dies ist in keinem der Beitrittsländerder Fall. Gleichwohl sind vereinzelt heftige Auseinan-dersetzungen über die großen wirtschaftspolitischen Li-nien zu beobachten wie beispielsweise der – mittlerweilezugunsten der Zentralbank beigelegte – Disput über dieUnabhängigkeit der polnischen Notenbank.

Schließlich ist die Entwicklung des Finanzbereichs einIndikator dafür, inwieweit zur Verfügung stehendes Ka-pital effizient alloziiert werden kann. Hier zeigt sich dieGruppe der Beitrittsländer sehr heterogen. So ist dieKreditvergabe an Private insbesondere in Polen und inLitauen noch vergleichsweise unterentwickelt. Erhebli-che Fortschritte sind hingegen bei der Privatisierung vonUnternehmen der Finanzbranche festzustellen. Insge-samt muss jedoch konstatiert werden, dass trotz Verbes-serungen in den vergangenen Jahren die Verfassung desFinanzbereichs in den Beitrittsländern das EU-Niveaunoch nicht erreicht hat.

Ta b e l l e 19

Ökonomische Anforderungen an den Beitritt zur Europäischen Union

Quelle: Osteuropa-Institut

Funktionsfähige Marktwirtschaft Wettbewerbskriterium

– Preis- und Außenhandelsliberalisierung

– Keine nennenswerten Schranken beim Markteintrittund Marktaustritt

– Stabiler Rechtsrahmen (insbesondere Eigentum) undGewährleistung der Durchsetzung von Gesetzen undVerträgen

– Makroökonomische Stabilität einschließlich ange-messener Preisniveaustabilität, tragfähiger öffentli-cher Finanzen und Leistungsbilanzen

– Breiter Konsens über Eckpunkte der Wirtschaftspoli-tik

– Entwickelter Finanzsektor, um Ersparnisse in produk-tive Investitionen umzuleiten

– Funktionsfähige Marktwirtschaft und makroökono-mische Stabilität

– Ausreichende Human- und Sachkapitalausstattung

– Effiziente Wettbewerbspolitik, geringe staatliche Bei-hilfen

– Dynamische betriebliche Investitionen zur Umstruk-turierung und Produktivitätssteigerung

– Fortgeschrittenes Integrationsniveau bezogen auf dieÖkonomien der Europäischen Union, Volumen undStruktur des Außenhandels

– Hoher Anteil und hohe Dynamik kleiner und mittle-rer Unternehmen

96

Page 123: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

165. Eine funktionsfähige Marktwirtschaft mit stabi-lem makroökonomischem Umfeld ist eine erste Voraus-setzung, um dem Wettbewerbsdruck innerhalb der Euro-päischen Union standzuhalten, und wird somit alsMerkmal zur Überprüfung der Wettbewerbsfähigkeitder Beitrittsländer herangezogen. Weiter bewertet dieEuropäische Kommission die Ausstattung mit Sachkapi-tal und Humankapital als Voraussetzung für eine wettbe-werbsfähige Produktion. Die öffentliche Infrastruktur istinsbesondere in Estland, der Tschechischen Republik,Slowenien und Ungarn bereits verhältnismäßig gut aus-gebaut, wohingegen in Polen in diesem Bereich diegrößten Defizite konstatiert werden. Hinsichtlich derHumankapitalausstattung sieht die Europäische Kom-mission dieselben vier Länder in der Spitzenposition, dieauch über die beste Infrastrukturausstattung verfügen.Die staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaftstätigkeitist in den Beitrittsländern im Durchschnitt deutlich hö-her als in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union;entsprechend ausgeprägter sind die sich ergebendenWettbewerbsverzerrungen. Neben offenen staatlichenBeihilfen sind hier vor allem versteckte Subventionen,etwa in Form von tolerierten Zahlungsrückständen vonSteuern und Sozialabgaben, zu bemängeln.

Die privaten Investitionen als weiteres Merkmal derWettbewerbsfähigkeit waren in den vergangenen Jahrenin den Beitrittsländern unterschiedlich ausgeprägt. Wäh-rend Litauen, die Slowakei und die Tschechische Repub-lik nur einen schwachen Zuwachs der privaten Investiti-onen verzeichneten, herrschte in Lettland, Slowenienund Ungarn eine dynamische Investitionstätigkeit. Vongroßer Bedeutung war in allen Ländern der Zufluss aus-ländischer Direktinvestitionen, die durch Modernisie-rung des Kapitalbestands und durch den Transfer vonWissen zur Umstrukturierung und Stärkung der Wettbe-werbsposition der Volkswirtschaften beitrugen.

Die außenwirtschaftlichen Verflechtungen mit der Euro-päischen Union befinden sich nach Jahren stark zuneh-mender Integration auf hohem Niveau. Nicht nur dasHandelsvolumen – rund zwei Drittel der Ausfuhr derBeitrittsländer gehen in die Europäische Union –, son-dern auch die Handelsstruktur spricht für eine fortge-schrittene Eingliederung in die internationale Arbeitstei-lung. So liegt der Anteil der Zwischenerzeugnisse amGesamthandel in der Regel über 50 vH; gleichzeitig istder Anteil der Investitionsgüter an den Exporten starkangestiegen. Auch hat der Anteil des intra-industriellenHandels deutlich zugenommen, wenngleich noch über-wiegend in unteren Qualitätssegmenten. Diese Indikato-ren unterstreichen die weit reichenden Produktionsver-flechtungen zwischen den mittel- und osteuropäischenLändern sowie der Europäischen Union. Das Merkmalder Verbreitung kleiner und mittlerer Unternehmen wirdvon der Europäischen Kommission unter der These her-angezogen, dass diese einen Indikator für Marktzu-gangsmöglichkeiten darstellten und zu einer höherenWettbewerbsintensität beitrügen. Es ist jedoch, abhängigvom Grad der Produktheterogenität und der Markttrans-parenz, keineswegs sicher, dass Polypole Oligopolen un-ter Wettbewerbsaspekten überlegen sind. Zudem wird

argumentiert, dass diese Unternehmen auch aus beschäf-tigungspolitischer Sicht eine entscheidende Rolle dabeispielen würden, Arbeitskräfte aus schrumpfenden Bran-chen zu absorbieren. In der Tat vollzog sich in den zu-rückliegenden Jahren in allen Ländern eine deutlicheEntwicklung von Großunternehmen hin zu kleineren Be-triebsgrößen, wenngleich gerade in der Slowakei und inSlowenien Großunternehmen noch eine dominante Stel-lung einnehmen. Gleichwohl kritisiert die EuropäischeKommission nach wie vor unzureichende Fremdfinan-zierungsmöglichkeiten, bürokratische Hemmnisse, Kor-ruption und mangelhaften Zugang zu unternehmensbe-zogenen Dienstleistungen.

166. Seit Beginn des Beitrittsprozesses haben die einstals zentrale Lenkungswirtschaften organisierten mittel-und osteuropäischen Länder in Tempo und Ausmaß au-ßergewöhnliche Fortschritte in Richtung funktionsfähi-ger und wettbewerbsfähiger Marktwirtschaften erzielt.Ein halbes Jahr vor Erweiterung der EuropäischenUnion sind die noch bestehenden Mängel im Vergleichzur zurückgelegten Wegstrecke verhältnismäßig gering.Es kann davon ausgegangen werden, dass die Beitritts-länder neben dem Kriterium einer funktionsfähigenMarktwirtschaft bis zum 1. Mai 2004 auch die Anforde-rung, dem Wettbewerbsdruck in der Europäischen Unionstandzuhalten, in ausreichendem Maße erfüllen werden.

167. Die ökonomischen Folgen des formalen Schrittsder Osterweiterung der Europäischen Union am 1. Maikommenden Jahres werden sich für die bisherigen Mit-gliedsländer aus zwei Gründen in sehr engen Grenzenhalten. Zum einen sind die beitretenden Volkswirtschaf-ten auch in ihrer Summe schlicht zu klein, um einen be-deutenden Einfluss auszuüben. Ihre aggregierte Wirt-schaftsleistung entspricht in Euro gerechnet rund 4 vHderjenigen der Europäischen Union; in Kaufkraftstan-dards gerechnet sind dies etwa 9 vH. Zum anderen wirddie Integration in den Europäischen Binnenmarkt imkommenden Jahr nur wenige Fortschritte erfahren. SeitBeginn der Vor-Beitrittsphase Anfang der neunzigerJahre sind die Bereiche Warenverkehr und Dienstleis-tungsverkehr, Kapitalverkehr und Niederlassungsfreiheitbereits weitgehend liberalisiert und binnenmarktadäquatausgestaltet worden. Bislang verbliebene Barrieren, dieim kommenden Jahr abgebaut werden, beschränken sichauf wenige nicht-tarifäre Handelshemmnisse wie etwadie gegenseitige Anerkennung von Qualitätsstandards.Die Freizügigkeit von Arbeitskräften aus den Beitritts-ländern bleibt auch nach der Osterweiterung zunächstausgesetzt; ähnliches gilt für wenige Bereiche der Kapi-talverkehrsfreiheit (JG 2002 Ziffer 110). So kommt auchdie Europäische Kommission in einer früheren Simulati-onsstudie, wenn auch auf Basis eines enger gefasstenBeitrittsszenarios nur zu äußerst geringen makroökono-mischen Auswirkungen der Osterweiterung auf die bis-herigen Mitgliedsländer. Über einen Zeitraum von zehnJahren würde sich das EU-Bruttoinlandsprodukt nur um0,5 vH gegenüber dem Referenzszenario ohne Beitritterhöhen; klammert man die positiven Wirkungen der un-terstellten zusätzlichen Migration aus, beträgt der Zu-wachs nur 0,2 vH.

97

Page 124: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Exkurs: Konvergenz zwischen den Beitrittsländern und der Europäischen Union

168. Zu Beginn der ökonomischen Transformation inden mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern Anfangder neunziger Jahre war – einhergehend mit einemschrumpfenden Bruttoinlandsprodukt – ein realwirt-schaftlicher Divergenzprozess zu den Ländern der Euro-päischen Union zu beobachten. Mitte des letzten Jahr-zehnts kehrte sich diese Entwicklung um, und im Zuge deseinsetzenden Konvergenzprozesses begannen sich dieEinkommensrückstände zu den EU-Ländern zu verrin-gern. Zur Messung dieser Konvergenz wird in der Regelauf die Einkommensentwicklung in (nominalen) Kauf-kraftstandards (KKS) abgestellt. In diesem Konzept wirddas Bruttoinlandsprodukt um divergierende Preisniveausin den einzelnen Ländern bereinigt. Diese ergeben sich vorallem aufgrund von nicht-handelbaren Gütern, derenPreise sich nicht über den Wechselkursmechanismus aneinen international einheitlichen Preis anpassen können.Dies erklärt auch die teils beträchtlichen Unterschiedezwischen den Messungen in Kaufkraftstandards und zujeweiligen Wechselkursen. Mit Hilfe der Kaufkraftstan-dards kann somit der Tatsache Rechnung getragen wer-den, dass das Preisniveau insgesamt in den Beitrittslän-dern niedriger liegt, als dies durch den Wechselkurs derjeweiligen Währung zum Euro ausdrückt. Insbesondereals Determinante für Migrationsentscheidungen ist dieMessung der Einkommensrelationen in diesem Konzeptaussagekräftiger als zu jeweiligen Wechselkursen.

Die eindrucksvollsten Entwicklungen unter den acht mit-tel- und osteueropäischen Ländern, die im kommendenJahr der Europäischen Union beitreten werden, sind inden baltischen Staaten zu beobachten. In Lettland nahmdas Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in den Jah-ren 1995 bis 2002 – in Kaufkraftstandards gerechnet –um durchschnittlich 9,9 vH pro Jahr zu; dies entsprichtfür den Gesamtzeitraum einer Einkommenssteigerungvon 93 vH. Litauen (+ 82 vH) und Estland (+ 72 vH)blieben etwas hinter dieser Entwicklung zurück. Auch derGroßteil der übrigen Beitrittsländer konnte bedeutendeEinkommenszuwächse verzeichnen. Allein die Tschechi-sche Republik, die Ende der neunziger Jahre eine ausge-prägte Schwächephase zu verkraften hatte, ist erst zu Be-ginn dieses Jahrzehnts auf den Konvergenzpfadeingeschwenkt. Im Zeitraum der Jahre 1995 bis 2002ging dort die relative Einkommensposition gegenüber derEuropäischen Union sogar zurück (– 3,5 vH). Polen liegtmit einer jahresdurchschnittlichen Zuwachsrate des Brut-toinlandsprodukts in Kaufkraftstandards von 5,8 vH inHöhe des Durchschnitts der acht mittel- und osteuropäi-schen Beitrittsländer; damit haben diese Länder seit Mitteder neunziger Jahre jedes Jahr im Mittel 1,4 vH ihres Ein-kommensrückstands auf die Europäische Union aufgeholt(Schaubild 22). Dieser als Konvergenzrate bezeichneteWert bildet das Verhältnis der Zuwachsraten des Bruttoin-landsprodukts in beiden betrachteten Gebieten ab. Esmuss jedoch berücksichtigt werden, dass die Werte fürdas Jahr 2002 bislang noch vorläufig und erhebliche Re-visionen möglich sind, die sich auch in der ermitteltenKonvergenzrate niederschlagen können.

169. Dass die hohen Zuwachsraten des Bruttoinlands-produkts nicht zuletzt Ausdruck des geringen Ausgangs-niveaus in den Beitrittsländern sind, wird in der Betrach-tung der so genannten β-Konvergenz dieser Länderdeutlich. In diesem Konzept, dem die Hypothese einer un-bedingten Konvergenz der Einkommensniveaus zugrundeliegt, wird das logarithmierte Bruttoinlandsprodukt jeEinwohner in Kaufkraftstandards in der Ausgangsperiode– hier das Jahr 1995 – den durchschnittlichen Zuwachsra-ten in den Folgeperioden gegenübergestellt. Für die Bei-trittsländer ist ein deutlicher negativer Zusammenhangzwischen beiden Größen festzustellen; dies gilt auch imVergleich zur Europäischen Union (Schaubild 23, Seite100). Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass in demrelativ kurzen Betrachtungszeitraum, der aufgrund derTransformationskrisen zu Beginn der neunziger Jahrenicht länger gewählt wurde, konjunkturelle EffekteWachstumsaspekte überlagern können.

Trotz dieses deutlichen Aufholprozesses unterscheidensich die Einkommensniveaus in beiden Ländergruppennach wie vor erheblich. Das durchschnittliche Einkom-men je Einwohner lag im Jahr 2002 in den Beitrittslän-dern bei nur 47 vH des Niveaus in der EuropäischenUnion. Als einziges der Beitrittsländer hat Slowenienmit einem relativen Einkommen von 74 vH Anschlussan die ärmeren der bisherigen Mitgliedsländer gefundenund liegt im Bereich von Portugal und Griechenland(Tabelle 20). Die hohen Konvergenzraten in den balti-schen Ländern sind hingegen unter anderem Ausdruckdes niedrigen Ausgangsniveaus. Trotz der starken Zu-wachsraten des Bruttoinlandsprodukts bildeten Lettland,Litauen und Estland mit relativen Einkommen je Ein-wohner zwischen 35 vH und 42 vH des Niveaus in derEuropäischen Union im vergangenen Jahr noch mit Ab-stand das Schlusslicht unter den beitretenden Ländern.

Ta b e l l e 20

KKS3) Euro

Estland ................................ 41,7 21,1 Lettland ............................... 35,2 15,9 Litauen ................................ 39,1 17,6 Polen ................................... 39,4 21,6 Slowakei ............................. 47,3 19,5 Slowenien ........................... 73,7 48,7 Tschechische Republik ....... 59,8 30,0 Ungarn ................................ 55,9 28,2

1) Im Vergleich zur Europäischen Union. - 2) In jeweiligen Preisen. -3) Kaufkraftstandards; zur Methode siehe Eurostat: Statistik kurz ge-fasst, Wirtschaft und Finanzen, Thema 2 „Preise und Kaufkraftparitä-ten“.

Quelle: EU

Bruttoinlandsprodukt2) je Einwohner in

Einkommensniveaus in den mittel- undosteuropäischen Beitrittsländern im Jahr 20021)

EU-15 = 100

98

Page 125: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

Unterstellt man eine in Zukunft gleichbleibende Konver-genzrate von 1,4 vH pro Jahr, so würde es rund 50 Jahredauern, bis sich der gegenwärtige Einkommensunter-schied – gemessen in Kaufkraftstandards – halbiert hat.

Betrachtet man die Einkommensniveaus in Euro statt inKaufkraftstandards, so stellt sich die relative Position derBeitrittsländer deutlich schlechter dar. Die Einkommens-position in Euro ist für mögliche Pendler und Migrantenaus den Beitrittsländern, die einen Teil ihres Einkom-mens in ihr Heimatland überweisen, die relevante Be-zugsgröße. Dabei betrug das relative Einkommensniveauin den Beitrittsländern im vergangenen Jahr etwa 25 vHdes EU-Niveaus. Nur in Slowenien lag das Verhältnis beifast 50 vH und damit nur knapp unter dem der beiden ein-kommensschwächsten EU-Länder Griechenland undPortugal. Die relativen Positionen der Beitrittsländer un-tereinander werden durch die Betrachtung in Euro statt inKaufkraftstandards nicht entscheidend berührt.

170. Die Beitrittsländer unterliegen hinsichtlich derTeilnahme an der Europäischen Währungsunion solangeeiner Ausnahmeregelung gemäß Artikel 122 EG-Ver-trag, bis sie – frühestens im Jahr 2006 – die Bedingun-gen zur Einführung des Euro erfüllen (Maastricht-Kriterien). Dieses Datum ergibt sich, da eines derKonvergenzkriterien des EG-Vertrages eine mindestens

zweijährige spannungsfreie Teilnahme, insbesondereohne Abwertungen, am Wechselkursmechanismus desEuropäischen Währungssystems (WKM II) vorsieht. DieBeitrittsländer können jedoch am WKM II frühestens abdem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 teil-nehmen. Doch diese eher technische Beschränkung trittin ihrer Bedeutung hinter die materielle Erfüllung derKonvergenzkriterien zurück. Im Allgemeinen wird eineTeilnahme der Beitrittsländer an der Europäischen Wäh-rungsunion gegen Ende dieses Jahrzehnts erwartet.

171. In der Tat weisen die meisten Beitrittsländer so-wohl hinsichtlich der fiskalischen als auch hinsichtlich dermonetären Konvergenzkriterien bisher noch Defizite auf;hier werden die Konvergenzdaten bis zum Ende desJahres 2002 unterstellt. Während der Bruttoschuldenstandin allen acht mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern– meist deutlich – unterhalb des Referenzwerts von 60 vHin Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt liegt,sind die öffentlichen Finanzierungssalden in zahlreichenLändern nicht mit den Anforderungen des Vertrages vonMaastricht vereinbar (Tabelle 21, Seite 101). Allein Est-land wies im Jahr 2002 einen überschüssigen öffentlichenHaushalt auf; vier Länder hingegen überschritten den Re-ferenzwert einer Nettokreditaufnahme von 3 vH in Rela-tion zum nominalen Bruttoinlandsprodukt. Vor allem

S c h a u b i l d 22

Relative Einkommensniveaus und Konvergenzratender mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer zur Europäischen Union

1) Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in KKS in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern in Relation zum Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in KKSin der Europäischen Union. 2) Relation der Veränderungsraten des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner in KKS in den mittel- und osteuropäischen Beitritts-–ländern gegenüber denen der Europäischen Union.

Quelle für Grundzahlen: EUSR 2003 - 12 - 0635

relatives Einkommensniveau (linke Achse)1) Konvergenzrate (rechte Achse)2)

41

42

43

44

45

46

47

48

0

vH

-2

-1

1

2

3

4

5

6

0

vH

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002

99

Page 126: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

S c h a u b i l d 23

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Dur

chsc

hnitt

lich

jähr

liche

Ver

änd

erun

gin

vH1)

8,25 8,50 8,75 9,00 9,25 9,50 9,75 10,00

Logarithmiertes Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in KKS 1995

ß-Konvergenz der Einkommensniveaus für die mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer zur Europäischen Union

Zeitraum 1995 bis 2002

1) Durchschnittlich jährliche Veränderung des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner in KKS .– a) Mittel- und osteuropäische Länder (Estland, Lettland, Litauen,Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn).

Quelle für Grundzahlen: EU

Lettland

Polen

Litauen

Estland

Ungarn

Slowenien

MOEL-8a)

Tschechische Republik

Europäische Union

Euro-Raum

Deutschland

Slowakei

SR 2003 - 12 0641

Ungarn und die Slowakei, aber auch die Tschechische Re-publik und Polen bedürfen massiver Rückführungen ihrerstrukturell bedingten Defizite zur Erfüllung des Defizit-kriteriums.

Alle Beitrittsländer vermochten ihre Inflationsraten, dieim Zuge des Transformationsprozesses zunächst nachoben geschnellt waren, in den vergangenen Jahren deut-lich zurückzuführen. In Polen beispielsweise, das nochim Jahr 2000 einen Zuwachs des Verbraucherpreisindexvon über 10 vH verzeichnete, lag die Inflationsrate indiesem Jahr unter 1 vH. Im Jahr 2002 hätten mit Est-land, Ungarn, Slowenien und der Slowakei noch vierLänder das Inflationskriterium nicht erfüllt; der Refe-renzwert hätte bei einem Zuwachs des HVPI von 2,5 vHgelegen. Dieser ergibt sich aus dem Durchschnitt der In-flationsraten in den drei preisstabilsten Mitgliedsländern– im vergangenen Jahr waren dies Litauen, Deutschlandund das Vereinigte Königreich – zuzüglich 1,5 Prozent-punkten. Unterstellt man einerseits, dass der jüngsteRückgang der Inflationsraten nicht nur konjunkturellbedingt ist und dass die nationalen Notenbanken ihre inden vergangenen Jahren erfolgreich betriebene Stabili-sierungspolitik auch künftig fortführen werden, sodürfte der Inflationsdruck in den Beitrittsländern weitergering bleiben. Auf der anderen Seite spricht der Ba-lassa-Samuelson-Effekt im Zuge der realwirtschaftli-

chen Konvergenz der Beitrittsländer dafür, dass die In-flationsraten geringfügig über denen in den bisherigenMitgliedsländern der Europäischen Union liegen wer-den (JG 2001 Ziffern 480 ff.).

Eine niedrige Hürde dürfte für alle Beitrittsländer dasKriterium der langfristigen Zinsen darstellen. ImJahr 2002 hätte der Referenzwert 7,2 % betragen, ent-sprechend dem Durchschnitt der langfristigen Zinssätzein den drei preisstabilsten Mitgliedsländern zuzüglich2 Prozentpunkten. In der fortgeschrittenen Zinskonver-genz spiegelt sich die bereits weitgehende wirtschaftli-che Integration der Beitrittsländer in die EuropäischeUnion und eine glaubwürdige, an Preisniveaustabilitätorientierte Geldpolitik der mittel- und osteuropäischenZentralbanken wider.

Inwieweit eine zweijährige spannungsfreie Teilnahmeder Währungen der Beitrittsländer am WKM II gewähr-leistet wäre, kann aus heutiger Sicht nicht beurteilt wer-den. Gleichwohl können die bilateralen Wechselkursent-wicklungen zum Euro in den Jahren 2001 und 2002einen Anhaltspunkt über die externe Stabilität der Wäh-rungen der Beitrittsländer geben. Estland und Litauenschalten schon seit dem Jahr 1992 beziehungsweise 2002durch ein Currency Board gegenüber dem Euro (in Est-land zuvor gegenüber der D-Mark) bilaterale Wechsel-

100

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

Ta b e l l e 21

Konvergenzdaten zur Europäischen Währungsunion: Situation in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern im Jahr 2002

-3,0 60 2,5 7,2 max. ±15

Estland ................................................ 0,9 5,7 3,6 . 0,0 Lettland .............................................. -3,0 15,2 2,0 5,3 7,6 Litauen ............................................... -1,7 22,7 0,4 6,0 8,5 Polen .................................................. -3,9 41,6 1,9 7,3 12,2 Slowakei ............................................. -7,2 44,3 3,3 6,9 4,3 Slowenien ........................................... -2,3 27,0 7,5 3,4 3,7 Tschechische Republik ....................... -7,1 27,1 1,4 4,9 9,5 Ungarn ................................................ -9,2 56,3 5,2 7,1 7,0

1) In Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH. - 2) Veränderung des HVPI gegenüber dem Vorjahr in vH. - 3) In % mit einer Rest-laufzeit von mindestens 10 Jahren; für Lettland und Slowenien von mindestens 5 Jahren. - 4) Maximale relative Abweichung vom Mittelwert in vH; Betrachtungszeitraum 1. Januar 2001 bis 31. Dezember 2002. - 5) Fälle, in denen die Referenzwerte für die Kriterien überschritten wur-den, sind grau unterlegt.

Quelle für Grundzahlen: EU

Fiskalische Kriterien1)

Wechsel- kurs4)

Referenzwert5)

Finanzie- rungssaldo

Schulden- stand

Inflation2) langfristiger Zinssatz3)

Monetäre Kriterien

kursschwankungen aus. Es ist jedoch derzeit offen undletztlich eine politische Entscheidung, ob ein solchesWechselkursregime mit den Anforderungen des WKM IIvereinbar ist. Der ECOFIN-Rat gab in einer Stellung-nahme im Jahr 2000 diesbezüglich eine ablehnende Hal-tung zum Ausdruck, da ein Currency Board eine markt-mäßige Überprüfung der Stabilität des Wechselkursesnicht zulasse. Gleichzeitig fügte er jedoch hinzu, dassdiese feste Anbindung „unter Umständen“ durchaus mitdem WKM II kompatibel sei. In den meisten übrigenLändern dürften die Wechselkursentwicklungen mit denAnforderungen des WKM II vereinbar sein. Im Betrach-tungszeitraum waren Schwankungsbreiten um den Mit-telwert in der Regel gering, in jedem Fall bewegten siesich innerhalb des Korridors von ± 15 vH, der die maxi-mal mögliche Schwankungsbreite innerhalb des WKM IIdarstellt. Allerdings muss berücksichtigt werden, dassder Mittelwert, der sich aus der Zeitreihe ergibt, nichtidentisch sein dürfte mit einem später festzulegendenLeitkurs; auch die zulässige Bandbreite dürfte unterhalbvon ± 15 vH festgelegt werden. Dies bedeutet, dass ge-rade für ein Land wie Polen dessen Wechselkurs im Be-trachtungszeitraum überdurchschnittlich volatil war, eineAussage über die Konformität dieser Entwicklung mitden Anforderungen des WKM II nur eingeschränkteGültigkeit haben kann.

172. Über die Konvergenzkriterien des Artikel 121EG-Vertrag hinaus ist es für den Erfolg der Europäi-schen Geldpolitik von Bedeutung, inwieweit die beidenRegionen einen ähnlichen Konjunkturzyklus aufweisen(Ziffern 132 ff.). Unzureichende empirische Daten set-zen hier einer detaillierten Analyse Grenzen. Hinsicht-lich der Länder Estland, Litauen, Slowenien, Tschechi-

sche Republik und Ungarn ist zu beobachten, dass derenKonjunkturverläufe bis zum Jahr 2000 wenig mit derkonjunkturellen Entwicklung im Euro-Raum gemeinhatten (Schaubild 24, Seite 102). Danach ist mit Aus-nahme Litauens ein stärkerer Gleichlauf der Beitrittslän-der, insbesondere in Slowenien und Ungarn, mit demEuro-Raum festzustellen. Jedoch ist der Betrachtungs-zeitraum bislang zu kurz, um eine valide Aussage übereine stabile Beziehung der Konjunkturverläufe machenzu können, zumal der stärkere Gleichlauf hauptsächlichin eine Abschwungphase fällt und noch keinen vollstän-digen Konjunkturzyklus umfasst.

Konvent zur Zukunft Europas − Auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung

173. Im Dezember 2001 hatte der Europäische Rat beiseiner Tagung in Laeken beschlossen, einen Konvent zurZukunft Europas einzuberufen (JG 2002 Ziffer 115).Dieser hatte die Aufgabe, Vorschläge zu unterbreiten,um die Europäische Union effizienter, transparenter unddemokratischer zu gestalten. Damit reagierte man aufdie im Vertrag von Nizza verbliebenen Defizite im Hin-blick auf die Funktionsfähigkeit einer auf 27 oder mehrMitglieder erweiterten Europäischen Union. Am 18. Julidieses Jahres legte der unter Vorsitz des ehemaligenfranzösischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Es-taing tagende Konvent einen Entwurf eines Vertragesüber eine Verfassung für Europa vor. Die im Oktobereinberufene Regierungskonferenz soll bis Ende diesesoder bis Beginn des kommenden Jahres eine endgültigeFassung des Vertrages beschließen. Die Verfassungkönnte im Mai 2004 von den dann 25 Mitgliedstaatenunterzeichnet werden und nach dem Ratifizierungs-

101

Page 128: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

prozess im Jahr 2006 in Kraft treten. Der Verfassungs-entwurf sieht vor allem Änderungen bei den Organenund damit auch in den Entscheidungsprozessen der Eu-ropäischen Union sowie bei den Zuständigkeiten derverschiedenen föderalen Ebenen vor.

– Die Rolle des Europäischen Parlamentes, das künf-tig (bis zu) 736 Sitze umfasst, wird gestärkt. Der Ent-wurf sieht ausdrücklich vor, dass das EuropäischeParlament gemeinsam mit dem Ministerrat als Ge-setzgeber tätig wird; dabei wird die Zahl der Gesetz-gebungsbereiche, die dem Mitentscheidungsverfah-ren unterliegen, deutlich ausgedehnt. Auch wird dieEntscheidungskompetenz über den EU-Haushalt ge-stärkt. Darüber hinaus wählen die Abgeordneten aufVorschlag des Europäischen Rates den Präsidentender Europäischen Kommission.

– Das Prinzip der halbjährlichen Rotation des Vorsitzesdes Europäischen Rates wird aufgegeben. Um dieKontinuität in der Arbeit dieses Organs zu stärken,wird stattdessen das Amt des Präsidenten des Euro-päischen Rates eingeführt. Dieser wird vom Europäi-schen Rat mit qualifizierter Mehrheit für einen Zeit-raum von zweieinhalb Jahren gewählt; er kanneinmal wiedergewählt werden. Unbeschadet der Zu-ständigkeiten des künftig ebenfalls neu zu schaffen-den Amtes eines EU-Außenministers nimmt der Prä-sident die Außenvertretung der Europäischen Union

in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- undSicherheitspolitik wahr. Er darf kein staatliches Amtin einem der Mitgliedsländer innehaben und genießtdas gleiche Stimmrecht wie die übrigen Mitgliederdes Rates.

– Der Vorsitz des Ministerrates in seinen verschiede-nen Zusammensetzungen wird für die Dauer von je-weils mindestens einem Jahr nach dem Prinzip dergleichberechtigten Rotation von den vertretenenFachministern wahrgenommen. Die einzige Aus-nahme bildet die Zusammensetzung „Auswärtige An-gelegenheiten“, deren Vorsitz der EU-Außenministerführt. In diesem Bereich – wie in wenigen anderen,etwa der Steuergesetzgebung – bleibt das Prinzip derEinstimmigkeit erhalten. Das Einstimmigkeitserfor-dernis kann jedoch ohne ein formales Verfahren zurVerfassungsänderung durch einstimmigen Beschlussim Europäischen Rat aufgehoben werden. Für dieGesetzgebung in den meisten übrigen Bereichen, indenen mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird,sollte zunächst ein Rat „Allgemeine Angelegenheitenund Gesetzgebung“ eingerichtet werden. Der Verfas-sungsentwurf sieht vor, dass dieser Rat, wenn er inseiner Eigenschaft als Gesetzgeber tagt, in der Vertre-tung der Mitgliedstaaten zusätzlich jeweils ein oderzwei Fachvertreter auf Ministerebene umfasst. Diejeweiligen Fachministerräte wären somit formal nicht

S c h a u b i l d 24

Quelle für Grundzahlen: EU

vHvH

SR 2003 - 12 - 0625

1) Erläuterung zur Berechnungsmethode siehe Ziffer 133.

-6

-4

-2

2

4

6

0

-6

-4

-2

2

4

6

0

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002

Output-Lücken im Euro-Raum und in ausgewählten Beitrittsländern1)

Euro-Raum

Tschechische Republik

Estland

Ungarn Litauen

Slowenien

102

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

mehr gesetzgeberisch tätig. Dieser Vorschlag ist je-doch bereits zu Beginn der Regierungskonferenz aufallgemeine Ablehnung gestoßen, und es zeichnet sichbereits heute ab, dass er keinen Eingang in eine euro-päische Verfassung finden wird. Eine qualifizierteMehrheit ist künftig dann gegeben, wenn diese dieMehrheit der Mitgliedstaaten und mindestens dreiFünftel der Bevölkerung der Europäischen Union re-präsentiert. In Fällen, in denen der Ministerrat einenBeschluss nicht auf Grundlage eines Vorschlags derEuropäischen Kommission fasst, entspricht die quali-fizierte Mehrheit bei gleichem Bevölkerungskrite-rium zwei Dritteln der Mitgliedstaaten. Die Bestim-mungen zur Neuabgrenzung der qualifiziertenMehrheit treten jedoch erst am 1. November 2009nach den Wahlen zum Europäischen Parlament inKraft.

– Ebenfalls ab dem Jahr 2009 wird die EuropäischeKommission auf 15 stimmberechtigte Mitgliederverkleinert. Sie besteht dann aus dem vom Europäi-schen Parlament gewählten Kommissionspräsiden-ten, dem EU-Außenminister, der gleichzeitig denPosten des Vizepräsidenten innehat, und aus 13 Kom-missaren, die nach einem System der gleichberech-tigten Rotation zwischen den Mitgliedsländern aus-gewählt werden. Dabei erstellt jeder durch dasRotationssystem bestimmte Mitgliedstaat eine Listevon drei Personen, aus der der Kommissionspräsidentjeweils einen Kommissar auswählt. Dazu ernennt eraus den übrigen Ländern je einen Kommissar ohneStimmrecht, wobei die konkrete Stellung jener Kom-missare innerhalb der Europäischen Kommissionunklar ist. Bei der Aufteilung zwischen den stimm-berechtigten und den nicht-stimmberechtigten Kom-missaren ist darauf zu achten, dass das demographi-sche und geographische Spektrum der Gesamtheit derMitgliedstaaten angemessen repräsentiert ist. Dieshat zur Konsequenz, dass größere Länder häufiger ei-nen stimmberechtigten Kommissar stellen werden alskleinere Länder.

– Das Amt des Außenministers der EuropäischenUnion wird neu geschaffen. Es vereint die bisherigenÄmter des EU-Kommissars für Auswärtige Angele-genheiten und des Hohen Repräsentanten für die Ge-meinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Der EU-Außenminister wird mit qualifizierter Mehrheit vomEuropäischen Rat und mit Zustimmung des Präsiden-ten der Europäischen Union ernannt. Er wird von ei-nem neu einzurichtenden Europäischen AuswärtigenDienst unterstützt.

174. Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischender Europäischen Union und den Mitgliedstaaten undum eine schleichende Zentralisierung einzudämmen,wurde in den Vertrag von Maastricht das Subsidiaritäts-prinzip aufgenommen. Dieses Prinzip ist bislang jedochnicht hinreichend präzisiert; es obliegt den EU-Organenfestzustellen, ob sie oder untergeordnete föderale Ebe-nen mit einer Aufgabe betraut werden sollen. Der Ver-fassungsentwurf grenzt unter Berücksichtigung des Prin-

zips der Subsidiarität explizit die Bereiche ab, die in dieZuständigkeit der EU-Ebene fallen. Demnach liegen inausschließlicher Zuständigkeit der Europäischen Uniondie Währungspolitik, die Handelspolitik (einschließlichdes Handels mit Dienstleistungen), die Zollunion sowiedie Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rah-men der gemeinsamen Fischereipolitik. Daneben gibt eseinen Katalog von Politikbereichen mit geteilter Zustän-digkeit – beispielsweise Binnenmarkt, Landwirtschaft,Umwelt und Teile der Sozialpolitik –, in denen die Mit-gliedstaaten ihre Zuständigkeit wahrnehmen können, so-weit die EU-Ebene sie nicht ausübt; Gemeinschaftsrechtkann hier an die Stelle nationalen Rechts treten. Zusätz-lich kann die Europäische Union in vielen Bereichen un-terstützend tätig werden, ohne dadurch in Konkurrenz zunationalstaatlichen Zuständigkeiten zu treten. Beispielehierfür sind die Bereiche Industrie, Gesundheitsschutz,Sport und Kultur. Die nationalen Parlamente erhalten dieMöglichkeit, Gesetzgebungsvorschläge auf ihre Verein-barkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip hin zu prüfen undgegebenenfalls Einwände gegenüber dem Vorhaben zuerheben. Hält die Europäische Kommission gleichwohlan ihrem Vorschlag fest, steht den Parlamenten die Mög-lichkeit offen, beim Europäischen Gerichtshof eineKlage wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts gegendas Subsidiaritätsprinzip anzustrengen.

Weitere bedeutende Änderungen im Vergleich zum ge-genwärtigen Vertrag sieht der Verfassungsentwurf imHinblick auf das Verfahren bei einem (drohenden) über-mäßigen öffentlichen Defizit gegenüber einem Landdes Euro-Raums vor. Die Europäische Kommission er-hält das Recht, selbst eine frühzeitige Warnung an einMitgliedsland zu richten; diese Warnung kann vom Mi-nisterrat nicht gestoppt werden. Auch innerhalb einesVerfahrens wegen Überschreitung des Defizitkriteriumswird die Position der Europäischen Kommission ge-stärkt. So können die von ihr vorgelegten wirtschaftspo-litischen Vorschläge gegenüber dem betreffenden Mit-gliedstaat zur Rückführung des Defizits vom Ministerratnunmehr einstimmig statt wie bisher mit qualifizierterMehrheit abgelehnt werden. Dabei beschließt der Minis-terrat ohne Berücksichtigung des Stimmrechts des Lan-des, gegen das das Verfahren anhängig ist. Im Unter-schied zur gegenwärtigen Rechtslage sind in einemsolchen Verfahren nur die Mitgliedsländer der Wäh-rungsunion stimmberechtigt.

175. Mit der Annahme des Verfassungsentwurfs durchdie Regierungskonferenz könnten die Entscheidungspro-zesse in der Europäischen Union demokratischer unddeutlich effektiver gestaltet werden. Die Ausweitung derKompetenzen des Europäischen Parlamentes stärkt dasdemokratische und repräsentative Element der Europäi-schen Union zu Lasten einer Politik, die sich vornehm-lich zwischen den nationalen Regierungen abspielt. Un-ter Effizienzgesichtspunkten ist die Abschaffung derRotation des EU-Ratsvorsitzes im Halbjahresrhythmuszu begrüßen. Die Ausweitung des Vorsitzes auf einenZeitraum von mindestens zweieinhalb Jahren und dieHauptamtlichkeit des Präsidenten dürften der Kontinui-tät und Sorgfalt sowie der langfristigen Orientierung der

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Politik des Europäischen Rates förderlich sein. Auch dieStraffung der Europäischen Kommission ist positiv zubeurteilen; die Größe einer Behörde sollte sich am Um-fang ihrer Aufgaben orientieren, nicht an der Zahl dervon ihr vertretenen Einwohner. Aus diesem Grund sinddie während der Regierungskonferenz vorgebrachtenBestrebungen, weiterhin jedem Mitgliedsland einen ei-genen stimmberechtigten Kommissar zuzugestehen, ab-zulehnen. Zu begrüßen ist die Konkretisierung des Sub-sidiaritätsprinzips durch eine explizite Abgrenzung derZuständigkeiten. Dies dürfte einen Beitrag gegen eineweitere schleichende Zentralisierung von Zuständigkei-ten leisten – wenngleich sie diese nicht verhindern kön-nen, wie die Erfahrungen mit dem deutschen Grundge-setz nahe legen. Diese Kompetenzverschiebung zurZentralebene hat nicht zuletzt der in Streitfällen zustän-dige Europäische Gerichtshof durch „europafreundli-che“ Entscheidungen in den letzten Jahren gefördert.

Als problematisch hingegen erscheinen einige der Berei-che, für die eine geteilte Zuständigkeit vorgesehen ist,denn Eingriffe auf EU-Ebene können aus ökonomischerSicht nur in Betracht gezogen werden, falls die Tätigkei-ten Größenvorteile oder Externalitäten aufweisen undsoweit die Präferenzen der beteiligten Länder homogensind. Diese Kriterien werden beispielsweise für dieAgrarpolitik, für die Energiepolitik und für weite Teileder Umweltpolitik nicht erfüllt, insofern wäre ein Han-deln auf europäischer Ebene gemessen an diesen Krite-rien nicht angezeigt. Hier wäre eine mutige Abkehr vomgegenwärtigen Zentralisierungsgrad wünschenswert ge-wesen. Die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungenund die Vereinfachung, in weiteren Bereichen das Ein-stimmigkeitserfordernis durch Ratsbeschluss anstelleeiner Vertragsänderung aufzuheben, ist ambivalent zubetrachten. Auf der einen Seite dürfte sich der Entschei-dungsprozess im Ministerrat effizienter gestalten. Aufder anderen Seite wird ohne Einstimmigkeitserfordernisdie Zahl der Entscheidungen auf EU-Ebene zunehmenund die Tendenz zur Vergemeinschaftung gefördert.Welches Verfahren per saldo die geringeren aggregiertenKosten für die Mitgliedstaaten verursacht, hängt wesent-lich vom Homogenitätsgrad der Präferenzen ab und istoffen. Eine gewisse Kompensation hinsichtlich zusätzli-cher EU-Gesetzgebung durch den Ministerrat ist durchdie Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens durchdas Europäische Parlament zu erwarten.

Mit dem neu einzurichtenden Auswärtigen Dienst, derden europäischen Außenminister unterstützen soll, wirdgleichsam eine neue Bürokratie geschaffen. Auch derkünftige hauptamtliche Präsident der EuropäischenUnion benötigt einen erheblichen administrativen Unter-bau. Zu kritisieren ist schließlich die Verschiebung derReform der Europäischen Kommission und der Abgren-zung der qualifizierten Mehrheit auf das Jahr 2009.Diese Konzession gegenüber Spanien, das so mit dem inNizza ausgehandelten überproportionalen Stimmgewichtan den Entscheidungen über die nächsten beiden mittel-fristigen Finanzplanungsperioden – die etwa bis insJahr 2020 reichen – teilnehmen kann, ist mit der Motiva-tion des Konvents kaum vereinbar. Wenn eine institutio-

nelle Reform aufgrund der Erweiterung der Europäi-schen Union als notwendig erachtet wird, so sollte dieseauch zeitnah umgesetzt werden.

Änderung der Abstimmungsregeln im EZB-Rat

176. Der für die Festlegung der europäischen Geldpoli-tik zuständige EZB-Rat besteht nach der derzeitigen Re-gelung aus den sechs Direktoriumsmitgliedern und allen,gegenwärtig zwölf, nationalen Zentralbankpräsidentender zum Euro-Raum gehörenden Länder. Die Ratsbe-schlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefasst. Dabeihat jedes Mitglied eine gleichgewichtete Stimme. In ei-nigen Jahren könnte sich die Zahl der an der Europäi-schen Währungsunion teilnehmenden Länder – unterBerücksichtigung der noch nicht zum Euro-Raum gehö-renden EU-Länder Schweden, Großbritannien undDänemark – auf bis zu 27 vergrößern. Bei der gegenwär-tigen Ausgestaltung wäre damit eine Erweiterung desEZB-Rates auf bis zu 33 stimmberechtigte Mitgliederverbunden. Unter Beibehaltung der momentan geltendenAbstimmungsregeln würde die Effizienz der geldpoliti-schen Entscheidungsfindung im EZB-Rat leiden. Außer-dem verschöben sich die Abstimmungsgewichte starkzugunsten der kleinen Länder und der relative Einflussdes Direktoriums reduzierte sich. Vor diesem Hinter-grund bestand weitgehende Einigkeit darüber, dass dieAbstimmungsregeln reformiert werden müssen. Die ge-setzliche Grundlage für eine Änderung der in Artikel 10Absatz 2 der Satzung des Europäischen Systems derZentralbanken und der Europäischen Zentralbank festge-legten Abstimmungsregeln bildet der mit dem Vertragvon Nizza neu eingeführte Artikel 10 Absatz 6 (Ermäch-tigungsklausel). Danach kann eine Änderung der Ab-stimmungsregeln im EZB-Rat durch den EuropäischenRat in der Zusammensetzung der Staatschefs und Regie-rungschefs, gestützt auf eine Empfehlung der Europäi-schen Zentralbank, erfolgen.

177. Aufgrund der Einschränkungen durch die Er-mächtigungsklausel sowie wegen ihrer allgemeinengeldpolitischen Konzeption orientierte sich die Europäi-sche Zentralbank beim Entwurf ihres Reformvorschlagsan den folgenden fünf Grundsätzen: Bei der Beschluss-fassung sollte weiterhin das Prinzip „ein Mitglied – eineStimme“ gelten. Alle – auch die nicht-stimmberechtig-ten – nationalen Notenbankpräsidenten sollten weiterhinpersönlich und in Unabhängigkeit an den Sitzungen desEZB-Rats teilnehmen können (persönliche Teilnahme,Artikel 10 Absatz 1). Dies soll zum einen gewährleisten,dass die nationalen Notenbankgouverneure im EZB-Ratals europäische Experten, nicht als nationale Reprä-sentanten, entscheiden und damit die persönliche Un-abhängigkeit stärken. Zum anderen vereinfacht dieEinbeziehung aller Zentralbankpräsidenten in die Ent-scheidungen die Rechenschaftslegung im Heimatland,und die nationalen Zentralbankpräsidenten liefern wich-tige Informationen für geldpolitische Entscheidungen.Des Weiteren sollten die stimmberechtigten Zentral-bankpräsidenten aus Mitgliedstaaten stammen, die zu-

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

sammen als repräsentativ für die Wirtschaftsstruktur imEuro-Währungsgebiet angesehen werden (Repräsentati-vität), und das neue Abstimmungsverfahren sollte so be-ständig sein, dass es sich bei jedem Beitritt eines neuenMitgliedstaates zum Euro-Währungsgebiet automatischanpasst (Automatismus). Gleichzeitig sollte eine Erwei-terung auf bis zu 27 Länder in jeder erdenklichen Rei-henfolge möglich sein. Schließlich sollten die wesentli-chen Merkmale und die Funktionsweise des neuenAbstimmungsverfahrens problemlos vermittelt werdenkönnen. Der Wortlaut des geänderten Artikels 10Absatz 2 sollte hinreichend verständlich sein und denAnforderungen des primären Gemeinschaftsrechts ent-sprechen (Transparenz). Eine Reform auf Basis dieserKriterien würde nach Ansicht der Europäischen Zentral-bank zur Kontinuität und damit zur Glaubwürdigkeit derGeldpolitik beitragen.178. Am 21. März 2003 ist der vom EZB-Rat vorge-schlagene Reformentwurf vom Europäischen Rat ver-abschiedet worden. Er muss nun noch von den nationa-len Parlamenten ratifiziert werden. Das von derEuropäischen Zentralbank vorgeschlagene Abstim-mungssystem basiert auf einem (asymmetrischen) Rota-tionsprinzip. In diesem System wird die Gesamtzahl derStimmrechte auf 21 beschränkt. Sie ergibt sich aus sechspermanenten Stimmrechten für die Mitglieder des Direk-toriums und 15 Stimmrechten für die Präsidenten der na-tionalen Zentralbanken. Sobald die Zahl der EWU-Mit-gliedsländer und der nationalen Notenbankpräsidenten15 übersteigt, tritt der Rotationsmechanismus in Kraft.Dazu werden die Präsidenten der nationalen Zentralban-ken in Gruppen eingeteilt, deren Mitglieder unterschied-lich häufig stimmberechtigt sind. Die Gruppeneinteilunghängt von zwei Kriterien ab: Der Anteil des Mitglied-staates am aggregierten Bruttoinlandsprodukt des Euro-Raums geht als Indikator für seine wirtschaftliche Be-deutung mit einem Gewicht von fünf Sechsteln ein; derAnteil eines Mitgliedstaates an der gesamten aggregier-ten Bilanz der Monetären Finanzinstitute der Euro-Mit-gliedsländer geht als Indikator für die Größe des Finanz-sektors mit einem Gewicht von einem Sechstel ein. Aufder Basis dieses zusammengesetzten Kriteriums kanneine Rangfolge der Mitgliedsländer aufgestellt werden,welche die Grundlage für die Gruppeneinteilung derLänder bildet (Tabelle 22, Seite 106).179. Das Rotationssystem wird in zwei Stufen einge-führt: Liegt die Zahl der EWU-Mitgliedsländerzwischen 16 und 21, so tritt die erste Stufe in Kraft, in-nerhalb derer die Notenbankpräsidenten zwei Gruppenbilden: Die erste Gruppe besteht aus den Zentralbank-präsidenten der fünf größten Euro-Länder und muss sichzunächst fünf, ab dem 19. Mitgliedstaat vier Stimm-rechte teilen. Die zweite Gruppe besteht aus allen übri-gen Zentralbankpräsidenten und erhält maximal elfStimmrechte. Ab dem 21. Mitgliedstaat tritt die zweiteStufe in Kraft, und die Rotation erfolgt auf der Basis vondrei Gruppen (Schaubild 25): Die erste Gruppe mit denfünf größten Mitgliedsländern erhält weiterhin vierStimmrechte. Die zweite Gruppe umfasst immer mindes-tens die Hälfte der Mitgliedsländer, also beispielsweise

bei 25 Euro-Teilnehmerländern die 13 nächstgrößerenMitglieder. Diese müssen sich acht Stimmrechte teilen.Die dritte Gruppe umfasst die übrigen Mitgliedsländer.Auf diese entfallen drei Stimmrechte. Die genauenDurchführungsbestimmungen für die Rotation derStimmrechte in den einzelnen Gruppen (zum Beispielder zeitliche Abstand zwischen den Rotationszyklen)sind noch nicht festgelegt worden. Sie werden vomEZB-Rat auf der Grundlage einer im neuen Artikel 10Absatz 2 enthaltenen Bestimmung beschlossen.

180. Mit seinem Reformvorschlag hat sich der EZB-Ratbemüht, dem Grundsatz der Beständigkeit Rechnung zutragen, indem er eine fließende Veränderung der relativenStimmhäufigkeit bei jedem Zutritt eines neuen Mitglieds-landes vorsieht. Auch die Stärkung des Direktoriumsdurch dauerhafte Stimmrechte und die Begrenzung derGesamtstimmenzahl ist als positiv zu bewerten. Durchdie Gruppeneinteilung konnte die Diskrepanz zwischendem wirtschaftlichen Gewicht und den Stimmrechtsantei-len der Länder tendenziell verringert und der Repräsenta-tivitätsgrundsatz erfüllt werden, obwohl das Kriteriumzur Abgrenzung in „große“ und „kleine“ Länder grund-sätzlich umstritten ist: Luxemburg erhält beispielsweise– wegen der Berücksichtigung des Finanzmarktgewichts –relativ zu seiner Bevölkerungszahl ein hohes Gewicht

S c h a u b i l d 25

EZB-Rat

21 Stimmrechte insgesamt

Beispiel für die Zusammensetzungdes EZB-Rates bei 25 Mitgliedsländern

6 dauerhafte Stimmrechte

4 rotierendeStimmrechte

8 rotierendeStimmrechte

3 rotierendeStimmrechte

SR 2003 - 12 - 0638

Präsidenten der7 nationalen

Zentralbankender

3. Gruppe2)

1) Ländergruppierung durch Gewichtung von Bruttoinlandsprodukt (5/6) und ag-gregierter Bilanz der Monetären Finanzinstitute (1/6) der Mitgliedstaaten.–2) Hier berechnet mit den Daten des Jahres 2002:

1. Gruppe (immer 5 NZB-Präsidenten): Deutschland, Vereinigtes Königreich,Frankreich, Italien, Spanien.2. Gruppe (die Hälfte aller NZB-Präsidenten): Niederlande, Belgien, Schweden,Österreich, Dänemark, Irland, Polen, Portugal, Griechenland, Luxemburg, Finn-land, Tschechische Republik, Ungarn.3. Gruppe (die restlichen NZB-Präsidenten): Slowakei, Slowenien, Litauen,Zypern, Lettland, Estland, Malta.

Präsidenten der13 nationalenZentralbanken

der

2. Gruppe2)

15 rotierende Stimmrechte1)

Quelle: EZB

Direktorium

6 Mitglieder

6 dauerhafteStimmrechte

Präsidenten der5 nationalen

Zentralbankender

1. Gruppe2)

105

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

und ähnlich viele Stimmrechte wie Polen. AlternativeKriterien führen zu abweichenden Rangfolgen.Verbunden mit der besseren Erfüllung des Repräsentati-vitätsgrundsatzes ist allerdings eine Verletzung des Prin-zips „ein Mitglied – eine Stimme“. Denn Letzteres giltnur noch für die jeweils stimmberechtigten Zentralbank-präsidenten. Dadurch kommt es zu einer zeitweisen Un-gleichbehandlung großer und kleiner Länder und einer

Verringerung der persönlichen Verantwortung der rotie-renden Mitglieder für geldpolitische Entscheidungen inbestimmten Zeiträumen. Da somit unter Umständen derEindruck entsteht, dass die nationale Herkunft im geld-politischen Entscheidungsprozess wichtiger ist als geld-politisches Expertentum, fördert die Verletzung diesesPrinzips das Denken in nationalstaatlichen Interessen.Auch ist der Reformvorschlag kompliziert sowie zum

Ta b e l l e 22

Alternative Rangfolgen2):

(1) (2) (3) (4) (5)

Deutschland 1 1 1 1 1 Vereinigtes Königreich 2 2 2 2 5 Frankreich 3 3 3 3 8 Italien 4 4 4 4 13 Spanien 5 5 5 5 7

Niederlande 6 6 7 6 4 Belgien 7 7 9 7 2 Schweden 8 8 13 9 16 Österreich 9 9 14 11 3 Dänemark 10 11 16 14 20 Irland 11 15 18 17 19 Polen 12 10 6 7 22 Portugal 13 14 12 12 10 Griechenland 14 13 8 9 17 Luxemburg 15 20 24 22 12 Finnland 16 12 17 16 15 Tschechische Republik 17 16 10 12 11 Ungarn 18 17 11 15 21

Slowakei 19 19 15 18 14 Slowenien 20 18 21 19 18 Litauen 21 21 19 20 25 Zypern 22 22 23 23 9 Lettland 23 23 20 21 24 Estland 24 24 22 24 23 Malta 25 25 25 25 6

1) Vorschlag des EZB-Rates. Nach dem geplanten Rangfolgekriterium würde bei einer Erweiterung auf 27 (28) Mitgliedsländer Rumänien denRang 18a, Bulgarien den Rang 20a einnehmen; die Türkei würde Rang 13a belegen. - 2) Nach Angaben von: Meade, Ellen E. (2003) A (Critical)Appraisal of the ECB’s Voting Reform, in: Intereconomics, May/June, Table 1, S. 131, sowie Gros, Daniel (2003) An Opportunity Missed!, in: Intereconomics, May/June, Table 1, S. 125.

Zusammensetzung des EZB-Rates:

GeplanteRangfolge1)

Gewichtung:Brutto-inlands-

produkt (5/6),Finanz-

sektor (1/6)

Mögliche Rangfolgen als Grundlage der Gruppenbildung

Bevölkerung

Gewichtung:Brutto-inlands-

produkt (1/2),Bevölke-rung (1/2)

Bank-vermögen

für das Rotationsprinzip bei 25 Teilnehmer-Ländern (Stand: Jahr 2002)

Gruppe 3

Gruppe 1

Gruppe 2

NominalesBrutto-inlands-produkt

106

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Europäische Union: Reformen in stagnierendem Umfeld

Teil (noch) unzureichend spezifiziert, was eine Verlet-zung des Transparenz-Kriteriums bedeutet. Schließlichist die Begrenzung der Gesamtzahl der Stimmrechteauf 21 sehr großzügig gewählt, so dass die Effizienz undRechtzeitigkeit der geldpolitischen Beschlüsse durch denEZB-Vorschlag kaum erhöht werden dürfte.

Reform der Europäischen Agrarpolitik: Zu kurz gesprungen

181. Mit der im Sommer des vergangenen Jahres vor-gelegten Halbzeitbewertung der Gemeinsamen Agrarpo-litik für die bis zum Jahr 2006 laufende Finanzplanungs-periode verband die Europäische Kommission dieAbsicht, bereits ab dem Jahr 2004 Reformen in diesemPolitikbereich durchzusetzen (JG 2002 Ziffer 114).Diese Vorschläge lösten heftigen Widerstand in einigenMitgliedstaaten aus; insbesondere Frankreich lehnte zu-nächst jegliche Reform der Gemeinsamen Agrarpolitikin der laufenden Finanzplanungsperiode ab. Der Europä-ische Rat schrieb im Oktober des vergangenen Jahresohne zwingende Notwendigkeit einen Anstieg der Aus-gaben für die Gemeinsame Agrarpolitik (mit Ausnahmeder Mittel für ländliche Entwicklung) in der kommendenFinanzplanungsperiode, welche die Jahre 2007 bis 2013umfasst, um jährlich nominal 1 vH fest. Außerdem ver-warf er das Kommissionsvorhaben, die Direktzahlungenan die Landwirte bereits ab dem Jahr 2004 zu reduzie-ren. Beides veranlasste die Europäische Kommission, imJanuar dieses Jahres modifizierte und längerfristig orien-tierte Vorschläge vorzulegen. Diese bildeten für den Ratder Europäischen Union in Zusammensetzung der Land-wirtschaftsminister die Grundlage, am 26. Juni 2003eine Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik zu beschlie-ßen. Die wichtigsten Punkte der Reform, die im Wesent-lichen im Jahr 2005 in Kraft tritt, sind:

– Die bisher gewährten Direktzahlungen, die mehr alsdie Hälfte aller Ausgaben für die Gemeinsame Agrar-politik ausmachen, werden grundsätzlich von derProduktion beziehungsweise von der bewirtschafte-ten Fläche entkoppelt. Die Landwirte erhalten statt-dessen eine Betriebsbeihilfe, deren Höhe auf denZahlungen im Referenzzeitraum der Jahre 2000bis 2002 basiert. Von dieser grundsätzlichen Entkop-pelung gibt es jedoch eine Vielzahl von Ausnahmen.Darüber hinaus können die Mitgliedsländer die EU-Zahlungen um bis zu 10 vH aufstocken, wenn sie diesmit der Förderung spezifischer Arten der Landwirt-schaft, die umwelt- oder qualitätsverbessernd wirken,begründen. Diese Regelungen sollen im Jahr 2005 inKraft treten. Es wird den einzelnen Ländern jedochzugestanden, bis zum Jahr 2007 das gegenwärtigeSystem der Direktzahlungen beizubehalten. Der Be-reich der Milchwirtschaft muss erst im Jahr 2008 ver-bindlich einbezogen werden. Mit den zahlreichenAusnahmen ist eine vollständige Entkoppelung derAgrarsubventionen von der Produktion bei weitemnicht gelungen.

– Unter dem Begriff Cross-Compliance wird die Zah-lung der Subventionen davon abhängig gemacht, dass

die begünstigten Landwirte eine Reihe gesetzlicherStandards in den Bereichen Umweltschutz, Lebens-mittelsicherheit, Pflanzenschutz, Tiergesundheit so-wie Tierschutz einhalten und ihre Flächen in gutemagronomischem Zustand halten. Bei Nichteinhaltungder Bestimmungen der Cross-Compliance, die auchzur Erhaltung des ländlichen Raums beitragen soll,werden die Direktzahlungen im Verhältnis zum ent-standenen Risiko oder Schaden gekürzt.

– Die Mittel zur Entwicklung des ländlichen Raums,auf die bislang rund 10 vH der gemeinschaftlichenAgrarausgaben entfallen, sollen deutlich aufgestocktwerden; dies hebt die Bedeutung der Landwirte fürdie Landschaftspflege hervor. Im Rahmen der so ge-nannten Modulation werden die Direktzahlungen inden Jahren 2005 und 2006 um 3 vH beziehungsweise4 vH sowie zwischen den Jahren 2007 und 2013 umjährlich 5 vH gekürzt und für die ländliche Entwick-lung umgewidmet. Von den Kürzungen ausgenom-men sind Betriebe, die bisher weniger als 5 000 EuroDirektzahlungen erhalten, und solche, die in periphe-ren Regionen angesiedelt sind. Von den durch dieModulation frei gewordenen Mitteln verbleibt einProzentpunkt – dies entspricht zu Beginn einem Drit-tel der eingesparten Zahlungen – unmittelbar bei demjeweiligen Mitgliedsland; der übrige Betrag wird in-nerhalb der Europäischen Union aufgeteilt, wobeijeder Mitgliedstaat mindestens 80 vH seiner Modula-tionsmittel zurückerhält. In den Beitrittsländern wer-den die Direktzahlungen erst dann gekürzt, wenndiese nach der schrittweisen Einführung das EU-Niveau erreicht haben.

– Des Weiteren wurden einzelne Änderungen in denMarktorganisationen beschlossen. So soll für Ener-giepflanzen eine Beihilfe von 45 Euro je Hektar ge-zahlt werden. Hingegen werden die Preisstützungenfür Milchprodukte reduziert. Der Interventionspreisfür Butter wird schrittweise um 25 vH und der fürMagermilchpulver um 15 vH gekürzt. Diese Maß-nahmen gehen jedoch kaum über die Beschlüsse derAgenda 2000 hinaus. Der Interventionspreis für Reiswird um 50 vH zurückgeführt.

– Mit der Reform wurde eine Reihe neuer Subven-tionstatbestände eingeführt. So werden Landwirtekünftig bei der Teilnahme an Programmen zur Quali-tätsverbesserung, bei Maßnahmen zur Verbraucherin-formation oder bei der Inanspruchnahme von Be-triebsberatungsdiensten finanziell unterstützt. Auchein über die Mindestanforderungen hinausgehenderTierschutz wird honoriert.

182. Die Europäische Union führt zur Begründung derAgrarreform Vorteile für Verbraucher und für Produzen-ten an. So kämen den Verbrauchern auf der einen Seiteein intakter ländlicher Raum sowie qualitativ hochwer-tige Lebensmittel zugute; gleichzeitig würden sie durchdie Stabilisierung der Agrarausgaben finanziell nichtüberfordert. Auf der anderen Seite hätten die Landwirtekünftig die Freiheit, marktorientierter zu produzierenund könnten dadurch wettbewerbsfähiger werden;

107

Page 134: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

gleichwohl bleibe ihnen eine zuverlässige Einkommens-unterstützung erhalten. Von Bedeutung ist zudem, dassdie von der Produktion entkoppelten Beihilfen mit denRegeln der Welthandelsorganisation vereinbar sind, de-nen zufolge produktionsunabhängige Zahlungen keinenReduzierungsverpflichtungen unterliegen.

183. Die Entkoppelung von der Produktion und dieschrittweise Rückführung der Direktzahlungen sind zubegrüßen. Damit wird den Landwirten grundsätzlich derAnreiz genommen, unwirtschaftliche und nicht markt-konforme Produktion weiterzuführen oder gar auszudeh-nen. Vor dem Hintergrund dieses Ziels einer stärkerenMarktorientierung weist die Reform der europäischenLandwirtschaft gleichwohl noch erhebliche Mängel auf.Bedenklich ist zunächst, dass das hohe Subventionsni-veau für die kommenden zehn Jahre festgeschriebenwurde. Damit bleibt die europäische Agrarpolitik fest insupranationaler Hand, obschon unter Subsidiaritätsge-sichtspunkten eine zumindest teilweise Rückverlagerungauf die nationale Ebene angezeigt wäre. Hinsichtlich desBudgets kommt hinzu, dass die Deckelung nicht dieAusgaben für die ländliche Entwicklung einschließt, sodass der Agrarhaushalt – in diesem Jahr belief er sichauf 48,4 Mrd Euro oder 48,6 vH des EU-Gesamthaus-halts – insgesamt auch um mehr als nominal 1 vH jähr-lich bis zum Jahr 2013 erhöht werden kann. Da es sichbei der ländlichen Entwicklung, die gegenwärtig knapp10 vH des europäischen Agrarbudgets ausmacht, um einSammelbecken vielfältiger und gestaltbarer Subventio-nen handelt, ist zu befürchten, dass die vereinbarte Aus-gabensteigerung umgangen werden wird. Zudem habendie Landschaftspflege – wie auch Umweltschutzmaß-nahmen – in der Regel lokalen Charakter, so dass gemäßdem Subsidiaritätsprinzip eine grundsätzliche Umwid-mung der durch die Modulation frei werdenden Mittel indie nationalen Haushalte angezeigt wäre. Ferner wird dieEntkoppelung der Direktzahlungen von der Produktionnicht konsequent betrieben. Mit den großzügigen Aus-nahmeregelungen in bedeutenden Bereichen bleiben An-reize bestehen, nicht marktkonform zu produzieren undüberkommene Strukturen beizubehalten.

Problematisch ist darüber hinaus die Verknüpfung derEinkommensbeihilfen, die das vorrangige Ziel der Ein-kommenssicherung der Landwirte haben, mit anderen,sachlich davon losgelösten Zielen wie dem Umwelt-schutz. Verfolgt man das Ziel des Umweltschutzes, so istnicht ersichtlich, warum die Kosten etwaiger Zielverlet-zungen in Abhängigkeit von der Höhe der Einkommens-hilfen getragen werden müssen. Bedenklich ist zudem,dass der Interventionspreis für Getreide – entgegen ur-sprünglicher Absicht – auf Drängen Frankreichs nichtgesenkt wurde und auch der Milchmarkt von weiter rei-chenden Kürzungen verschont blieb; es wurden im Ge-genteil für einige Länder die Milchquoten noch erhöht.Statt der ursprünglich vorgesehenen Abschaffung derMilchquoten im Jahr 2008 wurde eine Beibehaltung biszu den Jahren 2014/2015 beschlossen. Ein weitererSchwachpunkt der Reform ist die Einführung neuer Sub-ventionstatbestände. So ist eine finanzielle Unterstüt-zung für die Inanspruchnahme von Beratungsdienstleis-

tungen durch die Landwirte oder für verschiedeneWerbemaßnahmen nicht zu rechtfertigen. Derartige neueBeihilfen laufen dem Ziel einer stärkeren Marktorientie-rung zuwider. Schließlich blieben einige Märkte bei derReform der Gemeinsamen Agrarpolitik außen vor. Fürdie Produktbereiche Olivenöl, Tabak und Baumwolleleitete die Europäische Kommission im September die-ses Jahres eine Initiative ein; der weithin geschützte Zu-ckermarkt hingegen findet in der vorliegenden Reformkeinerlei Erwähnung.

Eine Verbesserung gegenüber dem ursprünglichen Kom-missionsvorschlag ist darin zu sehen, dass auf eineDeckelung der Beihilfen in Höhe von 300 000 Euro jeBetrieb verzichtet wurde. Damit wird eine Ungleichbe-handlung von kleinen und großen Betrieben vermieden.Bei der verzögerten und in Teilen nur schrittweisen Ein-führung der Reform ist zu bedauern, dass es den vorallem an Verteilungsmaßnahmen orientierten reform-scheuen Ländern gelungen ist, den übrigen Mitgliedstaa-ten die vorteilhaften Allokationswirkungen der Refor-men zunächst teilweise vorzuenthalten. Eine Sorge derlandwirtschaftlichen Interessenvertreter besteht darin,dass in der öffentlichen Wahrnehmung die produktions-unabhängigen Beihilfen als eine Bezahlung „für dasNichtstun“ oder „nur“ für die Landschaftspflege gesehenwerden. Eine möglicherweise derart veränderte Wahr-nehmung hätte jedoch durchaus positive Aspekte, denneine daraus resultierende sinkende öffentliche Akzeptanzfür das derzeitige Niveau der Beihilfen dürfte eine not-wendige Voraussetzung für einen substantiellen Abbauder Subventionen in der Landwirtschaft sein.

III. Deutschland in der Stagnation

184. Die schwache wirtschaftliche Entwicklung desletzten Jahres setzte sich in diesem Jahr fort, eine leichteBelebung konnte lediglich in der zweiten Jahreshälftebeobachtet werden. Vom Außenhandel gingen im Jahres-verlauf gegensätzliche Impulse aus. Die schwacheExportentwicklung des ersten Halbjahres belastete dielabile Binnennachfrage, die kräftigen außenwirtschaftli-chen Impulse der zweiten Jahreshälfte fanden bis zumJahresende keinen Niederschlag in der inländischen Ver-wendung. Die Privaten Konsumausgaben nahmen nurgeringfügig zu, der Rückgang der Ausrüstungsinvestitio-nen setzte sich auch in diesem Jahr fort, wenngleich mitdeutlich verringerter Rate. Das Preisniveau erhöhte sichkaum; Deutschland wies, wie im letzten Jahr, die nied-rigste Preissteigerungsrate im Euro-Raum auf. Aufgrundder schwachen konjunkturellen Entwicklung kam es zueinem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit und einemüberraschend starken Abbau der Beschäftigung; entge-gen den Erwartungen wurde die Talsohle am Arbeits-markt noch nicht erreicht. In Folge der durch die „Kom-mission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“angestoßenen Reformen wurden die Mitwirkungsanfor-derungen an die Arbeitslosen verschärft, es kam zu einerdeutlichen Rückführung von „Beschäftigung schaffen-den Maßnahmen“ sowie der beruflichen Weiterbildung.Die öffentlichen Finanzen standen unter erheblichem Fi-

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Deutschland in der Stagnation

nanzierungsdruck. Insbesondere die Ausgaben aufgrundder hohen Arbeitslosigkeit ließen die öffentlichen Haus-halte erneut aus dem Ruder laufen. Auf der Einnahme-seite waren angesichts der Stagnation der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung kaum Verbesserungen zuverzeichnen. Das staatliche Finanzierungsdefizit über-schritt zum zweiten Mal in Folge die Defizitobergrenzedes Maastricht-Vertrages und des Stabilitäts- undWachstumspakts.

1. Binnenkonjunktur bleibt schwach185. Nach einer bereits zum Ende des vergangenenJahres kraftlosen Entwicklung verringerte sich die Wirt-schaftsleistung in Deutschland saisonbereinigt in denersten beiden Quartalen des Jahres 2003; in der zweitenJahreshälfte kam es lediglich zu einem geringen Zu-wachs der gesamtwirtschaftlichen Aktivität, so dass imJahresdurchschnitt das Bruttoinlandsprodukt stagnierte(Schaubild 26). Das Verarbeitende Gewerbe wies einengeringen Zuwachs auf, der Dienstleistungsbereich ent-wickelte sich schwach und konnte damit keinen nen-nenswerten Impuls leisten. Vom Außenhandel gingen biszur Jahresmitte bremsende Einflüsse auf die Wirtschafts-entwicklung aus, der Außenbeitrag lag geringfügig unterdem Niveau des Vorjahres. Die schwache Binnennach-frage konnte die nachlassende Exportdynamik des erstenHalbjahres nicht kompensieren, die kräftigen außenwirt-schaftlichen Impulse des zweiten Halbjahres fanden kei-

nen Niederschlag in der inländischen Verwendung. Beiniedriger Inflationsrate nahmen die Privaten Konsum-ausgaben infolge geringer Zuwächse des verfügbarenEinkommens nur unwesentlich zu, und auch diesinkende Erwerbstätigkeit sowie die höhere Arbeitslo-sigkeit verhinderten einen kräftigeren Zuwachs des Kon-sums. Die Abwärtsentwicklung der Ausrüstungsinvesti-tionen verlangsamte sich nach den starken Rückgängender vorangegangenen Jahre, eine Stabilisierung zeich-nete sich aber noch nicht ab. Der Rückgang der Bauin-vestitionen dauerte bis zum Jahresende an, wurde aberdurch Sondereinflüsse im Wohnungsbau gebremst; eineTrendwende fand indes noch nicht statt.

Schwaches Potentialwachstum

186. Das Bruttoinlandsprodukt nahm im dritten Jahr inFolge kaum zu. Eine vergleichbar hartnäckige Schwä-chephase ließ sich in den vergangenen dreißig Jahren le-diglich zu Beginn der achtziger Jahre für das frühereBundesgebiet beobachten. Damit stellt sich die Frage, obvorrangig eine längere konjunkturelle Schwäche odereine Wachstumsschwäche die fehlende wirtschaftlicheDynamik der zurückliegenden Jahre erklärt. UnterWachstum versteht man in diesem Zusammenhang dielangfristige Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts beivoller oder zumindest normaler Auslastung aller Ka-pazitäten, also die Veränderung des Produktionspoten-tials. Im Allgemeinen weicht hiervon die Entwicklung

S c h a u b i l d 26

1) Saison- und kalenderbereinigte Ergebnisse nach dem Census-Verfahren X-12-ARIMA.– 2) Abweichung des Jahresdurchschnitts vom saisonbereinigtenErgebnis für das 4. Quartal in vH.– a) Jahresdurchschnitt sowie 3. und 4. Quartal eigene Schätzung.

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts1)

In Preisen von 1995

Log. MaßstabMrd Euro

Jahresdurchschnitte

480

490

500

510

480

490

500

510

I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV2000 2001 2002 2003

statistischerÜberhang (+ 0,3)2)

Log. MaßstabMrd Euro

statistischerUnterhang (- 0,2)2)

statistischerÜberhang (+ 0,1)2) statistischer

Überhang (+ 0,3)2)

a)

2,9 vH

0,8 vH0,2 vH -0,0 vH

SR 2003 - 12 - 0651

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

des Bruttoinlandsprodukts aufgrund konjunkturellerSchwankungen ab. Konjunkturschwankungen könnendaher als Schwankungen im Auslastungsgrad des Pro-duktionspotentials verstanden werden. Der Zuwachs desBruttoinlandsprodukts wird, dieser Vorstellung folgend,im Wesentlichen durch die Entwicklung zweier Kompo-nenten, einer konjunkturellen und einer langfristigen(Wachstums-)Komponente, determiniert. Die langfris-tige Komponente, die maßgeblich durch die Sachkapital-bildung im Unternehmenssektor sowie durch dieHumankapitalbildung und die Forschungs- und Entwick-lungstätigkeit bestimmt wird, ist ein Maß für das mittel-bis langfristig spannungsfreie Expansionstempo einerVolkswirtschaft. Geringe Zuwachsraten des Bruttoin-landsprodukts sind weniger bedenklich, wenn sie kon-junkturell bedingt und damit vorübergehender Natursind, sich eine Volkswirtschaft somit lediglich in einerungünstigen Phase des Konjunkturzyklus befindet.Grundsätzlich ist daher zu prüfen, ob für die geringenZuwachsraten der jüngeren Vergangenheit vorrangigkonjunkturell dämpfende Effekte oder ein geringesWachstum des Produktionspotentials verantwortlich wa-ren. Jüngste Berechnungen des Sachverständigenrateszum Potentialwachstum deuten auf eine bereits seitMitte der neunziger Jahre geringe Dynamik in der Zu-nahme der Produktionskapazitäten hin (Ziffern 734 ff.).Demnach liegt der Potentialwachstumspfad der deut-schen Volkswirtschaft gegenwärtig in einem Bereich vonlediglich 1,5 vH pro Jahr.

Im schwachen Potentialwachstum spiegeln sich, gleich-sam gebündelt, die zahlreichen Problemfelder der deut-schen Volkswirtschaft wider, die zu dem in den vergan-genen Jahren beobachtbaren Wachstumsrückstandgegenüber anderen Ländern des Euro-Raums geführt ha-ben (JG 2002 Ziffern 333 ff.). Ein gedämpftes Potential-wachstum birgt auch Probleme für die kurzfristige Ent-wicklung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität, indembei einer an Kraft gewinnenden konjunkturellen Erho-lung die Auftriebskräfte frühzeitig gebremst werdenkönnen oder weil negative Impulse, wie sie in diesemJahr von der Wechselkursentwicklung ausgingen, dieWirtschaft an der Grenze zur Stagnation verharren las-sen. Konjunkturelle Belebungstendenzen bleiben in ei-nem solchen Umfeld in der Hauptsache abhängig vomAusmaß der Erholung in anderen Wirtschaftsräumenund sind insofern labil. Es erstaunt demzufolge nicht,dass trotz der sich ab Jahresmitte abzeichnenden leichtenzyklischen Erholung die Investitionstätigkeit insgesamtweiter verhalten blieb.

187. Während die langfristige Entwicklung des Brutto-inlandsprodukts wesentlich durch die Determinanten deswirtschaftlichen Wachstums bestimmt wird (JG 2002Ziffern 337 ff.), wird die kurzfristige und damit kon-junkturelle Entwicklung stark von Schwankungen ein-zelner Nachfrageaggregate beeinflusst. Für die zurück-liegenden Jahre ist charakteristisch, dass dieAußenhandelsverflechtung der deutschen Volkswirt-schaft bei Waren und Diensten, zusammengefasst im sogenannten Außenbeitrag, wesentlich die konjunkturelleEntwicklung des Bruttoinlandsprodukts geprägt hat

(Schaubild 27). Im Gegensatz zu den vorangegangenenJahren leistete der Außenbeitrag in diesem Jahr aufgrundder schwachen Exportentwicklung in der ersten Jahres-hälfte keinen positiven Beitrag zum Zuwachs des Brut-toinlandsprodukts. Die Privaten Konsumausgaben, dieim letzten Jahr die Veränderung des Bruttoinlandspro-dukts negativ beeinflussten, stützten in diesem Jahr diekonjunkturelle Entwicklung ebenfalls nur gering mit ei-nem Beitrag von 0,1 Prozentpunkten. Die Ausrüstungs-investitionen, die in den beiden vorangegangen Jahrendie konjunkturelle Entwicklung belastet hatten, waren indiesem Jahr, aufgrund der leichten Zuwächse der Unter-nehmensinvestitionen im ersten Quartal „neutral“ hin-sichtlich des Zuwachses des Bruttoinlandsprodukts. Dieanhaltend rückläufige Entwicklung der Bauinvestitionenschlug sich auch in diesem Jahr in einem negativen Bei-trag nieder, sie bremsten den gesamtwirtschaftlichen Zu-wachs in diesem Jahr um 0,4 vH.

Anhaltende Investitionsschwäche

188. Der Rückgang der Bruttoanlageinvestitionen um1,9 vH bremste abermals die gesamtwirtschaftliche Ent-wicklung. Die Ausrüstungsinvestitionen sanken auch indiesem Jahr, wenngleich mit deutlich geringerer Rate.Keine Stabilisierungstendenzen waren für die Bauinves-titionen zu erkennen, sie nahmen abermals deutlich um3,6 vH ab. Die Investitionen in Sonstige Anlagen ent-wickelten sich auch in diesem Jahr nur verhalten, die ho-hen Zuwachsraten der späten neunziger Jahre wurdenwie bereits im letzten Jahr nicht erreicht; sie erhöhtensich, wenn auch mit abermals verlangsamter Jahresrate,um 1,9 vH, allerdings umfassen sie lediglich 7,2 vH dergesamten Investitionen.

Ausrüstungsinvestitionen: Noch keine Stabilisierung in diesem Jahr

189. Obschon die Ausrüstungsinvestitionen im vier-ten Quartal des Jahres 2002 erstmals seit zwei Jahren ge-genüber dem Vorquartal um 0,6 vH gestiegen waren,ließ sich bis Herbst dieses Jahres, nicht zuletzt wegenausgeprägter Unsicherheiten, der schwachen Entwick-lung der Exporte im ersten Halbjahr sowie einer andau-ernd geringen Kapazitätsauslastung bis zum Jahresendenoch keine nachhaltige Stabilisierung feststellen (Schau-bild 28, Seite 112). Trotz des starken außenwirtschaftli-chen Impulses in der zweiten Jahreshälfte unterschrittensie den Durchschnitt des Jahres 2002 um 0,3 vH.

190. Die Ergebnisse der Unternehmensbefragung desDIHK im Herbst 2003 legen nahe, dass die Investitions-ausgaben im nächsten Jahr wieder zunehmen werden(Schaubild 29, Seite 112). Der Saldo aus positiven undnegativen Investitionsabsichten war zwar weiterhin ne-gativ, aber der Anteil der Unternehmen mit rückläufigenInvestitionsplanungen ging deutlich zurück. Der Anteilder Unternehmen mit expansiven Investitionsplanungenblieb hingegen unverändert. Aufgrund von gestiegenenExporterwartungen verbesserte sich der Saldo im Be-reich der Industrie insbesondere im Maschinenbau undin der Elektrotechnik deutlich. Auch im Handel und bei

110

Page 137: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

den Dienstleistungen stieg die Investitionsbereitschaft.Die Investitionspläne der Unternehmen werden maßgeb-lich durch das Ersatz- und Rationalisierungsmotiv ge-prägt, wobei das Ersatzmotiv im Vergleich zum Vorjahrweiter an Bedeutung gewann und den höchsten Zuwachsunter allen Motiven erkennen ließ. Mit Hilfe von Ratio-nalisierungsinvestitionen versuchten die Unternehmenvorrangig ihre Produktionskosten weiter zu senken, umso ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Die Kapazitäts-erweiterung verlor weiter an Bedeutung; offenkundig ge-hen die Unternehmen davon aus, eine höhere Nachfragemit den bestehenden Kapazitäten bedienen zu können.

191. Mit dem saisonbereinigten Rückgang der vomIfo-Institut für Wirtschaftsforschung, München, erhobe-nen Kapazitätsauslastung im Verarbeitenden Gewerbezu Beginn des Jahres setzte sich die unbefriedigendeEntwicklung des letzten Jahres fort, die Kapazitätsaus-lastung bewegte sich im Jahresverlauf auf einem unter-durchschnittlichen Niveau. Eine durchgreifende Erho-lung der unternehmerischen Investitionen konnte vordiesem Hintergrund kaum erwartet werden. Im Durch-

schnitt der ersten drei Quartale dieses Jahres lag die Ka-pazitätsauslastung in Westdeutschland mit 82,5 vH um1,8 Prozentpunkte unterhalb ihres langfristigen Durch-schnitts der Jahre 1993 bis 2002. Etwas stabilisiert hatsie sich lediglich im Nahrungs- und Genussmittelge-werbe, während die Hersteller von Grundstoff- und Pro-duktionsgütern, von Investitionsgütern sowie von Ver-brauchsgütern bis zur Jahresmitte einen sinkendenAuslastungsgrad verzeichneten.

Die unstete Entwicklung der Indikatoren des Geschäfts-klimas zu Beginn dieses Jahres spiegelte das hohe Maßan Unsicherheit im Vorfeld des Irak-Kriegs wider. Nachdem deutlichen Rückgang im zweiten Halbjahr desJahres 2002, pendelte der Geschäftsklima-Index in denersten Monaten dieses Jahres deutlich unter seinem lang-fristigen Durchschnitt. Eine Verbesserung stellte sichnur zögerlich ein: Die sich im Jahresverlauf aufhellendeStimmung basierte im Wesentlichen auf einer Verbesse-rung der Geschäftserwartungen, während die Beurtei-lung der aktuellen Lage bis in den Herbst dieses Jahreskeine nachhaltige positive Entwicklung erkennen ließ.

S c h a u b i l d 27

1) Errechnet aus den absoluten Veränderungen in Mrd Euro in Preisen von 1995.– 2) Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH.– 3) Beitrag der einzelnenVerwendungskomponenten zur Veränderung des Bruttoinlandsprodukts.– 4) Private Haushalte und Private Organisationen ohne Erwerbszweck.– 5) Vor-ratsveränderungen und Nettozugang an Wertsachen.– 6) Exporte abzüglich Importe von Waren und Dienstleistungen.– a) Eigene Schätzung.

Gesamtwirtschaftliche Entwicklung und der Beitrag der Verwendungskomponenten1)

vH vH

Bruttoinlandsprodukt2)

Private Konsumausgaben4) Konsumausgaben des Staates Ausrüstungsinvestitionen

Bauinvestitionen Sonstige Anlagen Vorratsveränderungen5) Außenbeitrag6)

Verwendungskomponenten :3)

- 1,0

- 0,5

0,5

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3,0

3,5

0

- 1,0

- 0,5

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2,0

2,5

3,0

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2000 2001 2002 20037)

SR 2003 - 12 - 0647

2003a)

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

S c h a u b i l d 29

Investitionsmotive deutscher Unternehmen1)

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vH

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vH

Insgesamt Industrie Bauwirt-schaft

Handel Dienst-leistungen

Alle Motive

1) Umfragen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages imHerbst 2002 (für 2003) und Herbst 2003 (für 2004) bei seinen Kam-mern in Deutschland, wobei Antworten von mehr als 25 000 M ti -glieds , unter Berücksichtigung von Mehrfachnennun-unternehmengen, ausgewertet wurden.

Quelle: DIHK

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Ersatz-investi-tionen

Rationa-lisierung

Produkt-inno-vation

Kapazi-tätserwei-

terung

Umwelt-schutz

2003 2004

darunter:Kapazitätserweiterung als Investitionsmotiv

nach Wirtschaftszweigen

SR 2003 - 12 - 0649

Die im Jahresverlauf optimistischere Stimmung spie-gelte sich ebenfalls in der Erholung an den Aktienbörsenwider und wurde von den im Jahresverlauf sich deutlichverbessernden US-amerikanischen Konjunkturdaten ge-stützt. Die Diskussion um das Vorziehen von Steuerent-lastungen sowie die Zinssenkungen der EuropäischenZentralbank dürften die Stimmungslage in diesem Jahrzumindest zeitweilig positiv beeinflusst haben. Das hoheÖlpreisniveau und die Aufwertung des Euro gegenüberdem US-Dollar dämpften allerdings die Exportperspek-tiven der Unternehmen. Zwar entlasteten die Abwertungdes US-Dollar und die bis zur Jahresmitte fallenden Im-portpreise die Kostenseite der Unternehmen, aber insbe-sondere den Exporteuren blieb vor dem Hintergrund derAufwertung des Euro wenig Spielraum zu Preisüberwäl-zungen. Die Importpreise gingen in den ersten acht Mo-naten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraumum 1,6 vH zurück, während die Erzeugerpreise im glei-chen Zeitraum um 1,7 vH zunahmen.

192. Die Finanzierung der gesamtwirtschaftlichenAusrüstungsinvestitionen wurde in diesem Jahr durchgünstige Bedingungen insbesondere am Wertpapier-markt erleichtert. Zwar entwickelte sich der Umfang derAußenfinanzierung der Unternehmen über Banken leicht

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Log. Maßstab1. Vj. 1995 = 100

I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV2000 2001 2002 2003

Entwicklung konjunkturell wichtiger Aggregate1)

Exporte von Warenund Dienstleistungen

Ausrüstungs-investitionen

PrivateKonsumausgaben

1) In Preisen von 1995. Saison- und kalenderbereinigte Ergebnissenach Census X-12-ARIMA.dem -Verfahren

SR 2003 - 12 - 0624

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Page 139: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

rückläufig, jedoch waren die Finanzierungsbedingungenam Kapitalmarkt in diesem Jahr besser als im vorausge-gangen Jahr.

Die Außenfinanzierung der Unternehmen am Kapital-markt wurde zu Beginn des Jahres von der schwachenVerfassung des Aktienmarkts belastet. Im März diesesJahres setzte eine Erholung ein, und der deutsche Akti-enindex legte bis Ende Oktober um etwa 60 vH zu,damit verbesserten sich die allgemeinen Finanzierungs-bedingungen der Unternehmen. Auch die Finanzierungs-bedingungen am Anleihemarkt waren in diesem Jahrgünstig, das geringe Zinsniveau sowie die geringen Ren-diteaufschläge für Anleihen sowohl für Unternehmenmit sehr guter Bonität als auch für Unternehmen mitmittlerem Rating (Ziffer 146) erleichterten die Mittelbe-schaffung. Die Finanzierung über Unternehmensanlei-hen spielt bislang jedoch, trotz eines kräftigen Anstiegsder entsprechenden Emissionen, für den Unternehmens-sektor insgesamt keine bedeutsame Rolle.

Die klassische Form der Außenfinanzierung der Unter-nehmensinvestitionen über Banken war in diesem Jahrleicht rückläufig. Die Kredite an inländische Unterneh-men gingen im ersten Halbjahr dieses Jahres um 0,3 vHzurück. Der leichte Rückgang des Kreditvolumens warauf eine Abnahme der Kreditvergabe vieler Bankengrup-pen zurückzuführen, lediglich die Regional- und Lan-desbanken sowie die Sparkassen wiesen in den erstensechs Monaten dieses Jahres gegenüber dem Vorjahr je-weils ein etwas höheres Kreditvergabevolumen aus. Dasgeringe Volumen der Bankkredite an Unternehmendürfte hierbei, analog zum vorausgegangenen Jahr, inerster Linie auf die konjunkturell bedingt verhalteneNachfrage nach Fremdkapital zurückzuführen sein,wenngleich sich die Kreditvergabebedingungen in die-sem Jahr weiter leicht verschärften und auch eine anbie-terseitige Einschränkung des Kreditvolumens in Einzel-fällen vorgelegen haben kann (Kasten 3). Unterscheidet

man die Kreditvergabe der Banken hinsichtlich ihrerFristigkeit, ließ sich bis Mitte des Jahres eine Verschie-bung der Laufzeiten der Verbindlichkeiten erkennen:Die Verbindlichkeiten mit kurzer Fristigkeit wurden auf-grund der Zinsstruktur stärker zurückgeführt als Ver-bindlichkeiten mit längeren Laufzeiten.

Hinsichtlich der Finanzierungsquellen konnte gemäßder Finanzierungsrechnung der Deutschen Bundesbankfür das Jahr 2002 eine bemerkenswerte Verschiebungbeobachtet werden. Die Innenfinanzierung der Unter-nehmen, die sich aus nicht entnommenen Gewinnen undAbschreibungen zusammensetzt, nahm im vergangenenJahr wieder ihre traditionelle dominierende Stellungein, nachdem sie im Zuge des zurückliegenden Börsen-booms stark an Bedeutung verloren hatte. Mit einemAnteil von 72 vH erreichte sie fast den Höchstwert desJahres 1995. Ausschlaggebend hierfür waren zum einendie nicht entnommenen Gewinne, die erstmals seit demJahr 1998 wieder positiv ausfielen – zuvor waren aussteuerlichen Gründen umfangreiche Ausschüttungen andie Anteilseigner vorgenommen worden – und zum an-deren die deutliche Reduktion der Außenfinanzierung.Vor dem Hintergrund zurückgehender Bruttoinvestitio-nen und einer deutlichen Rückführung der Geldvermö-gensbildung lag die Außenfinanzierung im Jahr 2002nur noch bei einem Drittel des Werts des Vorjahres be-ziehungsweise bei einem Sechstel des Volumens imJahr 2000. Das Zusammentreffen von schwacher Inves-titionstätigkeit und hoher Ersparnisbildung führte erst-mals zu einem Finanzierungsüberschuss im Unterneh-menssektor, der traditionell auf Mittel von außenangewiesen ist. Der Unternehmenssektor, der bis zumEnde der neunziger Jahre durch hohe Investitionen undinsbesondere umfangreiche Akquisitionen sowie einenzunehmenden Schuldenstand gekennzeichnet war − derSchuldenstand erreichte im Jahr 1999 seinen bislanghöchsten Wert –, hat seitdem begonnen, seinen Schul-denstand zu reduzieren.

K a s t e n 3

Zur Kreditvergabe der deutschen Banken

Die in den ersten Monaten des Jahres anhaltende Aktienmarktschwäche und die fortgesetzten konjunkturellen Pro-bleme haben Befürchtungen über mögliche Restriktionen auf der Kreditangebotsseite mit negativen gesamtwirt-schaftlichen Auswirkungen geweckt. Ein störungsfreier Bankensektor ist elementar für die Finanzmarktstabilitätund damit von besonderer Bedeutung für die Geldpolitik. Instabilitäten im Bankensystem beeinträchtigen dieTransmission monetärer Impulse und damit die Effektivität der Geldpolitik. Sie können sowohl das Ausmaß alsauch die Dauer konjunktureller Schwächephasen erhöhen. Mit der Erholung der Aktienmärkte seit dem Frühjahrhat sich die Diskussion jedoch etwas abgeschwächt: Die Gefahr einer sich verschärfenden anbieterseitigen Stö-rung des Kreditvergabeprozesses scheint sich nicht bestätigt zu haben.

113

Page 140: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Zur Lage der deutschen Banken

Die Stabilität des Bankensystems wird im Zuge einer Aktienmarktschwäche vor allem durch die Verringerung desNettovermögens beeinträchtigt. Außerdem kann eine endogene Verschärfung drohen, wenn die Banken ihre Akti-enbestände bei fallenden Kursen verkaufen und damit weitere Kursrückgänge auslösen. In Deutschland wird dieLage der Banken zudem durch die nach wie vor bestehenden Strukturprobleme und die Ertragsschwäche beein-trächtigt (JG 2002 Ziffer 165).

Die mit diesen Problemen verbundene Verschlechterung der Bonität deutscher Finanzinstitutionen in den letz-ten Jahren manifestiert sich im Urteil von Ratingagenturen. Hier wurde der bereits Ende der neunziger Jahrebegonnene Trend einer Herabstufung des Rating deutscher Großbanken fortgesetzt. Zudem entwickelten sichdie Aktienkurse der Banken vom Beginn des Jahres 2002 bis zum Juni 2003 in einem generell schwachenMarktumfeld deutlich schlechter als der Gesamtmarkt (Schaubild 30). Seit März 2003 hat sich die Situation amAktienmarkt jedoch entspannt, und seit Juni haben die Kurse der Bankaktien stärker aufgeholt als die des Ge-samtmarkts. Auch die Marktkapitalisierung der deutschen Banken nahm nach großen Verlusten zwischenDezember 1999 und März 2003 in Höhe von 106 Mrd Euro – das entspricht 68 vH – bis August 2003 wiederum 20 Mrd Euro – das entspricht 40 vH – zu. Auf dem Gesamtmarkt waren die Schwankungen mit Verlusten inHöhe von 63 vH und einer Zunahme der Marktkapitalisierung in Höhe von 32 vH im gleichen Zeitraum weni-ger stark ausgeprägt.

Nachdem sich die aggregierte Eigenkapitalrentabilität nach Steuern aller deutschen Banken im Geschäftsjahr 2002noch auf 2,78 vH verringert hatte (Tabelle 23), zeichnet sich für das Geschäftsjahr 2003 eine Entspannung der Er-tragssituation der Banken ab – vor allem weil die Verwaltungskosten und der Bewertungsaufwand sinken dürften.Insbesondere ein gestiegener Aufwand für Wertberichtigungen und Risikovorsorge für das Kredit- und Wert-papiergeschäft war – neben rückläufigen Überschüssen aus dem Provisionsgeschäft – ursächlich für die Ver-schlechterung der Ertragslage im Jahr 2002 gewesen.

S c h a u b i l d 30

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M J O J A J O2002 2003

Entwicklung der Aktienkurse von Banken1)

Prime All Share-Index2)

1. Mai 2002 = 100 1. Mai 2002 = 100

SR 2003 - 12 - 0655

M J J J

1) Wochendurchschnitte.– 2) Im März 2003 von der Deutschen Börse neu eingeführter, breit angelegter Benchmark-Index. In ihm enthalten sind unter ande-rem der DAX 30 und der HDAX als Nachfolger des alten DAX 100. Er misst die Entwicklung aller im Prime Standard enthaltenen Unternehmen der klassi-schen Branchen sowie der Technologiebranchen und ist in 18 Branchenindizes eingeteilt.– 3) Teilindex Banken des Prime Standard, der die Indexhistoriedes CDAX-Banken weiterführt.

Quelle für Grundzahlen: Deutsches Aktieninstitut

Prime Banks3)

114

Page 141: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

Zum Zusammenhang von Bankensituation und angebotsseitigen Kreditvergaberestriktionen

Das Kreditangebot der Banken wird vor allem von zwei Faktoren beeinflusst: der finanziellen Lage der Bankenselbst und der Bonität der Kreditnehmer. Im monetären Transmissionsprozess betrifft der erste Fall den Bank-kreditkanal, der zweite den Bilanzkanal.

Ta b e l l e 23

Ertragslage der deutschen Kreditinstitute1)

vH2)

1999 2000 2001 2002

Teilbetriebsergebnis .................. 0,50 0,41 0,34 0,45 davon: Zinsüberschuss ......................... 1,28 1,14 1,13 1,20 davon: Zinsertrag ............................... 5,33 5,51 5,51 4,85 Zinsaufwendungen ................. 4,05 4,36 4,39 3,64

Provisions- überschuss ............................. 0,37 0,42 0,36 0,34

Allgemeine Verwaltungsauf- wendungen ............................. 1,16 1,16 1,15 1,10

Betriebsergebnis3) ........................ 0,41 0,30 0,19 0,10 darunter: Bewertungsergebnis ................. - 0,19 - 0,24 - 0,28 - 0,44

Jahresüberschuss vor Steuern4) .............................. 0,35 0,29 0,20 0,15 nach Steuern5) ............................ 0,20 0,19 0,15 0,10

Nachrichtlich: Eigenkapitalrentabilität6) (vH) vor Steuern ............................ 11,22 9,32 6,39 4,38 nach Steuern .......................... 6,51 6,07 4,73 2,78

Durchschnittliche Bilanzsumme (Mrd Euro) ............................... 6056 6716 7091 7105

1) Für alle Bankengruppen. - 2) Jeweils in vH der durchschnittlichen Bilanzsumme. - 3) Teilbe-triebsergebnis einschließlich Netto-Ergebnis aus Finanzgeschäften, Saldo der sonstigen betrieb-lichen Erträge und Aufwendungen, Bewertungsergebnis. - 4) Betriebsergebnis plus Saldo der an-deren und außerordentlichen Erträge und Aufwendungen. - 5) Jahresüberschuss vor Steuern ab-züglich Steuern vom Einkommen und Ertrag. - 6) Jahresüberschuss in vH des durchschnittlichen bilanziellen Eigenkapitals.

Quelle: Deutsche Bundesbank

115

Page 142: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Durch eine Aktienmarktschwäche sinkt das Nettovermögen der Kreditinstitute, und das Vermögensrisiko der Banksteigt an. Dies kann Banken dazu veranlassen, ihr Portfolio in Richtung weniger riskanter Anlagen umzuschich-ten, um die optimale Kombination aus Risiken und Erträgen wieder herzustellen. Dabei würden alle riskanten Ak-tiva – also auch die Unternehmenskredite – unabhängig von ihrem erwarteten Ertrag zu Gunsten risikoloser Ver-mögenswerte reduziert. Außerdem führt das gesunkene Nettovermögen der Kreditinstitute zu einer Verringerungdes Kapital-Kredit-Verhältnis der Banken. Die einfachste Möglichkeit zur Korrektur dieses Effekts ist eine Ein-schränkung der Kreditvergabe. Dieser Mechanismus kann durch regulatorische Eingriffe wie höhere Eigenkapi-talanforderungen der Zentralbank genauso wie durch eine verschlechterte Ertragslage der Banken aufgrund struk-tureller Schwächen verstärkt werden. In diesem Fall liegen die Ursachen für die angebotsseitigen Friktionen imBankenbereich selbst (Bankkreditkanal). Tragen diese Faktoren signifikant zur Schwäche des Kreditzuwachsesbei, so liegt eine Kreditklemme vor. Betrachtet man das Geldvermögen aller deutschen Banken, so ist zunächstersichtlich, dass es zu einem verhältnismäßig geringen Teil aus Aktien und Investmentzertifikaten besteht, obwohlder Aktienanteil in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen ist. Zu ungefähr 60 vH besteht das Geldvermögender Kreditinstitute aus vergebenen Krediten. Des Weiteren haben Rentenpapiere mit über 20 vH einen relativgroßen Anteil. Vor diesem Hintergrund ist kein allzu großer direkter Einfluss von Aktienkursänderungen auf dieVermögensposition der Banken insgesamt zu erwarten. Hinzu kommt, dass die durchschnittliche Eigenkapital-quote der deutschen Banken – das verfügbare Eigenkapital in Relation der risikogewichteten Aktiva – trotz derverschlechterten Ertragslage der Banken in den letzten Jahren angestiegen ist; eine Eigenkapitalverknappung, wel-che angebotsseitige Kreditrestriktionen über den Bankkreditkanal begründen könnte, ist somit nicht zu beobach-ten.

Bedeutsamer für eine mögliche Kreditangebotsrestriktion durch die Banken sind indirekte Effekte aufgrunderhöhter Kreditausfallrisiken. In diesem Fall lässt sich die mangelnde Kreditvergabebereitschaft der Banken durchbestimmte Eigenschaften der Kreditnehmer erklären (Bilanzkanal): Kursrückgänge an den Finanzmärkten verrin-gern das Nettovermögen der Kreditnehmer. Im Verbund mit der konjunkturellen Schwäche sinkt der Cash-Flowder kreditsuchenden Unternehmen, die Gefahr von Kreditausfällen nimmt zu. Die Reaktion der Kreditvergabe derBanken auf die damit verbundene Verschlechterung des Kreditrisikos – beispielsweise in Form höherer Zinsenoder geringerer Kreditvolumina – kann durch regulatorische Eingriffe wie Basel II verstärkt werden. Die in denvergangenen Jahren deutlich gestiegene Zahl der Insolvenzen im Unternehmenssektor sowie der gestiegene Risi-kovorsorgeaufwand der Banken für das Kreditgeschäft im Jahr 2002 belegen die verschlechterte Bonität der kre-ditsuchenden Unternehmen. Besorgniserregend ist insbesondere die Ertragssituation der kleinen und mittleren Un-ternehmen (Deutsche Bundesbank, 2003c). Dies spricht für eine stärkere Relevanz des Bilanzkanals. Empirischgestützt wird die Vermutung, dass die niedrigere Kreditvergabe – neben einer gedämpften Kreditnachfrage – vorallem durch die verschlechterte Bonität der kreditsuchenden Unternehmen zu begründen ist und weniger aus dendirekten Vermögenseffekten im Bankenbereich resultiert, auch durch inzwischen verfügbare Umfrageergebnissezum Kreditvergabeverhalten der Banken.

Empirische Ergebnisse zum Kreditvergabeverhalten der Banken

Im Januar 2003 haben die Zentralbanken des Eurosystems mit einer vierteljährlichen Befragung ausgewählterBanken im Euro-Raum zu ihrem Kreditgeschäft begonnen (Bank Lending Surveys). Mit Hilfe dieser Umfrage sol-len Informationen über die Einschätzung angebots- und nachfrageseitiger Einflüsse der Kreditentwicklung durchdie Banken gewonnen werden. An der Befragung nehmen 86 europäische Kreditinstitute teil, unter ihnen17 deutsche, deren Zusammensetzung die deutsche Bankenstruktur sowie das deutsche Buchkreditgeschäft reprä-sentieren soll. Die deutschen Befragungsergebnisse gehen mit einem Gewicht von 36,2 vH in die Gesamtergeb-nisse ein. Die Umfrage umfasst auf der Kreditangebotsseite vor allem die bankinternen Kreditrichtlinien und dieBedingungen für die Kreditgewährung, zum Beispiel den Zinssatz, den Risikoaufschlag, die Sicherheitenerforder-nisse, die Fristigkeit oder das Kreditvolumen. Auf Seiten der Kreditnachfrage ist vor allem die Einschätzung vonFaktoren im Zusammenhang mit dem Finanzierungsbedarf und der Nutzung alternativer Finanzierungsquellen vonInteresse.

Die bisherigen Befragungsergebnisse deuten für Deutschland auf eine leichte Verschärfung der Kreditrichtlinienhin, die vor allem aus der verschlechterten Kreditrisikoeinschätzung resultiert. Das Ausmaß der Verschärfung hatjedoch seit Jahresbeginn stetig abgenommen (Schaubild 31). Ursächlich für die Verschärfung waren nach Anga-ben der Banken die allgemeinen Konjunkturaussichten sowie branchenspezifische oder unternehmensspezifischeFaktoren und die Werthaltigkeit der Sicherheiten, das heißt, vor allem Größen, die den Bilanzkanal, also die Un-ternehmenssituation, betreffen. Finanzierungskosten und bilanzielle Restriktionen der Banken trugen – über denBankkreditkanal – ebenfalls zu einer leichten Verschärfung der Vergabebedingungen bei. Letztere schlug sich beiden Konditionen in einer abermaligen Zunahme der Margen insbesondere für risikoreichere Kredite, stärkeren Vo-lumenbeschränkungen und höheren Sicherheitenerfordernissen nieder. Teilweise wurde auch die Fristigkeit rest-riktiver gehandhabt.

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Page 143: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

Außerdem zeigen die Umfrageergebnisse, dass die Kreditnachfrage von Unternehmen in der Einschätzung derBanken gesunken ist, allerdings scheint ein Ende der Kreditnachfrageschwäche – zumindest im Unternehmenssek-tor – absehbar.

Insgesamt deuten die bisherigen Umfrageergebnisse – ähnlich wie im Euro-Gebiet als Ganzem – auf eine etwasrestriktivere Kreditvergabe der Banken – also eine angebotsseitige Krediteinschränkung – hin, aber auch auf einegeringere Kreditnachfrage. Indizien für eine Kreditklemme im Sinne einer überwiegend durch die Lage der Ban-ken begründeten Schwäche des Kreditzuwachses liefern die Umfrageresultate nicht.

S c h a u b i l d 31

Auch der Sachverständigenrat hat die Probleme am Kreditmarkt im Rahmen einer empirischen Studie untersucht(JG 2002 Ziffern 153 ff.). Dabei stand die Stabilität der Beziehung zwischen der Kreditentwicklung und ihrennachfrageseitigen Determinanten – dem Bruttoinlandsprodukt und den Zinsen – im Vordergrund. Nach wie vorlässt sich weder ein Strukturbruch in der Beziehung der drei Größen erkennen, noch zeigt die Schätzung eine wei-tere Verschlechterung der Lage auf dem Kreditmarkt an. Eine vom Internationalen Währungsfonds durchgeführteStudie kommt zu ähnlichen Ergebnissen.

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4. Quartal 1. Quartal 2. Quartal 3. Quartal2002 2003

1) Ergebnisse aus der Umfrage über das Kreditgeschäft im Euro-Raum (Bank Lending Survey).– 2) Differenz zwischen der Summe der Angaben unter "deutlichverschärft" und "leicht verschärft" und der Summe der Angaben unter "etwas gelockert" und "deutlich gelockert".– 3) Differenz zwischen der Summe der Anga-ben unter "deutlich gestiegen" und "leicht gestiegen" und der Summe der Angaben unter "leicht gesunken" und "deutlich gesunken".

Quelle: Deutsche Bundesbank

Veränderung der Kreditrichtlinien ("credit standards")für die Gewährung von Krediten

Saldowerte der Antworten2)

Einschätzung der Banken zumKreditgeschäft mit Unternehmen in Deutschland1)

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4. Quartal 1. Quartal 2. Quartal 3. Quartal2002 2003

Verschärfung

Lockerung

Veränderung der Kreditnachfrage

Saldowerte der Antworten3)vH vH vH vH

SR 2003 - 12 - 0668

Verringerung

Anstieg

eingetreten erwartet

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Page 144: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Literatur

Deutsche Bundesbank (2003a) Deutsche Ergebnisse der Umfrage zum Kreditgeschäft im Euro-Währungsgebiet,Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, Juni, 69 – 78.

Deutsche Bundesbank (2003b) Die Ertragslage der deutschen Kreditinstitute im Jahr 2002, in: Monatsbericht derDeutschen Bundesbank, August, 15 – 32.

Deutsche Bundesbank (2003c) Zur wirtschaftlichen Situation kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland,Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, Oktober, 29 – 46.

Internationaler Währungsfonds (2003) World Economic Outlook, April.

Nehls, H. und T. Schmidt (2003) Credit Crunch in Germany?, RWI Discussion Paper 6.

193. Die Erholung an den Finanzmärkten deutete auf vorgelegte Auswertung der Unternehmensbilanzstatistik

eine allgemeine Verbesserung der Ertragserwartungenhin. Inwieweit sich in dieser Aufwärtsbewegung tatsäch-lich eine Verbesserung der Unternehmensgewinne wi-derspiegelt, kann mangels zeitnaher Daten für den Un-ternehmenssektor als Ganzes noch nicht festgestelltwerden. Schätzungen des Gewinnwachstums, die auf derMarktkapitalisierung und dem Kurs-Gewinnverhältnisbörsennotierter Unternehmen basieren, deuten daraufhin, dass in diesem Jahr die Gewinnentwicklung bis Ok-tober gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitrauminsgesamt rückläufig war, wenngleich sich seit Jahres-mitte eine leichte Erholung abzeichnete.

Detaillierte Angaben über die Ertragssituation liefertdie Unternehmensbilanzstatistik der Deutschen Bundes-bank. Im Frühjahr dieses Jahres erschien ihre Analyseder Ertragslage und Finanzierungsverhältnisse deut-scher Unternehmen für das Jahr 2001. Demnach schlugsich die konjunkturelle Abschwächung im Jahr 2001deutlich in den Gewinn- und Verlustrechnungen der Un-ternehmen im Produzierenden Gewerbe, im Handel undim Verkehr nieder (Schaubild 32). Insgesamt verschlech-terte sich für die Unternehmen des Produzierenden Ge-werbes, Handel und Verkehrs die Ertragsentwicklung er-heblich, das Jahresergebnis vor Steuern sank um12,5 vH, während es im Jahr zuvor noch um 5,5 vH ge-stiegen war. Damit wurde die Verbesserung der Ertrags-position seit dem Jahr 1996 weitgehend aufgezehrt. DieBruttoumsatzrendite, die das Verhältnis des Jahreser-gebnisses vor Steuern zum Umsatz der Unternehmen an-gibt, unterschritt mit knapp 3 vH den Vorjahreswert umeinen halben Prozentpunkt. Besonders stark fiel die Er-tragsverschlechterung im Baugewerbe aus, die Gewinneund Verluste hielten sich in etwa die Waage. Das Verar-beitende Gewerbe verzeichnete die schwersten Gewinn-einbrüche seit dem Jahr 1993, so dass die Bruttoumsatz-rendite um knapp einen Prozentpunkt auf 3,5 vHzurückging. Auch im Großhandel und im Verkehrreduzierten sich die Bruttoumsatzrenditen auf 1,5 vHbeziehungsweise 2,3 vH, während die Umsatzrenditenim Einzelhandel mit 2 vH praktisch unverändert blie-ben.

Die schwache wirtschaftliche Entwicklung der vergan-genen Jahre dürfte die kleineren und mittleren Unter-nehmen besonders in Mitleidenschaft gezogen haben.Eine von der Deutschen Bundesbank im Herbst erstmals

nach Größenklassen für die Zeit von 1994 bis 2001 er-gab, dass die Erträge kleinerer und mittlerer Unterneh-men sich deutlich schlechter entwickelt haben als die Er-träge größerer Unternehmen. Maßgeblich hierfür istgewesen, dass die inländische Nachfrage in den zurück-liegenden Jahren langsamer stieg als die Nachfrage ausdem Ausland. Da kleinere und mittlere Unternehmeneine höhere binnenwirtschaftliche Orientierung aufwei-sen als größere Unternehmen, werden diese von einerschwachen binnenwirtschaftlichen Entwicklung stärkererfasst. Die schon seit geraumer Zeit andauernde Kon-junktur- und Wachstumsschwäche im Inland hat bei vie-len dieser Unternehmen zu einer Erosion der Erträgeund zu einem Abschmelzen der finanziellen Reserven ge-führt. Hinzu kommt, dass die Bauwirtschaft, die seitmehreren Jahren einen schmerzhaften Anpassungspro-zess zu durchlaufen hat, bei den kleineren und mittlerenUnternehmen stark vertreten ist. Zudem scheinen diesein den zurückliegenden Jahren weniger als größere Un-ternehmen in der Lage gewesen zu sein, Rationalisie-rungspotentiale zu nutzen und den Kostenanstieg zudämpfen. Dabei kann vermutet werden, dass kleinereund mittlere Unternehmen die in den Tarifverträgen ver-einbarte Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung weni-ger intensiv nutzen können als größere Unternehmen.Die schon seit geraumer Zeit angespannten Finanzie-rungsbedingungen belasten zusätzlich diese Unterneh-men, deren geringe Eigenkapitalausstattung eineSchwachstelle darstellt. Angesichts einer hohen Banken-abhängigkeit und eines gestiegenen Risikobewusstseinsder Kreditinstitute dürfte die Verbesserung des haften-den Kapitals für viele kleinere und mittlere Unterneh-men in den nächsten Jahren einen hohen Stellenwert be-sitzen.

194. Die aus der Unternehmensbilanzstatistik abgelei-teten Ergebnisse über die Ertragssituation der Unterneh-men sind insofern unvollständig, als die Insolvenzenvon Unternehmen im jeweiligen Berichtszeitraum nichtberücksichtigt werden können. Im ersten Halbjahr diesesJahres erreichte die Zahl der insolventen Unternehmenmit knapp 20 000 einen neuen Höchststand. Der Anstiegzum entsprechenden Vorjahreszeitraum betrug damit9,1 vH, wobei fast alle Wirtschaftsbereiche eine Zu-nahme der Insolvenzen hinnehmen mussten. Die Insol-venzverfahren im Dienstleistungsbereich verzeichnetensowohl den höchsten Anteil am Insolvenzgeschehen als

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Deutschland in der Stagnation

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Gewinnentwicklung deutscher Unternehmen1)

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Arithm. Maßstab

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Erfolgsrechnung

Jahresüberschuss

Umsatzrenditen6)

Jahresergebnis4)

Jahresergebnis4)

vor Gewinn-steuern5)

Personalaufwand3)

Materialaufwand

Gesamtleistung2)

1) Hochgerechnete Ergebnisse der Erfolgsrechnung von Unter-nehmen aller Wirtschaftsbereiche.– 2) Umsatz und Bestandsver-änderungen an Erzeugnissen sowie andere aktivierte Eigen-leistungen.– 3) Löhne, Gehälter, soziale Abgaben und freiwilligesoziale Aufwendungen.– 4) Jahresergebnis vor Gewinn-/Ver-lustübernahmen und Gewinn-/Verlustabführungen.– 5) Steuernvom Einkommen und Ertrag.– 6) Jeweiliges Jahresergebnis inRelation zum Umsatz in vH.

Quelle für Grundzahlen: Deutsche Bundesbank

Absolut (1994 = 100)

Jahresergebnis4)

vHvH

SR 2003 - 12 - 0661

Jahresergebnis4)

vor Gewinn-steuern5)

auch eine starke Veränderung von 13,6 vH. Bemerkens-wert war, dass trotz anhaltend schlechter Entwicklungder Baubranche die Insolvenzverfahren in diesem Wirt-schaftsbereich sogar um 1,8 vH abnahmen, während imVerarbeitenden Gewerbe ein Zuwachs von 9,7 vH zu be-obachten war.

Bei der Interpretation der Insolvenzzahlen darf nicht au-ßer Acht gelassen werden, dass eine „Alternative“ zurInsolvenz die Betriebsschließung darstellt. Dies bedeu-tet, dass die Unternehmens- oder Betriebsleitung auf-grund pessimistischer Ertragsaussichten sich vor eineretwaigen Insolvenz dazu entschließt, die noch beste-hende Unternehmenssubstanz zu retten oder nicht weiteraufzuzehren. Insbesondere die deutliche Zunahme vonAbmeldungen in den neuen Bundesländern könnte dar-auf hinweisen, dass der Rückgang der Unternehmensin-solvenzen in Ostdeutschland durch die Zunahme der Lö-schungen kompensiert wurde. Vor diesem Hintergrundsignalisiert die Abnahme der Insolvenzverfahren in derBaubranche keine Entlastung der angespannten Lage.

Die schwache konjunkturelle Entwicklung bremste imersten Halbjahr dieses Jahres ebenfalls die Gründungs-aktivitäten. Dies zeigte sich am Rückgang der Unterneh-mensneuanmeldungen in den Gewerbe- und Handelsre-gistern. Nach Angaben von Creditreform gingen diesegegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum um3,7 vH zurück. Gleichzeitig stieg die Zahl der Gewerbe-abmeldungen um 0,3 vH. Der Großteil der Unterneh-mensgründungen fand im Dienstleistungssektor statt(56 vH). Im Handel und Bau lagen die Anteile mit 28 vHbeziehungsweise 10 vH deutlich darunter, lediglich 6 vHaller Neugründungen fanden im Verarbeitenden Ge-werbe statt.

Bauinvestitionen: Baukrise im neunten Jahr

195. Wie in den Jahren zuvor belasteten die Bauinves-titionen die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Der seitMitte der neunziger Jahre zu beobachtende Abwärts-trend schwächte sich in diesem Jahr zwar ab, zu einerTrendwende kam es jedoch nicht (Schaubild 33,Seite 120). Die Bautätigkeit, die zu Jahresbeginn – nichtzuletzt aufgrund der kalten Witterung – stark abgenom-men hatte, schrumpfte im Jahresdurchschnitt um 3,6 vHund damit geringer als im Jahr zuvor. Die andauerndekonjunkturelle Schwäche, die auch den Dienstleistungs-sektor traf, führte zu Überkapazitäten bei Büro- und La-gergebäuden in Westdeutschland, die mit den bereits ho-hen Leerständen in Ostdeutschland das Baugewerbeinsgesamt belasteten. Im Wohnungsbau war der Rück-gang der Investitionstätigkeit mit 2,7 vH weniger starkausgeprägt, nicht zuletzt da sich ab der zweiten Jahres-hälfte der zu Jahresbeginn deutliche Anstieg der Bauge-nehmigungen in der Bautätigkeit niederschlug. Dämp-fend wirkte der angespannte Arbeitsmarkt und die damitverbundene Einkommensunsicherheit; die niedrigen Hy-pothekenzinsen ermöglichten eine günstige Finanzierung.Nur geringe Impulse dürften vom „Wohnraum-Moderni-sierungs-Programm 2003“ der Kreditanstalt für Wieder-aufbau ausgegangen sein, mit dem Modernisierungs- und

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Page 146: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Instandsetzungsmaßnahmen an Wohngebäuden geför-dert wurden. Die öffentlichen Bauinvestitionen nahmenangesichts der angespannten Haushaltslage um 6,4 vHab, wobei die Wiederaufbaumaßnahmen der Infrastruk-tur in flutgeschädigten Gebieten Ostdeutschlands denRückgang etwas gemildert haben. Insbesondere die Ge-meinden schränkten ihre Bautätigkeit weiter ein.

196. Die Ankündigung der Bundesregierung, die Ei-genheimzulage zu kürzen oder abzuschaffen, ließ dieBaugenehmigungen in diesem Jahr deutlich ansteigen;

deren starke Zunahme, die bereits zum Ende des vergan-genen Jahres eingesetzt hatte, setzte sich zu Beginn die-ses Jahres fort, verlor im weiteren Verlauf des Jahres je-doch deutlich an Dynamik. Im Hochbau wurden für dieErrichtung neuer Gebäude zwischen Januar und Augustmehr Baugenehmigungen erteilt als im Vorjahreszeit-raum; gemessen am Rauminhalt war ein Zuwachs von2,9 vH zu beobachten. Der Zuwachs der Baugenehmi-gungen für Wohngebäude insgesamt (einschließlichBaumaßnahmen an bestehenden Gebäuden) betrug, ge-messen an den veranschlagten Kosten des Bauwerks, inden ersten acht Monaten dieses Jahres gegenüber demVorjahreszeitraum, 13,3 vH. Im Wirtschaftsbau setztesich der rückläufige Trend bei den Baugenehmigungenfort, wenn auch mit verlangsamter Rate. Entsprechendverringerten sich die Baugenehmigungen, gemessen anden veranschlagten Kosten des Bauwerks, von Januarbis August 2003 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um6,7 vH.

197. Die rückläufige Entwicklung der Nachfrage nachBauleistungen des Bauhauptgewerbes setzte sich auch indiesem Jahr fort. Das Auftragsvolumen sank seit Jahres-beginn kontinuierlich und lag im Zeitraum von Januarbis August um 10,9 vH unter dem Niveau des entspre-chenden Vorjahreszeitraums. Die Nachfrage im Bereichdes Wohnungsbaus ging in den ersten acht Monaten die-ses Jahres mit 9,2 vH weniger zurück als im Vorjahr,während im Nichtwohnungsbau der Rückgang mit17,5 vH nochmals deutlicher ausfiel als im Jahr zuvor.Die Nachfrage im Tiefbau, die im letzten Jahr noch einleichtes Plus verzeichnen konnte, sank in diesem Jahrum 6,6 vH.

Der hohe Zuwachs der Baugenehmigungen in diesemJahr spiegelte sich bis Oktober nur in einem geringenAusmaß in den Auftragseingängen und der Nettoproduk-tion im Baugewerbe wider, so dass nur ein Teil der Ge-nehmigungen bislang bauwirksam geworden sein dürfte.Ein starker Vorzieheffekt der Bautätigkeit aufgrund derDiskussion um die Eigenheimzulage ließ sich im erstenHalbjahr nicht feststellen, unter anderem weil die erteil-ten Genehmigungen im Wohnungsbau eine Gültigkeitüber einen Zeitraum von drei Jahren besitzen, mit derOption auf eine weitere Fristverlängerung.

Konsum: Zögerliche Verbesserung der Konsumentenstimmung

198. Nach einem Rückgang im letzten Jahr stiegen diePrivaten Konsumausgaben in diesem Jahr nur geringfü-gig um 0,2 vH (Schaubild 34). Sondereffekte wie dielange Frostperiode und die damit verbundenen hohenHeizölkäufe führten zu Beginn des Jahres zu einem ver-gleichsweise kräftigen Zuwachs; entscheidend für dieverhaltene Entwicklung im Jahresverlauf war die schwa-che Einkommensentwicklung sowie der fortdauerndeAbbau der Beschäftigung.

Bei einer geringen Inflationsrate in diesem Jahr von1,1 vH, gemessen am Verbraucherpreisindex für Deutsch-land, sowie einer Zunahme der Tariflöhne je Arbeits-

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Entwicklung der Bauinvestitionen1)

in Deutschland

In Preisen von 1995

1) In der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen.–2) Nichtwohnbauten ohne Staat.– 3) Nichtwohnbauten Staat.– a) Ei-gene Schätzung.

Log. MaßstabMrd Euro

Log. MaßstabMrd Euro

Bauinvestitionen insgesamt

Wohnbauten

Gewerblicher Bau2)

Öffentlicher Bau3)

SR 2003 - 12 - 0623

1991 a)

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Deutschland in der Stagnation

stunde um 2,3 vH nahmen die Tarifverdienste je Arbeits-stunde inflationsbereinigt um 1,2 vH zu. DerTariflohnerhöhung stand allerdings eine Kürzung derübertariflichen Bestandteile entgegen, so dass die Effek-tivlöhne nur um 1,0 vH stiegen. Die Entwicklung derLohnsumme fiel aufgrund der negativen Beschäfti-gungsentwicklung nochmals schwächer als im Vorjahr

aus. Die Arbeitnehmerentgelte stiegen lediglich um0,3 vH, die Bruttolöhne und -gehälter nahmen um0,1 vH ab, nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträgeund der Lohnsteuer, die in diesem Jahr einen Zuwachsvon rund 2,5 vH beziehungsweise 0,8 vH aufwiesen,war ein Rückgang der Nettolöhne und -gehälter um1,0 vH zu verzeichnen.

Das verfügbare Einkommen, der bedeutendste Bestim-mungsfaktor der Privaten Konsumausgaben, erhöhtesich dennoch um 1,4 vH. Dies lag vor allem an der deut-lichen Zunahme der empfangenen monetären Sozialleis-tungen, die einen Zuwachs von 3,4 vH verzeichneten,als auch am Zuwachs der übrigen Primäreinkommen derprivaten Haushalte, die um 1,8 vH anstiegen.

199. Dämpfend auf die Konsumgüternachfrage wirkteebenfalls, dass die Sparquote um 0,4 Prozentpunkte zu-nahm, sie betrug in diesem Jahr 11,0 vH. Die Sparquote,die in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen alsder Anteil des Sparens der privaten Haushalte am ver-fügbaren Einkommen zuzüglich der Zunahme betriebli-cher Versorgungsansprüche definiert ist, spiegelte vordem Hintergrund der angespannten Lage am Arbeits-markt einerseits ein hohes Maß an Einkommens- undArbeitsplatzunsicherheit wider (Kasten 4, Seite 122), an-dererseits auch die zunehmende Einsicht, vermehrt pri-vat für die Altersvorsorge sparen zu müssen. Die stei-gende Bedeutung einer privaten Altersvorsorge zeigtesich auch in diesem Jahr im deutlichen Zuwachs der be-trieblichen Versorgungsansprüche der privaten Haus-halte. Diese Ansprüche, die bereits seit einigen Jahrendeutlich ansteigen, nahmen in diesem Jahr um etwa20 vH zu. Ihr Anteil an der gesamten Ersparnis der pri-vaten Haushalte betrug damit deutlich über 10 vH.

Gemäß der Finanzierungsrechnung der Deutschen Bun-desbank erreichte die Ersparnis der privaten Haushalteim Jahr 2002 rund 162 Mrd Euro (einschließlich emp-fangener Nettovermögensübertragungen). Der höherenErsparnis stand eine abermalige Reduktion der Kredit-aufnahme gegenüber. Das gesamte Mittelaufkommen derprivaten Haushalte, also die Summe aus Ersparnis undKreditaufnahme, lag im Jahr 2002 damit nur geringfü-gig über dem Niveau des Vorjahres. Das geringe Niveauder Kreditaufnahme ging mit einer abermaligen Reduk-tion der Nettoinvestitionen der privaten Haushalte ein-her, so dass diese mit 3 vH in Relation zum verfügbarenEinkommen abermals einen Tiefstand erreichte. Maß-geblich hierfür war die weiter rückläufige Entwicklungim Eigenheimbau. Aufgrund der schwachen Bauaktivitä-ten der privaten Haushalte und des damit verbundenengeringen Umfangs der Fremdfinanzierung fiel der An-stieg der Verschuldung der privaten Haushalte geringaus. Die Schuldenquote, das Verhältnis der Verbindlich-keiten zum verfügbaren Einkommen, sank gegenüberdem Vorjahr um 0,1 Prozentpunkte auf 110,7 vH. Ange-sichts der schwachen Investitionstätigkeit flossen dreiViertel der gesamten Mittel in die Geldvermögensbil-dung.

200. Die gedämpfte Stimmung der Verbraucher decktesich zu Beginn des Jahres nicht mit dem leichten

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Verfügbares Einkommen, Sparquoteund Konsumausgaben1)

Deutschland

Verfügbares Einkommen3)

Sparquote4)

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1) Private Haushalte einschließlich privater Organisationen ohne Er-werbszweck. 2) Veränderung gegenüber dem Vorjahr– .– 3) Nach demAusgabenkonzept, einschließlich Zunahme betrieblicher Versorgungs-ansprüche und Ansprüche aus der "Riester-Rente".– 4) Sparen in vHdes verfügbaren Einkommens.– a) Eigene Schätzung.

vH vH

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SR 2003 - 12 - 0622

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Zuwachs der Privaten Konsumausgaben. Der von derEuropäischen Kommission für Deutschland erhobeneIndikator für das Verbrauchervertrauen sank seitHerbst letzten Jahres kontinuierlich und erreichte imFrühjahr dieses Jahres seinen Jahrestiefstand. Mit dereinsetzenden Stimmungsaufhellung im Unterneh-mensbereich und an den Kapitalmärkten verbessertesich bis Oktober dieses Jahres auch das Konsumklima,das sich im Jahresdurchschnitt aber auf einem insge-samt niedrigen Niveau bewegte. Die im Jahresverlaufetwas optimistischere Grundhaltung der Konsumenten

basierte unter anderem auf der verbesserten Einschät-zung der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung so-wie einer leicht optimistischeren Einschätzung der ei-genen zukünftigen finanziellen Situation. Dennochwurde eine leicht steigende Sparbereitschaft signali-siert, die die hohe Einkommensunsicherheit reflektiert.Die Einschätzung der Entwicklung der Arbeitslosig-keit blieb bis Oktober dieses Jahres weitgehend unver-ändert, hier schien die Überzeugung vorzuherrschen,dass eine Talsohle auf dem Arbeitsmarkt erreicht wor-den sei.

K a s t e n 4

Empirische Analyse zum Einfluss von (Einkommens-)Unsicherheit und Verbrauchervertrauen auf die Privaten Konsumausgaben

Hinsichtlich der Konsumnachfrage ist in der ökonomischen Theorie des Konsumentenverhaltens weitgehend un-strittig, dass die privaten Haushalte wünschen, ihr Konsumprofil über die Zeit zu glätten. Da man generell unter-stellt, dass die meisten Haushalte risikoavers sind, besitzen sie zudem ein Interesse, eine Glättung ihresgewünschten Konsumniveaus über unterschiedliche wirtschaftliche Situationen vorzunehmen. Die Konsument-scheidungen sind daher prinzipiell davon abhängig, wie hoch das zukünftige Risiko, und hier insbesondere dasEinkommensrisiko, eingeschätzt wird. Schätzen die privaten Haushalte das Risiko hoch ein, in der Zukunft denArbeitsplatz zu verlieren, werden sie einen größeren Teil ihres gegenwärtigen Einkommens sparen, als wenn siedas Risiko als eher gering einstufen.

Die Zuwachsraten der Privaten Konsumausgaben in den vergangenen Jahren waren unterdurchschnittlich. Es liegtdaher nahe, Unsicherheit hinsichtlich des zukünftigen Einkommens mit den geringen Zuwachsraten der PrivatenKonsumausgaben in einen kausalen Zusammenhang zu stellen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass in den zu-rückliegenden Jahren die Beschäftigtenzahlen deutlich zurückgegangen sind. Die folgende empirische Analyseuntersucht daher, ob und in welchem Umfang Unsicherheit hinsichtlich des Arbeitsplatzes oder die Entwicklungdes Verbrauchervertrauens zur Erklärung der Konsumausgaben der privaten Haushalte beitragen. Da die Entwick-lung am Arbeitsmarkt in den vorangegangen Jahren negativ war, ist zu vermuten, dass neben dem verfügbarenEinkommen und dem Vermögen der privaten Haushalte auch die Einkommensunsicherheit die Konsumausgabenin der jüngeren Vergangenheit beeinflusst haben.

So bedeutsam das Konzept der Unsicherheit für die vorliegende Fragestellung ist, so schwierig ist seine empiri-sche Erfassung. Da kein allgemeingültiges Maß für Unsicherheit existiert, werden in den nachfolgenden Schät-zungen alternative Maße verwendet, die die Einschätzungen der Haushalte widerspiegeln. Damit ist offensicht-lich, dass die hier verwendeten Größen eine subjektiv empfundene Einkommensunsicherheit nur als Näherungwiderspiegeln können. In Anlehnung an Muellbauer und Lattimore (1995) wird als Maß für Unsicherheit dieVeränderung der Arbeitslosenquote gewählt. Ergänzend oder alternativ zur Veränderung der Arbeitslosenquotewird für die zugrundeliegende Fragestellung zusätzlich auf Stimmungsindikatoren zurückgegriffen, die das Ver-brauchervertrauen der privaten Haushalte abbilden. Hierbei liegt die Annahme zugrunde, dass das Verbraucher-vertrauen und die Unsicherheit in einem inversen Zusammenhang stehen, das heißt, je höher das Verbraucher-vertrauen, desto geringer die Unsicherheit der privaten Haushalte. Neben dem oben genannten Maß fürUnsicherheit werden daher ergänzend das von der Europäischen Kommission erhobene Verbrauchervertrauenfür Deutschland und die dazugehörigen Teilkomponenten verwendet. Folgende Stimmungsindikatoren gehen indie Schätzungen ein: das Verbrauchervertrauen, die Erwartungen der Haushalte bezüglich der Arbeitslosigkeitinnerhalb der nächsten zwölf Monate, die Einschätzung der Haushalte über die eigene finanzielle Situation inden nächsten zwölf Monaten sowie die Einschätzung der Haushalte über das ökonomische Umfeld innerhalbder nächsten zwölf Monate.

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Deutschland in der Stagnation

Der Einfluss der Unsicherheit beziehungsweise des Verbrauchervertrauens auf die Privaten Konsumausgaben wirdim Folgenden auf zweierlei Art empirisch überprüft. Zum einen werden Fehlerkorrektur-Modelle geschätzt, dieneben den Privaten Konsumausgaben und dem realen verfügbaren Einkommen noch eine Vermögensvariable ent-halten, wobei als Vermögen näherungsweise das Netto-Finanzvermögen der Haushalte gewählt wurde. Diese Ein-zelgleichungen enthalten zusätzlich entweder ein Maß für das Verbrauchervertrauen oder als Maß für Unsicherheitdie Veränderung der Arbeitslosenquote. Zum anderen werden basierend auf Vektorautoregressiven Modellen Im-puls-Antwort-Funktionen geschätzt, die beschreiben, wie die Privaten Konsumausgaben auf eine Veränderung derUnsicherheit (in Höhe eines Standardfehlers) oder auf eine entsprechende Verbesserung des Verbrauchervertrau-ens reagieren. Die Gleichungen werden jeweils für den Zeitraum der Jahre 1991 bis 2002 geschätzt, aktuell vor-liegende Quartalswerte der Privaten Konsumausgaben und des verfügbaren Einkommens des Jahres 2003 könnenbei der Schätzung für die Fehlerkorrektur-Modelle nicht berücksichtigt werden, da die aus der Finanzierungsrech-nung der Deutschen Bundesbank stammenden Angaben zum Nettofinanzvermögen derzeit nur bis Ende 2002 vor-liegen. Den Schätzungen liegen saisonbereinigte Quartalsdaten für die Privaten Konsumausgaben und das verfüg-bare Einkommen zugrunde. Die weiteren Variablen der Analyse sind auf Monatsbasis erhobene Zeitreihen, die inQuartalsreihen transformiert wurden.

Die Spezifikation der Konsumgleichung ist an Lettau und Ludvigson (2003) angelehnt. Diese haben gezeigt, dassunter bestimmten Annahmen eine gleichgewichtige Beziehung zwischen den logarithmierten Werten des Kon-sums der privaten Haushalte, des Arbeitseinkommens und des Vermögens besteht. Diesem Ansatz folgend wirdhier eine gleichgewichtige Beziehung für die je Einwohner gerechneten Größen im Rahmen eines Fehlerkorrektur-Modells geschätzt, wobei anstelle des Arbeitseinkommens das verfügbare Einkommen und für das Vermögen dasNettofinanzvermögen der Haushalte verwendet werden. In die gleichgewichtige Beziehung wird zusätzlich je-weils eines der oben genannten Unsicherheitsmaße in nicht logarithmierter Form aufgenommen.

Die Ergebnisse für den Zeitraum von 1991 bis 2002 lassen sich wie folgt zusammenfassen. Die Schätzungen derFehlerkorrektur-Modelle stützen die Hypothese, dass zurückgehende Unsicherheit beziehungsweise zunehmendesVerbrauchervertrauen einen positiven Einfluss auf die Privaten Konsumausgaben besitzen. Die Koeffizienten wei-sen in den jeweiligen Schätzgleichungen das postulierte Vorzeichen auf und sind statistisch signifikant. So wirkensich beispielsweise sowohl eine Verbesserung der Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen ökonomischen Rah-menbedingungen als auch eine bessere Einschätzung der finanziellen Lage der privaten Haushalte signifikant po-sitiv auf die Privaten Konsumausgaben aus. Die Schätzungen stützen daher die These, dass eine geringere Unsi-cherheit hinsichtlich des zukünftigen Einkommens beziehungsweise ein zunehmendes Verbrauchervertrauen dieKonsumausgaben in der Tendenz positiv beeinflussen. Allerdings ist der Einfluss aller Variablen, die in der vorlie-genden Analyse Unsicherheit beziehungsweise Verbrauchervertrauen repräsentieren, vergleichsweise moderat: Soerhöhen sich beispielsweise die Privaten Konsumausgaben um rund 0,3 vH, wenn sich die Unsicherheit um eineEinheit reduziert.

Auch die Impuls-Antwort-Folgen weisen einen plausiblen Verlauf auf und stützen damit die Hypothese, dass Ein-kommensunsicherheit die Privaten Konsumausgaben negativ beeinflusst. Die geschätzten Impuls-Antwort-Folgenbasieren auf Vektorautoregressiven Modellen, die neben den Konsumausgaben und dem realen verfügbaren Ein-kommen eine Variable enthalten, die die Unsicherheit oder das Verbrauchervertrauen repräsentiert. AlternativeSchätzungen der Vektorautoregressiven Modelle, die zusätzlich das Nettofinanzvermögen enthalten oder nachdem Johansen-Verfahren als Kointegrationsbeziehung geschätzt wurden, bestätigen die Ergebnisse. Eine Zunahmedes Verbrauchervertrauens in Höhe eines Standardfehlers erhöht die Privaten Konsumausgaben, während eine Er-höhung der Veränderung der Arbeitslosenquote (also eine Zunahme der Unsicherheit) in Höhe eines Standardfeh-lers die Konsumausgaben negativ beeinflusst (Schaubild 35, Seite 124).

Die geschätzten Impuls-Antwort-Folgen zeigen, dass eine nachlassende Unsicherheit beziehungsweise ein zuneh-mendes Verbrauchervertrauen im Mittel einen positiven Einfluss auf den Konsum besitzen. Jedoch sind die Konfi-denzintervalle der Schätzer recht breit und weisen in der mittleren Frist keinen signifikanten Einfluss aus. Basie-rend auf diesen Schätzungen kann demnach gefolgert werden, dass für den betrachteten ZeitraumEinkommensunsicherheit zumindest kurzfristig einen signifikanten negativen Einfluss auf die Privaten Konsum-ausgaben ausüben.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

S c h a u b i l d 35

Literatur

Muellbauer, J. und R. Lattimore (1995) The Consumption Function: A Theoretical and Empirical Overview, in:Pesaran, M. H. und M. R. Wickens (Hrsg.), Handbook of Applied Econometrics, Oxford, Oxford UniversityPress, 221 – 311.

Lettau, M. und S. Ludvigson (2003) Understanding Trend and Cycle in Asset Values: Reevaluating the Wealth Ef-fect on Consumption, Manuskript, erscheint in: American Economic Review

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Quartale

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Quartale

Reaktion der Privaten Konsumausgaben auf einen Impuls des Verbrauchervertrauensund der Veränderung der Arbeitslosenquote

VAR-Modell für den Zeitraum 1. Quartal 1991 bis 2. Quartal 20031)

Auf einen Impuls des Verbrauchervertrauens Auf einen Impuls der Veränderung derArbeitslosenquote

1) Impuls-Antwort-Funktion ( ) mit Konfidenzintervall (± 2 Standardfehler) ( ).

SR 2003 - 12 - 0656

Volatiler Außenhandel delsvolumen stiegen langsamer als im langjährigen

201. Die rückläufigen Ausrüstungsinvestitionen sowieder geringe Zuwachs der Privaten Konsumausgabenwurden in diesem Jahr von einer wechselhaften Ent-wicklung des Außenhandels begleitet. Die Exporte vonWaren und Dienstleistungen waren bis zur Jahresmittestark rückläufig (Schaubild 36). Sie gewannen jedoch inder zweiten Jahreshälfte wieder deutlich an Fahrt. DerZuwachs der Gesamtausfuhr fiel aufgrund der starkenRückgänge in der ersten Jahreshälfte im Jahresdurch-schnitt mit 1,1 vH jedoch vergleichsweise moderat aus.Das außenwirtschaftliche Umfeld war insbesondere inder ersten Jahreshälfte von der schwachen Wirtschafts-aktivität wichtiger Handelspartner geprägt, sowohl dasHandelsvolumen im Euro-Raum als auch das Welthan-

Durchschnitt. Die stetige Aufwertung des Euro gegen-über dem US-Dollar bis Mitte des Jahres wirkte dämp-fend auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Eine deut-liche Belebung des außenwirtschaftlichen Umfeldssetzte mit Beginn der zweiten Jahreshälfte ein, einmalmehr übernahmen die Vereinigten Staaten die Rolle deskonjunkturellen Impulsgebers. Die Importe von Warenund Dienstleistungen gingen bis zum Herbst zurück,erst zum Ende des Jahres hin stiegen die Importe wiederan. Die deutlichen Zuwächse zu Beginn des Jahres dürf-ten wesentlich durch Vorratseinkäufe von Energiestoffenim Zusammenhang mit dem Irak-Krieg sowie durch dieVerbilligung der Importwaren infolge der Euro-Aufwer-tung beeinflusst worden sein. Der Zuwachs der Importe

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Deutschland in der Stagnation

betrug 1,4 vH, nicht zuletzt aufgrund des hohen statisti-schen Überhangs am Ende des vorangegangenen Jahres.Die im Jahresverlauf etwas kräftigere Entwicklung derImporte im Vergleich zu den Exporten bremste in diesemJahr den Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts; vom Au-ßenbeitrag gingen in diesem Jahr keine Impulse aus.

202. Die internationale preisliche Wettbewerbsfähig-keit der deutschen Unternehmen hat sich infolge derAufwertung des Euro im Jahresverlauf verringert. Legtman den von der Deutschen Bundesbank ermittelten In-dikator der preislichen Wettbewerbsfähigkeit Deutsch-lands zugrunde, der die Preisentwicklung Deutschlandsin Relation zu den Preisen in 19 Industrieländern unterBerücksichtigung von Wechselkursveränderungen misst,verringerte sich im Jahresverlauf die internationalepreisliche Wettbewerbsfähigkeit aufgrund der Aufwer-tung des Euro; allerdings befand sie sich immer nochnahe ihrem langfristigen Durchschnittswert seit demJahr 1975. Dieser Indikator zeigte am Ende des drittenQuartals des Jahres 2003 eine um 2,9 vH höhere preisli-che Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zum langfristi-

gen Durchschnittswert an sowie ein leicht besseresNiveau als zu Beginn des Jahres 1999.

Nominale Wechselkursschwankungen beeinflussen aufder Ausfuhrseite die Absatzpreise und die Gewinnmar-gen der Exporteure und damit auch deren Wettbewerbs-fähigkeit. Die Absatzpreise der Exporteure werden vomAusmaß der Überwälzbarkeit und von den genutzten Ab-sicherungsinstrumenten wie Termin- und Optionsge-schäften mitbestimmt. Die Schwankungen des US-Dollargegenüber dem Euro üben eine direkte Wirkung auf dendeutschen Warenaustausch mit den Vereinigten Staatenaus, denn ungefähr 10 vH der deutschen Ausfuhren wer-den dort abgesetzt. Darüber hinaus konkurrieren deut-sche Unternehmen auch auf internationalen Gütermärk-ten mit US-amerikanischen Produzenten, so dass die US-Währung − unter Berücksichtigung dieser so genanntenDrittmarkteffekte − nach Angaben der Deutschen Bun-desbank mit 13,5 vH ein höheres Gewicht besitzt. Einanderes Maß für die Bedeutung des US-Dollar ergibtsich daraus, dass insgesamt 18 vH aller Ausfuhrgüter(hierunter zählen auch diejenigen Güter, die in US-Dol-lar abgerechnet werden, jedoch nicht in Konkurrenz zu

S c h a u b i l d 36

1) In der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, in Preisen von 1995.– 2) Saison- und kalenderbereinigte Ergebnisse nach dem VerfahrenCensus X-12-ARIMA.– 3) Waren und Dienstleistungen.– 4) Exporte abzüglich Importe.

SR 2003 - 12 - 0639

Exporte, Importe und Außenbeitrag1)

Saisonbereinigt2)

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Log. MaßstabMrd Euro

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Arithm.MaßstabMrd Euro

I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV2000 2001 2002 2003

Exporte3)

Importe3)

Außenbeitrag4)

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

einem US-amerikanischen Produkt stehen) in US-Dollarfakturiert werden. Der Anteil der Importe aus den Verei-nigten Staaten an den deutschen Importen beträgt 8 vH,doch ist der US-Dollar für die Importe bedeutsamer, daungefähr 21 vH aller Einfuhrgüter direkt in US-Dollarabgerechnet werden.

Um die internationale preisliche Wettbewerbspositionder deutschen Volkswirtschaft zu messen, sind nebendem US-Dollar auch die Kursveränderungen gegenüberanderen wichtigen Währungen einzubeziehen. Danebenist zu berücksichtigen, dass der Handel mit den übrigenLändern des Euro-Raums eine maßgebliche Rolle für dieheimischen Unternehmen spielt. Einen umfassenderenEindruck über die internationale preisliche Wettbe-werbsfähigkeit vermittelt daher der Indikator der preisli-chen Wettbewerbsfähigkeit. Hieran gemessen hat sichdie preisliche Wettbewerbsfähigkeit weniger stark ver-ringert, als die Aufwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar vermuten lässt. Die Relativierung des Aufwer-tungseffekts geht im Wesentlichen darauf zurück, dassrund 43 vH aller Ausfuhren in den Euro-Raum geliefertwerden und daher von nominalen Wechselkursschwan-kungen unabhängig sind.

Neben preislichen und kostenmäßigen Faktoren wird dieinternationale Wettbewerbsfähigkeit noch durch eineReihe weiterer Größen wie Produktqualität, Kundenser-vice und Innovationsfähigkeit beeinflusst. Da der Ein-fluss dieser Größen schwierig zu quantifizieren ist, kön-nen zur Einschätzung der Wettbewerbsfähigkeit dieWeltmarktanteile herangezogen werden. In diesem Indi-kator schlagen sich prinzipiell sämtliche Faktoren nie-der, welche die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirt-schaft bestimmen. Um etwaige Verzerrungen durchstarke nominale Wechselkurveränderungen zu vermei-den, werden nach Angaben der Deutschen Bundesbankdie nominalen Weltmarktanteile um Wechselkurs- undPreiseffekte bereinigt. In den zurückliegenden Jahrenhaben sich die so errechneten realen Weltmarktanteileder deutschen Volkswirtschaft analog zur preislichenWettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten entwickelt.Seit Mitte der neunziger Jahre ist der reale Weltmarktan-teil kräftig gestiegen; auch nach Beginn der Währungs-union hat sich diese Entwicklung fortgesetzt. Bemer-kenswert ist hierbei, dass von allen Ländern des Euro-Raums, deren preisliche Wettbewerbsfähigkeit auf denWeltmärkten durch die Euro-Entwicklung in ähnlicherWeise beeinflusst wurde, vor allem Deutschland seinenrealen Weltmarktanteil seit Beginn der Währungsunionausbauen konnte, während der Anteil der übrigen Län-der des Euro-Raums an den realen weltweiten Anteilenzusammen genommen nahezu unverändert blieb. Be-deutsam für die Entwicklung der (realen) Weltmarktan-teile war unter anderem, dass sich der wechselseitigeWarenaustausch mit den mittel- und osteuropäischenLändern bis zuletzt ausgesprochen lebhaft entwickelthat.

Etwas gemildert wurden die negativen Effekte der nomi-nalen Wechselkurserhöhung durch die Preisniveaustei-gerungen in Deutschland in diesem Jahr, die geringerausfielen als im Durchschnitt des Euro-Raums. Gemes-

sen an der Entwicklung der Lohnstückkosten im europä-ischen Vergleich ließ sich in diesem Jahr keine Ver-schlechterung der Wettbewerbsposition Deutschlandsgegenüber den Mitgliedern der Europäischen Union er-kennen. Nach Berechnungen der Europäischen Kommis-sion verzeichnete Deutschland in diesem Jahr geringereZuwachsraten der realen Stückkosten als wichtige Han-delspartner innerhalb und außerhalb der EuropäischenWährungsunion.

203. Gemäß der von der Außenhandelsstatistik erhobe-nen regionalen Struktur der Warenausfuhr rührte dieschwache Exportdynamik in der ersten Jahreshälfte ausUmsatzrückgängen sowohl innerhalb als auch außerhalbder Europäischen Währungsunion; positiv hiervon hobsich die Ausfuhr in die Beitrittsländer ab. Obschon derZuwachs der Ausfuhr in den Euro-Raum von Januar bisAugust gegenüber dem Vorjahreszeitraum 2,0 vH be-trug, gingen die Umsätze mit einer Reihe wichtiger Han-delspartner bis zur Jahresmitte merklich zurück(Tabelle 24). Die regionale Exportentwicklung wurdedabei maßgeblich von der konjunkturellen Entwicklungin den Volkswirtschaften der Handelspartner geprägt.Außerhalb des Euro-Währungsgebiets bremste die hoheNotierung des Euro zusätzlich die Ausfuhr. Das Zusam-menspiel von schwacher konjunktureller Lage undRückgang der preislichen Wettbewerbsfähigkeit er-schwerten die Ausfuhr in das Vereinigte Königreich, indie Vereinigten Staaten sowie nach Japan. Während dieExporte in das Vereinigte Königreich in den ersten achtMonaten noch um 1,0 vH zunahmen, verringerte sich imselben Zeitraum die Ausfuhr in die Vereinigten Staatenund nach Japan um 6,4 vH beziehungsweise 3,9 vH. Po-sitive Nachfrageimpulse gingen hingegen von den mit-tel- und osteuropäischen Ländern wie auch von Chinaaus. Hier waren Zuwächse von Januar bis August inHöhe von 8,2 vH beziehungsweise 28,2 vH zu beobach-ten.

Die Güterstruktur des Außenhandels verdeutlicht, dassdie Ausfuhr, nach Branchen differenziert, sich unein-heitlich entwickelte. Während die Hersteller von Vor-leistungsgütern, wie etwa die Produzenten chemischerErzeugnisse sowie die Hersteller von Stahl- undMetallerzeugnissen, in den ersten acht Monaten diesesJahres ihre Ausfuhr steigern konnten, standen insbe-sondere der Maschinenbau, die Hersteller von Büro-maschinen und Datenverarbeitungsgeräten sowie vonNachrichten- und Rundfunktechnik einer stagnierendenbeziehungsweise rückläufigen Nachfrage gegenüber.

204. Der Überschuss der Leistungsbilanz, die imJahr 2001 erstmals seit der Vereinigung Deutschlandswieder positiv war, verzeichnete im letzten Jahr einenkräftigen Zuwachs und erreichte ein Niveau von 2,8 vHin Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt. Auchin den ersten acht Monaten dieses Jahres war der Leis-tungsbilanzsaldo mit rund 22 Mrd Euro positiv, aller-dings reduzierte sich der Überschuss deutlich um rund29 vH. Während das Defizit der Dienstleistungsbilanzim genannten Zeitraum um 11,0 vH abnahm, erhöhten

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Deutschland in der Stagnation

Ta b e l l e 24

Entwicklung des deutschen Außenhandels nach Ländern und Ländergruppen1)

Veränderung gegenüber dem Vorjahreszeitraum in vH

Ausfuhr EinfuhrAnteil Anteil2002 2002

in vH2)3) in vH2)3)

Insgesamt4) .................................. 100 17,1 6,8 1,6 0,9 100 21,0 0,8 -3,8 2,2

Europäische Union .................... 54,7 15,0 4,2 0,9 2,1 51,5 14,3 1,1 -2,9 0,6

Euro-Raum5) ............................ 41,8 15,3 3,9 0,4 2,0 41,3 13,0 1,7 -2,0 0,6 Belgien und Luxemburg ..... 5,3 13,6 7,5 -3,0 0,2 5,5 14,6 8,7 1,0 -3,6 Finnland .............................. 1,0 20,5 -4,6 -0,6 2,9 1,0 25,8 9,9 -15,8 1,6

Frankreich6) .......................... 10,8 15,1 3,2 0,3 -0,8 9,5 11,6 -2,2 -0,7 -1,6 Griechenland ...................... 0,8 12,2 10,3 -3,2 8,7 0,3 -5,7 2,8 -8,3 -1,8 Irland .................................. 0,6 24,2 8,8 1,0 -12,7 2,5 -5,3 46,3 -16,1 0,3 Italien .................................. 7,3 17,4 4,7 0,7 2,1 6,4 8,1 -1,4 -4,7 1,0 Niederlande ........................ 6,1 13,5 2,6 -1,2 3,1 8,3 24,0 -3,4 -0,3 4,0

Österreich ........................... 5,1 14,6 3,2 -0,6 4,7 4,1 12,1 0,8 2,5 0,5 Portugal .............................. 1,0 6,4 1,8 6,7 -7,9 1,0 14,6 -6,3 -0,4 3,0 Spanien ............................... 4,6 17,8 4,1 6,5 8,8 3,0 9,7 -5,4 3,3 5,3

Dänemark ............................... 1,7 9,7 9,2 3,8 8,7 1,8 19,3 2,4 0,7 6,8 Schweden ............................... 2,1 16,0 -4,0 3,8 7,4 1,7 22,8 -11,8 -0,8 8,4 Vereinigtes Königreich .......... 8,4 14,5 6,9 2,8 1,0 6,4 20,0 0,9 -9,7 -3,3

Übrige Industrieländer7) ............. 20,4 19,9 6,4 -0,9 -2,1 20,2 24,1 -2,2 -9,1 1,0 darunter:Vereinigte Staaten .................. 10,3 20,1 9,8 -1,8 -6,4 7,7 28,1 -2,4 -13,0 -0,7 Kanada ................................... 0,9 27,0 22,2 6,1 -7,3 0,5 33,9 -4,3 -14,5 -20,2 Japan ...................................... 1,9 27,3 -0,7 -7,1 -3,9 3,6 23,3 -14,7 -16,9 -0,6 Norwegen ............................... 0,7 9,9 14,3 -7,0 -0,6 2,2 52,1 9,0 -2,6 28,2 Schweiz .................................. 4,1 12,2 7,4 -3,1 -0,5 3,7 10,1 5,1 -1,2 -2,7

EU-Beitrittskandidaten8) ............ 8,9 21,1 10,5 6,1 6,8 10,6 22,3 13,0 6,2 8,0

Mittel- und osteuropäische

Länder9) ................................... 3,0 26,1 41,4 11,8 8,2 3,3 64,4 0,6 -9,6 2,3 darunter:Russland ................................ 1,8 31,7 54,2 10,6 7,5 2,5 75,5 -1,0 -10,5 0,3

Ostasiatische Schwellenländer10) 3,5 29,1 1,4 2,5 -1,7 4,2 35,4 -8,2 -8,1 -2,2 darunter:Südkorea ................................ 0,9 39,7 2,0 20,8 -1,2 0,9 43,2 -16,8 -4,5 14,6 Taiwan ................................... 0,6 18,0 -16,5 -0,8 -8,7 1,1 31,1 -9,6 -12,5 -9,7

Volksrepublik China ................. 2,2 36,1 28,1 19,6 28,2 4,0 34,5 7,5 5,6 18,0

Lateinamerika11) ......................... 2,2 7,2 10,2 -10,8 -9,2 1,8 16,6 0,6 -6,5 2,1 darunter:Brasilien ................................. 0,8 9,3 13,5 -14,2 -15,9 0,7 18,7 5,2 -8,4 2,5 Mexiko ................................... 0,8 19,2 6,5 -3,2 -6,6 0,2 6,3 6,7 -17,9 14,3

Weitere Entwicklungsländer12) ... 2,3 6,5 6,2 3,2 -0,7 2,9 29,1 4,4 -2,9 -1,5

OPEC-Länder13) .......................... 2,2 17,7 27,4 6,7 -3,7 1,3 59,9 -19,7 -15,3 10,2 darunter:Indonesien .............................. 0,2 20,6 19,7 0,4 -15,1 0,4 29,1 -5,5 -6,4 -7,4

Nachrichtlich:Insgesamt, Mrd Euro .............. . 597,44 638,27 648,31 432,21 . 538,31 542,77 522,06 348,51

1) Spezialhandel nach Bestimmungs-/Ursprungsländern. - 2) Anteil an der Gesamtausfuhr/-einfuhr. - 3) Vorläufige Ergebnisse. - 4) Einschließ-lich des nicht zuordenbaren Intrahandels, der nicht ermittelten Bestimmungs-/Ursprungsländer, des Schiffs- und Luftfahrzeugbedarfs sowie derZuschätzungen für Meldebefreiungen. - 5) Ab 1. Januar 2001 einschließlich Griechenland. - 6) Einschließlich Réunion, Guadeloupe, Martinique, Französisch-Guyana. - 7) Australien, Japan, Kanada, Neuseeland, Republik Südafrika, Vereinigte Staaten sowie Europa ohne die Länder der Eu-ropäischen Union, Malta, Zypern. - 8) Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern. - 9) Albanien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Bundesrepublik Jugoslawien, Mazedonien und die GUS-Staaten. - 10) Hongkong (Chi-na), Malaysia, Südkorea, Singapur, Taiwan, Thailand. - 11) Mittel- und Südamerika (ohne Venezuela). - 12) Afrika (ohne Republik Südafrika), Asien (ohne Japan, Ostasiatische Schwellenländer und Volksrepublik China), Ozeanien; ohne OPEC-Länder. - 13) Algerien, Gabun, Indonesien, Irak, Iran, Katar, Kuwait, Libyen, Nigeria, Saudi-Arabien, Venezuela, Vereinigte Arabische Emirate.

2000 2001 20023)Länder und Ländergruppen20023)

2003

Jan/Aug3)

2003

Jan/Aug3)20012000

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

sich die negativen Salden der Erwerbs- und Vermögens-einkommen und der laufenden Übertragungen. DerSaldo der Handelsbilanz, der auch in diesem Jahr einenÜberschuss auswies, reduzierte sich im Vergleich zu denersten acht Monaten des Vorjahres um 2,9 vH. Die Re-duktion des Handelsbilanzüberschusses spiegelte dabeiinsbesondere den schwachen Zuwachs der Warenausfuhrin der ersten Jahreshälfte wider; in den ersten acht Mo-naten dieses Jahres verzeichneten die Warenausfuhreneinen Zuwachs von 1,7 vH, während die Warenimportesich um 2,9 vH erhöhten.

205. Wie bereits im letzten Jahr verzeichnete die Kapi-talbilanz im ersten Halbjahr dieses Jahres einen Netto-Kapitalexport. Maßgeblich zu diesem Netto-Export anKapital trug der nicht verbriefte Kreditverkehr bei, imWertpapierverkehr und im Bereich der Direktinvestitio-nen überwogen die Kapitalimporte.

Im Wertpapierverkehr, der im Allgemeinen sensibelauf Änderungen der Anlegerpräferenzen und -einschät-zungen reagiert, spiegelte sich zu Beginn des Jahres dievon weltpolitischen und wirtschaftlichen Unsicherheitengeprägte Grundstimmung wider. Während sich ausländi-sche Investoren im ersten Quartal verstärkt dem deut-schen Markt zuwandten, zogen inländische InvestorenKapital von den ausländischen Wertpapiermärkten ab, sodass ihr Bestand reduziert wurde. Nach Ende des Irak-Kriegs wich die Zurückhaltung der inländischen Inves-toren hinsichtlich eines Auslandsengagements; die Be-stände an verbrieften Anlagen anderer Länder wurdenwieder deutlich aufgestockt. Stark nachgefragt wurdenausländische Rentenwerte, die eine etwas höhere Ren-dite aufwiesen als vergleichbare Bundesanleihen, wäh-rend die Bestände an ausländischen Aktien, vor demHintergrund einer vergleichsweise verhaltenen Entwick-lung an den internationalen Aktienbörsen sowie einerausgeprägten Unsicherheit hinsichtlich der Wechselkurs-entwicklung des Euro, nur geringfügig erhöht wurden.Ausländische Investoren zeigten in der ersten Jahres-hälfte dieses Jahres ein fortlaufendes Interesse an An-lagen im Inland. Im Zentrum des Interesses standenBankschuldverschreibungen, aber auch öffentliche Ren-tenwerte trafen auf eine stetige Auslandsnachfrage. DasInteresse an heimischen Dividendentiteln war uneinheit-lich; nach Nettoverkäufen zu Beginn des Jahres konntemit dem Beginn der Hausse an den deutschen Aktienbör-sen ein deutlicher Umschwung im Anlegerverhalten be-obachtet werden. Per saldo kam es im ersten Halbjahrüber den Wertpapierverkehr zu Mittelzuflüssen in Höhevon 43,5 Mrd Euro.

Auch im Bereich der Direktinvestitionen waren im ers-ten Halbjahr, wie im letzten Jahr, Kapitalzuflüsse zu ver-zeichnen, nachdem zu Jahresbeginn per saldo noch Ka-pital ins Ausland transferiert worden war. Während imersten Quartal das Investitionsverhalten inländischerUnternehmen durch ein verstärktes Engagement im Aus-land gekennzeichnet war – ein großer Teil fiel auf Kre-dite, die hiesige Eigner ihren ausländischen Niederlas-sungen zur Verfügung stellten –, überwogen im zweiten

Quartal kurzfristige Kredite die Auslandstransaktionendeutscher Unternehmen, die Tochterunternehmen an ihreMuttergesellschaften gewährten (JG 2002 Ziffer 149).Die Direktinvestitionen ausländischer Firmen entwickel-ten sich hingegen stetig, so stockten ausländische Eignerihre Bestände im ersten Halbjahr kontinuierlich auf. ImMittelpunkt standen dabei Kapitalzuflüsse in Form kurz-fristiger Kredite. Per saldo wurden über die Direktinves-titionen bis zur Mitte des Jahres 14,2 Mrd Euro an Kapi-tal importiert.

Im nicht verbrieften Kreditverkehr kam es zu Netto-Kapitalexporten, die sich bis zur Mitte des Jahres auf102,6 Mrd Euro beliefen. Hierzu trugen Wirtschaftsun-ternehmen und Privatpersonen bei, die Gelder ins Aus-land verlagerten, indem sie ihre Guthaben bei ausländi-schen Banken mit Erlösen aus Wertpapierverkäufenaufstockten. Das Bankensystem erhöhte insbesondereseine kurzfristigen Forderungen gegenüber gebietsfrem-den Schuldnern. Im ersten Halbjahr verzeichnete diedeutsche Volkswirtschaft insgesamt einen Netto-Kapital-export von 45,2 Mrd Euro.

Entstehungsseite: Industrie und Dienstleistungen schwach

206. Die seit Frühjahr beobachtbare Verbesserung desGeschäftsklimas spiegelte sich bis zur Jahresmitte nichtin der Entwicklung der Auftragseingänge wider, wedervon der Inlandsnachfrage noch von der Auslandsnach-frage gingen bis zur Jahresmitte nachhaltige Impulse aus(Schaubild 37). Die Inlandsnachfrage fiel, nach einerStabilisierung in der zweiten Hälfte des Vorjahres, konti-nuierlich seit Beginn des Jahres; erst in der zweiten Jah-reshälfte zeichnete sich eine leichte Erholung ab. ImZeitraum der ersten acht Monate lagen die Bestellungenaus dem Inland um 1,0 vH unter dem Wert des Vorjah-reszeitraums. Insbesondere in der Konsumgüterindustriesetzte sich die negative Tendenz fort, hier betrug derRückgang der inländischen Nachfrage 5,9 vH, der Rück-gang bei den Vorleistungsgüterproduzenten fiel ver-gleichsweise moderat aus. Die in der zweiten Hälfte desVorjahres zu beobachtende Aufwärtsbewegung der in-ländischen Auftragseingänge bei den Produzenten derInvestitionsgüter wurde seit Beginn dieses Jahres von ei-ner Abwärtsbewegung abgelöst, hier betrug aufgrund ei-nes Basiseffekts der Zuwachs in den ersten acht Mona-ten dieses Jahres gegenüber dem entsprechendenVorjahreszeitraum 0,4 vH. Die schwache Entwicklungder Industrieproduktion wurde durch das Zurückgehender Auftragseingänge aus dem Ausland, die bereits seitMitte letzten Jahres an Schwung verloren hatten, weiterverstärkt. In den ersten acht Monaten dieses Jahres lagihr Volumen um 0,4 vH unter dem entsprechenden Vor-jahreszeitraum. Die stärksten Einbußen verzeichnetenhierbei die Produzenten der Konsumgüter mit 2,4 vHaber auch die Produzenten der Investitionsgüter musstenseit Beginn des Jahres einen Rückgang der Auslandsauf-träge von 0,9 vH verzeichnen. Die schwache Entwick-lung der Auftragseingänge in der ersten Jahreshälfte er-

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Deutschland in der Stagnation

fasste alle Branchen, wenngleich sich auch dieAusgangslage zu Beginn des Jahres unterschied. Wäh-rend sich in der Chemischen Industrie, im Maschinen-bau, in der Metallerzeugung und -bearbeitung sowie beiden Produzenten von Kraftwagen und -teilen der Rück-gang bereits seit Mitte letzten Jahres abgezeichnet hatte,wurde der Rückgang bei den Herstellern von Büroma-schinen- und Datenverarbeitungsgeräten erst zu Beginndes Jahres spürbar. Aufgrund der schwachen wirtschaft-lichen Entwicklung im ersten Halbjahr verringerten sichdie Auftragseingänge für die Industrie insgesamt imZeitraum der ersten acht Monate dieses Jahres im Ver-gleich zum Vorjahreszeitraum um 0,7 vH.

207. Die Entwicklung der Nachfrage nach Industriegü-tern schlägt sich in der Relation von Auftragseingängenzu Kapazitäten (Order-Capacity-Ratio) im Verarbeiten-

den Gewerbe nieder (Schaubild 38, Seite 130). In denersten neun Monaten dieses Jahres lag diese Relation un-terhalb des durchschnittlichen Niveaus des Vorjahres,wobei sie in der ersten Jahreshälfte zunächst zurückgingund im dritten Quartal wieder leicht anstieg. Dabei lagdas Auftrags-Kapazitäts-Verhältnis saisonbereinigt mit81,8 vH zwar leicht über seinem langfristigen Durch-schnitt seit dem Jahr 1991 von 79,8 vH, jedoch auf demniedrigsten Stand seit dem Jahr 2000. Die vom Ifo-Insti-tut für Wirtschaftsforschung, München, erhobene Reich-weite der Auftragsbestände im westdeutschen Verarbei-tenden Gewerbe blieb im Jahresdurchschnitt konstant.Sie lag bis zum Ende des dritten Quartals 2003 beidurchschnittlich 2,8 Monaten und damit auf dem Niveaudes Vorjahres. Sie entsprach damit dem langfristigenDurchschnitt seit dem Jahr 1991.

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J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

Auftragseingang und Nettoproduktion in der Industrie1)2)

Deutschland

1) Auftragseingang: Volumenindex für das Verarbeitende Gewerbe ohne Ernährungsgewerbe und Tabakverarbeitung; ohne Kokerei, Mineralölverarbeitung,Herstellung und Verarbeitung von Spalt- und Brutstoffen. Nettoproduktion: -Verarbeitendes Gewerbe, soweit nicht der Hauptgruppe Energie zugeordnet, sowie Erzbergbau, Gewinnung von Steinen und Erden.– wur-2) Gleitende 3-Monatsdurchschnitte der saisonbereinigten Monatswerte (bei der Nettoproduktionden die auf Basis 1995 = 100 vorliegenden Indizes auf das Jahr 2000 = 100 umbasiert); Saisonbereinigung nach dem Census-Verfahren X-12-ARIMA.

Log. Maßstab2000 = 100

Log. Maßstab2000 = 100

Auftragseinganginsgesamt

Nettoproduktion

Auftragseingangaus dem Ausland

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SR 2003 - 12 - 0640

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

208. Die schwache Entwicklung der Nachfrage schlugsich in der Industrieproduktion nieder; bis zur Mittedieses Jahres sank der Nettoproduktionsindex der In-dustrie fast auf das Ausgangsniveau des Jahres 2002.Die Entwicklung in den einzelnen Hauptgruppen undBranchen verbesserte sich ab Jahresmitte nur wenig undnicht ganz einheitlich: Während die Nettoproduktionder Konsumgüter der schwachen Nachfrage folgte, ent-wickelten sich die Produktion im Energiesektor und dieProduktion der Vorleistungs- beziehungsweise Investi-tionsgüter etwas besser, sie erhöhten sich in den erstenacht Monaten dieses Jahres gegenüber dem Vorjahres-zeitraum um 4,1 vH, 0,4 vH beziehungsweise 0,9 vH.

Die Produktion von Büromaschinen- und Datenverar-beitungsgeräten sowie die Produktion von Kraftwagenund -teilen (die Herstellung von Kraftfahrzeugen wer-den der Investitionsgüterproduktion zugerechnet) nahmin den ersten acht Monaten gegenüber dem Vorjahres-zeitraum zu, die Produktion chemischer Erzeugnissestagnierte. Die Produktion im Maschinenbau sowie dieMetallerzeugung und -bearbeitung fiel gegenüber demVorjahreszeitraum um 1,5 vH beziehungsweise 0,9 vH,hier setzte sich der rückläufige Trend des Vorjahres inder Produktion fort. Insgesamt nahm in den ersten achtMonaten des Jahres gegenüber dem entsprechendenVorjahreszeitraum die Nettoproduktion der Industrie um0,4 vH zu.

209. Der noch im letzten Jahr beobachtete aufwärtsge-richtete Trend der Industrieproduktion in Ostdeutsch-land flachte sich in diesem Jahr merklich ab; die kon-junkturelle Schwäche erfasste auch die ostdeutscheIndustrie. Seit Beginn dieses Jahres ließ die Produk-tion keine Dynamik erkennen, das Volumen nahm inden neuen Bundesländern von Januar bis August ledig-lich um 1,4 vH zu, während im früheren Bundesgebietsich die kraftlose Entwicklung des Vorjahres fortsetzte.Der noch bis zum Jahresende 2002 anhaltende Zu-wachs der Auftragseingänge in Ostdeutschland wurdeseit Beginn des Jahres von einer Abwärtsbewegung ab-gelöst, die Auftragseingänge gingen seit Jahresbeginnum 2,2 vH zurück. Die Auftragseingänge in den altenBundesländern hingegen, die bereits seit Mitte letztenJahres stagnierten, gingen seit Beginn dieses Jahres um2,6 vH zurück.

210. Ein weiteres Maß für die gesamtwirtschaftlicheAktivität in der Industrie und im Dienstleistungsbereichstellt deren Wertschöpfung dar. Die in den Volkswirt-schaftlichen Gesamtrechnungen ermittelte Bruttowert-schöpfung stieg im Jahresverlauf, der Zuwachs von0,2 vH war allerdings so gering wie seit dem Jahr 1993nicht mehr. Das Verarbeitende Gewerbe, auf das rund90 vH der Wirtschaftsleitung des Produzierenden Ge-werbes (ohne Baugewerbe) entfällt, trug in diesem Jahrmit 20,9 vH zur Entstehung des Bruttoinlandsproduktsbei.

Der Zuwachs der Wertschöpfung im Dienstleistungsbe-reich schwächte sich abermals merklich auf 0,6 vH ab,dies ist der geringste Anstieg seit mehr als zehn Jahren.Der schwache Zuwachs der Wertschöpfung spiegeltesich in allen Branchen des Dienstleitungsgewerbes wi-der, wobei das kraftlose erste Halbjahr von einer leichtenBelebung im weiteren Jahresverlauf abgelöst wurde. Imbedeutendsten Dienstleistungsbereich Finanzierung,Vermietung und Unternehmensdienstleistungen, mit ei-nem Anteil von rund 45 vH an der Wertschöpfung desgesamten Dienstleistungsbereichs, reduzierte sich derZuwachs auf 0,5 vH; auch hier konnte ab Jahresmitteeine leicht kräftigere Entwicklung beobachtet werden.Die Wertschöpfung der privaten und öffentlichen Anbie-ter von Dienstleistungen, die knapp 29 vH zur Wirt-

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Auftragslageim Verarbeitenden Gewerbe1)

Früheres Bundesgebiet

1) Ohne die Bereiche Nahrungs- und Genussmittelgewerbe, Che-mische Industrie. Für Kapazitätsauslastung und Auftragsbestände:Befragungen im März, Juni, September, Dezember.– 2) Berechnetals Kapazitätsauslastung in Relation zur Nettoproduktion (2000=100)multipliziert mit dem Auftragseingang (2000=100); saisonbereinigtnach dem Berliner Verfahren – -: BV 4. 3) Durch Auftragsbestände gesicherte Produktionsdauer in Monaten.

Quelle für Kapazitätsauslastung und Auftragsbestände: Ifo

Auftragseingangs-Kapazitäts-Relation2)

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Reichweite der Auftragsbestände3)

SR 2003 - 12 - 0611

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Deutschland in der Stagnation

schaftsleistung im Dienstleistungsbereich beitrugen,nahm lediglich um 0,2 vH zu.

211. Gemäß der DIHK-Umfrage unter mehr als25 000 Unternehmen im Herbst 2003 wurde die wirt-schaftliche Lage im Dienstleistungsbereich binnen Jah-resfrist wieder besser bewertet. Auch innerhalb desDienstleistungssektors scheinen die unternehmensinter-nen Restrukturierungs- und Rationalisierungsmaßnah-men allmählich ihre Wirkung zu entfalten. Die Ge-schäftslage in den zuletzt unter Druck geratenenBranchen, hierunter zählen unter anderem die Kredit-wirtschaft, die Finanzdienstleister und die Versiche-rungswirtschaft, wird wieder deutlich optimistischereingeschätzt. Die inländische Investitionszurückhal-tung und die hohe Zahl der Insolvenzen belasteten aberweiterhin das Kreditgewerbe. Die Geschäftserwartun-gen im Einzelhandel sowie im Dienstleistungsbereichverbesserten sich im Jahresverlauf, wenngleich für denEinzelhandel, für das Gastgewerbe und für die Ver-kehrswirtschaft weiterhin Negativsalden zu verzeich-nen waren.

212. Trotz der verhaltenen Stimmung der Verbraucherstieg die Wertschöpfung des Einzelhandels (ohne Kraft-fahrzeuge, Reparatur von Gebrauchsgütern) aufgrundstarker Zuwächse in der ersten Jahreshälfte um 1,4 vH.Die deutlichen Umsatzeinbußen, die im letzten Jahr zuverzeichnen waren, konnten in diesem Jahr jedoch nichtkompensiert werden. Die schwache Entwicklung der ge-samtwirtschaftlichen Aktivität und der fortgesetzte Be-schäftigungsabbau prägten auch die Umsatzentwick-lung. Die erzielten Umsätze im Einzelhandel lagenpreisbereinigt in den ersten acht Monaten um 0,9 vH un-ter dem entsprechenden Vorjahreszeitraum, wobei dieZurückhaltung der Verbraucher weite Teile des Einzel-handels betraf.

Preisentwicklung: Niedrige Inflationsraten – aber keine Deflation

213. Nach einer Vorjahresdurchschnittsrate in Höhevon 1,4 vH pendelte die Inflationsrate – gemessen amVerbraucherpreisindex – im Jahresverlauf um 1,1 vH,mit leicht abnehmender Tendenz zum Jahresbeginn undleicht steigender Tendenz zum Jahresende (Schau-bild 39). Damit wies Deutschland erneut die niedrigsteInflationsrate unter den Mitgliedern des Euro-Raumsauf. Verantwortlich für die – wenn auch geringen –Schwankungen war vor allem die maßgeblich ölpreisbe-dingte Entwicklung der Energiepreise sowie der schwan-kende Euro-Wechselkurs. Mit dem Anziehen der Öl-preise und der Korrektur des Euro-Wechselkurses imzweiten Halbjahr ebbte die – vor allem im zweiten Quar-tal aufkeimende – Diskussion um potentielle Deflations-gefahren wieder ab.

214. Die durch die geopolitischen Unsicherheiten ver-stärkten Schwankungen in der Ölpreisentwicklung sowiedes Euro-Wechselkurses waren auch ursächlich für den

unsteten Verlauf der Importpreise. Der entlastenden Wir-kung der Euro-Aufwertung stand zunächst ein anstei-gender Ölpreis entgegen, so dass sich die Wechselkurs-bewegung nicht im Index der Importpreise niederschlug(Schaubild 40, Seite 132). Erst mit dem sich abzeichnen-den Abschluss der Kampfhandlungen im Irak Ende Märzbegannen die Ölpreise zu sinken und wirkten nun in diegleiche Richtung wie die Euro-Aufwertung, so dass sichauch die Importpreise verringerten. Der Ölpreisanstiegim Juni und das vorübergehende Ende der Euro-Aufwer-tung kehrten die Importpreisentwicklung um. Die Erzeu-gerpreise stiegen im Januar und Februar aufgrund anzie-hender Energiepreise zunächst noch, gingen von Aprilbis Mai vorübergehend energiepreisbedingt zurück, umim weiteren Jahresverlauf mit dem Ölpreisanstieg wie-der anzuziehen.

215. Von den übrigen Komponenten des Verbraucher-preisindex stiegen vor allem die Preise im Dienstleis-tungsbereich an. Der Preisrückgang bei Nahrungsmit-teln verringerte sich bis zur Jahresmitte und ging dannin leicht positive Inflationsraten über. Die Preise fürgewerbliche Waren blieben im Jahresverlauf weitge-hend konstant. Die deutsche Kerninflationsrate – ohneEnergie und unverarbeitete Nahrungsmittel – lag imJahresverlauf auf einem Niveau zwischen 0,7 vH und1,0 vH.

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J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

Entwicklung der Verbraucherpreisein Deutschland1)

Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat

HVPI,ingesamt (100)

HVPI ohne Energieund unverarbeiteteNahrungsmittel (85,5)

1) Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI); Index 1996 = 100.Angaben in Klammern: Wägungsgewichte in vH für das Jahr 2003.

SR 2003 - 12 - 0660

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

2. Arbeitsmarkt: Weiterhin Warten auf die Wende

216. Die Entwicklung am Arbeitsmarkt hat imJahr 2003 entgegen den Erwartungen die Talsohle nochnicht erreicht. Stattdessen kam es zu einer weiteren Ver-schlechterung der Lage, die sich im Jahresverlauf etwasabflachte. Die Zahl der Erwerbstätigen ging im Vergleichzum Vorjahr überraschend stark um 545 000 Personenauf 38,13 Millionen Personen zurück; die Arbeitslosig-keit stieg um 323 000 Personen auf 4,38 Millionen Per-sonen (Tabelle 25). Im April und im Mai dieses Jahres er-reichte sie sogar die jeweils höchsten Werte für dieseMonate seit der deutschen Vereinigung. Die verdeckteArbeitslosigkeit hingegen nahm weiter ab und belief sichim Jahresmittel auf 1,61 Millionen Personen. Im Gefolgeder durch die Vorschläge der „Kommission für moderneDienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz-Kommission)angestoßenen Reformen wurden die Mitwirkungsanfor-derungen an Arbeitslose verschärft, und es kam zu einemdeutlichen Rückgang von „Beschäftigung schaffendenMaßnahmen“ sowie der beruflichen Weiterbildung. Be-schlossen wurden außerdem ein Umbau der Bundesan-stalt für Arbeit und mit der Integration der Arbeitslosen-hilfe in eine neue Sozialhilfe eine umfassende Reformder Lohnersatzleistungen, doch bedürfen wichtige Teileder Reform noch der Zustimmung des Bundesrates.

Erwerbstätigkeit und Zahl der Erwerbspersonen rückläufig

217. Die Zahl der Erwerbstätigen ging im Jahr 2003 imVergleich zum Vorjahr um 1,4 vH zurück. Dies war derstärkste Einbruch seit dem Jahr 1993. Wie bereits imvergangenen Jahr gab es einen überdurchschnittlich star-ken Beschäftigungsabbau im Verarbeitenden Gewerbeund im Baugewerbe. Bei den Dienstleistungen nahm dieBeschäftigung in den Bereichen „Finanzierung und Ver-mietung“ und „öffentliche und private Dienstleister“noch geringfügig zu, während sie sich in den Bereichen„Handel“, „Gastgewerbe“ und „Verkehr“ verringerte.Mit dem allgemeinen Rückgang der Beschäftigung sankauch die Nachfrage nach ausländischen Fachkräften fürInformations- und Kommunikationstechnologien. EndeSeptember waren seit Einführung der Green-Card-Ver-ordnung 15 065 entsprechende Arbeitserlaubnisse er-teilt worden. Gegenüber Jahresbeginn bedeutete dieszwar noch eine Zunahme um 2 479 Fälle, doch flachteder Zuwachs im Vergleich zum Vorjahreszeitraum etwasab. Die Verordnung, die zum 31. Juli dieses Jahres aus-gelaufen wäre, wurde gleichwohl bis zum Ende desJahres 2004 verlängert.

218. Eine Unterscheidung der Erwerbstätigkeit inDeutschland nach Gebietsständen ist – allerdings nurnäherungsweise – anhand der sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigung möglich. Sie sank im gesam-ten Bundesgebiet prozentual noch deutlich stärker alsdie Zahl der Erwerbstätigen, wobei der Rückgang dersozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in Ost-deutschland und dort speziell im Baugewerbe besondersausgeprägt war. Die Zahl der Selbständigen in Deutsch-

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J A J O J A J O J A J O J A J O2000 2001 2002 2003

Entwicklung der Außenhandelspreise,Rohstoffpreise und Erzeugerpreise

Veränderung gegenüber dem Vorjahr

HWWA-Index1)

(rechte Skala)

Einfuhrpreise2)

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Ausfuhrpreise2)

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1) HWWA-Index der Weltmarktpreise für Rohstoffe auf Euro-Basis(2000=100). Energierohstoffe (Kohle und Rohöl). Skala gegenüberder bei den Außenhandelspreisen gestaucht.– 2) Index der Einfuhr-und Ausfuhrpreise (1995=100).– 3) Index der Erzeugerpreise ge-werblicher Produkte (1995=100) nach dem Systematischen Gü-terverzeichnis für Produktionsstatistiken, Ausgabe 1995. Die Zah-len in Klammern geben das jeweilige Gewicht am Gesamt-indexzum Zeitpunkt des Basisjahres in vH an.

Energie (20,2)

Insgesamt (100)

Vorleistungsgüter-produzenten undEnergie (51,5)

Außenhandelspreise und Rohstoffpreise

Erzeugerpreise3)

SR 2003 - 12 - 0626

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Page 159: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

land hingegen betrug 4,13 Millionen Personen und nahmgegenüber dem Vorjahr merklich zu.

Anders als in den Vorjahren ging das geleistete Arbeits-volumen mit 1,4 vH ähnlich stark zurück wie die Er-werbstätigkeit. Das Angebot an gemeldeten Stellenverringerte sich im Jahresmittel auf 351 000 Stellen undlag um 100 000 Stellen unter dem des Vorjahres.

219. Welche Bedeutung die zum 1. April 2003 in Kraftgetretene Reform der geringfügigen Beschäftigungs-verhältnisse für die Entwicklung der Erwerbstätigkeitund des Arbeitsvolumens hat, lässt sich noch nicht ver-lässlich abschätzen. Ende September 2003 lagen dernunmehr als zentrale Melde- und Einzugsstelle fungie-renden Bundesknappschaft etwa 5,88 Mio Meldungenüber geringfügig Beschäftigte vor, doch lässt sich diese

Zahl konzeptionell nicht direkt mit den von der Bundes-anstalt für Arbeit ermittelten Zahlen vergleichen, diesich im Vorjahresmonat auf 4,10 Millionen und imMärz 2003 auf 4,14 Millionen geringfügig Beschäftigtebeliefen, denn die Bundesanstalt wies im Unterschiedzur Bundesknappschaft bisher nicht alle geringfügig Be-schäftigten, sondern nur geringfügig Beschäftigte ohnesozialversicherungspflichtige Hauptbeschäftigung aus.Die Differenz zwischen den Zahlen der Bundesknapp-schaft und denjenigen der Bundesanstalt für Arbeit istdaher nicht nur auf neue Stellen, die Ummeldung vonStellen mit Bruttoeinkommen zwischen dem alten unddem neuen, höherem Schwellenwert oder die Legalisie-rung bestehender Stellen zurückzuführen, sondernberuht zu einem ganz erheblichen Teil auch aufNebenbeschäftigungen von Personen, die bereits eine

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2000 2001 2002 20032) 2000 2001 2002 20032)

Personen

Erwerbspersonen3)4) ................................... 41 746 41 961 42 006 41 741 407 215 45 - 265

Erwerbslose5) .......................................... 3 065 3 110 3 396 3 675 - 268 45 286 279

Pendlersaldo6) ......................................... 67 60 61 60 2 - 7 1 - 1

Erwerbstätige7) ....................................... 38 748 38 911 38 671 38 126 677 163 - 240 - 545

Selbständige ....................................... 4 001 4 077 4 090 4 134 62 76 13 44

Arbeitnehmer ..................................... 34 747 34 834 34 581 33 992 615 87 - 253 - 589

Registrierte Arbeitslose8) ........................... 3 889 3 852 4 060 4 383 - 210 - 37 208 323

davon:

im früheren Bundesgebiet ohne Berlin .. 2 380 2 320 2 498 2 755 - 224 - 60 178 257

in den neuen Bundesländern und Berlin 1 508 1 532 1 563 1 628 13 24 31 65

Verdeckt Arbeitslose9) ............................... 1 810 1 760 1 749 1 612 - 121 - 50 - 11 - 137

davon:

im früheren Bundesgebiet ohne Berlin .. 978 1 015 1 061 1 040 5 37 46 - 21

in den neuen Bundesländern und Berlin 832 744 687 571 - 126 - 88 - 57 - 116

Gemeldete offene Stellen8)10) ..................... 514 506 451 351 58 - 8 - 55 - 100

Quoten (vH)

Arbeitslosenquote8)11) ................................ 9,6 9,4 9,8 10,5

Quote der offenen und verdeckten

Arbeitslosigkeit12) ................................... 13,2 12,9 13,4 13,9

EU-standardisierte Erwerbslosenquote13) .. 7,8 7,8 8,6 9,3

1) Jahresdurchschnitte. - 2) Eigene Schätzung. - 3) Personen im erwerbsfähigen Alter, die ihren Wohnort in Deutschland haben (Inländerkon-zept). - 4) In der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. - 5) Abgrenzung nach der Definition der Internationalen Arbeits-organisation (ILO). - 6) Saldo der erwerbstätigen Einpendler aus dem Ausland / Auspendler in das Ausland. - 7) Erwerbstätige Personen, die einen Arbeitsplatz in Deutschland haben, unabhängig von ihrem Wohnort (Inlandskonzept). - 8) Quelle: Bundesanstalt für Arbeit. - 9) Erläu-terungen siehe Tabelle 26, Seite 137. - 10) Für eine Beschäftigung von voraussichtlich mehr als sieben Kalendertagen. - 11) Anteil der regis-trierten Arbeitslosen an allen zivilen Erwerbspersonen (abhängige zivile Erwerbspersonen, Selbständige, mithelfende Familienangehörige). - 12) Registrierte (offene) und verdeckt Arbeitslose in vH der Erwerbstätigen (Inländerkonzept) abzüglich der Differenz zwischen den registrier-ten Arbeitslosen und den Erwerbslosen (ILO-Definition) plus offen und verdeckt Arbeitslose abzüglich subventioniert Beschäftigte (Inländer-konzept). - 13) Erwerbslose nach dem auf der Abgrenzung des ILO basierenden Konzepts der EU, bezogen auf alle Erwerbspersonen.

Der Arbeitsmarkt in Deutschland1)

Tausend Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Tausend

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Page 160: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

sozialversicherungspflichtige Hauptbeschäftigung ausü-ben. Derartige Nebenbeschäftigungen sind unter dem Ge-sichtspunkt der Steuer- und Abgabenbelastung nach derReform wieder deutlich attraktiver geworden und werdenvon der Bundesanstalt für Arbeit erst seit April 2003 er-fasst, die für den betreffenden Monat eine Zahl von1,21 Millionen Personen mit geringfügig entlohnten Ne-bentätigkeiten ausweist. Gleichzeitig stieg gegenüberMärz 2003 die Zahl der geringfügig Beschäftigten ohnesozialversicherungspflichtige Hauptbeschäftigung um152 000 Personen, wobei der größte Teil des Anstiegs aufdie Ummeldung von Stellen zurückzuführen sein dürfte.

Betrachtet man, unter Berücksichtigung der einge-schränkten Vergleichbarkeit, die jeweiligen Anteile vonPersonen im Alter von mindestens 55 Jahren sowie vonPersonen jünger als 20 Jahre an allen geringfügig ent-lohnten Beschäftigten, so ergeben sich zumindest Hin-weise für eine gewisse Strukturverschiebung. EndeSeptember 2002 – zur Ausschaltung von Saisoneffektenist ein Vergleich mit dem Vorjahresmonat statt mit denaktuelleren Daten für den März 2003 sinnvoll – betrugder Anteil der unter 25-Jährigen an den geringfügig ent-lohnten Beschäftigten ohne sozialversicherungspflich-tige Hauptbeschäftigung 19,0 vH, von denen etwa dreiFünftel unter 20 Jahre alt und damit häufig Schüler wa-ren. Ende September 2003 belief sich der Anteil der un-ter 25-Jährigen an allen geringfügig entlohnten Beschäf-tigten auf 19,8 vH, doch waren von ihnen etwas wenigerals die Hälfte (46,5 vH) jünger als 20 Jahre. Bei Perso-nen im Alter von mindestens 55 Jahren, viele von ihnentypischerweise Rentner oder Pensionäre, machte der An-teil an den erfassten geringfügig entlohnten Beschäftig-ten ohne sozialversicherungspflichtige Hauptbeschäfti-gung Ende September 2002 31,4 vH aus, während sichder entsprechende Anteil an allen geringfügig entlohntenBeschäftigten im September 2003 auf nur 25,0 vH be-lief. Dies stellt zumindest ein gewisses Indiz dafür dar,dass durch die Reform der Niedriglohnbereich für zu-sätzliche Personengruppen erschlossen wurde.

220. Die Zahl der Erwerbspersonen ging gegenüberdem Vorjahr deutlich zurück. Das Erwerbspersonen-potential hingegen stieg nach Berechnungen des Institutsfür Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg,im Jahresdurchschnitt um etwa 100 000 Personen. Dabeiübertrafen in Westdeutschland die Effekte aus dem wei-teren Anstieg der Erwerbsneigung der Frauen und einpositiver Saldo aus Wanderungen und Pendlern den alte-rungsbedingten Rückgang der Erwerbspersonenzahl. InOstdeutschland hingegen hielten sich die gegenläufigenEffekte aus Demographie und Verhaltensänderungen inetwa die Waage, so dass der Hauptbeitrag zur Verringe-rung des Arbeitsangebots aus Wanderungsverlusten ins-besondere gegenüber Westdeutschland und einem weite-ren Anstieg des Pendlersaldos resultierte. Während sichim Jahr 2002 die Erwerbsquoten der Männer, bezogenauf die Zahl der Männer im erwerbsfähigen Alter, zwi-schen den beiden Gebietsständen kaum unterschieden,belegt bei den Frauen eine Erwerbsquote von 63,6 vH inWestdeutschland gegenüber einer Erwerbsquote von72,6 vH in den neuen Bundesländern die weiterhin beste-henden merklichen Unterschiede in der Erwerbsneigung.

Arbeitslosigkeit weiter gestiegen

221. Nach einer starken Zunahme im ersten Quartalverlangsamte sich in den folgenden Quartalen der An-stieg der saisonbereinigten Arbeitslosigkeit und kam inder zweiten Jahreshälfte zum Stillstand (Schaubild 41).Im Jahresdurchschnitt stieg die Arbeitslosigkeit auf4,38 Millionen Arbeitslose und lag damit um323 000 Personen höher als im Vorjahr. Die Arbeits-losenquote, gemessen als Anteil der registrierten Ar-beitslosen an allen zivilen Erwerbspersonen, stieg um0,7 Prozentpunkte auf 10,5 vH. Die international ver-gleichbare standardisierte Erwerbslosenquote, bei derdie Definition der Arbeitslosigkeit im Ergebnis engerabgegrenzt ist, nahm ebenfalls um 0,7 Prozentpunkte auf9,3 vH zu und befand sich damit wie bereits im Vorjahrüber dem Durchschnitt des Euro-Raums (Ziffer 122).

Die Arbeitslosenquote für Westdeutschland lag nach na-tionaler Abgrenzung bei 8,4 vH und damit um 0,8 Pro-zentpunkte höher als im Jahr 2002. In Ostdeutschland(einschließlich Berlin) ist sie mit 18,6 vH weiterhinmehr als doppelt so hoch; dort betrug die Zunahme ge-genüber dem Vorjahr 0,9 Prozentpunkte.

Bei den Arbeitslosenquoten für Westdeutschland undOstdeutschland ist zu berücksichtigen, dass in der Statis-tik der Bundesanstalt für Arbeit seit Jahresbeginn Berlinzu den neuen Bundesländern gezählt wird, wodurch diein der Vergangenheit immer wieder aufgetretenen Ab-grenzungsprobleme in den Arbeitsamtsbezirken Berlinsentfallen. Da die Arbeitslosenquote in Berlin höher alsim Mittel des übrigen früheren Bundesgebiets, aberniedriger als im Mittel des Beitrittsgebiets ist, sind durchdie Umstellung der Statistik die Arbeitslosenquoten inbeiden Gebietsständen etwas niedriger als nach der al-ten Abgrenzung. Die gesamtdeutsche Arbeitslosenquoteändert sich dadurch selbstverständlich nicht.222. Für den September 2003 liegen detailliertere In-formationen zur Struktur der Arbeitslosigkeit vor. Da-nach betrug der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allenArbeitslosen 36,4 vH und lag damit leicht über dem Vor-jahr. Arbeitslose älter als 55 Jahre, die 11,3 vH allerArbeitslosen ausmachten, waren unter den Langzeitar-beitslosen mit einem Anteil von 17,0 vH deutlich über-repräsentiert, während Personen ohne abgeschlosseneBerufsausbildung 34,4 vH aller Arbeitslosen und 36,1 vHaller Langzeitarbeitslosen stellen. Der Anteil von Ar-beitslosen unter 25 Jahren belief sich auf 12,3 vH allerArbeitslosen, wobei der Anteil der unter 20-Jährigen mit2,2 vH weiterhin sehr niedrig war. Für die Langzeitar-beitslosigkeit haben Jüngere keine Bedeutung, der An-teil der unter 25-Jährigen betrug lediglich 2,6 vH.

223. In diesem Jahr verstärkten sich die Abgänge ausder Arbeitslosigkeit, insbesondere solche in sonstigeNichterwerbstätigkeit und in Selbständigkeit, weiter(Schaubild 42, Seite 136). Der Anstieg der Abgänge insonstige Nichterwerbstätigkeit ist auf Nichterneuerung derMeldung, auf fehlende Mitwirkung und auf Austritte nachder vorruhestandsähnlichen Regelung des § 428 SGB IIIzurückzuführen. Die Zunahme der ersten beiden Gründehat ihre Ursache insbesondere in den unter dem Schlag-wort „Fördern und Fordern“ zusammengefassten höhe-

134

Page 161: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

ren Anforderungen an die Mitwirkung und die Eigenini-tiative der Arbeitslosen. Ein Indiz für die zumindestvorübergehende Abmeldung von Nichtleistungsempfän-gern ist zudem der Anstieg der Leistungsempfänger-quote, die als der Anteil der arbeitslosen Empfänger vonArbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Eingliede-rungshilfe, nicht aber beispielsweise der Bezieher vonArbeitslosengeld gemäß § 428 SGB III (vorzeitiger Ru-hestand), an allen registrierten Arbeitslosen definiert ist.Die Leistungsempfängerquote stieg von 78,8 vH imJahr 2002 auf zuletzt 81,4 vH Ende August. Die Zu-nahme der Abgänge in Selbständigkeit kann durch dievermehrt in Anspruch genommene direkte Förderung re-gulärer Beschäftigung erklärt werden, mit der sowohlder Übergang in eine abhängige als auch in eine selb-ständige Beschäftigung unterstützt wird. Im Oktober lag

der Teilnehmerbestand mit 296 000 Personen um22,0 vH höher als im Vorjahr. Besonders stark ausgewei-tet wurden Einstellungszuschüsse bei Neugründungen(28,9 vH), das Überbrückungsgeld (19,7 vH) und derneu eingeführte Existenzgründungszuschuss, den im Ok-tober knapp 73 000 Personen in Anspruch nahmen.

In Übereinstimmung mit dem kräftigen Rückgang derZahl der Erwerbstätigen gab es merklich mehr Zugängein Arbeitslosigkeit aus Erwerbstätigkeit. Dies verdeut-licht, dass trotz des in einigen Monaten zu beobachten-den Rückgangs der saisonbereinigten Arbeitslosigkeitnoch keine Entspannung am Arbeitsmarkt eintrat, zumaldas Potential zur Verringerung der registrierten Arbeits-losigkeit, das sich aus den verschärften Anforderungenan die Mitwirkung der Arbeitslosen ergibt, zwar nochvorhanden, aber gleichwohl begrenzt ist.

S c h a u b i l d 41

Jahresdurchschnitte2)

Entwicklung der registrierten Arbeitslosigkeit1)

1) Monatsendstände. Dünne Linien: Grundzahlen; dicke Linien: Saisonbereinigte Werte; Bereinigung nach dem Census-Verfahren II, Version X-11.– 2) Jahr 2003:Eigene Schätzung.

Quelle für Grundzahlen: BA

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

4,5

5,0

0

Millionen Personen

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

4,5

5,0

0

Millionen Personen

1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003

Deutschland

Neue Bundes-länder und Berlin

Früheres Bundes-gebiet ohne Berlin

SR 2003 - 12 - 0642

135

Page 162: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

224. Die verdeckte Arbeitslosigkeit sank, verstärktdurch ein kräftiges Umsteuern im arbeitsmarktpoliti-schen Instrumentarium, im Vergleich zum Vorjahr um137 000 Personen auf 1,61 Millionen Personen; auf-grund des weiterhin fallenden Trends wurde gegen Endedes Jahres die Schwelle von 1,6 Millionen deutlich un-terschritten (Tabelle 26). Zwar stieg die Inanspruch-nahme der vorruhestandsähnlichen Regelung des § 428SGB III auf 357 000 Personen. Dieser Anstieg wurde je-doch insbesondere durch eine deutliche Rückführungvon „Beschäftigung schaffenden Maßnahmen“ und„Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung“ sowiedurch eine geringe Anzahl von Beziehern von Rente we-gen Arbeitslosigkeit überkompensiert. Insgesamt sankdie Zahl der in „Beschäftigungsschaffende Maßnahmen“Tätigen um 27,5 vH, die Zahl der Teilnehmer an „Maß-nahmen der beruflichen Weiterbildung in Vollzeit“ um27,7 vH und die Zahl der Bezieher von Rente wegen Ar-beitslosigkeit um 10,4 vH im Vergleich zum Jahr 2002.Auch die Zahl der Kurzarbeiter ging leicht auf202 000 Personen zurück.

Die im Rahmen der Umsetzung der Vorschläge derHartz-Kommission neu eingeführten arbeitsmarktpoliti-schen Instrumente der Personal-Service-Agenturen

(PSA) und des Existenzgründungszuschusses („Ich-AG“) erfordern eine Überprüfung der bisherigen Ab-grenzung der subventioniert Beschäftigten als Teil derverdeckten Arbeitslosigkeit. Zu den subventioniert Be-schäftigten zählt der Sachverständigenrat diejenigenPersonen, deren verdeckte Arbeitslosigkeit sich wie etwadie der in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Tätigenquantifizieren lässt (Anhang IV B), jedoch keine Perso-nen, die durch die Förderung eine Stelle auf dem erstenArbeitsmarkt finden, wie beispielsweise die Empfängereiner Lohnsubvention. Da die in Personal-Service-Agen-turen Beschäftigten und die Bezieher eines Existenz-gründungszuschusses auf dem ersten Arbeitsmarkt tätigsind, werden auch sie nicht zu den verdeckt Arbeitslosengezählt. Zusätzlich zu berücksichtigen wären hingegendie Teilnehmer an den von der Bundesregierung in die-sem Jahr neu aufgelegten Programme gegen Langzeit-arbeitslosigkeit („Arbeit für Langzeitarbeitslose“ fürArbeitslose ab 25 Jahren und „JUMP-Plus“ für Jugend-liche zwischen 15 und 25 Jahren). Die Programme be-finden sich mit Teilnehmerzahlen um 1 800 beziehungs-weise 9 600 (Stand Ende Oktober) gegenwärtig jedochnoch in der Anlaufphase, so dass stärkere Auswirkungenauf die verdeckte Arbeitslosigkeit gegebenenfalls erst imJahr 2004 zu erwarten sind.

225. Eine Verzerrung bei der Erfassung der Arbeits-losigkeit ergibt sich auch dadurch, dass unter den regist-rierten Arbeitslosen Personen sind, die dem Arbeits-markt nicht zur Verfügung stehen, keine Leistungenbeziehen und sich nur zur Wahrung sozialrechtlicher An-sprüche arbeitslos melden, ohne aktiv eine Arbeit zu su-chen. Während die verdeckt Arbeitslosen und die– allerdings nur schwer zu quantifizierende – Stille Re-serve zur Zahl der registrierten Arbeitslosen hinzuge-rechnet werden müssen, um die tatsächliche Zahl der Ar-beitssuchenden auszuweisen, müssten diese auf demArbeitsmarkt nicht aktiven, nur durch das Sozialrecht alsarbeitslos registrierten Personen von der Zahl der regist-riert Arbeitslosen abgezogen werden. Auf der Basis ei-ner Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-rufsforschung (IAB), Nürnberg, aus dem Jahr 2000 liegtihr Anteil an allen Arbeitlosen bei rund 1 vH. Da dieserPersonenkreis jedoch nur mit großer Ungenauigkeit be-stimmt werden kann, unterbleibt eine Berücksichtigungbei der offenen Arbeitslosigkeit.

Berufsausbildungsstellenmarkt angespannt

226. Die Lage auf dem Berufsausbildungsstellenmarktstellte sich aufgrund eines deutlich gestiegenen Bewer-berüberhangs von 20 175 Personen noch angespannterdar als im Vorjahr und stieß erneut eine Diskussion überdie Möglichkeiten einer staatlichen Intervention in Formeiner Ausbildungsplatzabgabe an. Während die Bewer-berzahlen leicht um 1,1 vH zunahmen, ging die Zahl dergemeldeten Berufsausbildungsstellen deutlich um 6,7 vHzurück (Tabelle 27, Seite 138). Selbst in Westdeutsch-land, wo, mit Ausnahme der Jahre 1997 und 1998, seitder Vereinigung am Ende des Berufsberatungsjahres einStellenüberhang vorlag, ergab sich ein Bewerberüber-hang von 8 273 Personen. In Ostdeutschland sank das

S c h a u b i l d 42

1

2

3

4

5

6

7

8

9

0

Millionen Personen

1

2

3

4

5

6

7

8

9

0

Millionen Personen

1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 2003

1) Jahressummen. ) E– a igene Schätzung.Quelle: BA

Zugänge inregistrierteArbeitslosigkeit

Abgänge ausregistrierterArbeitslosigkeit

Bewegungen am Arbeitsmarkt1)

Neue Bundesländer und Berlin

Früheres Bundesgebiet ohne Berlin

Deutschland

SR 2003 - 12 - 0666

a)1993

136

Page 163: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

Ta b e l l e 26

(2) + (3)(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12)

1999 6 030 4 099 1 931 430 333 27 200 16 810 65 50 119 2000 5 699 3 889 1 810 316 324 28 192 32 797 75 46 86 2001 5 612 3 852 1 760 243 315 25 228 49 765 76 59 123 2002 5 810 4 060 1 749 193 300 24 294 61 705 85 88 207 2003 5 995 4 383 1 612 138 217 22 357 69 632 88 88 202

2002 1.Vj. 5 960 4 215 1 744 197 293 27 265 58 731 78 95 239 2.Vj. 5 756 4 009 1 747 185 309 23 286 59 714 86 85 216 3.Vj. 5 736 4 004 1 730 190 293 21 306 61 697 80 82 178 4.Vj. 5 784 4 013 1 773 198 303 24 319 64 679 96 88 194

2003 1.Vj. 6 280 4 582 1 699 157 264 27 332 67 660 91 100 222 2.Vj. 6 062 4 423 1 639 138 230 22 352 67 640 95 95 230 3.Vj. 5 869 4 299 1 569 133 197 19 368 70 620 86 76 172 4.Vj. 5 769 4 226 1 543 129 176 21 377 71 607 81 81 184

1999 3 577 2 604 973 67 182 20 107 12 511 38 36 90 2000 3 358 2 380 978 59 177 21 104 25 517 43 32 59 2001 3 335 2 320 1 015 53 169 19 134 39 514 45 43 94 2002 3 559 2 498 1 061 42 162 18 183 48 493 51 64 162 2003 3 795 2 755 1 040 30 124 17 227 54 463 55 70 165

2002 1.Vj. 3 636 2 584 1 052 44 155 21 162 46 503 47 75 198 2.Vj. 3 506 2 442 1 065 42 168 18 177 46 497 51 66 176 3.Vj. 3 511 2 461 1 050 42 159 16 191 48 490 49 55 128 4.Vj. 3 584 2 505 1 079 41 166 19 201 51 483 57 61 147

2003 1.Vj. 3 945 2 871 1 074 35 144 22 211 53 475 56 78 181 2.Vj. 3 823 2 766 1 057 31 132 18 222 52 467 58 77 190 3.Vj. 3 726 2 705 1 021 28 116 15 234 55 458 54 61 140 4.Vj. 3 688 2 678 1 010 27 104 16 240 56 452 52 63 150

1999 2 453 1 495 958 363 151 6 93 5 299 27 14 29 2000 2 340 1 508 832 257 148 6 88 7 280 32 14 27 2001 2 276 1 532 744 190 146 6 94 10 251 32 16 29 2002 2 250 1 563 687 150 138 5 112 13 212 34 23 45 2003 2 199 1 628 571 108 92 5 131 15 169 33 18 37

2002 1.Vj. 2 325 1 632 693 154 138 6 103 13 228 32 20 41 2.Vj. 2 250 1 567 683 143 142 5 109 13 217 35 19 40 3.Vj. 2 224 1 543 681 148 134 4 115 13 207 31 27 50 4.Vj. 2 202 1 508 694 158 138 5 118 14 196 38 27 48

2003 1.Vj. 2 336 1 711 625 123 119 6 122 14 185 35 21 41 2.Vj. 2 239 1 658 581 107 98 5 130 14 173 37 18 39 3.Vj. 2 143 1 594 549 105 81 4 134 15 162 32 16 32 4.Vj. 2 081 1 548 533 102 72 5 137 15 155 29 18 34

1) Zu den Einzelheiten siehe Anhang IV B. - 2) Abweichungen in den Summen durch Runden der Zahlen. Jahreswerte aus gerundeten Quartals-werten berechnet. 4. Vierteljahr 2003 und Jahreswert 2003 eigene Schätzung. - 3) Einschließlich weiterer Personen in vorzeitigem Ruhestand (Empfänger von Altersübergangsgeld und Vorruhestandsgeld, im Jahr 1999: 527 Personen). - 4) Vierteljahresdurchschnitte aus Monatsendstän-den berechnet, wobei der Stand am Ende des letzten Monats des Vorquartals und am Ende des dritten Monats des Berichts'quartals jeweils zur Hälfte berücksichtigt werden. - 5) Neben den Teilnehmern an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (§§ 260 bis 271, 416 SGB III) sind auch die Teil-nehmer an Strukturanpassungsmaßnahmen (§§ 272 bis 279, einschließlich § 415 SGB III bis 31.12.2002) und in beschäftigungsschaffenden Infra-strukturmaßnahmen (§ 279a SGB III) berücksichtigt. - 6) Erfasst nach dem Wohnortprinzip (ohne Einarbeitung). - 7) 58-jährige und ältere Leis-tungsempfänger, die der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stehen müssen und nicht als registrierte Arbeitslose gezählt werden. - 8) Personen in vorzeitigem Ruhestand, die sich in der Freistellungsphase Altersteilzeit befinden (nur von der Bundesanstalt für Arbeit geförderte Fälle). - 9) 60- bis unter 65-Jährige. Eigene Schätzung nach Angaben des BMWA, des VDR und der Bundesknappschaft; früheres Bundesgebiet und Berlin-West, neue Bundesländer und Berlin-Ost. - 10) Arbeitsunfähige Personen, die Leistungen empfangen, aber nicht als registrierte Ar-beitslose gezählt werden. - 11) Anzahl der Kurzarbeiter multipliziert mit ihrem durchschnittlichen Arbeitsausfall.

Quelle für Grundzahlen: BA

Früheres Bundesgebiet ohne Berlin

Neue Bundesländer und Berlin

Offene und verdeckte Arbeitslosigkeit in Deutschland1)

Tausend Personen

Teilnehmer an

Verdeckt Arbeitslose3)

Personen in vorzeitigem Ruhestanddavon

Freistel-lungs-phaseAlters-

teil-

zeit4)8)

Alters-rente

wegenArbeits-

losigkeit9)

Deutschland

Zeitraum2)

Offeneund ver-

decktArbeits-

lose

Regist-rierte

(offene)Arbeits-

lose4)

(4) bis(11)

beschäfti-gungs-

schaffen-den

Maßnah-

men4)5)

zusam-men

berufli-cher

Weiterbildungin Voll-

zeit4)6)

Deutsch-Sprach-lehrgän-

gen4)

Per-sonennach§ 428

SGB III7)

Leis-tungs-

empfän-ger nach

§ 126

SGB III10)

Kurz-arbeiter:Arbeits-losen-

äquiva-

lent11)

Nach-richtlich:

Anzahlder

Kurz-arbeiter

137

Page 164: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Ta b e l l e 27

Berufsausbildungsstellenmarkt in Deutschland

1994/95 1995/96 1996/97 1997/98 1998/99 1999/2000 2000/01 2001/02 2002/03

Früheres BundesgebietIm Berichtszeitraum (Oktober bis September)

Bei den Arbeitsämtern gemel-dete Berufsausbildungsstellen .. Personen 512 811 490 092 476 379 473 810 491 122 498 098 497 275 465 051 427 287

vH1)-8,7 -4,4 -2,8 -0,5 3,7 1,4 -0,2 -6,5 -8,1

Bewerber ................................... Personen 478 383 508 038 546 390 567 273 568 027 545 952 509 012 491 237 501 956

vH1)5,1 6,2 7,5 3,8 0,1 -3,9 -6,8 -3,5 2,2

Am Ende des Berichtszeitraums (September)

Unbesetzte Berufsausbildungs-stellen ........................................ Personen 43 231 33 866 25 217 22 873 22 748 24 906 23 618 17 123 13 994

Noch nicht vermittelteBewerber ................................... Personen 19 396 24 637 32 190 23 359 19 592 15 174 11 962 13 180 22 267

Stellenüberhang ........................... Personen 23 835 9 229 - - 3 156 9 732 11 656 3 943 - Bewerberüberhang ...................... Personen - - 6 973 486 - - - - 8 273

Neue Bundesländer2)

Im Berichtszeitraum (Oktober bis September)

Bei den Arbeitsämtern gemel-dete Berufsausbildungsstellen .. Personen 120 129 119 040 131 036 130 480 138 129 127 344 133 773 121 093 119 373

vH1)-1,6 -0,9 10,1 -0,4 5,9 -7,8 5,0 -9,5 -1,4

davon:

betrieblich besetzbar3) ............ Personen 99 072 98 254 98 162 92 495 86 932 87 854 87 342 76 619 72 416

vH1)4,4 -0,8 -0,1 -5,8 -6,0 1,1 -0,6 -12,3 -5,5

in über-/außerbetrieblichen

Einrichtungen4) ................... Personen 21 057 20 786 32 874 37 985 51 197 39 490 46 431 44 474 46 957

Bewerber ............................... Personen 191 692 208 754 226 028 229 293 234 621 224 396 228 785 220 156 217 615

vH1)12,0 8,9 8,3 1,4 2,3 -4,4 2,0 -3,8 -1,2

Am Ende des Berichtszeitraums (September)

Unbesetzte Berufsausbildungs-stellen ........................................ Personen 983 1 081 647 531 691 784 917 882 846

Noch nicht vermittelteBewerber ................................... Personen 5 566 13 821 15 231 12 316 9 773 8 468 8 500 10 203 12 748

Stellenüberhang ........................... Personen - - - - - - - - - Bewerberüberhang ...................... Personen 4 583 12 740 14 584 11 785 9 082 7 684 7 583 9 321 11 902

1) Veränderung gegenüber dem Vorjahreszeitraum. - 2) Bis 1995/96 einschließlich Berlin-Ost; ab 1996/97 einschließlich Berlin insgesamt. -3) Durch die unterschiedliche Behandlung der außerbetrieblichen Ausbildungsstellen für Rehabilitanden 2000/2001 ist der Vorjahresvergleicheingeschränkt. - 4) Gemäß § 241 (2) SGB III (vorher § 40c AFG) einschließlich Berufsausbildungsstellen für Rehabilitanden (2001/2002), Ge-meindeinitiativen Ost (1993 bis 1995), Lehrstelleninitiativen (1996 bis 1998), Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit (ab 1999)und Ausbildungsplatzprogramm (ab 1999).

Quelle: BA

Verhältnis zwischen unbesetzten Berufsausbildungsstel-len und der Zahl der noch nicht vermittelten Bewerberweiter von 0,09 im Berufsberatungsjahr 2001/2002 aufknapp 0,07 in diesem Jahr (Kasten 5). Gemäß dem jähr-lich von der Bundesregierung herausgegebenen Berufs-bildungsbericht ist davon auszugehen, dass die Zahl der

Ausbildungsplatzsuchenden in den alten Bundesländernbis zum Jahr 2008 ansteigen wird, um dann in den fol-genden Jahren wieder langsam abzufallen. In den neuenBundesländern hingegen dürfte sich ab Mitte des Jahr-zehnts der bisher geringfügige Rückgang der Bewerber-zahlen beschleunigen.

138

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Deutschland in der Stagnation

K a s t e n 5

Der Berufsausbildungsstellenmarkt in Deutschland

Wichtig zur Charakterisierung des Berufsausbildungsstellenmarkts sind die jeweiligen Merkmale der Auszubil-denden und der Betriebe, einschließlich deren Ausbildungsverhalten, und die Eigenschaften der Ausbildungsver-hältnisse wie beispielsweise deren Dauer oder die Höhe der Vergütungen. Da die betrachteten Kenngrößen nochnicht alle für das Jahr 2002 vorliegen, werden im Folgenden ergänzend auch Daten der Vorjahre verwendet. ImJahr 2002 verfügten Auszubildende mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag am häufigsten über einen Real-schulabschluss, und dies ist auch der am stärksten vertretene Abschluss in dem mit Abstand größten Ausbildungs-bereich „Industrie und Handel“, in dem über die Hälfte aller betrachteten Personen eine Berufsausbildung aufnah-men (Tabelle 28). Im Handwerk hingegen, dem zweitgrößten Ausbildungsbereich, besaßen rund die Hälfte einenHauptschulabschluss.

Ta b e l l e 28

Im Jahr 2002 betrug das durchschnittliche Alter der Auszubildenden mit neu abgeschlossenem Ausbildungsver-trag etwa 19 Jahre. Es hatte zwischen den Jahren 1970 und 1990 von knapp 17 Jahren auf 19 Jahre zugenommenund blieb seitdem, bedingt durch die kürzere Schuldauer in den neuen Bundesländern, unverändert auf diesem Ni-veau. Der Anstieg seit den siebziger Jahren wurde neben einer Verlängerung der Schulzeiten in derSekundarstufe I durch einen höheren Anteil von Abiturienten sowie eine hohe Zahl von Absolventen beruflicherVollzeitschulen verursacht. Betrachtet man einzelne Altersklassen, so war unter den neuen Auszubildenden, fürdie Altersangaben vorliegen, die am stärksten besetzte Altersklasse die der 17-Jährigen mit einem Anteil von23,4 vH. Insgesamt waren nahezu drei Viertel dieser neuen Auszubildenden nicht älter als 19 Jahre.

Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge im Jahr 2002 in Deutschlandnach Ausbildungsbereichen und Schulbildung der Auszubildenden

Insgesamt Davon im jeweiligen Ausbildungsbereich (vH)

Aus-zubil-dende

vHIndustrie

und Handel2)

Hand- werk

Land- wirt-schaft

Öffent- licher

Dienst3)

Freie Berufe3)

Haus- wirt-schaft

See- schiff-fahrt

Hauptschule ohne Abschluss . 15 855 2,8 1,1 5,3 8,4 0,1 0,9 25,8 1,3 Hauptschule mit Abschluss .... 175 286 30,9 22,5 49,5 38,0 5,7 21,1 33,4 11,9 Realschul- oder gleich- wertiger Abschluss ............... 208 755 36,7 38,3 28,3 30,8 63,7 53,2 6,5 67,9 Hochschul-/ Fachhoch- schulreife .............................. 77 423 13,6 19,0 3,7 7,8 22,2 16,2 0,7 17,6 Schulisches Berufsgrundbildungsjahr ..... 14 050 2,5 1,6 4,5 5,7 0,6 0,4 3,5 1,3 Berufsfachschule .................... 42 470 7,5 10,9 3,5 0,7 3,8 4,0 6,1 - Berufsvorbereitungsjahr ......... 12 082 2,1 2,2 2,5 2,8 0,1 0,2 10,6 - Sonstige und ohne Angabe .... 22 161 3,9 4,4 2,6 5,6 3,9 4,1 13,5 -

Verteilung auf die Ausbildungsbereiche

Auszubildende, insgesamt .... 568 082 X 305 003 177 042 14 169 14 680 52 160 4 869 159 Anteil in vH ......................... X 100 53,7 31,2 2,5 2,6 9,2 0,9 0,0

1) Oder zuletzt erreichter Abschluss. - 2) Einschließlich Banken, Versicherungen, Gast- und Verkehrsgewerbe. Einschließlich neu abge-schlossener Anschlussverträge in Stufenausbildung. - 3) Ohne diejenigen Auszubildenden, deren Ausbildungsverträge nach dem Berufs-bildungsgesetz bei anderen zuständigen Stellen (Kammern) außerhalb dieses Ausbildungsbereichs registriert werden.

Schulische Vorbildungdes Auszubildenden1)

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Der Anteil der ausländischen Auszubildenden an allen Auszubildenden in den alten Bundesländern einschließ-lich Berlin sank von 8,7 vH im Jahr 1997 auf 6,8 vH im Jahr 2001, während es in den neuen Bundesländernfast keine ausländischen Auszubildenden gab. Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung hingegen gingim gleichen Zeitraum nur unwesentlich von 9,0 vH auf 8,9 vH zurück.

Zahl und Inhalt der Ausbildungsberufe werden in unregelmäßigen Abständen an gewandelte Erfordernisse an-gepasst. Zur Zeit können Bewerber zwischen 350 Ausbildungsberufen wählen, von denen im abgelaufenenJahr sieben neu hinzukamen und 21 überarbeitet wurden. Die überwiegende Zahl der Ausbildungsplätze wurdein Betrieben, einschließlich Verwaltungsbetrieben, angeboten; im Jahr 2002 betrug der Anteil der zu besetzen-den nichtbetrieblichen Ausbildungsplätze 9,9 vH. Hinter dieser Zahl verbirgt sich eine beträchtliche Diskre-panz zwischen den alten Bundesländern, in denen er bei nur 4,5 vH lag, und den neuen Bundesländern mit29,4 vH.

Der Umfang der Ausbildungstätigkeit von Betrieben lässt sich über das Betriebspanel des Instituts für Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg, ermitteln. Am Stichtag der Erhebung, dem 30. Juni 2001,betrug die Ausbildungsquote, das heißt der Anteil der Auszubildenden an allen Beschäftigten, 4,9 vH. In denalten Bundesländern belief sich die durchschnittliche Ausbildungsquote auf 4,6 vH und nahm mit der Betriebs-größe tendenziell ab. In den neuen Bundesländern hingegen betrug sie 6,2 vH und stieg mit der Betriebsgröße.Systematische Unterschiede zwischen den Gebietsständen bestanden auch hinsichtlich der Ausbildungsberech-tigung und der Ausbildungstätigkeit. Zwar waren unter den Betrieben mit Ausbildungsberechtigung die Anteileder tatsächlich ausbildenden Betriebe mit 54,5 vH in den alten und 55,5 vH in den neuen Bundesländern fastidentisch, doch unterscheiden sich die jeweiligen Grundgesamtheiten: Während von den 1,67 Mio Betrieben inden alten Bundesländern 30,4 vH ausbildeten, aber 25,4 vH dies trotz einer Ausbildungsberechtigung nicht ta-ten und 44,2 vH keine Ausbildungsberechtigung besaßen, war in den neuen Bundesländern der Anteil an den467 000 Betrieben, die keine Ausbildungsberechtigung besaßen, mit 51,3 vH merklich höher; entsprechend bil-deten dort nur 27,0 vH der Betriebe aus, während 21,7 vH trotz Ausbildungsberechtigung keine Auszubilden-den beschäftigten.

Die Dauer der Berufsausbildung liegt je nach Ausbildungsordnung zwischen 24 Monaten und 42 Monaten.Die durchschnittliche voraussichtliche Dauer der im Jahr 2001 neu abgeschlossenen Verträge betrug unter Be-rücksichtigung der Möglichkeit zur Verkürzung der Ausbildung aufgrund bereits erworbener allgemeinbilden-der oder berufsbildender Abschlüsse, die von etwa 16 vH der neuen Auszubildenden wahrgenommen wurde,knapp drei Jahre. Die tarifliche Ausbildungsvergütung belief sich im Jahr 2002, jeweils gemittelt über Aus-bildungsberufe und Ausbildungsjahre, in den alten Bundesländern auf 598 Euro und in den neuen Bundeslän-dern auf 508 Euro. Bei der Interpretation der Zahlen ist zu berücksichtigen, dass die Vergütungen über die Ge-bietsstände, die Ausbildungsberufe und die Ausbildungsjahre stark streuten: So betrug Ende des Jahres 2002die monatliche Vergütung in den drei Ausbildungsjahren in der Bauwirtschaft (ohne kaufmännische Auszubil-dende) in Westdeutschland (ohne Berlin) 541 Euro, 840 Euro und 1 061 Euro, in Ostdeutschland hingegen479 Euro, 668 Euro und 844 Euro. Demgegenüber wurden monatlich im Friseurhandwerk in Nordrhein-West-falen in den drei Ausbildungsjahren 313 Euro, 425 Euro und 527 Euro und im Friseurhandwerk in Sachsen195 Euro, 230 Euro und 320 Euro gezahlt. Im zeitlichen Verlauf lag die Zuwachsrate der Ausbildungsvergü-tungen meist etwas niedriger als die aller Tarifverdienste, nicht aber in den vergangenen drei Jahren in West-deutschland. Die Stagnation in den alten Ländern im Jahr 1997 sowie die Rückgänge in den neuen Ländern inden Jahren 1997 und 1999 sind auf Kürzungen der Ausbildungsvergütungen in den gewerblichen Berufen desBauhauptgewerbes zurückzuführen (Schaubild 43).

Im Jahr 2002 wurden gut 151 000 Ausbildungsverträge vorzeitig gelöst, das sind 24,1 vH der neu abgeschlos-senen Verträge. Dabei war der Anteil der vorzeitig gelösten Verträge in den neuen Bundesländern mit 26,1 vHetwas höher als in den alten Bundesländern (23,5 vH). In der Hälfte der Fälle führte die Vertragslösung indesnicht zum endgültigen Abbruch der Berufsausbildung, sondern sie wurde in einem anderen Betrieb fortgesetzt;arbeitslos gemeldet waren nach dem Abbruch der Berufsausbildung 17 vH aller Abbrecher. Als häufigsterGrund für die Lösung des Ausbildungsverhältnisses – bei der Umfrage waren Mehrfachnennungen von Grün-den möglich – wurden von den Auszubildenden mit 70 vH betriebliche Gründe und unter diesen wiederum amhäufigsten Konflikte mit Ausbildern und Vorgesetzten genannt, gefolgt von persönlichen Gründen mit 46 vH.Eine Fehleinschätzung in der Berufswahl hingegen gaben nur 34 vH der Auszubildenden als Grund für die Ver-tragslösung an.

140

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Deutschland in der Stagnation

S c h a u b i l d 43

Von denjenigen Auszubildenden, die im Jahr 2001 ihre Ausbildung erfolgreich abschlossen, wurden gemäßHochrechnungen aus dem Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg,in den alten Bundesländern 58,8 vH vom ausbildenden Betrieb übernommen. Die Übernahmequote stieg mitder Betriebsgröße: In Betrieben mit mehr als 500 Beschäftigten wurden mehr als drei Viertel der Auszubilden-den übernommen, in Betrieben mit bis zu neun Beschäftigten hingegen weniger als die Hälfte. Mit mehr als80 vH war die Übernahmequote besonders hoch in den Bereichen „Bergbau, Energie, Wasserwirtschaft“, „Inves-titionen und Gebrauchsgüter“ und im „Kredit- und Versicherungsgewerbe“. In den neuen Bundesländern lag dieÜbernahmequote bei nur 42,7 vH. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Betriebsgröße und der Über-nahmequote bestand in den neuen Bundesländern nicht, aber auch dort war die Übernahmequote in den Berei-chen „Investitionen und Gebrauchsgüter“ und im „Kredit- und Versicherungsgewerbe“ mit Werten jeweils über70 vH überdurchschnittlich hoch. Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen ist, dass in diesen Wirtschafts-bereichen die Auszubildenden nach der Ausbildung über ein besonders hohes unternehmensspezifisches Hu-mankapital verfügen, das durch einen Wechsel des Arbeitgebers verloren ginge. Nach Angaben der Bundesan-stalt für Arbeit meldeten sich im Jahr 2001 rund 22 vH der Absolventen einer dualen Ausbildung als arbeitslos,16,9 vH in den alten und 39,6 vH in den neuen Bundesländern. Mögliche Erklärungen für die verbleibendeLücke zu den genannten Ausbildungsquoten sind der unmittelbare Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber, dieAbleistung von Wehrdienst oder Zivildienst, die Aufnahme eines Studiums oder das (möglicherweise nurvorübergehende) Ausscheiden aus dem Erwerbsleben.

1) Veränderung der über die Ausbildungsberufe und Ausbildungsjahre gemittelten tariflichen Ausbildungsvergütungen.– 2) Veränderung der über die Tarifbereichegemittelten Tarifverdienste (auf Monatsbasis) für alle Arbeiter und Angestellten.

Quelle: Bundesinstitut für Berufsbildung, Deutsche Bundesbank

-2

2

4

6

8

10

0

vH

-2

2

4

6

8

10

0

vH

1994 95 96 97 98 99 2000 01 02

Entwicklung der Ausbildungsvergütung und der Tarifverdienste

Veränderung gegenüber dem Vorjahr

Früheres Bundesgebiet Neue Bundesländer

-2

2

4

6

8

10

0

vH

-2

2

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8

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0

vH

1994 95 96 97 98 99 2000 01 02

SR 2003 - 12 - 0648

Tarifliche Ausbildungsvergütung1) Tarifverdienste in der Gesamtwirtschaft2)

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

227. Der bereits Anfang des Jahres 2003 absehbare Be-werberüberhang führte zu einer Reihe arbeitsmarkt-politischer Maßnahmen der Bundesregierung speziellfür Jugendliche. In einer Ausbildungsoffensive warbendie Bundesregierung und die Wirtschaftsverbände fürdie Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze. Um derenAttraktivität zu erhöhen, dehnte die Bundesregierungdas Kreditprogramm „Kapital für Arbeit“ der Kreditan-stalt für Wiederaufbau, über das Unternehmen für dieEinstellung eines Arbeitslosen, eines von Arbeitslosig-keit Bedrohten oder eines geringfügig Beschäftigten ei-nen zinsvergünstigten Kredit in Höhe von bis zu100 000 Euro beziehen können, auf die zusätzliche Ein-stellung von Auszubildenden aus. Das „Sofortprogrammzum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit (JUMP)“ wurdeum berufsbezogene Sprachkurse für arbeitslose Jugend-liche ausländischer Abstammung mit Defiziten in derdeutschen Sprache ergänzt. Außerdem sollten die Quali-fizierungsmaßnahmen für noch nicht ausbildungsgeeig-nete Jugendliche praxisnäher gestaltet und intensiviertwerden. Allerdings läuft die Förderung von Neufällenzum Ende des Jahres 2003 aus.

Als weitere Maßnahme für arbeitslose Jugendliche initi-ierte die Bundesregierung zum 1. Juli 2003 das Pro-gramm JUMP-Plus, das bis Ende 2004 befristet ist. DieZielgruppe sind jugendliche Sozialhilfebezieher und Ar-beitslosenhilfebezieher im Alter von 15 bis 25 Jahren instrukturschwachen Regionen, insbesondere in den neuenBundesländern, die bereits langzeitarbeitslos sind oderdies zu werden drohen. Durch das Programm sollen100 000 Jugendliche in Beschäftigung oder eine Qualifi-zierungsmaßnahme vermittelt werden. Das Finanzvolu-men von 330 Mio Euro dient sowohl der Finanzierungdes dazu benötigten Personals als auch der Förderungkommunaler Eingliederungsmaßnahmen.

Wie insbesondere von Unternehmensverbänden gefor-dert, wurden zusätzlich auf zwei Jahre verkürzte pra-xisbezogene Ausbildungsgänge geschaffen. Sie solleneine Alternative für diejenigen bieten, die Schwierigkei-ten insbesondere mit dem in den Berufsschulen vermit-telten Theorieteil der traditionellen Ausbildungsgängehaben.

Arbeitsmarktreformen und die Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission

228. Seit November 2002 wurde zur Reform desArbeitsmarktes eine ganze Reihe von Gesetzen be-schlossen oder als Entwürfe in die parlamentarischenBeratungen eingebracht. Sie betreffen insbesondere dieLohnersatzleistungen, die Arbeitsverwaltung einschließ-lich des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums, denKündigungsschutz und den Niedriglohnbereich (Tabel-le 29).

Reform der Lohnersatzleistungen

229. Bereits aus den noch Ende des Jahres 2002 verab-schiedeten „Gesetzen für moderne Dienstleistungen

am Arbeitsmarkt“ („Hartz-I“ und „Hartz-II“) ergabensich einige Änderungen der Lohnersatzleistungen. Sowurden die Dynamisierung des Arbeitslosengelds, derArbeitslosenhilfe und des Unterhaltsgelds, das heißt diejährliche Anpassung des für die Höhe dieser Leistungenmaßgeblichen Bemessungsentgelts an die Entwicklungder Löhne und Gehälter, abgeschafft. Weiterhin entfieldas Anschlussunterhaltsgeld, das im Anschluss an eineMaßnahme der beruflichen Weiterbildung bei fehlendemoder nur noch kurzem Anspruch auf Arbeitslosengeldgezahlt wurde; die Bezugsdauer von Unterhaltsgeld wirdnun hälftig auf die Anspruchsdauer von Arbeitslosen-geld angerechnet. Seit dem 1. Juli 2003 sind Arbeitneh-mer außerdem verpflichtet, sich bereits dann als arbeits-suchend zu melden, wenn sie den Zeitpunkt derBeendigung des Arbeitsverhältnisses kennen, um so dieChancen einer raschen Vermittlung auf eine neue Stellezu erhöhen. Erfolgt die Meldung später als eine Wochenach dem Zeitpunkt, zu dem der Arbeitnehmer von derBeendigung des Arbeitsverhältnisses erfährt, so wird dasArbeitslosengeld in Abhängigkeit von der Höhe des An-spruchs gekürzt. Ferner wurden die Möglichkeiten desArbeitsamts zur Verhängung differenzierter Sperrzeitenerweitert und die Beweislast umgekehrt, so dass nun derArbeitslose nachweisen muss, dass er die Arbeitslosig-keit nicht selbst verschuldet beziehungsweise die Auf-nahme einer Tätigkeit nicht schuldhaft verhindert hat;bisher musste das Arbeitsamt den umgekehrten Nach-weis erbringen. Die höhere Flexibilität in der Handha-bung von Sperrzeiten und die erhöhten Anforderungender Arbeitsämter an die Mitwirkung und die Eigeninitia-tive der Arbeitslosen führten zu einem deutlichen An-stieg der Sperrzeiten. Während im Jahr 2002 insgesamt85 000 Sperrzeiten wegen der Ablehnung einer Beschäf-tigung oder einer beruflichen Eingliederungsmaßnahmesowie wegen Abbruchs einer solchen Maßnahme ver-hängt wurden, belief sich die entsprechende Zahl der bisEnde Oktober dieses Jahres verhängten Sperrzeiten be-reits auf 132 000.

Als weitere Maßnahme wurden die Vermögensfreibe-träge bei der Arbeitslosenhilfe von 520 Euro auf200 Euro pro Lebensjahr für Alleinstehende und von1 040 Euro auf 400 Euro für Verheiratete und Partner ineheähnlichen Gemeinschaften oder Lebenspartnerschaf-ten gesenkt. Für Personen, die im Januar des Jahres 2003mindestens 55 Jahre alt waren, gelten aus Gründen desVertrauensschutzes indes dauerhaft weiterhin die altenFreibeträge. Schließlich wurde noch der Mindestfreibe-trag für das anzurechnende Einkommen des Partners– grundsätzlich wird dessen hypothetischer Anspruchauf Arbeitslosenhilfe als Freibetrag angesetzt – auf80 vH des steuerlichen Existenzminimums gesenkt. ImGegensatz zu den Vermögensgrenzen führt ein Über-schreiten dieser Einkommensgrenzen nicht zum Verlustdes Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe, sondern lediglichzur vollen Verrechnung des die Freibeträge übersteigen-den Einkommens mit dem Anspruch auf Arbeitslosen-hilfe.

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Deutschland in der Stagnation

Ta b e l l e 29

Gesetze zur Reform des Arbeitsmarkts

Gesetz Wichtige Inhalte

vom Deutschen Bundestag und Bundesrat beschlossen

„Erstes Gesetz für moderne Dienstleis-tungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz I“)

Einrichtung von Personal-Service-Agenturen, Reform des Arbeitneh-merüberlassungsgesetzesÄnderungen im Leistungsrecht (Wegfall der Dynamisierung, Flexibi-lisierung der Sperrzeiten, leichte Verschärfung der Zumutbarkeit)Einführung von Bildungsgutscheinen

„Zweites Gesetz für moderne Dienstleis-tungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz II“)

Existenzgründungszuschuss (Ich-AG)Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (Mini-Jobs) Einführung einer GleitzoneFörderung haushaltsnaher Dienstleistungen

dem Bundesrat vorgelegt, nicht zustimmungspflichtig

„Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt“ Reform des KündigungsschutzesAnhebung der maximalen Befristungsdauer bei befristeten Beschäfti-gungsverhältnissen in neu gegründeten UnternehmenVerkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds

„Gesetz zur Änderung der Handwerksord-nung und zur Förderung von Kleinunter-nehmen“ („kleine Handwerksnovelle“)

Ausübung einfacher Tätigkeiten, die nicht zum Kernbereich eines Handwerks gehören, durch Nichthandwerksbetriebe

„Drittes Gesetz für moderne Dienstleis-tungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz III“)

Reform der Bundesanstalt für Arbeit

dem Bundesrat vorgelegt, zustimmungspflichtig

„Drittes Gesetz zur Änderung der Hand-werksordnung und anderer handwerks-rechtlicher Vorschriften“ („große Handwerksnovelle“)

Verringerung der Zahl der Gewerbe mit MeisterzwangErleichterung der Übernahme eines Handwerksbetriebs durch erfah-rene GesellenAufgabe des Inhaberprinzips

„Viertes Gesetz für moderne Dienstleis-tungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz IV“)

Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, Arbeits-losengeld II

Im Rahmen des im Bundesrat nicht zustimmungspflich- schritt ergäben (JG 2002 Ziffer 441), entlasten somit erst

tigen „Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt“ wird diemaximale Bezugsdauer von Arbeitslosengeld, die inAbhängigkeit vom Lebensalter und den Beitragszeitenbis zu 32 Monate betragen konnte, auf maximal18 Monate für Personen mit einem Alter von mindestens55 Jahren und auf 12 Monate für alle übrigen Personenbegrenzt. Zwar soll das Gesetz zum 1. Januar 2004 inKraft treten, doch werden die verkürzten Bezugsdauernaufgrund einer mit dem Vertrauensschutz der Versicher-ten begründeten 25-monatigen Übergangsfrist erst imJahr 2006 und auch dann nur für Neufälle wirksam. DieEinsparungen und Anreizeffekte, die sich aus diesemauch vom Sachverständigenrat angemahnten Reform-

mittelfristig den Arbeitsmarkt.

230. Durch das vom Deutschen Bundestag am17. Oktober 2003 beschlossene und im Bundesrat nichtzustimmungspflichtige „Dritte Gesetz für moderneDienstleistungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz-III“) erge-ben sich beim Arbeitslosengeld, das fortan alsArbeitslosengeld I bezeichnet wird, nur geringfügigeÄnderungen; so entfällt ab dem Jahr 2005 der Abzug derKirchensteuer bei der Berechnung des individuellenBemessungsentgelts, aus dem der Anspruch auf Arbeits-losengeld ermittelt wird, da nicht mehr davon aus-gegangen werden kann, dass in Zukunft eine deutliche

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Mehrheit der Bezieher von Arbeitslosengeld Mitglied ei-ner Kirchensteuer erhebenden Kirche ist. Diese Ände-rung erhöht den durchschnittlichen Leistungsanspruchund kann damit die in bestimmten Fällen leistungsmin-dernde Wirkung einer Reihe weiterer, verwaltungsver-einfachender Änderungen bei der Berechnung desArbeitslosengelds ausgleichen (§§ 130 ff. SGB III). Au-ßerdem soll das Unterhaltsgeld nun gänzlich im Arbeits-losengeld aufgehen, so dass auch bei der Teilnahme aneiner Maßnahme der beruflichen WeiterbildungArbeitslosengeld I gezahlt wird und diese nicht mehr zueiner Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosen-geld I führt (JG 2002 Ziffer 441).

231. Deutlich weitergehende Änderungen bei denLohnersatzleistungen sind mit dem im Bundesrat zu-stimmungspflichtigen „Vierten Gesetz für moderneDienstleistungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz-IV“) ge-plant, das zusammen mit dem Hartz-III-Gesetz vomDeutschen Bundestag beschlossen wurde, bei der Bun-desratsmehrheit aber in wichtigen Teilen auf Ablehnungstößt. Hauptgegenstand des Hartz-IV-Gesetzes ist dieZusammenführung der Arbeitslosenhilfe und der Sozial-hilfe zum Arbeitslosengeld II, einer neuen einheitlichenLeistung für all diejenigen, die bedürftig und erwerbsfä-hig, aber nicht erwerbstätig sind. Das Arbeitslosen-geld II soll in einem eigenen, neu geschaffenenZweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) geregeltwerden. Die Leistungen für nicht erwerbsfähige Haus-haltsangehörige der Bezieher von Arbeitslosengeld IIwerden im Gesetz als Sozialgeld bezeichnet (§ 28SGB II), doch im Folgenden wird vereinfachend nur dieBezeichnung Arbeitslosengeld II verwendet. Die neueSozialhilfe hingegen, künftig im ebenfalls neu geschaf-fenen, das Bundessozialhilfegesetz ersetzenden Zwölf-ten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII) geregelt,wird nur noch an bedürftige Personen gezahlt, die zwarnoch im erwerbsfähigen Alter sind, aber zumindest vor-übergehend keine Erwerbstätigkeit aufnehmen können,beispielsweise Bezieher einer Zeitrente wegen Erwerbs-minderung, längerfristig Erkrankte oder in Einrichtun-gen betreute Menschen. Das Bundesministerium für Ge-sundheit und Soziale Sicherung beziffert ihre Zahl aufetwa 200 000 Personen, zu denen noch einmal etwa1 Million weitere nicht erwerbsfähige Leistungsberech-tigte, insbesondere behinderte und pflegebedürftige Per-sonen, hinzuzurechnen sind. Bedürftige Personen im Al-ter von mindestens 65 Jahren schließlich erhalten weiterdie bereits existierenden Leistungen der Grundsicherung(JG 2001 Ziffer 253). Bei den Beziehern von Arbeitslo-sengeld II handelt es sich demnach um die bisherigenBezieher von Arbeitslosenhilfe, soweit sie bedürftignach den Kriterien des Arbeitslosengelds II sind, und dieerwerbsfähigen Bezieher von Sozialhilfe. Das Vorliegenvon Erwerbsfähigkeit orientiert sich dabei an den renten-rechtlichen Bestimmungen (SGB VI), das heißt als er-werbsfähig soll gelten, wer gegenwärtig oder voraus-sichtlich innerhalb von sechs Monaten mindestens dreiStunden täglich einer Beschäftigung nachgehen kann.Geplant ist, diese neue Leistung ab dem 1. Juli 2004 anvoraussichtlich 4,3 Millionen Personen in 2,1 Millionen

Haushalten auszuzahlen (gemäß Berechnungen der „Ar-beitsgruppe ‚Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe‘ der Kommis-sion zur Reform der Gemeindefinanzen“). Als voll er-werbsfähig gelten davon etwa 2,4 Millionen Personen,weitere 400 000 Personen sind, beispielsweise wegen ei-ner häuslichen Bindung, eingeschränkt verfügbar. Zu-ständig für die Betreuung soll die künftige Bundesagen-tur für Arbeit, das heißt die Bundesanstalt für Arbeitnach Umsetzung der im Hartz-III-Gesetz geregeltenNeuorganisation, sein.

232. Bei der Bestimmung der Bedürftigkeit soll dieAnrechnung von Vermögen nach den oben genanntenGrenzen der Arbeitslosenhilfe, die Berücksichtigung ei-nes Partnereinkommens nach den Regeln der bisherigenSozialhilfe erfolgen. Letzteres führt dazu, dass voraus-sichtlich etwa ein Fünftel der bisherigen Empfänger-haushalte von Arbeitslosenhilfe keinen Anspruch aufArbeitslosengeld II haben. Bei zur Altersvorsorge be-stimmtem Vermögen soll ein zusätzlicher Freibetrag inHöhe von nochmals 200 Euro pro Lebensjahr gewährtwerden. Für den Haushaltsvorstand ist sowohl beimArbeitslosengeld II als auch bei der neuen Sozialhilfeein Regelsatz von 345 Euro in den alten und 331 Euro inden neuen Bundesländern vorgesehen. Dieser ist höherals der durchschnittliche Regelsatz der Sozialhilfe in ih-rer bisherigen Form, enthält aber eine Pauschale für diebisher zusätzlich auf Einzelantrag gewährten einmaligenLeistungen, die bis auf wenige Ausnahmetatbeständedurch die Pauschalen abgegolten sein sollen. Diese vor-gesehene Pauschalierung ist sinnvoll, weil sie den Ver-waltungsvollzug vereinfacht und bei den Leistungsemp-fängern die Anreize zu eigenständigem Wirtschaftenstärkt. Des Weiteren soll wie bisher die angemesseneWarmmiete erstattet werden; ein Anspruch auf Wohn-geld, der bisher verwaltungsintern verrechnet wurde, be-steht hingegen nicht mehr. Für Haushaltsangehörige istgeplant, sie zukünftig in zwei statt bisher vier Alters-gruppen zusammenzufassen.

233. Empfängern von Arbeitslosengeld II, die zuvorArbeitslosengeld I bezogen haben, soll ergänzend einzweijähriger Zuschlag gezahlt werden. Im ersten Jahrbeträgt dieser zwei Drittel der Differenz zwischen demzuletzt bezogenen Arbeitslosengeld I, zuzüglich eineseventuellen Anspruchs auf Wohngeld, und dem An-spruch auf Arbeitslosengeld II, jedoch nicht mehr als160 Euro für Alleinstehende und 320 Euro für Verheira-tete; darüber hinaus wird ein Zuschlag von 60 Euro fürjedes Kind gewährt. Im zweiten Jahr des Bezugs vonArbeitslosengeld II halbieren sich die Höchstgrenzenund der Zuschlag, der somit noch ein Drittel der genann-ten Differenz beträgt. Alle Empfänger von Arbeitslosen-geld II sollen in der Gesetzlichen Krankenversicherungmit einer monatlichen Pauschalprämie von 110 Euro, inder Sozialen Pflegeversicherung mit 13 Euro sowie inder Gesetzlichen Rentenversicherung über den Mindest-pflichtbeitrag, der zuletzt 78 Euro betrug (und jährlichmit der Entwicklung der Rentenversicherungsbeiträgeangepasst wird) versichert werden. Die entsprechendenAusgaben trägt ebenfalls der Bund. Da gegenwärtig rund70 vH der Arbeitslosenhilfebezieher monatlich nicht

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Deutschland in der Stagnation

mehr als 600 Euro und etwa 96 vH monatlich nicht mehrals 900 Euro an Arbeitslosenhilfe erhalten und sich zu-letzt die Krankenkassenbeiträge an der tatsächlich ge-zahlten Unterstützungszahlung bemaßen, dürfte derdurchschnittlich für einen Empfänger von Arbeitslosen-hilfe geleistete Beitrag zur Gesetzlichen Krankenversi-cherung niedriger als die Pauschalbeträge sein, so dasssich die Einnahmesituation der Gesetzlichen Kranken-kassen durch die Umstellung auf Pauschalzahlungennicht wesentlich verschlechtert sondern vermutlich so-gar verbessert.

234. Auch bei der Zumutbarkeit von angebotenenStellen ist eine Anpassung an die Bestimmungen der bis-herigen Sozialhilfe geplant. Für Bezieher von Arbeitslo-sengeld II soll nunmehr unabhängig von ihrer Qualifika-tion und ihrem früheren Beruf jede Art von Arbeitzumutbar sein, insbesondere auch eine geringfügige Be-schäftigung; Bedingung ist jedoch, dass das Arbeitsent-gelt nicht unterhalb des für die Tätigkeit maßgeblichenTariflohns oder, wenn keine tarifvertragliche Regelungexistiert, nicht unterhalb des ortsüblichen Lohns liegt.Als unzumutbar gelten soll eine Stelle ferner bei zu ho-her körperlicher Belastung oder wenn die Betreuung undErziehung von Kindern beziehungsweise die Pflege vonAngehörigen nicht mehr sichergestellt ist; bei Kindernvon mindestens drei Jahren soll eine Tätigkeit dann alszumutbar gelten, wenn die Betreuung in einer Tagesein-richtung oder in Tagespflege sichergestellt ist. Wird eineangebotene zumutbare Stelle abgelehnt, kann nach derReform das Arbeitslosengeld II um 30 vH gekürzt undder Zuschlag für vormalige Bezieher von Arbeitslosen-geld I ganz gesperrt werden. Bei Jugendlichen unter25 Jahren ist vorgesehen, dass das Arbeitslosengeld II fürbis zu drei Monate sogar ganz gestrichen werden kann.Bei der Ablehnung von Eingliederungsmaßnahmen oderbei fehlender Eigeninitiative wären für die Bezieher vonArbeitslosengeld II ebenfalls Kürzungen möglich.

235. Um die Anreize zur Aufnahme einer Beschäfti-gung zusätzlich zu erhöhen, sollen gemäß § 30 SGB IIdie Freibeträge für Erwerbseinkommen geändert wer-den (JG 2002 Ziffer 444). Der Basisfreibetrag, bis zudem Einkommen nicht angerechnet wird, beträgt nachder Reform 20 vH des neuen, höheren Regelsatzes undliegt damit nur leicht unterhalb des alten Basisfreibe-trags, der 25 vH des bisherigen Regelsatzes beträgt. DieVerbleibsrate für das diesen Basisfreibetrag überstei-gende Einkommen soll sich weiterhin auf 15 vH belau-fen, doch der maximale Freibetrag für die Anrechnungvon Erwerbseinkommen, der in der bisherigen Sozial-hilfe 148 Euro in den alten und 143 Euro in den neuenBundesländern, das heißt 50 vH des jeweiligen Eckre-gelsatzes von 295 Euro beziehungsweise von 285 Eurobeträgt (Stand 1. Juli 2003), steigt durch die Reform nunmit der Haushaltsgröße: Er beginnt mit einem Satz von45 vH des neuen Regelsatzes für Alleinstehende, steigtauf 50 vH bei Zweipersonenhaushalten und wächst fürjede weitere im Haushalt lebende Person um 10 Prozent-punkte bis zu einer Grenze von 80 vH. Darüber hinaussoll für eine Dauer von bis zu zwei Jahren ein als Ein-stiegsgeld bezeichneter und als Ermessensleistung aus-

gestalteter befristeter Arbeitnehmerzuschuss gewährtwerden können, dessen Bemessung vom Bundesministe-rium für Wirtschaft und Arbeit durch Rechtsverordnungfestgelegt wird und sich an der Dauer der Arbeitslosig-keit sowie der Größe der Bedarfsgemeinschaft zu orien-tieren hat (§ 29 Absatz 3 SGB II).

236. Der Erhöhung der Arbeitsanreize und der Vermei-dung des Sozialhilfebezugs von Familien mit Kindernsoll auch der Kinderzuschlag in Höhe von bis zu140 Euro je Kind dienen (§ 6a Bundeskindergeldgesetz).Er soll zusätzlich zum Kindergeld für eine Dauer von biszu drei Jahren an Personen mit im Haushalt lebendenminderjährigen Kindern gezahlt werden, für die ein An-spruch auf Kindergeld besteht, und ist so ausgestaltet,dass erstens nur diejenigen den Zuschlag erhalten, dienur infolge des Kindes einen Anspruch auf Arbeitslosen-geld II haben, und zweitens der Zuschlag das Einkom-men des Haushalts so weit erhöht, dass kein Anspruchauf Arbeitslosengeld II mehr besteht. Der Kinderzu-schlag soll sich bei Vorliegen von Vermögen oder Ein-kommen des Kindes eins zu eins sowie mit steigendemelterlichem Einkommen mit Transferentzugsraten von70 vH bei Erwerbseinkommen und wiederum 100 vHbei sonstigem Einkommen mindern. Vorgesehen ist, dassebenso wie das Kindergeld selbst auch der Kinderzu-schlag durch die Bundesagentur für Arbeit aus Mittelnund im Auftrag des Bundes gezahlt wird.

237. Als Alternative zu der im Hartz-IV-Gesetz vorge-sehenen Art der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfeund Sozialhilfe wurde vom Bundesland Hessen und derBundestagsfraktion der CDU/CSU der Entwurf eines„Gesetzes zur Sicherung der Existenzgrundlagen“(„Hessen-Modell“) in das Gesetzgebungsverfahren ein-gebracht, durch das die bisher im Bundessozialhilfege-setz oder dem dritten Buch des Sozialgesetzbuches defi-nierten Leistungen in einem neuen, zwölften Buch desSozialgesetzbuches (SGB XII) zusammengefasst wür-den. Wichtige Unterschiede zwischen der darin definier-ten „Hilfe zur Existenzsicherung“, die für erwerbsfähigeBezieher die bisherige Hilfe zum Lebensunterhalt unddie Arbeitslosenhilfe ersetzt, und dem Arbeitslosen-geld II finden sich bei der Trägerschaft, den Anspruchs-voraussetzungen, der Berücksichtigung von Erwerbsein-kommen und den Pflichten des Beziehers.

Träger der Hilfe zur Existenzsicherung sind nach diesemEntwurf an Stelle der Bundesagentur für Arbeit dieKommunen in der Form der kreisfreien Städte und derLandkreise; ihre adäquate Ausstattung mit den benötig-ten finanziellen Mitteln soll grundgesetzlich verankertwerden. Vorgesehen ist, dass die Träger nicht nur für dieAbwicklung der Leistungen, sondern auch für die Ver-mittlung in Erwerbstätigkeit zuständig sind und darüberhinaus unmittelbar oder über Dritte Arbeitsgelegenhei-ten oder „Hilfen zur Verbesserung der Beschäftigungsfä-higkeit“ anbieten sollen, beispielsweise Praktika oderQualifizierungsmaßnahmen, die die Leistungsbezieherwahrnehmen müssten, um ihren Anspruch auf Hilfe zurExistenzsicherung zu erhalten. Das Existenzgrund-lagengesetz legt besonderen Wert auf den Übergang der

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Leistungsbezieher in eine sozialversicherungspflichtigeVollzeittätigkeit oder eine selbständige Tätigkeit: So istgeplant, dass Teilzeitbeschäftigte, die aufgrund ihresEinkommens weiterhin Anspruch auf Hilfe zur Existenz-sicherung haben, an den Beschäftigungsmaßnahmenteilnehmen müssen, um ihren Anspruch zu wahren. DesWeiteren sollen Einkommen unter 400 Euro, typischer-weise Entgelte aus einer geringfügig entlohnten Be-schäftigung, voll auf die Hilfe zur Existenzsicherung an-gerechnet werden, das heißt, die Transferentzugsratebeträgt in diesem Einkommensbereich 100 vH. Bei darü-ber hinausgehendem Einkommen sollen die Anrech-nungsregeln, die im Gesetzentwurf als Lohnfreistellungbezeichnet werden, hingegen großzügiger ausgestaltetwerden als im Status quo: Bis zu einem Bruttoeinkom-men von 1 100 Euro wird das über 400 Euro hinausge-hende Einkommen nur hälftig und danach zu 85 vH aufdie Hilfe zur Existenzsicherung angerechnet, und erst abeinem Bruttoeinkommen von 2 200 Euro setzt wiederdie vollständige Anrechnung ein. Ferner sieht das Exis-tenzgrundlagengesetz noch eine in einem eigenen Ge-setz geregelte Hilfe für Niedrigeinkommensbezieher vor,die keinen Anspruch auf die Hilfe zur Existenzsicherunghaben; die Leistung wird als Lohnzuschlag bezeichnetund soll für den Transferentzug die gleichen Regeln auf-weisen wie die Lohnfreistellung.

238. Die unterschiedlichen Anreizwirkungen der bei-den Vorschläge lassen sich über einen Vergleich derGrenzbelastungen, die für einen (potentiellen) Em-pfänger der jeweiligen Leistung entstünden, veranschau-lichen. Diese Darstellungsform hat der Sachverständi-genrat auch für seinen im Jahresgutachten 2002entwickelten Vorschlag zur Reform der Sozialhilfe ver-wendet (JG 2002 Kasten 11). Der jeweils als Referenz-maßstab abgetragene Status quo enthält noch nicht dieAuswirkungen der zum 1. April dieses Jahres in Kraftgetretenen Reform der geringfügigen Beschäftigungs-verhältnisse und der gleichzeitig eingeführten Gleitzone.Diese Reformen haben zur Folge, dass sich gegenüberdem Rechtsstand vor dem 1. April die Geringfügigkeits-schwelle nicht nur von 325 Euro nach rechts verschiebt,sondern dass sie aufgrund der niedrigeren Arbeitneh-merbeiträge zur Sozialversicherung in der Gleitzoneauch weniger stark ausgeprägt ist. Umgekehrt ist jedochim Bereich der Gleitzone aufgrund der aus Sicht des Ar-beitnehmers steigenden effektiven Beitragssätze zur So-zialversicherung die Transferentzugsrate geringfügig hö-her. Auf eine Darstellung der Grenzbelastungen gemäßdem Rechtsstand vom 1. April 2003 wird jedoch ver-zichtet: Die beiden Effekte zeigen sich auch beimArbeitslosengeld II, da die dort vorgenommenen Ände-rungen bei der Anrechnung von Erwerbseinkommennicht das Anrechnungsprinzip, sondern nur die dabei re-levanten Einkommensgrenzen betreffen (Schaubild 44und 45), so dass zumindest im Einkommensbereich derGleitzone der Verlauf der Grenzbelastung ganz ähnlichwie im Status quo ist. Aufgrund der höheren Zuver-dienstgrenzen wird beim Arbeitslosengeld II der Be-reich, ab dem eine konfiskatorische Transferentzugsratevon 100 vH einsetzt, jedoch kleiner. Dies gilt sowohl fürAlleinstehende als auch für Mehrpersonenhaushalte. BeiHaushalten mit Kindern, für die Kindergeld gezahlt

wird, ist darüber hinaus noch der Kinderzuschlag zu be-rücksichtigen. Die hohen Grenzbelastungen, die sich beiden für die Berechnungen gewählten Einkommensinter-vallen auf bis zu 186 vH belaufen, resultieren daraus,dass bei dem Erwerbseinkommen, bei dem der Anspruchauf den Kinderzuschlag endet, dieser erst auf rund40 Euro abgeschmolzen ist.

Ein gänzlich anderes Verlaufsmuster der Grenzbelastun-gen findet sich beim Hessen-Modell (Schaubild 44und 45). Da das Existenzgrundlagengesetz die Höhe derEckregelsätze den Ländern überlässt, wurden im Folgen-den der aktuelle durchschnittliche Eckregelsatz fürWestdeutschland sowie bei weiteren Haushaltsmitglie-dern die bisher geltenden Aufschläge unterstellt; für dasVerlaufsmuster der Grenzbelastungen sind diese Größennicht von Bedeutung. Aufgrund der Vollanrechnung vonEinkommen aus Mini-Jobs beträgt die Transferentzugs-rate anfangs 100 vH, fällt dann aber auf wesentlich nied-rigere Niveaus als beim Arbeitslosengeld oder demVorschlag des Sachverständigenrates (JG 2002 Schau-bilder 61 und 62). Auch bei dem hier betrachteten Mehr-personenhaushalt ist die Transferentzugsrate bei einemBruttoeinkommen von mehr als 400 Euro stets kleinerals 100 vH, steigt aber schließlich wieder auf über 90 vHan. Die großzügigere Nichtanrechnung von Erwerbsein-kommen hat allerdings zur Folge, dass sich insbesonderebei Mehrpersonenhaushalten der Auslaufbereich derTransferzahlungen nach rechts verschiebt und somit zu-sätzliche Bedarfsgemeinschaften Anspruch auf die staat-liche Mindestsicherung haben.

Vergleicht man den Reformvorschlag, den der Sachver-ständigenrat in seinem letzten Jahresgutachten unterbrei-tet hat (JG 2002 Ziffern 442 ff.), mit den beiden Model-len, so findet sich eine größere Ähnlichkeit mit dem imExistenzgrundlagengesetz verkörperten Entwurf. UnterAnreizaspekten ist am Hessen-Modell die insbesondereim Vergleich zum Arbeitslosengeld II niedrigere Trans-ferentzugsrate positiv hervorzuheben, ebenso die nochkonsequentere Ausrichtung auf eine Mobilisierung derLeistungsbezieher für eine Erwerbstätigkeit. Unter-schiede ergeben sich hingegen bei der Behandlung ge-ringfügiger Beschäftigungsverhältnisse und von Teil-zeitarbeit, die im Vorschlag des Sachverständigenratesnicht zugunsten einer Vollzeittätigkeit diskriminiert wer-den, sowie im Hinblick auf eine weitergehende Förde-rung des Niedriglohnbereichs. Der im Existenzgrundla-gengesetz vorgesehene Lohnzuschlag für Nichtbezieherder Existenzsicherung erhöht zwar zusätzlich die Attrak-tivität einer Tätigkeit im Niedriglohnbereich, ist aber mitpotentiell nicht unerheblichen fiskalischen Kosten ver-bunden und zudem noch stärker auf eine Dauersubven-tionierung in diesem Arbeitsmarktsegment angelegt.

Bundesanstalt für Arbeit: Umbau eingeleitet und neue Aufgaben zugewiesen

239. In der Bundesanstalt für Arbeit, der bei der Imple-mentierung gerade auch der Reform der Lohnersatzleis-tungen eine Schlüsselrolle zukommt, finden im Falle derUmsetzung des entsprechenden Gesetzes („Hartz-III“) inden nächsten Jahren maßgebliche Änderungen in der Or-ganisation, dem Aufgabenbereich und den Instrumenten

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Deutschland in der Stagnation

statt. Als äußeres Zeichen für diese Neuausrichtung sollsie in „Bundesagentur für Arbeit“ umbenannt werden;die Arbeitsämter heißen zukünftig entsprechend „Agen-turen für Arbeit“. Die Arbeitsverwaltung gliedert sichnach der Reform mit der Bundesagentur für Arbeit, ihrenRegionaldirektionen (den früheren Landesarbeitsämtern)und den Agenturen für Arbeit weiter in drei Ebenen. Wiebereits der Vorstand der Bundesagentur sollen auch dieGeschäftsführungen der Agenturen und der Regionaldi-rektionen aus jeweils drei Mitgliedern mit eigenem Ver-antwortungsbereich bestehen, die auf Zeit vom Vorstandder Bundesagentur berufen werden. Die Reform desSGB III soll es der Bundesregierung außerdem ermögli-chen, mit der Bundesagentur für Arbeit Vereinbarungenüber beschäftigungspolitische Ziele zu schließen, diediese dann in größerer Eigenverantwortung bei der Wahlder Instrumente verfolgen kann (§ 1 Absatz 3 SGB III).Die Selbstverwaltungsorgane, also der Verwaltungsrat inder Bundesagentur sowie die Verwaltungsausschüsse inden Regionaldirektionen und den einzelnen Agenturen,sollen stärker auf eine Kontrollfunktion beschränkt wer-den, damit Zuständigkeit und Verantwortung für die Tä-tigkeit der Arbeitsverwaltung und die Mittelverwendungallein beim Vorstand der Bundesagentur und den Ge-schäftsführungen der Regionaldirektionen sowie derAgenturen vor Ort liegen.

240. Eine erhebliche Erweiterung des Aufgabenbe-reichs der Bundesagentur für Arbeit bedeutet die vorge-sehene Zuständigkeit für die Empfänger des Arbeitslo-sengelds II und damit die zusätzliche Übernahme vonetwa 1,3 Millionen erwerbsfähigen Sozialhilfeempfän-gern sowie deren Angehörigen von den Kommunen.Trotz der gestiegenen Zahl an Leistungsempfängern sol-len die zukünftig als Fallmanager bezeichneten Vermitt-ler im Durchschnitt jeweils nicht mehr als 75 Arbeits-lose betreuen, während die entsprechende Zahl imJahr 2002 noch bei etwa 400 lag. Rechnerisch werdendazu 11 800 zusätzliche Fallmanager mit Kosten inHöhe von 760 Mio Euro benötigt, doch soll der Mehrbe-darf nur durch Umsetzungen von Angestellten der Ar-beitsverwaltung und der Kommunen sowie externe Auf-tragsvergaben gedeckt werden, zumal unbeschadet deralleinigen Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeitfür die Bezieher von Arbeitslosengeld II mit den Kom-munen bei der Betreuung in den als gemeinsame An-laufstelle konzipierten Job-Centern kooperiert werdensoll (§ 394 Absatz 1 Nr. 11 SGB III). Die Aufwendun-gen für das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld so-wie für die Eingliederungsmaßnahmen der Bezieher vonArbeitslosengeld II werden einschließlich der zugehöri-gen Verwaltungsausgaben nicht aus Beiträgen zur Ar-beitslosenversicherung, sondern aus Steuern finanziert,

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Arbeitslosengeld II (Hartz-IV-Gesetz) und Existenzsicherung (Hessen-Modell):Grenzbelastung für Alleinstehende1)

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Hessen-Modell

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1) Neben den Bestimmungen des angegebenen Transfersystems (Hartz-IV-Gesetz oder Hessen-Modell) berücksichtigen die Grenzbelastungen für das jeweiligeBruttoentgelt, soweit anwendbar, die Beiträge zu den Sozialversicherungen (Gesetzliche Krankenversicherung: 14,4 vH; Gesetzliche Rentenversicherung: 19,5 vH;Arbeitslosenversicherung: 6,5 vH; Soziale Pflegeversicherung: 1,7 vH) das Wohngeld. Der Status quo bezieht sich auf den Rechtsstand vor dem 1. April 200 ,und 3das heißt vor der Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse die Rechts; dargestellten Reformvorschläge berücksichtigen die änderungen nachdem 1. April 2003.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

während bisher Eingliederungsmaßnahmen für Empfän-ger von Arbeitslosenhilfe aus Beitragsmitteln bestrittenwerden.Die Bundesanstalt für Arbeit plant vor diesem Hinter-grund die Einführung einer getrennten Buchhaltung fürBeitrags- und Steuermittel und eines Controllings, umdie Verwendung der jeweiligen Mittel transparenter zumachen. Nach Schätzungen werden sich die Ausgabendes Bundes für die Bezieher von Arbeitslosengeld II aufvoraussichtlich etwa 26 Mrd Euro im Jahr 2005 belau-fen, verglichen mit Aufwendungen für die Arbeitslosen-hilfe von 16,6 Mrd Euro in diesem Jahr. Die Kommunenwerden durch die Abgabe der Zuständigkeit für die er-werbsfähigen Sozialhilfeempfänger und ihre Angehöri-gen nach Schätzungen der Bundesregierung zunächst abdem Jahr 2005 pro Jahr um 11,6 Mrd Euro entlastet. Eingroßer Teil dieser Lastenverschiebung soll indes wiederausgeglichen werden, indem die Länder zugunsten desBundes auf 2,1 Umsatzsteuerpunkte verzichten und imGegenzug die Zuweisungen an ihre Kommunen reduzie-ren. Per saldo ergeben sich für die Kommunen Einspa-rungen von 1,9 Mrd Euro im Jahr 2004 und von2,5 Mrd Euro in den folgenden Jahren. Aufgrund vonÜbergangsfristen werden darüber hinaus die Empfängervon Arbeitslosenhilfe bis Ende des Jahres 2004 und dieerwerbsfähigen Empfänger der Sozialhilfe bis Ende des

Jahres 2006 in das Arbeitslosengeld II überführt, so dassdas volle Ausmaß der jeweiligen Belastungen und Ent-lastungen erst im Jahr 2007 greift. Geplant ist, dass inder Übergangszeit die Kommunen das Arbeitslosen-geld II im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit gewäh-ren, die den Kommunen die Verwaltungsaufwendungenganz und die Leistungen zu zwei Dritteln erstatten(§ 65 SGB II). Entlastet werden soll der Bund auchdurch die Einführung eines Aussteuerungsbetrags, dendie Bundesagentur für Arbeit gleichsam als Strafzahlungfür diejenigen Arbeitslosen zahlt, die nach Ausschöpfenihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld I das Arbeitslo-sengeld II beziehen. Als Abschlagszahlung für dasJahr 2004 ist ein Betrag von 3,1 Mrd Euro festgelegt(§ 46 SGB II). Der Bund ist jedoch weiterhin verpflich-tet, der Bundesagentur für Arbeit bei Bedarf einen zins-losen Kredit zur Erfüllung ihrer Geschäfte zur Verfü-gung zu stellen, der am Ende des Jahres in einenZuschuss umgewandelt wird, wenn er nicht zurückge-zahlt werden kann (§§ 364 f. SGB III). Insofern ist zubefürchten, dass die Lenkungswirkung des Aussteue-rungsbetrags über die Zuschusspflicht wieder ge-schwächt oder ganz neutralisiert wird.241. Nachdem bereits im vergangenen Jahr der Bundes-zuschuss mit 5,6 Mrd Euro erheblich über dem im Haus-haltsplan vorgesehenen Betrag von 2 Mrd Euro lag, ver-

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Arbeitslosengeld II (Hartz-IV-Gesetz) und Existenzsicherung (Hessen-Modell):Grenzbelastung für Ehepaare mit einem Kind1)

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Hessen-Modell

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Hartz-IV-Gesetz

-42,7 vH

1) Neben den Bestimmungen des angegebenen Transfersystems (Hartz-IV-Gesetz oder Hessen-Modell) berücksichtigen die Grenzbelastungen für das je-weilige Bruttoentgelt, soweit anwendbar, die Beiträge zu den Sozialver icherungen (Gesetzliche Krankenversicherung: 14,4 vH; Gesetzliche Rentenvers -sicherung: 19,5 vH; Arbeitslosenversicherung: 6,5 vH; Soziale Pflegeversicherung: 1,7 vH) das Wohngeld. Der Status quo bezieht sich auf, Kindergeld undden Rechtsstand vor dem 1. April 200 , das heißt vor der Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse die3 ; dargestellten Reformvorschlägeberücksichtigen die änderungen nach dem 1. April 2003Rechts .

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Deutschland in der Stagnation

fehlte die Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahraufgrund der unerwartet hohen Arbeitslosigkeit ihr Plan-ziel noch deutlicher. Zum Ausgleich des Haushalts wurdeein Bundeszuschuss von 7,5 Mrd Euro benötigt, obwohldie Bundesanstalt für Arbeit deutliche Sparanstrengun-gen unternahm. Bereits zu Beginn des Jahres begann sie,beim Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Instrumentari-ums umzusteuern: Während die direkte Förderung regu-lärer Beschäftigung merklich zunahm, gingen die Förder-zahlen bei den in der Vergangenheit häufig kritisierten„Beschäftigung schaffenden Maßnahmen“ und bei den„Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung“ deutlichund teilweise sogar drastisch zurück. Um über eine Inten-sivierung des Wettbewerbs zwischen den Weiterbil-dungsträgern die Effizienz der geförderten Maßnahmenzu erhöhen, erhalten darüber hinaus Arbeitslose, die aneiner Weiterbildungsmaßnahme teilnehmen, seit Beginndes Jahres Bildungsgutscheine, die sie bei dem von ih-nen gewählten Träger einlösen können. Der in diesenSchritten zum Ausdruck kommende Strategiewechsel re-flektiert das Bemühen, bei den einzelnen Maßnahmenstärker auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis und den Ein-gliederungserfolg zu achten; beides lässt sich empirischallerdings nur mit einigem Aufwand ermitteln. Für eineEinschätzung des Eingliederungserfolgs muss nämlichstreng genommen der differenzielle Effekt einer Maß-nahme bestimmt werden, das heißt die durch die Teil-nahme bewirkte Änderung der Wahrscheinlichkeit, dassein Arbeitsloser aus der Arbeitslosigkeit in die Erwerbs-tätigkeit wechselt. Dieser Effekt lässt sich nur über Eva-luationsstudien ermitteln, in denen die Maßnahmenteil-nehmer mit anderen Personen verglichen werden, die mitden Teilnehmern bis auf die Teilnahme selbst möglichstähnlich und im Idealfall identisch sind; eine entspre-chende Kontrollgruppe von Vergleichspersonen lässt sichüber natürliche Experimente, die zufällige Auswahl vonMaßnahmenteilnehmern oder, wenn diese Wege nicht zurVerfügung stehen, über ökonometrische Verfahren kon-struieren. Dieses Vorgehen erlaubt die Berücksichtigungeiner ganzen Reihe von Faktoren, die den Erfolg einerMaßnahme bei einer bestimmten Person und auch die Be-reitschaft zur Teilnahme beeinflussen und die, wie etwabestimmte Merkmale der Teilnehmer, mit der Maßnahmeselbst in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen.Eine Beurteilung der Maßnahme allein anhand der Wahr-scheinlichkeit, mit der Teilnehmer im Anschluss an dieMaßnahme innerhalb eines gewissen Zeitraums von bei-spielsweise einem Jahr eine sozialversicherungspflich-tige Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt gefun-den haben (Eingliederungsquote), führt demgegenüberin die Irre, weil sie den Einfluss all dieser Faktoren ein-seitig der Maßnahme zurechnet.

Vergleicht man etwa zwei Maßnahmen A und B mit (hy-pothetischen) Eingliederungsquoten von 30 vH und80 vH, so kann A dennoch die erfolgreichere sein. Sinddie Teilnehmer an A beispielsweise schwer vermittelbareLangzeitarbeitslose, die ohne die Teilnahme an einerMaßnahme nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 vHeine Stelle gefunden hätten, während an B eher gut qua-lifizierte Arbeitnehmer teilnehmen, die im Mittel ohne-hin nur wenige Wochen arbeitslos sind und daher auchohne die Maßnahme eine Beschäftigungswahrschein-

lichkeit von 70 vH hätten, so ist Maßnahme A trotz derniedrigeren Eingliederungsquote die bei weitem effekti-vere Maßnahme. Nimmt man zusätzlich an, dass sichaufgrund der Modalitäten des Anmeldeverfahrens unddes Auswahlverfahrens für Maßnahme B tendenzielleher besonders motivierte und leistungsbereite Personenbewerben, so würde der an der Eingliederungsquote ge-messene Erfolg der Maßnahme zusätzlich überschätzt.

Von der Bundesanstalt für Arbeit sollen zukünftig nurnoch „Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung“ ge-fördert werden, die eine Verbleibsquote von mindestens70 vH aufweisen. Zu berücksichtigen ist, dass die Ver-bleibsquote nicht einmal den durch die Maßnahme be-wirkten Eingliederungserfolg auf dem regulären Arbeits-markt, sondern lediglich den Anteil der Personen, diesechs Monate nach der Teilnahme an einer bestimmtenMaßnahme nicht mehr als arbeitslos registriert sind,misst und daher als Beurteilungsmaßstab zumindestebenso problematisch ist wie die Eingliederungsquote,die rund 18 Prozentpunkte niedriger war als die Ver-bleibsquote von etwa 57 vH im Jahr 2002. Vor dem Hin-tergrund der genannten Probleme, Eingliederungsquotenund Verbleibsquoten als Indikatoren für den Erfolg einerMaßnahme zu verwenden, bleibt es damit eine besondereAufgabe der Bundesagentur für Arbeit, darauf zu achten,dass die Orientierung an der Verbleibsquote nicht zurFörderung von Maßnahmen mit großen Mitnahmeeffek-ten führt, während erfolgreiche Projekte für schwer ver-mittelbare Arbeitslose, bei denen die Verbleibsquote na-turgemäß wesentlich niedriger ist, aus der Förderungherausfallen. Bei „Beschäftigung schaffenden Maßnah-men“ indes wird in Zukunft ganz auf das Kriterium desEingliederungserfolgs verzichtet und stattdessen nurnoch der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit verlangt,wie immer dieser auch gemessen wird. Darüber hinaussollen im Rahmen des Hartz-III-Gesetzes die Arbeitsbe-schaffungsmaßnahmen und die Strukturanpassungsmaß-nahmen zusammengelegt und für Teilnehmer an diesenMaßnahmen keine Beiträge mehr an die Arbeitslosenver-sicherung entrichtet werden, so dass die Teilnahme an ei-ner solchen Maßnahme keine Ansprüche auf Arbeitslo-sengeld mehr begründet. Diese vorgesehene Änderungist begrüßenswert, denn ansonsten entstünden neue Ver-schiebebahnhöfe innerhalb der Bundesagentur für Arbeitzwischen dem beitragsfinanzierten Arbeitslosengeld Iund dem steuerfinanzierten Arbeitslosengeld II.

242. Bereits im vergangenen Jahr führte die Bundesre-gierung als zusätzliche Instrumente unter anderem Ver-mittlungsgutscheine und Einstellungszuschüsse beiVertretung („Jobrotation“) ein. Nachdem im vergange-nen Jahr von der Einführung im April bis zum Jahres-ende rund 207 000 Vermittlungsgutscheine ausgegebenund davon knapp 13 000 eingelöst worden waren, beliefsich die Zahl der von Anfang des Jahres bis Ende Ok-tober ausgegebenen Vermittlungsgutscheine auf etwa377 000, wobei die Zahl der monatlich ausgegebenenGutscheine seit ihrer Einführung trendmäßig immernoch ansteigt. Eingelöst wurden bis zum Oktober diesesJahres rund 29 000 Gutscheine. Über die Hälfte der Gut-scheine wurde in Ostdeutschland ausgegeben, und derentsprechende Anteil an den eingelösten Gutscheinenbetrug sogar zwei Drittel. Für die verglichen mit der

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Zahl der Arbeitslosen eher bescheidene Inanspruch-nahme und die geringe Einlösequote werden neben derÜberforderung vieler Arbeitsloser mit der Auswahl ei-nes geeigneten Vermittlers insbesondere die zu geringeAttraktivität gerade für professionelle private Vermittlerangeführt. Abgesehen von einer gerade angesichtsschwer zu vermittelnder Arbeitsloser ungenügendenHöhe der Vermittlungsgebühr spielt dabei auch eineRolle, dass ein Arbeitsloser mehrere Vermittler paralleleinschalten darf, von denen nur einer die Vermittlungs-prämie erhalten kann (JG 2002 Ziffer 189).

Die „Jobrotation“ wurde mit einer Teilnehmerzahl vonetwa 1 000 Personen (Ende Oktober) weiterhin nur ver-einzelt genutzt. Ebenfalls deutlich unter den Erwartun-gen lag die Inanspruchnahme des im Rahmen derUmsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission auf-gelegten Programms „Kapital für Arbeit“, das von derKreditanstalt für Wiederaufbau betreut wird und zum1. November 2002 in Kraft getreten war. Bis AnfangNovember dieses Jahres wurden zur Förderung von8 898 Einstellungen, darunter knapp 900 Ausbildungs-verhältnisse, 2 201 Darlehen mit einem Gesamtvolumenvon 636 Mio Euro vergeben.

Zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit bei Perso-nen im Alter von über 25 Jahren beschloss die Bundesre-gierung das Programm „Arbeit für Langzeitarbeitslose“.Über kommunale Beschäftigungsangebote soll die Ein-gliederung von 100 000 Arbeitslosen gefördert werden,die seit mindestens sechs Monaten arbeitslos sind– angestrebt sind 60 000 Arbeitslosenhilfebezieher und40 000 Sozialhilfeempfänger. Das Programm begann am1. September 2003 und besitzt eine Laufzeit von zweiJahren sowie ein Finanzvolumen von 860 Mio Euro.

Neue Instrumente: Personal-Service-Agenturen, Mini-Jobs und Ich-AG

243. Durch das „Erste Gesetz für moderne Dienstleis-tungen am Arbeitsmarkt“ wurde mit dem Ziel, denEinsatz von Leiharbeit und damit auch die Arbeit derPersonal-Service-Agenturen zu erleichtern, zudem dasArbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) geändert. Esentfielen das Verbot befristeter Beschäftigungsverhält-

nisse zwischen Leiharbeitnehmer und Verleihbetrieb,das Synchronisationsverbot, das heißt die zeitliche Be-schränkung des Beschäftigungsverhältnisses auf dieDauer eines Verleiheinsatzes, das Wiedereinstellungs-verbot, das nach einer Kündigung die erneute Beschäfti-gung eines vormals bereits beim Verleihbetrieb beschäf-tigten Arbeitnehmers untersagte, und die Begrenzungder maximalen Verleihdauer auf 24 Monate. Darüber hi-naus wurde der Verleih von Arbeitnehmern im Bauge-werbe erleichtert, sofern ein für allgemeinverbindlich er-klärter Tarifvertrag die Arbeitnehmerüberlassung zulässt(§ 1b Satz 2 AÜG).Im Gegenzug wurde der Gleichbehandlungsgrundsatzneu in das Gesetz eingefügt (§ 3 Absatz 1 Nr. 3 AÜG),demzufolge die wesentlichen Arbeitsbedingungen ein-schließlich des Arbeitsentgelts für Leiharbeitnehmer undin den Entleihbetrieben vergleichbar Beschäftigten sichentsprechen müssen. Ausgenommen davon sind in allenBetrieben nur die ersten sechs Wochen des Verleihein-satzes, in denen das Arbeitslosengeld die Untergrenzefür das Nettoarbeitsentgelt darstellt, sowie diejenigenBetriebe, in denen ein Tarifvertrag eine andere Entloh-nung vorsieht. Durch diese Regelung wird der Einflussder Tarifvertragsparteien auf einen bisher nur schwachorganisierten Wirtschaftsbereich ausgeweitet. Die Ände-rungen werden zum 1. Januar 2004 wirksam. Tritt je-doch bereits früher ein Tarifvertrag für das Leiharbeits-gewerbe in Kraft, so entfallen für das betreffendeUnternehmen schon ab diesem Zeitpunkt das Befris-tungsverbot, das Synchronisationsverbot, das Wieder-einstellungsverbot und die Beschränkung der Verleih-dauer (§ 19 AÜG). Welchen Einfluss diese Änderungenauf den verglichen mit anderen Ländern unterdurch-schnittlichen Umfang der Leiharbeit in Deutschland ha-ben werden, lässt sich noch nicht abschätzen, zumalauch im internationalen Vergleich kein eindeutiger Zu-sammenhang zwischen der Regulierungsdichte vonLeiharbeit und ihrem Anteil an der Gesamtbeschäfti-gung besteht (Kasten 6). Es ist jedoch zu befürchten,dass die den genannten Lockerungen der Leiharbeit ent-gegenlaufende Einführung des Gleichbehandlungs-grundsatzes insbesondere die Beschäftigungschancenvon Geringqualifizierten, bei denen der Lohnhöhe einegrößere Bedeutung zukommt, verschlechtert.

K a s t e n 6

Befristete Beschäftigung und Leiharbeit im internationalen Vergleich

Befristete Beschäftigungsverhältnisse gewannen in den vergangenen Jahren insbesondere in Europa zunehmendan Bedeutung. Aufgrund unterschiedlicher nationaler Abgrenzungen werden im Folgenden die Definition und, so-fern verfügbar, Daten der OECD zugrunde gelegt, die unter befristeter Beschäftigung abhängige Beschäftigungs-verhältnisse versteht, die so gut wie keine Aussicht auf eine längerfristige Beschäftigung bieten (OECD, 2002).Die in den OECD-Ländern anzutreffenden Vertragsformen lassen sich in die Kategorien Leiharbeit, befristete Be-schäftigungsverhältnisse im engeren Sinne (Arbeitsverträge mit fester Dauer oder festem Endzeitpunkt), Saison-arbeit, Bereitschaftskräfte und sonstige befristete Beschäftigungsverhältnisse wie Krankheitsvertretungen oderAusbildungsverhältnisse unterteilen. Auch wenn in einigen Ländern unbefristete Verträge zwischen Arbeitnehmerund Verleiher existieren, wird Leiharbeit aufgrund einer ganzen Reihe von Gemeinsamkeiten zu den befristetenBeschäftigungsverhältnissen gezählt, zumal die Verleiheinsätze in der Regel befristet sind.

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Deutschland in der Stagnation

Befristete Beschäftigungsverhältnisse im Allgemeinen

Zwischen den Jahren 1985 und 2000 stieg in den OECD-Ländern der Anteil der befristet Beschäftigten an allenabhängig Beschäftigten von rund 10 vH auf etwa 12 vH, doch unterschieden sich Niveau und zeitliche Entwick-lung zwischen den einzelnen Volkswirtschaften deutlich. Im Jahr 2000 etwa variierte der Anteil befristeter Be-schäftigung zwischen weniger als 5 vH in den Vereinigten Staaten, Luxemburg und der Slowakei auf der einenund etwa einem Drittel in Spanien auf der anderen Seite. Obwohl in vielen Ländern der Anteil befristeter Beschäf-tigung zwischen den Jahren 1985 und 2000 zunahm, verlief der Anstieg nicht monoton, und in einigen Ländern(Dänemark, Griechenland, Irland, Luxemburg und Vereinigtes Königreich) ging der Anteil sogar zurück. Ähnlichheterogen war die Verteilung auf die oben genannten Kategorien und der Beitrag befristeter Beschäftigungsver-hältnisse zum Beschäftigungszuwachs zwischen den Jahren 1990 und 2000. Diese Heterogenität erschwert dieIdentifikation von Bestimmungsgründen für die Entwicklung der befristeten Beschäftigung als Ganzes. Zwar legtder eher hohe Anteil befristeter Beschäftigungsverhältnisse in Frankreich oder Spanien, die jeweils über einen ri-gorosen Entlassungsschutz für Festangestellte verfügen und zugleich befristete Beschäftigungsverhältnisse dere-guliert haben, die Vermutung nahe, dass befristete Beschäftigungsverhältnisse ein Mittel zur Umgehung oder Ab-federung eines hohen Entlassungsschutzes sind, doch ist die Korrelation zwischen diesen beiden Größen nur sehrschwach. Stärker ist die Korrelation hingegen zwischen dem Entlassungsschutz und dem Anteil der befristetBeschäftigten unter den Arbeitnehmern im Alter von 20 bis 29 Jahren (OECD, 1999). Es finden sich fernerHinweise darauf, dass befristete Beschäftigungsverhältnisse im Gefolge einer lang anhaltenden Rezession zuneh-men, etwa weil es in einem solchen Umfeld wichtiger ist, im Hinblick auf die Beschäftigung flexibel reagieren zukönnen.

Arbeitnehmer im Alter von 15 bis 24 Jahren sowie Geringqualifizierte sind unter befristet Beschäftigten überpro-portional häufig vertreten. Jüngere haben eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit, befristet beschäftigt zu sein alsArbeitnehmer im Alter von mehr als 55 Jahren; in Spanien waren im Jahr 2000 sogar zwei Drittel aller Jüngerenbefristet beschäftigt. Der mit dem Alter abnehmende Anteil befristeter Beschäftigung und die positive Korrelationzwischen der Stringenz des Entlassungsschutzes und dem Anteil der befristet Beschäftigten unter den jüngerenArbeitnehmern sprechen für eine gewisse Bedeutung der befristeten Beschäftigungsverhältnisse als Eingangstorzu einer Festanstellung. Gegen die Hypothese, dass befristet Beschäftigte nur in einigen Randbereichen der Wirt-schaft tätig sind, spricht, dass sie im Mittel der OECD-Länder in den gleichen Klassen hinsichtlich der Alters-struktur, den Wirtschaftszweigen, den Tätigkeitsfeldern und den Betriebsgrößen vertreten sind wie unbefristet Be-schäftigte, wenn auch, wie ausgeführt, mit anderen Häufigkeitsverteilungen. Diese Unterschiede zu unbefristetBeschäftigten müssen bei der Beurteilung der Arbeitsplatzqualität, der Lohnposition und der Erwerbsmobilität be-rücksichtigt werden.

Befristet Beschäftigte sind auch im Hinblick auf sonstige Arbeitplatzmerkmale benachteiligt: Sie üben häufigermonotone Tätigkeiten oder Schichtarbeit aus, sind eher in starre Arbeitsabläufe eingebunden und haben einenerschwerten Zugang zu Weiterbildung. Die Höhe der Vergütung von befristet Beschäftigten relativ zu der vonfest angestellten Beschäftigten ist aus theoretischer Sicht unbestimmt, denn obwohl beispielsweise die Theoriedualer Arbeitsmärkte niedrigere Löhne erwarten lässt, könnten nach der Theorie kompensierender Lohndiffe-rentiale als Ausgleich für die höhere Arbeitsplatzunsicherheit die Löhne, verglichen mit einem unbefristet Be-schäftigten, auch höher sein. Allerdings gibt es in der Literatur nur schwache empirische Belege für die letztge-nannte Theorie. Entsprechend finden Studien teilweise beträchtliche Lohnabschläge für befristet Beschäftigte,die bisweilen bei späterer Festanstellung noch fortwirken (OECD, 2002). Vergleicht man mit Hilfe des EU-Haushaltspanels aus dem Jahr 1997 für die EU-Staaten (ohne Luxemburg und Schweden) jeweils die unbeding-ten Lohnverteilungen von befristet und unbefristet Beschäftigten, so finden sich Lohndifferenzen zwischen47 vH in Spanien und 17 vH in Deutschland. Gleichzeitig aber erhält ein nicht unerheblicher Anteil der befris-tet Beschäftigten auch überdurchschnittliche Löhne. In neun der 13 Länder ist das 75 vH-Quantil der Lohnver-teilung der befristet Beschäftigten mindestens so groß wie der Median der Lohnverteilung der unbefristet Be-schäftigten. Zumindest in der Europäischen Union sind demnach befristet Beschäftigte nicht zwingend nur imNiedriglohnbereich tätig, denn in diesem Fall sollten sich die Lohnverteilungen von befristet und unbefristetBeschäftigten kaum überlappen. Berücksichtigt man in multivariaten Regressionen zusätzlich die oben darge-stellten strukturellen Unterschiede zwischen befristet und unbefristet Beschäftigten, so sind die um die Hetero-genität der befristet Beschäftigten bereinigten Lohndifferenzen geringer, bleiben aber in allen Ländern signifi-kant und sind bei Frauen tendenziell etwas größer. In Deutschland betragen sie nun noch 10 vH für Männer und16 vH für Frauen, in Spanien 15 vH für Männer und 17 vH für Frauen. Die höchste Lohndifferenz von 21 vHfindet sich in den Niederlanden bei Männern.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Die beträchtliche Fluktuation unter befristet Beschäftigten und die damit einhergehende Einkommensunsicher-heit ist insbesondere dann ein Problem, wenn Arbeitnehmer lange in diesem Arbeitsmarktsegment verbleiben.Empirische Untersuchungen zeigen, dass befristet Beschäftigte zwar ein merklich höheres Arbeitslosigkeitsrisikohaben, zugleich aber ein nicht unerheblicher Anteil von ihnen später eine Festanstellung findet (OECD, 2002,S. 159 ff.). Dieser Anteil nimmt meist nach einem Jahr befristeter Beschäftigung sogar noch zu, wobei allerdingsdie Länder gerade in ihren Übergangswahrscheinlichkeiten sehr heterogen sind. Geschlechterunterschiede in denÜbergangswahrscheinlichkeiten finden sich kaum: Für Frauen ist das Arbeitslosigkeitsrisiko nur unwesentlich hö-her und die Wahrscheinlichkeit eines Wechsels in eine Festanstellung kaum niedriger als bei Männern. Eine Unter-suchung für Deutschland hat das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim, anhand desSozio-oekonomischen Panels durchgeführt (Hagen, 2003). Die Evaluationsstudie kommt zu dem Schluss, dass dieTätigkeit in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis die Wahrscheinlichkeit, eine Festanstellung zu finden, er-höht. Das Risiko, arbeitslos zu bleiben, reduziert sich indes langfristig nicht, vielmehr sinkt die Wahrscheinlich-keit, in die stille Reserve zu wechseln oder ganz aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.

Der Einsatz befristeter Beschäftigungsverhältnisse als Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist Gegen-stand einer ausführlichen Untersuchung für die Schweiz (Gerfin und Lechner, 2003). Anhand eines sehr detaillier-ten Datensatzes wurde der Erfolg für verschiedene Programme verglichen, und zwar gemessen als die Wahr-scheinlichkeit, mit der die Teilnehmer ab dem Beginn des Programms eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarktfanden. Von den betrachteten Maßnahmen – verschiedene Formen der Weiterbildung, Arbeitsbeschaffungsmaß-nahmen und subventionierte befristete Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt – stellten einzig die befristetenBeschäftigungsverhältnisse Arbeitslose eindeutig besser als die Nichtteilnahme an anderen Programmen gleichwelcher Art. Dies galt insbesondere für diejenigen Arbeitslosen, die bereits länger arbeitslos waren.

Leiharbeit

Leiharbeit ist wegen der im Vergleich zu unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen höheren Fluktuation statistischnoch schwerer zu erfassen. Empirische Untersuchungen zur Leiharbeit basieren daher im Allgemeinen nicht aufDaten aus Erwerbstätigenstatistiken, sondern auf gesonderten Erhebungen, etwa der jeweiligen Unternehmensver-bände. In einigen Ländern hat zwischen den Jahren 1992 und 2000 die Zahl der Leiharbeitnehmer ganz erheblichzugenommen: So kam es in Österreich zu einer Vervierfachung und in Dänemark, Schweden, Italien und Spaniensogar zu einer Verfünffachung. Dennoch war verglichen mit der Bedeutung befristeter Beschäftigungsverhältnisseinsgesamt der Anteil von Leiharbeitnehmern an der Gesamtbeschäftigung in der Europäischen Union ohne Finn-land, Griechenland, Italien und Österreich mit geschätzten 1,3 vH in den Jahren 1998/1999 eher niedrig. Nach ei-ner neueren Erhebung für die Jahre 2000/2001 ist der Anteil merklich auf geschätzte 2,1 vH gestiegen. Nicht ganzklar ist, inwiefern diese starke Änderung innerhalb von nur zwei Jahren auf eine tatsächliche Zunahme der Leihar-beit oder auch auf Probleme einer über die Zeit nicht vergleichbaren Erfassung von Leiharbeit zurückzuführen ist.In Deutschland verdreifachte sich seit dem Jahr 1993 sowohl die Zahl der Leiharbeitnehmer als auch deren Anteilan der Gesamtbeschäftigung, der mit rund 1,3 vH im Jahr 2001 aber noch deutlich unter dem Durchschnitt der be-trachteten EU-Länder lag. Ebenso wie bei den befristet Beschäftigten, sind institutionelle Bestimmungsgründe fürdie quantitative Bedeutung der Leiharbeit indes nur schwer zu identifizieren. So findet sich für den Querschnitt derMitgliedstaaten der Europäischen Union kein robuster Zusammenhang zwischen der anhand eines Indikators derOECD gemessenen Regulierungsdichte der Leiharbeit und ihrem Anteil an der Gesamtbeschäftigung.

Die Anteile von Männern, Jüngeren, Ausländern und Geringqualifizierten sind unter Leiharbeitnehmern höher imVergleich zur Gesamtheit der Beschäftigten und folgen zum Teil auch entgegengesetzten Trends. Während bei-spielsweise in Westdeutschland zwischen den Jahren 1985 und 2001 der Anteil Geringqualifizierter an allen Ar-beitnehmern von 29 vH auf 17 vH abnahm, stieg er in der Leiharbeitsbranche von 23 vH auf knapp 35 vH.

Bei der Vergütung müssen Leiharbeitnehmer ebenfalls merkliche Lohnabschläge in Kauf nehmen (gemessen anden unbedingten Lohnverteilungen, das heißt ohne Berücksichtigung individueller lohnrelevanter Merkmale).Denkbare Ursachen hierfür sind eine teilweise Überwälzung der Gebühren, die das Entleihunternehmen an denVerleiher zahlt, auf den Leiharbeitnehmer, die verleihfreie Zeit, in der der Leiharbeitnehmer vom Verleiher weiter-hin einen Lohn erhält, sowie die individuellen Merkmale der Leiharbeitnehmer, die diese von unbefristet Beschäf-tigten unterscheiden. Im Jahr 1999 betrug die Lohndifferenz im Vereinigten Königreich über 30 vH und inDeutschland bis zu 40 vH. In Spanien, wo die Lohndifferenz vor dem Jahr 1999 etwa 10 vH bis 15 vH betragenhatte, wurde in jenem Jahr festgelegt, dass Leiharbeitnehmern der im Entleihbetrieb geltende Tariflohn für unbe-fristet Beschäftigte in vergleichbarer Position gezahlt werden muss. Dieses Beispiel erlaubt, die möglichen Wir-kungen einer arbeitsmarktpolitischen Intervention zur Beseitigung der Lohnabschläge abzuschätzen. Es kam inSpanien nach Angaben der Zeitarbeitsunternehmen zu einem Anstieg der Leiharbeitnehmerlöhne um 20 vH, sodass die Lohndifferenz in etwa geschlossen wurde (IAB, 2002a; Storrie, 2002, S. 54). Dieser Anstieg ist eine mög-

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Deutschland in der Stagnation

liche Erklärung für den zwischen den Jahren 1998/1999 und 2000/2001 beobachteten leichten Rückgang der Leih-arbeitnehmerquote in Spanien von 0,8 vH auf 0,7 vH. In Deutschland rechnen einer Umfrage des Zentrums fürEuropäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim, zufolge etwa 85 vH der Zeitarbeitsunternehmen mit einerZunahme ihrer Personalkosten aufgrund der gesetzlichen Neuregelung. Da bisher vor allem geringqualifizierteLeiharbeitnehmer niedriger bezahlt wurden als vergleichbare, in den Entleihbetrieben fest angestellte Arbeitneh-mer, ist zu erwarten, dass die Neuregelung zu einer Verteuerung insbesondere bei diesen Personen und entspre-chend zu einer niedrigeren Arbeitsnachfrage führt (ZEW, 2003).

Eine neuere Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Berlin, (DIW, 2002) für Deutschlandunterstreicht, dass ebenso wie bei den befristeten Beschäftigungsverhältnissen zur Beurteilung der Lohndifferenzdie individuellen Merkmale der Leiharbeitnehmer berücksichtigt werden müssen. Betrachtet man Arbeitnehmer,die zwischen den Jahren 1991 und 1995 als Leiharbeitnehmer tätig waren, so lassen sich bei den Frauen etwa34 vH und bei den Männern 43 vH der unbedingten Lohndifferenz von 28,7 vH beziehungsweise 26,2 vH durchindividuelle Merkmale erklären. Darüber hinaus zeigt die Studie, dass Leiharbeit keine Lohneinbußen in späterenFestanstellungen zur Folge hat, sofern der Arbeitnehmer binnen eines Jahres nach Beendigung der Leiharbeiteine Stelle auf dem regulären Arbeitsmarkt findet. Leiharbeit scheint demnach keinen Stigmatisierungseffekt zuhaben.

Die Entleihdauer ist im Mittel niedriger als die Beschäftigungsdauer bei befristeten Beschäftigungsverhältnisseninsgesamt, und zumindest für Deutschland und Frankreich gibt es Belege dafür, dass die Zahl der Leiharbeitneh-mer stärkeren Schwankungen im Konjunkturzyklus unterliegt als die der befristeten Beschäftigungsverhältnisseinsgesamt (OECD, 2002). In Deutschland und den meisten übrigen EU-Ländern ist die Einsatzdauer in 90 vH derFälle kürzer als sechs Monate, in Spanien und Frankreich liegt sie in 80 vH der Fälle sogar unter einem Monat.Hingegen ist in den Niederlanden und in Österreich, Länder, die die Verleihdauer nicht gesetzlich beschränken, dieEinsatzdauer nur in 70 vH beziehungsweise in 66 vH der Fälle kürzer als sechs Monate.

Für Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich, die Niederlande und Spanien liegen auch Daten aus demJahr 1999 zum vorherigen und anschließenden Erwerbsstatus vor (IAB, 2002a). So waren in diesen Länderndurchschnittlich 34 vH der Leiharbeitnehmer vor dem Verleiheinsatz nicht erwerbstätig, während von den vorherErwerbstätigen 17 vH bei anderen Verleihern, 12 vH in sonstiger befristeter Beschäftigung und 32 vH fest ange-stellt waren. Einer anderen Erhebung zufolge belief sich in Deutschland der Anteil der zuvor nicht erwerbstätigenLeiharbeitnehmer sogar auf 61,6 vH (IAB, 2002b). Ein Jahr nach Beginn der Überlassung erhielten im Mittel derfünf Länder 43 vH der Leiharbeitnehmer ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsplatzangebot auf dem ersten Ar-beitsmarkt. In Spanien betrug der entsprechende Prozentsatz 50 vH, in Deutschland 29 vH. Für eine Einschätzungder Personal-Service-Agenturen wären Evaluationsstudien, die, aufgegliedert nach individuellen Merkmalen, dentatsächlich auf die Leiharbeit zurückzuführenden Beschäftigungseffekt bestimmen und dazu die alternative Ent-wicklung der Arbeitnehmer außerhalb der Verleihbranche berücksichtigen, wertvoll.

Literatur

DIW (2002) Lohneffekte der Zeitarbeit, DIW Wochenbericht Nr. 49/2002, 847 – 854.

Gerfin, Michael und Michael Lechner (2003) A Microeconometric Evaluation of the Active Labour Market Policyin Switzerland, Economic Journal 112 (482), 854 – 893.

Hagen, Tobias (2003) Do Fixed-Term Contracts Increase the Long-Term Employment Opportunities of the Unem-ployed, ZEW Discussion Paper Nr. 03 – 49.

IAB (2002a) Zeitarbeit Teil I − Auch für Arbeitslose ein Weg mit Perspektive, IAB Kurzbericht Nr. 20/2002.

IAB (2002b) Zeitarbeit Teil II − Völlig frei bis streng geregelt: Variantenvielfalt in Europa, IAB KurzberichtNr. 21/2002.

OECD (1999) OECD Employment Outlook June 1999, Paris

OECD (2002) OECD Employment Outlook July 2002, Paris

Storrie, Donald (2002) Temporary Agency Work in the European Union, Dublin: European Foundation for the Im-provement of Living and Working Conditions.

ZEW (2003) Zeitarbeitsbetriebe: Hartz-Gesetze steigern Kosten, vermindern Umsätze, ZEWnews Septem-ber 2003, 1 – 2.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

244. Aufgrund vergaberechtlicher Bestimmungen en-deten die Ausschreibungen für die neu einzurichtendenPersonal-Service-Agenturen (PSA) erst im April die-ses Jahres. Die Ausschreibungen sahen als Vergütungder Verleihunternehmen eine degressive Fallpauschaleund eine degressive Vermittlungspauschale vor, derengenaue Höhe zwischen den ausschreibenden Arbeitsäm-tern variieren kann; die Beschäftigungsdauer in einerPersonal-Service-Agentur wurde, je nach Agentur, aufneun bis zwölf Monate begrenzt. Entgegen den ur-sprünglichen Erwartungen von 50 000 Teilnehmern imMittel des Jahres 2003 verliefen die Beschäftigungsent-wicklung und der Verleihbetrieb in den Agenturen an-fangs schleppend. Ende Oktober waren in 952 Personal-Service-Agenturen mit einer Kapazität von nicht ganz43 000 Plätzen rund 25 000 Personen beschäftigt.

245. Mit der Ich-AG, das heißt dem Existenzgrün-dungszuschuss nach § 421l SGB III, wurde neben denPersonal-Service-Agenturen und den Mini-Jobs ein wei-terer Vorschlag der Hartz-Kommission zur Förderungvon regulärer Beschäftigung umgesetzt. Seit Januar desJahres 2003 kann dieses Förderinstrument der Bundes-anstalt für Arbeit in Anspruch genommen werden. DieTeilnehmerzahlen sind rasch auf zuletzt kanpp73 000 Fälle angestiegen, wobei die Förderung von Neu-fällen bis Ende des Jahres 2005 befristet ist. Anspruchs-berechtigt sind Bezieher von Arbeitslosengeld oderArbeitslosenhilfe sowie Teilnehmer an Arbeitsbeschaf-fungsmaßnahmen und Strukturanpassungsmaßnahmen.Das Arbeitseinkommen nach Aufnahme der selb-ständigen Tätigkeit darf 25 000 Euro im Jahr nicht über-schreiten. Nach einer anfänglichen Beschränkung aufFamilienangehörige dürfen mittlerweile auch andere Ar-beitnehmer beschäftigt werden. Unter diesen Vorausset-zungen wird der Zuschuss für bis zu drei Jahre gewährtund beträgt jeweils monatlich im ersten Jahr 600 Euro,im zweiten Jahr 360 Euro und im dritten Jahr 240 Euro.Er wird jährlich neu bewilligt, doch bei Wegfall der An-spruchsvoraussetzungen, insbesondere bei Überschrei-ten der Einkommensgrenzen, müssen bis dahin gezahlteZuschüsse nicht erstattet werden. Der Bezieher hat diePflicht, sich in der Gesetzlichen Rentenversicherung zuversichern, während die Mitgliedschaft in der Gesetzli-chen Krankenversicherung und der Gesetzlichen Pflege-versicherung nicht zwingend vorgeschrieben, aber zuSonderkonditionen möglich ist. Eine Wiederaufnahmedes Leistungsbezugs von Arbeitslosengeld oder Arbeits-losenhilfe, beispielsweise bei einem Fehlschlagen derExistenzgründung, ist möglich, sofern seit der Entste-hung des Anspruchs nicht mehr als vier Jahre vergangensind (§ 147 SGB III).

246. Ein weiteres, bereits seit einigen Jahren eingesetz-tes Instrument zur Förderung einer selbständigen Be-schäftigung ist das Überbrückungsgeld gemäߧ 57 SGB III, für das der gleiche Personenkreis wiebeim Existenzgründungszuschuss anspruchsberechtigtist. Welche der beiden Maßnahmen, die nicht gleichzei-tig bezogen werden können, sich für einen potentiellenSelbständigen eher eignet, hängt vor allem von den Ge-

schäftserwartungen und der Höhe der bisher bezogenenLohnersatzleistungen ab. Beim Überbrückungsgeld istdie Förderdauer mit sechs Monaten wesentlich kürzer,allerdings gibt es keine Obergrenze für das Einkommenaus der neu aufgenommenen selbständigen Tätigkeit.Außerdem ist das ebenfalls monatlich gewährte Über-brückungsgeld nicht pauschaliert, sondern entsprichtdem bis dahin geleisteten Arbeitslosengeld oder der Ar-beitslosenhilfe, jeweils zuzüglich der bisher vom Ar-beitsamt abgeführten Sozialversicherungsbeiträge. Artund Umfang der sozialen Absicherung obliegen dem Be-zieher von Überbrückungsgeld, eine Mitgliedschaft ineinem bestimmten Sozialversicherungszweig ist nichtvorgeschrieben. Diese Leistung ist demnach dann attrak-tiver als der Existenzgründungszuschuss, wenn einhoher Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosen-hilfe besteht und voraussichtlich rasch die Einkommens-grenze von 25 000 Euro überschritten wird. Als weitererwichtiger Unterschied zwischen den beiden Förder-instrumenten findet beim Überbrückungsgeld im Gegen-satz zum Existenzgründungszuschuss eine Prüfung derGeschäftsidee statt, denn bei der Beantragung ist gemäߧ 57 Absatz 2 Nr. 2 SGB III die „Stellungnahme einerfachkundigen Stelle über die Tragfähigkeit der Existenz-gründung“ vorzulegen. Sofern diese Art der Qualitäts-kontrolle von Existenzgründungen mehr als ein lediglichformales Kriterium darstellt, also wirklich eine materi-elle Prüfung der Geschäftsidee erfolgt, legt dieser Unter-schied nahe, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit ei-ner über den Existenzgründungszuschuss anstelle desÜberbrückungsgelds geförderten selbständigen Beschäf-tigung und damit auch die durch dieses Instrument er-reichbare Eingliederungsquote niedriger sein dürften.Für eine solche Beurteilung ist es jedoch noch zu früh,zumal sich aufgrund der unterschiedlichen Förderkrite-rien die jeweils geförderten Geschäftsideen systematischunterscheiden dürften und einen unmittelbaren Vergleichder Eingliederungsquoten damit erschweren. Eine empi-rische Untersuchung zu den Auswirkungen des Überbrü-ckungsgelds zeigt jedenfalls, dass dieses den Übergangin eine selbständige Tätigkeit erleichtert und die Überle-benswahrscheinlichkeit der Neugründungen erhöht.

247. Zum 1. April 2003 trat eine umfassende Reformder geringfügigen Beschäftigung (§§ 8 ff. SGB IV) undvon Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnbe-reich in Kraft, den so genannten Mini-Jobs beziehungs-weise Midi-(„Niedriglohn“-)Jobs. Die geringfügigenBeschäftigungsverhältnisse gliedern sich seitdem in ge-ringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse, gering-fügige Beschäftigung in Privathaushalten und kurzfris-tige Beschäftigung. Im Bereich der geringfügigentlohnten Beschäftigungsverhältnisse wurde die Ent-geltgrenze von 325 Euro auf 400 Euro angehoben unddie Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf nicht mehrals 15 Stunden gestrichen. Die gleichen Bestimmungengelten für die geringfügige Beschäftigung in Privathaus-halten. Mini-Jobs sind für den Arbeitnehmer weiterhinabgabenfrei. Der Arbeitgeber entrichtet eine Pauschalab-gabe in Höhe von 25 vH des Lohns, die sich aus Beiträ-gen von 12 vH für die Gesetzliche Rentenversicherung,

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Deutschland in der Stagnation

11 vH für die Gesetzliche Krankenversicherung und2 vH an Steuern zusammensetzt. Bei geringfügiger Be-schäftigung in Privathaushalten beträgt der Abgabensatznur 12 vH, davon fließen je 5 vH an die GesetzlicheRentenversicherung und die Gesetzliche Krankenversi-cherung sowie 2 vH als Steuern an den Fiskus; für Per-sonen, die nicht in der Gesetzlichen Krankenversiche-rung versichert sind, entfallen die entsprechendenBeiträge. Arbeitgeber mit bis zu 30 Beschäftigten, wobeiTeilzeitbeschäftigte nur anteilig gezählt werden, entrich-ten zudem für jeden Mini-Job eine Umlage von 1,3 vHdes Verdienstes an die Lohnfortzahlungsversicherung,die Lasten aus der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalloder bei Kuren teilweise sowie Leistungen des Arbeitge-bers nach dem Mutterschaftsgesetz ganz ausgleicht. Wiebei der bisherigen Regelung der geringfügig entlohntenBeschäftigung entstehen durch die Pauschalzahlungendes Arbeitgebers keine zusätzlichen Ansprüche an dieGesetzliche Krankenversicherung und reduzierte An-sprüche an die Gesetzliche Rentenversicherung. Gering-fügig entlohnte Beschäftigte und geringfügig Beschäf-tigte in Privathaushalten haben aber auch weiterhin dieMöglichkeit, durch Aufstockung des Pauschalanteilsvon 12 vH beziehungsweise 5 vH auf den vollen Pflicht-beitrag zur Gesetzlichen Rentenversicherung Ansprücheauf das gesamte Leistungsspektrum der GesetzlichenRentenversicherung zu erwerben. Wieder eingeführtwurde die Möglichkeit einer sozialversicherungsfreiengeringfügigen Nebentätigkeit, das heißt, neben einer so-zialversicherungspflichtigen Hauptbeschäftigung kanneine geringfügig entlohnte Beschäftigung oder eine ge-ringfügige Beschäftigung in Privathaushalten ausgeübtwerden, ohne dass diese mit der Hauptbeschäftigung zu-sammengezählt und entsprechend höher mit Abgabenbelastet wird. Jeder weitere Mini-Job wird jedoch mitder Hauptbeschäftigung zusammengerechnet.

Zur Verwaltungsvereinfachung müssen die jeweiligenAnteile des Arbeitgeberbeitrags nicht mehr an die für dieeinzelnen Beschäftigten zuständigen Kassen, sondern andie Bundesknappschaft überwiesen werden, die dann dieVerteilung an die einzelnen gesetzlichen Krankenkassen,die Rentenversicherungsträger und den Fiskus über-nimmt. Diese Vereinfachung dürfte auch zu einer ver-besserten statistischen Erfassung von geringfügigen Be-schäftigungsverhältnissen beitragen.

248. Um den sprunghaften Anstieg der Grenzbelastungan der früheren Geringfügigkeitsschwelle zu vermeiden,bei der es infolge des Einsetzens der Sozialversiche-rungspflicht zu extrem hohen Grenzbelastungen bei ei-nem Anstieg des Einkommens über 325 Euro kam,wurde eine Gleitzone für Bruttoarbeitseinkommen zwi-schen 400 Euro und 800 Euro, das heißt für den Bereichder so genannten Midi-Jobs, eingeführt, in der der Ar-beitgeber seinen vollen Sozialversicherungsbeitrag zahlt,der effektive Beitragssatz des Arbeitnehmers hingegenlinear von gegenwärtig 4,15 vH auf den vollen Arbeit-nehmeranteil von 20,85 vH (bei unterstellten Beiträgenzur Gesetzlichen Krankenversicherung von 14,0 vH) an-steigt. Auf diese Weise schließt die Beitragsbelastung in

der Gleitzone nahtlos an die Pauschalabgabe von 25 vHbei geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnissenan. Für Leistungen der Sozialversicherungen, die vombeitragspflichtigen Einkommen abhängen, ist in derGleitzone nicht der Bruttolohn, sondern ein reduziertesbeitragspflichtiges Einkommen (Bemessungsentgelt)maßgeblich.

Das Gesetz gibt als Formel zur Bestimmung des Bemes-sungsentgelts BME in der Gleitzone, auf das dann dervolle Beitragssatz angewendet wird, die FormelBME = F*400+(2-F)*(AE-400) an (§ 226 Absatz 4SGB V). Dabei bezeichnen AE das Arbeitseinkommenund F = 0,25/SVS den Faktor, der sich ergibt, wenn diePauschalabgabe bei geringfügig entlohnter Beschäfti-gung (25 vH = 0,25) durch SVS, den durchschnittlichenSozialversicherungsbeitrag aller Versicherten ein-schließlich des Arbeitgeberanteils (41,7 vH = 0,417), di-vidiert wird; für das Jahr 2003 beträgt der Faktor folg-lich gerundet 0,5995. Die Formel für BME erklärt sichwie folgt, wobei zur Vereinfachung die WährungseinheitEuro weggelassen wird: Der SozialversicherungsbeitragSV ist das Produkt aus Bemessungsentgelt und Sozial-versicherungsbeitragssatz, SV = BME*SVS. Unmittel-bar vor dem Beginn der Gleitzone, das heißt bei einemEinkommen von exakt 400, liegt noch ein geringfügigentlohntes Beschäftigungsverhältnis vor, für das nur derArbeitgeber den Pauschalsatz von 0,25 entrichtet. DieAbgabenbelastung beträgt bei diesem Einkommenfolglich 0,25*400. Bei einem Einkommen von 800hingegen, das heißt am Ende der Gleitzone, wird dervolle Sozialversicherungsbeitrag von SVS*800 erhoben.Damit die Sozialversicherungsbeiträge linear von0,25*400 bei einem Einkommen von 400 bis aufSVS*800 am Ende der Gleitzone steigen, muss für einEinkommen AE zwischen 400 und 800 die BeziehungSV = 0,25*400+(2*SVS-0,25)*(AE-400) gelten, so dassfür Einkommen zwischen diesen beiden Grenzen dieSozialversicherungsbeiträge linear mit der Rate2*SVS-0,25 steigen. Da der Beitragssatz zur Sozialversi-cherung SVS größer als 0,25 ist, steigen die Sozialversi-cherungsbeiträge in der Gleitzone mit einer höherenRate als in normalen Einkommensbereichen, um, ausge-hend von dem niedrigeren Niveau bei geringfügig ent-lohnten Beschäftigungsverhältnissen, bis zum Ende derGleitzone das höhere Beitragsniveau von normalen sozi-alversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissengleichsam einzuholen. Entsprechend höher ist damit al-lerdings auch die Grenzbelastung, zumal das Arbeitsein-kommen in Abhängigkeit von den übrigen Einkommendes Arbeitnehmers gegebenenfalls auch noch zu versteu-ern ist. Setzt man diese Beziehung für die in der Gleit-zone anfallenden Sozialversicherungsbeiträge in denAusdruck SV = BME*SVS ein und löst nach BME auf, soerhält man die Formel für BME. Der Sozialversiche-rungsbeitrag des Arbeitnehmers ergibt sich dann alsDifferenz aus den so ermittelten gesamten Sozialversi-cherungsbeiträgen SV und dem Teil der Arbeitgeber inHöhe von 0,5*SVS*AE.

Durch die Einführung der Gleitzone entstanden großeÜberlappungen mit dem Mainzer Modell. Die Förderungvon Neufällen wurde daher zum 31. März 2003 einge-

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

stellt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten 11 300 Personenseit der bundesweiten Einführung im März 2002 einedurch das Mainzer Modell geförderte Beschäftigungaufgenommen.

249. Durch die Reform der geringfügigen Beschäfti-gung und die Einführung der Gleitzone wird die Attrak-tivität einer Tätigkeit im Niedriglohnbereich deutlich er-höht. Neben der Anhebung der Geringfügigkeitsgrenzeund der Einführung der Gleitzone, durch welche dieGrenzbelastung bei Überschreitung der Einkommens-schwelle von 400 Euro merklich verringert wird, dürfteinsbesondere die Möglichkeit, ein geringfügiges Be-schäftigungsverhältnis als Nebentätigkeit zusätzlich zueiner sozialversicherungspflichtigen Hauptbeschäfti-gung auszuüben, zu einer Ausweitung dieser Beschäfti-gungsform beziehungsweise zur Legalisierung von Be-schäftigungsverhältnissen in der Schattenwirtschaftführen. Dafür spricht nicht zuletzt auch der deutlicheRückgang der Zahl geringfügiger Nebenbeschäftigungennach der Reform des Jahres 1999, als die Möglichkeitvon abgabenfreien Nebenbeschäftigungen stark einge-schränkt wurde.

Ob die Reform, wie von den Initiatoren erhofft, einen si-gnifikanten Beitrag zu einer Erhöhung der Beschäfti-gung und insbesondere zum Abbau der Arbeitslosigkeitleisten wird, bleibt indes abzuwarten. Geringfügige Be-schäftigungsverhältnisse als Nebenbeschäftigungen füh-ren unmittelbar weder zu einer höheren Zahl anErwerbstätigen noch zu einer Verringerung der Arbeits-losigkeit, und die Aufnahme einer geringfügigen Be-schäftigung von Personen aus der Stillen Reserve, bei-spielsweise Rentnern, Schülern oder bisher nichterwerbstätigen Ehepartnern, erhöht zwar die Erwerbs-quote, reduziert aber ebenfalls nicht die registrierte Ar-beitslosigkeit. Zu einem indirekten Effekt auf die Ar-beitslosigkeit kommt es allenfalls insofern, wenn sichdurch die Nebentätigkeiten das Haushaltseinkommenund damit die Güternachfrage per saldo erhöhen. Gegen-zurechnen ist diesem Effekt jedoch eine die Arbeitslo-sigkeit tendenziell erhöhende Verdrängung regulärer Be-schäftigungsverhältnisse infolge einer Aufspaltung inmehrere Mini-Jobs oder Midi-Jobs; darüber hinauskommt es für sich genommen durch die Gleitzone zuEinnahmeausfällen in den Sozialversicherungen, die,wenn sie nicht durch eine höhere Beschäftigung aufge-wogen werden, Beitragssatzerhöhungen erforderlich ma-chen, welche wiederum kontraktiv auf die Beschäfti-gung wirken.

Der Nettoeffekt dieser Wirkungsmechanismen ista priori unklar. Entscheidend für die Wirkung auf die Ar-beitslosigkeit ist somit, in welchem Umfang Beziehervon Arbeitslosenhilfe und von Sozialhilfe, also künftigvon Arbeitslosengeld II, infolge der Reform eine gering-fügige Beschäftigung aufnehmen. Für diesen Personen-kreis kommt es ganz maßgeblich darauf an, ob sichdurch eine Arbeitsaufnahme ihr Haushaltsnettoeinkom-men, das heißt die Summe aus Transferzahlungen undnicht angerechnetem Erwerbseinkommen, erhöht. Da

sich, wie oben dargestellt, die Bestimmungen zur An-rechnung von Erwerbseinkommen und damit auch dieTransferentzugsraten nicht entscheidend geändert haben,verzeichnen aber die meisten dieser Haushalte gerade indem von der Reform betroffenen Einkommensbereichnur geringe Nettoeinkommenszuwächse, und entspre-chend niedrig bleiben auch die Anreize zur Aufnahmeeiner geringfügigen Beschäftigung. Wenn die Transfer-empfänger infolge der verschärften Zumutbarkeitsregelnnicht zur Aufnahme von geringfügigen Beschäftigungs-verhältnissen angehalten werden, dürfte ohne ergän-zende Änderungen bei der Anrechnung von Erwerbs-einkommen für Bezieher von Arbeitslosengeld II derBeitrag der Reform der geringfügigen Beschäftigungs-verhältnisse zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in die-ser Personengruppe begrenzt bleiben (JG 2002Ziffern 433 ff., 442).

250. Haushaltsnahe Dienstleistungen, bei denen einbesonderes Potential für die Beschäftigung Geringquali-fizierter gesehen wird, werden als nunmehr eigene Kate-gorie geringfügiger Beschäftigung mit einem ermäßig-ten Abgabensatz auch steuerlich gefördert (§ 35a EStG).Zum einen können 10 vH der Ausgaben für geringfügigBeschäftigte im haushaltsnahen Bereich, jedoch nichtmehr als 510 Euro jährlich, von der Steuerschuld abge-zogen werden; die Steuerschuld vermindert sich um20 vH der Aufwendungen, jedoch nicht mehr als600 Euro jährlich, wenn die haushaltsnahen Dienstleis-tungen von einer Agentur nachgefragt werden. Zum an-deren bestehen erweiterte steuerliche Abzugsmöglich-keiten, wenn in einem Privathaushalt ein Arbeitnehmernicht geringfügig entlohnt, sondern sozialversicherungs-pflichtig beschäftigt wird. In diesem Fall können 12 vHder Aufwendungen, jedoch nicht mehr als jährlich2 400 Euro von der Steuerschuld abgezogen werden.

Weitere Reformen

251. Bereits mit dem Hartz-I-Gesetz traten eine Reihevon Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung älte-rer Personen in Kraft. Um ihre Einstellung attraktiverzu machen, wurde zum einen die Altersgrenze, ab derbefristete Arbeitsverträge ohne sachlichen Befristungs-grund und zeitliche Höchstgrenze abgeschlossen werdenkönnen, zunächst bis zum Ende des Jahres 2006 von58 Jahren auf 52 Jahre gesenkt (§ 14 Absatz 3 Teilzeit-und Befristungsgesetz, TzBfG). Zum anderen könnensich Arbeitgeber, die einen Arbeitslosen im Alter vonmindestens 55 Jahren einstellen, vom Arbeitgeberbei-trag zur Arbeitslosenversicherung befreien lassen. Aufder Seite des Arbeitsangebots wurde die Entgeltsiche-rung für Arbeitnehmer ab 50 Jahren, die arbeitslos odervon Arbeitslosigkeit bedroht sind, eingeführt. Bei Auf-nahme einer niedriger bezahlten Tätigkeit wird einsteuer- und abgabenfreier Zuschuss in Höhe von 50 vHder Differenz zwischen dem früheren und dem neuenNettoentgelt gewährt. Außerdem findet eine Höherversi-cherung in der Gesetzlichen Rentenversicherung mit90 vH des Bemessungsentgelts der früheren Beschäfti-gung statt. Mit dem noch dem Bundesrat vorliegenden

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Deutschland in der Stagnation

nicht zustimmungspflichtigen „Gesetz zu Reformen amArbeitsmarkt“ schließlich wird die Erstattungspflichtdes Arbeitgebers gegenüber der Arbeitslosenversiche-rung bei einer Entlassung langjährig beschäftigter ältererArbeitnehmer verschärft (§ 147a SGB III), doch entfälltdie Erstattungspflicht ganz, sobald am 1. Februar 2006die verkürzte Bezugsdauer des Arbeitslosengelds inKraft tritt.

252. Über eine Reform der Handwerksordnung sol-len die Gründung neuer und die Übernahme bestehenderHandwerksbetriebe erleichtert werden. Im Rahmen desvom Deutschen Bundestag verabschiedeten, aber seitensdes Bundesrates zustimmungspflichtigen „Dritten Ge-setzes zur Änderung der Handwerksordnung und andererhandwerksrechtlicher Vorschriften“ („große Handwerks-novelle“) ist beabsichtigt, die Zahl der Gewerbe inAnlage A der Handwerksordnung, für die Meisterpflichtzur Führung eines Handwerksbetriebs und zur Ausbil-dungsberechtigung besteht, von 94 auf 29 Gewerbe zuverringern. Dem Meisterzwang sollen nur noch die Ge-werbe unterliegen, bei denen wie etwa bei Elektroinstal-lateuren eine Gefahrneigung vorliegt. Die übrigen65 Gewerbe sollen in die Anlage B verlagert werden undunterlägen damit nicht mehr dem Meisterzwang. Bei ih-nen würde der Meisterbrief als zusätzliches Qualitätssie-gel dienen. Bei der Beurteilung der Auswirkungen dieserÄnderung ist allerdings zu berücksichtigen, dass die inder Anlage A verbleibenden Gewerbe immer noch etwazwei Drittel der Auszubildenden des Handwerks ausbil-den. Der Meisterzwang der in der Anlage A verbleiben-den Gewerbe soll jedoch dahingehend gelockert werden,dass auch Gesellen berechtigt sind, einen Betrieb zu füh-ren, wenn sie über mindestens zehn Jahre Berufserfah-rung verfügen, davon fünf Jahre in herausgehobenerStellung. Darüber hinaus soll das Inhaberprinzip aufge-geben werden, so dass auch natürliche Personen ohneMeisterbrief in jeder Rechtsform einen Handwerksbe-trieb der Anlage A führen dürfen, sofern sie einen Meis-ter beschäftigen. Das ebenfalls vom Deutschen Bundes-tag verabschiedete, nicht zustimmungspflichtige „Gesetzzur Änderung der Handwerksordnung und zur Förde-rung von Kleinunternehmen“ („kleine Handwerksno-velle“) sieht vor, dass einfache Handwerkstätigkeiten,die sich innerhalb von drei Monaten erlernen lassen undnicht zum Vorbehaltsbereich eines Handwerks gehören,nicht dem Meisterzwang unterliegen. Diese Änderungbestätigt eine langjährige höchstrichterliche Rechtspre-chung.

Die Reformen beseitigen, ungeachtet der verbleibendenBeschränkungen bei Gewerben der Anlage A, eineganze Reihe von Verzerrungen und Marktzutrittshemm-nissen im Handwerk. Sie dürften zu einer Intensivierungdes Wettbewerbs und, im Gegensatz zu anderslautendenBefürchtungen, zur Schaffung neuer Beschäftigungs-möglichkeiten und einer Eindämmung der Schattenwirt-schaft führen. Vor diesem Hintergrund sind sie aus-drücklich zu begrüßen.

253. Der Erleichterung der Geschäftstätigkeit von jun-gen und kleinen Unternehmen dienen die vom Deut-schen Bundestag im Rahmen des „Gesetzes für Refor-men am Arbeitsmarkt“ beschlossenen Änderungen beibefristeten Beschäftigungsverhältnissen und beimKündigungsschutz; ähnlich wie beim Hartz-III-Gesetzist dieses Gesetz noch nicht endgültig verabschiedet, be-darf aber nicht der Zustimmung des Bundesrates. Ge-plant ist zum einen, dass neu gegründete Unternehmenin den ersten vier Jahren ihres Bestehens auch ohnesachlichen Grund befristete Arbeitsverträge mit einerDauer von bis zu vier Jahren abschließen dürfen (§ 14Absatz 2a TzBfG). Zum anderen sollen befristet bis zumEnde des Jahres 2008 bis zu fünf Beschäftigte, die nachdem Inkrafttreten des Gesetzes einen befristeten Arbeits-vertrag abschließen, nicht zu den Beschäftigten im Sinnedes Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) gerechnet wer-den (§ 23 Absatz 1 KSchG). Unternehmen mit nichtmehr als fünf Vollzeitmitarbeitern oder der äquivalentenZahl an Teilzeitbeschäftigten überschreiten daher durchdie Einstellung von befristet Beschäftigten nicht dieSchwelle des Kündigungsschutzgesetzes. Durch dieseNeuregelung müssen Unternehmen nun allerdings beibefristeten Arbeitsverhältnissen ganz besondere Sorgfaltauf die Zulässigkeit der Befristung verwenden, so dasseine diesbezügliche Klage keinerlei Aussicht auf Erfolghätte. In nicht dem Kündigungsschutz unterliegendenBetrieben mit bis zu fünf unbefristet beschäftigten Mit-arbeitern bestünde sonst für den Gekündigten eine Ab-wehrmöglichkeit gegen die Kündigung darin, die Zuläs-sigkeit der Befristung bei befristet beschäftigtenKollegen anzufechten, so dass im Erfolgsfall der Betriebden Schwellenwert von fünf unbefristet Beschäftigtenüberschritte und damit unter den Kündigungsschutzfiele.

254. Eine Reihe weiterer Änderungen im Kündi-gungsschutzrecht soll die Zahl und die Unsicherheit ge-richtlicher Auseinandersetzungen über die Zulässigkeiteiner Kündigung begrenzen. So ist beabsichtigt, dieKriterien für die Sozialauswahl bei betriebsbedingtenKündigungen auf das Alter, die Dauer der Betriebs-zugehörigkeit, eine Schwerbehinderung und dasVorliegen von Unterhaltspflichten zu begrenzen (§ 1Absatz 3 KSchG). Wenn sich Arbeitgeber und Betriebs-rat auf eine Namensliste der Arbeitnehmer, denenbetriebsbedingt gekündigt wird, einigen, ist die gericht-liche Überprüfung der Sozialauswahl auf grobe Fehler-haftigkeit begrenzt. Leistungsträger können darüberhinaus von der Sozialauswahl ausgenommen werden,um so beispielsweise leistungsstarke junge, alleinste-hende Mitarbeiter im Betrieb zu halten. Ferner soll derArbeitgeber dem Gekündigten mit der Kündigung einWahlrecht zwischen einer Kündigungsschutzklage undeiner Abfindung in Höhe von einem halben Monatsge-halt pro Beschäftigungsjahr einräumen können.Schließlich soll bei Kündigungsschutzklagen eine ein-heitliche Klagefrist für alle Arten von Kündigungeneingeführt werden.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Tarifpolitik: Viel Streit bei geringem Verteilungsspielraum

255. Infolge mehrjähriger Abschlüsse aus dem Vorjahrgab es seit dem Ende des Jahres 2002 weniger, dafürteilweise um so kontroversere Tarifverhandlungen mitWarnstreiks oder normalen Streiks etwa im ÖffentlichenDienst, bei der Deutschen Bahn sowie in der Stahlindus-trie und der Metall- und Elektroindustrie in Ostdeutsch-land. Bezogen auf die Gesamtwirtschaft stiegen dieTarifverdienste je Stunde um 2,3 vH, die Effektivver-dienste aufgrund einer negativen Lohndrift hingegen nurum 1,0 vH (Tabelle 30). Die Stundenproduktivität nahmum 1,4 vH zu, so dass unter Berücksichtigung von Ent-lassungseffekten und eines Anstiegs des Deflators desBruttoinlandsprodukts von 1,1 vH die Tariflohnab-schlüsse nicht produktivitätsorientiert waren (Kasten 15,Seite 364; Ziffer 652).

256. Im öffentlichen Dienst wurde im Januar 2003nach Warnstreiks im Dezember ein Entgelttarifvertragmit mehrjähriger Laufzeit abgeschlossen, der auch einenZeitplan zur Angleichung der Verdienste in Ost und Westbis zum Jahr 2009 für die oberen und bis zum Jahr 2007für die übrigen Lohn- und Gehaltsgruppen beinhaltet

(Tabelle 31). Zum Ausgleich der Kosten der mehrstufi-gen Erhöhung der Löhne und Gehälter wurden verschie-dene kompensierende Maßnahmen wie der Wegfall einesbesonderen freien Tags („AZV-Tag“), eine für ein Jahrwirksame Kürzung der Altersstufenerhöhung oder dieMöglichkeit zur Verlagerung der Überweisung der Löhneund Gehälter auf das Ende des Monats vereinbart, die imGegensatz zum dauerhaft wirksamen Basiseffekt der Stu-fenerhöhung allerdings meist nur zeitlich befristete Ein-sparmöglichkeiten bieten. Unmittelbar vor dem Ab-schluss der Tarifverträge trat das Land Berlin aus derTarifgemeinschaft der Länder aus, um die Tariferhöhun-gen nicht mitvollziehen zu müssen. In separaten Ver-handlungen mit der Gewerkschaft ver.di wurde im Julieine Einigung erzielt, die zwar formell den Tarifab-schluss für den übrigen öffentlichen Dienst übernimmt,über Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich undandere Einsparungen aber zu Minderbelastungen desLandeshaushalts führt. Im Gegenzug verzichtet das Landbis zum Ende des Jahres 2009 auf betriebsbedingte Kün-digungen. Im Mai löste sich, nicht zuletzt auch aus Ent-täuschung über den aus Sicht der Arbeitgeber zu hohenTarifabschluss, die Tarifgemeinschaft im öffentlichenDienst auf. Im Sommer kündigten dann die Länder undder Bund jeweils die Tarifverträge zu den Sonderzahlun-gen (Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld). Sie beabsichti-gen, in Neuverhandlungen ähnlich wie bei den Beamteneine Streichung des Urlaubsgelds und eine Kürzung desWeihnachtsgelds zu erreichen.

Die für die Arbeiter und Angestellten im öffentlichenDienst vereinbarten Erhöhungen wurden mit einer Ver-zögerung um einige Monate auch für die Beamten über-nommen. Ab dem Jahr 2004 entfällt für die Beamten dasUrlaubsgeld, und das Weihnachtsgeld wird auf 60 vHgekürzt, wobei mit einem Teil der Einsparungen Leis-tungskomponenten finanziert werden sollen. Ferner wur-den Öffnungsklauseln vereinbart, die es dem Bund undden Ländern erlauben, Sonderleistungen zu kürzen odergänzlich zu streichen, während die Bezüge selbst weiter-hin bundeseinheitlich festgelegt werden.

257. Auch in der Leiharbeitsbranche kam es, ange-stoßen durch die Reform des Arbeitnehmerüberlassungs-gesetzes, zu einer Reihe von Tarifvereinbarungen. Die-ser Wirtschaftszweig ist durch eine vergleichsweisefragmentierte Struktur mit vielen kleinen Unternehmenund mehreren Arbeitgeberverbänden, die aber immernur einen kleinen Teil der Unternehmen vertreten, ge-kennzeichnet. Ebenfalls sehr niedrig ist der gewerk-schaftliche Organisationsgrad unter den Leiharbeitneh-mern. Eine Tarifgemeinschaft unter Führung desDeutschen Gewerkschaftsbundes führte daher separateVerhandlungen mit den größten Arbeitgeberverbänden,nämlich dem Bundesverband Zeitarbeit und dem Interes-senverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen. Die Ab-schlüsse sehen jeweils neun nach der Qualifikation derLeiharbeiter gestaffelte Entgeltgruppen, Abschläge fürdie neuen Bundesländer und nach der Entleihdauer ge-staffelte Zuschläge vor. Besondere Abschläge für Lang-zeitarbeitslose sind indes nicht vorgesehen. Tarifverträgekamen zudem zwischen dem Christlichen Gewerk-

Ta b e l l e 30

2000 2001 2002 20031)

Tarifverdienste je Stunde2) ........................... + 2,0 + 2,0 + 2,6 + 2,3

Effektivverdienste je Stunde2) ........................... + 1,9 + 2,3 + 1,8 + 1,0

Stundenproduktivität3) ...... + 2,2 + 1,4 + 1,3 + 1,4

Erwerbstätigen- produktivität4) ................. + 1,1 + 0,4 + 0,8 + 1,4

Reale Arbeitskosten5) ........ + 3,4 + 1,4 + 0,4 + 0,9

Reale Nettoverdienste6) ..... + 1,9 + 2,3 + 0,0 - 0,4

Nachrichtlich: Deflator des Brutto- inlandsprodukts7) ............ - 0,3 + 1,3 + 1,6 + 1,1

1) Eigene Schätzung. - 2) Quelle: DIW. - 3) Bruttoinlandsprodukt inPreisen von 1995 je geleistete Erwerbstätigenstunde. - 4) Bruttoin-landsprodukt in Preisen von 1995 je Erwerbstätigen. - 5) Arbeitsent-gelt plus kalkulatorischer Unternehmerlohn (dabei wird unterstellt,dass jeder Selbständige/mithelfende Familienangehörige das durch-schnittliche Arbeitsentgelt eines Arbeitnehmers erhält) je geleisteteErwerbstätigenstunde, preisbereinigt mit dem Deflator des Bruttoin-landsprodukts. - 6) Nettoarbeitsentgelt plus kalkulatorischer Unter-nehmerlohn (Berechnung siehe Fußnote 5) je geleistete Erwerbstäti-genstunde, preisbereinigt mit dem Verbraucherpreisindex. - 7) In Prei-sen von 1995.

Lohn und ProduktivitätVeränderung gegenüber dem Vorjahr in vH

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Deutschland in der Stagnation

schaftsbund und zwei regionalen Arbeitgeberverbändenzustande. Auch bei diesen Tarifverträgen sind neun Ent-geltgruppen vorgesehen, die zusätzlich noch in drei vonder Verleihdauer und der individuellen Leistung abhän-gige Entgeltstufen aufgegliedert sind und bei denen au-ßerdem die Stundensätze zwischen den einzelnen Tarif-gebieten differieren können. In Nordrhein-Westfalenbeispielsweise beträgt der niedrigste Stundenlohnsatz6,01 Euro gegenüber 6,85 Euro im Tarifvertrag zwi-schen den Gewerkschaften im Deutschen Gewerk-schaftsbund und dem Bundesverband Zeitarbeit.

258. Gegenstand der Tarifauseinandersetzung in derostdeutschen Stahlindustrie sowie der dortigen Me-tall- und Elektroindustrie war das Ziel der Industriege-werkschaft Metall (IG Metall), in diesen Wirtschafts-zweigen eine stufenweise Arbeitszeitverkürzung auf35 Stunden und damit eine Angleichung der tariflichenArbeitszeit in Ostdeutschland und Westdeutschland zuerreichen. Nach der Kündigung der entsprechenden Ta-rifverträge ab Jahresbeginn kam es zu ersten Verhand-lungen, in denen jedoch keine Einigung erzielt werdenkonnte. Warnstreiks Anfang Juni mit Schwerpunkt in derStahlindustrie führten für diesen Wirtschaftszweig zu ei-ner raschen Einigung, die eine bis zum 1. April 2009 ab-zuschließende stufenweise Einführung der 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Stahlindustrie vorsieht. Fürden Fall wirtschaftlicher Schwierigkeiten kann die An-passung einvernehmlich zeitlich gestreckt werden. In der

Metall- und Elektroindustrie hingegen wurden zwar ei-nige Haustarifverträge zur stufenweisen Einführung der35-Stunden-Woche abgeschlossen, in den Verhandlun-gen über einen entsprechenden Flächentarifvertrag wur-den jedoch keine entscheidenden Fortschritte erzielt.Durch die anhaltende Bestreikung von Zulieferbetriebender Automobilindustrie kam es auch in westdeutschenBetrieben zu Arbeitsausfällen, Kurzarbeit und wachsen-der Kritik in der Öffentlichkeit an der Streikstrategie derIG Metall. Nachdem eine abschließende Verhandlungs-runde über einen Flächentarifvertrag ohne Ergebnis be-endet worden war, stellte die IG Metall die Streiks unddie Tarifbewegung für die Einführung der 35-Stunden-Woche ein. Damit wurde zum ersten Mal seit demJahr 1954 ein Streik in der Metallindustrie abgebrochen,ohne dass ein Abschluss erzielt werden konnte.

259. Im westdeutschen Baugewerbe wurde Ende Okto-ber eine Tarifvereinbarung geschlossen, die eine Absen-kung der tariflich vereinbarten Jahressonderzahlung(„Weihnachtsgeld“) auf bis zu 780 Euro erlaubt, vergli-chen mit einem tariflichen Weihnachtsgeld für einenFacharbeiter in Höhe von 1 375 Euro. Auf eine wirt-schaftliche Notlage des Betriebs kommt es dabei nichtan. Voraussetzung ist lediglich, dass das Unternehmenund der Betriebsrat, oder, wenn ein solcher nicht vorhan-den ist, zwei Drittel der Belegschaft der Absenkung zu-stimmen.

Ta b e l l e 31

Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

Wirtschaftszweig, Geltungsbereich: betroffene Arbeit-

nehmer, Datum des Abschlusses

Tarifverein-barung2)

Laufzeit-beginn3)

Kündi-gungs-termin3)

Erhöhung von 20032) (in vH)4) auf

Wichtige Folge- und NebenregelungenMonats-

basisStunden-

basis

ArbeiterwohlfahrtWest und Ost:135 000,27.3.2003

+ 2,4 vHab 1.4.2003

31.1.2005 0,8 vH Stufenerhöhung ab 1.1.2004, weitere 0,8 vHStufenerhöhung ab 1.7.2004.West: Fünf Nullmonate von November 2002 bisMärz 2003.Ost: 33 Nullmonate von April 2000 bis Dezember2002. Angleichung des Tarifniveaus in Stufen von82,8 vH auf 86,0 vH ab 1.1.2003, auf 90,0 vH abdem 1.1.2004 und auf 100 vH von 2005 bis 2013durch jährliche Anpassung um 1,11 Prozentpunkte,jeweils zum 1.1. eines Jahres.

Bankgewerbe (ohne Genossen-schaftsbanken)West und Ost:296 900,13.12.2002

+ 3,1 vHab 1.7.2002+ 2,0 vHab 1.7.2003

1.5.2002 31.5.2004 West: 2,5Ost: 2,5

West: 2,5Ost: 2,5

Zwei Nullmonate von Mai bis Juni 2002. 1,0 vH Stu-fenerhöhung ab 1.1.2004. Möglichkeit im Rahmeneiner freiwilligen Betriebsvereinbarung bis zu 4 vHder Gehaltserhöhung auf Basis von Zielvereinbarun-gen oder Leistungsbeurteilung variabel zu gestalten.

159

Page 186: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Chemische Industrie Alle regionalen Be-reiche West:560 000,8.5.2003

+ 2,6 vHab 1.5./ab 1.6./ab 1.7.2003

1.4./1.5./1.6.2003

30.4./31.5./30.6.2004

West: 2,3 West: 2,3 Regional unterschiedlicher Laufzeitbeginn, 40 EuroEinmalzahlung für den jeweils ersten Monat.

Ost:34 600,30.4.2002

+ 2,6 vHab 1.7.2003

1.6.2003 30.6.2004 Ost: 5,2 Ost: 5,2 40 Euro Einmalzahlung für den jeweils ersten Mo-nat. 2,8 vH Stufenerhöhung ab 1.10.2003 zur Anglei-chung an das Tarifniveau Berlin-West (bereits imJahr 2002 vereinbart).

Deutsche Bahn AGWest und Ost:151 000,17.3.2003

1.3.2003 28.2.2005 West: 1,1Ost: 1,7

West: 1,1Ost: 1,7

Insgesamt 400 Euro Pauschalzahlung für März 2003bis April 2004, hälftig zahlbar im April und Dezem-ber 2003.West: 3,2 vH Stufenerhöhung ab 1.5.2004.Ost: Angleichung des Tarifniveaus an West in Stufenvon 90 vH auf 93 vH ab 1.9.2003 und auf 100 vH ab1.9.2005/1.9.2006 (nach Entgeltgruppen gestaffelt).

Deutsche Luft-hansa AG KonzernWest und Ost:52 000,27.2.2003

+ 3,2 vH 1.1.2003 31.12.2004 Insgesamt 250 Euro Pauschalzahlung für Novemberund Dezember 2002. 1,8 vH Stufenerhöhung ab1.10.2003, weitere 1,2 vH Stufenerhöhung ab1.5.2004. Zusätzliche Einmalzahlung in Höhe von26,65 vH der Vergütung des Januars 2003. Regelun-gen zur Ergebnisbeteiligung und zur Veränderungder Entgeltstruktur des Bodenpersonals.

DruckindustrieWest und Ost:134 700,25.6.2003

+ 1,5 vH(Lohn) ab 1.7.2003

1.4.2003 31.3.2005 West: 1,6Ost: 1,3

West: 1,6Ost: 1,3

Abschluss nur für Lohnempfänger. Drei Nullmonatevon April bis Juni 2003. 1,7 vH Stufenerhöhung ab1.6.2004.

Einzelhandel,zum Beispiel:Hamburg, Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen:842 400,ab 16.7.2003

+ 1,8 vH(Lohn)/+ 1,7 vH (Gehalt)ab 1.7./ab 1.8./ab 1.9./ab 1.10.2003

1.4./1.5./1.7.2003

31.3./30.4./30.6.2005

Regional unterschiedliche Nullmonate (drei bezie-hungsweise vier Monate, teilweise für Arbeiter undAngestellte unterschiedlich) vor Inkrafttreten der Ta-riferhöhung in 2003. Beginn der durchschnittlichenStufenerhöhung in 2004 von 1,8 vH/1,7 vH (Lohn)beziehungsweise 1,7 vH/1,8 vH (Gehalt) regionalunterschiedlich (ab 1.7./1.8./1.9./1.11.2004) mit stär-kerer Anhebung bei den unteren Lohn- und Gehalts-gruppen.

Nordrhein-West-falen, Hessen, Saarland, Rhein-land-Pfalz, Nieder-sachsen, Bremen: 964 000,ab 18.7.2003

+ 1,6 vHab 1.7./ab 1.8.2003

1.4./1.5.2003

31.3./30.4.2005

Insgesamt 51 Euro Pauschalzahlung für April bisJuni beziehungsweise Mai bis Juli 2003.75 Euro zusätzliche Einmalzahlung für April bis Junibeziehungsweise Mai bis Juli 2004. 1,8 vH Stufener-höhung ab 1.7.2004 beziehungsweise ab 1.8.2004.

Ta b e l l e 31

Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

Wirtschaftszweig, Geltungsbereich: betroffene Arbeit-

nehmer, Datum des Abschlusses

Tarifverein-barung2)

Laufzeit-beginn3)

Kündi-gungs-termin3)

Erhöhung von 20032) (in vH)4) auf

Wichtige Folge- und NebenregelungenMonats-

basisStunden-

basis

n o c h Tabelle 31

noch: Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

160

Page 187: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

noch:EinzelhandelMecklenburg-Vorpommern: 38 900,12.9.2003

+ 1,7 vH(im Durch-schnitt)ab 1.11.2003

1.7.2003 30.6.2005 Vier Nullmonate von Juli bis Oktober 2003.1,7 vH Stufenerhöhung ab 1.11.2004.

Brandenburg: 54 200,23.9.2003

+ 1,8 vH 1.10.2003 30.6.2005 1,8 vH Stufenerhöhung ab 1.12.2004.

Genossenschafts-bankenWest und Ost:172 000,28.5.2003

+ 3,1 vHab 1.7.2002+ 2,0 vH

1.5.2002

1.7.2003

30.6.2003

31.5.2004

West: 2,5Ost: 2,5

West: 2,5Ost: 2,5

Zwei Nullmonate von Mai bis Juni 2002. Tarifver-trag sichert die bereits freiwillig geleistete Stufener-höhung ab. 1,0 vH Stufenerhöhung ab 1.1.2004.Möglichkeit im Rahmen einer freiwilligen Betriebs-vereinbarung das Jahreseinkommen in Abhängigkeitvon der individuellen Zielerreichung in einem Inter-vall von 92 vH bis 109 vH des Tarifentgelts variabelzu gestalten.

Groß- und Außen-handel, genossen-schaftlicher Groß-handel,zum Beispiel:Baden-Württem-berg:137 800,1.7.2003

+ 1,6 vHab 1.7.2003

1.4.2003 31.3.2005 Jeweils 41 Euro Pauschalzahlung für April bis Juni2003. Jeweils 44 Euro Pauschalzahlung für April bisJuni 2004. 1,8 vH Stufenerhöhung ab 1.7.2004.

Hessen:94 100,3.7.2003

+ 1,6 vHab 1.7.2003

1.5.2003 30.4.2005 Jeweils 25 Euro Pauschalzahlung für Mai und Juni2003. Jeweils 37,50 Euro Pauschalzahlung für Maiund Juni 2004. 1,8 vH Stufenerhöhung ab 1.7.2004.

Bayern:177 600,30.6.2003

+ 2,1 vH(im Durch-schnitt)ab 1.7.2003

1.4.2003 31.3.2005 Drei Nullmonate von April bis Juni 2003. Erhöhungab 1.7.2003 setzt sich aus linearer Tarifanhebung um1,5 vH sowie einer Erhöhung um 9 Euro in allenGruppen zusammen. Weitere Stufenerhöhung vondurchschnittlich 2,0 vH ab 1.7.2004 (zusammenge-setzt aus linearer Anhebung um 1,5 vH und Erhö-hung um 9 Euro in allen Gruppen).

Mecklenburg-Vor-pommern:14 700,2.7.2003

+ 1,9 vH(Lohn)/+ 1,7 vH(Gehalt)(im Durch-schnitt)ab 1.7.2003

1.5.2003 30.4.2005 Zwei Nullmonate von Mai bis Juni 2003. Durch-schnittliche Tarifvereinbarung ergibt sich durch mo-natliche Erhöhung um 30 Euro in allen Gruppen.1,7 vH Stufenerhöhung ab 1.5.2004.

Ta b e l l e 31

Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

Wirtschaftszweig, Geltungsbereich: betroffene Arbeit-

nehmer, Datum des Abschlusses

Tarifverein-barung2)

Laufzeit-beginn3)

Kündi-gungs-termin3)

Erhöhung von 20032) (in vH)4) auf

Wichtige Folge- und NebenregelungenMonats-

basisStunden-

basis

n o c h Tabelle 31

noch: Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

161

Page 188: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch:Groß- und Außen-handel, genossen-schaftlicher Groß-handelNordrhein-West-falen:304 300,17.7.2003

+ 1,6 vHab 1.7./ab 1.8.2003(genoss. GH)

1.4./1.5.2003

31.3./30.4.2005

Insgesamt 123 Euro Pauschalzahlung für April bisJuni 2003 beziehungsweise für Mai bis Juli 2003 fürden genossenschaftlichen Großhandel (genoss. GH).132 Euro zusätzliche Einmalzahlung für April bisJuni 2004 (genoss. GH: Mai bis Juli 2004). Weitere1,8 vH Stufenerhöhung ab 1.7.2004 (genoss. GH: ab1.8.2004).

Rheinland-Rheinhessen:29 700,15.7.2003

+ 1,5 vH (Lohn)/+ 1,4 vH(Gehalt)(im Durch-schnitt)

1.5.2003 30.4.2005 Durchschnittliche Tarifvereinbarung ergibt sichdurch monatliche Erhöhung um 25 Euro in allenGruppen. 1,7 vH Stufenerhöhung ab 1.5.2004.

Sachsen:38 200,16.7.2003

+ 1,6 vHab 1.7.2003

1.4.2003 31.3.2005 Jeweils 16,66 Euro Pauschalzahlung für April bisJuni 2003. Jeweils 20 Euro zusätzliche Pauschalzah-lung für April bis Juni 2004. Weitere 1,6 vH Stufen-erhöhung ab 1.7.2004.

Holzverarbei-tende Industrie,zum Beispiel:Niedersachsen/Bremen:28 100,27.5.2003

+ 1,2 vHab 1.7.2003

1.5.2003 30.4.2004 Insgesamt 15 Euro Pauschalzahlung für Mai undJuni 2003. 1,3 vH Stufenerhöhung ab 1.12.2003.

Hessen, Rheinland-Pfalz:32 400,ab 8.7.2003

+ 1,14 vHab 1.8.2003

1.5.2003 30.4.2004 Insgesamt 40 Euro Pauschalzahlung für Mai bis Juli2003. 1,13 vH Stufenerhöhung ab 1.1.2004.

Westfalen-Lippe:60 100,7.7.2003

+ 1,2 vHab 1.7.2003

1.5.2003 30.4.2004 Insgesamt 50 Euro Pauschalzahlung für Mai undJuni 2003. 1,1 vH Stufenerhöhung ab 1.12.2003.

Sachsen:13 400,13.5.2003

+ 2,5 vHab 1.5.2003

1.1.2003 31.12.2003 Insgesamt 30 Euro Pauschalzahlung für Januar bisApril 2003.

Hotel- und Gast-stättengewerbe,zum Beispiel:Baden-Württem-berg, Hessen, Bremen/Bremerhaven:129 300,ab 26.2.2003

+ 1,86 vH/+ 2,6 vH/+ 1,4 vH(im Durch-schnitt)ab 1.4./ab 1.8.2003

1.1./1.5.2003

31.12.2003/31.3./31.7.2004

Drei Nullmonate von Januar bis März beziehungs-weise von Mai bis Juli 2003. Regional unterschiedli-che Tarifvereinbarungen ergeben sich jeweils durchmonatliche Erhöhung um 20, 30 beziehungsweise40 Euro in allen Entgeltgruppen.

Ta b e l l e 31

Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

Wirtschaftszweig, Geltungsbereich: betroffene Arbeit-

nehmer, Datum des Abschlusses

Tarifverein-barung2)

Laufzeit-beginn3)

Kündi-gungs-termin3)

Erhöhung von 20032) (in vH)4) auf

Wichtige Folge- und NebenregelungenMonats-

basisStunden-

basis

n o c h Tabelle 31

noch: Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

162

Page 189: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

Kfz-Gewerbe,zum Beispiel:Nordrhein-West-falen, Hamburg:81 200,ab 2.4.2003

+ 2,4 vHab 1.5.2003

1.3.2003 29.2.2004 Nordrhein-Westfalen: einen Nullmonat fürMärz 2003. 40 Euro Einmalzahlung für April 2003.Hamburg: Insgesamt 40 Euro Pauschalzahlung fürMärz und April 2003.

Baden-Württem-berg, Saarland, Schleswig-Holstein:68 600,ab 11.2.2003

+ 2,4 vH/+ 2,45 vH

1.3.2003 28.2.2005 Regional unterschiedliche Stufenerhöhungen 3,0 vH/2,75 vH beziehungsweise 2,7 vH ab 1.4.2004 bezie-hungsweise ab 1.5.2004.

Rheinland-Rhein-hessen, Sachsen:40 100,ab 17.3.2003

+ 2,4 vH 1.4./1.5.2003

31.3.2004 Regional unterschiedliche Pauschalzahlungen voninsgesamt 100 Euro beziehungsweise 60 Euro fürFebruar/März beziehungsweise März/April 2003.

Mecklenburg-Vorpommern:10 500,21.5.2003

+ 1,7 vHab 1.6.2003

1.4.2003 31.3.2004 Insgesamt 25 Euro Pauschalzahlung für April undMai 2003.Stadt Rostock: 2,6 vH Erhöhung ab 1.6.2003.

Kunststoff ver-arbeitende Industrie,zum Beispiel:Baden-Württem-berg:59 900,3.12.2002

+ 3,1 vHab 1.12.2002

1.11.2002 31.10.2003 50 Euro Einmalzahlung für November 2002.

Bayern:63 100

+ 2,6 vH 1.11.2003 31.10.2004

Hessen:24 000,25.11.2002

+ 2,8 vHab 1.1.2003

1.12.2002 31.10.2003 75 Euro Einmalzahlung für Dezember 2002.

Kreis Lippe:40 800,27.6.2003

+ 2,5 vHab 1.7.2003

1.4.2003 31.3.2004 Insgesamt 150 Euro Pauschalzahlung für April bisJuni 2003.

Ost:25 300,22.1.2003

+ 3,2 vHab 1.3.2003

1.12.2002 29.2.2004 Insgesamt 75 Euro Pauschalzahlung für Dezember2002 bis Februar 2003. 0,6 vH Stufenerhöhung ab1.9.2003.

Maler- und Lackierer-handwerkWest und Ost(ohne Saarland):193 000,7.7.2003

+ 1,7 vH (West)+ 1,9 vH(Ost)ab 1.12.2002

1.6./1.9.2003

31.12.2003 Neuabschluss im Juli 2003 nach Nichtinkrafttretendes Schlichtungsspruchs vom 11.12.2002; die darinvereinbarten Stufenerhöhungen von 1,7 vH (West)und 1,9 vH (Ost) wurden aber mit Ausnahme vonBerlin und Brandenburg umgesetzt, dort 14 Nullmo-nate von Juli 2002 bis August 2003.

Ta b e l l e 31

Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

Wirtschaftszweig, Geltungsbereich: betroffene Arbeit-

nehmer, Datum des Abschlusses

Tarifverein-barung2)

Laufzeit-beginn3)

Kündi-gungs-termin3)

Erhöhung von 20032) (in vH)4) auf

Wichtige Folge- und NebenregelungenMonats-

basisStunden-

basis

n o c h Tabelle 31

noch: Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

163

Page 190: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Öffentlicher DienstBund, Länder und Gemeinden,West und Ost, ohne Berlin:2 413 800 (ein-schließlich Berlin),9./10.1.2003

+ 2,4 vHab 1.1.2003

1.11.2002 31.1.2005 West: 2,0Ost: 3,5

West: 1,7Ost: 3,2

Zwei Nullmonate für November und Dezember 2002(obere Gehaltsgruppen: fünf Nullmonate von Novem-ber 2002 bis März 2003). Einmalzahlung von 7,5 vHeines Monatsentgelts, maximal 185 Euro (Ost:166,50 Euro). Erhöhung für obere Gehaltsgruppenerst ab 1.4.2003. 1,0 vH Stufenerhöhung ab 1.1.2004,weitere 1,0 vH Stufenerhöhung ab 1.5.2004. Einmal-zahlung von 50 Euro (Ost: 46,25 Euro) imNovember 2004. Halbierung des Entgeltanstiegs beiErreichen der nächsten Lebensaltersstufe im Zeitraumvom 1.1.2003 bis 31.12.2004 für die Dauer eines Jah-res. Verschiebung der Auszahlung der Bezüge jeweilsab Dezember 2003 oder ab Dezember 2004 auf denletzten Tag des Monats möglich. Wegfall des freienArbeitstages (AZV-Tag) ab 1.1.2003.Ost: Angleichung des Tarifniveaus in Stufen von90 vH auf 91 vH ab 1.1.2003, auf 92,5 vH ab1.1.2004 und in weiteren Schritten auf 100 vH bis31.12.2007 (obere Lohn- und Gehaltsgruppen: bis31.12.2009).

Berlin:30.6./1.7.2003

1.1.2003 31.12.2009 Übernahme der Stufenerhöhungen und Einmalzah-lungen des Abschlusses für den übrigen öffentlichenDienst. Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnaus-gleich, gestaffelt nach Vergütungsgruppen, im Aus-tausch für einen Verzicht auf betriebsbedingte Kün-digungen bis zum Laufzeitende des Tarifvertrags.

PapierindustrieWest:60 300,13.5.2003

+ 2,5 vHab 1.5.2003

1.4.2003 30.4.2004 30 Euro Einmalzahlung für April 2003.

Papier verarbei-tende IndustrieWest und Ost:79 700,5.6.2003

+ 2,0 vHab 1.7.2003

1.4.2003 31.3.2005 West: 2,0Ost: 2,0

West: 2,0Ost: 2,0

Drei Nullmonate von April bis Juni 2003.2,3 vH Stufenerhöhung ab 1.6.2004.

Privates Ver-kehrsgewerbe,zum Beispiel:Hessen:43 400

+ 2,2 vHab 1.10.2003

1.8.2003 31.5.2005 Zwei Nullmonate für August und September 2003.2,0 vH Stufenerhöhung ab 1.8.2004.

ReisebürogewerbeWest und Ost:80 200,24./25.2.2003

+ 1,5 vHab 1.5.2003

1.11.2002 31.12.2004 Sechs Nullmonate von November 2002 bisApril 2003. 1,5 vH Stufenerhöhung ab 1.1.2004 undweitere 1,0 vH Stufenerhöhung ab 1.7.2004.

Steine-Erden-In-dustrie und Be-tonsteinhandwerkBayern:41 000,22.5.2003

+ 1,7 vH 1.6.2003 31.5.2005 1,7 vH Stufenerhöhung ab 1.3.2004, weitere 1,6 vHStufenerhöhung ab 1.1.2005.

Ta b e l l e 31

Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

Wirtschaftszweig, Geltungsbereich: betroffene Arbeit-

nehmer, Datum des Abschlusses

Tarifverein-barung2)

Laufzeit-beginn3)

Kündi-gungs-termin3)

Erhöhung von 20032) (in vH)4) auf

Wichtige Folge- und NebenregelungenMonats-

basisStunden-

basis

n o c h Tabelle 31

noch: Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

164

Page 191: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

Quellen: Deutsche Bundesbank, WSI-Tarifarchiv

Steinkohlen-bergbauAlle regionalen Be-reiche West:50 300,6.2.2003

+ 1,5 vH 1.5.2003 31.12.2004 1,0 vH Stufenerhöhung ab 1.7.2004.

Wohnungswirt-schaftWest und Ost:70 000,30.6.2003

+ 2,0 vH 1.7.2003 31.12.2005 West: jeweils 150 Euro zusätzliche Einmalzahlung,zahlbar spätestens mit dem Weihnachtsgeld 2003und Urlaubsgeld 2005. Ost: Stufenerhöhung spä-testens ab 1.1.2004. West und Ost: 1,2 vH Stufen-erhöhung ab 1.1.2005, Ost: spätestens ab 1.6.2005.

ZeitarbeitWest und Ost:100 000,ab 27.5.2003

k.A., da erstmals tarifvertrag-liche Rege-lung

1.1.2004 31.12.2007 2,5 vH Stufenerhöhung ab 1.1.2005. Weitere Stufen-erhöhungen von 2,5 vH ab 1.1.2006 und 2,5 vH ab1.1.2007. Möglichkeit der Reduzierung der Tarifent-gelte um bis zu 13,5 vH im Jahr 2004, 10,5 vH imJahr 2005 und 8,5 vH im Jahr 2006 bei Überlassungan Betriebe im Bundesgebiet Ost.

Durchschnittliche Tarifentwicklung,gewichtet mit der Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer

West:+ 2,3 vHOst: + 3,0 vHDeutsch-land:+ 2,4 vH

West:+ 2,2 vHOst:+ 3,0 vHDeutsch-land:+ 2,3 vH

Ta b e l l e 31

Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

Wirtschaftszweig, Geltungsbereich: betroffene Arbeit-

nehmer, Datum des Abschlusses

Tarifverein-barung2)

Laufzeit-beginn3)

Kündi-gungs-termin3)

Erhöhung von 20032) (in vH)4) auf

Wichtige Folge- und NebenregelungenMonats-

basisStunden-

basis

3. Öffentliche Finanzen: Ein ausgeglichener durch Entlastungen für das kommende Jahr konjunktu-

n o c h Tabelle 31

noch: Wichtige Tarifvereinbarungen seit Herbst 2002 in Deutschland1)

1) Nur Neuabschlüsse. - 2) In vH gegenüber den abgelaufenen Tarifvereinbarungen. Bei Inkrafttreten der Erhöhung erst nach Nullmonaten oder Pauschalzahlungen auch Angabe des Erhöhungszeitpunkts. - 3) Bei Angabe mehrerer Zeitpunkte: regional unterschiedlicher Laufzeitbeginn oder Kündigungstermin. - 4) Jahresdurchschnitt 2003 gegenüber Jahresdurchschnitt 2002, Berechnung auf Monatsbasis und auf Stundenbasis, unter Berücksichtigung von Pauschalzahlungen, Veränderungen bei Jahressonderzahlung, Urlaubsgeld, Urlaubsdauer und vermögenswirksamen Leis-tungen sowie von Veränderungen der Arbeitszeiten.

Staatshaushalt in weiter Ferne

260. Im Jahr 2003 standen die öffentlichen Haushalteunter erheblichem Finanzierungsdruck. Das staatlicheFinanzierungsdefizit in der Abgrenzung der Volkswirt-schaftlichen Gesamtrechnungen überschritt mit 4,1 vHzum zweiten Mal in Folge die Defizitobergrenze desMaastricht-Vertrages von 3,0 vH in Relation zum nomi-nalen Bruttoinlandsprodukt. Insbesondere die Ausgabenaufgrund der hohen Arbeitslosigkeit ließen die öffentli-chen Haushalte aus dem Ruder laufen. Auf der Einnah-meseite war angesichts der schwachen wirtschaftlichenEntwicklung lediglich eine geringfügige Verbesserungspürbar. Im Jahresverlauf versuchte die Bundesregierungeine Vielzahl gesetzgeberischer Maßnahmen auf denWeg zu bringen, die einerseits für die kommenden JahreKonsolidierungsmaßnahmen einleiten und andererseits

relle Impulse entfalten sollen.

Defizitquote des Staates übersteigt 4 vH-Marke

261. Das Finanzierungsdefizit des Staates erhöhte sichim Jahr 2003 abermals auf nunmehr 86,6 Mrd Euro.Gegenüber dem Vorjahr entspricht dies einer Auswei-tung des negativen Finanzierungssaldos um rund12,3 Mrd Euro. Er überstieg mit 4,1 vH in Relation zumnominalen Bruttoinlandsprodukt aufgrund einer nurschwachen Entwicklung der Steuereinnahmen und dergestiegenen Aufwendungen als Folge der Arbeitslosig-keit zum zweiten Mal seit Inkrafttreten des Stabilitäts-und Wachstumspakts im Jahr 1997 die Obergrenze von3,0 vH deutlich (Tabelle 32, Seite 166). Die Ausweitungdes gesamtstaatlichen Defizits wurde vom Bund und denLändern verursacht.

165

Page 192: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Ta b e l l e 32

Finanzierungssalden und Finanzierungsquoten in den öffentlichen Haushalten

2000 2001 2002 20031) 2000 2001 2002 20031)

Saldo (Mrd Euro) Quote (vH)2)

Staat3) in der Abgrenzung der Volks-

wirtschaftlichen Gesamtrechnungen4) ............ - 24,0 - 58,9 - 74,3 - 86,6 - 1,2 - 2,8 - 3,5 - 4,1

davon Gebietskörperschaften ............................... - 24,3 - 55,6 - 67,7 - 80,3 - 1,2 - 2,7 - 3,2 - 3,8

davon: Bund ....................................................... - 22,9 - 28,3 - 34,2 - 40,0 - 1,1 - 1,4 - 1,6 - 1,9

Länder .................................................... - 6,8 - 27,7 - 30,8 - 37,7 - 0,3 - 1,3 - 1,5 - 1,8

Gemeinden ............................................. + 5,4 + 0,4 - 2,7 - 2,6 + 0,3 + 0,0 - 0,1 - 0,1

Sozialversicherung ..................................... + 0,3 - 3,3 - 6,6 - 6,4 + 0,0 - 0,2 - 0,3 - 0,3

Nachrichtlich (Staat):

Staatsquote5) .................................................. 48,2 48,3 48,5 49,2

Abgabenquote6) ............................................. 42,9 41,2 40,6 40,8

Steuerquote7) ................................................. 25,4 23,7 23,2 23,2

Zins-Steuer-Quote8) ....................................... 13,7 14,2 13,7 13,7

Öffentlicher Gesamthaushalt9)

in der Abgrenzung der Finanzstatistik4) ......... - 32,3 - 49,1 - 66,3 - 86,2 - 1,6 - 2,4 - 3,1 - 4,0

davon Gebietskörperschaften ............................... - 34,0 - 46,8 - 59,7 - 79,7 - 1,7 - 2,3 - 2,8 - 3,7

davon: Bund ....................................................... - 23,9 - 21,1 - 32,7 - 43,4 - 1,2 - 1,0 - 1,5 - 2,0

Sondervermögen des Bundes ............... - 1,7 + 5,1 + 8,9 + 4,1 - 0,1 + 0,2 + 0,4 + 0,2

Länder .................................................... - 10,4 - 26,9 - 31,2 - 33,2 - 0,5 - 1,3 - 1,5 - 1,6

Gemeinden ............................................. + 1,9 - 3,9 - 4,7 - 7,2 + 0,1 - 0,2 - 0,2 - 0,3

Sozialversicherungen ................................. + 1,7 - 2,3 - 6,6 - 6,5 + 0,1 - 0,1 - 0,3 - 0,3

1) Eigene Schätzung. - 2) Finanzierungssaldo in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt. - 3) Gebietskörperschaften (einschließlich Sonder-rechnungen) und Sozialversicherung. - 4) Zu den konzeptionellen Unterschieden der statistischen Abgrenzungen siehe unter anderem JG 94 Ziffer158. - 5) Ausgaben des Staates in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt. - 6) Steuern einschließlich Erbschaftsteuer, Steuern an die EUsowie tatsächliche Sozialbeiträge in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt. - 7) Steuern einschließlich Erbschaftsteuer sowie Steuern andie EU in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt. - 8) Zinsausgaben in Relation zu den Steuern. - 9) Bund, Länder, Gemeinden/Gemeinde-verbände, Zweckverbände (ohne Krankenhäuser mit kaufmännischem Rechnungswesen) sowie Sonderrechnungen (EU-Anteile, ERP-Sonderver-mögen, Lastenausgleichsfonds, Fonds „Deutsche Einheit“, Bundeseisenbahnvermögen, Vermögensentschädigungsfonds, Erblastentilgungsfonds,Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes, Versorgungsrücklagen des Bundes). - a) Ohne UMTS-Lizenzeinnahmen (50,8 Mrd Euro).

a)

a)

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a)

a)

a)

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a)

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a)

a)

a)

262. Das Defizit des öffentlichen Gesamthaushalts verringerte. Die Entwicklung in den Ländern war eben-

– in der Abgrenzung der Finanzstatistik – einschließ-lich der Sozialversicherung nahm in diesem Jahr um19,9 Mrd Euro auf insgesamt 86,2 Mrd Euro zu. DerKernhaushalt des Bundes schloss mit einem Defizit inHöhe von 43,4 Mrd Euro ab; gegenüber dem Vorjahrentsprach dies einer Ausweitung um 10,7 Mrd Euro. EinRückgang der Überschüsse war bei den Sondervermö-gen des Bundes zu beobachten: Aufgrund des im Ver-gleich zum Vorjahr um rund 6 Mrd Euro niedrigerenBundesbankgewinns in Höhe von 5,4 Mrd Euro redu-zierte sich der in der Finanzstatistik ausgewiesene Über-schuss des Sondervermögens Erblastentilgungsfondsdeutlich, weil der den Betrag von 3,5 Mrd Euro überstei-gende Teil des Bundesbankgewinns dem Erblastentil-gungsfonds zuzuführen ist. Gegenläufig wirkten dieÜberschüsse des ERP-Sondervermögens und des FondsAufbauhilfe, so dass sich der Überschuss der Sonderver-mögen um insgesamt 4,8 Mrd Euro auf 4,1 Mrd Euro

falls durch einen Anstieg des finanzstatistischen Defizitsum 2,0 Mrd Euro auf 33,2 Mrd Euro geprägt. EineZunahme des Defizits mussten auch die Gemeindenhinnehmen: Es stieg von 4,7 Mrd Euro auf rund7,2 Mrd Euro.

263. In diesem Jahr war ein deutlicher Anstieg derStaatsquote um 0,7 Prozentpunkte auf 49,2 vH zu ver-zeichnen; damit erreichte sie wieder das Niveau desJahres 1997 und lag nur noch knapp unter dem Höchst-stand von 50,3 vH aus dem Jahr 1996. Der Anstieg derStaatsquote war hauptsächlich durch die deutliche Zu-nahme der monetären Sozialleistungen – im Wesentli-chen der Arbeitslosenhilfe und des Arbeitslosengelds –verursacht. Die Zunahme in diesem Jahr war lediglich zueinem sehr kleinen Teil (0,1 Prozentpunkte) in der Än-derung der Abführungsregelung für Zahlungen an dieEuropäische Union begründet (JG 2002 Ziffer 214). Die

166

Page 193: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

seit dem Jahr 2001 rückläufige Abgabenquote vollzog indiesem Jahr eine Umkehr und nahm um 0,2 Prozent-punkte auf 40,8 vH zu. Diese Zunahme war im Wesentli-chen auf den Anstieg der Sozialbeiträge zurückzuführen.Die Zins-Steuer-Quote verharrte mit 13,7 vH auf demNiveau des Vorjahres.

264. Der Sachverständigenrat bemisst die erforderli-che Konsolidierung des Staates üblicherweise anhanddes strukturellen Defizits. Hierzu wird das tatsächlicheDefizit um die konjunkturell bedingten Mindereinnah-men und Mehrausgaben und die Nettoinvestitionen desStaates bereinigt. Darüber hinaus können temporäreFaktoren, wie zum Beispiel die Ausgaben für die Besei-tigung der Flutschäden, das strukturelle Defizit erhöhen.Dieses Jahr lag das strukturelle Defizit knapp¾ Prozentpunkte unter dem tatsächlichen Defizit undbetrug etwa 3½ vH in Relation zum nominalen Brutto-inlandsprodukt. Bei den konjunkturell – hier verstandenals Abweichung vom mittelfristigen Trend – bedingtenMehrausgaben von rund 5½ Mrd Euro schlugen insbe-sondere höhere Ausgaben infolge der weiter gestiegenenArbeitslosigkeit zu Buche. Auf der Einnahmeseite erga-ben sich deutliche konjunkturell bedingte Minderein-nahmen von etwa 11 Mrd Euro, die sich nahezu überalle Einnahmearten erstreckten. Besonders beeinträch-tigt waren jedoch die Sozialversicherungsbeiträge, dieinfolge der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarktverbunden mit der rückläufigen Entwicklung der Brutto-löhne und -gehälter niedriger als erwartet ausfielen. DieNettoinvestitionen des Staates waren im Jahr 2003 sogarnegativ (– 1,8 Mrd Euro). Insgesamt entspricht damitdas strukturelle Defizit in diesem Jahr in etwa dem desVorjahres. Die verfahrensbedingte Erhöhung des im ver-gangenen Jahr ausgewiesenen strukturellen Defizits warim Wesentlichen auf die fortgesetzte Wachstumsschwä-che zurückzuführen. So wurde im vergangenen Jahr bei-spielsweise die zukünftige Entwicklung auf dem Ar-beitsmarkt zu positiv eingeschätzt, so dass dieAusgaben des Staates in diesem Bereich nicht über demTrend lagen, sondern etwa den trendbedingten Ausga-ben entsprachen. Insgesamt war die Finanzpolitik indiesem Jahr – mit Ausnahme des Wirkens der automati-schen Stabilisatoren – neutral ausgerichtet. Zwar hat dieFinanzpolitik Maßnahmen zur Konsolidierung der öf-fentlichen Haushalte, wie eine Anhebung der Sozialver-sicherungsbeiträge oder der indirekten Steuern, ergrif-fen, aber die strukturelle Haushaltsposition hat sichdennoch nicht verbessert. Dies war auf eine Reihe struk-tureller Faktoren zurückzuführen, wie beispielsweiseden niedrigeren Bundesbankgewinn und die höherenAusgaben zur Beseitigung der Hochwasserschäden.

Weiterer Anstieg der Staatsausgaben – nur leichte Zunahme der Einnahmen

265. Die Zuwachsrate der Staatsausgaben blieb seitdem Jahr 2001 auf einem nahezu konstanten Niveau von2,4 vH gegenüber dem Vorjahreszeitraum (Tabelle 33,Seite 168). Der Hauptgrund für diesen Ausgabenanstieg

war einmal mehr die Expansion der monetären Sozial-leistungen; sie erhöhten sich um 3,5 vH. Rückläufig wa-ren die Ausgaben für Bruttoinvestitionen und Subventio-nen. In den vergangenen Jahren kam es zu Einsparungenbei den geleisteten Zinsen des Staates, zum einen infolgeder Schuldentilgung durch die Erlöse aus der Veräuße-rung der UMTS-Mobilfunklizenzen im Jahr 2000 undzum anderen durch das gesunkene Zinsniveau. In diesemJahr kam es dagegen wieder zu einem Anstieg der staat-lichen Zinsausgaben um 1,5 vH. Deutliche Zuwächse– hauptsächlich wegen des Anstiegs der BSP-Eigenmit-telabführungen an die Europäische Union – hatten auchdie sonstigen laufenden Transfers zu verzeichnen. DieVermögenstransfers nahmen wegen der Förderung einesweiteren Jahrgangs im Rahmen der Eigenheimzulagedeutlich um 11,1 vH zu (JG 95 Ziffer 71). Die Aufwen-dungen für die Eigenheimzulage erreichten damit einenAnteil von knapp 28 vH an den Vermögenstransfers desStaates. Infolge weiterer Personaleinsparungen nahmendie vom Staat bezahlten Arbeitnehmerentgelte lediglichum 0,9 vH zu, trotz der Tarifabschlüsse für den öffentli-chen Dienst von 2,4 vH und der gestiegenen Sozialbei-träge des Jahres 2003.

Die Einnahmen des Staates expandierten nach einemsehr schwachen Anstieg im vergangenen Jahr in diesemJahr um 1,3 vH. Während die indirekten Steuern vorallem aufgrund der Verbrauchsteueranhebungen zu Jah-resbeginn um 2,2 vH zunahmen, verminderte sich dasAufkommen aus direkten Steuern geringfügig um0,1 vH. In der Entwicklung der direkten Steuern spiegeltsich die aufgrund der schwachen Arbeitsmarktlage nurgeringfügige Zunahme des Lohnsteueraufkommens wi-der. Das Aufkommen der Sozialversicherungsbeiträgenahm mit 1,9 vH vergleichsweise stark zu. Ursächlichfür diesen Anstieg waren, trotz einer Stagnation derBruttolöhne und -gehälter, die zu Jahresbeginn um0,4 Prozentpunkte angehobenen Beitragssätze zur Ge-setzlichen Rentenversicherung auf 19,5 vH, der imJahresdurchschnitt um 0,4 Prozentpunkte höhere durch-schnittliche Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenver-sicherung sowie eine diskretionäre Anhebung derBeitragsbemessungsgrenze in der Gesetzlichen Renten-versicherung.

Bund, Länder und Gemeinden: defizitäre Haushalte auf allen Ebenen

266. Der Bund schloss seinen Haushalt in der Abgren-zung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen miteinem Defizit von 40,0 Mrd Euro ab (Tabelle 34, Sei-te 169). In der Abgrenzung der Finanzstatistik ergab sichfür den Bund einschließlich seiner Sondervermögen einFinanzierungsdefizit von 39,3 Mrd Euro. Damit ver-stieß er im Rahmen des Haushaltsvollzugs zum zweitenMal in Folge gegen die Defizitobergrenze nachArtikel 115 Grundgesetz, nach der die Kreditaufnahmedie investiven Ausgaben (26,7 Mrd Euro im Jahr 2003)nicht übersteigen darf. Im Zusammenhang mit der Auf-stellung eines Nachtragshaushalts zum Jahresende stellteder Bundesminister der Finanzen wie im Vorjahr eine

167

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts fest;begründet wurde dies einmal mehr mit der Lage auf demArbeitsmarkt. Dazu hatte sich der Sachverständigenratschon im letzten Jahr kritisch geäußert (JG 2002Ziffern 533 ff.). Gegenüber den tatsächlichen Ausgabenfür Arbeitslosenhilfe und dem Zuschuss an die Bundes-anstalt für Arbeit im Jahr 2002 in Höhe von rund20,4 Mrd Euro waren für das Jahr 2003 im Haus-haltsentwurf lediglich Mittel in Höhe von 12,3 Mrd Eurofür Arbeitslosenhilfe vorgesehen; im Haushaltsentwurfwar zunächst kein Zuschuss an die Bundesanstalt fürArbeit eingestellt. Diese geplanten Minderausgaben vonetwas mehr als 8 Mrd Euro gegenüber dem Vorjahr lie-ßen sich angesichts der gesamtwirtschaftlichen Entwick-lung nicht realisieren; stattdessen erhöhten sich die Aus-gaben für diese beiden Bereiche sogar um 3,9 Mrd Euroauf nunmehr 24,3 Mrd Euro. Davon entfielen rund7,5 Mrd Euro auf einen Bundeszuschuss an die Bundes-anstalt für Arbeit und etwa 16,8 Mrd Euro auf Ausgabenfür die Arbeitslosenhilfe. Damit wurden die im Haus-haltsentwurf 2003 aufgestellten Einsparungsziele weit

verfehlt. Nach vier Jahren mit sinkenden Zinsausgabendes Bundes kam es dieses Jahr wieder zu einer Zu-nahme um 1,5 vH; hier spiegelte sich der im vergange-nen Jahr deutlich gestiegene Schuldenstand des Bundeswider.

267. Etwa 46 vH der Gesamtausgaben des Bundes – inder Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrech-nungen – entfielen auf die sonstigen laufenden Trans-fers. Neben dem Zuschuss an die Bundesanstalt für Ar-beit und Zuweisungen an die Bundesländer enthieltdiese Ausgabenposition vor allem Zuweisungen an dieverschiedenen Zweige der Gesetzlichen Rentenversiche-rung in Höhe von insgesamt 77,3 Mrd Euro. Im Wesent-lichen waren dies mit einem Volumen von66,4 Mrd Euro die Zuschüsse und Beiträge für Kinderer-ziehungszeiten zur Rentenversicherung der Arbeiter undAngestellten (Ziffer 333). Hinzu kamen die Beteiligun-gen des Bundes an der knappschaftlichen Rentenver-sicherung und an der hüttenknappschaftlichen Zusatz-versicherung in Höhe von 7,4 Mrd Euro sowie die

Tabelle 33

Einnahmen und Ausgaben des Staates in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen1)

2000 2001 2002 20032) 2000 2001 2002 20032)

Mrd Euro3) Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH

Einnahmen, insgesamt ........................................ 955,3 942,5 949,5 961,6 + 2,2 - 1,3 + 0,7 + 1,3

davon: Steuern ................................................................ 498,4 476,3 477,6 482,9 + 4,1 - 4,4 + 0,3 + 1,1

davon:Direkte Steuern ................................................. 254,0 229,9 227,1 227,0 + 7,0 - 9,5 - 1,2 - 0,1

Indirekte Steuern .............................................. 244,4 246,3 250,5 255,9 + 1,2 + 0,8 + 1,7 + 2,2

Sozialbeiträge ..................................................... 378,1 383,6 389,0 396,3 + 0,7 + 1,4 + 1,4 + 1,9

Verkäufe, empfangene sonstige Subven-

tionen, empfangene Vermögenseinkommen .... 57,1 60,0 58,9 56,5 - 1,1 + 5,1 - 1,8 - 4,0

Sonstige laufende Transfers und

Vermögenstransfers .......................................... 21,8 22,8 24,1 25,9 - 6,9 + 4,5 + 5,8 + 7,5

Ausgaben, insgesamt ........................................... 979,3 1 001,4 1 023,9 1 048,3 + 1,5 + 2,3 + 2,2 + 2,4

davon:Vorleistungen ...................................................... 78,0 81,1 84,5 84,6 + 2,4 + 4,0 + 4,1 + 0,2

Arbeitnehmerentgelt ........................................... 165,7 165,5 167,7 169,2 + 0,2 - 0,1 + 1,3 + 0,9

Geleistete Vermögenseinkommen (Zinsen) ....... 68,4 67,7 65,2 66,2 - 0,7 - 1,0 - 3,7 + 1,5

Subventionen ...................................................... 34,8 34,0 30,9 29,5 - 3,1 - 2,4 - 9,2 - 4,4

Monetäre Sozialleistungen ................................. 379,7 390,4 409,6 424,0 + 1,4 + 2,8 + 4,9 + 3,5

Soziale Sachleistungen ....................................... 153,0 158,4 163,3 166,9 + 3,0 + 3,5 + 3,1 + 2,3

Sonstige laufende Transfers ................................ 34,6 33,6 35,1 38,2 + 8,3 - 3,0 + 4,6 + 8,6

Vermögenstransfers ............................................ 30,1 36,1 34,6 38,5 + 10,5 + 20,0 - 4,0 + 11,1

Bruttoinvestitionen ............................................. 36,3 35,9 34,3 32,3 - 3,6 - 1,3 - 4,3 - 5,8

Sonstige4) ............................................................ - 1,4 - 1,3 - 1,4 - 1,2 X X X X

Finanzierungssaldo ............................................. - 24,0 - 58,9 - 74,3 - 86,6 X X X X

Defizitquote5) ....................................................... 1,2 2,8 3,5 4,1 X X X X

1) Bund, Länder und Gemeinden, EU-Anteile, ERP-Sondervermögen, Lastenausgleichsfonds, Fonds „Deutsche Einheit“, Vermögensentschädi-gungsfonds, Teile des Bundeseisenbahnvermögens, Erblastentilgungsfonds, Sozialversicherung. - 2) Eigene Schätzung. - 3) Abweichungen durch Runden der Zahlen. - 4) Geleistete sonstige Produktionsabgaben und Nettozugang an nichtproduzierten Vermögensgütern. - 5) Finan-zierungsdefizit in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH. - a) Ohne UMTS-Lizenzeinnahmen (50,8 Mrd Euro).

Art der Einnahmen und Ausgaben

a)

a)

a) a)

168

Page 195: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

Ta b e l l e 34

Einnahmen und Ausgaben des Bundesin der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen

2000 2001 2002 20031) 2000 2001 2002 20031)

Mrd Euro2) Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH

Einnahmen, insgesamt ........................................ 267,5 262,6 267,6 276,9 + 3,2 - 1,8 + 1,9 + 3,5

davon:Steuern ................................................................ 244,7 236,6 240,8 246,4 + 4,5 - 3,3 + 1,8 + 2,4

davon:Direkte Steuern ............................................... 115,3 102,7 101,1 101,0 + 7,6 -10,9 - 1,6 - 0,0

Indirekte Steuern ............................................ 129,4 133,9 139,7 145,4 + 1,9 + 3,5 + 4,4 + 4,1

Sozialbeiträge ..................................................... 3,5 3,6 3,6 3,6 - 0,3 + 0,6 + 0,6 + 0,4

Verkäufe, empfangene sonstige Subven-tionen, empfangene Vermögenseinkommen .... 13,4 16,0 15,3 13,1 -10,5 +19,5 - 4,5 -14,1

Sonstige laufende Transfers und Vermögenstransfers .......................................... 6,0 6,5 7,9 13,8 - 8,7 + 8,5 +22,4 +73,6

Ausgaben, insgesamt ........................................... 290,4 291,0 301,8 316,9 + 0,2 + 0,2 + 3,7 + 5,0

davon:Vorleistungen ...................................................... 19,5 20,0 20,5 20,8 + 0,8 + 2,6 + 2,6 + 1,4

Arbeitnehmerentgelte ......................................... 23,0 22,8 23,0 23,4 - 0,6 - 0,6 + 0,7 + 2,0

Geleistete Vermögenseinkommen (Zinsen) ....... 43,7 42,4 39,6 40,2 - 1,4 - 3,2 - 6,4 + 1,5

Subventionen ...................................................... 10,5 9,0 7,6 6,9 - 8,0 -14,8 -15,3 - 9,4

Monetäre Sozialleistungen ................................. 47,2 46,7 49,9 51,8 - 4,0 - 1,2 + 7,0 + 3,8

Soziale Sachleistungen ....................................... 0,2 0,3 0,2 0,2 -14,8 + 8,7 - 8,0 - 8,7

Sonstige laufende Transfers ................................ 119,0 121,0 133,9 144,7 + 4,1 + 1,7 +10,7 + 8,0

Vermögenstransfers ............................................ 21,1 22,5 20,5 22,4 + 4,5 + 6,4 - 8,7 + 9,2

Bruttoinvestitionen ............................................. 6,2 6,5 6,5 6,5 -18,5 + 5,5 - 0,2 - 0,3

Sonstige3) ............................................................ - 0,0 - 0,0 - 0,1 - 0,1 X X X X

Finanzierungssaldo ............................................. - 22,9 - 28,3 - 34,2 - 40,0 X X X X

1) Eigene Schätzung. - 2) Abweichungen durch Runden der Zahlen. - 3) Geleistete sonstige Produktionsabgaben und Nettozugang an nichtprodu-zierten Vermögensgütern. - a) Ohne UMTS-Lizenzeinnahmen (50,8 Mrd Euro).

Art der Einnahmen und Ausgaben

a)

a)

a) a

Erstattung von Aufwendungen der Bundesversiche-rungsanstalt für Angestellte aufgrund der Überführungvon Zusatzversorgungssystemen der neuen Bundeslän-der in die Rentenversicherung gemäß dem Anwart-schaftsüberführungsgesetz (JG 2002 Ziffer 298). Fernerbeteiligte sich der Bund mit rund 2,5 Mrd Euro an derAlterssicherung der Landwirte zur Deckung der jährli-chen Finanzierungslücke.

Die Flexibilität des Bundeshaushalts wird durch zweigroße Ausgabenkategorien, die Zahlungen an die Alters-sicherungssysteme und die Zinsausgaben, stark einge-engt. In der finanzstatistischen Abgrenzung entfielen imJahr 2003 rund 32 vH der Gesamtausgaben des Bundesauf Zuschüsse, Beiträge und Beteiligungen zur Alterssi-cherung einschließlich der Versorgungsausgaben fürPensionäre, wobei die Arbeitgeberanteile für die bundes-staatlichen Bediensteten in dieser Betrachtung nicht ent-halten sind. Damit stellen diese Ausgaben den größtenAnteil am Bundeshaushalt dar. Die Bundesmittel, die andie Rentenversicherung der Arbeiter und Angestelltensowie an die knappschaftliche Rentenversicherung flie-ßen, machten beim Bund seit Mitte der neunziger Jahreeinen stetig zunehmenden Teil seiner Gesamtausgabenaus (Schaubild 46, Seite 170). Von Beginn der siebziger

Jahre an bis zur Vereinigung lag der Anteil der Zahlun-gen an die Rentenversicherung der Arbeiter und Ange-stellten an den Gesamtausgaben des Bundes stets unter15 vH. Noch im Jahr 1995 machten diese Überweisun-gen nur gut 15 vH aus. Im Jahr 2002 betrug der Anteilbereits 25 vH. Vergleicht man diese Anteile mit demzweiten großen Ausgabenblock des Bundes, den Zinsen,zeigt sich, dass der Zinsausgabenanteil von Beginn dersiebziger Jahre an bis in die achtziger Jahre hinein stetigzunahm. In den letzten Jahren verminderte sich der An-teil der Zinsausgaben an den Gesamtausgaben des Bun-des allerdings deutlich.

268. Die Einnahmen des Bundes stiegen um 3,5 vH nacheinem Zuwachs von 1,9 vH im Vorjahr. Bei den Steuerein-nahmen war eine Stabilisierung zu beobachten. Haupt-sächlich aufgrund von Steuersatzerhöhungen bei den Ver-brauchsteuern nahmen die Einnahmen aus indirektenSteuern mit 4,1 vH deutlich zu. Im Bereich der direktenSteuern konnte die Tendenz rückläufiger Einnahmen in-folge der Steuerreform 2000 und der konjunkturellenSchwäche, die schon in den beiden vergangenen Jahrenzu beobachten war, gebrochen werden; die Einnahmenstagnierten auf Vorjahresniveau. Demgegenüber vermin-derten sich die empfangenen Vermögenseinkommen

169

Page 196: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

S c h a u b i l d 46

5

10

15

20

25

30

0

5

10

15

20

25

30

01970 75 80 85 90 95 2000

Anteil der Zinsausgaben und des Bundeszuschusses an die Gesetzliche Rentenversicherungan den Gesamtausgaben des Bundes1)

1) Bis 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland. Einschließlich knappschaftliche Rentenversicherung.

Quelle: VDR

Bundeszuschuss an dieGesetzliche Rentenversicherung

Zinsausgaben

02

vH vH

SR 2003 - 12 - 0615

1970

einschließlich Verkäufe und empfangene sonstige Sub-ventionen um 14,1 vH aufgrund eines deutlich niedrige-ren Bundesbankgewinns, der dem Kernhaushalt und demBundessondervermögen Erblastentilgungsfonds zuge-führt wird. Der starke Anstieg der sonstigen laufendenTransfers und der Vermögenstransfers war auf Zuführun-gen der Länder von den steuerlichen Mehreinnahmendurch die Verschiebung der zweiten Stufe derSteuerreform 2000 in den Fonds Aufbauhilfe zurückzu-führen. Trotz der geringfügig höheren Infrastrukturinves-titionen infolge des Wiederaufbaus nach den Hochwas-serschäden des vergangenen Jahres blieben dieBruttoinvestitionen des Bundes insgesamt unter dem Ni-veau des Vorjahres.

269. Im laufenden Jahr rechnete der Bund mit zusätzli-chen Einnahmen durch die Einführung von streckenbe-zogenen Gebühren (Mautgebühren) für Lastkraftwagenmit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als zwölfTonnen für die Nutzung von Bundesautobahnen. Zum31. August sollte flächendeckend eine solche Maut vondurchschnittlich 12,4 Cent je gefahrenem Kilometer er-hoben werden. Mit der Erhebung der Maut wurde einprivates Konsortium beauftragt. Aufgrund technischerProbleme musste der Beginn der Mautpflicht allerdingsmehrfach verschoben werden. Zudem gab es zwischender Bundesregierung und der Europäischen KommissionDifferenzen über ein zunächst geplantes Rückvergü-tungsmodell, das vorsah, inländischen Spediteuren eine

Rückerstattung der Mautgebühren zu gewähren. Diessollte unter Vorlage von Kraftstoffrechnungen im Wegeeiner Mineralölsteuererstattung erfolgen. Die Europäi-sche Kommission sah in dieser Vorgehensweise jedocheine Benachteiligung von Spediteuren anderer Mitglied-staaten, weshalb dieses Modell letztlich verworfenwurde. Für dieses Jahr erwartete das Bundesministeriumder Finanzen zunächst Einnahmen aus der Mauterhe-bung in Höhe von 0,4 Mrd Euro, die weitgehend zur De-ckung der Ausgaben für den Einzug der streckenbezoge-nen Straßenbenutzungsgebühren verwendet werdensollten. Aufgrund der verschobenen Einführung wurdenin diesem Jahr keine Einnahmen erzielt. Für das kom-mende Jahr rechnet das Bundesministerium der Finan-zen mit Einnahmen von rund 2,7 Mrd Euro und mitAusgaben für den Einzug der Maut in Höhe von0,6 Mrd Euro. Ein Teil der Einnahmen soll der Finanzie-rung von Verkehrsinfrastrukturvorhaben zur Verfügungstehen und durch eine privatrechtlich organisierte Ver-kehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft verteilt wer-den. Die Mauteinnahmen werden im Staatskonto derVolkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen als ein Ver-kauf von Dienstleistungen gebucht. Dadurch vermindernsie für sich genommen die Konsumausgaben des Staatesund damit auch den Beitrag des Staates zum Brutto-inlandsprodukt. Demgegenüber erhöht sich der Beitragdes Unternehmenssektors, sofern die Mauteinnahmenaus dem Inland an den Staat fließen, da diese Ausgabender Unternehmen als Vorleistungskäufe gebucht werden.

170

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Deutschland in der Stagnation

270. Auch die Haushalte der Länder schlossen zusam-mengenommen das Jahr 2003 mit höheren Defiziten ab;mit 37,7 Mrd Euro verschlechterte sich der negative Fi-nanzierungssaldo gegenüber dem Vorjahr nochmals um6,9 Mrd Euro (Tabelle 35). Die Ausgaben der Länder– in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamt-rechnungen – expandierten mit einer Zuwachsrate von3,2 vH. Maßgeblich für diesen Ausgabenanstieg warendie geleisteten Transfers infolge der Zuweisungen anden Fonds Aufbauhilfe (JG 2002 Ziffer 215). Hinzu kamein wiederholter Anstieg der Leistungen für den Schul-dendienst, hervorgerufen durch den gestiegenen Schul-denstand; die Zinsausgaben nahmen insgesamt um2,7 vH zu. Bei den Personalausgaben konnten die Län-der die höheren Kosten aufgrund der jüngsten Tarifab-schlüsse und der gestiegenen Sozialbeiträge und teil-weise durch verstärkte Personaleinsparungen und durchKürzungen beim Urlaubsgeld sowie bei den Weihnachts-zuwendungen kompensieren – die Arbeitnehmerent-gelte für die Landesbediensteten stiegen um 0,5 vH. Die

sonstigen laufenden Transfers nahmen infolge der begin-nenden Auszahlungen der Zulagen im Rahmen des Al-tersvermögensgesetzes leicht zu. Da die Zahlungen derZulage aus dem Aufkommen der Lohnsteuer bedientwerden, sind die Länder an diesen Zahlungen gemäß ih-rem Anteil an der Lohnsteuer von 42,5 vH beteiligt.Aufgrund der angespannten Finanzsituation der Länderwurden die Bruttoinvestitionen abermals reduziert.

Nach zwei aufeinanderfolgenden Jahren mit rückläufigenEinnahmen expandierten die gesamten Einnahmen derLänder in diesem Jahr wieder geringfügig. Die Steuerein-nahmen waren leicht rückläufig und lagen knapp0,9 Mrd Euro unter dem Vorjahreswert. Insbesondere dieindirekten Steuern der Länder entwickelten sich in die-sem Jahr schwach und lagen unter dem Niveau desJahres 1999. Der Anstieg der Einnahmen aus Vermögen-stransfers ist vor allem auf Einnahmen aus dem Bundes-sondervermögen Aufbauhilfe und auf einmalige Einnah-men aus den Strukturfonds der Europäischen Union

171

Ta b e l l e 35

Einnahmen und Ausgaben der Länder in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen

2000 2001 2002 20031) 2000 2001 2002 20031)

Mrd Euro2) Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH

Einnahmen, insgesamt ........................................ 271,1 259,6 258,0 260,3 + 3,3 - 4,2 - 0,6 + 0,9

davon:Steuern ................................................................ 193,0 182,0 180,2 179,3 + 4,1 - 5,7 - 1,0 - 0,5

davon:Direkte Steuern ............................................... 111,0 100,2 98,7 98,7 + 7,0 - 9,7 - 1,6 + 0,0

Indirekte Steuern ............................................ 82,0 81,7 81,6 80,6 + 0,5 - 0,3 - 0,2 - 1,1

Sozialbeiträge ..................................................... 14,5 14,6 14,9 15,0 - 0,3 + 0,4 + 2,3 + 0,4

Verkäufe, empfangene sonstige Subven-tionen, empfangene Vermögenseinkommen .... 11,0 11,4 11,4 12,1 + 5,5 + 3,1 + 0,0 + 6,4

Sonstige laufende Transfers und Vermögenstransfers .......................................... 52,5 51,7 51,5 53,9 + 1,0 - 1,6 - 0,4 + 4,7

Ausgaben, insgesamt ........................................... 277,8 287,3 288,8 298,0 + 2,2 + 3,4 + 0,5 + 3,2

davon:Vorleistungen ...................................................... 21,5 23,3 25,1 25,4 + 2,6 + 8,3 + 7,5 + 1,5

Arbeitnehmerentgelte ......................................... 90,4 90,2 91,1 91,6 - 0,1 - 0,2 + 1,0 + 0,5

Geleistete Vermögenseinkommen (Zinsen) ....... 19,3 19,9 20,3 20,9 - 0,1 + 3,4 + 2,1 + 2,7

Subventionen ...................................................... 13,6 14,9 14,0 13,6 + 2,0 + 9,4 - 6,2 - 3,0

Monetäre Sozialleistungen ................................. 40,1 41,5 44,5 46,2 + 3,8 + 3,5 + 7,0 + 4,0

Soziale Sachleistungen ....................................... 4,1 4,2 4,5 4,7 + 4,6 + 2,2 + 7,6 + 4,2

Sonstige laufende Transfers ................................ 54,2 56,2 55,0 57,0 + 3,5 + 3,8 - 2,2 + 3,7

Vermögenstransfers ............................................ 26,8 29,3 27,7 32,1 + 5,0 + 9,3 - 5,6 + 16,1

Bruttoinvestitionen ............................................. 7,9 7,7 6,6 6,5 + 5,6 - 3,0 - 13,4 - 2,8

Sonstige3) ............................................................ - 0,0 - 0,0 - 0,0 - 0,0 X X X X

Finanzierungssaldo ............................................. - 6,8 - 27,7 - 30,8 - 37,7 X X X X

1) Eigene Schätzung. - 2) Abweichungen durch Runden der Zahlen. - 3) Geleistete sonstige Produktionsabgaben und Nettozugang an nichtprodu-zierten Vermögensgütern.

Art der Einnahmen und Ausgaben

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

anlässlich der Regulierungsmaßnahmen für die Schädendes Hochwassers im vergangenen Jahr zurückzuführen.Der Fonds Aufbaubauhilfe, der als Sondervermögen desBundes geführt wird, finanziert sich aus Steuereinnahmenvon Bund, Ländern und Gemeinden, während die Ausga-ben des Fonds ausschließlich den Ländern, die vom Hoch-wasser im vergangenen Jahr betroffen waren, zuflossen.

271. Die Haushalte der Gemeinden – in der Abgren-zung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen –wiesen ein Defizit in Höhe von 2,6 Mrd Euro aus, wel-ches etwa dem Vorjahresniveau entsprach (Tabelle 36).

Die Ausgaben sanken mit einer Rate von 0,4 vH gering-fügig. Die Ausgabenstruktur verschob sich jedoch aber-mals: Die Arbeitnehmerentgelte stiegen trotz deutlicherPersonaleinsparungen, die Bruttoinvestitionen warenweiter rückläufig. Abgesehen von einem leichten An-stieg im Jahr 1999 folgten die Bruttoinvestitionen seitzehn Jahren einem nach unten gerichteten Trend. Die ge-samten Einnahmen der Gemeinden verzeichneten zumdritten Mal in Folge einen Rückgang, während ihre Steu-ereinnahmen mit einer Rate von 0,9 vH zunahmen, imWesentlichen aufgrund eines Anstiegs der indirektenSteuern (Kasten 7).

Tabelle 36

Einnahmen und Ausgaben der Gemeindenin der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen

2000 2001 2002 20031) 2000 2001 2002 20031)

Mrd Euro2) Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH

Einnahmen, insgesamt ........................................ 156,1 152,5 152,3 151,8 + 2,1 - 2,3 - 0,2 - 0,3

davon:Steuern ................................................................ 60,7 57,7 56,6 57,1 + 2,7 - 5,0 - 1,8 + 0,9

davon:Direkte Steuern ............................................... 27,7 27,0 27,4 27,3 + 5,2 - 2,5 + 1,7 - 0,5

Indirekte Steuern ............................................ 33,0 30,7 29,2 29,8 + 0,6 - 7,0 - 4,9 + 2,2

Sozialbeiträge ..................................................... 2,0 2,0 2,1 2,1 + 1,0 - 0,5 + 5,0 + 1,4

Verkäufe, empfangene sonstige Subven-tionen, empfangene Vermögenseinkommen .... 30,7 30,7 30,6 29,8 - 0,4 + 0,0 - 0,3 - 2,7

Sonstige laufende Transfers und Vermögenstransfers .......................................... 62,7 62,2 62,9 62,7 + 2,9 - 0,9 + 1,2 - 0,3

Ausgaben, insgesamt ........................................... 150,7 152,1 154,9 154,3 + 2,2 + 0,9 + 1,9 - 0,4

davon:Vorleistungen ...................................................... 30,9 31,6 32,2 31,2 + 3,0 + 2,3 + 2,0 - 3,2

Arbeitnehmerentgelte ......................................... 38,8 38,5 39,4 39,8 + 0,5 - 0,6 + 2,3 + 1,1

Geleistete Vermögenseinkommen (Zinsen) ....... 5,5 5,5 5,3 5,3 + 0,5 + 0,2 - 3,6 - 1,2

Subventionen ...................................................... 5,2 5,5 5,2 5,0 + 5,1 + 6,2 - 6,0 - 2,7

Monetäre Sozialleistungen ................................. 18,8 18,9 20,1 21,0 + 1,1 + 0,7 + 6,2 + 4,5

Soziale Sachleistungen ....................................... 15,7 16,3 16,7 17,3 + 3,4 + 4,0 + 2,8 + 3,6

Sonstige laufende Transfers ................................ 11,7 11,9 12,4 12,4 + 6,6 + 1,0 + 4,6 + 0,1

Vermögenstransfers ............................................ 4,2 4,5 4,7 4,9 + 7,6 + 7,1 + 4,0 + 4,8

Bruttoinvestitionen ............................................. 21,4 20,6 20,2 18,6 - 1,6 - 3,5 - 2,0 - 8,1

Sonstige3) ............................................................ - 1,3 - 1,2 - 1,3 - 1,2 X X X X

Finanzierungssaldo ............................................. 5,4 0,4 - 2,7 - 2,6 X X X X

1) Eigene Schätzung. - 2) Abweichungen durch Runden der Zahlen. - 3) Geleistete sonstige Produktionsabgaben und Nettozugang an nichtpro-duzierten Vermögensgütern.

Art der Einnahmen und Ausgaben

172

Page 199: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

K a s t e n 7

Zur finanziellen Lage der Kommunen

Das Jahr 2003 war geprägt von anhaltenden Diskussionen über eine Gemeindefinanzreform. Nach zwei Jahren mitrückläufigen Einnahmen und infolgedessen auch deutlich abnehmenden Investitionen der Gemeinden wuchs derDruck auf die Bundesregierung, die Einnahmesituation der Gemeinden zu verbessern. Bei den Gemeinden ist eintendenzieller Rückgang der Einnahmen in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt im Verlauf der neunzigerJahre zu beobachten; im Jahr 2003 lag diese Einnahmequote der Gemeinden unter dem Niveau des Jahres 1990und damit etwa auf dem Niveau zu Beginn der siebziger Jahre (Schaubild 47). Betrachtet man – in der Abgren-zung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen – die Steuereinnahmen der Gebietskörperschaften in Relationzum nominalen Bruttoinlandsprodukt im Zeitverlauf, wird deutlich, dass am aktuellen Rand insbesondere für dieLänder und die Gemeinden eine rückläufige diesbezügliche Steuerquote zu beobachten war. Die entsprechendeSteuerquote des Bundes stieg in den letzten Jahren vor allem aufgrund der Anhebungen von Verbrauchsteuerndeutlich an. Die kommunale Steuerquote erreichte im Jahr 2003 einen Wert von knapp 2,7 vH, der um0,2 Prozentpunkte unter dem langfristigen Durchschnitt lag.

S c h a u b i l d 47

1) Gesamteinnahmen/Steuern in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.– a) Eigene Schätzung.

Gesamteinnahmen darunter: Steuern

2

4

6

8

10

12

14

16

0

2

4

6

8

10

12

14

16

0

1970 75 80 85 90 95 2000

Einnahmequoten und Steuerquoten der Gebietskörperschaften

vH1)

2

4

6

8

10

12

14

16

0

2

4

6

8

10

12

14

16

0

1970 75 80 85 90 95 2000

Bund

Länder

Gemeinden

Bund

Länder

Gemeinden

03a) 03a)

SR 2003 - 12 - 0657

173

Page 200: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Der Rückgang der Steuereinnahmequote der Gemeinden war in den vergangenen zwei Jahren im Wesentlichendurch die sinkenden Gewerbesteuereinnahmen bedingt. Hierin spiegelt sich allerdings ein langfristiger Trend wi-der. Das Gesamtaufkommen der Gewerbesteuer – in finanzstatistischer Abgrenzung – hat sich seit dem Jahr 1972von rund 2,0 vH auf 1,1 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2002 vermindert(Schaubild 48). Diese Abnahme, die zu einem großen Teil in den siebziger Jahren stattgefunden hat, fällt freilicherheblich weniger markant aus, wenn man das Nettoaufkommen der Gewerbesteuer, das heißt abzüglich der anBund und Länder abzuführenden Gewerbesteuerumlage, in den Blick nimmt. Die höchste Relation des Nettoauf-kommens der Gewerbesteuer zum nominalen Bruttoinlandsprodukt war mit knapp 1,5 vH in den siebziger Jahrenzu verzeichnen. Im Jahr 2002 lag diese Quote bei einem Wert von 0,8 vH, der sich deutlich sowohl unter demlangfristigen Mittelwert in Höhe von 1,2 vH als auch unter dem Mittelwert seit der Vereinigung in Höhe von1,1 vH befindet.

S c h a u b i l d 48

Gewerbesteueraufkommen und Bruttoinlandsprodukt sind trotz des anteiligen Rückgangs der Gewerbesteuer sig-nifikant miteinander korreliert; der Korrelationskoeffizient für den Zeitraum der Jahre 1972 bis 2002 zwischenden Niveaus beträgt bei Zugrundelegung vierteljährlicher Daten 0,95 und derjenige zwischen den Veränderungsra-ten liegt bei 0,36. Es lässt sich zeigen, dass im Zeitablauf die Reagibilität des Gewerbesteueraufkommens in Be-zug auf die Entwicklung des nominalen Bruttoinlandsprodukts insbesondere infolge der Eliminierung der Lohn-summe aus der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer im Jahr 1980 deutlich abgenommen hat. Am aktuellenRand gibt es allerdings Anzeichen für einen strukturellen Bruch in der Entwicklung des Gewerbesteueraufkom-mens. Gemessen an der Entwicklung des nominalen Bruttoinlandsprodukts hätte das Gewerbesteueraufkommendeutlich weniger stark zurückgehen müssen, als dies tatsächlich der Fall war. Allerdings waren insbesondere dieJahre 1999 und 2000 durch ein erstaunlich hohes Gewerbesteueraufkommen gekennzeichnet. Darüber hinaus waraufgrund der finanzierenden Maßnahmen seit dem Jahr 2001, vor allem durch die Veränderungen der Abschrei-bungsbedingungen im Rahmen der Steuerreform 2000, mit einem erheblichen Mehraufkommen gerechnet wor-den. Diese Erwartung wurde jedoch offenkundig nicht erfüllt.

1) In Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.– 2) NachAbführung der Gewerbesteuerumlage an Bund und Länder.

Gewerbesteuer (brutto)

Gewerbesteuer (netto)2)

SR 2003 - 12 - 0658

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

0

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

0

1972 77 82 87 92 97 2002

Entwicklung des GewerbesteueraufkommensvH1)

174

Page 201: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

Neben der rückläufigen Gewerbesteuerquote verringerten sich die Einnahmen der Gemeinden auch infolge sin-kender Zuweisungen der Länder, die vor allem in Form von allgemeinen Zuweisungen und Investitionszuweisun-gen gezahlt werden. Im Jahr 2002 erhielten die Gemeinden in den westdeutschen Flächenländern Zuweisungenaus den Landeshaushalten (ohne Zinsen und sonstige Vermögensübertragungen von Ländern) in Höhe von28,4 vH der bereinigten Gesamteinnahmen der Gemeinden. Demgegenüber bekamen die ostdeutschen Gemeindenim Jahr 2002 etwa 58,1 vH ihrer bereinigten Gesamteinnahmen aus den Zuweisungen der Länder. Im Zeitablaufwar der Anteil der Zuweisungen an den Einnahmen der Gemeinden in Westdeutschland leicht und in Ostdeutsch-land etwas stärker rückläufig.

Insgesamt ist festzuhalten, dass – bei isolierter Betrachtung der Einnahmesituation – in den beiden vergangenenJahren neben den Ländern und teilweise dem Bund auch die Gemeinden durch einen markanten Rückgang derEinnahmen getroffen wurden, wenngleich die Abnahme bei den Ländern relativ am stärksten ausgeprägt war.

272. Die Haushalte der Sozialversicherungen – in der anstieg im Bereich der Arzneimittel sowie der Heil- und

Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun-gen – schlossen in diesem Jahr mit einem ähnlich hohenDefizit ab wie im vergangenen Jahr (Tabelle 37). Die Ge-samtausgaben stiegen um 2,8 vH auf 478,4 Mrd Euro an.Die Zuwachsrate der größten Ausgabenposition, der mo-netären Sozialleistungen, betrug 3,3 vH. Hierin spiegeltensich vor allem die ungünstige Arbeitsmarktentwicklung,aber auch eine weitere Zunahme der Zahl der Rentenemp-fänger und der Rentenanstieg, wider. Die zweite großeAusgabenkategorie der Sozialversicherungen, die sozia-len Sachleistungen, nahm um 2,0 vH zu. Gegenüber denhohen Zuwachsraten der Vorjahre konnte der Ausgaben-

Hilfsmittel gebremst werden (Ziffer 290). Im Hinblick aufdie Einnahmen der Sozialversicherungen war infolge derBeitragssatzanhebungen der Gesetzlichen Rentenversi-cherung zu Jahresbeginn und der Gesetzlichen Kranken-versicherung im Jahresverlauf eine Zunahme der Sozial-beiträge festzustellen. Zudem stiegen die Einnahmen aussonstigen laufenden Transfers deutlich an, weil derZuschuss des Bundes zum Defizitausgleich der Bundes-anstalt für Arbeit nochmals markant auf nunmehr7,5 Mrd Euro erhöht wurde.273. Das gesamtstaatliche Defizit in der Abgrenzungder Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen von

Ta b e l l e 37

Einnahmen und Ausgaben der Sozialversicherung in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen

2000 2001 2002 20031) 2000 2001 2002 20031)

Mrd Euro2) Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH

Einnahmen, insgesamt ........................................ 434,8 445,8 458,7 472,1 + 1,0 + 2,5 + 2,9 + 2,9

davon:Sozialbeiträge ..................................................... 358,1 363,4 368,4 375,6 + 0,8 + 1,5 + 1,4 + 2,0

Verkäufe, empfangene sonstige Subven-tionen, empfangene Vermögenseinkommen .... 2,2 2,2 1,9 1,9 + 24,4 - 3,1 - 10,6 - 2,1

Sonstige laufende Transfers und Vermögenstransfers .......................................... 74,5 80,3 88,4 94,5 + 1,7 + 7,7 + 10,1 + 6,9

Ausgaben, insgesamt ........................................... 434,5 449,1 465,3 478,4 + 2,2 + 3,4 + 3,6 + 2,8

davon:Vorleistungen ...................................................... 6,1 6,2 6,7 7,2 + 3,2 + 1,6 + 6,6 + 7,8

Arbeitnehmerentgelte ......................................... 13,6 14,0 14,2 14,5 + 2,8 + 2,6 + 1,8 + 1,6

Geleistete Vermögenseinkommen (Zinsen) ....... 0,2 0,2 0,2 0,2 + 87,5 + 26,7 + 5,3 - 10,0

Subventionen ...................................................... 5,5 4,7 4,2 4,1 - 11,6 - 15,7 - 10,7 - 1,8

Monetäre Sozialleistungen ................................. 273,6 283,2 295,1 304,9 + 2,0 + 3,5 + 4,2 + 3,3

Soziale Sachleistungen ....................................... 133,0 137,6 141,8 144,7 + 3,0 + 3,5 + 3,0 + 2,0

Sonstige laufende Transfers ................................ 0,7 1,3 1,4 1,3 + 23,6 + 89,7 + 4,7 - 0,7

Vermögenstransfers ............................................ 0,9 0,8 0,9 0,8 + 28,8 - 7,1 + 7,6 - 7,1

Bruttoinvestitionen ............................................. 0,9 1,1 1,0 0,8 - 1,1 + 19,3 - 8,6 - 13,2

Sonstige3) ............................................................ 0,0 0,0 0,0 0,0 X X X X

Finanzierungssaldo ............................................. 0,3 - 3,3 - 6,6 - 6,4 X X X X

1) Eigene Schätzung. - 2) Abweichungen durch Runden der Zahlen. - 3) Geleistete sonstige Produktionsabgaben und Nettozugang an nichtpro-duzierten Vermögensgütern.

Art der Einnahmen und Ausgaben

175

Page 202: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

86,6 Mrd Euro wurde zu 53,5 vH vom Bund und von denSozialversicherungen verursacht; im Vorjahr betrug die-ser Anteil 55,0 vH. Demgegenüber hatten die Länder ein-schließlich der Gemeinden im Jahr 2003 einen Anteil amDefizit von 46,5 vH. Sollen die für die kommenden dreiJahre im Finanzplanungsrat vereinbarten Anteile an dergesamtstaatlichen Defizitquote von Bund einschließlichSozialversicherungen (45 vH) und Ländern einschließ-lich der Gemeinden (55 vH) sowie die Defizitobergrenzevon 3,0 vH nicht überschritten werden (JG 2002Ziffer 541), sind drastische Einsparungen insbesonderedes Bundes und der Sozialversicherungen erforderlich.So hätte zum Beispiel der Bund einschließlich Sozialver-sicherungen eine Verminderung des diesjährigen Defizitsum etwa 17,0 Mrd Euro vorzunehmen. Demgegenübermüssten die Länder und Gemeinden ihr derzeitiges Defi-zit lediglich um rund 4,3 Mrd Euro reduzieren, um dieGrenzen des nationalen Stabilitätspakts in Verbindungmit der Defizitobergrenze des Maastricht-Vertrages ein-zuhalten.Betrachtet man die Defizitentwicklung der Gebietskör-perschaften und der Sozialversicherungen jeweils in Re-lation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt, so zeigtsich, dass die Defizitquote des Bundes in den neunzigerJahren weitgehend in einem Band zwischen 1 vH und2 vH lag (Schaubild 49). Im Jahr 2003 realisierte derBund mit einer Defizitquote von 1,9 vH den oberen Randdieses Bands. Der Bund markierte in dem betrachtetenZeitraum der Jahre 1991 bis 2003 – abgesehen von demJahr 1994 – stets den größten Anteil an der Defizitquote

des Staates. Demgegenüber schwankte die Defizitquoteder Länder bis zum Jahr 2000 zwischen Werten von0,3 vH und 1,2 vH. Erst seit Beginn dieses Jahrzehnts hatsich die Defizitquote der Länder aufgrund der ungünsti-gen Einnahmeentwicklung bis zum aktuellen Rand stetigverschlechtert. Die Sozialversicherungen und die Ge-meinden verzeichneten aufgrund des grundsätzlichenZwangs zum Haushaltsausgleich ohne Aufnahme vonSchulden jeweils um null schwankende Finanzierungs-salden. Eine ähnliche Situation, wenngleich weniger dra-matisch als in den beiden vergangenen Jahren, war be-reits in den Jahren 1995 und 1996 zu beobachten: DieGemeinden und Sozialversicherungen befanden sich imdefizitären Bereich, und der Bund erhöhte die Defizit-quote. Ursache dafür war eine Erhöhung des Kindergeldsund eine schwache Einnahmeentwicklung.

Steueraufkommen leicht steigend

274. Die Entwicklung des kassenmäßigen Steuerauf-kommens stabilisierte sich im Jahr 2003. Nach zwei Jah-ren mit rückläufigen Steuereinnahmen infolge der kon-junkturellen Entwicklung und der Steuerreform 2000(Steuersenkungsgesetz 2001 und Steuersenkungsergän-zungsgesetz 2001) konnte das Steueraufkommen in die-sem Jahr trotz Steuererhöhungen und trotz des Wegfallsaufkommensmindernder Einmaleffekte bei unveränderterkonjunktureller Lage lediglich um knapp 0,8 Mrd Eurooder 0,2 vH zulegen (Tabelle 38). Die Zuwachsrate deskassenmäßigen Steueraufkommens lag unter derjenigen

176

S c h a u b i l d 49

+1

-1

-2

-3

-4

-5

0

vH

+1

-1

-2

-3

-4

-5

0

vH

1991 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03

Finanzierungssalden der staatlichen Ebenen1)

Sozialversicherung Gemeinden

Länder

Staat

Bund

1) Finanzierungssaldo in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen.– a) Ohne den einmaligen Effekt durch die Übernahme der Schulden der Treu-handanstalt b Verkauf derund eines Teils der Altschulden der ostdeutschen Wohnungswirtschaft.– ) Ohne den einmaligen Effekt durch den UMTS-Lizenzen.–c) Eigene Schätzung.

a) b) c)

SR 2003 - 12 - 0616

Defizit (-), Überschuss (+)

Page 203: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutschland in der Stagnation

Ta b e l l e 38

Kassenmäßiges Aufkommen wichtiger Steuerarten

2000 2001 2002 20031) 2000 2001 2002 20031)

Mrd Euro Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH

Steuern vom Einkommen .......................... 204,2 181,9 175,5 173,0 + 4,4 -10,9 - 3,5 - 1,4

Lohnsteuer, insgesamt2) ........................... 135,7 132,6 132,2 133,5 + 1,4 - 2,3 - 0,3 + 1,0

Veranlagte Einkommensteuer3) ............... 12,2 8,8 7,5 4,5 +12,3 -28,2 -14,0 -40,3

Nicht veranlagte Steuern vom Ertrag ...... 13,5 20,9 14,0 9,5 +19,6 +54,5 -32,9 -31,9

Zinsabschlag ............................................ 7,3 9,0 8,5 7,7 +21,3 +22,2 - 5,4 - 8,8

Körperschaftsteuer .................................. 23,6 -0,4 2,9 7,5 + 5,4 X X X

Solidaritätszuschlag ................................. 11,8 11,1 10,4 10,2 + 5,1 - 6,5 - 6,0 - 2,0

Gewerbesteuer, insgesamt ......................... 27,0 24,5 23,5 24,2 - 0,1 - 9,2 - 4,3 + 3,0

Umsatzsteuer4) ........................................... 140,9 138,9 138,2 137,0 + 2,7 - 1,4 - 0,5 - 0,9

Mineralölsteuer ......................................... 37,8 40,7 42,2 43,1 - 1,1 + 7,6 + 3,7 + 2,2

Stromsteuer ............................................... 3,4 4,3 5,1 6,6 +84,8 +28,8 +17,9 +29,5

Tabaksteuer ........................................... 11,4 12,1 13,8 14,8 - 1,8 + 5,5 +14,1 + 7,7

Versicherungsteuer .................................... 7,2 7,4 8,3 8,6 + 1,8 + 2,5 +12,1 + 3,0

Kraftfahrzeugsteuer ................................ 7,0 8,4 7,6 7,4 - 0,3 +19,4 - 9,4 - 3,1

Grunderwerbsteuer .................................... 5,1 4,9 4,8 4,8 -16,1 - 4,5 - 1,9 + 0,1

Erbschaftsteuer ....................................... 3,0 3,1 3,0 3,3 - 2,4 + 2,9 - 1,6 + 8,9

Gesamtsteueraufkommen ....................... 467,3 446,2 441,7 442,5 + 3,1 - 4,5 - 1,0 + 0,2

Nachrichtlich:

Steuerquote5) ............................................. 23,0 21,5 20,9 20,8 X X X X

„Bereinigte“ Steuerquote 6) ....................... 25,0 23,6 23,1 23,0 X X X X

1) Eigene Schätzung. - 2) Seit dem Jahr 1996 wird das Kindergeld mit dem Lohnsteueraufkommen saldiert (JG 96 Ziffer 155). - 3) Bruttoauf-kommen abzüglich der Erstattungen nach § 46 EStG (Veranlagung bei Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit), der Erstattungen desBundesamtes der Finanzen, der Investitionszulagen und der Eigenheimzulage. - 4) Einschließlich Einfuhrumsatzsteuer. - 5) Steuereinnahmen in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH. - 6) „Bereinigte“ Steuereinnahmen (Steuereinnahmen zuzüglich Investitionszulagen zurKörperschaftsteuer und Einkommensteuer, Eigenheimzulage, Bergmannsprämien und Kindergeld) in Relation zum nominalen Bruttoinlandspro-dukt in vH.

Steuerart

des nominalen Bruttoinlandsprodukts, so dass die kassen-mäßige Steuerquote um 0,1 Prozentpunkte auf 20,8 vHsank. Die um unmittelbare Abzüge vom Steueraufkom-men (unter anderem Kindergeld, Eigenheimzulage, In-vestitionszulagen) bereinigte Steuerquote vermindertesich trotz der weiteren Zunahme der Eigenheimzulageebenfalls um 0,1 Prozentpunkte auf 23,0 vH.275. Das kassenmäßige Aufkommen der Steuern vomEinkommen – Lohnsteuer, veranlagte Einkommensteuer,nicht veranlagte Steuern vom Ertrag, Zinsabschlag, Kör-perschaftsteuer und Solidaritätszuschlag – lag mit173,0 Mrd Euro im dritten Jahr in Folge unter dem Vor-jahreswert, wenngleich der Rückgang mit 1,4 vH ver-gleichsweise moderat ausfiel. Berücksichtigt man jedochdie um gut 1,3 Mrd Euro höheren Auszahlungen der Ei-genheimzulage, die mit dem Bruttoaufkommen der ver-anlagten Einkommensteuer saldiert werden, so ergäbesich lediglich eine Verminderung des Bruttoaufkommensder Steuern vom Einkommen gegenüber dem Vorjahres-aufkommen um 1,2 Mrd Euro.– Trotz der negativen Entwicklung auf dem Arbeits-

markt ergab sich ein leichter Zuwachs des kassenmäßi-gen Aufkommens der Lohnsteuer. Dies erklärt sichaus zwei gegenläufigen Effekten. Die Bruttolöhne und-gehälter, die die Bemessungsgrundlage der Lohn-steuer darstellen, stagnierten angesichts der schwieri-

gen Arbeitsmarktlage ungeachtet der Tariflohnsteige-rungen in diesem Jahr. Der für sich genommendämpfende Effekt des Beschäftigungsrückgangs wurdedurch den aufkommenserhöhenden Progressionseffektdes Einkommensteuertarifs überkompensiert, und esergab sich – nach einem Rückgang des kassenmäßigenAufkommens aus der Lohnsteuer im vergangenen Jahraufgrund der Anhebung des Kindergelds zumJahresbeginn 2002 – letztlich noch eine positive Zu-wachsrate des Lohnsteueraufkommens von 1,0 vH.

– Das kassenmäßige Aufkommen aus der veranlagtenEinkommensteuer war im dritten Jahr in Folge deut-lich rückläufig; es verminderte sich um 40,3 vH auf4,5 Mrd Euro. Demgegenüber nahm das Bruttoauf-kommen der veranlagten Einkommensteuer, das heißtvor Abzug der Eigenheimzulage, der Investitionszu-lage und der Erstattungen an Arbeitnehmer nach§ 46 Einkommensteuergesetz, mit 4,0 vH wenigerstark ab und lag bei 37,0 Mrd Euro. Diese Abzugsbe-träge stiegen in diesem Jahr um 1,5 Mrd Euro undsummierten sich auf 32,5 Mrd Euro. Darüber hinauswurde das Aufkommen der veranlagten Einkommen-steuer auch durch die Berücksichtigung der zu hohenVorauszahlungen der Steuerpflichtigen im Rahmender nicht veranlagten Steuern vom Ertrag derJahre 2000 und 2001 vermindert. Durch die im

177

Page 204: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Jahr 2003 durchgeführten einkommensteuerlichenVeranlagungen ergaben sich erhöhte Rückzahlungen,die das Aufkommen der veranlagten Einkommen-steuer ebenfalls dämpften.

– Das Aufkommen aus dem Zinsabschlag reduziertesich um 8,8 vH auf 7,7 Mrd Euro. In dieser Entwick-lung spiegelten sich zwei Effekte wider: Einerseits re-sultierten aus der gesunkenen durchschnittlichen Ver-zinsung geringere steuerbare Zinserträge, andererseitsgab es im laufenden Jahr bereits Portfolioumschich-tungen zu Lasten von festverzinslichen Wertpapieren.

– Das Aufkommen aus der Körperschaftsteuer be-gann sich in diesem Jahr zu „normalisieren“; es be-trug 7,5 Mrd Euro und lag damit 4,6 Mrd Euro überdem Vorjahresergebnis. Ein Grund für den ver-gleichsweise starken Anstieg des Aufkommens wa-ren einmalige Körperschaftsteuererstattungen im ver-gangenen Jahr sowie in geringem Umfang dietemporäre Anhebung des Körperschaftsteuersatzesvon 25 vH auf 26,5 vH infolge der Finanzierungs-maßnahmen des Fonds Aufbauhilfe in diesem Jahr.Das Aufkommen der nicht veranlagten Steuern vomErtrag verminderte sich um 4,5 Mrd Euro und er-reichte dadurch mit 9,5 Mrd Euro ebenfalls ein „Nor-malniveau“ (JG 2002 Kasten 6).

276. Im Vergleich zum Vorjahr nahm das Aufkommender Gewerbesteuer – nach zwei Jahren mit einem deut-lichen Rückgang – um 3,0 vH auf 24,2 Mrd Euro zu.Dennoch vermochte das Gewerbesteueraufkommennicht die hohen Beträge der Jahre 1999 und 2000 zu er-reichen. Die Zunahme war im Wesentlichen in höherenNachzahlungen für die vorangegangenen Jahre begrün-det. Für die Jahre 1998 und früher waren infolge von Be-triebsprüfungen sehr hohe Nachzahlungen durch dieUnternehmen zu leisten. Auch das Hauptveranlagungs-jahr 2001 brachte höhere Abschlussergebnisse, da dieVorauszahlungen im Jahr 2001 offenkundig zu niedrigangesetzt worden waren.

277. Wie auch in den beiden vergangenen Jahrenkonnte das Aufkommen der Umsatzsteuer im Jahr 2003das Vorjahresergebnis nicht übertreffen. Aufgrund einerschwachen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ergabsich ein Rückgang des Aufkommens um 0,9 vH. Die no-minale wirtschaftliche Entwicklung hätte für sich ge-nommen für einen Anstieg der Umsatzsteuereinnahmengesprochen. Allerdings war auch das laufende Jahrdurch eine hohe Anzahl von Insolvenzen gekennzeich-net, bei denen die Unternehmen dem Fiskus häufig dieeingenommene Umsatzsteuer schuldig blieben. Bereitsim Vorjahr betrugen die Steuerausfälle infolge vonNiederschlagungen im Besteuerungsverfahren rund3,9 Mrd Euro. Ein zweiter Grund für die schwache Ent-wicklung des Umsatzsteueraufkommens lag in der Än-derung des Vorsteuerabzugs für Personenkraftwagen, diesowohl betrieblich als auch privat genutzt werden.

So wurde der Vorsteuerabzug für solche Personenkraft-wagen seit dem 1. April 1999 reduziert, nur die Hälfteder gezahlten Umsatzsteuer konnte als Vorsteuer geltendgemacht werden. Alternativ konnte für nach dem1. April 1999 angeschaffte Personenkraftwagen für die

so genannte Eigenverbrauchsbesteuerung (Besteuerungder privaten Personenkraftwagen-Nutzung in Höhe von1 vH des Neuwagenpreises) optiert werden. Diese Rege-lung stand im Widerspruch zum EU-Recht. Nach ständi-ger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofesdarf das Recht auf Vorsteuerabzug grundsätzlich nichteingeschränkt werden. Zwar hätte die Bundesregierungdie Möglichkeit gehabt, sich von der EuropäischenUnion eine Ausnahmegenehmigung für die Vorsteuerab-zugsbeschränkung erteilen zu lassen, diese wurde abernicht beantragt, weil sich die europarechtlichen Zweifelbestätigt hatten. Seit Beginn des Jahres 2003 ist ein vol-ler Abzug der gezahlten Umsatzsteuer möglich, was wie-derum zu Steuermindereinnahmen führte. Die im Gegen-zug anzuwendende 1 vH-Regelung führt zwar zuMehreinnahmen bei der veranlagten Einkommensteuer,die aber erst in den kommenden Jahren anfallen.

Der Bundesrechnungshof hat in einem Bericht über Steu-erausfälle bei der Umsatzsteuer weitere Gründe für dieschwache Aufkommensentwicklung dargelegt. Nebenden bekannten Karussellgeschäften (JG 2002 Ziffer 223)kommt es durch Kettenbetrug im Baugewerbe zu erheb-lichen Steuerausfällen. Dabei schalten Bauunternehmenfür die Bauausführung gezielt mehrstufig Subunterneh-men oder Scheinunternehmen ein. So können sie ver-schleiern, dass die mit der tatsächlichen Bauausführungbeauftragten Subunternehmen weder Steuern noch Sozi-alabgaben entrichten. Das Bundesministerium der Finan-zen schätzt die Einnahmeausfälle, die sich aus illegalerBetätigung und aus Betrügereien ergeben, auf insgesamtrund 64 Mrd Euro. Weitere Steuerausfälle im Bereich derUmsatzsteuer ergeben sich durch Gesetzeslücken im Zu-sammenhang mit Globalzessionen, das heißt einer Abtre-tung aller in einem Geschäftsbetrieb entstehenden Forde-rungen, und betrieblichen Grundstücksgeschäften. ImBereich von Leasing und Mietkauf entstehen durch ge-plante Insolvenzen ebenfalls erhebliche Umsatzsteuer-ausfälle, die der Bundesrechnungshof auf einen dreistel-ligen Millionenbetrag beziffert.

Betrüger machen sich die Qualifizierung von Leasing-verträgen als umsatzsteuerrechtliche Lieferungen zu-nutze, bei denen der Gesamtwert des Wirtschaftsguts so-fort umsatzsteuerpflichtig ist. Der Betrug verläuft in derRegel nach dem folgenden Muster: Eine Leasinggesell-schaft verleast Gegenstände des höheren Preissegmentsan einen Leasingnehmer, der sofort die entsprechendeVorsteuer bei seinem Finanzamt geltend macht und sicherstatten lässt. Umgekehrt führt der Leasinggeber zu-nächst die Umsatzsteuer ab. Nach kurzer Frist wird auf-grund einer Zahlungsunfähigkeit des Leasingnehmersdas Leasinggeschäft rückgängig gemacht. Der Leasing-geber erhält die gezahlte Umsatzsteuer von seinem Fi-nanzamt zurück, während der Leasingnehmer die erhal-tene Vorsteuererstattung aufgrund seiner Insolvenz nichtmehr dem Fiskus zurückzahlen kann.

Die Untersuchung des Bundesrechnungshofes hat ge-zeigt, dass ungeachtet des Steuerverkürzungsbekämp-fungsgesetzes erhebliche Mindereinnahmen infolge vonUmsatzsteuerhinterziehungen zu verzeichnen waren.Zugleich mahnte der Bundesrechnungshof den Gesetz-geber, schnellstmöglich eine Reihe von Gesetzeslückenzu schließen, um die erheblichen Steuerausfälle im Be-

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Deutschland in der Stagnation

reich der Umsatzsteuer zu reduzieren. Auch als Reaktionauf diese Mahnung wurde zwischenzeitlich dasSteueränderungsgesetz 2003 auf den Weg gebracht, daseinige der vom Bundesrechnungshof aufgezeigten Ge-setzeslücken schließen soll.278. Im Vergleich zum Aufkommen der Gemein-schaftssteuern expandierten die Einnahmen der speziel-len Verbrauchsteuern teilweise recht deutlich. Einenrobusten Anstieg des Aufkommens von zusammen5,1 vH konnten wiederum die Mineralölsteuer, trotz ei-nes gesamtwirtschaftlichen Rückgangs des Kraftstoffver-brauchs, und die Stromsteuer als Folge der fünften undletzten Stufe der ökologischen Steuerreform verzeichnen.Die Mineralölsteuersätze für unverbleites Benzin undDieselkraftstoff wurden von 62 Cent auf 65 Cent bezie-hungsweise von 44 Cent auf 47 Cent je Liter erhöht.Hinzu kam eine Anhebung der Steuersätze auf Erdgasund Flüssiggas. Der Normalsteuersatz der Stromsteuerwurde zu Jahresbeginn um 14,5 vH auf 2,05 Cent je Ki-lowattstunde und der ermäßigte Stromsteuersatz von0,36 Cent auf 1,23 Cent je Kilowattstunde angehoben.Sehr dynamisch entwickelte sich auch das Aufkommender Tabaksteuer. Durch das Gesetz zur Finanzierung derTerrorbekämpfung wurden die Tabaksteuersätze zum1. Januar dieses Jahres um einen weiteren Cent je Ziga-rette erhöht, was zu einer Zunahme des Aufkommens ausdieser Steuer um 7,7 vH auf 14,8 Mrd Euro führte.

Schuldenstand weiter zunehmend

279. Der Schuldenstand der öffentlichen Haushalte er-höhte sich im vergangen Jahr deutlich. Die Kreditmarkt-schulden im weiteren Sinne betrugen zum 31. Dezem-ber 2002 insgesamt 1 253,2 Mrd Euro und lagen damitum 49,3 Mrd Euro beziehungsweise 4,1 vH über demVorjahresstand (Tabelle 39, Seite 180). Der Schulden-stand, ermittelt nach den Vorschriften des Maastricht-Vertrages, lag bei 1 283,5 Mrd Euro. Die Schulden-standsquote überschritt im Jahr 2002 mit 60,8 vH dasMaastricht-Kriterium, das einen Schuldenstand in Rela-tion zum nominalen Bruttoinlandsprodukt von unter60 vH fordert.Die Kreditmarktschulden im weiteren Sinne unterschei-den sich von dem Schuldenstand in der Maastricht-Defi-nition durch die Hinzurechnung der Schulden der Sozial-versicherungen, des Münzumlaufs, der Differenzzwischen dem Nominalwert und dem abgezinsten Wertder unverzinslichen Schatzanweisungen und Finanzie-rungsschätze, der Kassenverstärkungskredite und derkreditähnlichen Rechtsgeschäfte und durch die Heraus-rechnung der Schulden der Gebietskörperschaften ge-genüber den Sozialversicherungen sowie der Versor-gungsrücklagen.Der Schuldenstand des Bundes einschließlich seinerSondervermögen nahm im Jahresverlauf 2002 um insge-samt 22,2 Mrd Euro zu und betrug zum Jahresende778,6 Mrd Euro. Die Bruttokreditaufnahme des Bundeseinschließlich seiner Sondervermögen belief sich imJahr 2002 auf 207,1 Mrd Euro. Gleichzeitig tilgte derBund Schulden in Höhe von 181,0 Mrd Euro, so dass dieNettokreditaufnahme bei 26,1 Mrd Euro lag. Die Diffe-renz zur Zunahme des Schuldenstands in Höhe von

3,9 Mrd Euro entfiel unter anderem auf im Eigenbesitzbefindliche Wertpapiere des Bundes.

In den Ländern legte der Schuldenstand im Verlauf desJahres 2002 um 27,1 Mrd Euro auf nunmehr 384,8 MrdEuro zu. Den stärksten Anstieg hatte das Land Berlin miteiner Zuwachsrate der Verschuldung von 16,4 vH zuverzeichnen. Die niedrigste Zuwachsrate war mit 3,2 vHin Hamburg zu beobachten. In allen anderen Bundeslän-dern lag die Zuwachsrate des Schuldenstands in einemBand von 4,7 vH in Sachsen bis 8,5 vH in Sachsen-An-halt. Der Schuldenstand der Länder einschließlich ihrerGemeinden in Relation zum jeweiligen regionalisiertennominalen Bruttoinlandsprodukt ist in Bayern mit9,1 vH am geringsten, während Berlin mit 57,9 vH diebei weitem ungünstigste Relation aufwies. Die neuenBundesländer hatten – von Sachsen abgesehen – jeweilsSchuldenstandsquoten von mehr als 35 vH. Die Schul-den der Länder bestanden zum Jahresende 2002 zu rund68 vH aus direkten Darlehen und zu etwa 32 vH ausWertpapieren. Im Vorjahr betrug der Wertpapieranteil anden Schulden noch rund 25 vH.

Die Gemeinden einschließlich ihrer Zweckverbändekonnten im Jahresverlauf 2002, trotz eines leichtenÜberhangs der Schuldenaufnahme gegenüber der Schul-dentilgung von 0,8 Mrd Euro, ihre Kreditmarktschulden,in denen die Kassenkredite nicht enthalten sind, mit89,8 Mrd Euro weitgehend konstant halten. In Sachsenund in Baden-Württemberg sank der Schuldenstand derGemeinden um 3,4 vH beziehungsweise 8,2 vH. Aller-dings mussten die Kommunen in einem erheblichenAusmaß Kassenkredite in Höhe von 10,7 Mrd Euro zurFinanzierung ihrer Haushalte aufnehmen. So verschul-deten sich allein die Kommunen in Nordrhein-Westfalenund in Niedersachsen über Kassenkredite mit einem Vo-lumen von 4,1 Mrd Euro und 2,0 Mrd Euro.

Zum Jahresende 2003 dürfte sich der Schuldenstand desStaates – in der Abgrenzung der VolkswirtschaftlichenGesamtrechnungen – auf 1 368 Mrd Euro belaufen; diesentspricht 64,2 vH in Relation zum nominalen Bruttoin-landsprodukt. In der Abgrenzung der Finanzstatistikdürfte der Schuldenstand am 31. Dezember 2003 rund1 340 Mrd Euro betragen. Der Bund war zu rund 45 vH,und die Länder waren zu rund 38 vH für den Anstieg desSchuldenstands um rund 86 Mrd Euro verantwortlich.

Bedeutende Reformvorhaben im Bereich der öffentlichen Finanzen

Schicksal des Steuervergünstigungsabbaugesetzes

280. Im laufenden Jahr brachte die Bundesregierungeine Vielzahl von Reformmaßnahmen auf den parlamen-tarischen Weg. Am 21. Februar 2003 wurde das Gesetzzum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahme-regelungen (Steuervergünstigungsabbaugesetz) im Deut-schen Bundestag verabschiedet; dieses Gesetz wurde je-doch vom Bundesrat am 14. März 2003 abgelehnt. ImVermittlungsausschuss des Deutschen Bundestages unddes Bundesrates wurden viele Einzelregelungen des Ge-setzes herausgenommen.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Ta b e l l e 39

Schuldenaufnahme und Schuldentilgung sowie Schuldenstand im Jahr 20021)

Schulden-aufnahme2)

Schulden-tilgung2)

Schulden-stands-quote3)

je Ein-wohner4)

in EurovH

Bund einschließlich Sondervermögen ....... 207,10 180,97 778,61 9 433 36,9 Bund5) ......................................................... 183,44 156,98 719,40 8 716 34,1 ERP-Sondervermögen6) ............................. 3,27 3,27 19,77 240 0,9 Fonds „Deutsche Einheit“ ......................... 20,39 20,72 39,44 478 1,9

Länder ......................................................... 65,93 39,23 384,77 4 662 18,3 Baden-Württemberg ................................. 5,00 3,52 33,38 3 131 10,9 Bayern ...................................................... 2,49 1,47 19,18 1 549 5,2 Berlin ....................................................... 11,00 4,95 44,65 13 161 57,9 Brandenburg ............................................. 2,69 1,55 14,66 5 675 33,2 Bremen ..................................................... 1,35 0,58 9,58 14 475 41,7 Hamburg ................................................... 2,43 1,87 18,18 10 518 24,2 Hessen ...................................................... 4,45 2,52 24,82 4 074 13,0 Mecklenburg-Vorpommern ...................... 1,12 0,60 8,69 4 979 29,3 Niedersachsen .......................................... 5,79 2,79 40,01 5 013 21,8 Nordrhein-Westfalen ................................ 15,41 10,13 88,47 4 894 19,1 Rheinland-Pfalz ........................................ 3,46 2,37 20,86 5 140 22,4 Saarland .................................................... 0,98 0,59 6,54 6 138 25,7 Sachsen .................................................... 1,77 1,29 10,68 2 455 14,1 Sachsen-Anhalt ......................................... 2,81 1,57 15,68 6 150 36,2 Schleswig-Holstein ................................... 3,38 2,18 17,23 6 118 26,3 Thüringen ................................................. 1,83 1,25 12,18 5 090 29,9

Gemeinden7) ................................................. 10,14 9,40 89,81 1 170 4,3 Baden-Württemberg ................................. 0,73 1,34 6,98 655 2,3 Bayern ...................................................... 2,17 1,25 14,57 1 176 3,9 Brandenburg ............................................. 0,17 0,18 1,80 696 4,1 Hessen ...................................................... 0,69 0,63 8,31 1 364 4,3 Mecklenburg-Vorpommern ...................... 0,20 0,16 2,13 1 220 7,2 Niedersachsen .......................................... 0,92 0,81 7,95 996 4,3 Nordrhein-Westfalen ................................ 3,54 3,19 28,13 1 556 6,1 Rheinland-Pfalz ........................................ 0,37 0,25 4,50 1 109 4,8 Saarland .................................................... 0,08 0,10 0,93 874 3,7 Sachsen .................................................... 0,46 0,67 5,84 1 342 7,7 Sachsen-Anhalt ......................................... 0,36 0,31 3,34 1 310 7,7 Schleswig-Holstein ................................... 0,20 0,24 2,32 823 3,5 Thüringen ................................................. 0,27 0,28 3,02 1 262 7,4

Insgesamt8) ................................................... 283,17 229,60 1 253,20 15 183 59,4

Nachrichtlich: Staat in der Abgrenzung der Volks- wirtschaftlichen Gesamtrechnungen .......... X X 1 283,50 15 551 60,8

1) In der Abgrenzung der Finanzstatistik. - 2) Kreditmarktschulden im weiteren Sinne (Wertpapierschulden, Schulden bei Banken, Sparkassen,Versicherungsunternehmen und sonstigen in- und ausländischen Stellen sowie Ausgleichsforderungen). - 3) Schuldenstand in Relation zum no-minalen Bruttoinlandsprodukt, gemäß Arbeitskreis VGR der Länder nach dem Berechnungsstand vom Frühjahr 2003. - 4) Bevölkerungsstand am 31. Dezember 2002. - 5) Einschließlich Lastenausgleichsfonds und einschließlich der am 1. Juli 1999 übernommenen Schulden des Bun-deseisenbahnvermögens, des Ausgleichsfonds „Steinkohle“ und des Erblastentilgungsfonds. - 6) Einschließlich Entschädigungsfonds. - 7) Ein-schließlich Zweckverbände. - 8) Ohne Krankenhäuser einschließlich Nebenhaushalte. Ohne Verschuldung der Haushalte untereinander.

Schuldenstand zum 31. Dez. 2002

Mrd Euro

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Deutschland in der Stagnation

Der am 9. April erzielte Kompromiss, dem der DeutscheBundestag und der Bundesrat am 11. April zustimmten,sieht im Wesentlichen die folgenden Rechtsänderungenvor (Korb I):– Aufgrund des markanten Rückgangs der Körperschaft-

steuereinnahmen in den beiden vergangenen Jahrenwurden ein dreijähriges Moratorium (beginnend mitdem Jahr 2003) zur Ausschüttung von Körperschaft-steuerguthaben und anschließend eine ausschüttungs-abhängige, jährlich begrenzte Guthabenerstattung zurStreckung der noch bestehenden Körperschaftsteuer-guthaben bis zum Jahr 2019 eingeführt.

– Die bisher mögliche rückwirkende Anerkennung einerOrganschaft wird nunmehr erst ab dem Wirtschaftsjahranerkannt, in dem der Gewinnabführungsvertrag insHandelsregister eingetragen wird.

– Die Konstruktion der Mehrmütterorganschaft, die ge-nutzt wurde, um Verluste einer Organgesellschaft andie Obergesellschaften zu transferieren, findet keinesteuerliche Anerkennung mehr.

– Zur Vermeidung von Gewinnminderungen im Wege vonVerlustverrechnungen findet eine Einschränkung desVerlustabzugs bei stillen Gesellschaftern statt; Verlusteaus stillen Gesellschaften und stillen (Unter-)Beteili-gungen an Kapitalgesellschaften, bei denen der Ge-sellschafter oder Beteiligte eine Kapitalgesellschaft istund damit als Mitunternehmer gilt, dürfen nur mit Ge-winnen aus derselben Beteiligung verrechnet werden.Diese Maßnahme wurde flankierend zur Abschaffungder Mehrmütterorganschaft eingebracht, da hierdurchUmgehungsmöglichkeiten verhindert werden.

– Zur Überprüfung von angesetzten Verrechnungsprei-sen sollen Konzerne zukünftig für erbrachte Leistungennachprüfbare Aufzeichnungen führen.

– Zur Vermeidung von Unternehmenssitzverlagerungenin Gemeinden mit einem extrem niedrigen Gewerbe-steuer-Hebesatz erfolgt eine Zurechnung des Gewerbe-steuermessbetrags der Tochterkapitalgesellschaft beidem Mutterunternehmen, wenn die Sitzgemeinde denGewerbesteuer-Hebesatz von 200 vH unterschreitet.Bei einer Personengesellschaft wird die Anrechnungder Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer bei einemHebesatz unter 200 vH versagt. Anlass für diese Rege-lung war die Gemeinde Norderfriedrichskoog, die ei-nen Gewerbesteuersatz von null hat und dadurch eineVielzahl zum Teil namhafter Unternehmen anlockte.

Durch das Vermittlungsergebnis dürfte der Staat Mehr-einnahmen in Höhe von jährlich 2,4 Mrd Euro erzielen.Das vom Deutschen Bundestag verabschiedete Steuer-vergünstigungsabbaugesetz sah in seiner ursprünglichenForm jährliche Mehreinnahmen von 17,3 Mrd Euro vor.Zur Vermittlungsempfehlung gab die Bundesregierungzu Protokoll, dass weitere Maßnahmen zur Stabilisie-rung des Körperschaftsteueraufkommens vorgenommenwerden sollen.

Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz (Korb II)

281. Dieser Protokollerklärung folgte der Entwurf ei-nes „Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung der

Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zumSteuervergünstigungsabbaugesetz“, dem so genanntenKorb II, der durch das Bundeskabinett am 13. Augustverabschiedet wurde. Dieses Gesetz sieht unter anderemeine Neugestaltung des Verlustverrechnungssystems imEinkommensteuerrecht und eine Ausweitung der Gesell-schafter-Fremdfinanzierung nach § 8a Körperschaftsteu-ergesetz vor. Ferner sollen „zweckwidrige Gestaltungs-möglichkeiten“ bei der „Tonnagesteuer“ und im Bereichdes Außensteuergesetzes vermieden sowie eine Verein-heitlichung des Betriebsausgabenabzugs bei Dividen-den und Veräußerungsgewinnen und eine weitere Ein-schränkung des Verlustabzugs bei stillen Gesellschafternvorgenommen werden. Insgesamt sollen aus demKorb II Mehreinnahmen von jährlich bis zu 2 Mrd Euroresultieren.

282. Die Neuordnung der Verlustverrechnung sieht zu-nächst die Aufhebung der Einschränkung von vertikalenVerlustverrechnungsmöglichkeiten nach § 2 Absatz 3 Ein-kommensteuergesetz vor (Mindestbesteuerung). Diese imJahr 1999 eingeführte Regelung limitierte die bis dahinunbeschränkte Verlustverrechnung von positiven Ein-künften mit negativen Einkünften auf eine abstrus kom-plizierte Weise auf den Betrag von 51 500 Euro pro Jahr(Ziffer 549). In der steuerpolitischen Praxis zeigte sich,dass ein solches Beschränkungsverfahren administrativaufwändig ist und zudem zu einem kaum nennenswertensteuerlichen Mehraufkommen führte. Im Gegenzug sollnun die Verlustverrechnung nach § 10d Einkommensteu-ergesetz, der die Verlustverrechnung über mehrere Perio-den hinweg regelt, eingeschränkt werden. Demnach wirdder unbeschränkte Verlustvortrag auf einen Betrag von100 000 Euro pro Veranlagungsjahr begrenzt, bei Zusam-menveranlagten verdoppelt sich der Betrag. In den nach-folgenden Veranlagungszeiträumen dürfen die Verlust-vorträge jeweils nur zur Hälfte mit positiven Einkünftenverrechnet werden. Durch diese Regelung werden die Ver-lustverrechnungsmöglichkeiten zeitlich gestreckt, wobei,sofern das Unternehmen weiter existiert, keine Verlustesteuerlich endgültig verloren gehen können, allerdingskönnen negative Liquiditäts- und Finanzierungseffekteauftreten. Begründet wird diese Limitierung mit dem ho-hen Verlustvortragspotential, das deutsche Unternehmenvor sich herschieben. Schätzungen gehen hierbei vonetwa 250 Mrd Euro aus.

Die im Jahr 1999 eingeführte Tonnagesteuer (§ 5aEStG), durch die die Gewinnermittlung in der Seeschiff-fahrt pauschaliert anhand der Ladekapazität des Schiffs(Tonnage) erfolgt, wird häufig als Steuersparmodell ge-nutzt. Vorgesehen ist die Verhinderung von Steuergestal-tungsmöglichkeiten, bei denen das Betriebsergebnis aufzwei Gesellschaften aufgespalten wird. Die Erträge ausdem Betrieb eines Handelsschiffs fallen danach in einerBetriebsgesellschaft an und unterliegen somit den güns-tigen pauschalierten Gewinnsteuern nach § 5a EStG. Dieim Zusammenhang mit dem Schifffahrtsbetrieb stehen-den Betriebsausgaben (Absetzung für Abnutzung,Fremdkapitalzinsen) fallen in einer Besitzgesellschaftan, deren Gewinn sie in voller Höhe mindern. Durch dieNeuregelung wird prinzipiell die Subventionierung derHandelsschifffahrt nicht beseitigt; vielmehr sollen

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

betrieblich veranlasste Aufwendungen, die im Zusam-menhang mit den der Tonnagesteuer unterliegendenSchiffen entstehen, nicht mehr abziehbar sein.Nach § 15 Absatz 4 Satz 6 Einkommensteuergesetz exis-tierte für Gewerbebetriebe eine Verlustausgleichsbe-schränkung bei stillen Beteiligungen an Kapitalgesell-schaften, die in der Praxis durch die Zwischenschaltungeiner Personengesellschaft einfach umgangen werdenkonnte. Die nach Korb II modifizierte Regelung siehtvor, dass Verluste aus stillen Beteiligungen, nicht jedochder Verlust der Beteiligung selbst, nur noch dann ab-zugsfähig sind, wenn der Verlust auf Mitunternehmeroder Beteiligte entfällt, insofern es sich bei ihnen um na-türliche Personen handelt.Eine Neugestaltung der Gesellschafter-Fremdfinanzie-rung war aus Sicht der Bundesregierung notwendiggeworden, weil der Europäische Gerichtshof eine Verlet-zung der im EG-Vertrag festgeschriebenen Niederlas-sungsfreiheit durch die derzeit geltenden Regelungenfestgestellt hatte, so dass diese Vorschrift nicht mehr aufEU-Ausländer angewandt werden konnte. Die Rechts-vorschrift nach § 8a Körperschaftsteuergesetz begrenztdie Gesellschafter-Fremdfinanzierung bei unbeschränktsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaften, so dass die Ge-winne im Inland tätiger Kapitalgesellschaften dem Zu-griff des deutschen Fiskus nicht entzogen werden kön-nen. Die Vergütungen für das Fremdkapital werdendaher – soweit das Fremdkapital ein bestimmtes Eigen-/Fremdkapitalverhältnis übersteigt und ein so genannterDrittvergleich nicht gelingt – in verdeckte Gewinnaus-schüttungen umqualifiziert. Durch die vorgesehene Neu-regelung soll eine europarechtskonforme Regelung ge-schaffen werden, indem der Anwendungsbereich des§ 8a Körperschaftsteuergesetz auch auf das Inland aus-gedehnt wird. Darüber hinaus soll die Umgehung derRegelungen zur Gesellschafter-Fremdfinanzierung imWege der Zwischenschaltung einer Personengesellschaftdurch die Neuregelung unterbunden werden. Ferner soll der § 8b Körperschaftsteuergesetz eine Mo-difikation erfahren. So soll künftig ein Teil der Be-triebsausgaben, die in Verbindung mit der Veräußerungeines Anteils an einer Körperschaft oder Personenverei-nigung beziehungsweise mit dem Empfang von Dividen-den entstehen, auch bei inländischen Transaktionennicht mehr abzugsfähig sein (Ziffer 542).

Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit283. Mit dem Gesetz zur Förderung der Steuerehrlich-keit versucht die Bundesregierung, eine temporäre Am-nestie für die strafbewehrte Steuerverkürzung einzufüh-ren. Ursprünglich war im Zusammenhang mit diesemGesetzentwurf auch die Einführung einer Abgeltungs-steuer für Zinserträge vorgesehen, die aber – noch vorEinbringung des ersten Gesetzentwurfs – vom Gesetzzur Förderung der Steuerehrlichkeit abgekoppelt wurde.Nach dem Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeitsoll für die Nacherklärung von Einnahmen für den Zeit-raum nach dem 31. Dezember 1992 und vor dem1. Januar 2002, die bislang dem Fiskus nicht zur Kennt-nis gebracht wurden, eine Strafbefreiung gewährt wer-den. Im Gegenzug sollen die nun deklarierten Einnah-

men einer pauschalen Besteuerung unterliegen. Diestrafbefreiende Erklärung soll als Steueranmeldung aus-gestaltet sein und damit ohne weitere Veranlagung derSteuerbehörden als Steuerfestsetzung wirken. Für eineErklärung von früheren Einnahmen innerhalb desKalenderjahres 2004 soll ein Steuersatz von 25 vH, da-nach bis zum 31. März 2005 von 35 vH gelten. Aller-dings soll laut Gesetzentwurf berücksichtigt werden,dass zur Erzielung der Einnahmen in der Regel Ausga-ben anfallen. Dies erfolgt in pauschalierter Form, indemvon den einkommen- oder körperschaftsteuerpflichtigenEinnahmen, bevor der pauschale Steuersatz greift, 40 vHabgezogen werden dürfen. Bislang nicht deklarierte ge-werbesteuerliche Einnahmen werden mit 10 vH der pau-schalen Besteuerung unterworfen. Wurden in dem obengenannten Zeitraum bei der Steuerveranlagung Ausga-ben unrechtmäßig abgezogen, sind diese Ausgaben un-geschmälert dem Steuersatz zu unterwerfen. Im Fall ei-ner Verkürzung der Umsatzsteuer gelten 30 vH derGegenleistungen für Lieferungen, sonstige Leistungenund innergemeinschaftliche Erwerbe oder zu Unrechtberücksichtigte Vorsteuerbeträge vollständig als Bemes-sungsgrundlage. Für die Erbschaft- und Schenkung-steuer sind 20 vH der zu Unrecht nicht berücksichtigtenBeträge anzusetzen.

Zugleich sind in dem Gesetzentwurf verbesserte Mög-lichkeiten für die Finanzbehörden vorgesehen, bei Kre-ditinstituten Konto- oder Depotdaten des Steuerpflichti-gen abzufragen. Die Bundesregierung erwartet einzusätzliches Steueraufkommen für das Jahr 2004 von5 Mrd Euro, was einer Nachdeklaration von Einnahmen– nach Abzug der fiktiv in Ansatz gebrachten Aus-gaben – sowie unrechtmäßig abgezogener Betriebsaus-gaben oder Werbungskosten in Höhe von rund20 Mrd Euro entspräche. Insgesamt müssen freilich bis-lang verkürzte Einnahmen in einem deutlich höherenAusmaß nacherklärt werden, um ein Mehraufkommen indieser Größenordnung zu erzielen. Durch die oben ge-nannten fiktiven Abzugsbeträge bei der Ermittlung dernachzuversteuernden Einkünfte reduziert sich der effek-tive Steuersatz deutlich, was die Regelung bei genauerBetrachtung für Steuersünder attraktiv erscheinen lässt.Die Aufteilung dieser Einnahmen auf Bund, Länder undGemeinden soll gemäß dem Verteilungsschlüssel derLohn- und Einkommensteuer erfolgen.

Gesetz zur Reform der Gewerbesteuer

284. Am 13. August 2003 billigte das Bundeskabinettden Entwurf zur Reform der Gewerbesteuer, der durchden Deutschen Bundestag mit einigen Modifikationenam 17. Oktober verabschiedet wurde. Die Bundesregie-rung knüpfte teilweise an Vorarbeiten der im letzten Jahreingesetzten Kommission zur Reform der Gemeindefi-nanzen an. Ein Hauptziel dieser Reform soll die Versteti-gung und Stabilisierung der kommunalen Einnahmensein. Die Gewerbesteuer soll als wirtschaftskraftbezo-gene Steuerquelle mit lokalem Hebesatzrecht weiterent-wickelt und in Gemeindewirtschaftssteuer umbenanntwerden. Hierzu soll insbesondere die personelle Bemes-sungsgrundlage, das heißt der Kreis der Steuerpflichti-gen, um die Selbständigen und Freiberufler, jedoch nichtum die Land- und Forstwirte, erweitert werden. Diese in

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Deutschland in der Stagnation

die Gewerbesteuerpflicht einbezogene Personengruppesoll dann auch die Anrechnung der Gewerbesteuerzah-lung im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung, diedurch die Steuerreform 2000 eingeführt wurde, in An-spruch nehmen können. Die pauschalierte Anrechnungsoll gleichzeitig erheblich großzügiger ausgestaltet wer-den. So soll künftig anstelle des 1,8-fachen der 3,8-facheGewerbesteuer-Messbetrag im Rahmen der Einkom-mensbesteuerung anrechnungsfähig sein. Neben der per-sonellen erfolgt auch eine sachliche Veränderung derBemessungsgrundlage der Gewerbesteuer. Der bishergeltende Abzug der Gewerbesteuer als Betriebsausgabevon der eigenen Bemessungsgrundlage sowie von derBemessungsgrundlage der Einkommen- und Körper-schaftsteuer soll beseitigt und die Staffelung der Steuer-messzahlen vereinfacht werden. Es ist prinzipiell eineeinheitliche Steuermesszahl von 3,2 vH vorgesehen, le-diglich für Personenunternehmen, mit einem Gewinnzwischen 25 000 Euro und 35 000 Euro halbiert sich dieSteuermesszahl auf 1,6 vH.

Im Hinblick auf die Hinzurechnungen, die zur Bemes-sungsgrundlage der Gewerbesteuer nach geltendemRecht vorgenommen werden, sind ebenfalls Änderungengeplant. Künftig sollen alle Schuldzinsen für die Überlas-sung von Fremdkapital, die an Gesellschafter oder ihnennahestehende Personen fließen, sowie Entgelte für dieÜberlassung von Wirtschaftsgütern (Zinsen, Mieten,Pachten und Lizenzgebühren) mit ihrem Finanzierungs-anteil hinzugerechnet werden, soweit sie nicht bereitsbeim Empfänger in der Bemessungsgrundlage der Ge-meindewirtschaftssteuer enthalten sind. Die vollständigeHinzurechnung der Zinsen soll steuersparende Gestal-tungsmöglichkeiten, wie sie im Rahmen einer Gesell-schafter-Fremdfinanzierung möglich sind, vermeidenhelfen. Nach dem vom Bundeskabinett beschlossenenGesetzentwurf sollten bisher hinzugerechnete gewinnun-abhängige Elemente wie Zinsen, Mieten und Pachten ausder Bemessungsgrundlage eliminiert werden. Im weite-ren Gesetzgebungsverfahren wurden diese Änderungenjedoch verworfen. Damit bleibt die Eigenschaft einerSubstanzbesteuerung bei der Gewerbesteuer nach wievor erhalten. Ferner soll zur Vermeidung von „Gewerbe-steuer-Oasen“ ein minimaler Gewerbesteuer-Hebesatz inHöhe von 200 vH verbindlich vorgeschrieben werden.

Die Gemeindewirtschaftssteuer würde insgesamt zu ei-nem Mehraufkommen gegenüber der bisherigen Gewer-besteuer von rund 2,1 Mrd Euro führen. Allein durch dielimitierte Anrechnung der Gemeindewirtschaftssteuerim Rahmen der Einkommensteuer entstünden dort Min-dereinnahmen von etwa 3,0 Mrd Euro und Mehreinnah-men bei der Körperschaftsteuer durch das Versagen desBetriebsausgabenabzugs von knapp 2,7 Mrd Euro. Zu-nächst war eine Veränderung der Umsatzsteuervertei-lung anvisiert worden, die aber in den Beratungen desFinanzausschusses des Deutschen Bundestages verwor-fen wurde. Nun ist eine Senkung der Vervielfältiger-punkte bei der Ermittlung der Gewerbesteuerumlagevorgesehen. Dies würde im Ergebnis dazu führen, dasssich der Gemeindeanteil an der Gemeindewirtschafts-steuer um etwa 2,1 Mrd Euro erhöhen würde.

Im Vergleich mit den Vorstellungen des Sachverständi-genrates über eine Neugestaltung der Gewerbesteuer inForm von gemeindeindividuellen Zuschlagsrechten zurEinkommensteuer und Körperschaftsteuer kann der vonder Bundesregierung hier verfolgte Ansatz nur als unzu-reichende Reform des Gemeindefinanzsystems bezeich-net werden (Ziffern 529 ff.).

Reform der Steuerreform (Haushaltsbegleitgesetz 2004)

285. Im August legte die Bundesregierung den Ent-wurf des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 vor, das das mitder Vorlage des Entwurfs zum Bundeshaushalt 2004 ent-wickelte Haushaltsstabilisierungskonzept 2004 sowiedas Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform 2000umsetzen soll (JG 2000 Ziffern 161 ff.). Das Zusammen-führen der beiden letzten Stufen der Steuerreform aufdas Jahr 2004 wurde im Sommer, nicht zuletzt aufgrundeines großen medialen Drucks, beschlossen. Das Entlas-tungsvolumen der dritten Stufe der Steuerreform beträgtvoraussichtlich 15,6 Mrd Euro. Zusammen mit der imvergangenen Jahr infolge der Hochwasserkatastropheverschobenen zweiten Stufe der Steuerreform 2000summieren sich die Entlastungen auf insgesamt21,8 Mrd Euro. Die Bundesregierung erhofft sich durchdiese Maßnahmen einen konjunkturellen Impuls, der zueiner verbesserten wirtschaftlichen Dynamik und zu ei-ner höheren Beschäftigung führen soll. Zugleich soll mitdem Maßnahmenpaket des Haushaltsbegleitgesetzesauch der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge-wichts nach Artikel 115 Grundgesetz begegnet werden.Im Zuge der letzten Stufe der Steuerreform 2000 sollteim Jahr 2005 der Haushaltsfreibetrag für Alleinerzie-hende von derzeit 1 188 Euro endgültig abgeschafft wer-den; er war vom Bundesverfassungsgericht für unzuläs-sig erklärt worden, weil er Ehepaare benachteilige.Durch das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreformwäre dieser Freibetrag bereits im Jahr 2004 entfallen.Dies hätte dann für Alleinerziehende zu keiner nennens-werten Entlastung geführt. Infolge des öffentlichenDrucks plant die Bundesregierung nun eine neue Steuer-vergünstigung für „echte“ Alleinerziehende. Sie sollendauerhaft einen neuen Haushaltsfreibetrag in Höhe von1 308 Euro pro Jahr erhalten, sofern sie nicht mit einemPartner zusammenleben. Hieraus sollen sich Minderein-nahmen von bis zu 0,3 Mrd Euro ergeben. Im Gegenzugzu den Entlastungsmaßnahmen ist allerdings eine Reihevon Einsparmaßnahmen vorgesehen.– So sollen sowohl die Eigenheimzulage als auch die

Wohnungsbauprämie für Neufälle ab dem Jahr 2004entfallen. Das gesamte Einsparvolumen durch dieStreichung der Eigenheimzulage in Höhe von derzeitrund 11,4 Mrd Euro für Bund, Länder und Gemeindenwird freilich erst ab dem Jahr 2011 erzielt, wenn allegegenwärtigen Bezieher der Zulage keine Mittel mehrerhalten. Für das kommende Jahr erwartet dieBundesregierung lediglich ein Einsparvolumen von0,3 Mrd Euro. Im Gegenzug ist ein Zuschussprogrammzur Strukturverbesserung in Städten geplant, für dasder Bund 25 vH seiner bis zum Jahr 2011 durch denWegfall der Eigenheimzulage erzielten Einsparungen,das bedeutet im Endjahr (2007) rund 1,2 Mrd Euro,zur Verfügung stellen will.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

– Zudem soll eine Kürzung der Entfernungspauschalevorgenommen werden. Zunächst war ein Wegfall derbisherigen Entfernungspauschale für die ersten20 Entfernungskilometer vorgesehen. Nachdem diesauf politischen Widerstand stieß, war kurzfristig einWegfall der Entfernungspauschale ausschließlich fürdie Nutzung von Personenkraftwagen in der Diskus-sion. Derzeit ist eine lineare Verminderung der ver-kehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale auf15 Cent je Entfernungskilometer vorgesehen. Insge-samt werden Steuermehreinnahmen von rund3 Mrd Euro jährlich erwartet.

– Im Rahmen der Umsatzbesteuerung ist eine Erweite-rung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfän-gers auf steuerpflichtige Umsätze, die unter dasGrunderwerbsteuergesetz fallen, auf die Reinigungvon Gebäuden sowie auf bestimmte Bauleistungenvorgesehen (§ 13b Umsatzsteuergesetz). Ferner sollder Anwendungsbereich des § 24 Umsatzsteuergesetz,der für die Land- und Forstwirtschaft eine Umsatzbe-steuerung nach Durchschnittssätzen erlaubt, einge-schränkt und für einen Teil der Umsätze der entspre-chende Durchschnittssatz gesenkt werden. Insgesamtsoll aus diesen Maßnahmen ein zusätzliches Umsatz-steueraufkommen von rund 0,7 Mrd Euro resultieren.

– Beim Erziehungsgeld für die ersten sechs Monate sol-len einerseits die Zahlbeträge geringfügig nach untenangepasst und andererseits die Einkommensgrenzender Empfänger gesenkt werden. Bislang gilt für Ver-heiratete eine Einkommensgrenze von 51 130 Euround für Alleinerziehende eine Grenze von38 350 Euro pro Jahr. Künftig soll der Regelsatz desErziehungsgelds nur für Leistungsempfänger mit ei-nem jährlichen Einkommen bis 30 000 Euro für Ehe-paare und 23 000 Euro für Alleinstehende gelten.Hierdurch werden Einsparungen für den Bundes-haushalt in Höhe von 0,4 Mrd Euro erwartet.

– Die Vergütung der Mineralölsteuer für in der Land-und Forstwirtschaft verwendeten Dieselkraftstoff sollunter Abzug eines Selbstbehalts von 350 Euro auf einemaximale Menge von jährlich 10 000 Liter begrenztwerden. Darüber hinaus ist eine Reduzierung der De-fizithaftung des Bundes für die Leistungsausgaben imBereich der Krankenversicherung der Landwirte fürAltenteiler geplant. Zusammengenommen versprichtsich die Bundesregierung aus diesen MaßnahmenEinsparungen in Höhe von knapp 0,4 Mrd Euro.

– Ferner ist der Wegfall der Halbjahresregelung beiAbsetzungen für Abnutzungen (AfA) vorgesehen. Da-nach kann künftig nicht mehr die volle oder halbeJahres-AfA (in Abhängigkeit von der Anschaffung/Herstellung in der ersten oder zweiten Jahreshälfte)abgezogen werden, sondern nur noch ab dem Monatder Anschaffung oder Herstellung jeder volle, aufdiesen Monat entfallende Betrag in Ansatz gebrachtwerden. Hierdurch sollen Mehreinnahmen von bis zu2 Mrd Euro erzielt werden.

– Für Bundesbedienstete ist eine Begrenzung des Weih-nachtsgelds auf 4,17 vH der jährlichen Versorgungs-bezüge bei Versorgungsempfängern (dies entspricht50 vH eines Monatsbezugs) und die Streichung desUrlaubsgelds sowie eine Rückführung des Weih-nachtsgelds auf 5 vH der Jahresbezüge bei aktivenBeamten, Richtern und Soldaten des Bundes (dies

entspricht 60 vH eines Monatsbezugs) geplant. Ausdiesen Maßnahmen dürften sich jährliche Einsparun-gen von rund 0,4 Mrd Euro ergeben.

– Schließlich wollte der Bund den Bundeszuschuss zurRentenversicherung der Arbeiter und Angestelltennach § 213 SGB VI um 2 Mrd Euro kürzen. Über diekonkreten Einsparungen, die bei der Gesetzlichen Ren-tenversicherung vorzunehmen sind, um diesen Betragzu erwirtschaften, wird im Haushaltsbegleitgesetz2004 keine Aussage getroffen. Zwei Tage nach der Ver-abschiedung des Haushaltsbegleitgesetzes im Deut-schen Bundestag am 17. Oktober 2003 wurde auf einerKlausurtagung der Bundesregierung vereinbart, aufdie Einsparsumme von 2 Mrd Euro bei dem Zuschusszur Gesetzlichen Rentenversicherung zu verzichten.Nun soll 1 Mrd Euro als „solidarische Einsparung“ imWege einer globalen Minderausgabe in verschiedenenRessorts im Haushaltsvollzug erwirtschaftet werden.Für die Einsparung des verbleibenden Betrags sindbislang keine Vorschläge bekannt geworden.

Insgesamt summieren sich allein die kassenmäßigenEinsparungen durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 fürdas Jahr 2004 auf rund 5,5 Mrd Euro und nehmen in denFolgejahren auf bis zu 13 Mrd Euro zu. Unter Einbezie-hung der Entlastungen durch das Vorziehen der drittenStufe der Steuerreform ergeben sich im Jahr 2004 persaldo Entlastungen für Steuerzahler von etwa10 Mrd Euro, die zu knapp 3,0 Mrd Euro durch denBund, zu 5,2 Mrd Euro durch die Länder und zu1,9 Mrd Euro durch die Gemeinden getragen werdensollen. Insbesondere durch das Vorziehen der drittenStufe der Steuerreform dürfte die Nettokreditaufnahmedes Bundes um 5 Mrd Euro zunehmen.

Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuerlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz)

286. Aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsge-richtes vom 6. März 2002 hat die Bundesregierung einenGesetzentwurf zur Neuregelung der steuerlichen Behand-lung von Alterseinkünften vorgelegt. Bei diesem Alters-einkünftegesetz orientierte sich die Bundesregierung anden Ergebnissen der Sachverständigenkommission zurNeuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Al-tersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen vom17. März 2003. Es soll ein schrittweiser Übergang zu ei-ner nachgelagerten Besteuerung vorgenommen werden.Dabei sollen die Altersvorsorgeaufwendungen künftigsteuerlich abzugsfähig sein und im Gegenzug die darausresultierenden Altersbezüge der Besteuerung unterliegen.Beiträge zu Leibrentenversicherungen, deren damiterworbene Anwartschaften nicht beleihbar, nicht vererb-bar, nicht veräußerbar, nicht übertragbar und nicht kapi-talisierbar sind, wie bei der Gesetzlichen Rentenversi-cherung, den berufsständischen Versorgungswerken undprivaten kapitalgedeckten Leibrentenversicherungen,sollen als Sonderausgaben bei der Einkommensteuer biszu einem Höchstbetrag, der dem jeweiligen Höchstbe-trag in der Gesetzlichen Rentenversicherung der Arbei-ter und Angestellten entspricht, beschränkt abzugsfähigsein. Geleistete Altersvorsorgebeiträge (Arbeitnehmer-und Arbeitgeberbeitrag) sollen ab dem Jahr 2005 zu

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Deutschland in der Stagnation

60 vH einkommensteuerlich abzugsfähig sein. DieservH-Satz soll jährlich um 2 Prozentpunkte steigen, wo-durch diese Beträge ab dem Jahr 2025 vollständig alsSonderausgaben geltend gemacht werden können. ImJahr 2005 wären also, da die Arbeitgeberbeiträge beimArbeitgeber voll steuerlich abzugsfähig sind, 20 vH derArbeitnehmerbeiträge berücksichtigungsfähig. Damit esgegenüber dem geltenden Recht nicht zu einer Schlech-terstellung kommt, sieht der Gesetzentwurf eine Günsti-gerprüfung vor, die gewährleisten soll, dass Steuer-pflichtige, für die die derzeitige Regelung günstiger ist,keine Nachteile erfahren. Andere Vorsorgeaufwendun-gen, insbesondere Beiträge zur Kranken-, Arbeitslosen-und Pflegeversicherung, die nicht den Altersvorsor-geaufwendungen zugerechnet werden können, sollennach wie vor beschränkt als Sonderausgaben von derBemessungsgrundlage der Einkommensteuer abziehbarsein. Hierbei wird unterschieden zwischen den Steuer-pflichtigen, die ihre Aufwendungen zur Krankenversi-cherung alleine tragen – für diesen Personenkreis sollein Höchstbetrag von 2 500 Euro je Jahr gelten –, undallen anderen Steuerpflichtigen, deren Höchstbetrag auf1 500 Euro je Jahr beschränkt werden soll.Ab dem Jahr 2005 sollen alle Leibrenten, die auf diesenAltersvorsorgebeiträgen beruhen, einheitlich zu 50 vHder Besteuerung unterliegen; diese Besteuerungsquotesoll auch für Bestandsrentner gelten. Der zu versteu-ernde Anteil der Renten soll für jeden neu hinzukom-menden Rentnerjahrgang bis zum Jahr 2020 in Schrittenvon 2 Prozentpunkten auf 80 vH angehoben werden. Abdem Jahr 2021 soll der Anstieg des zu versteuerndenAnteils auf jährlich 1 Prozentpunkt verlangsamt werden,so dass die Rentnerjahrgänge, die ab dem Jahr 2040 inRuhestand gehen, ihre Leibrenten zu 100 vH versteuernmüssen. Der sich nach Maßgabe des jeweils zu besteu-ernden Anteils zum Zeitpunkt des Rentenzugangs erge-bende steuerfreie Teil der Jahresbruttorente soll für denjeweiligen Rentenjahrgang festgeschrieben werden.Da eine Gleichstellung bei der Besteuerung von Beam-tenpensionen und Renten aus der Gesetzlichen Renten-versicherung angestrebt wird, ist vorgesehen, den der-zeitigen Versorgungsfreibetrag für Beamtenpensionensowie den Altersentlastungsbetrag für übrige Einkünfteschrittweise bis zum Jahr 2040 zu verringern. Ferner solleine Anpassung des für Beamtenpensionen und Werks-pensionen geltenden Arbeitnehmerpauschbetrags von1 044 Euro auf den für Empfänger anderer Altersbezügegeltenden Werbungskostenpauschbetrag in Höhe von102 Euro abgeschmolzen werden. Darüber hinaus solldas Steuerprivileg für Kapitallebensversicherungen abdem Jahr 2005 für Neuabschlüsse abgeschafft werden.Dieses Privileg besteht in der Möglichkeit eines Sonder-ausgabenabzugs für die Beiträge und gleichzeitiger Steu-erfreiheit der Erträge, sofern die Laufzeit des Vertragsmehr als zwölf Jahre beträgt und einen Mindesttodesfall-schutz von 60 vH der Beitragssumme sichergestellt ist. Im Bereich der kapitalgedeckten betrieblichen Altersver-sorgung soll langfristig ebenfalls durchgängig zu einernachgelagerten Besteuerung übergegangen werden. Ineinem ersten Schritt sollen die Beiträge für eine Direkt-versicherung steuerfrei gestellt werden, sofern eine le-benslange Altersversorgung vorgesehen ist. Im Gegenzug

soll für Neufälle die gegenwärtig mögliche Pauschalbe-steuerung bei einer Direktversicherung und einer Pen-sionskasse nach § 40b EStG entfallen. Vor allem aus fis-kalischen Gründen sollen die vorgelagerte Besteuerungund die Möglichkeit der Pauschalbesteuerung nach § 40bEinkommensteuergesetz für den Bereich der umlage-finanzierten Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstsbeibehalten werden.

Des Weiteren ist in dem Gesetzentwurf eine Vereinfa-chung der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge(Riester-Rente) vorgesehen. Aufgrund der Ausdehnungder steuerlich absetzbaren Vorsorgeaufwendungen kämees zu steuerlichen Mindereinnahmen von knapp1 Mrd Euro im Jahr 2005; bis zum Jahr 2010 dürften dieSteuerausfälle auf rund 4,3 Mrd Euro steigen.

Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Steueränderungsgesetz 2003)

287. Das Steueränderungsgesetz 2003 sieht unter ande-rem den Wegfall der Zweijahresfrist vor, die derzeit füreine einkommensteuerliche Berücksichtigung der Kosteneiner beruflich veranlassten doppelten Haushaltsführunggilt. Darüber hinaus sollen in diesem Gesetz eine Reihevon Änderungen im Umsatzsteuerrecht vorgenommenwerden. So ist beispielsweise eine Aufhebung der Steuer-befreiung der Umsätze von staatlichen Hochschulen imRahmen der Forschungstätigkeit geplant. Auch soll dieteilweise bereits praktizierte Gewährung des vollen Vor-steuerabzugs für gemischt genutzte Fahrzeuge im Unter-nehmensbereich in das Umsatzsteuergesetz aufgenom-men werden. Schließlich sind einige gesetzlicheMaßnahmen zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs,die der Bundesrechnungshof empfohlen hatte, in dasSteueränderungsgesetz 2003 aufgenommen worden.

Finanzielle Auswirkungen der geplanten Reformmaßnahmen

288. Zusammengenommen ergäben sich durch sämtli-che Maßnahmen, die im Haushaltsbegleitgesetz 2004,mit der Reform der Gewerbesteuer, dem Korb II, demGesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit, dem Steu-eränderungsgesetz 2003 und dem Alterseinkünftegesetzvorgesehen sind, im kommenden Jahr Belastungen fürdie öffentlichen Haushalte in einer Größenordnung vonetwa 5,8 Mrd Euro. Der Bund hätte Mindereinnahmenvon rund 3,1 Mrd Euro und die Länder von rund4,1 Mrd Euro zu verbuchen (Tabelle 40, Seite 186). DieGemeinden hätten dagegen Mehreinnahmen von1,4 Mrd Euro zu verbuchen. In den Folgejahren würdensich die Mindereinnahmen zu Mehreinnahmen umkeh-ren. Schon im Jahr 2005 resultierten Mehreinnahmen voninsgesamt etwa 12,7 Mrd Euro, die bis zum Jahr 2007 auf15,2 Mrd Euro ansteigen würden. Freilich handelt es sichbei den durch das Bundesministerium der Finanzen er-mittelten finanziellen Auswirkungen um Schätzungen,die einer erheblichen Unsicherheit unterliegen. Zweitrun-deneffekte, die sich aus den Mindereinnahmen der Län-der auf die Finanzen der Gemeinden infolge reduzierterZuweisungen der Länder ergeben, blieben hierbei unbe-rücksichtigt, so dass die effektiven finanziellen Auswir-kungen von den dargestellten abweichen können.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Ta b e l l e 4 0

Finanzielle Auswirkungen der Gesetzentwürfe1)

Mio Euro

2004 2005 2006 2007

Haushaltsbegleitgesetz 20042) Insgesamt ............................................. -11 282 +10 359 +10 932 +12 636 Bund .................................................. - 4 078 + 6 402 + 6 565 + 7 292 Länder ............................................... - 5 283 + 2 901 + 3 150 + 3 848 Gemeinden ........................................ - 1 921 + 1 056 + 1 217 + 1 496

Reform der Gewerbesteuer Insgesamt ............................................. + 500 + 2 130 + 2 575 + 3 000 Bund .................................................. - 1 074 - 525 - 296 - 454 Länder ............................................... - 938 - 349 - 163 - 216 Gemeinden ........................................ + 2 512 + 3 004 + 3 034 + 3 670

Förderung der Steuerehrlichkeit Insgesamt ............................................. + 5 000 - - - Bund .................................................. + 2 125 - - - Länder ............................................... + 2 125 - - - Gemeinden ........................................ + 750 - - -

Korb II Insgesamt ............................................. + 680 + 1 425 + 1 585 + 1 495 Bund .................................................. + 358 + 750 + 827 + 773 Länder ............................................... + 324 + 679 + 753 + 704 Gemeinden ........................................ - 2 - 4 + 5 + 18

Steueränderungsgesetz 20033) Insgesamt ............................................. - 668 - 214 - 43 + 87 Bund .................................................. - 418 - 179 - 82 - 5 Länder ............................................... - 354 - 140 - 56 + 10 Gemeinden ........................................ + 104 + 105 + 95 + 82

Alterseinkünftegesetz Insgesamt ............................................. - - 975 - 1 110 - 2 025 Bund .................................................. - - 442 - 504 - 922 Länder ............................................... - - 392 - 449 - 817 Gemeinden ........................................ - - 141 - 157 - 286

Alle steuerlichen Maßnahmen Insgesamt ............................................. - 5 770 +12 725 +13 939 +15 193 Bund ................................................... - 3 087 + 6 006 + 6 510 + 6 684 Länder ............................................... - 4 126 + 2 699 + 3 235 + 3 529 Gemeinden ......................................... + 1 443 + 4 020 + 4 194 + 4 980

Nachrichtlich:Viertes Gesetz für moderne Dienst- Insgesamt ............................................. + 1 900 + 4 400 + 5 800 + 6 500

leistungen am Arbeitsmarkt Bund7) ................................................. 0 + 1 900 + 3 300 + 4 000 Länder ............................................... 0 0 0 0 Gemeinden ........................................ + 1 900 + 2 500 + 2 500 + 2 500

GKV-Modernisierungsgesetz4) Insgesamt ............................................. + 2 500 + 900 + 100 + 600 Bund .................................................. - 1 000 - 2 500 - 4 200 - 4 200 Gesetzliche Krankenversicherung ..... + 3 000 + 2 000 + 2 000 + 2 000 Gesetzliche Rentenversicherung ........ + 200 + 1 000 + 1 800 + 2 300 Bundesanstalt für Arbeit .................... + 300 + 400 + 500 + 500

Gesetz zur Änderung des Tabak-steuergesetzes und anderer Verbrauchsteuergesetze Bund .................................................... + 1 253 + 1 941 + 2 123 + 2 123

Zweites Gesetz zur Änderung desSGB VI und anderer Gesetze5)6) Gesetzliche Rentenversicherung .......... + 2 200 + 1 200 + 1 200 + 1 200

Drittes Gesetz zur Änderung desSGB VI und anderer Gesetze5) Gesetzliche Rentenversicherung .......... + 560 + 750 + 750 + 750

Alle Reformen Insgesamt ............................................. + 2 643 +21 916 +23 912 +26 366 Bund ................................................... - 2 834 + 7 347 + 7 733 + 8 607 Länder ............................................... - 4 126 + 2 699 + 3 235 + 3 529 Gemeinden ......................................... + 1 443 + 4 020 + 4 194 + 4 980 Sozialversicherungen ....................... + 6 260 + 5 350 + 6 250 + 6 750

1) Die zunächst eingeplante Verminderung der Zuschüsse an die Gesetzliche Rentenversicherung und die Entlastungen des Staates bei den geleis-teten Arbeitgeberbeiträgen infolge von Beitragssatzsenkungen oder vermiedenen Beitragssatzerhöhungen wurden nicht berücksichtigt. - 2) Ohnedie zunächst vorgesehene Reduktion der Zuschüsse an die Gesetzliche Rentenversicherung, einschließlich der zwischenzeitlich geplanten globalenMinderausgabe von 1 Mrd Euro. Einschließlich der Einsparungen des Bundes bei Personalausgaben. - 3) Ohne Wiedergewährung des vollen Vor-steuerabzugs für gemischt genutzte Fahrzeuge im Unternehmensbereich. - 4) Es wurde berücksichtigt, dass die Entlastungen für die GesetzlicheKrankenversicherung teilweise zu Beitragssatzsenkungen verwendet werden und in diesem Ausmaß keine Nettoentlastung vorliegt. Die Beitrags-satzsenkungen sollen von 0,7 Prozentpunkten im Jahr 2004 auf 1,3 Prozentpunkte im Jahr 2007 steigen. - 5) Dadurch, dass ein Beitragssatzanstiegin der Gesetzlichen Rentenversicherung verhindert wurde, konnte ein höherer Bundeszuschuss und höhere Beiträge für Kindererziehungszeitenvon insgesamt rund 2 Mrd Euro vermieden werden. - 6) Ohne Reduktion der Schwankungsreserve.- 7) Einschließlich Bundesanstalt für Arbeit.

Quellen: BMF, BMGS, BMWA

MaßnahmeEntlastung (+) / Belastung (-)

Gebietskörperschaft

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Deutschland in der Stagnation

Datum

2002

15. November Der Deutsche Bundestag beschließt das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Ar-beitsmarkt. Durch die darin enthaltenen Neureglungen wird die Steuerfreiheit des Arbeitsent-gelts aus geringfügigen Beschäftigungen nach § 3 Nr. 39 EStG ab dem 1. April 2003 aufgeho-ben. Die Lohnsteuer vom Arbeitsentgelt für geringfügig entlohnte Beschäftigungen im Sinnedes § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV ist pauschal oder nach den Merkmalen der Lohnsteuerkarte zu er-heben. Die monatliche Pauschalierungsgrenze wird für geringfügig entlohnte Beschäftigungs-verhältnisse von 325 Euro auf 400 Euro angehoben. Für die Inanspruchnahme haushaltsnaherDienstleistungen wird zukünftig eine Steuerermäßigung gewährt, deren Höhe davon abhängt,ob die Dienstleistung im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses erbracht oder eine Unter-nehmen beauftragt wird.

Der Deutsche Bundestag verabschiedet das Gesetz zur Sicherung der Beiträge in der gesetzli-chen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung Beitragssatzsicherungs-gesetz (JG 2002 Ziffer 268).

20. November Das Bundeskabinett beschließt den Entwurf eines Nachtragshaushalts für das Jahr 2002, dereine Erhöhung der Nettokreditaufnahme um 13,5 Mrd Euro auf 34,6 Mrd Euro vorsieht, sowieden (zweiten) Entwurf des Bundeshaushalts 2003 mit einer veranschlagten Nettokreditauf-nahme von 18,9 Mrd Euro.

21. November Die Bundesregierung setzt die „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der So-zialen Sicherungssysteme“ ein. Die Kommission besteht aus 26 Mitgliedern aus Wissenschaftund Politik, von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Sie hat den Auftrag, Vorschläge für einenachhaltige Finanzierung und Weiterentwicklung der Sozialversicherung zu entwickeln. Insbe-sondere soll es darum gehen, „die langfristige Finanzierung der sozialstaatlichen Sicherungs-ziele und die Generationengerechtigkeit zu gewährleisten sowie die Systeme zukunftsfest zumachen.“ Daneben sollen Wege aufgezeigt werden, wie die Lohnnebenkosten gesenkt werdenkönnen, um damit positive Beschäftigungseffekte zu erzeugen. Entsprechende Konzepte sollenbis zum Herbst 2003 vorgelegt werden.

12. Dezember Die Bundesregierung legt den Beteiligungsbericht 2002 vor. Ende des Jahres 2002 waren derBund und seine Sondervermögen unmittelbar an 120 Unternehmen beteiligt. Die Zahl der be-deutsameren unmittelbaren Beteiligungen, an denen der Bund und die Sondervermögen mitmindestens 25 vH beteiligt sind, hat sich gegenüber dem Vorjahr von 60 auf 37 Unternehmenreduziert.

17. Dezember Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass die Festlegung von Höchstgrenzen für die Erstat-tung von Arzneimittelkosten (Festbeträge) durch die Spitzenverbände der Gesetzlichen Kran-kenkassen mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Entsprechend ist im GKV-Modernisierungsge-setz vorgesehen, dass die Zuständigkeit für die Festbeträge zukünftig wieder gänzlich bei derSelbstverwaltung liegt.

18. Dezember Das aktualisierte deutsche Stabilitätsprogramm wird an den Rat der Europäischen Union und andie Europäische Kommission übermittelt. Das Ziel, im Jahr 2004 einen ausgeglichenen Staats-haushalt vorzulegen, wird auf das Jahr 2006 verschoben.

2003

1. Januar Die fünfte und letzte Stufe der „ökologischen Steuerreform“, das Gesetz zur Fortentwicklungder ökologischen Steuerreform, die vorübergehende Anhebung des Körperschaftsteuersatzes,das Flutopfersolidaritätsgesetz, die Erhöhung der Tabaksteuer treten in Kraft.

Der Beitragssatz in der Gesetzlichen Rentenversicherung steigt um 0,4 Prozentpunkte auf19,5 vH, die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestell-ten sowie in der Arbeitslosenversicherung wird von 4 500 Euro (3 750 Euro) je Monat in denalten (neuen) Bundesländern auf 5 100 Euro (4 250 Euro) erhöht.

Ta b e l l e 41

Finanzpolitisch und sozialpolitisch wichtige Ereignisse

187

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2003

noch 1. Januar Das mit der Rentenreform 2001 verabschiedete Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsiche-rung im Alter und bei Erwerbsminderung tritt in Kraft. Es sieht unter anderem für Personenüber 65 Jahre eine eigenständige soziale Leistung vor, die bei Bedürftigkeit den grundlegendenBedarf für den Lebensunterhalt sicherstellen soll. Die Bedürftigkeitsprüfung orientiert sich anden Regelungen in der Sozialhilfe. Allerdings bleiben Unterhaltsansprüche der Grundsiche-rungsberechtigten gegenüber ihren Kindern weitgehend außer Betracht.

21. Januar Der ECOFIN-Rat stellt ein übermäßiges Defizit in Deutschland fest und gewährt bis zum21. Mai 2003 Zeit, um „wirksame“ Maßnahmen zu dessen Abbau zu ergreifen.

29. Januar Die Bundesregierung legt den Jahreswirtschaftsbericht 2003 vor. Sie erwartet in ihrer Projek-tion für das Jahr 2003 eine Zunahme des Bruttoinlandsprodukts um 1 vH.

12. Februar Das Bundesverfassungsgericht hält die Regelung des § 10 Absatz 3 SGB V mit dem Grundge-setz vereinbar, wonach Kinder miteinander verheirateter Eltern von der beitragsfreien Familien-versicherung ausgeschlossen sind, wenn das Gesamteinkommen des Elternteils, der nicht Mit-glied einer gesetzlichen Krankenkasse ist, höher ist als das Einkommen des anderen, GKV-versicherten Elternteils.

19. Februar Die Bundesregierung beschließt die Einführung einer pauschalen Zinsabgeltungssteuer in Höhevon 25 vH anstelle des Zinsabschlags und die Eckpunkte für eine befristete Amnestie für Steu-erflüchtlinge, die ihre bisher nicht versteuerten Kapitalerträge deklarieren und das Kapital nachEntrichtung einer pauschalen Steuer nach Deutschland zurückholen.

21. Februar Der Bundestag beschließt das im Bundesrat noch zustimmungspflichtige Steuervergünstigungs-abbaugesetz. Die durch den Abbau von Steuervergünstigungen und Sonderregelungen erwarte-ten Mehreinnahmen werden mit 3,5 Mrd Euro (2003), 10 Mrd Euro (2004), 13,7 Mrd Euro(2005) und 15 Mrd Euro (2006) etwas geringer veranschlagt als im Gesetzentwurf vom2. Dezember 2002.

26. Februar Das Bundeskabinett beschließt das Gesetz zur Förderung von Kleinunternehmen (Kleinunter-nehmerförderungsgesetz – KFG). Die darin enthaltenen Regelungen sahen zunächst die Einfüh-rung einer pauschalen Gewinnermittlung für Existenzgründer und Kleinunternehmer vor, vonder aber im weiteren Gesetzgebungsverfahren abgesehen wurde. Außerdem sollen zum Abbauvon Bürokratie die Buchführungsgrenzen erhöht und die Einnahmen-Überschussrechnung stan-dardisiert werden.

Die Bundesregierung beschließt die Lkw-Maut-Verordnung. Danach soll am 31. August 2003eine entfernungsabhängige Autobahngebühr für Lastwagen ab 12 t eingeführt werden(Ziffer 269).

14. März Der Bundeskanzler kündigt in einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag weitrei-chende Reformmaßnahmen an („Agenda 2010“). Sie umfassen

– eine Reform des Arbeitsmarkts im Rahmen derer unter anderem die Schwelle für die An-wendung des Kündigungsschutzes flexibilisiert, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld ver-kürzt sowie die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammengeführt werden sollen(Ziffern 231 ff.).

– eine Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung, die den Leistungskatalog einschränken,das Krankengeld aus der paritätischen Finanzierung herausnehmen, versicherungsfremdeLeistung durch Steuern finanzieren, das „Hausarztprinzip“ einführen und die Zuzahlungenbei Arzneimitteln und bei Klinikaufenthalten anheben soll. Ferner sollen Krankenhäuser inbestimmten Fällen für die ambulante Versorgung geöffnet, Internet-Apotheken zugelassen,das Verbot des Besitzes mehrerer Apotheken aufgeheben und Krankenkassen gestattet wer-den, Einzelverträge mit Ärzten abzuschließen.

Datum

n o c h Tabelle 41

noch: Finanzpolitisch und sozialpolitisch wichtige Ereignisse

188

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Deutschland in der Stagnation

noch 2003

noch 14. März – weitere Änderungen im Handwerksrecht, eine Reform der Gemeindefinanzen, die Über-nahme des Gemeindeanteils am Flutopferfonds (0,8 Mrd Euro) durch den Bund sowie einzinsverbilligtes Darlehensprogramm für Kommunen und für den Wohnungsbau der Kredit-anstalt für Wiederaufbau.

Der Bundesrat lehnt das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelun-gen (Steuervergünstigungsabbaugesetz) ab. Die Bundesregierung ruft den Vermittlungsaus-schuss an.

17. März Die Sachverständigenkommission zur Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Al-tersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen legt ihren Abschlussbericht vor, auf dem das imHerbst vorgestellte Konzept zur steuerlichen Behandlung von Vorsorgeaufwendungen und Al-terseinkünften basiert (Ziffer 286).

20. März Der Deutsche Bundestag verabschiedet den Bundeshaushalt 2003. Danach sinken die Ausgabenum 0,4 vH auf 248,2 Mrd Euro; dabei wurde angenommen, dass der Zuschuss an die Bundesan-stalt für Arbeit auf null sinkt. Die Nettokreditaufnahme wird auf 18,9 Mrd Euro veranschlagt.

9. April Die „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“präsentiert einen Zweistufenplan zur Reform des Gesundheitssystems („Y Modell“). Die ersteStufe soll schnell umgesetzt werden und umfasst im Wesentlichen (ad hoc) Sparmaßnahmen inHöhe von über 20 Mrd Euro. In der zweiten Stufe soll eine grundlegende Reform der Finanzie-rungsseite der Gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt werden. Da sich die Kommis-sion auf kein Konzept einigen kann, stehen für die Politik zwei Modelle zur Auswahl: die „Bür-gerversicherung“ und das „Gesundheitsprämienmodell“.

11. April Der Deutsche Bundestag und Bundesrat stimmen dem im Vermittlungsausschuss erzieltenKompromiss zum Steuervergünstigungsabbaugesetz zu, der im Wesentlichen Änderungen imUnternehmenssteuerrecht vorsieht.

24. April Die „Arbeitsgruppe Rente“ der Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der So-zialen Sicherungssysteme unterbreitet ihre Vorschläge zur Reform der Gesetzlichen Rentenver-sicherung. Das Konzept sieht hauptsächlich eine graduelle Anhebung des gesetzlichen Renten-eintrittsalters auf 67 Jahre und eine Modifikation der Rentenanpassungsformel um einen„Nachhaltigkeitsfaktor“ vor.

3. Mai Der Vermittlungsausschuss legt einen Einigungsvorschlag zur Einführung einer entfernungsab-hängigen Autobahngebühr für Lastkraftwagen vor. Danach soll die Gebühr durchschnittlich12,4 Cent je Kilometer betragen.

15. Mai Der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ schätzt für den mittelfristigen Zeitraum – unter Zugrun-delegung einer Zunahmen des nominalen Bruttoinlandsprodukts in Deutschland von 2 vH imJahr 2003 und durchschnittlich 3 vH in den Jahren 2002 bis 2006 – das jährliche Steueraufkom-men für das Jahr 2003 auf 449,8 Mrd Euro und ansteigend bis zum Jahr 2007 auf510,8 Mrd Euro.

22. Mai Der Deutsche Bundestag stimmt dem Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses zurEinführung einer entfernungsabhängigen Autobahngebühr für Lastkraftwagen zu. Die zusätzli-chen Einnahmen werden auf 2,8 Mrd Euro veranschlagt, davon sollen 2,2 Mrd Euro zur Ver-besserung der Verkehrsinfrastruktur und 0,6 Mrd Euro für die Maut-Technik verwendet wer-den.

23. Mai Der Bundesrat stimmt dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Gemeindefinanzreformgesetzes und des Aufbauhilfefondsgesetzes zu. Damit werdendie Gemeinden von der Mitfinanzierung des Fonds „Aufbauhilfe“ befreit, sie werden damit um819 Mio Euro im Jahr 2003 entlastet.

Datum

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noch: Finanzpolitisch und sozialpolitisch wichtige Ereignisse

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2003

3. Juni Der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN-Rat) nimmt das Steuerpaket an, welchesdie Kommission bereits im Oktober 1997 vorgeschlagen hat. Es umfasst eine Richtlinie des Ra-tes zur Gewährleistung einer wirksamen Besteuerung von Zinserträgen, die innerhalb der Ge-meinschaft aus grenzübergreifenden Anlagen erzielt werden, einen Verhaltenskodex für die Un-ternehmensbesteuerung sowie eine Richtlinie des Rates zur Abschaffung der Quellensteuer aufZahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedenerMitgliedstaaten.

Die Gesundheitsminister der Europäischen Union beschließen neue Zulassungsregelungen fürArzneimittel. Die in London ansässige Arzneimittelagentur soll künftig neue Wirkstoffe gegenbestimmte Krankheiten wie zum Beispiel Krebs, Aids oder Diabetes zentral für die gesamte EUzulassen. Für die Zulassung anderer Wirkstoffe sind nach wie vor die nationalen Behörden zu-ständig.

6. Juni Der Deutsche Bundestag hat das „Kleinunternehmerförderungsgesetz“ und im Rahmen diesesArtikelgesetzes eine gewerbesteuerliche Entlastung solcher Zweckgesellschaften beschlossen,derer sich die Kreditinstitute bei der Verbriefung von Krediten in der Regel bedienen. Dadurchwerden steuerliche Nachteile im Vergleich zum Ausland beseitigt und der Verbriefungsmarkt inDeutschland gestärkt.

Der Deutsche Bundestag hat den von der Regierungskoalition eingebrachten Entwurf eines Ge-setzes zur Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes beschlossen. Das Gesetz sieht dieZusammenlegung von Kreditanstalt für Wiederaufbau und Deutsche Ausgleichsbank vor.

16. Juni Der Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitssystems (Gesundheitssystem-modernisierungsgesetz) wird vorgelegt. Es sieht Strukturreformen und auf der Finanzierungs-seite zum Beispiel eine Ausweitung der Zuzahlungen und eine generelle Verschiebung der Pari-tät zur Umfinanzierung des Krankengelds vor. Nachdem sich Bundesregierung und Oppositioneinen Konsens für eine gemeinsame Gesundheitsreform gefunden haben, wird der Gesetzent-wurf im Juli 2003 zurückgezogen.

18. Juni Die Bundesregierung legt einen Gesetzentwurf zur Förderung der Steuerehrlichkeit vor undvertagt die Einführung der Zinsabgeltungssteuer. Durch die Umsetzung des Gesetzes werdenfür das Jahr 2004 Mehreinnahmen von 5 Mrd Euro erwartet (Ziffer 283).

26. Juni Der Bundeskanzler und die Regierungschefs der Länder einigen sich auf eine Organisationsre-form der Gesetzlichen Rentenversicherung. Das Ziel der Reform besteht in einer Verbesserungder Wirtschaftlichkeit und Effizienz der Verwaltung. Dazu wird ein integrierter Dachverbandmit der Bezeichnung „Deutsche Rentenversicherung“ geschaffen, in dem die Bundesversiche-rungsanstalt für Angestellte und der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger aufgehen.Der Dachverband nimmt sowohl originäre Trägeraufgaben als auch Verbandsaufgaben wahr.Die bisherige Zuständigkeitszuordnung nach Arbeitern und Angestellten wird aufgehoben, essoll einen einheitlichen Versichertenbegriff geben. Die Zahl der Landesversicherungsanstaltensoll reduziert werden.

29. Juni Die Bundesregierung beschließt, die dritte Stufe der Steuerreform vom Jahr 2005 auf dasJahr 2004 vorzuziehen. Die daraus resultierenden Mindereinnahmen werden auf 15,6 Mrd Euroveranschlagt.

1. Juli Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchsteu-ergesetze wird vorgelegt. Zur pauschalen Abgeltung von Aufwendungen der Krankenkassen fürversicherungsfremde Leistungen wird die Tabaksteuer in drei Schritten um durchschnittlich1,5 Cent je Zigarette erhöht.

Die Renten in der Gesetzlichen Rentenversicherung steigen in Westdeutschland um 1,04 vHund in den neuen Bundesländern um 1,19 vH.

Datum

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noch: Finanzpolitisch und sozialpolitisch wichtige Ereignisse

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Deutschland in der Stagnation

noch 2003

2. Juli Die Bundesregierung beschließt den Entwurf zum Bundeshaushalt 2004 und die mittelfristigeFinanzplanung bis zum Jahr 2007:

– Die Ausgaben im Bundeshaushalt 2004 belaufen sich auf 251,2 Mrd Euro und liegen damitum 1,2 vH höher als im Haushaltsplan 2003. Die Nettokreditaufnahme ist – einschließlichdes Finanzierungsanteils des Bundes an der vorgezogenen dritten Stufe der Steuerreform –auf 30,8 Mrd Euro festgelegt. Zur Begrenzung der Neuverschuldung sind gegenüber der bis-herigen Finanzplanung Einsparungen von 8,4 Mrd Euro, darunter Kürzungen bei den Son-derzahlungen für Beamte, den Arbeitsmarktausgaben, den Rentenausgaben und den Subven-tionen sowie Mehreinnahmen von 5,6 Mrd Euro eingeplant, insbesondere durch den Abbauvon Steuervergünstigungen und durch die „Brücke zur Steuerehrlichkeit“.

– In der mittelfristigen Finanzplanung ist bei den Ausgaben in den Jahren 2005 und 2006 eineStagnation und im Jahr 2007 ein Anstieg um 1,5 vH vorgesehen, die Nettokreditaufnahmesoll auf 21 Mrd Euro (2005), 15 Mrd Euro (2006) und 10 Mrd Euro (2007) zurückgeführtwerden.

3. Juli Die Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen trifft sich zu ihrer letzten Sitzung. Die vonden Arbeitsgruppen der Kommission vorgelegten Bestandsaufnahmen, unterschiedlichen Lö-sungsvorschlägen sowie die Berechnungen zu den finanziellen Folgen der einzelnen Maßnah-men stellen eine Entscheidungsgrundlage für die anstehende Gesetzgebung dar.

4. Juli Der Deutsche Bundestag verabschiedet das Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungs-gesetz 2003/04. Damit werden Kürzungen beim Urlaubs- und beim Weihnachtsgeld bei Beam-ten und Versorgungsempfängern ermöglicht.

11. Juli Der Bundesrat stimmt dem Kleinunternehmerförderungsgesetz zu, das eine Anhebung derGrenzen für eine Buchführungspflicht vorsieht.

16. Juli Die Bundesregierung beschließt, die aus dem Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform imBundeshaushalt 2004 entstehenden Mehrbelastungen in Höhe von 7 Mrd Euro durch Privatisie-rungserlöse von 2 Mrd Euro und durch eine höhere Neuverschuldung von 5 Mrd Euro zu finan-zieren; die daraus resultierenden Zinsaufwendungen sollen durch Subventionskürzungen undVerfahrensänderungen in der Bauwirtschaft und der Landwirtschaft finanziert werden.

17. Juli Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass die in den Ländern Nordrhein-Westfalen, Rhein-land-Pfalz, Niedersachsen und Thüringen bei den Pflegeheimen erhobene Abgabe zur Finanzie-rung von Ausbildungsvergütungen in der Altenpflege (Altenpflegeumlage) verfassungsgemäßist. Allerdings müssen diese Sonderabgaben zukünftig im Haushaltsplan ausgewiesen werden.

Das Gesetz zur Änderung der Vorschriften zum diagnoseorientierten Fallpauschalensystem fürKrankenhäuser – Fallpauschalenänderungsgesetz – wird verkündet.

22. Juli Bundesregierung und Opposition stellen ein gemeinsames Eckpunktepapier zur Reform der Ge-setzlichen Krankenversicherung vor. Das Eckpunktepapier stellt die Grundlage für das späterverabschiedete GKV-Modernisierungsgesetz dar (Ziffern 291 ff.).

12. August Der Vorstandsvorsitzende der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte räumt ein, dass die inden Renteninformationen enthaltenen Prognosen über die zukünftige Rentenhöhe des Versi-cherten problematisch seien (JG 2002 Ziffer 234). Die Renteninformationen sollen im Hinblickauf die Annahmen über die zukünftige Rentenerhöhungen überarbeitet werden.

13. August Das Bundeskabinett beschließt das Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundes-regierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz (Korb II), dasGesetz zur Reform der Gewerbesteuer und das Haushaltsbegleitgesetz 2004. Zu den Einzelhei-ten siehe Ziffern 281 ff.

Datum

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noch: Finanzpolitisch und sozialpolitisch wichtige Ereignisse

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2003

28. August Die Kommission „Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“ (Rü-rup-Kommission) legt ihren Abschlussbericht vor. Im Bereich der Gesetzlichen Rentenversi-cherung wird unter anderem vorgeschlagen, das gesetzliche Renteneintrittsalter sukzessive auf67 Jahre anzuheben und die Rentenanpassungsformel um einen Nachhaltigkeitsfaktor zu ergän-zen. Für die Gesetzlichen Krankenversicherung werden mit der pauschalen Gesundheitsprämieund der Bürgerversicherung zwei Reform-Modelle zur Diskussion gestellt. Im Bereich der So-zialen Pflegeversicherung soll im Wesentlichen das derzeitige System beibehalten, aber durcheine Höherbelastung der Rentner und den Aufbau eines individuellen Kapitalstocks die Bei-tragsbelastung der Erwerbstätigen konstant gehalten werden.

2. September Das Bundeskabinett beschließt das Steueränderungsgesetz 2003. Zu den finanzwirksamen Ein-zelheiten siehe Tabelle 40.

9. September Der Europäische Gerichtshof stellt fest, dass der Bereitschaftsdienst, den ein Arzt in Form per-sönlicher Anwesenheit im Krankenhaus leistet, in vollem Umfang Arbeitszeit darstellt, auchwenn es dem Betroffenen in Zeiten, in denen er nicht in Anspruch genommen wird, gestattet ist,sich an seiner Arbeitsstelle auszuruhen. Damit ist die deutsche Regelung, nach der Zeiten, indenen ein Arbeitnehmer während eines Bereitschaftsdienstes untätig ist, als Ruhezeit eingestuftwerden, nicht mit dem EU-Recht vereinbar.

18. September Bundesregierung und die Bundestagsfraktion der CDU/CSU legen gemeinsam den Entwurfeines Gesetzes zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisie-rungsgesetz) vor. Der Gesetzentwurf beruht auf einem gemeinsamen Eckpunktepapier vonBundesregierung und Opposition und sieht auf der Ausgabenseite der Gesetzlichen Kranken-versicherung einige wichtige Reformen und auf der Finanzierungsseite unter anderem höhereZuzahlungen, einen pauschalen Bundeszuschuss und einen zusätzlichen Beitragssatz für dieVersicherten vor. Zu den Einzelheiten siehe Ziffern 291 ff.

23. September Das Bundessozialgericht lehnt aus formalen Gründen die Klage von drei Familienvätern ab, dievon den Beiträgen zur Gesetzlichen Rentenversicherung entlastet werden wollten, weil siedurch die Erziehung ihrer Kinder schon einen ausreichenden Beitrag zum Generationenvertragleisteten.

29. September Die Kommission „Soziale Sicherheit“ (Herzog-Kommission) legt ihre Vorschläge zur Reformder Sozialversicherungssysteme vor. Sie spricht sich – genauso wie die Rürup-Kommission –für eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und für eine Erweite-rung der Rentenanpassungsformel um einen Nachhaltigkeitsfaktor aus. Außerdem soll die An-rechnung von Kindererziehungszeiten in der Gesetzlichen Rentenversicherung ausgeweitetwerden. Für die Krankenversicherung wird ein Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags vorgeschla-gen und ein Übergang zu einem Pauschalprämienmodell mit Alterungsrückstellungen ab demJahr 2013 befürwortet. In der Sozialen Pflegeversicherung soll ein Umstieg auf ein kapitalge-decktes System vorgenommen werden: Durch Anhebung des Beitragssatzes auf 3,2 vH sollein kollektiver Kapitalstock aufgebaut werden, der ab dem Jahr 2030 dazu verwendet wird,um die versicherungsmathematisch berechneten Prämien älterer Versicherte zu deckeln. Zurteilweisen Finanzierung beziehungsweise Entlastung der Arbeitgeber ist die Streichung einesUrlaubstags oder Feiertags geplant. Der Versicherungscharakter der Arbeitslosenversicherungsoll gestärkt werden, indem Umverteilungselemente und versicherungsfremde Leistungen eli-miniert werden.

1. Oktober Die Bundesregierung legt ihren Bericht über die Entwicklung der Finanzhilfen und Steuerver-günstigungen vor (19. Subventionsbericht).

Datum

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Deutschland in der Stagnation

noch 2003

14. Oktober Die Bundesregierung nimmt in das Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundes-regierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz (Korb II) spezi-fische Steuerrechtsänderung für die Versicherungswirtschaft auf. Die Neuregelung umfasst diefolgenden Eckwerte: vollständige Steuerpflicht für Kapitalerträge und Veräußerungsgewinneaus Beteiligungen bei Lebens- und Krankenversicherungsunternehmen sowie Pensionsfonds.Damit korrespondierend ist eine vollständige Abzugsfähigkeit von entsprechenden Veräuße-rungsverlusten und Teilwertabschreibungen vorgesehen. Die Unternehmen sollen diese Rege-lungen bereits für das Veranlagungsjahr 2003 anwenden können.

17. Oktober Der Deutsche Bundestag verabschiedet die folgenden Gesetze: Haushaltsbegleitgesetz 2004,drittes und viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Gesetz zur Umset-zung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuerver-günstigungsabbaugesetz (Korb II), Gesetz zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und andererVerbrauchsteuergesetze, Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit und das Gesetz zur Reformder Gewerbesteuer.

Der Deutsche Bundestag beschließt eine Sozialhilfereform. Vorgesehen ist unter anderem, ein-malige Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt wie zum Beispiel Bekleidung und Hausrat inden Regelsatz einzubeziehen.

Das Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisie-rungsgesetz) wird im Bundesrat verabschiedet.

19. Oktober Das Bundeskabinett beschließt „fünf Bausteine“ zur kurzfristigen Sicherung des Rentenbei-tragssatzes und zur langfristigen Altersvorsorge:

1. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom März 2002 soll umgesetzt werden, indem künftigdie Renten nachgelagert besteuert und die Rentenversicherungsbeiträge sukzessive steuer-frei gestellt werden.

2. Die Riester-Rente wird vereinfacht, indem die Anzahl der Förderkriterien reduziert wird.Zudem soll das im Rahmen einer Betriebsrente angesparte Kapital beim Wechsel zu einemanderen Arbeitgeber mitgenommen werden können.

3. Die Verwaltungskosten der Rentenversicherungsträger sollen reduziert werden.

4. Ab dem Jahr 2005 soll die Rentenanpassungsformel um einen Nachhaltigkeitsfaktor erwei-tert werden. Die Entscheidung über die Heraufsetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalterssoll nicht vor dem Jahr 2010 fallen.

5. Der Beitragssatz in der Gesetzlichen Rentenversicherung soll auf dem Niveau von 19,5 vHstabilisiert werden, indem im Jahr 2004 keine Rentenerhöhung stattfindet, die Rentner ihrenPflegeversicherungsbeitrag künftig allein aufbringen, die Schwankungsreserve auf 0,2 einerMonatsausgabe reduziert wird und die Auszahlung von Neurenten nicht am Monatsanfang,sondern erst am Monatsende vorgenommen wird.

20. Oktober Das Bundeskabinett beschließt eine Neuordnung der steuerrechtlichen Behandlung von Alters-einkünften. Zu den Einzelheiten siehe Ziffer 286.

21. Oktober Die Bundesregierung stellt einen Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung der Bekämpfungder Schwarzarbeit vor. Unter anderem sollen Kontrollregelungen aus verschiedenen Vorschrif-ten zusammengeführt und die Zusammenarbeit von Steuerfahndungsbehörden und Zoll verbes-sert werden.

22. Oktober Der Entwurf eines Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung wird vorgelegt. Die bestehen-den Frühverrentungsmöglichkeiten im § 428 SGB III und im Altersteilzeitgesetz werden zum1. Januar 2004 beendet. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bereits vor dem 1. Januardie Anspruchsvoraussetzungen erfüllt haben, erhalten Vertrauensschutz.

Datum

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noch: Finanzpolitisch und sozialpolitisch wichtige Ereignisse

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

noch 2003

23. Oktober Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch undanderer Gesetze wird vorgelegt. Zur Stabilisierung des Beitragssatzes in der Gesetzlichen Ren-tenversicherung auf 19,5 vH im Jahr 2004 ist vorgesehen, die Rentenanpassung im Jahr 2004auszusetzen und die Mindestschwankungsreserve auf 0,2 einer Monatsausgabe zu reduzieren.Zudem sollen die Rentner zukünftig die Beiträge zur Pflegeversicherung vollständig tragen undBeitragssatzänderungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung sollen zeitnah an die Rentnerund Rentenversicherungsträger weitergegeben werden.

Der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch undanderer Gesetze wird vorgelegt. Er sieht vor, für Neurentner die Rentenzahlung vom Monatsan-fang an das Monatsende zu verschieben. Dies soll Einsparungen für die Gesetzliche Rentenver-sicherung von 750 Mio Euro jährlich bringen. Diese Maßnahme ist im Bundesrat zustimmungs-pflichtig.

29. Oktober Das Bundeskabinett vereinbart einen Nachtragshaushalt für das Jahr 2003, demnach erhöht sichdie Nettokreditaufnahme um 24,5 Mrd Euro auf 43,4 Mrd Euro.

6. November Der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ schätzt für das laufende und das kommende Jahr – unterZugrundelegung einer Zunahme des nominalen Bruttoinlandsprodukts in Deutschland von 1 vHim Jahr 2003 und 2½ vH im Jahr 2004 – das jährliche Steueraufkommen für das Jahr 2003 auf441,6 Mrd Euro und für das Jahr 2004 auf 453,4 Mrd Euro.

Der Deutsche Bundestag verabschiedet das Maßnahmenpaket der Koalitionsfraktionen zur Sta-bilisierung des Rentenbeitrags in Höhe von 19,5 vH.

7. November Der Bundesrat lehnt unter anderem das Haushaltsbegleitgesetz 2004, das Gesetz zur Förderungder Steuerehrlichkeit, den Korb II, das Gesetz zur Reform der Gewerbesteuer und das VierteGesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ab und ruft den Vermittlungsausschussan.

Datum

IV. Soziale Sicherung: Reformbemühungen wurde im Konsens zwischen Bundesregierung und Op-

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noch: Finanzpolitisch und sozialpolitisch wichtige Ereignisse

und Reformdiskussionen

289. Angesichts der schlechten konjunkturellen Lageund der absehbaren demographischen Entwicklung stiegder Reformdruck im Bereich der Systeme der SozialenSicherung. Dies veranlasste die Bundesregierung schonEnde des vergangenen Jahres, die „Kommission für dieNachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Siche-rungssysteme“ (Rürup-Kommission) einzusetzen. Siesollte im Bereich der Finanzierung der Sozialversiche-rungssysteme bis Herbst dieses Jahres Reformvor-schläge erarbeiten. Auch andere Kommissionen – wiezum Beispiel die von der CDU eingesetzte Kommission„Soziale Sicherheit“ (Herzog-Kommission) – befasstensich mit den Problemen der Sozialversicherungen undunterbreiteten Reformvorschläge. Zudem wurden in derAgenda 2010 durch den Bundeskanzler Reformmaßnah-men in der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) undim Gesundheitssystem angekündigt, vor allem um eineSenkung der Lohnnebenkosten herbeizuführen. Im Be-reich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)

position das GKV-Modernisierungsgesetz beschlossen,das einige Strukturreformen und auf der Finanzierungs-seite höhere Belastungen für die Versicherten sowie eineUmfinanzierung der versicherungsfremden Leistungenvorsah. In der Diskussion standen auch die beiden vonder Rürup-Kommission als alternative Konzepte für eineFinanzierungsreform der Gesetzlichen Krankenversiche-rung vorgeschlagenen Modelle einer pauschalen Ge-sundheitsprämie und einer Bürgerversicherung. Im Be-reich der Gesetzlichen Rentenversicherung unterbreitetedie Rürup-Kommission den Vorschlag, das gesetzlicheRenteneintrittsalter sukzessive anzuheben und die Ren-tenanpassungsformel um einen Nachhaltigkeitsfaktor zuergänzen. Im Bereich der Sozialen Pflegeversicherungwurde auch in der Öffentlichkeit der Reformbedarf all-mählich anerkannt und ein entsprechender Vorschlag derRürup-Kommission diskutiert, nach dem im Wesentli-chen das derzeitige System beibehalten, aber über eineHöherbelastung der Rentner und den Aufbau individuel-ler Alterungsrückstellungen die Beitragsbelastung derErwerbstätigen konstant gehalten werden soll.

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

1. Gesetzliche Krankenversicherung: Reform-schritte und fortbestehender Reformdruck

Die finanzielle Lage der Gesetzlichen Krankenversicherung

290. Trotz des am Ende des vergangenen Jahres verab-schiedeten Beitragssatzsicherungsgesetzes (JG 2002Ziffer 268) hat sich die finanzielle Lage der gesetzlichenKrankenkassen nicht entspannt. Im ersten Halbjahr 2003stiegen die Ausgaben im Vergleich zum Vorjahreszeit-raum um 1,22 vH. Die Einnahmen nahmen um 1,65 vHzu. Dabei waren die Einnahmeerhöhungen ausschließ-lich auf die Anhebung der Beitragssätze und nicht aufeine Zunahme der beitragspflichtigen Einkommen zu-rückzuführen; diese sanken sogar um 0,41 vH. Die Ein-nahmeseite wurde außer von der konjunkturellen Ent-wicklung auch von der Beitragsfreiheit von Beiträgen imRahmen der Entgeltumwandlung und von Änderungenim Bereich der „Hartz-Gesetze“, wie zum Beispiel derverschärften Einkommensanrechnung bei der Arbeitslo-senhilfe, belastet (Ziffer 229). Zu den Ausgabensteige-rungen trugen vor allem die im ersten Halbjahr 2003 um1,68 vH gestiegenen Kosten der Krankenhausbehand-lung, die um 5,37 vH höheren Fahrkosten, die um3,60 vH gestiegenen Zahnersatzaufwendungen und dieum 2,84 vH erhöhten Verwaltungskosten bei. Das Defi-zit belief sich im ersten Halbjahr auf 1,82 Mrd Euro undlag damit nur etwas unter dem Halbjahresdefizit desVorjahres (2,42 Mrd Euro). Hinzu kamen die ange-sammelten Schulden der Kassen, die Anfang des Jah-res 2003 etwa 2,3 Mrd Euro betrugen. Da den Kasseneine längerfristige Verschuldung nicht erlaubt ist und zu-dem eine Verpflichtung zur Auffüllung ihrer Rücklagenbesteht (JG 2002 Ziffer 235), ergab sich ein zusätzlicherFinanzierungsbedarf von etwa 8 Mrd Euro und damit– wären keine Reformmaßnahmen ergriffen worden –ein Potential für weitere Beitragssatzsteigerungen aufdurchschnittlich über 15 vH im Jahr 2004. Am 1. Okto-ber 2003 lag der durchschnittliche Beitragssatz bei14,33 vH.

Gesundheitsreform: Nur eine Atempause

291. Aufgrund der weitgehenden Wirkungslosigkeitdes Beitragssatzsicherungsgesetzes und weiter steigen-der Beitragssätze sah man zunehmend auch im politi-schen Bereich einen akuten Handlungsbedarf. Deshalbwurde – parallel zu den Arbeiten der Rürup-Kommission – ein Gesetzentwurf vorbereitet und in denDeutschen Bundestag eingebracht, der neben Reformenauf der Finanzierungsseite auch Strukturreformen ent-hielt. Das Gesetzgebungsverfahren wurde allerdings ge-stoppt, als sich die Möglichkeit eines gemeinsamen Ge-setzentwurfs von Bundesregierung und Oppositionabzeichnete. Diese legten am 22. Juli 2003 ein Eckpunk-tepapier vor, das bis Anfang September in den gemein-samen „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung dergesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisie-rungsgesetz)“ umgesetzt wurde. Dieser stellte nicht denerhofften „großen Wurf“ dar, sondern enthielt neben ei-nigen sinnvollen Strukturveränderungen letztlich nur

Spar- und Umfinanzierungsvorschläge, die Beitragssatz-senkungen auf 13,6 vH im Jahr 2004 und auf 12,7 vH imJahr 2006 ermöglichen sollen. Grundlegende Reformenauf der Ausgabenseite – wie sie der Sachverständigenratvorgeschlagen hat (JG 2002 Ziffern 484 ff.) – fandenkaum statt, und eine längst überfällige grundlegende Re-form der Finanzierungsseite der Gesetzlichen Kranken-versicherung wurde weiterhin verschoben. Deshalb blie-ben die weitergehenden Vorschläge für Systemreformenwie die Bürgerversicherung und das alternative Konzeptder Gesundheitsprämie in der Diskussion.

Umfinanzierung und Streichung von versicherungsfremden Leistungen

292. Das GKV-Modernisierungsgesetz sieht vor, dassLeistungen, die keinen Bezug zu Krankheiten habenoder gesamtgesellschaftliche Aufgaben erfüllen und indiesem Sinne versicherungsfremd sind, entweder ausdem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversi-cherung gestrichen oder durch einen pauschalen Bun-deszuschuss finanziert werden. So sollen Leistungen imZusammenhang mit einer Sterilisation, das Entbindungs-geld sowie das Sterbegeld gänzlich aus dem Leistungs-katalog der Krankenkassen genommen werden. Wäh-rend im ursprünglichen Gesetzentwurf die Leistungen,die durch einen Bundeszuschuss finanziert werden soll-ten, noch explizit genannt wurden (zum Beispiel dasMutterschaftsgeld), sieht das GKV-Modernisierungsge-setz pauschale Zahlungen des Bundes an die GesetzlicheKrankenversicherung ohne nähere Spezifizierung derdamit finanzierten Leistungen vor. Der Zuschuss sollüber eine Tabaksteuererhöhung aufgebracht werden und1 Mrd Euro beziehungsweise 2,5 Mrd Euro in den Jah-ren 2004 und 2005 sowie 4,2 Mrd Euro ab dem Jahr 2006betragen.

Die Tabaksteuererhöhung wurde damit gerechtfertigt,dass Raucher stärker zur Finanzierung der durch dasRauchen entstehenden Gesundheitskosten herangezo-gen und die Prävention durch einen Lenkungseffekt inRichtung Einschränkung des Tabakkonsums gefördertwerden sollen. Geplant war zunächst eine einmalige An-hebung der Tabaksteuer um einen Euro pro Schachtel.Doch schon bald entschloss man sich zu einer stufenwei-sen Anhebung um durchschnittlich jeweils 0,30 Euro jeSchachtel am 1. Januar 2004, am 1. Oktober 2004 undam 1. Juli 2005, da man bei einer Erhöhung in einemSchritt zu starke Steuerausfälle dadurch befürchtete,dass Zigaretten verstärkt am Schwarzmarkt erworbenwerden und zu viele Raucher den Tabakkonsum einstel-len oder einschränken. Damit ist klar, dass der Präventi-onsgedanke und ein Lenkungseffekt nicht im Vorder-grund standen, ja unter fiskalischen Aspekten nichterwünscht waren. Da die erwarteten Einnahmen aus derTabaksteuererhöhung von 1,2 Mrd Euro im Jahr 2004und rund 2 Mrd Euro jährlich ab dem Jahr 2005 nichtausreichen, um den Bundeszuschuss zu finanzieren, er-gibt sich eine Finanzierungslücke, die durch weitereSteuererhöhungen oder Ausgabensenkungen geschlos-sen werden muss.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Mit diesem pauschalen Zuschuss ist ein Einstieg in diesteuerliche Kofinanzierung der Gesetzlichen Kranken-versicherung getan, was die Intransparenz des Systemserhöht. Es findet nämlich weder eine finanzielle Aus-gliederung in dem Sinne statt, dass der Bundeszuschusszur Finanzierung eindeutig spezifizierter Leistungen he-rangezogen wird, noch eine institutionelle Ausgliede-rung im Sinne einer gänzlichen Übertragung der Leis-tung in den Bundeshaushalt. Zur Finanzierung despauschalen Bundeszuschusses werden das gesamte Steu-eraufkommen und damit alle Steuerzahler herangezo-gen, aber nur die Versichertengemeinschaft der Gesetzli-chen Krankenversicherung kommt in den Genuss der sofinanzierten Leistungen. Eine institutionelle Ausgliede-rung von versicherungsfremden Leistungen wäre in die-sem Sinne gegenüber der gewählten Regelung gerechterund transparenter. Sie hätte zudem den Vorteil, dass derLeistungsumfang reduziert werden könnte, indem manbestimmte Leistungen nur wirklich bedürftigen Perso-nen gewährt.

Ausgliederung des Zahnersatzes

293. Der Zahnersatz soll ab dem Jahr 2005 aus demLeistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherungausgegliedert und über eine gesonderte obligatorischeVersicherung abgesichert werden, die sowohl von derGesetzlichen Krankenversicherung als auch von der Pri-vaten Krankenversicherung angeboten werden kann. Da-bei soll es einen „fairen Wettbewerb“ zwischen beidenKrankenversicherungssystemen geben. Die gesetzlichenKrankenkassen werden zukünftig eine Zahnersatzversi-cherung mit einem einheitlichen einkommensunabhängi-gen Beitrag je Mitglied anbieten. Dieser bundesweit gül-tige Beitrag wird von den Spitzenverbänden derKrankenkassen so festgesetzt, dass die Leistungsausga-ben und die anteiligen Verwaltungskosten für Zahnersatzgedeckt werden. Die Ausgaben der Gesetzlichen Kran-kenversicherung für Zahnersatz betragen derzeit etwa3,5 Mrd Euro; bezogen auf die Mitglieder der Gesetz-lichen Krankenversicherung würde sich daraus rech-nerisch ein monatlicher Beitrag von etwa 6 Euro beibeitragsfrei mitversicherten nicht erwerbstätigen Famili-enangehörigen ergeben. Da der Beitrag für eine einzelneKasse – aufgrund ihrer Versichertenstruktur – unter Um-ständen nicht ausgabendeckend ist, wird ein Finanzaus-gleich für die Mehraufwendungen eingeführt, die einerKrankenkasse aufgrund der vollständigen Kostenüber-nahme für soziale Härtefälle entstehen. Ein Finanzaus-gleich birgt die Gefahr, dass sich wirtschaftliches Ver-halten nicht lohnt (JG 2001 Ziffer 264). Um dieseGefahr zu begrenzen, soll die den Finanzausgleich re-gelnde Rechtsverordnung einen Eigenanteil für dieKrankenkassen oder die Berücksichtigung durchschnitt-licher anstatt tatsächlicher Kosten vorsehen. Durch deneinheitlichen Beitrag und den Finanzausgleich wird derWettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassenin diesem Bereich weitgehend verhindert. Alle Mitglie-der der Gesetzlichen Krankenversicherung können aberauch eine Zahnersatzversicherung bei einer privatenKrankenversicherung zu den dort geltenden Konditionen

abschließen, wenn diese vergleichbare Leistungen wiedie Gesetzliche Krankenversicherung bietet. Eine Rück-kehr in die Gesetzliche Zahnersatzversicherung ist dannnicht mehr möglich. Ein fairer Wettbewerb zwischenbeiden Krankenversicherungssystemen ist – sofern dieprivaten Krankenversicherer auch bei der Zahnersatz-versicherung risikoäquivalente Prämien mit Alterungs-rückstellungen berechnen – schon allein aufgrund derunterschiedlichen Art der Beitragskalkulation nicht zuerwarten. Wettbewerbsvorteile werden sich die privatenKrankenversicherer nur verschaffen können, wenn sieein größeres Leistungsspektrum anbieten. Durch dieAusgliederung des Zahnersatzes aus dem Leistungskata-log der gesetzlichen Kassen könnte der allgemeine Bei-tragssatz um 0,35 Prozentpunkte sinken.

Umfinanzierung des Krankengelds: Zusätzlicher Beitragssatz

294. Das Krankengeld soll laut Gesetzesbegründungab dem Jahr 2006 umfinanziert werden, indem die Versi-cherten (ohne Beteiligung der Arbeitgeber und Renten-versicherungsträger) einen zusätzlichen Beitrag in Höhevon 0,5 Beitragssatzpunkten leisten. Da die Ausgabender Gesetzlichen Krankenversicherung für Krankengeldderzeit etwa 7,6 Mrd Euro betragen, was einem Bei-tragssatz von 0,76 vH entspricht, findet keine vollstän-dige Umfinanzierung des Krankengelds statt. Mit demzusätzlichen Beitrag wird ein direkter Bezug zum Kran-kengeld auch gar nicht vorgenommen, er fließt vielmehr„den Einnahmen der Krankenkassen unabhängig von derFinanzierung einzelner Leistungen“ zu. Dies geschiehtdeshalb, weil auch die Rentner diesen Sonderbeitragleisten müssen, obwohl sie keinen Anspruch auf Kran-kengeld haben. Bei einer echten Auslagerung oder beieiner direkten Verbindung des zusätzlichen Beitragssat-zes mit dem Krankengeld könnte eine Beitragszahlungder Rentner in eine Krankengeldversicherung ohneKrankengeldanspruch kaum gerechtfertigt werden. Essoll also lediglich aufgrund von Finanzierungserforder-nissen die bereits bestehende Unsystematik des Systemsbeibehalten werden, dass Rentner implizit Beiträge fürKrankengeld zahlen, welches sie gar nicht beanspruchenkönnen. Die Rentenversicherungsträger werden dadurchaber um rund 0,5 Mrd Euro ab dem Jahr 2006 entlastet.Diese Umfinanzierungsart wird auch damit gerechtfer-tigt, dass so die Einbeziehung des Krankengelds in denRisikostrukturausgleich und den Risikopool beibehaltenwerden kann. Ein weiterer wichtiger Grund für dieseAusgestaltung bestand wohl in dem Wunsch, eine pri-vate Absicherung des Krankengelds gänzlich zu vermei-den. Dies hätte nämlich bei einer tatsächlichen Ausglie-derung zumindest als Alternative zu einer Absicherungin der Gesetzlichen Krankenversicherung genauso wiebeim Zahnersatz nahe gelegen. Allerdings wäre einegänzliche Ausgliederung des Krankengelds – wie in derAgenda 2010 angekündigt – wenig systemgerecht gewe-sen, denn in der derzeitigen Gesetzlichen Krankenversi-cherung ist das Krankengeld die einzige Leistung, dienoch Äquivalenzcharakter hat und deren Finanzierungmit lohnbezogenen Beiträgen adäquat ist. Die Herauslö-

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

sung des Krankengelds wäre nur im Falle einer umfas-senden Finanzierungsreform sinnvoll, in deren Rahmenman zum Beispiel zu Pauschalprämien übergeht.

Mit dem zusätzlichen Beitragssatz werden Intransparenzund Unsystematik weiter erhöht. Eine vollständige Ver-lagerung der Finanzierung des Krankengelds nur auf dieArbeitnehmer findet nicht statt. Letztlich handelt es sichum nichts anderes als eine einmalige Verschiebung derparitätischen Finanzierung: Ausgehend von einem der-zeitigen GKV-Beitragssatz von 14,3 vH vermindert sichder Arbeitgeberbeitragssatz von 7,15 vH auf 6,90 vHund der Arbeitnehmerbeitragssatz erhöht sich entspre-chend auf 7,40 vH. Positive Beschäftigungswirkungendürften damit kaum verbunden sein, da diese letztlichnur von einer Veränderung des gesamten Abgabenkeilsausgehen können, dieser aber durch eine bloße Verschie-bung der Parität in seiner Gesamthöhe unverändertbleibt. Im Gegensatz zu der im ersten Gesetzentwurf ge-planten generellen Verschiebung der Parität oder auchgegenüber einer Festschreibung der Arbeitgeberbeiträgebedeutet diese Regelung aber, dass zukünftige Beitrags-satzsteigerungen nach wie vor von Arbeitgebern und Ar-beitnehmern im gleichen Ausmaß zusätzliche Zahlungenabverlangen. Besser und transparenter wäre die völligeAbschaffung der Parität gewesen (JG 2002 Ziffer 518).

Neugestaltung der Zuzahlungsregelungen

295. Durch eine Änderung der Zuzahlungsregelungensoll das GKV-System in Höhe von 3,2 Mrd Euro entlas-tet werden. Generell soll bei allen Leistungen eine pro-zentuale Zuzahlung in Höhe von 10 vH, mindestens je-doch 5 Euro und höchstens 10 Euro fällig werden. Beiambulanter ärztlicher und zahnärztlicher Versorgungwird eine Praxisgebühr für jede erste Inanspruchnahmein Höhe von 10 Euro je Quartal erhoben, es sei denn, dieBehandlung erfolgt aufgrund einer Überweisung ausdemselben Kalendervierteljahr. Mit einer Praxisgebührkönnten tendenziell unnötige Arztbesuche bei Bagatell-erkrankungen vermieden werden (JG 2000 Ziffer 485und JG 2002 Ziffer 489). Allerdings ist in der gewähltenAusgestaltung der Zusammenhang zwischen Anzahl derArztbesuche und Praxisgebühr recht locker, so dass Len-kungswirkungen nur beschränkt eintreten dürften. Beieinem Krankenhausaufenthalt werden Zuzahlungen inHöhe von 10 Euro pro Tag für maximal 28 Tage je Jahrfällig. Für jedes von der Gesetzlichen Krankenversiche-rung zu erstattende Arzneimittel müssen gemäß der ge-nerellen Regel Zuzahlungen in Höhe von 10 vH, jedochmindestens 5 Euro und höchstens 10 Euro, geleistet wer-den. Allerdings darf die Zuzahlung die Kosten des Mit-tels nicht übersteigen. Die festen Zuzahlungen in Abhän-gigkeit von der Packungsgröße werden damit abgelöst.Für die Versicherten entsteht dadurch ein – wenn auchbegrenztes – Interesse, dass preisgünstige Präparate ab-gegeben werden. Generelle Selbstbehalte sind dannsinnvoll, wenn die Nachfrage preiselastisch ist, also mitVerhaltensänderungen gerechnet werden kann. Vor die-sem Hintergrund ist eine Praxisgebühr positiv zu werten,

von höheren Zuzahlungen bei der Krankenhausbehand-lung dürften dagegen kaum Lenkungseffekte ausgehen.

Kinder und Jugendliche sind generell von allen Zuzah-lungen befreit. Die Zuzahlungen dürfen zukünftig dieBelastungsgrenze von 2 vH der jährlichen Bruttoeinnah-men zum Lebensunterhalt nicht überschreiten. Bei derBerechnung der zugrunde liegenden Bruttoeinnahmenwird der Kinderfreibetrag des Einkommensteuerrechts inHöhe von derzeit 3 648 Euro für jedes Kind abgezogenund damit der Kinderlastenausgleich innerhalb des Sys-tems weiter ausgeweitet. Für chronisch Kranke gilt eineBelastungsgrenze von 1 vH des Bruttoeinkommens. Einegenerelle Zuzahlungsbefreiung für Erwachsene ist damitgrundsätzlich nicht mehr möglich. Allerdings bleibt dieinkonsistente Vermischung von ökonomischen und me-dizinischen Kriterien bei der Festlegung der Belastungs-grenze erhalten.

Bisher werden im Bereich der Zuzahlungen soziale Här-ten durch die Härtefallklausel des § 61 SGB V sowiedurch die Überforderungsklausel des § 62 SGB V ver-mieden. Nach der Härtefallklausel sind solche Versi-cherte von der Zuzahlung zu Arznei-, Verband-, Heil-und Hilfsmitteln, zu stationären Vorsorge- und Rehabili-tationsleistungen, zu Zahnersatz und zu Fahrkostengänzlich befreit, wenn die monatlichen Bruttoeinnahmenzum Lebensunterhalt des Versicherten 40 vH des Durch-schnittseinkommens der Rentenversicherung (zur Zeit2 415 Euro) unterschreiten oder wenn der VersicherteSozialhilfe bezieht. Nach § 62 SGB V übernimmt dieKrankenkasse die Zuzahlungen zu Fahrkosten und zuArznei-, Verband- und Heilmitteln, soweit diese die Be-lastungsgrenzen überschreiten.

Ob die von den geänderten Zuzahlungsregelungen er-hofften Mehreinnahmen beziehungsweise Minderausga-ben in Höhe von mindestens 3,2 Mrd Euro realisiertwerden, hängt nicht zuletzt von der Ausgestaltung undInanspruchnahme der neuen Regelung zur Belastungs-begrenzung ab. Zur Zeit wird im Arzneimittelbereichsehr stark von der (alten) Härtefallregelung Gebrauchgemacht: Im Jahr 2001 mussten für rund 47 vH der Ver-ordnungen keine Zuzahlungen geleistet werden. Alleindie Anzahl der Versicherten, die im Rahmen der (alten)Überforderungsklausel von den Zuzahlungen befreitwurden, nahm im Zeitraum der Jahre 1997 bis 2000 von327 000 Personen auf 1,815 Millionen Personen zu. Ins-gesamt war im Jahr 2000 jeder dritte Versicherte vonder Zuzahlung befreit. Da im Durchschnitt den zuzah-lungsbefreiten Versicherten relativ mehr Medikamenteverordnet werden, ist ihr Anteil am Umsatz ungleichhöher. So waren im Jahr 2000 in der Gruppe der Er-wachsenen 46,1 Millionen Personen zuzahlungspflich-tig mit einem Umsatz von 11,4 Mrd Euro, während die11,1 Millionen zuzahlungsbefreiten Erwachsenen für ei-nen Umsatz von 6,7 Mrd Euro verantwortlich waren. DieZuzahlungen im Arzneimittelbereich betrugen imJahr 2001 rund 1,8 Mrd Euro. Da durch die Reform dieZuzahlungen insgesamt erhöht werden und auch die Pra-xisgebühr bei der Berechnung der Belastungsgrenze ein-bezogen wird, kann es tendenziell zu einer Ausweitungdes Personenkreises kommen, der die Belastungsgrenze

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

erreicht, und damit zu einer Aushöhlung der Zuzah-lungsregelung.

Im Falle von Zahnersatzleistungen wird es zukünftig be-fundbezogene Festzuschüsse geben, die grundsätzlich50 vH der einheitlich festgelegten Vergütung der Regel-versorgung bei bestimmten Befunden betragen. Damitwerden die an den individuellen Behandlungskosten ori-entierten Zuschüsse und die damit verbundene tendenzi-elle Kostenausweitung für die Gesetzliche Krankenver-sicherung beseitigt. In sozialen Härtefällen tragen wiebisher die gesetzlichen Krankenkassen die vollen Kos-ten. Ausgaben für Sehhilfen werden nur noch für Kinderund Jugendliche bis 18 Jahre und bei schweren Sehstö-rungen erstattet. Fahrkosten werden in der ambulantenVersorgung in der Regel nicht mehr übernommen.

Voller Beitragssatz für Versorgungsbezüge der Rentner

296. Versorgungsbezüge der Rentner, wie zum BeispielBetriebsrenten, und Arbeitseinkommen der Rentner ausselbständiger Tätigkeit sollen zukünftig nicht mit demhalben, sondern mit dem vollen Beitragssatz belegt wer-den. Dies soll zusätzliche Einnahmen in Höhe von1,6 Mrd Euro generieren. Durch diese Maßnahme wirddem Leistungsfähigkeitsprinzip eher entsprochen, aberauch das Äquivalenzprinzip in dem Sinne gestärkt, dassdie Gruppe der Rentner in einer jährlichen Periodenbe-trachtung nun durch eigene Beiträge mehr zu den anfal-lenden Gesundheitsausgaben für Rentner beiträgt. Dieintergenerativen Transfers werden mithin reduziert.Wenngleich es sich hierbei um eine diskretionäre Zu-satzbelastung derjenigen handelt, die neben ihrer Renteaus der Gesetzlichen Rentenversicherung noch weitereAlterseinkommen oder Lohneinkommen beziehen, istdiese Maßnahme in Anbetracht der so genannten Ver-steilerung der alterspezifischen Kostenprofile und deswachsenden Anteils der Rentner an den GKV-Versicher-ten – auch unter Berücksichtigung der langjährigen Mit-gliedschaft der Betroffenen in der Gesetzlichen Kran-kenversicherung – gerechtfertigt.

Reformen auf dem Arzneimittelmarkt

297. Da die Arzneimittelausgaben in den letzten Jahrendie größte Dynamik aufwiesen, setzt auch diese Gesund-heitsreform am Arzneimittelmarkt an. So sind folgendeMaßnahmen vorgesehen:

– Patentgeschützte Analogpräparate – Medikamente, diekeinen oder nur einen geringfügigen zusätzlichen the-rapeutischen Nutzen gegenüber bereits vorhandenenMedikamenten aufweisen – werden in die Festbe-tragsregelung einbezogen. Dadurch können nach An-gaben der Bundesregierung bis zu 1 Mrd Euro einge-spart werden. Bis die neuen Festbeträge wirksamwerden, soll der Herstellerabschlag für verschrei-bungspflichtige Nichtfestbetragsarzneimittel von6 vH auf 16 vH erhöht werden, was ebenfalls Entlas-tungen in Höhe von 1 Mrd Euro erbringen soll. DieZuständigkeit für die Festbeträge liegt zukünftig wie-der bei der Selbstverwaltung (JG 2002 Ziffer 267).

– Nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel sollengrundsätzlich nicht mehr von den Krankenkassen er-setzt werden. Ausnahmen gelten für Kinder bis zum12. Lebensjahr sowie für Jugendliche mit Entwick-lungsstörungen. Außerdem erstellt der GemeinsameBundesausschuss eine Liste von nicht-verschrei-bungspflichtigen Arzneimitteln, die bezogen auf be-stimmte Indikationen trotzdem verordnet werden dür-fen.

– Der Nutzen von Arzneimitteln kann vom Institut fürQualität und Wirtschaftlichkeit im Auftrag des Bun-desausschusses bewertet werden. Eine stärker anwirtschaftlichen Kriterien orientierte Kosten-Nutzen-Analyse, wie ursprünglich von der Bundesregierunggeplant, soll dagegen nicht stattfinden. Ob die Er-gebnisse der Nutzenbewertung in die Arzneimittel-richtlinien aufgenommen werden, entscheidet derBundesausschuss. Aus der Nutzenbewertung sollenEinsparungen von rund 0,5 Mrd Euro jährlich ab demJahr 2005 erzielt werden.

– Das Mehrbesitzverbot von Apotheken wird insoweitgelockert, als eine Apotheke künftig bis zu drei Ne-benstellen haben kann. Diese müssen aber im glei-chen Kreis beziehungsweise der gleichen kreisfreienStadt oder in einander benachbarten Kreisen oderkreisfreien Städten liegen. Das Fremdbesitzverbotbleibt bestehen. Die wettbewerbsfeindlichen Struktu-ren in diesem Bereich werden dadurch nur teilweiseaufgebrochen. Eine generelle Aufhebung sowohl desMehrbesitzverbots als auch des Fremdbesitzverbotswäre angezeigt gewesen (JG 2002 Ziffer 503).

– Die Preisbindung der zweiten Hand wird für nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel grundsätzlichaufgehoben. Nur wenn diese von den Kassen erstattetwerden, gelten die Regelungen der Arzneimittelpreis-verordnung fort. Diese Regelung ist zu begrüßen,wenngleich eine völlige Aufhebung der Preisbindungder zweiten Hand für alle Arzneimittel die weiterge-hende Lösung darstellen würde (JG 2002 Ziffer 503).

– Die Vergütung der Apotheken, die sich bisher aus ei-ner proportional zum Einkaufspreis berechneten Han-delsspanne ergab, wird in ein Mischsystem aus einemfesten Honorarbetrag (Fixzuschlag) in Höhe von8,10 Euro pro Packung und einem prozentualen Zu-schlag in Höhe von 3 vH auf den Herstellerabgabe-preis zuzüglich Großhandelszuschlag umgewandelt.Der Apothekenrabatt beträgt zukünftig 2 Euro je Pa-ckung und je abgerechneten Fixzuschlag. Da bisherbei niedrigpreisigen Arzneimitteln der prozentualeAufschlag nicht kostendeckend war, wurden die Be-ratungsleistungen der Apotheken nicht honoriert, undes fand eine Subventionierung der niedrigpreisigendurch die hochpreisigen Arzneimittel statt (JG 2002Ziffer 504). Durch die zu begrüßende Neuregelungwurde diese Subventionierung, die vor allem zu Las-ten der Gesetzlichen Krankenversicherung ging, undder Anreiz der Apotheker zum Verkauf von hochprei-sigen Medikamenten abgeschwächt.

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

– Wie auch vom Sachverständigenrat vorgeschlagen,soll Apotheken der Versandhandel grundsätzlich er-laubt werden, was sich positiv auf den Wettbewerbauswirken dürfte (JG 2002 Ziffer 503).

– Die Apotheker sind zur Abgabe von preisgünstigenimportierten Arzneimitteln verpflichtet, wenn derArzneimittelabgabepreis mindestens 15 vH oder min-destens 15 Euro niedriger als der Preis des Bezugs-arzneimittels ist. Die bisherige Form der Aut-idem-Regelung (JG 2002 Ziffern 263 ff.) wird weitgehendgeändert. Die Apotheker sind zwar weiterhin zur Er-setzung durch ein preisgünstigeres wirkstoffgleichesArzneimittel verpflichtet, Näheres wird aber nichtmehr per Gesetz, sondern von der Selbstverwaltungim Rahmenvertrag auf Bundesebene geregelt.

Die Positivliste, die im Jahr 2004 eingeführt werdensollte, wurde im gemeinsamen Eckpunktepapier von Re-gierung und Opposition abgelehnt. Begründet wurdedies damit, dass die Wirkungen ausreichen würden, dievon der neuen Festbetragsregelung, von der Nutzenbe-wertung von Arzneimitteln und der Herausnahme vonnicht-verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aus demLeistungskatalog ausgehen. Da die Bundesregierung vorallem die Wirkungen der Positivliste mit Blick auf einerationale und qualitätsgesicherte Arzneimitteltherapie inden Vordergrund gestellt hatte, ist die Begründung fürdie Abkehr von der Positivliste verwunderlich.

Verwaltungsausgaben der Krankenkassen

298. Die Verwaltungsausgaben wiesen neben den Arz-neimittelausgaben in den letzten Jahren die höchstenprozentualen Steigerungen auf (JG 2002 Ziffer 239), imJahr 2001 waren die Verwaltungsausgaben je Mitgliedum 4,8 vH und im Jahr 2002 um 5 vH gestiegen. Umdiese Kostendynamik zu bremsen, soll der Anstieg derVerwaltungsausgaben je Versicherten zukünftig an dieEntwicklung der Grundlohnsumme gekoppelt werden.Wenn in einer Kasse die Verwaltungskosten je Versi-cherten die durchschnittlichen Verwaltungsausgaben al-ler Kassen um mehr als 10 vH überschreiten, werden dieVerwaltungskosten im Folgejahr eingefroren. Auch dasBeitragssatzsicherungsgesetz hatte für das Jahr 2003 eingrundsätzliches Einfrieren der Verwaltungsausgabenvorgesehen. Trotzdem kam es im ersten Halbjahr 2003zu einem Anstieg der Verwaltungskosten je Mitglied inHöhe von 3,0 vH. Dies zeigt, dass von einer solchenMaßnahme kein allzu großer Erfolg erwartet werdendarf, weshalb die von der Bundesregierung angesetztenEinsparungen von 0,2 bis 0,3 Mrd Euro jährlich ab demJahr 2004 zu optimistisch sein dürften.

Die Verwaltungskosten je Mitglied differieren zwischenden Krankenkassen teilweise erheblich. So betrugen imJahr 2002 die durchschnittlichen Verwaltungsausgabender Betriebskrankenkassen je Mitglied 106 Euro, die derAllgemeinen Ortskrankenkassen 166 Euro und die derErsatzkassen für Angestellte 177 Euro. Die höchsten Ver-waltungsausgaben je Mitglied hatten die Landwirtschaft-lichen Krankenkassen mit 186 Euro. Die durchschnittli-chen Verwaltungsausgaben bezogen auf die gesamte

Gesetzliche Krankenversicherung betrugen 157 Euro, sodass die Betriebskrankenkassen um rund 33 vH unterdem Durchschnitt und die Landwirtschaftlichen Kranken-kassen um rund 18 vH über dem Durchschnitt lagen. DieVerwaltungskosten je Versicherten (einschließlich mit-versicherten Familienangehörigen) betrugen im Durch-schnitt der Gesetzlichen Krankenversicherung 113 Euro,wobei die Betriebskrankenkassen mit 75 Euro die ge-ringsten und die Bundesknappschaft mit 130 Euro sowiedie Ersatzkassen für Angestellte mit 127 Euro die höchs-ten Verwaltungsausgaben je Versicherten aufwiesen.

Integration aller Sozialhilfeempfänger in die Gesetzliche Krankenversicherung

299. Sozialhilfeempfänger sollen in Zukunft generellin die Gesetzliche Krankenversicherung einbezogenwerden. Sie sind verpflichtet, unverzüglich eine Kran-kenkasse im Bereich ihres Sozialhilfeträgers zu wählen.Der Sozialhilfeträger leistet aber keine Beiträge an dieGesetzliche Krankenversicherung, sondern erstattet derKrankenkasse die für die Sozialhilfebezieher tatsächlichanfallenden Krankheitskosten zuzüglich einer Verwal-tungskostenpauschale von bis zu 5 vH der abgerechne-ten Leistungsaufwendungen. Die Sozialhilfeempfängersind nur leistungsrechtlich, aber nicht mitgliedschafts-rechtlich den GKV-Versicherten gleichgestellt. Aller-dings gelten die Sozialhilfeempfänger im Falle der Be-messung der Gesamtvergütung nach Kopfpauschalen alsMitglieder, das heißt, die Krankenkasse zahlt an die je-weilige Kassenärztliche Vereinigung für die Sozialhilfe-empfänger eine Kopfpauschale. Diese Pauschale lässtsich die Krankenkasse – unabhängig von der tatsächli-chen Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen – vom je-weiligen Sozialhilfeträger vergüten. Honorierungen, dienicht über die Pauschale abgegolten werden, ergebensich nach Ablauf der Abrechnungsperiode aus der Ab-rechnung der Kassenärztlichen Vereinigungen. Mit die-ser Maßnahme wird tendenziell der Missstand beseitigt,dass Sozialhilfeempfängern gleichsam „Privatpatienten-status“ zukam, mit entsprechenden Mehrkosten für dieSozialhilfeträger. Insgesamt handelt es sich bei dieserMaßnahme um einen richtigen Schritt, der die Gleichbe-handlung stärkt und Einsparungen generieren kann(JG 2002 Ziffer 442).

Erhöhung der Transparenz und Stärkung der Patientensouveränität

300. Einer der größten Mängel im deutschen Gesund-heitssystem ist die geringe Transparenz. Der einzelnePatient hat in der Regel keine Informationen über dieQualität und Eignung der Leistungserbringer oder überdie Kosten, die eine bestimmte Behandlung verursacht.Diesen Mängeln wurde teilweise entgegengewirkt, in-dem die Leistungserbringer verpflichtet werden, auf Ver-langen eine Patientenquittung auszustellen. Die Patien-tenquittung soll Informationen über die erbrachteLeistung und deren (vorläufige) Kosten enthalten. Da dieQuittung nur auf Verlangen des Patienten ausgestelltwird und der Versicherte zudem noch eine Aufwandspau-schale in Höhe von 1 Euro (zuzüglich Versandkosten)

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

leisten muss, bleibt abzuwarten, ob sich eine Erhöhungder Transparenz beziehungsweise eine Steuerungswir-kung einstellen wird. Weiterhin soll eine elektronischeGesundheitskarte eingeführt werden, die auf Wunsch desPatienten auch Gesundheitsdaten enthält, was unnötigeDoppeluntersuchungen verhindern kann. Zudem sollenalle Versicherten (nicht nur die freiwilligen Mitglieder)die Möglichkeit haben, abweichend vom Sachleistungs-prinzip die Kostenerstattung zu wählen. Allerdings darfdie Krankenkasse vom Erstattungsbetrag Abschläge fürVerwaltungskosten vornehmen, was die Attraktivität derKostenerstattung einschränken dürfte. Die Transparenzsoll auch dadurch erhöht werden, dass die Versichertenvon der Krankenkasse Informationen über zugelasseneLeistungserbringer sowie über Preise und Qualität vonverordnungsfähigen Leistungen verlangen können. Zu-dem müssen Krankenkassen in ihren Mitgliederzeit-schriften über die Verwendung ihrer Mittel berichten.Dabei haben die Krankenkassen ihre Verwaltungskostengesondert auch als Beitragssatzanteil auszuweisen. EinPatientenbeauftragter soll die Patientenrechte unterstüt-zen und ein „Sprachrohr“ für Patienteninteressen in derÖffentlichkeit sein. Schließlich sollen Patientenverbändeein qualifiziertes Antrags- und Mitberatungsrecht in denSteuerungs- und Entscheidungsgremien, insbesonderebeim Bundesausschuss, erhalten.

Boni, Beitragsrückgewähr und Selbstbehalte

301. Um den Versicherten größere Entscheidungs- undGestaltungsmöglichkeiten beim Versicherungsumfangund der Versicherungsfinanzierung einzuräumen, siehtdas GKV-Modernisierungsgesetz ein Recht für die Kran-kenkassen vor, freiwillig Versicherten Tarife mit Bei-tragsrückgewähr oder Selbstbehalten anzubieten. DerSelbstbehalt muss für alle freiwillig Versicherten einerKasse gleich hoch sein, ein individuelles Angebot einesSelbstbehalts ist nicht zulässig. Selbstbehaltstarife kön-nen nur dann gewählt werden, wenn sich der Versichertefür die Kostenerstattung entschieden hat. Beitragsrück-zahlungen können gewährt werden, wenn die Mitgliederund die mitversicherten Angehörigen (ohne minderjäh-rige Kinder) keine Leistungen zu Lasten der Kranken-kasse in Anspruch genommen haben. Dabei darf derRückzahlungsbetrag ein Zwölftel eines Jahresbeitragsnicht übersteigen. Um Anreize für ein gesundheitsbe-wusstes Verhalten zu setzen, können die Krankenkassenzudem denjenigen Versicherten, die an Präventionspro-grammen, Vorsorgeuntersuchungen oder zum Beispielan einem Hausarztsystem teilnehmen, einen finanziellenBonus in Form einer Zuzahlungs- oder Beitragsermäßi-gung gewähren. Die Aufwendungen für diese Boni müs-sen mittelfristig aus Einsparungen und Effizienzsteige-rungen, die aus diesen Maßnahmen resultieren,finanziert werden.

Für den betroffenen Personenkreis der freiwillig Versi-cherten kann die Einführung von Selbstbehaltstarifenund auch die Beitragsrückgewähr dazu dienen, die Ab-wanderung der guten Risiken unter den freiwillig Versi-cherten in die Private Krankenversicherung und damitdie Risikoentmischung einzudämmen. Solche Tarife tra-

gen somit zur Stabilisierung der Versichertengemein-schaft bei. Auch erhofft man sich Verhaltensänderungender Versicherten, die Ausgabeneinsparungen induzieren.Zusätzlich kann durch die Wahlmöglichkeit unterschied-lichen Präferenzen bezüglich des Verhältnisses von Bei-tragsbelastung zum selbst zu tragenden Restrisiko imKrankheitsfall besser entsprochen werden. Diesen allo-kativen Vorteilen steht allerdings die Gefahr der Risiko-selektion gegenüber: Da individuell steuerbare undnicht direkt beeinflussbare Gesundheitsausgaben nichtklar voneinander getrennt werden können, ergibt sich imZusammenhang mit Selbstbeteiligungen regelmäßig eineTendenz dahin, dass sich Personen mit einem niedrige-ren Erkrankungsrisiko zunehmend dem Ausgleich mithöheren Erkrankungsrisiken entziehen; vor allem jungeund gesunde Versicherte würden Selbstbehaltstarifewählen. Insofern könnten solche Tarife in der Gesetzli-chen Krankenversicherung zu Risikoselektion führen,die mit einer Verschlechterung der finanziellen Situationder Gesetzlichen Krankenversicherung einhergehenkann, da entgangenen Beiträgen in der Summe geringereAusgabeneinsparungen gegenüber stehen; es käme nurzu Mitnahmeeffekten, und Verhaltensänderungen bliebenweitgehend aus. Freiwillige Selbstbehaltstarife führenletztlich zu einer indirekten Risikodifferenzierung derBeiträge, da Personen mit gutem Gesundheitszustanddiese Tarife wählen und deshalb geringere Beiträge zah-len. Das Ausmaß der Risikoseparierung und damit dasAusmaß ungünstiger Verteilungsfolgen für Kranke kanndurch Obergrenzen der wählbaren Selbstbehaltshöhenlimitiert werden.

Insgesamt ergibt sich bei wählbaren Selbstbeteiligungenimmer ein Spannungsverhältnis zwischen Effizienzer-höhung durch Reduktion der Risikoentmischung, durchÄnderung des Nachfrageverhaltens sowie durch präfe-renzgerechten Versicherungsschutz einerseits und un-erwünschte Risikoselektionstendenzen andererseits.Welche Faktoren bedeutender sind, hängt von der tat-sächlichen Ausgestaltung ab und kann von Kasse zuKasse unterschiedlich sein. Empirische Untersuchungenfür die Schweiz, in der es wählbare Selbstbehalte gibt,gelangen zu zwiespältigen Ergebnissen, die von einemsignifikanten Effekt auf die Nachfrage nach medizini-schen Leistungen und einer signifikanten Reduktion derAusgaben bis zu einem geringen Einfluss auf das Patien-tenverhalten reichen. Das Problem der Risikoselektiontritt nicht bei programmgebundenen Bonussystemen auf;werden die Boni an Chroniker-Programme gebunden,partizipieren daran sogar nur die schlechteren Risiken.Ein weiteres Problem besteht in dem so genannten Tarif-Hopping: Junge gesunde Versicherte werden Selbstbe-haltstarife wählen; im Zeitverlauf steigen aber ihre Ge-sundheitsrisiken und damit auch die Neigung, zurück ineine Vollversicherung zu wechseln.

Derzeit bietet beispielsweise die Techniker-Kranken-kasse in einem zunächst auf fünf Jahre begrenzten Mo-dellversuch Selbstbehaltstarife für ihre freiwillig Versi-cherten an. Da der Anteil der freiwillig Versicherten inder Techniker-Krankenkasse relativ hoch ist, soll der Ta-rif vor allem einen Wechsel zur Privaten Krankenversi-cherung verhindern. Bei diesem Tarif erhalten die Versi-cherten zu Jahresbeginn eine Gutschrift in Höhe von

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240 Euro. Für jeden Arztbesuch, ausgenommen Vorsor-geuntersuchungen und Behandlungen eines mitversi-cherten Kindes, müssen sie dann aber 20 Euro selbstzahlen, bis maximal 300 Euro jährlich. Um den Tarif inAnspruch nehmen zu können, gibt es eine Wartefrist voneinem Jahr, was verhindern soll, dass freiwillig Versi-cherte von anderen Kassen abgeworben werden. Derzeithaben rund 8 000 der 1,36 Millionen freiwillig Versi-cherten der Techniker-Krankenkasse diesen Tarif ge-wählt.

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

302. Die Bundesregierung konnte sich nicht mit ihremPlan durchsetzten, ein „Deutsches Zentrum für die Qua-lität in der Medizin“ zu gründen. Die Aufgabe des Zen-trums sollte die Bewertung des medizinischen Nutzensund der Qualität von Leistungen sein. Insbesondere soll-ten Empfehlungen für die zeitgemäße Fortschreibungdes Leistungskatalogs erarbeitet, Behandlungsleitlinienentwickelt und Kosten-Nutzenanalysen für neue Arznei-mittel durchgeführt werden. Dieses Zentrum wurde aberals Schritt in die Staatsmedizin diskreditiert. Daher siehtder Kompromiss zwischen Bundesregierung und Oppo-sition vor, dass die Selbstverwaltungspartner ein Institutfür Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswe-sen gründen.

Das Institut soll grundsätzlich Aufgaben im Auftrag desGemeinsamen Bundesausschusses bearbeiten. Die Auf-gaben des Instituts sind unter anderem:

– Recherche, Darstellung und Bewertung des aktuellenmedizinischen Wissensstands,

– Erstellung von wissenschaftlichen Ausarbeitungen,Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Quali-tät und Wirtschaftlichkeit,

– Bewertung, aber nicht die Entwicklung evidenzba-sierter Leitlinien,

– Abgabe von Empfehlungen zu Disease-Management-Programmen,

– Nutzenbewertung, aber keine Kosten-Nutzenbewer-tung von Arzneimitteln,

– Bereitstellung von allgemeinverständlichen Informa-tionen für die Bürger zur Qualität und Effizienz derGesundheitsversorgung.

Soweit die Kritik am ursprünglich geplanten Zentrumfür die Qualität in der Medizin von den Leistungserbrin-gern kam, muss berücksichtigt werden, dass dabei regel-mäßig auch die Befürchtung einer Überprüfung derLeistungsqualität und damit eines stärkeren Wettbe-werbs im System mitspielte. Solche Bedenken dürfte dieKompromisslösung, die die Kontrolle beim Bundesaus-schuss belässt, nicht hervorrufen.

Reform des Honorierungssystems

303. Die bisher zwischen den Krankenkassen und denKassenärztlichen Vereinigungen auf Grundlage von mit-

gliederbezogenen Kopfpauschalen vereinbarten – vomtatsächlichen Leistungsumfang unabhängigen – Honor-arbudgets (JG 2002 Ziffern 493 ff.) werden ab demJahr 2007 abgeschafft und durch arztgruppenspezifischeRegelleistungsvolumina ersetzt. Dazu wird aus der Zahlund Morbiditätsstruktur der Versicherten einer jedenKrankenkasse ein Behandlungsbedarf (Leistungs-menge) ermittelt, der nach bestimmten Kriterien auf dieeinzelnen Arztgruppen verteilt wird. Dieses arztgrup-penbezogene Regelleistungsvolumen wird auf Grund-lage des einheitlichen Bewertungsmaßstabs als Punkt-zahlvolumen ausgedrückt. Die Krankenkassen vergütendie von den Ärzten tatsächlich erbrachten Leistungenmit einem festen, zwischen den KassenärztlichenVereinigungen und den Krankenkassen vereinbartenVergütungspunktwert, bis das Regelleistungsvolumenausgeschöpft ist. Über das Regelleistungsvolumen hin-ausgehende Leistungsmengen werden nur mit 10 vH desPunktwerts vergütet. Damit orientiert sich die Vergütunganders als im Status quo an den tatsächlich erbrachtenLeistungen und an der Morbidität der Versicherten; dasRisiko einer Morbiditätsverschlechterung liegt somitzum größten Teil bei den Krankenkassen.

Aus den arztgruppenbezogenen werden die arztbezoge-nen Regelleistungsvolumina abgeleitet. Auch hier giltein fester Vergütungspunktwert (Regelpunktwert), wo-mit der in Abhängigkeit vom gesamten Leistungsvolu-men der Versorgungsregion schwankende Punktwert er-setzt wird (JG 2002 Ziffer 493). Der Anreiz zurLeistungsausweitung auf Kosten der anderen Ärzte gehtdamit verloren, und der einzelne Arzt hat Kalkulationssi-cherheit hinsichtlich der Höhe seines Honorars. Leistun-gen über das Regelleistungsvolumen hinaus werdenauch hier nur mit 10 vH des Regelpunktwerts vergütet.Da bei der Berechnung des arztbezogenen Leistungsvo-lumens die Zahl der Ärzte berücksichtigt wird, tragendie Krankenkassen nicht das Risiko steigender Arztzah-len. Vor allem die Bestimmung arztbezogener Regelleis-tungsvolumina dürfte mit bedeutenden praktischen Um-setzungsproblemen verbunden sein. Mit Blick auf dieVerhinderung einer angebotsinduzierten Leistungsaus-weitung und auf eine Verbesserung der Qualität wäreeine Vergütung, die sich stärker an Fallpauschalen orien-tiert und einen ergebnisorientierten Anteil enthält, vor-teilhafter gewesen (JG 2002 Ziffer 494).

Integrierte Versorgung und medizinische Versorgungszentren

304. Ein Problem des deutschen Gesundheitswesensbesteht in seiner sektoralen Zergliederung, die Qualitäts-und Wirtschaftlichkeitsdefizite hervorrufen kann. Demsollte grundsätzlich durch den Ausbau von sektorüber-greifenden Versorgungsstrukturen begegnet werden. Zu-künftig können im Rahmen der integrierten Versorgungdie Krankenkassen Einzelverträge mit den Leistungser-bringern außerhalb des Sicherstellungsauftrags abschlie-ßen. Einflussmöglichkeiten der Kassenärztlichen Verei-nigungen sollen beseitigt werden, womit ein Fehler inder bisherigen gesetzlichen Regelung der integrierten

201

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Versorgung korrigiert wurde (JG 2000 Ziffer 487). DasVertragsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungenwird somit in diesem Bereich aufgebrochen. Um An-reize zur Vereinbarung integrierter Versorgungsverträgezu geben, kann jede Krankenkasse in den Jahren 2004bis 2006 bis zu 1 vH der jeweiligen Gesamtvergütung imambulanten Bereich und der Krankenhausvergütung ein-behalten und damit die in den Integrationsverträgen ver-einbarte Vergütung finanzieren.

Außerdem werden medizinische Versorgungszentren alsLeistungserbringer zugelassen. In diesen Versorgungs-zentren soll die fachübergreifende Zusammenarbeit ge-fördert werden, indem sowohl ärztliche als auch nicht-ärztliche Heilberufe eine Versorgung quasi aus einerHand anbieten. In medizinischen Versorgungszentrenkönnen Freiberufler wie auch Angestellte tätig sein. ImRahmen der integrierten Versorgung und der haus-arztzentrierten Versorgung können medizinische Versor-gungszentren Einzelverträge mit den Krankenkassen ab-schließen.

Weitere Reformschritte

305. Im GKV-Modernisierungsgesetz sind unter an-derem noch die folgenden Reformmaßnahmen enthal-ten:

– Bei einem Aufenthalt in Ländern der EuropäischenUnion ist es den GKV-Versicherten grundsätzlich er-laubt, die dortigen Leistungsanbieter in Anspruch zunehmen. Eine Genehmigung der Krankenkasse ist nurbei einem Krankenhausaufenthalt erforderlich.

– Um die Qualität der Gesundheitsversorgung zuverbessern, sollen Vertragsärzte zur Fortbildungverpflichtet werden. Den Kassenärztlichen Vereini-gungen obliegt es, die Einhaltung der Fortbildungs-verpflichtung ihrer Mitglieder zu überprüfen. Wirdein Fortbildungsnachweis nicht erbracht, muss derArzt Vergütungsabschläge hinnehmen.

– Die Krankenkassen sind verpflichtet, Hausarztsys-teme anzubieten. Zur Sicherstellung dieser haus-arztzentrierten Versorgung können sie mit denHausärzten Einzelverträge abschließen. Für die Ver-sicherten ist die Teilnahme freiwillig. Allerdings kanndie Krankenkasse für Teilnehmer an dieser Ver-sorgungsform einen Bonus gewähren. Obwohl dieHausarztbehandlung generell weniger kosteninten-siv als die Facharztbehandlung ist, dürften Einspa-rungen durch Hausarztmodelle ohne evidenzbasierteMedizin nur in geringem Umfang erzielt werden, dain vielen Fällen der Allgemeinmediziner unnötiger-weise zuerst aufgesucht werden muss und weil gege-benenfalls die Mittel für die Boni aufgebracht werdenmüssen.

– Die Kooperation zwischen Krankenkassen und priva-ten Versicherungsunternehmen im Bereich der Zu-satzversicherungen (zum Beispiel Ein- oder Zweibett-zuschlag) wird zugelassen und dadurch derKassenwettbewerb tendenziell gestärkt.

– Vertragsärzte sollen Bonuszahlungen erhalten, wennsie sich an die im Rahmen der Arzneimittelvereinba-rung zwischen Kassen und Ärzten festgelegten Richt-größen für verordnete Leistungen halten. In der Arz-neimittelvereinbarung wird unter anderem dasAusgabenvolumen für Arzneimittel bestimmt (JG 2001Ziffer 268). Der Anreiz, die getroffenen Vereinbarun-gen einzuhalten, wird durch diese Maßnahme zwarerhöht, allerdings ist eine Belohnung für das „Nor-male“ etwas zweifelhaft.

– Das Mitgliedschafts- und Organisationsrecht derKrankenkassen wird harmonisiert. Zudem dürfen sichneu errichtete Betriebs- und Innungskrankenkassenbis zur Einführung eines morbiditätsorientierten Ri-sikostrukturausgleichs am 1. Januar 2007 nicht fürbetriebs- oder innungsfremde Versicherte öffnen.Dieses Öffnungsmoratorium soll die – durch die Un-zulänglichkeiten des derzeitigen Risikostrukturaus-gleichs verursachte – Risikoselektion (JG 2001Ziffern 262 ff.) zugunsten dieser Kassen verhindern.Gleichwohl ist ein solcher Schritt ordnungspolitischbedenklich.

– Zur Durchführung von Disease-Management-Pro-grammen und für hochspezialisierte Leistungen so-wie in unterversorgten Gebieten soll es eine Öffnungder Krankenhäuser für ambulante Behandlungen ge-ben. Damit wird die sektorübergreifende Gesund-heitsversorgung gestärkt.

– Die gemeinsame Selbstverwaltung soll entbürokrati-siert werden, indem an die Stelle der bisherigen Bun-desausschüsse, des Ausschusses Krankenhaus unddes Koordinierungsausschusses ein GemeinsamerBundesausschuss tritt, dessen Mitglieder die GKV-Spitzenverbände, die Kassenärztliche Bundesvereini-gung, die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigungund die Deutsche Krankenhausgesellschaft sind.

Der Kompromiss zwischen Bundesregierung und Oppo-sition ist in einigen Bereichen hinter dem ursprüngli-chen Gesetzentwurf der Regierung zurückgeblieben. Zunennen ist hier zum einen das Vertragsmonopol derKassenärztlichen Vereinigungen, das im ursprüngli-chen Gesetzentwurf durch eine weitergehende Zulas-sung von Einzelverträgen deutlicher aufgebrochen wer-den sollte, nun aber im Wesentlichen erhalten bleibt.Zum anderen hätte die ursprünglich geplante Möglich-keit von kassenartenübergreifenden Fusionen die Bil-dung von leistungsfähigen Einheiten begünstigen, dasAusnutzen von Skalenerträgen fördern und den Kassen-wettbewerb stärken können. Auf der Einnahmeseiteblieb die dringend benötigte Reform des Finanzierungs-systems aus.

Insgesamt soll die Gesetzliche Krankenversicherungdurch das GKV-Modernisierungsgesetz im Jahr 2004 umrund 9,8 Mrd Euro entlastet werden (Tabelle 42), diesentspricht in etwa einem Beitragssatzpunkt. Damit dieseEntlastung nicht hauptsächlich zur Schuldentilgung undzur Auffüllung der Rücklagen verwendet werden muss,sondern zu Beitragssatzsenkungen führt, erlaubt das Ge-setz eine Streckung der Schuldentilgung bis Ende des

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

Jahres 2007. Zudem werden im Gesetz konkret diejeni-gen Entlastungen genannt, die für Beitragssatzsenkun-gen dienen müssen, zum Beispiel die Entlastungen durchden Bundeszuschuss oder durch den zusätzlichen Bei-tragssatz. Die übrigen Entlastungen müssen mindestenszur Hälfte zur Senkung der Beitragssätze verwendetwerden. Mithin soll laut GKV-Modernisierungsgesetzschon im Jahr 2004 der durchschnittliche allgemeineBeitragssatz um 0,7 Prozentpunkte auf 13,6 vH sinken.In den Folgejahren nimmt das Entlastungsvolumen zu,und der angestrebte Beitragssatz von unter 13 vH soll imJahr 2005 erreicht werden. Allerdings müssen die Versi-cherten dann zusätzlich zum halben Beitragssatz nochdie Zahnersatzversicherung finanzieren. So wird imJahr 2006, wenn der zusätzliche Beitragssatz von 0,5 vHerhoben wird, der (rechnerische) Arbeitnehmerbeitragvon 6,45 auf 6,60 vH steigen, und der Arbeitgeberbei-trag soll 6,10 vH betragen. Der rechnerische Gesamtbei-tragssatz sinkt also auch im Jahr 2006 nur knapp unter13 vH. Ausgehend von der Ausgabendynamik im Ge-sundheitswesen der letzten Jahre und aufgrund der Tat-sache, dass der Ausgangsbeitragssatz für die Entlas-tungsberechnungen von 14,3 vH schon bei derVerabschiedung des Gesetzes wenig realistisch war,dürften aber auch diese Beitragssatzziele noch zu opti-mistisch sein, so dass noch innerhalb des Planungshori-zonts dieser Gesundheitsreform weitere Reformen aufder politischen Agenda stehen werden.

Reform des Finanzierungssystems: Pauschalprämie versus Bürgerversicherung

306. Da die Gesundheitsreform 2003 sofort nach demBekanntwerden der Eckpunkte als nicht ausreichend er-achtet wurde, standen vor allem die beiden von der Rü-rup-Kommission als konzeptionelle Alternativen vorge-schlagenen Modelle zur Reform der Finanzierungsseitedes Gesundheitssystems, die Bürgerversicherung unddas Gesundheitsprämienmodell, in der politischen Dis-kussion. Die über einkommensproportionale Beiträge fi-nanzierte Bürgerversicherung ist eher verteilungspoli-tisch motiviert sowie am Leistungsfähigkeitsprinziporientiert und hat eine Ausweitung der Beitragsgrund-lage und die Erweiterung des Versichertenkreises zumZiel. Das Modell der pauschalen Gesundheitsprämie isteher beschäftigungspolitisch motiviert sowie am Äqui-valenzprinzip orientiert und entspricht im Wesentlichendem Vorschlag des Sachverständigenrates (JG 2002Ziffern 520 ff.).

Gesundheitsprämienmodell

307. Die Hauptmerkmale des Gesundheitsprämienmo-dells, wie es vom Sachverständigenrat und auch einemTeil der Rürup-Kommission vorgeschlagen wurde, be-stehen darin, dass jeder Erwachsene einen für die jewei-lige Krankenkasse einheitlichen Pauschalbeitrag zahlt.Der Beitrag kann dabei zwischen den Krankenkassen, je

Ta b e l l e 42

Entlastungswirkung durch die Gesundheitsreform 20031)

2004 2005 2006 2007

Mrd Euro

Leistungsausgrenzungen .......................................................... 2,5 2,5 2,5 2,5 Zuzahlungen ............................................................................ 3,2 3,2 3,2 3,2 Bundeszuschuss ....................................................................... 1,0 2,5 4,2 4,2 Beiträge aus Versorgungsbezügen ........................................... 1,6 1,6 1,6 1,6 Struktureffekte ......................................................................... 1,5 2,0 2,5 3,0 Summe der Entlastungen ........................................................ 9,8 11,8 14,0 14,5

Beitragssatzpunkte (vH)

Potentielle Entlastung .............................................................. 1,0 1,2 1,4 1,5

Schuldenabbau und Rücklagenauffüllung ............................. 0,3 0,2 0,2 0,2

Spielraum für Beitragssatzsenkungen ................................... 0,7 1,0 1,2 1,3

Zusätzlicher Beitragssatz (Umfinanzierung Krankengeld) ...... . . 0,5 0,5

Ausgliederung des Zahnersatzes .............................................. . 0,4 0,4 0,4 Allgemeiner Beitragssatz2) ...................................................... 13,6 12,9 12,2 12,1

Rechnerischer Gesamtbeitragssatz ....................................... 13,6 12,9 12,7 12,6

Rechnerischer Arbeitnehmer-Beitragssatz ............................ 6,80 6,45 6,60 6,55 Arbeitgeber-Beitragssatz ...................................................... 6,80 6,45 6,10 6,05

1) Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG). - 2) Im GKV-Modernisierungsge-setz wird als Ausgangspunkt für die Entlastungsrechnungen ein allgemeiner Beitragssatz von 14,3 vH zugrunde gelegt.

Quelle für Grundzahlen: BMGS

203

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

nach Versichertenstruktur und Effizienz der Kasse, vari-ieren. Der Versichertenkreis beschränkt sich auf die der-zeit in der Gesetzlichen Krankenversicherung versicher-ten Personen; eine Versicherungspflichtgrenze, bei derenÜberschreiten ein Wechsel in die Private Krankenversi-cherung möglich ist, bleibt bestehen. Die beitragsfreieMitversicherung von nicht-erwerbstätigen Ehegattenwird aufgehoben. Die Rürup-Kommission geht von ei-ner durchschnittlichen monatlichen Pauschalprämie von210 Euro aus. Die Pauschale könnte allerdings geringersein, wenn – wie vom Sachverständigenrat vorgeschla-gen – die Leistungen in Folge von privaten Unfällen, derZahnersatz und die versicherungsfremden Leistungenaus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Kranken-versicherung ausgegliedert würden (JG 2002 Zif-fern 490 ff.). Berücksichtigt man zudem die zusätzlichenEinnahmen aus der vorgeschlagenen Praxisgebühr undgliedert außerdem noch das Krankengeld aus, da es beieiner Pauschalprämienfinanzierung einen Fremdkörperdarstellen würde, könnte die monatliche Pauschalprämieauf durchschnittlich 165 Euro sinken.

308. Der soziale Ausgleich, also die unverzichtbareUmverteilung zwischen Beziehern hoher (Arbeits-)Ein-kommen und Beziehern geringer (Arbeits-)Einkommen,soll aus der Gesetzlichen Krankenversicherung in dasSteuer- und Transfersystem verlagert werden. Konkretsoll nach den Vorstellungen der Rürup-Kommission einZuschuss zu den Gesundheitsprämien in der Höhe ge-zahlt werden, in der die (durchschnittliche) Prämie einenbestimmten zumutbaren Eigenanteil übersteigt. DieserEigenanteil wird als Prozentsatz des gesamten Brutto-einkommens ausgedrückt (Eigenanteilssatz). Je nach-dem, wie hoch die unterstellte Pauschalprämie ist undwie hoch der Eigenanteilssatz gewählt wird, variiert dasZuschussvolumen, das über Steuern finanziert werdenmuss. Beispielsweise würde bei einer Pauschalprämievon 210 Euro und einem konstanten Eigenanteilssatzvon 13,3 vH das Zuschussvolumen 28,4 Mrd Euro betra-gen. Unterstellt man für die Pauschalprämie 165 Euro,reduziert sich das Zuschussvolumen bei gleichem Eigen-anteilssatz auf 15,6 Mrd Euro. Allerdings ist realisti-scherweise nicht zu erwarten, dass die Prämien für eineKrankengeldversicherung, für eine private Unfallversi-cherung und für eine Zahnersatzversicherung von ein-kommensschwachen Personen ohne staatliche Hilfe ge-zahlt werden können.

309. Die Zuschüsse zur Pauschalprämie können prinzi-piell durch Steuererhöhungen, Ausgabensenkungen oderKredite finanziert werden. Die Rürup-Kommissionschlägt vor, die Zuschüsse zum größten Teil durch dieAuszahlung und Versteuerung des Arbeitgeberbeitragszur Krankenversicherung aufzubringen: Der bisherigeArbeitgeberbeitrag sowie der Zuschuss des Arbeitgebersfür freiwillig Versicherte und PKV-Versicherte werdenbei der Umstellung zum Gesundheitsprämiensystem alsBruttolohn ausgezahlt und sowohl der Besteuerung un-terworfen als auch mit Beiträgen für die anderen Zweigeder Sozialversicherung belegt. Im Prinzip handelt es sichalso um eine Lohnsteuerfinanzierung. Entsprechend sol-len die bisherigen Beiträge der Rentenversicherungs-

träger an die Gesetzliche Krankenversicherung denBruttorenten zugeschlagen werden. Die erzeugten Mehr-einnahmen aus der Einkommensteuer einschließlich So-lidaritätszuschlag belaufen sich auf 18,6 Mrd Euro imJahr 2003, so dass bei den Vorschlägen der Rürup-Kom-mission im Falle eines Eigenanteilssatzes von 13,3 vHeine Finanzierungslücke von 9,8 Mrd Euro verbleibt, diejeweils durch Einsparungen oder andere Steuern gedecktwerden müsste. Legt man die Pauschalprämie von165 Euro zugrunde, ergibt sich ein Finanzierungsüber-schuss von 3 Mrd Euro, der zum Beispiel für staatlicheZuschüsse an Einkommensschwache zu einer privatenUnfallversicherung und privaten Zahnersatzversiche-rung oder für Steuersenkungen verwendet werdenkönnte. Die zusätzlichen Beitragseinnahmen aufgrundder Verbeitragung des höheren Bruttolohns machen inden anderen Zweigen der Sozialversicherung (Gesetzli-che Rentenversicherung, Soziale Pflegeversicherungund Arbeitslosenversicherung) Beitragssatzsenkungen inHöhe von insgesamt rund 1,7 Prozentpunkten möglich.

310. Aus der Sicht des Sachverständigenrates könnendie allokativen Wirkungen des Gesundheitsprämien-modells wie folgt zusammengefasst werden:

– Die unmittelbare Anbindung der Krankenversiche-rungsbeiträge an die Arbeitseinkommen wird auf-gegeben; Beitragssteigerungen führen nicht automa-tisch zu höheren Lohnnebenkosten für dieArbeitgeber. Freilich ist nicht abzusehen, inwieweitPrämienerhöhungen bei den Lohnforderungen derGewerkschaften berücksichtigt werden und sich inspäteren Lohnrunden niederschlagen. Da die derzeiti-gen Arbeitgeberbeiträge an den Versicherten als Brut-tolohn ausgeschüttet werden, ändert sich im Zeit-punkt der Umstellung an der absoluten Höhe derArbeitskosten nichts, weshalb von der bloßen Um-stellung keine höhere Arbeitsnachfrage zu erwartenist.

– Der Lohnsteuercharakter des Krankenversicherungs-beitrags mit seinen negativen allokativen Effektenwird beseitigt. Für nicht zuschussbedürftige Per-sonen, also Versicherte mit mittleren und höherenEinkommen, hat eine Pauschalprämie den Charaktereiner Kopfsteuer ohne verzerrende Effekte, denn eineErhöhung des Einkommens hat keine zusätzliche Be-lastung mit Krankenversicherungsbeiträgen zurFolge. Für zuschussbedürftige Personen bleiben Ver-zerrungen auf der Arbeitsangebotsseite erhalten, dazusätzliches Gesamteinkommen den Zuschuss imAusmaß des Eigenanteilssatzes reduziert. Die für dieBeschäftigungswirkungen besonders wichtigenGrenzbelastungen sinken im Vergleich zum Statusquo vor allem im stark besetzten mittleren Einkom-mensbereich drastisch (Schaubild 50).

Der Vergleich der Grenzbelastungen des derzeitigenSystems mit dem Gesundheitsprämiensystem ergibtfür unterschiedliche Einkommensbereiche verschie-dene Ergebnisse, wobei die Grenzbelastung hier dengesamten Abgabenkeil (Einkommensteuer, Solidari-tätszuschlag sowie Sozialversicherungsbeiträge von

204

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

Arbeitgebern und Arbeitnehmern) misst und angibt,welcher Anteil einer marginalen Erhöhung des Ar-beitsentgelts (Bruttolohn plus Arbeitgeberbeiträge)für die Zahlung von Steuern und Sozialversiche-rungsbeiträgen verwendet werden muss. Das Arbeit-nehmerentgelt ist als Bezugsbasis besonders geeig-net, da es sich für einen einzelnen Arbeitnehmerdurch die Reform nur geringfügig ändert und so ei-nen direkten Vergleich der Grenzbelastungen erlaubt:Zwar erhöhen die infolge der Ausschüttung gestiege-nen Bruttolöhne die Arbeitnehmerentgelte, doch fürdie meisten Arbeitsverhältnisse wird dieser Effektdurch die infolge des Reformvorschlags möglicheBeitragssatzsenkung in den übrigen Sozialversiche-rungszweigen wieder ausgeglichen. Grundsätzlichreduziert sich bei einer pauschalen Gesundheitsprä-mie die Grenzbelastung in Höhe des GKV-Beitrags-satzes, da zusätzliches Einkommen den GKV-Beitragnicht erhöht. Auch die Beitragssatzsenkung in denanderen Sozialversicherungszweigen lässt die Grenz-belastungen sinken. Dieser Reduktion der Grenzbe-lastungen wirkt aber zum einen entgegen, dass biszur Beitragsbemessungsgrenze der Teil eines zusätzli-chen Euro Arbeitsentgelts, der im Status quo als(marginaler) Arbeitgeberbeitrag zur GesetzlichenKrankenversicherung steuerfrei ist, nun im Gesund-heitsprämiensystem gegebenenfalls versteuert und

verbeitragt werden muss und deshalb die Grenzbelas-tung einer zusätzlichen Entgelteinheit höher ausfällt.Zum anderen führt der höhere Bruttolohn zu einemhöheren zu versteuernden Einkommen und damitdazu, dass eventuell ein höherer Progressionsbereichim Einkommensteuertarif erreicht wird, was dieGrenzbelastung ebenfalls steigen lässt.

Im Bereich der zuschussberechtigten Einkommen vonetwa 900 Euro bis 1 580 Euro Bruttomonatseinkom-men (Zuschussgrenze bei einem Eigenanteilssatz von13,3 vH und einer Gesundheitsprämie in Höhe von210 Euro) kommen noch zwei weitere die Grenzbe-lastung erhöhende Effekte hinzu: Erstens steigt fürsich genommen die Grenzbelastung, weil ein höheresEinkommen zu einer Reduktion des Zuschusses inHöhe des Eigenanteilssatzes führt. Denn prinzipiellstellt der Eigenanteilssatz nichts anderes als einenKrankenversicherungsbeitragssatz dar. Dieser Satzwird nun aber auch auf das erhöhte Bruttoeinkom-men erhoben, weshalb zweitens die Grenzbelastungdeshalb steigt, weil auf das zusätzliche Bruttoeinkom-men, auf das vormals keine Beiträge erhoben wurden,nun noch „Quasi-Beiträge“ fällig werden. Insgesamtführen die zahlreichen teilweise gegenläufigen Ef-fekte dazu, dass im Zuschussbereich die Grenzbelas-tungen im Gesundheitsprämiensystem höher ausfal-

S c h a u b i l d 50

0

vH

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30

40

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80

30

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Monatliches Arbeitsentgelt (Euro)

Grenzbelastungen des Gesundheitsprämienmodells und der Bürgerversicherung1) 2)

im Vergleich zum Status quo3)

Gesundheitsprämie 210 Euro

Gesundheitsprämie 165 Euro

Bürgerversicherung

Status quo

500 1 000 1 500 2 000 2 500 3 000 3 500 4 000 4 500 5 000 5 500 6 000

1) Zusätzliche Belastung mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen zu den Sozialversicherungen, mit Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag. Bei einer mo-natlichen Gesundheitsprämie von 210 Euro wird die Finanzierungslücke durch eine Anhebung des Solidaritätszuschlags um 4,5 Prozentpunkte geschlossen.–2) Bei einem Eigenanteilssatz von 13,3 vH und einer Pauschalprämie von 210 Euro endet der Zuschussbereich bei einem Monatseinkommen von 1 579 Euro(210 Euro/0,133), dies entspricht 1 911 Euro Arbeitsentgelt. Bei einer Pauschalprämie von 165 Euro beträgt die Zuschussgrenze 1 241 Euro dies entspricht,1 502 Euro Arbeitsentgelt. Die Beitragsbemessungsgrenze der Gesetzlichen Krankenversicherung liegt bei einem Bruttolohn von 3 450 Euro, was einem Arbeits-entgelt von 4 176 Euro entspricht.- 3) Die Neuregelungen zu den Mini- und Midi-Jobs sind nicht berücksichtigt.

6 500

SR 2003 - 12 - 0644

205

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

len als im Status quo. Im stark besetztenEinkommensbereich bis zur Beitragsbemessungs-grenze der Gesetzlichen Krankenversicherung redu-zieren sich dagegen die Grenzbelastungen deutlich.So sinkt sie für einen Alleinstehenden mit dem durch-schnittlichen Bruttomonatseinkommen von rund2 500 Euro (entspricht einem Arbeitsentgelt von etwa3 000 Euro) von 63 vH auf 56 vH; in einem Pau-schalprämienmodell müssen mithin anstatt 63 Centnur noch 56 Cent eines zusätzlichen Euro Arbeitsent-gelts an den Fiskus gezahlt werden. Im Einkommens-bereich jenseits der Beitragsbemessungsgrenze derGesetzlichen Krankenversicherung kommt im We-sentlichen der Progressionseffekt zum Tragen, wes-halb die Grenzbelastungen im Vergleich zum Statusquo geringfügig höher sind; für Personen, deren indi-vidueller Grenzsteuersatz dem Spitzensteuersatz ent-spricht, gibt es keine Änderung der Grenzbelastungmehr. Für Mitglieder in der Privaten Krankenversi-cherung steigt die Grenzbelastung ebenfalls leichtan, da auch bei diesen Personen der bisher steuer-freie Zuschuss des Arbeitgebers zu den Krankenversi-cherungsprämien dem Bruttolohn zugeschlagen wird.

– Das System wird etwas weniger abhängig von der de-mographischen Entwicklung, da die Rentner eben-falls den einheitlichen Pauschalbeitrag zahlen. EineErhöhung des Verhältnisses von Rentnern zu er-werbstätigen Beitragszahlern führt prinzipiell nicht– wie im derzeitigen System – zu Beitragsminderein-nahmen. Die Rentner würden vielmehr stärker zur Fi-nanzierung ihrer Gesundheitskosten herangezogen.So würde der Anteil der Ausgaben der Krankenversi-cherung der Rentner (KVdR), der durch Beiträge derRentner gedeckt wird, in einem Pauschalprämiensys-tem von heute rund 44 vH auf über 65 vH steigen. Si-cherlich sind die Probleme, die durch die Alterung inder Krankenversicherung verursacht werden, wenigerauf der Einnahmeseite als vielmehr auf der Aus-gabenseite zu suchen, weshalb eine solche Reformdes Finanzierungssystems keine „Demographiefes-tigkeit“ generieren kann. Zudem wird ein Teil der de-mographischen Probleme über das Zuschusssystemlediglich ins Steuersystem verlagert.

– Die Transparenz wird erhöht, zum einen deshalb,weil der Beitrag den durchschnittlichen Gesamtaus-gaben pro Kopf der jeweiligen Krankenkasse ent-spricht und insofern stärker kostenäquivalent gestal-tet ist als im gegenwärtigen System; zum anderen,weil die paritätische Finanzierung aufgegeben wirdund sich der Versicherte eher über die vollen Kostender Krankenversicherung klar wird.

– Durch die Verlagerung der Einkommensumverteilungin das Steuer- und Transfersystem werden das Äqui-valenzprinzip in der Gesetzlichen Krankenversiche-rung gestärkt und der Steuercharakter der Beiträge re-duziert. Die Gesetzliche Krankenversicherung wirdso ihrer primären Aufgabe, dem Ausgleich zwischenGesunden und Kranken sowie zwischen niedrigenund hohen Gesundheitsrisiken, besser gerecht.

– Die Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit derBeitragseinnahmen wird beseitigt, da die Pauschal-

prämie unabhängig vom Einkommen ist. Freilichwird die Konjunkturabhängigkeit teilweise nur insSteuersystem verlagert, da in einer schlechten kon-junkturellen Situation mit höherer Arbeitslosigkeitdas Zuschussvolumen steigen dürfte.

– Der Umfang des Risikostrukturausgleichs könnte aufschätzungsweise 40 vH des heutigen Volumens redu-ziert werden, weil der Finanzkraftausgleich durch dieAbschaffung der einkommensabhängigen Umvertei-lung obsolet wird. Die Zielgenauigkeit des Risiko-strukturausgleichs könnte dadurch erhöht und derVerwaltungsaufwand reduziert werden.

– Ein weiterer Vorteil des Gesundheitsprämienmodellsergibt sich aus der Tatsache, dass der soziale Aus-gleich über Steuern finanziert werden muss und dieKosten des sozialen Ausgleichs mit höheren Prämiensteigen. So wird der Anreiz, Verschiebebahnhöfe zuverwenden, um die Finanzen des allgemeinen Staats-haushalts oder anderer Sozialversicherungszweigeauf Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung zuentlasten, reduziert (JG 2002 Ziffern 247 ff.). Dieserpositive Effekt sollte den wohl teilweise berechtigtenBedenken, dass bei einem über Steuern finanziertenZuschusssystem Leistungskürzungen nach Kassen-lage möglich sind, entgegengehalten werden. Einpraktisches Problem ergibt sich aus der Tatsache,dass das zur Gegenfinanzierung vorgesehene Steuer-aufkommen Bund, Ländern und Gemeinden zusteht.Inwieweit die Länder und Gemeinden auch an der Fi-nanzierung des Zuschusses beteiligt werden können,ist fraglich.

– Wenn der Zuschuss an der durchschnittlichen Pau-schalprämie über alle Kassen festgemacht wird, ha-ben zum Beispiel auch Arbeitslose – anders alsheute – einen Anreiz, in eine günstigere Kasse zuwechseln. Der Wettbewerb zwischen den Kassenkann dadurch gestärkt werden.

– In einem Gesundheitsprämienmodell mit Versiche-rungspflichtgrenze existiert genauso wie im gegen-wärtigen System das Problem, dass Personen mitgutem Gesundheitszustand zur Privaten Krankenver-sicherung abwandern und damit tendenziell eine Risi-koentmischung erzeugen können. Diese Gefahr derRisikoentmischung könnte im Pauschalprämiensys-tem grundsätzlich reduziert und die Versichertenge-meinschaft stabilisiert werden, wenn freiwilligVersicherte, die im Status quo in die Private Kranken-versicherung wechseln würden, in einem Gesund-heitsprämienmodell diesen Wechsel unterließen, weilder GKV-Beitrag in diesem System niedriger liegt alsim Status quo. Allerdings wird so der Wechsel nichtnur der besseren, sondern auch der schlechteren Risi-ken gebremst. Liegt für Personen mit gutem Gesund-heitszustand der alternative Beitrag zur PrivatenKrankenversicherung unterhalb der Pauschalprämie,die das durchschnittliche Ausgabenrisiko eines GKV-Mitglieds widerspiegelt, dann werden theoretischdiese guten Risiken auch bei einem Pauschalprämien-system in die Private Krankenversicherung wechseln.Die schlechteren Risiken, deren alternative PKV-Prä-mie höher als die Pauschalprämie aber niedriger als

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

der GKV-Beitrag im Status quo ist, werden bei Ein-führung eines Pauschalprämiensystems nicht mehrzur Privaten Krankenversicherung wechseln, sondernin der Gesetzlichen Krankenversicherung bleiben.Die Risikoentmischung könnte sich so theoretisch so-gar noch verschärfen, da die guten Risiken weiterhinwechseln, die schlechteren Risiken, die vorher nochzur Privaten Krankenversicherung gewechselt wären,dies nun aber unterlassen. Die Evidenz zeigt aller-dings, dass die Einstiegstarife zur Privaten Kranken-versicherung (ohne Risikozuschläge) eher höher sindals eine Pauschalprämie von 210 Euro monatlich, sodass in einem Pauschalprämiensystem durchaus auchgute Risiken in der Gesetzlichen Krankenversiche-rung bleiben. Zudem muss – auch weil die Rückkehrzur Gesetzlichen Krankenversicherung kaum mög-lich ist – immer noch von einer gewissen Wechsel-trägheit zur Privaten Krankenversicherung ausgegan-gen werden, die verhindert, dass sofort alle freiwilligVersicherten in die Private Krankenversicherung ab-wandern, sobald ihr GKV-Beitrag die alternativePKV-Prämie übersteigt. Diese Wechselträgheit dürftemit abnehmender Differenz zwischen GKV-Beitragund alternativem PKV-Beitrag zunehmen. Genaudiese Differenz wird aber durch die Einführung derPauschalprämie verringert. Weiterhin liegt der Anteilder Personen, die in der Privaten Krankenversiche-rung Risikoaufschläge zahlen, nach Angaben der pri-vaten Krankenversicherer derzeit in der Größenord-nung von 5 vH, womit sich zeigt, dass heute schondie etwas schlechteren Risiken kaum zur PrivatenKrankenversicherung wechseln. Letztlich bleibt aberder Gesamteffekt der Einführung eines Gesundheits-prämiensystems auf die Risikostruktur unklar.

311. In der bisherigen öffentlichen Diskussion hat sichgezeigt, dass für die Akzeptanz des Pauschalprämienmo-dells im politischen Raum nicht die positiven allokativenEffekte, sondern die Verteilungswirkungen des Mo-dells besonders wichtig sind. Diese hängen wesentlichvon der Ausgestaltung des Zuschusssystems und dessenFinanzierung ab. Grundsätzlich wird durch die Verlage-rung der Einkommensumverteilung auf das Steuersys-tem die Verteilungsgerechtigkeit in dem Sinne verbes-sert, dass zur Finanzierung des sozialen Ausgleichs imPrinzip alle Steuerzahler mit ihrem gesamten Einkom-men herangezogen werden und nicht nur die Versicher-ten in der Gesetzlichen Krankenversicherung mit ihremArbeitseinkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze.

312. Betrachtet man einen typisierten alleinstehendenin der Gesetzlichen Krankenversicherung versichertenArbeitnehmer, so ergeben sich beim Übergang vom der-zeitigen System auf ein Gesundheitsprämiensystem miteiner Pauschalprämie von 210 Euro und einem Eigenan-teilssatz von 13,3 vH für geringe Bruttoarbeitseinkom-men unter 900 Euro weder Mehrbelastungen noch Ent-lastungen, da der Eigenanteil gerade den bisher gezahltenGKV-Beiträgen entspricht (Schaubild 51, Seite 208).Diesen Eigenanteil „finanziert“ er aus seinem bisherigenArbeitnehmerbeitrag und aus dem ausgeschütteten Ar-beitgeberbeitrag. Ab etwa 900 Euro monatlichem Brut-

toeinkommen setzt die Einkommensbesteuerung ein.Jetzt wird der ausgeschüttete Arbeitgeberbeitrag besteu-ert, und somit steht nicht mehr der gesamte Betrag zurZahlung von GKV-Beiträgen zur Verfügung. Es kommtzu einer Mehrbelastung des Versicherten. Bei einemBruttoarbeitseinkommen von 1 458 Euro monatlich ent-spricht die Pauschalprämie gerade dem vorher gezahltenGKV-Beitrag (bei einem Beitragssatz von 14,4 vH); dierelative Mehrbelastung sinkt ab jetzt kontinuierlich. DieEntlastungszone wird ab einem Arbeitseinkommen vonrund 1 700 Euro erreicht. Ab hier ist die Pauschalprämieplus zusätzlicher Steuer geringer als der GKV-Beitragim Status quo. Die Entlastung für den typisierten allein-stehenden Arbeitnehmer nimmt nun stetig zu und er-reicht ihren Höhepunkt bei einem Bruttoarbeitseinkom-men in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze. Ab dortsteigt die Differenz zwischen Pauschalprämie und GKV-Beitrag im Status quo nicht mehr, wegen der Steuerpro-gression erhöht sich zudem die Steuerbelastung der aus-geschütteten Beiträge relativ, so dass insgesamt die rela-tive Entlastung mit weiter zunehmenden Einkommenabnimmt.

Im Falle eines Alleinverdienerehepaares mit ausschließ-lich Arbeitseinkommen verlängert sich der belastungs-neutrale Bereich bis auf 1 500 Euro monatliches Brutto-einkommen, da die Besteuerung erst später einsetzt. Beihöheren Einkommen kommt es wie im Falle des Allein-verdieners zu Mehrbelastungen. Allerdings treten beieinem Alleinverdienerehepaar im oberen Einkommens-bereich faktisch keine Entlastungen auf, da die beitrags-freie Mitversicherung von Ehegatten wegfällt.

313. Eine für die Rürup-Kommission erstellte empiri-sche Untersuchung auf Basis eines Mikrosimulations-modells ergibt ganz ähnliche Verteilungswirkungen wiedie typisierende Betrachtung: Für geringe Einkommenzeigen sich leichte Entlastungen, für mittlere Einkom-men bis etwa 30 000 Euro jährlich kommt es zu Mehrbe-lastungen, und die höheren Einkommen ab 30 000 Eurowerden entlastet (Schaubild 52, Seite 209), wobei dieseGruppe rund 56 vH der Haushalte ausmacht.

Disaggregiert nach der sozialen Stellung ergibt sich ausder empirischen Mikrosimulationsstudie für Arbeiterund Angestellte eine Mehrbelastung bis zu einem jährli-chen Bruttogesamteinkommen von 25 000 Euro. DieseGruppe macht rund 14 vH der Arbeiter- und Angestell-tenhaushalte aus. Entsprechend werden 86 vH der Ar-beiter- und Angestelltenhaushalte entlastet. Diese Ent-lastungen betragen im Bereich zwischen 60 000 Euround 100 000 Euro über 3 vH des verfügbaren Einkom-mens. Rentnerhaushalte werden bis zu einem Bruttoein-kommen von 20 000 Euro belastet, was auf den Wegfallder beitragsfreien Mitversicherung von Ehegatten undauf die Heranziehung von anderen Einkommensarten(einschließlich des ausgeschütteten Anteils der Renten-versicherungsträger) bei der Bemessung des zumutbarenEigenanteils zurückzuführen ist. Dies trifft 48 vH derRentnerhaushalte.

207

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

314. Bei der hier dargestellten Analyse der Vertei-lungswirkungen ergibt sich grundsätzlich das Problem,dass ein Vergleich mit dem Status quo durchgeführtwird, obwohl dieser aufgrund der vorliegenden inkonsis-tenten Verteilungswirkungen innerhalb der GesetzlichenKrankenversicherung eigentlich keinen adäquaten Ver-gleichsmaßstab darstellen kann. Außerdem muss bei derBetrachtung der Verteilungseffekte berücksichtigt wer-den, dass die vorgeschlagene Finanzierung des Zu-schussvolumens über die Besteuerung der Arbeitgeber-beiträge bei einer zugrunde gelegten Pauschalprämievon 210 Euro und einem Eigenanteilssatz von 13,3 vHeine Finanzierungslücke in Höhe von 9,8 Mrd Euro of-fen lässt. Die Schließung dieser Lücke führt ihrerseits zuVerteilungseffekten, die bei einer abschließenden Beur-teilung berücksichtigt werden müssen. Wird zum Bei-spiel zur Schließung der Lücke die Umsatzsteuer erhöht,verstärkt sich der regressive Effekt der Einführung einesPauschalprämiensystems. Eine Erhöhung des Solidari-tätszuschlags dagegen würde die Entlastung der höherenEinkommen mildern und damit die regressive Vertei-lungswirkung dieses Modells abschwächen. Ein Zu-schlag auf die Einkommensteuerschuld in Höhe von4,5 vH würde die maximale Entlastung von Beziehernhoher Einkommen zum Beispiel von über 2 vH auf1,3 vH des verfügbaren Einkommens reduzieren.

Gleichzeitig konterkarierten diese zusätzlichen Finan-zierungswege aber die positiven allokativen Wirkungendes Gesundheitsprämienmodells. Muss also eine Finan-zierungslücke geschlossen werden, dann sollten deshalbnicht weitere Steuern erhöht, sondern Ausgaben gesenktwerden. Dies kann sowohl durch Ausgabensenkungen inder Gesetzlichen Krankenversicherung selbst geschehen,die dann zu einer Reduktion der Pauschalprämie und da-mit des Zuschussvolumens führen, als auch durch Aus-gabensenkungen im allgemeinen Staatshaushalt. Diesich daraus ergebenden allokativen Wirkungen dürftenvorteilhafter sein als die einer Steuererhöhung. Legt mandie vom Sachverständigenrat vorgeschlagenen Reform-maßnahmen zugrunde, muss keine Finanzierungslückegeschlossen werden, weshalb die allokativen Vorteiledes Pauschalprämienmodells voll zur Geltung kommenkönnten. Freilich führte die gesonderte Absicherung desZahnersatzes und der privaten Unfälle zu relativenMehrbelastungen vor allem im unteren Einkommensbe-reich und ginge damit zu Lasten des Verteilungsziels.

Bürgerversicherung

315. Die so genannte Bürgerversicherung will dieZiele einer Senkung der Lohnnebenkosten, einer gerin-geren Konjunkturabhängigkeit und einer Stabilisierungder GKV-Finanzen sowie einer größeren Gerechtigkeit

S c h a u b i l d 51

1) Neben den Arbeitseinkommen gibt es keine zusätzlichen Einkommen.– 2) Die Neuregelungen zu den Mini- und Midi-Jobs sind nicht berücksichtigt.– 3 -) Gesamteffekt der pauschalen Gesundheitsprämie mit sozialem Ausgleich (zumutbarer Eigenbeitrag 13,3 vH des Bruttoarbeitseinkommens).

vH

SR 2003 - 12 - 0645

vH

Quelle: Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme

-3

-2

-1

1

2

3

4

5

6

0

-3

-2

-1

1

2

3

4

5

6

0

400 800 1 200 1 600 2 000 2 400 2 800 3 200 3 600 4 000 4 400 4 800 5 200

Monatliches Bruttoarbeitseinkommen (Euro)

Verteilungseffekte des Gesundheitsprämienmodells für typisierte Versicherte1)

in der Gesetzlichen Krankenversicherung im Vergleich zum Status quo2)

Monatliche Belastung (-) und Entlastung (+) in vH des Bruttoarbeitseinkommens

Ehepaar mit einem Einkommensbezieher3)

Alleinstehender3)

208

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

durch eine Ausweitung der Beitragsbemessungsgrund-lage erreichen. Die Finanzierungsbasis soll durch dieAnhebung der Beitragsbemessungsgrenze, die Vergröße-rung des Versichertenkreises und durch die Berücksich-tigung anderer Einkunftsarten ausgeweitet werden. Ins-gesamt erwartet man davon kurz- und mittelfristig eineBeitragssatzsenkung um 1,3 Prozentpunkte und langfris-tig um 2,0 Prozentpunkte.

316. Gemäß dem von der Rürup-Kommission ebenfallsbeschriebenen Modell der Bürgerversicherung soll dieBeitragsbemessungsgrenze von derzeit 3 450 Euro auf5 100 Euro – die Beitragsbemessungsgrenze in der Ge-setzlichen Rentenversicherung für Westdeutschland –angehoben werden. Dies führt zu zusätzlichen Beiträgenvon Personen, deren Einkommen derzeit die Beitragsbe-messungsgrenze übersteigt, und zu zusätzlichen Belas-tungen für deren Arbeitgeber. Für sich genommen er-möglicht die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzegemäß den Ergebnissen eines MikrosimulationsmodellsBeitragssatzsenkungen in Höhe von etwa 0,8 Prozent-punkten.

317. Zudem sollen als Beitragsgrundlage nicht nur dieArbeitnehmereinkommen, sondern auch die anderenEinkommen herangezogen werden. So sollen Gewinneaus Land- und Forstwirtschaft, aus selbständiger Arbeitund aus Gewerbebetrieb dem Bruttoeinkommen ausnichtselbständiger Arbeit gleichgestellt und dem vollenBeitragssatz unterworfen werden. Außerdem werdenVermögenseinkommen wie Einkünfte aus Vermietungund Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen herange-zogen und verbeitragt. Dabei können von den Vermö-genseinkommen die Werbungskosten und von den Kapi-taleinkünften zudem der Sparerfreibetrag abgesetztwerden. Ein horizontaler Verlustausgleich zwischen deneinzelnen Einkommensarten ist – im Gegensatz zumEinkommensteuerrecht – nicht möglich, so dass aus-schließlich positive Einkommen bei der Beitragsfestset-zung berücksichtigt werden.

Die Einbeziehung zusätzlicher Einkommen in die Bei-tragsbemessungsgrundlage soll der Tatsache Rechnungtragen, dass in der jüngsten Vergangenheit auch dieschwache Entwicklung der Einnahmeseite zu den Bei-tragssatzerhöhungen beigetragen hat (JG 2002 Ziffer 246

S c h a u b i l d 52

-2,5

-2,0

-1,5

-1,0

-0,5

0,5

1,0

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vH

-2,5

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1,0

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0

vH

0 - 10 10 - 15 15 - 20 20 - 25 25 - 30 30 - 40 40 - 50 50 - 60 60 - 80 80 - 100 100 - 120 über 120

Jährliches Bruttohaushaltseinkommen von ... bis unter ... 1 000 Euro

Empirische Verteilungseffekte des Gesundheitsprämienmodellsund der Bürgerversicherung im Vergleich zum Status quo1)

Belastung (-) und Entlastung (+) in vH des verfügbaren Einkommens

1) Da ein direkter Vergleich der Verteilungswirkungen der Bürgerversicherung mit dem Pauschalprämienmodell nur dann aussagekräftig ist, wenn der soziale Aus-gleich des Pauschalprämienmodells voll gegenfinanziert ist, wird in der für die Rürup-Kommission angefertigten Untersuchung angenommen, dass die bei einermonatlichen Pauschalprämie von 210 Euro entstehende Finanzierungslücke durch eine Anhebung des Solidaritätszuschlags um 4,5 Prozentpunkte, also auf 10 vHgeschlossen wird.– a) Stufe 1: Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze und Einbindung anderer Einkommen.– b) Stufe 2: Stufe 1 und Erweiterung des Versicher-tenkreises.

Quelle: Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme

Gesundheitsprämie

Bürgerversicherung, Stufe 2b)

Bürgerversicherung, Stufe 1a)

SR 2003 - 12 - 0629

209

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

und Tabelle 41) und die reine Lohnorientierung einegroße Konjunkturabhängigkeit der Beiträge nach sichzieht. Wenn man zudem unterstellt, dass die Kranken-versicherung auch eine Umverteilung zwischen Leis-tungsfähigen (Bezieher höherer Einkommen) und weni-ger Leistungsfähigen (Bezieher niedriger Einkommen)bewerkstelligen soll, dann ist es konsequent, die Leis-tungsfähigkeit nicht nur an den Arbeitseinkommen, son-dern am Gesamteinkommen festzumachen. Eine Bei-tragssatzerhöhung würde das gesamte Einkommenbelasten, nicht nur das Arbeitseinkommen. Allerdingswürde die Heranziehung anderer Einkommen allokativeVerzerrungen hervorrufen, da die zusätzlichen Beiträgeals Steuer empfunden werden, was Ausweicheffekte wieKapitalflucht begünstigt. Die finanziellen Effekte einerEinbeziehung weiterer Einkunftsarten werden auf5,3 Mrd Euro geschätzt, was gut 0,5 Beitragssatzpunktenentspricht. Insgesamt würde die Stufe 1 der Bürgerversi-cherung, also die Einbeziehung zusätzlicher Einkunftsar-ten zusammen mit der Anhebung der Beitragsbemes-sungsgrenze, gemäß den Ergebnissen einer empirischenUntersuchung für die Rürup-Kommission eine Beitrags-satzreduktion von 1,3 Prozentpunkten ermöglichen.

318. Der dritte – für ihren Namen wesentliche – Be-standteil der Bürgerversicherung ist die Ausweitung desVersichertenkreises (Stufe 2). Diese soll zum einen da-durch geschehen, dass weitere Erwerbstätigengruppen,namentlich die Beamten, die Selbständigen und dieLandwirte, in der Gesetzlichen Krankenversicherungversicherungspflichtig werden. Die Versicherungspflichtsoll sich letztlich auf die gesamte Bevölkerung erstre-cken. Zum anderen soll durch Anhebung der Versiche-rungspflichtgrenze – in einem ersten Schritt auf5 100 Euro – beziehungsweise Abschaffung der Versi-cherungspflichtgrenze ein Wechsel in die Private Kran-kenversicherung erschwert beziehungsweise ganz ver-hindert werden. Letzteres würde eine Abschaffung derPrivaten Krankenversicherung als Vollversicherung be-deuten und voraussichtlich Verfassungsklagen nach sichziehen. Die Abschaffung der Versicherungspflichtgrenzewürde aber auch – da die Versicherungspflichtgrenze dieGefahr der Risikoentmischung in sich birgt – eine „of-fene Flanke“ der Gesetzlichen Krankenversicherungschließen (JG 2000 Ziffer 483 und JG 2002 Ziffer 513).

Mit der Einbeziehung der gesamten Wohnbevölkerungwird sicherlich verbreiteten Gleichbehandlungs- und Ge-rechtigkeitsvorstellungen genüge getan, indem ein grö-ßerer Personenkreis in die mit dem Umlagesystem ver-bundene implizite Besteuerung einbezogen wird. Diegrößere intragenerative Gerechtigkeit wird aber mit einergeringeren intergenerativen Gerechtigkeit erkauft, da diePrivate Krankenversicherung und damit die Kapitalde-ckung im Gesundheitssystem zurückgedrängt wird undsomit die zukünftig erforderlichen intergenerativenTransfers erhöht werden (JG 2002 Ziffer 513). Dies be-deutet letztlich nichts anderes als eine Lastverschiebungin die Zukunft (JG 2002 Ziffer 524). Gleichwohl könntedie Ausweitung des Versichertenkreises, allerdings ausGründen des Vertrauensschutzes erst nach einer Über-gangszeit, Beitragssatzentlastungen in Höhe von0,7 Beitragssatzpunkten erbringen. Alleine die Einbezie-

hung der Beamten in die Gesetzliche Krankenversiche-rung könnte überschlagsmäßig einen positiven Beitrags-satzeffekt von 0,3 Beitragssatzpunkten generieren, weildie Beamten für die Gesetzliche Krankenversicherung imDurchschnitt einkommensmäßig gute Risiken darstellen.Allerdings kann es auch bei der Einbeziehung von Beam-ten zu verfassungsrechtlichen Problemen kommen.

319. Die allokativen Effekte der Bürgerversicherungsind insgesamt kritisch zu beurteilen. Die Arbeitgeber-beiträge könnten zwar um 0,65 bis 1,0 Prozentpunkte re-duziert werden, allerdings muss berücksichtigt werden,dass damit nicht für alle Arbeitgeber eine Entlastung inentsprechender Höhe verbunden wäre, da eine Anhe-bung der Beitragsbemessungsgrenze auf 5 100 Euro fürdie Arbeitgeber zusätzliche Lohnnebenkosten bedeutenwürde. Je nach Beschäftigtenstruktur des einzelnen Un-ternehmens könnte es sogar zu einer stärkeren Belastungmit Krankenversicherungsbeiträgen kommen.

Der Anteil der Beschäftigten mit einem Einkommen überder derzeitigen Beitragsbemessungsgrenze von 3 450Euro variiert sehr stark zwischen den Branchen. Sobeträgt er im Baugewerbe 5,8 vH, im Bereich der Kraft-fahrzeugherstellung 26,3 vH, im Kredit- und Versiche-rungsgewerbe 21,6 vH und im Bereich Datenver-arbeitung und Datenbanken 40,9 vH. Im letztgenanntenBereich haben sogar 24,3 vH der Beschäftigten ein Ein-kommen über 5 100 Euro. Entsprechend kommt es indieser Branche bei einer Anhebung der Beitragsbemes-sungsgrenze trotz der damit verbundenen Beitragssatz-senkung zu einem Anstieg des durchschnittlichen Mo-natsbeitrags je Arbeitnehmer.

Die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze führt füreinen Arbeitnehmer, dessen Einkommen die bisherigeBeitragsbemessungsgrenze übersteigt, zu einer Reduk-tion des Nettoverdiensts und verursacht die gleichen ver-zerrenden Wirkungen wie eine Anhebung der Lohn-steuer, da diesen zusätzlichen Beiträgen keine höherenLeistungen gegenüberstehen. Für den betreffenden Ar-beitnehmer steigt der Anreiz, in die Private Krankenver-sicherung zu wechseln. Die Grenzbelastungen sinkendurch die Beitragssatzreduktion in den unteren und mitt-leren Einkommensbereichen zwar leicht, durch die Aus-weitung der Beitragsbemessungsgrenze steigen dieGrenzbelastungen aber in dem Einkommensbereich mitohnehin schon sehr hohen marginalen Belastungen aufbis zu 75 vH an (Schaubild 50, Seite 205). Mithin müs-sen 75 Cent an zusätzlichen Abgaben gezahlt werden,wenn das Arbeitsentgelt um einen Euro steigt, was leis-tungs- und beschäftigungsfeindliche Wirkungen entfal-ten dürfte. Zwar erhofft man sich durch die Entlastungder Haushalte mit einer hohen Konsumquote eine Nach-fragesteigerung, die zusätzliche Beschäftigung generiert;die zusätzliche Nachfrage fällt aber nicht so hoch aus,wenn die Arbeitnehmer Beiträge auf sonstige Einkünftezahlen müssen. Zudem könnten nachteilige Wirkungendaraus entstehen, dass Kapitaleinkünfte höher belastetwerden und somit die Kapitalflucht begünstigt wird.Selbst wenn andere Einkommen in die Beitragsbemes-sungsgrundlage einbezogen werden, würden immernoch 95 vH des Beitragsaufkommens aus Arbeitsein-kommen gezahlt, so dass etwaige Beitragssatzsteigerun-

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

gen weiterhin den Faktor Arbeit stark belasten und auchdie Konjunkturabhängigkeit der Beitragseinnahmenkaum reduziert wird. Die Beschäftigungsvorteile, dievon ihren Befürwortern aus der Bürgerversicherung ab-geleitet werden, erweisen sich insgesamt bei näheremHinsehen als äußerst zweifelhaft.

320. Eine stärkere Resistenz gegen die Auswirkungender demographischen Entwicklung kann bei der Bürger-versicherung nur insoweit festgestellt werden, als Rent-ner durch die Einbeziehung anderer Einkommen gegebe-nenfalls höhere Beiträge zahlen. Der Anstieg desVerhältnisses von Rentnern zu Erwerbstätigen belastetaber tendenziell weiterhin die Einnahmeseite.

321. Ein wesentliches Problem der Bürgerversicherungbesteht in ihrer praktischen Umsetzung (JG 2002Ziffer 519). Vor allem die Einkünfte aus Kapitalvermö-gen werden schwer zu erfassen sein, erst recht wenn eineAbgeltungssteuer ohne Kontrollmitteilungen eingeführtwerden sollte. Es ist nicht klar, welcher Einkommensbe-griff der Beitragserhebung zugrunde liegen soll. Teil-weise dienen die Gewinne als Beitragsgrundlage, von ei-nigen Einkommen werden Werbungskosten abgezogenund von Kapitaleinkommen zusätzlich der Sparerfreibe-trag, was der derzeit gemäß § 240 SGB V praktiziertenErmittlung der beitragspflichtigen Einnahmen von frei-willig Versicherten widerspricht. Von Arbeitseinkom-men sind keine Abzüge möglich, womit die Ungleichbe-handlung der verschiedenen Einkunftsarten auch in derBürgerversicherung beibehalten wird. Fraglich ist auch,ob die Krankenkassen oder die Finanzämter die Beiträgeeinziehen sollen. Vieles spricht für eine Finanzamtslö-sung, da bei einem Einzug durch die Kassen eine Mög-lichkeit zur Risikoselektion entstehen könnte: GuteRisiken werden durch eine laxe Kontrolle der Beitrags-grundlage gelockt und schlechte Risiken werden durcheine penible Kontrolle abgeschreckt. Das Problem derFinanzamtslösung besteht darin, dass es eine sehr großeZahl von Versicherten gibt, die nicht zur Abgabe einerEinkommensteuererklärung verpflichtet ist. Hier müssteein Selbstauskunftsverfahren eingeführt werden. Insge-samt würde die Bürgerversicherung tendenziell sehrhohe Inkassokosten hervorrufen, denen ein relativ gerin-ger Beitragssatzeffekt gegenüber stünde.

322. Die Bürgerversicherung hat im Vergleich zumStatus quo eine progressive Verteilungswirkung: DieBezieher höherer Einkommen werden hauptsächlich auf-grund der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze undaufgrund der Einbeziehung von anderen Einkommensar-ten eher belastet, für bestimmte Einkommensbereichedurchschnittlich bis über 2 vH des Haushaltsnettoein-kommens; die Bezieher niedriger und mittlerer Einkom-men, soweit nur Arbeitseinkommen und gegebenenfallsgeringe andere Einkünfte vorhanden sind, werden haupt-sächlich aufgrund der Beitragssatzsenkungen geringfü-gig entlastet (Schaubild 52, Seite 209).

Vergleich des Gesundheitsprämienmodells mit der Bürgerversicherung

323. Ein Vergleich des Gesundheitsprämienmodells mitder Bürgerversicherung zeigt zunächst einen grundsätzli-

chen Unterschied in der Behandlung der Einkommensum-verteilung. In der Bürgerversicherung bleibt die Einkom-mensumverteilung im Versicherungssystem und wirddurch die Einbeziehung anderer Einkommen, die Erhö-hung der Beitragsbemessungsgrenze sowie die Erweite-rung des Versichertenkreises sogar ausgedehnt, gleichzei-tig wird die Beitragserhebung aber auch stärker amLeistungsfähigkeitsprinzip orientiert. Im Gesundheitsprä-mienmodell wird die Einkommensumverteilung aus demSystem eliminiert und damit innerhalb der GesetzlichenKrankenversicherung das Äquivalenzprinzip gestärkt.

324. Die hier diskutierten konkreten Ausgestaltungs-formen der beiden Modelle weisen in einigen Bereichenausgeprägte Gegensätzlichkeiten auf. So sind die Vertei-lungswirkungen fast spiegelbildlich: Personengruppen,die im einen Modell eher belastet werden, werden im an-deren Modell entlastet und umgekehrt. Auch in allokati-ver Hinsicht sind die Effekte entgegengesetzt: Mit derBürgerversicherung würde der Steuercharakter der Bei-träge nicht reduziert, sondern noch ausgebaut. EtwaigeBeitragssatzsteigerungen in der Zukunft haben auf dasAngebot von Produktionsfaktoren die gleichen Wirkun-gen wie entsprechende Steuererhöhungen. Die Nach-frage nach Produktionsfaktoren wird durch die Kosten-steigerungen gedämpft. Höhere Beitragssätze führennach wie vor zu höheren Lohnnebenkosten. Höhere Pau-schalprämien beeinflussen dagegen grundsätzlich wederdas Faktorangebot noch die Faktornachfrage direkt. Sol-che Einflüsse können höchstens indirekt auftreten, durchdas Zuschusssystem, durch höhere Lohnforderungenoder wenn zur Finanzierung des höheren Zuschussbe-darfs Steuern erhöht werden müssen. Der Abgabenkeilwird im Pauschalprämienmodell vor allem im mittlerenund höheren Einkommensbereich bis zur Beitragsbe-messungsgrenze und damit für die Leistungsträger in derGesellschaft deutlich reduziert, was positive Beschäf-tigungseffekte zeitigen dürfte. Die Bürgerversicherungdagegen vergrößert für höhere Einkommen den – für dieBeschäftigungswirkungen entscheidenden – gesamtenAbgabenkeil und erzeugt negative Anreizeffekte.

325. Die mit den beiden Modellen verbundenen unter-schiedlichen Verzerrungswirkungen spiegeln sich in denzu erwartenden Beschäftigungseffekten wider, die mitder Einführung der Modelle verbunden wären. So führtdie Umstellung des Finanzierungssystems der Gesetzli-chen Krankenversicherung auf Pauschalprämien in ei-nem makroökonomischen Simulationsmodell, je nach-dem wie der soziale Ausgleich finanziert wird und obeine offene oder geschlossene Volkswirtschaft betrachtetwird, zu einer Beschäftigungszunahme zwischen 2,4 vHund 3,6 vH (Kasten 8, Seite 212). Eine Bürgerversiche-rung dagegen ist mit einem deutlichen Beschäftigungs-rückgang von bis 3,0 vH verbunden. Wie erwartet wirktvor allem die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzeund die Einbeziehung von Vermögenseinkommen in dieBemessungsgrundlage besonders beschäftigungsfeind-lich. Wenngleich die Ergebnisse des Simulationsmodellsin quantitativer Hinsicht nicht eins zu eins auf die Reali-tät übertragen werden können, ist die Tendenz doch ein-deutig: Die Pauschalprämie erhöht die Beschäftigung,die Bürgerversicherung verringert die Beschäftigung.

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

K a s t e n 8

Simulationsanalyse der Beschäftigungseffekte des Pauschalprämienmodells und der Bürgerversicherung

Für eine erste Abschätzung der makroökonomischen Auswirkungen einer Finanzierung der Gesetzlichen Kran-kenversicherung über Pauschalprämien einerseits und einer Bürgerversicherung andererseits wird ein von Auer-bach und Kotlikoff entwickeltes und anschließend von Fehr und Jess erweitertes Simulationsmodell herangezo-gen. Dabei handelt es sich um ein makroökonomisches intertemporales Gleichgewichtsmodell mit überlappendenGenerationen. Das Modell kann Verhaltensreaktionen der Wirtschaftssubjekte erfassen, und es ist so konstruiert,dass es die institutionellen Gegebenheiten des deutschen Steuer- und Sozialversicherungssystems sowie des demo-graphischen Wandels in Deutschland abbildet. Trotzdem sind teilweise stark vereinfachende Annahmen notwen-dig, weshalb die erzeugten quantitativen Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden müssen, die qualitativenAussagen können aber als robust gelten.

Das Modell

Auf der Haushaltsseite werden die Entscheidungen der privaten Haushalte über ein Lebenszyklus-Modell erklärt.Die Haushalte unterscheiden sich hinsichtlich des Geburtsjahres. In jeder Periode wird eine neue Generation gebo-ren. Innerhalb einer Generation werden die Haushalte in drei (Lebens-)Einkommensklassen unterteilt und jeweilszwischen Arbeitnehmern, Beamten und Selbständigen unterschieden. Für Personen mit hohen Einkommen wird– in Übereinstimmung mit der Realität – unterstellt, dass sie eine längere Lebenserwartung haben als Personen mitniedrigem Einkommen. Zwischen dem Basisjahr 2002 und dem Jahr 2100 steigt die Lebenserwartung von durch-schnittlich 78 Jahre auf 84 Jahre. Die Konsum-, Spar- und Arbeitsangebotsentscheidungen werden modellendogenüber nutzenmaximierendes Verhalten erklärt. Der Alterskonsum wird aus der Auflösung von Ersparnissen, ausKapitaleinkünften und Renteneinkommen finanziert. Das Produktivitätsprofil eines Arbeitnehmers wird exogen sofestgelegt, dass es im Zeitablauf zunächst zunimmt, ab einem bestimmten Alter dann aber abnimmt. Im Unterneh-mensbereich wird von einem repräsentativen Unternehmen ausgegangen, dessen Marktwert maximiert wird. Da-bei verursachen die Investitionen Anpassungskosten, die sich in Form von Outputverlusten niederschlagen. DieInvestitionsentscheidungen folgen der von Tobin entwickelten Q-Theorie.

Es wird eine Einkommensteuer erhoben, die sich aus einer Lohnsteuer und einer Kapitaleinkommensteuer zusam-mensetzt. Auf das zu versteuernde Lohneinkommen wird der Einkommensteuertarif des Jahres 2005 angewendet.Die Kapitaleinkommen werden mit einem einheitlichen Grenzsteuersatz belegt. Auf die Einkommensteuerschuldwird ein Solidaritätszuschlag in Höhe von 5,5 vH erhoben. Mit den Steuereinnahmen werden Ausgaben für öffent-liche Konsumgüter und Transfers an die privaten Haushalte finanziert. Der Budgetausgleich erfolgt über eineKonsumsteuer. In der Ausgangssituation (Status quo) wird zwischen Gesetzlicher Krankenversicherung und Pri-vater Krankenversicherung unterschieden. In der Gesetzlichen Krankenversicherung sind die Beiträge bis zur Bei-tragsbemessungsgrenze vom Lohneinkommen abhängig. Die Private Krankenversicherung erhebt Pauschalbei-träge, die den Gesundheitsausgaben je Versicherten entsprechen. Die Bildung von Alterungsrückstellungen wirdvernachlässigt. Für Beamte wird unterstellt, dass der Staat mit seinen Beihilfezahlungen 70 vH der Gesundheits-ausgaben für Beamte abdeckt, weshalb die Beamten nur 30 vH ihrer Gesundheitsausgaben als Kopfpauschale tra-gen müssen. Es wird angenommen, dass – wegen der günstigeren Risikostruktur und aufgrund von Anreizeffektenzum Beispiel durch Beitragsrückerstattungen – die Gesundheitsausgaben je Selbständigen um 20 vH niedriger lie-gen als für Beamte und Arbeitnehmer. Zudem sind die Gesundheitsausgaben sowohl der Privaten Krankenversi-cherung als auch der Gesetzlichen Krankenversicherung altersabhängig, wobei ein aus den Daten des Risikostruk-turausgleichs ermitteltes Ausgabenprofil zugrunde gelegt wird. Ferner wird angenommen, dass die Pro-Kopf-Ausgaben um 0,7 vH jährlich bis zum Jahr 2050 zunehmen.

Flexible Preise sorgen dafür, dass in jeder Periode alle Märkte geräumt sind. Um das hier nur skizzierte dynami-sche Makromodell numerisch zu lösen, müssen funktionale Formen für Nutzen- und Produktionsfunktionenangenommen und Parameterwerte spezifiziert werden. Die Parameterwerte werden dabei so gewählt, dass das dy-namische Simulationsmodell ein Ausgangsgleichgewicht erzeugt, welches die Verwendungsstruktur des Sozial-produkts und die im Modell erfassten Steuern, Ausgaben und Beitragseinnahmen des Jahres 2002 einigermaßenrealistisch nachbildet. Aufgrund der unterstellten demographischen Entwicklung verändert sich die Modellökono-mie in den Jahren nach 2002. Das Referenzszenario für die Auswirkungen der nachfolgend simulierten Reformender Gesetzlichen Krankenversicherung ist daher ein Entwicklungspfad der Volkswirtschaft zwischen demJahr 2002 und dem künftigen langfristigen Gleichgewicht. In diesem Basisszenario steigt der Beitragssatz zur Ge-setzlichen Krankenversicherung im Modell der geschlossenen Volkswirtschaft von 13,5 vH im Jahr 2002 über13,9 vH im Jahr 2005 auf 16,9 vH im Jahr 2030 und erreicht sein Maximum im Jahr 2050 mit 20,8 vH. Im Modellder offenen Volkswirtschaft steigt der Beitragssatz von 12,7 vH im Jahr 2002 auf 18,5 vH im Jahr 2030 und liegtbei 22,8 vH im Jahr 2050. Damit unterschätzt das Modell im Basisjahr den tatsächlichen Beitragssatz in der Ge-setzlichen Krankenversicherung etwas, stimmt aber hinsichtlich des erwarteten zukünftigen Beitragssatzanstiegsmit anderen Prognosen in etwa überein (Enquête-Kommission Demographischer Wandel, 2002, S. 191 f.).

212

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung über eine Pauschalprämie

Es wird angenommen, dass die Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung nun anstatt der einkom-mensabhängigen Beiträge pauschale Gesundheitsprämien entrichten müssen, die den durchschnittlichen Gesund-heitsausgaben je Versicherten entsprechen. Zudem wird angenommen, dass der bisherige Arbeitgeberbeitrag zurGesetzlichen Krankenversicherung als Bruttolohn an die Versicherten ausgezahlt und entsprechend versteuertwird. Die Pauschalprämie liegt im Modell im Jahr 2005 bei 228 Euro und steigt aufgrund der demographischenEntwicklung bis auf 348 Euro im Jahr 2050 an. Hinsichtlich des sozialen Ausgleichs werden drei unterschiedlicheFälle betrachtet. Im Fall I wird davon ausgegangen, dass es keinen steuerfinanzierten Zuschuss zu den Pauschal-prämien gibt. Im Fall II wird ein über die Zeit konstanter Eigenanteilssatz von 13,3 vH des Bruttoarbeitseinkom-mens unterstellt. Der Staat zahlt einen Zuschuss in Höhe der Differenz zwischen Pauschalprämie und Eigenanteil.Im Fall III wird angenommen, dass der Eigenanteilssatz im gleichen Maße steigt wie der Beitragssatz in der Basis-simulation. Zudem werden im Fall einer Zuschussgewährung verschiedene Varianten zur Schließung der Finanzie-rungslücke betrachtet: eine Konsumsteuerfinanzierung sowie die Finanzierung über die Anhebung des Solidari-tätszuschlags um 5 Prozentpunkte. Schließlich werden Simulationen sowohl im Modell der offenen als auch dergeschlossenen Volkswirtschaft durchgeführt.

Die größten Beschäftigungseffekte ergeben sich in dem Fall, in dem keine Prämienzuschüsse gezahlt werden, dahier die verzerrenden Wirkungen der GKV-Beiträge vollständig beseitigt sind (Tabelle 43). Aufgrund der gestiege-nen Grenzproduktivität des Kapitals erhöhen sich die Investitionen und der Kapitaleinsatz stetig. Da auch der ge-samtwirtschaftliche Konsum mittelfristig um über 10 vH ansteigt, kann der Konsumsteuersatz stetig gesenkt wer-den. Werden Zuschüsse an die Bezieher niedriger Einkommen bezahlt, dann wird aufgrund des Eigenanteilssatzesin diesem Bereich das Arbeitsangebot der Haushalte wieder verzerrt. Zudem muss zur Finanzierung der Prämien-zuschüsse die Konsumsteuer beziehungsweise der Solidaritätszuschlag erhöht werden, was ebenfalls Verzerrun-gen verursacht. Zusammengenommen fallen die positiven Beschäftigungseffekte entsprechend geringer aus als imFall ohne Prämienzuschüsse (Fall I) und auch die Kapitalakkumulation ist geringer. Bei konstantem Eigenanteils-satz (Fall II) gehen die positiven Beschäftigungseffekte im Zeitverlauf zurück, da die Pauschalprämie über dieZeit ansteigt, entsprechend der Zuschussbetrag größer wird und damit der Finanzierungsbedarf steigt. So beträgtim Modell das Zuschussvolumen 1,9 vH des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2005 und im Jahr 2050 schon 5,6 vH.Geht man von einem in der Zeit ansteigenden Eigenanteilssatz aus (Fall III), dann sind die Finanzierungserforder-nisse geringer – das Zuschussvolumen beträgt im Jahr 2050 nur 3,1 vH des Bruttoinlandsprodukts –, weshalb dieBeschäftigungseffekte höher ausfallen als bei einem konstanten Eigenanteilssatz. In der offenen Volkswirtschaftist der Zinssatz nicht variabel, die Humankapitalausstattung ist geringer, weshalb mittelfristig im Vergleich zur ge-schlossenen Volkswirtschaft mehr Arbeit angeboten und weniger konsumiert wird.

Ta b e l l e 43

Beschäftigungseffekte des Pauschalprämienmodells im Vergleich zur Basissimulation1)

Geschlossene Volkswirtschaft Offene VolkswirtschaftFall I Fall II Fall III Fall II Fall III

mit ZuschussKonsumsteuer2) Solidaritätszuschlag3) Solidaritätszuschlag3)

2005 5,0 3,6 2,9 3,3 2,4 1,7 2010 4,8 2,6 2,0 3,2 1,3 2,0 2020 3,2 1,2 0,5 1,3 3,3 3,8 2035 4,7 2,2 1,4 3,3 2,2 6,2 2050 5,5 2,7 1,8 4,1 1,7 6,7 2100 5,6 2,4 1,5 4,8 -0,5 2,6

1) Veränderung der Beschäftigung im Vergleich zum Entwicklungspfad der Volkswirtschaft ohne Änderung des GKV-Finanzierungssystems in vH. Fall I: kein Prämienzuschuss, Eigenanteilssatz 100 vH; Fall II: fester Eigenanteilssatz in Höhe von 13,3 vH; Fall III: variabler Eigenanteils-satz, er steigt ausgehend von 13,3 vH im gleichen Maße wie der Beitragssatz in der Basissimulation. - 2) Die Finanzierungslücke wird durch eine Konsumsteuererhöhung geschlossen. - 3) Die Finanzierungslücke wird durch eine Erhöhung des Solidaritätszuschlags geschlossen.

Jahrohne

Zuschuss

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Einführung einer Bürgerversicherung

Der Übergang zur Bürgerversicherung wird schrittweise simuliert. Im ersten Schritt werden Beamte und Selbstän-dige in die Gesetzliche Krankenversicherung einbezogen, das heißt, sie zahlen anstatt ihrer Kopfpauschalen nuneinkommensabhängige Beiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Im zweiten Schritt wird zusätzlich die Bei-tragsbemessungsgrenze der Gesetzlichen Krankenversicherung auf das Niveau der Beitragsbemessungsgrenze derRentenversicherung erhöht. Im dritten Schritt werden darüber hinaus Vermögenseinkommen in die Beitragsbe-messungsgrundlage einbezogen. Aus technischen Gründen wird dabei ein fixer Beitragssatz in Höhe von 8 vH un-terstellt und die Beitragsbemessungsgrenze vernachlässigt. Insofern kann es vor allem bei hohen Einkommen dazukommen, dass die Beitragsbemessungsgrenze durch die Lohneinkommen schon gänzlich oder nahezu ausge-schöpft ist, trotzdem aber noch Vermögenseinkommen verbeitragt werden, die Belastung also größer ausfällt. Dieswird allerdings durch den unterstellten vergleichsweise niedrigen Beitragssatz zumindest teilweise gemildert. DieAuswirkungen der beiden ersten Schritte werden im Modell der geschlossenen Volkswirtschaft betrachtet. Da dieVerbeitragung von Vermögenseinkommen wiederum aus technischen Gründen nicht in der geschlossenen Volks-wirtschaft simuliert werden kann, werden die Schritte 2 und 3 in der offenen Volkswirtschaft vorgenommen.

Da die Beamten und Selbständigen in einer Bürgerversicherung „verzerrende Beiträge“ zahlen müssen, reduziertsich das Arbeitsangebot dieser Personengruppe (Tabelle 44). Die Beschäftigung sinkt, damit vermindert sich dieKapitalproduktivität und das Investitionsniveau. Es findet folglich ein Kapitalabbau statt. Kurzfristig führt derRückgang des Arbeitsangebots auf dem Arbeitsmarkt zunächst zu steigenden Löhnen, mit der Zeit schlägt jedochder gesunkene Kapitaleinsatz durch, und es kommt zu einer Reduktion des Bruttolohns. Insgesamt kann kurz- undmittelfristig mit der Einbeziehung von Beamten und Selbständigen eine Beitragssatzsenkung von0,6 Prozentpunkten erzielt werden. Wird zusätzlich die Beitragsbemessungsgrenze angehoben (Schritt 2), kommtes zu einer starken Reduktion des Arbeitsangebots, weil die Grenzbelastungen enorm ansteigen. Die Beschäfti-gung und damit die Beitragsgrundlage sinken, so dass diese Maßnahme keine weiteren Beitragssatzsenkungen er-zeugen kann. Die zusätzliche Einbeziehung von Vermögenseinkommen in die Beitragsbemessungsgrundlage ver-schärft noch einmal die negativen Beschäftigungseffekte, weil infolge des niedrigeren Nettozinssatzes der Wertder Humankapitalausstattung steigt. Dieser Vermögenseffekt veranlasst die Haushalte zu einer Ausweitung desKonsums und einer Reduktion des Arbeitsangebots. Allerdings kommt es zu Beitragssatzsenkungen, die mittel-fristig leicht positiv auf die Beschäftigung wirken.

Ta b e l l e 44

Beschäftigungseffekte der Bürgerversicherung im Vergleich zur Basissimulation1)

Schritt 1 Schritt 2 Schritt 2 Schritt 3

Einbeziehung der Beamten

und Selbständigen

Schritt 1 + Erhöhung der

Beitragsbemes-sungsgrenze

Schritt 1 + Erhöhung der

Beitragsbemes-sungsgrenze

Schritt 2 + Einbeziehung

von Ver-mögensein-

kommen

2005 -0,8 -2,3 -1,9 -3,0 2010 -0,8 -2,5 -2,6 -3,2 2020 -0,8 -3,0 -0,2 0,2 2035 -0,8 -3,5 -4,7 -2,8 2050 -0,8 -3,7 -5,1 -3,7 2100 -0,9 -3,0 -3,6 -3,3

1) Veränderung der Beschäftigung im Vergleich zum Entwicklungspfad der Volkswirtschaft ohne Änderung des GKV-Finanzierungssystems in vH.

Jahr

Geschlossene Volkswirtschaft Offene Volkswirtschaft

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

Literatur

Auerbach, A. J. und L. J. Kotlikoff (1987) Dynamic Fiscal Policy, Cambridge.Fehr, H. (1999) Welfare Effects of Dynamic Tax Reforms, Tübingen.Deutscher Bundestag (2002) Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforde-rungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, Bundestagsdrucksache 14/8800vom 28. März 2002.

326. Die diskutierten Ausgestaltungsvarianten der bei- 328. Letztlich hängt die Beurteilung der beiden Sys-

den Konzepte unterscheiden sich schließlich auch imHinblick auf den versicherten Personenkreis sowie imHinblick auf das Verhältnis von Gesetzlicher Kranken-versicherung zur Privaten Krankenversicherung und da-mit in der Behandlung der Versicherungspflichtgrenze(Friedensgrenze). Diese Grenze birgt immer die Gefahrin sich, dass niedrige Gesundheitsrisiken sich dem sozia-len Ausgleich innerhalb der Gesetzlichen Krankenversi-cherung entziehen und damit tendenziell eine Risikoent-mischung hervorrufen. Die Bürgerversicherung löstdieses Problem, indem sie die Versicherungspflicht-grenze beseitigt. Dadurch und durch die Einbeziehungvon Beamten und Selbständigen wird die Private Kran-kenversicherung in ihrer bisherigen Form abgeschafftund damit einhergehend die demographieresistentereKapitaldeckung im Gesundheitssystem geschwächt.Diese Beeinträchtigung der Kapitaldeckung lehnt derSachverständigenrat ab (JG 2002 Ziffer 513) und befür-wortet daher das hier diskutierte Pauschalprämienmo-dell, in dem weiterhin eine Versicherungspflichtgrenzevorgesehen ist. Grundsätzlich ist aber auch in einemPauschalprämiensystem die Abschaffung der Versiche-rungspflichtgrenze und eine Einbeziehung der gesamtenWohnbevölkerung möglich. Der konstitutive und imHinblick auf die Beschäftigungseffekte entscheidendeUnterschied zwischen den beiden Modellen ist mithindie Art der Beitragsbemessung und die Behandlung derEinkommensumverteilung.

327. Zusätzliche Verwaltungskosten sind bei beidenModellen zu erwarten. Im Gesundheitsprämienmodellmuss die Zuschussberechtigung überprüft und die Zu-schussauszahlung organisiert werden. Bei der Einkom-mensermittlung stößt man dabei auf ähnliche Problemewie bei der Bürgerversicherung. Allerdings ist der Per-sonenkreis, für den das Gesamteinkommen ermitteltwerden muss, kleiner als bei der Bürgerversicherung.Derzeit dürften etwa 20 Millionen Personen in einemGesundheitsprämienmodell zuschussberechtigt sein. Inder Bürgerversicherung wären dagegen die beitrags-pflichtigen Einkommen von bis zu 60 Millionen Perso-nen zu ermitteln. Hinzu kommt, dass in den beiden Sys-temen die „Beweislast“ gleichsam umgekehrt ist: In derBürgerversicherung müssen die Krankenkassen bezie-hungsweise das Finanzamt daran interessiert sein, diebeitragspflichtigen Einkommen vollständig zu ermitteln.Im Gesundheitsprämienmodell dagegen muss der Versi-cherte nachweisen, dass er zuschussberechtigt ist.

teme von der Gewichtung der allokativen Wirkungenund der Verteilungswirkungen beziehungsweise von derGewichtung des Äquivalenzprinzips und des Leistungs-fähigkeitsprinzips ab und damit von einem Werturteil.Der Sachverständigenrat sieht vor allem in den tendenzi-ell günstigeren Beschäftigungswirkungen des Gesund-heitsprämienmodells und auch darin, dass aufgrund derOrientierung am Äquivalenzprinzip Umverteilungsanlie-gen in das Steuer- und Transfersystem verlagert werden,wo sie zielgenauer realisiert werden können, die ent-scheidenden Vorteile. Gegen beide Systeme spricht, dasssie keine wirklichen Lösungen für die zu erwarteten Bei-tragssteigerungen aufgrund der demographischen Ent-wicklung und des medizinisch-technischen Fortschrittsliefern. Hier kann letztlich nur eine stärkere Kapitalde-ckung Linderung verschaffen. Denn die Kapitaldeckungist dazu geeignet, die Lasten der demographischen Ent-wicklung gleichmäßiger über die Generationen zu ver-teilen (JG 2002 Ziffer 524). Dabei muss diese Kapital-deckung aber nicht unbedingt in Form vonAlterungsrückstellungen innerhalb der derzeitigen Pri-vaten Krankenversicherung aufgebaut werden. Das, wasdie Private Krankenversicherung derzeit im Wesentli-chen leistet, nämlich die Abdeckung des durchschnittli-chen „Alterungsrisikos“ beziehungsweise die Absiche-rung gegen demographiebedingte Prämiensteigerungen,könnte auch außerhalb der Krankenversicherung inForm einer privaten oder betrieblichen kapitalgedecktenAltersvorsorge bewerkstelligt werden. Ähnliches gilt fürdie Bewältigung der Kosten des medizinisch-techni-schen Fortschritts. Wenn die Kapitaldeckung im Bereichdes Altersvorsorgesparens erfolgen würde, müsste mandie Versicherungspflichtgrenze zur Diskussion stellen.

Mischformen

329. In der Diskussion standen auch zahlreiche angeb-liche und tatsächliche Mischformen zwischen Gesund-heitsprämienmodell und Bürgerversicherung. Der Vor-schlag, die Private Krankenversicherung in denRisikostrukturausgleich (RSA) einzubeziehen und damitden „Sozialausgleich über alle Bürger auszudehnen“ istein alter Vorschlag, der nun mit dem Etikett Bürgerversi-cherung versehen wird. Ein Vorteil kann darin gesehenwerden, dass die Gesetzliche Krankenversicherung unddie Private Krankenversicherung nebeneinander beste-hen bleiben könnten und dass die Einbeziehung der Pri-vaten Krankenversicherung in den Finanzkraftausgleichund gegebenenfalls auch in den Finanzbedarfsausgleich

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Page 242: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

des RSA das Problem der Risikoentmischung für dieGesetzliche Krankenversicherung abschwächen würde.Die Private Krankenversicherung müsste allerdings ihrePrämienkalkulation in der bisherigen Form aufgeben.Ein Teil der PKV-Prämie würde dann den Charakter ei-ner Steuer aufweisen. Zudem ist die Einbeziehung derPKV-Versicherten in den Finanzkraftausgleich mit prak-tischen Schwierigkeiten verbunden, da die privatenKrankenversicherungen keine Informationen über dieEinkommensverhältnisse ihrer Versicherten haben.

330. Eine wirkliche Mischform zwischen den hier dis-kutierten Modellen der Bürgerversicherung und der Ge-sundheitsprämie stellt der Vorschlag dar, dass in einemPauschalprämienmodell der soziale Ausgleich nicht indas Steuer- und Transfersystem verlagert wird, sondernim GKV-System verbleibt. Die etwa 28 Mrd Euro, diefür den sozialen Ausgleich bei einer Pauschalprämie von210 Euro aufgewendet werden müssten, könnten durcheinen einkommensproportionalen Beitrag finanziert wer-den. Bei Beibehaltung der derzeitigen Beitragsbemes-sungsgrundlage und des derzeitigen Versichertenkreisesder Gesetzlichen Krankenversicherung würde der Bei-tragssatz für den sozialen Ausgleich, der nichts anderesals eine „Krankenversicherungssteuer“ wäre, rund 3 vHbetragen. Der Vorteil dieses Modells besteht darin, dassdie Zuschüsse nicht aus dem Steueraufkommen aufge-bracht werden müssen und damit der Haupteinwand ge-gen das Pauschalprämienmodell, nämlich dass das Zu-schussvolumen in Zeiten knapper Kassen als„Manövriermasse“ verwendet werden kann, nicht mehrgreift. Positiv ist weiterhin, dass in einem solchen Mo-dell die im GKV-System enthaltene Einkommensumver-teilung transparent gemacht wird. Will man die beitrags-freie Mitversicherung der nicht-erwerbstätigenEhegatten ebenfalls beibehalten, könnte in gleicherWeise ein zusätzlicher Beitragssatz zu deren Finanzie-rung erhoben werden, was auch diese Umverteilungs-komponente im System offensichtlich machen würde.Als weiteren Vorteil könnte man auch sehen, dass die re-gressiven Verteilungseffekte eines Pauschalprämienmo-dells im Vergleich zum Status quo abgemildert würden.Die Nachteile dieses Modells bestehen darin, dass dasÄquivalenzprinzip in der GKV nur teilweise gestärktwird und der Steuercharakter der GKV-Beiträge nur par-tiell reduziert würde. Die Reduktion der Grenzbelastun-gen fände in einem geringeren Ausmaß statt als im „rei-nen“ Pauschalprämiensystem, so dass insgesamt diepositiven Beschäftigungseffekte dieses Mischsystemsgeringer ausfielen.

331. Da in dem von der Rürup-Kommission vorge-schlagenen Gesundheitsprämienmodell der bisherige Ar-beitgeberbeitrag zur Gesetzlichen Krankenversicherungals Bruttolohn ausgezahlt wird, werden die Arbeitskos-ten von den Gesundheitskosten abgekoppelt und stei-gende GKV-Beiträge gehen nicht mit steigendenArbeitskosten einher. Damit ist dieses Gesundheitsprä-mienmodell keineswegs gleichzusetzen mit einem GKV-System, in dem die Arbeitgeberbeiträge eingefroren be-ziehungsweise nach oben gedeckelt werden und Bei-tragssatzsteigerungen nur noch von den Versicherten ge-

tragen werden müssen. Durch das – auch von derKommission „Soziale Sicherheit“ (Herzog-Kommis-sion) geforderte – Einfrieren des Arbeitgeberbeitragswerden zwar die Lohnnebenkosten in diesem Bereich fi-xiert, am Abgabenkeil zwischen Produzentenlohn undKonsumentenlohn ändert dies indes nichts. Da die Höhedes Abgabenkeils und nicht seine Aufteilung zwischenArbeitgeber und Arbeitnehmer für die Beschäftigungs-wirkungen die wesentliche Rolle spielt, können von ei-nem Einfrieren des Arbeitgeberanteils nur geringe posi-tive Beschäftigungseffekte erwartet werden.

2. Rentenversicherung: Vor einer Fortentwicklung der Rentenreform 2001

Die finanzielle Lage der Gesetzlichen Rentenversicherung

332. Die Einnahmen der Rentenversicherung der Ar-beiter und Angestellten sind in den ersten neun Monatendes Jahres 2003 um 2,9 vH gestiegen. Bei unveränderterBeitragsgrundlage generierte die Erhöhung des Beitrags-satzes von 19,1 vH auf 19,5 vH Beitragsmehreinnahmenin Höhe von 2,1 vH. Damit zeigt sich, dass sich die Ein-nahmebasis nur schwach entwickelt hat; die beitrags-pflichtigen Einkommen sind um rund 0,8 vH gestiegen,wobei hier die diskretionäre Anhebung der Beitragsbe-messungsgrenze eine wesentliche Rolle gespielt hat. DieEinnahmeentwicklung lässt sich mit der schwachen kon-junkturellen Lage und der damit verbundenen höherenArbeitslosigkeit erklären. Aber auch die Beitragsfreiheitder im Rahmen der geförderten betrieblichen Altersvor-sorge umgewandelten Entgeltanteile dämpfte die Ein-nahmen der Gesetzlichen Rentenversicherung in diesemJahr um rund 300 Mio Euro. Zudem belastete die ver-schärfte Einkommensanrechnung bei der Arbeitslosen-hilfe die Einnahmeseite ebenfalls mit 300 Mio Euro(Ziffer 229). Die Ausgaben der Gesetzlichen Rentenver-sicherung stiegen in den ersten neun Monaten des Jah-res 2003 um 2,2 vH. Dies ist zum einen durch die Ren-tenanpassung des letzten Jahres und durch Netto-Ren-tenzugänge in Höhe von 1 vH begründet. Im zweitenHalbjahr wirkte sich die Rentenanpassung vom1. Juli 2003 in Höhe von 1,04 vH in Westdeutschlandund 1,19 vH in den neuen Bundesländern weiter ausga-bensteigernd aus. Ferner führte die Anhebung des Bei-tragssatzes zur Krankenversicherung der Rentner zuMehrausgaben von rund 300 Mio Euro.

333. Insgesamt hätte die angespannte finanzielle Situa-tion eine Beitragssatzanhebung auf 20,3 vH für dasJahr 2004 erforderlich gemacht. Doch auch in diesemJahr wurden Maßnahmen ergriffen, die einen solchenAnstieg verhindern sollten. Dies nicht nur deshalb, weilvon der Anhebung der Beitragssätze und der mit ihr ver-bundenen Erhöhung der Lohnnebenkosten beschäfti-gungsschädigende Wirkungen ausgehen können, son-dern auch, weil eine Beitragssatzerhöhung nach§ 213 SGB VI automatisch zu einem höheren Bundeszu-schuss führt, was in Anbetracht der angespannten finan-ziellen Situation des Bundes vermieden werden sollte.

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

So führt nach einer Faustregel eine Anhebung des Bei-tragssatzes in der Gesetzlichen Rentenversicherung um0,1 Prozentpunkte zu Mehrausgaben des Bundes inHöhe von 200 Mio Euro. Auch war zur Entlastung desBundeshaushalts zwischen dem Bundesministerium derFinanzen und dem Bundesministerium für Gesundheitund Soziale Sicherung zunächst eine Reduktion desBundeszuschusses im Jahr 2004 um 2 Mrd Euro verein-bart. In Anbetracht der prekären finanziellen Lage derGesetzlichen Rentenversicherung wurde dieser Plan al-lerdings im Oktober fallengelassen und stattdessen vonder Bundesregierung beschlossen, dass im kommendenJahr 1 Mrd Euro von allen Ressorts in Form einer globa-len Minderausgabe und weitere 1 Mrd Euro in Form vonSubventionsabbau aufgebracht werden müssen.

Die Zahlungen des Bundes (ohne Arbeitgeberbeiträgefür Arbeiter und Angestellte des Bundes) an die Gesetzli-che Rentenversicherung im Jahr 2003 beliefen sich aufrund 77,3 Mrd Euro, was etwa 39 vH der Rentenausga-ben entspricht. Der allgemeine Bundeszuschuss wirdseit der Rentenreform 1957 gezahlt und betrug imJahr 2003 knapp 28,8 Mrd Euro. Er wird gemäß § 213Absatz 2 SGB VI entsprechend der Entwicklung derBruttolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich be-schäftigten Arbeitnehmer des vorangegangenen Jahressowie gemäß der Veränderung des Beitragssatzes fortge-schrieben. Damit eine durch zusätzliche Bundeszu-schüsse induzierte Beitragssatzsenkung keine Reduktiondes Bundeszuschusses erzeugen kann, wird dabei dieVeränderung eines fiktiven Beitragssatzes betrachtet,der sich ohne Berücksichtigung des zusätzlichen Bun-deszuschusses und des Erhöhungsbetrags ergebenwürde. Zur Beitragssatzstabilisierung in der Gesetzli-chen Rentenversicherung wird seit dem 1. April 1998 einzusätzlicher Bundeszuschuss gezahlt, der aus dem Auf-kommen der damals vorgenommenen Erhöhung des Nor-malsatzes der Umsatzsteuer (von 15 vH auf 16 vH) auf-gebracht wird. Er betrug im Jahr 2003 rund17,3 Mrd Euro und wird seit dem Jahr 2000 gemäß derEntwicklung der Steuern vom Umsatz angepasst. Im zu-sätzlichen Bundeszuschuss ist seit Einführung der ökolo-gischen Steuerreform ein Erhöhungsbetrag enthalten.Dieser wird aus dem Aufkommen der Ökosteuer entrich-tet und betrug im Jahr 2003 rund 9,5 Mrd Euro. DerBund zahlt zudem seit dem 1. Juni 1999 Beiträge fürKindererziehungszeiten an die Gesetzliche Rentenversi-cherung, die sich auf 11,9 Mrd Euro im Jahr 2003 belie-fen. Die Zahlungen werden nach § 177 SGB VI jährlichgemäß den Veränderungen der Bruttolohn- und -gehalts-summe, des Beitragssatzes und der Anzahl der unterDreijährigen angepasst. Bei der Gesetzlichen Renten-versicherung werden sie als Beitragszahlungen undnicht als Bundeszuschuss gebucht. Außerdem zahlte derBund gemäß § 215 SGB VI im Jahr 2003 zum Defizit-ausgleich 7,3 Mrd Euro an die Knappschaftliche Ren-tenversicherung. Auch wurden im Jahr 2003 gemäߧ 287e SGB VI Zuschüsse des Bundes an die Rentenver-sicherung der Arbeiter und Angestellten in den neuenBundesländern in Höhe von 7,8 Mrd Euro fällig. Fernerleistete der Bund in diesem Jahr infolge des Anspruchs-

und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) Zah-lungen in Höhe von 2,5 Mrd Euro an die GesetzlicheRentenversicherung (JG 2002 Ziffer 298). Schließlichfielen noch sonstige Zuschüsse in Höhe von rund1,7 Mrd Euro an, darunter zum Beispiel die Zuschüssezu den Beiträgen der in Werkstätten beschäftigten behin-derten Menschen in Höhe von rund 0,8 Mrd Euro.

Um den Beitragssatz stabil zu halten, mussten im Ren-tenversicherungssystem 8 Mrd Euro eingespart werden.Konkret wurde beschlossen, die Rentenanpassung desJahres 2004 auszusetzen. Dies soll zu Einsparungen von1 Mrd Euro im Jahr 2004 führen. Zudem soll der Bei-trag zur Pflegeversicherung in Höhe von 1,7 vH desRentenzahlbetrags nicht mehr hälftig von Rentnern undRentenversicherungsträgern, sondern ab 1. April 2004allein von den Rentnern aufgebracht werden. Damitkommt es im Jahr 2004 faktisch zu einer Nettorenten-senkung um 0,85 vH. Die Gesetzliche Rentenversiche-rung wird daduch um rund 1,2 Mrd Euro entlastet. Fer-ner sollen die erwarteten Beitragssatzsenkungen in derGesetzlichen Krankenversicherung schneller als bisherzu Minderausgaben der Rentner und der Rentenversi-cherungsträger führen. Deshalb wird der Beitragssatzzur Krankenversicherung der Rentner beginnend mitdem 1. April 2004 monatlich – und nicht nur einmal imJahr am 1. Juli – angepasst, sofern eine Änderung desjeweiligen allgemeinen Beitragssatzes der Kranken-kasse drei Monate vor diesem Zeitpunkt eingetreten ist.Dies kann im Jahr 2004 Entlastungen für die Gesetzli-che Rentenversicherung in Höhe von 0,5 Mrd Eurobringen. Indem man ab 1. April 2004 die Auszahlungder Altersbezüge an Zugangsrentner vom jeweiligenMonatsanfang auf das Monatsende verschiebt, sollen imJahr 2004 weitere 0,5 Mrd Euro gespart werden.Schließlich hat man auch in diesem Jahr die Schwan-kungsreserve als Manövriermasse zur Beitragssatzstabi-lisierung genutzt. Die Mindestschwankungsreserve sollnoch weiter von derzeit 0,5 auf nun 0,2 Monatsausga-ben reduziert werden. Dies erhöht die Wahrscheinlich-keit, dass die Liquiditätshilfen des Bundes im Rahmender Bundesgarantie des § 214 Absatz 1 SGB VI in An-spruch genommen oder einzelne Monatsraten der Bun-deszuschüsse vorgezogen werden müssen und damit dieAbhängigkeit vom Bundeshaushalt steigt (JG 2002Ziffer 230). Eine Monatsausgabe entspricht derzeitknapp 16 Mrd Euro, weshalb etwa 4,8 Mrd Euro freiwerden würden. Mittelfristig soll die Schwankungsres-erve nach dem erklärten Willen der Bundesregierungaber zu einer „Nachhaltigkeitsrücklage“ aufgebaut wer-den. Allerdings dürfte es politisch nur schwer durch-setzbar sein, mögliche Beitragssatzsenkungen deshalbnicht vorzunehmen, weil eine Nachhaltigkeitsrücklageaufgebaut werden soll.

Die Schwankungsreserve hat grundsätzlich zwei Ziel-setzungen. Sie dient zum einen dazu, unterjährige Liqui-ditätsschwankungen auszugleichen, zum anderen kanndie Schwankungsreserve zu einer Stabilisierung des Bei-tragssatzes im Konjunkturverlauf beitragen: Konjunktu-rell bedingte Defizite können hingenommen werden,

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

ohne dass eine prozyklisch wirkende Beitragssatzer-höhung vorgenommen werden muss. Die Schwankungs-reserve könnte ganz abgeschafft werden, wenn zum Li-quiditätsausgleich in einnahmeschwachen Monaten dieZahlungen des Bundes vorgezogen würden. Will mandies vermeiden und nur das erste Ziel erreichen, mussdie Schwankungsreserve nicht sehr hoch sein, 0,5 Mo-natausgaben dürften zum Ausgleich von Liquiditäts-schwankungen ausreichend sein. Will man dagegen daszweite Ziel realisieren, müsste die Schwankungsreserveaufgebaut werden. Die Vergangenheit hat gezeigt, dassfür eine Stabilisierung in konjunkturell schlechten Zeiten1,5 Monatsausgaben ausreichend waren. Um beidenZielsetzungen Rechnung zu tragen, wäre für die Schwan-kungsreserve ein Korridor von zum Beispiel 0,5 bis2,0 Monatsausgaben adäquat. Beitragssatzänderungendürften nur dann durchgeführt werden, wenn ein Unter-schreiten der Mindestschwankungsreserve oder einÜberschreiten der Höchstschwankungsreserve erwartetwürde.

Reformvorschläge und Reformvorhaben in der Gesetzlichen Rentenversicherung

Ausgangssituation

334. Mit der Rentenreform 2001 (Riester-Reform)wurde die Rentenanpassungsformel modifiziert, um übereine langfristige Reduktion des Rentenniveaus den Bei-tragssatz bis zum Jahr 2030 unter 22 vH zu halten. Da-mit sollte die Rentenversicherung zukunftsfest gemachtwerden und die Beitragssätze sogar zwischenzeitlich aufunter 19 vH sinken (JG 2001 Ziffern 242 ff.). Dochschon bald nachdem diese Reform in Kraft getreten war,zeigte sich, dass die Beitragssatzprojektion nicht realis-tisch war. Gleich im ersten Jahr, in dem die neue Ren-tenanpassungsformel angewendet wurde, konnte die an-gestrebte Reduktion der Beitragssätze nicht erreichtwerden. Im Gegenteil: Nur durch eine Senkung derMindestschwankungsreserve auf 0,8 Monatsausgabenkonnte ein Beitragssatzanstieg verhindert werden. Eineähnliche Entwicklung ergab sich im Jahr 2002: Eineweitere Reduktion der Schwankungsreserve und einediskretionäre Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzewaren erforderlich, um den Anstieg des Beitragssatzesauf 19,5 vH zu begrenzen. Damit lag der tatsächlicheBeitragssatz um 0,8 Prozentpunkte über dem mit derRiester-Reform ursprünglich anvisierten Beitragssatz(JG 2001 Tabelle 32).

335. Diese Abweichungen können zum einen mit derungünstigen konjunkturellen Entwicklung und der da-mit verbundenen Schwäche der Beitragseinnahmen be-gründet werden, zum anderen zeigte sich aber auch,dass die bei der Riester-Reform unterstellten Annah-men bezüglich der zukünftigen Entwicklung der Be-schäftigung, der Löhne und der Beitragssätze in den an-deren Sozialversicherungszweigen zu optimistischwaren. Darüber hinaus wurde die Zunahme der Lebens-erwartung zu niedrig eingeschätzt, so dass in der länge-ren Frist auch ohne die ungünstigen konjunkturellen

Gegebenheiten ein Abweichen vom projizierten Bei-tragssatzpfad angelegt war.

Die fernere Lebenserwartung eines 65-Jährigen und da-mit die Rentenbezugsdauer wurden in der Riester-Re-form zu niedrig eingeschätzt (Schaubild 53). Vor allemab dem Jahr 2006 fällt bei der Riesterprojektion das ab-rupte Abflachen des Anstiegs der Lebenserwartung auf.Die Rürup-Kommission dagegen rechnet mit einer fastungebremsten Erhöhung der Lebenserwartung. Damitergibt sich für Frauen im Jahr 2030 eine Differenz voneinem Jahr und für Männer sogar von 1,4 Jahren zwi-schen den beiden Projektionen, was entsprechende Kon-sequenzen für den Beitragssatz hat. Dieser Unterschiedbezüglich der unterstellten Lebenserwartung kommtletztlich dadurch zustande, dass für die Riester-Reformanders als in der Rürup-Kommission die Projektionender amtlichen Statistik zugrunde gelegt wurden, der ofteine Unterschätzung der Lebenserwartung vorgeworfenwurde (JG 2000 Ziffer 456). Mit der 10. koordiniertenBevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bun-desamtes fand allerdings eine Annäherung der Projekti-onen statt.

Auch die Beschäftigungsentwicklung wurde bei derRiester-Reform vergleichsweise günstig eingeschätzt. Sowurde ein Anstieg der Beschäftigung bis zum Jahr 2014

S c h a u b i l d 53

1) Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialenSicherungssysteme.

SR 2003 - 12 - 0618

Rentenreform 2001

Rürup-Kommission1)

Frauen

Rürup-Kommission1)

Rentenreform 2001

Männer

0 0

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

Jahre

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

Jahre

2000 05 10 15 20 25 30 35 40 45 2050

Annahmen zur ferneren Lebenserwartungvon 65-jährigen Frauen und Männern

218

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

und danach eine Beschäftigungskonstanz bis zumJahr 2025 angenommen. Das Erwerbspersonenpotentialsollte im gleichen Zeitraum um 2,7 Millionen Personenzurückgehen, bei 2,4 Millionen Arbeitslosen imJahr 2020. Diese Annahmen wären nur haltbar, wennman eine Erhöhung des tatsächlichen Renteneintrittsal-ters, eine starke Zunahme der Erwerbsbeteiligung vonFrauen und einen starken Rückgang der stillen Reserve,der sich besonders günstig auf die Finanzen der Gesetz-lichen Rentenversicherung auswirkt, unterstellte(JG 2000 Ziffer 454). Die Rürup-Kommission nimmtebenfalls eine Zunahme der Erwerbsbeteiligung vonFrauen und älteren Menschen an. Doch sind die Annah-men insgesamt nicht so weitgehend. Auch die Entwick-lung der Zahl der Arbeitslosen wird von der Rürup-Kommission skeptischer eingeschätzt. So wird angenom-men, dass es im Jahr 2010 noch knapp 3,8 Millionenund im Jahr 2020 noch rund 3,0 Millionen registrierteArbeitslose gibt. Insgesamt ist die Anzahl der Beitrags-zahler im Jahr 2030 im Vergleich zu den bisherigen Ar-beitsmarktprojektionen der Bundesregierung um rund2 Millionen Personen geringer.

Für die Nominallohnentwicklung wurde bei der Ries-ter-Reform eine Zunahme von 2,2 vH für das Jahr 2001,von 2,6 vH jährlich für die Jahre 2002 bis 2004 und von3,0 vH jährlich für die Jahre 2005 bis 2030 angenom-men. Die Rürup-Kommission geht für die Jahre 2001bis 2010 von einem jährlichen Entgeltanstieg in Höhevon 2,6 vH und für die Jahre 2011 bis 2030 von 3,0 vHaus. Eine Fehleinschätzung der Lohnentwicklung hatnur geringen Einfluss auf den Beitragssatz, da Entgelt-steigerungen zunächst zwar zu Mehreinnahmen führen,in den folgenden Jahren aber über die Rentenanpassunghöhere Ausgaben verursachen und sich Lohneffekt undAnpassungseffekt mithin weitgehend kompensieren(JG 2000 Ziffer 453).

Wichtig für die Beitragssatzprojektionen der Gesetzli-chen Rentenversicherung sind auch die Annahmen zurEntwicklung der Beitragssätze in der GesetzlichenKrankenversicherung und der Sozialen Pflegeversiche-rung, da die Gesetzliche Rentenversicherung an dieseSozialversicherungszweige einen dem Arbeitgeberanteilentsprechenden Zuschuss zahlen muss. So führt derzeitein um einen Prozentpunkt höherer Beitragssatz in derGesetzlichen Krankenversicherung oder Sozialen Pfle-geversicherung zu einem Beitragssatzanstieg in der Ge-setzlichen Rentenversicherung von 0,1 Prozentpunkten.Bei der Riester-Reform ging man für die GesetzlicheKrankenversicherung davon aus, dass der Beitragssatzbis zum Jahr 2030 von 13,5 vH auf 14 vH und in derPflegeversicherung von 1,7 vH auf 2,4 vH steigt. In derGesetzlichen Krankenversicherung wurde der durch-schnittliche Beitragssatz von 14 vH schon im Jahr 2002erreicht. Die Rürup-Kommission geht davon aus, dassdie Reformen in den Versicherungszweigen greifen unddeshalb der GKV-Beitragssatz langfristig auf einem Ni-veau von 14,3 vH stabilisiert werden kann, während derBeitragssatz in der Pflegeversicherung bis zumJahr 2030 auf 2,7 vH steigt.

336. Die unterschiedlichen Annahmen der Riester-Reform und der Rürup-Kommission schlagen sich in un-

terschiedlichen Beitragssatzpfaden nieder; so verläuftdieser Pfad aufgrund der Riester-Annahmen weit unterdem projizierten Pfad der Rürup-Kommission (Schau-bild 54). Ein Beitragssatz von über 20 vH wird schon imJahr 2014 erreicht. Im Jahr 2030 liegt der Beitragssatzauf Basis der Annahmen der Rürup-Kommission bei24,2 vH und damit 2,2 Prozentpunkte über dem Bei-tragssatz, der der Riester-Reform zugrunde lag. Mithinzeigt sich, dass das mit der Riester-Reform angestrebteund in § 154 SGB VI festgelegte Ziel, den Beitragssatzbis zum Jahr 2020 unter 20 vH und bis zum Jahr 2030unter 22 vH zu halten, nicht erreicht werden kann. Auchwird das unter der Annahme einer unveränderten steuer-lichen Behandlung der gesetzlichen Renten berechneteNettorentenniveau im Jahr 2020 die 67 vH-Grenze un-terschreiten und dann dauerhaft niedriger liegen. Diesmacht es gemäß § 154 SGB VI erforderlich, dass dieBundesregierung „geeignete Maßnahmen“ ergreift.

337. Die unterschiedlichen Annahmen führen auch zubeachtlichen Unterschieden in den impliziten Renditender Gesetzlichen Rentenversicherung (Kasten 9, Sei-te 220). Die Renditen für die Geburtsjahrgänge bis 1960weichen zwar im Falle der Annahmen der Riester-Reformnur geringfügig von den Renditen bei Unterstellung der

S c h a u b i l d 54

1) Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialenSicherungssysteme.

SR 2003 - 12 - 0620

0

vH

0

vH

17

19

21

23

25

27

17

19

21

23

25

27

2000 05 10 15 20 25 30 35 2040

Rürup-Kommission1)

Rentenreform 2001

Erwartete Entwicklung der Beitragssätzein der Gesetzlichen Rentenversicherung

für unterschiedliche Annahmen

2000

219

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

plausibleren Annahmen der Rürup-Kommission ab,deutliche Differenzen ergeben sich aber für die jüngerenKohorten: Sie müssen bei den aktuelleren Annahmen derRürup-Kommission mit geringeren Renditen rechnen(Schaubild 55). Wenn man eine für alle Jahrgänge gleichhohe Rendite als einen Maßstab für die intergenerativeGerechtigkeit in der Rentenversicherung ansieht, dannist die generative Ungleichbehandlung also größer. Diegeänderten Annahmen wirken im Wesentlichen überzwei entgegengesetzte Kanäle. Erstens induziert die imFalle der Annahmen der Rürup-Kommission unterstelltehöhere Lebenserwartung tendenziell höhere Renditen,da bei einem Anstieg der Lebenserwartung für jedenJahrgang der Barwert der Rentenzahlungen steigt, ohnedass sich der Barwert der Beiträge verändert hat. Zwei-tens führen die stärkeren Beitragssatzsteigerungen alsKonsequenz der realistischeren Annahmen der Rürup-Kommission zu höheren Beitragszahlungen und über dieRentenanpassungsformel zu einer Dämpfung der Ren-tendynamik, was die Rendite beeinträchtigt. Für die älte-ren Jahrgänge 1940 bis 1960 gleichen sich beide Effekteweitgehend aus. Sie müssen die höheren Beitragssätzenur über eine relativ kurze Frist zahlen und haben Vor-teile von ihrer etwas höheren Lebenserwartung. Für diejüngeren Generationen sind die Belastungen der höherenBeitragssätze weit gewichtiger, so dass ihre Rendite un-ter die mit der Riester-Reform veranschlagte Renditefällt. Damit wird aber ein positiver Effekt der Riester-Reform aufgehoben. Der bestand gerade darin, dass dieRendite der jüngeren Generationen nicht so stark redu-ziert wurde wie die der älteren und damit eine etwas grö-ßere Gleichbehandlung der Geburtsjahrgänge erreichtwurde (JG 2001 Ziffer 244 und Schaubild 34).

S c h a u b i l d 55

2003

SR 2003 - 12 - 0628

190

%

0

%

2,0

2,5

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3,5

4,0

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95Geburtsjahrgang

Nominale implizite Renditen in derGesetzlichen Rentenversicherungfür unterschiedliche Annahmen

- Männer nach Geburtsjahrgängen -

Rentenreform 2001

Rürup-Kommission

K a s t e n 9

Das Konzept der impliziten Renditen

Das Konzept der impliziten Renditen ist ein Maßstab für die intergenerative Gleichbehandlung in der Rentenversi-cherung (Vergleich der absoluten Höhe der Renditen zwischen den Jahrgängen) und für die Beurteilung der inter-generativen Verteilungswirkungen von Reformmaßnahmen innerhalb der Rentenversicherung (Veränderung derRenditen für einen Jahrgang).Die implizite Rendite für ein repräsentatives GRV-Mitglied eines Geburtsjahrgangs i ist derjenige Zinssatz, beidem der Barwert aller Einzahlungen in die Gesetzliche Rentenversicherung und aller erhaltenen Leistungen ausder Gesetzlichen Rentenversicherung gerade null wird:

: Leistungen aus der Rentenversicherung in der Periode t an einen Rentenversicherten des Geburtsjahrgangs i,

: Einzahlungen eines Rentenversicherten des Geburtsjahrgangs i in die Rentenversicherung in der Periode t,: implizite Rendite,

T: Todesjahr,R: Renteneintrittsjahr,G: Geburtsjahr.

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220

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

Die Einzahlungen in die Gesetzliche Rentenversicherung in einer Periode t ergeben sich vereinfachend aus demjeweiligen Bruttoeinkommen multipliziert mit dem Beitragssatz bt:

Es wird von einer Beitragszahlerin und einem Beitragszahler ausgegangen, die im Alter von 20 Jahren erwerbstä-tig werden, in jeder Periode das Durchschnittseinkommen verdienen und entsprechend Beiträge zahlen. Sie arbei-ten bis zum Ende der Periode R-G-1. Im Alter von R-G Jahren gehen sie in Rente, die sie T-R Jahre beziehen. AlsGRV-Beitragssätze werden für die Jahre 1960 bis 2003 die tatsächlichen Beitragssätze und für die Jahre 2004bis 2040 die Beitragssatzprojektion der Rürup-Kommission unterstellt. Für die Jahre ab 2040 wird ein konstanterBeitragssatz angenommen. Für die Entwicklung der Arbeitsentgelte wird eine Steigerungsrate von 2,7 vHbis 2010 und 3,0 vH für die Jahre ab 2011 zugrunde gelegt.

Die Leistungen der Rentenversicherung setzen sich zusammen aus den Rentenzahlungen und den Beitragsantei-len, die die Gesetzliche Rentenversicherung für die Rentner an die Kranken- und die Pflegeversicherung bezahlt.Die Höhe der Rentenzahlungen ergibt sich aus der Rentenformel und der Rentenanpassungsformel. Die Renten-formel definiert den Rentenzahlbetrag aus der Summe der in jeder Periode j nach Maßgabe des Bruttoeinkom-mens erworbenen Entgeltpunkte multipliziert mit dem Zugangsfaktor (ZF), mit dem eventuelle Abschläge erfasstwerden können, und dem aktuellen Rentenwert ARt:

Die Größe des Zugangsfaktors wird durch den Zeitpunkt des Renteneintritts bestimmt. Geht der Rentenversicherteim gesetzlichen Renteneintrittsalter von H=R-G Jahren in Rente, beträgt der Zugangsfaktor 1. Für jedes Jahr frü-heren Rentenbezugs reduziert sich der Zugangsfaktor um die Abschlagshöhe a:

Die Entwicklung des aktuellen Rentenwerts bestimmt die jährliche Rentenanpassung und wird durch die jeweiligeRentenanpassungsformel beschrieben.

Die von der Gesetzlichen Rentenversicherung geleisteten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ergeben sichaus dem Rentenzahlbetrag multipliziert mit dem hälftigen Beitragssatz kt zur Gesetzlichen Krankenversicherungund Sozialen Pflegeversicherung:

Daraus folgt für die gesamten Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung in der Periode t an ein repräsenta-tives Mitglied des Geburtsjahrgangs i:

Für die Berechnungen wird davon ausgegangen, dass der repräsentative Rentner während seiner Erwerbszeit jähr-lich einen Entgeltpunkt erworben hat, da er stets Beiträge gemäß dem Durchschnittseinkommen geleistet hat. Eswerden die nominalen impliziten Renditen für die Geburtsjahrgänge 1940 bis 2003 berechnet und angenommen,dass die Rentenbezugsdauer T-R des repräsentativen Versicherten seiner ferneren Lebenserwartung entspricht. Fürdie fernere Lebenserwartung werden die Annahmen der Rürup-Kommission übernommen.

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221

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Die nominalen impliziten Renditen sind für Frauen immer größer als für Männer (Schaubild 56, Seite 223), daFrauen eine um fast vier Jahre höhere fernere Lebenserwartung und damit eine längere Rentenbezugsdauer auf-weisen. Die Renditen sind umso geringer, je jünger der betrachtete Geburtsjahrgang ist. Dies ist damit zu begrün-den, dass im Zeitverlauf der Beitragssatz gestiegen ist und die Beitragsdynamik größer ausfällt als die Rentenan-passungsdynamik. Die höhere Lebenserwartung der jüngeren Jahrgänge kann den renditedämpfenden Effekt derim Vergleich zu den älteren Kohorten höheren Beitragssätze nicht kompensieren. Wenn man gleiche impliziteRenditen als ein Maß für intergenerative Gerechtigkeit interpretiert, ergibt sich also eine Ungleichbehandlung. Dadie absolute Höhe der impliziten Renditen sehr stark von den zugrunde liegenden Annahmen über die Beitrags-sätze zur Gesetzlichen Krankenversicherung und Sozialen Pflegeversicherung und von der Berücksichtigung an-derer Leistungen, wie zum Beispiel Hinterbliebenenrenten, abhängt, müssen die absoluten Renditewerte mit Vor-sicht interpretiert werden.

Ein direkter Vergleich der hier abgeleiteten impliziten Renditen mit den Renditen einer kapitalgedeckten Renten-versicherung ist nicht sinnvoll, da die Gesetzliche Rentenversicherung neben Altersrenten auch noch Erwerbsun-fähigkeitsrenten, Hinterbliebenenrenten und für die älteren Jahrgänge Berufsunfähigkeitsrenten zahlt sowie Reha-bilitationsleistungen gewährt. Dementsprechend könnte man bei der Renditeberechnung nur denjenigen Teil derBeiträge berücksichtigen, der für die Zahlung von Altersrenten verwendet wird. Konkret müsste man die Beiträgemit einem Korrekturfaktor kleiner als eins multiplizieren, der dem Anteil der Altersrenten (zuzüglich den anteili-gen Verwaltungskosten) an den Gesamtausgaben der Rentenversicherung im jeweiligen Jahr entspricht. Die Ren-dite würde dann höher ausfallen und ein Vergleich mit einer kapitalgedeckten Rente wäre eher möglich. Allerdingsmüsste man dann auch die Bundeszuschüsse mit einbeziehen, die einen renditesteigernden Effekt haben. Da eshier aber um eine Aussage bezüglich der Gleichbehandlung der Generationen, für die ein Vergleich der Renditenzwischen den Jahrgängen erforderlich ist, und um die Beurteilung von Reformmaßnahmen innerhalb des umlage-finanzierten Systems geht, für die nicht die absolute Höhe der Renditen, sondern ihre Veränderung interessant ist,unterbleibt die Berücksichtigung eines Korrekturfaktors.

Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters recht starke Renditesenkungen (Schaubild 56). Es wurde

338. Eine Möglichkeit, der gestiegenen Lebenserwar-tung und ihren Auswirkungen auf die Finanzlage derGesetzlichen Rentenversicherung Rechnung zu tragen,besteht in der Anhebung des gesetzlichen Rentenein-trittsalters. Wenn die Versicherten daraufhin später inRente gehen, verkürzt sich die Rentenbezugsdauer.Passt sich das Renteneintrittsverhalten nicht an, sind dieAbschläge entsprechend höher, was ebenfalls eine Ent-lastung der Gesetzlichen Rentenversicherung bedeutet.Die Rürup-Kommission hat wie der Sachverständigen-rat vorgeschlagen, ab dem Jahr 2011 das gesetzlicheRenteneintrittsalter eines Geburtsjahrgangs jedes Jahrum einen Monat zu erhöhen, so dass das neue gesetzli-che Renteneintrittsalter von 67 Jahren im Jahr 2034 fürden Geburtsjahrgang 1969 realisiert wird (JG 2001Ziffer 260).

Durch eine solche Maßnahme wird das Rentenniveaufür einen Rentner mit 45 Entgeltpunkten nicht beein-flusst, sofern er zum Regeleintrittsalter in Rente geht.Geht man aber davon aus, dass der bisherige Eckrentnerzwei Jahre länger arbeitet, mithin 47 Entgeltpunkte er-wirbt, so steigt auch das Rentenniveau entsprechend. Ar-beitet der bisherige Eckrentner nicht zwei Jahre länger,sondern geht weiterhin im Alter von 65 Jahren in Rente,muss er Abschläge hinnehmen, die sich negativ auf seinindividuelles Rentenniveau auswirken.

339. Die Berechnung der impliziten Renditen bei ei-ner schrittweisen Erhöhung des gesetzlichen Rentenein-trittsalters ergibt für die alten Jahrgänge keine, für diejungen Jahrgänge geringe und für die mittleren Kohorten

dabei unterstellt, dass – gemäß den Angaben der Rürup-Kommission – die gleitende Erhöhung der Altersgrenzebis zum Jahr 2030 gegenüber der Referenzsituation Bei-tragssatzsenkungen in Höhe von 0,6 Prozentpunkten undbis zum Jahr 2064 um 1,6 Prozentpunkte möglich macht.Geht der Versicherte nach Maßgabe der Erhöhung desgesetzlichen Renteneintrittsalters später in Rente, dannergeben sich folgende Effekte auf die Rendite: Erstenswird die Rentenbezugsdauer verkürzt und die Beitrags-zeit erhöht, was die Rendite reduziert. Zweitens kommtes aufgrund dieser Maßnahme zu geringeren Beitrags-sätzen, was für sich genommen den Barwert der Beiträgereduziert und damit positiv auf die Rendite wirkt. DieReduktion der Beitragssätze (gegenüber der Referenzsi-tuation) hat drittens zur Folge, dass die Rentenanpas-sung wegen der Systematik der Rentenanpassungsformelhöher ausfällt und deshalb die Rentenzahlungen höhersind, was ebenfalls die Rendite steigen lässt. Da die imp-lizite Rendite für die jüngeren und mittleren Jahrgängesinkt, zeigt sich, dass bei diesen der erste Effekt über-wiegt. Für die Jahrgänge von 1940 bis 1946 ist kein nen-nenswerter Renditeanstieg zu verzeichnen, da diese Ko-horten von der Anhebung des Renteneintrittsalters nichtbetroffen sind, aber auch kaum in den Genuss der durchdie Beitragssatzreduktionen verursachten höheren Ren-tenanpassungen kommen. Die Jahrgänge ab 1947 müs-sen dagegen einen Renditeverlust hinnehmen, der beiden „mittleren Jahrgängen“ der Männer bis zu0,32 Prozentpunkte ausmachen kann. Diese Altersko-horten werden stärker belastet als die Jungen, da sie dieBeitragssatzreduktion gegenüber dem Referenzszenarionicht in vollem Umfang realisieren können, aber von der

222

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters starkgetroffen werden. So ist der Renditeverlust für denJahrgang 1969 am größten, der erste Jahrgang, dessengesetzliches Renteneintrittsalter 67 Jahre beträgt.

340. Arbeitet der Versicherte trotz schrittweiser Anhe-bung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nicht länger,sondern geht weiterhin im Alter von 65 Jahren in Rente,dann muss er Abschläge bei der Altersrente von derzeit3,6 vH pro Jahr hinnehmen. Der Rentenzahlbetrag redu-ziert sich also gegenüber der Referenzsituation undschmälert für sich genommen die Rendite. Dem stehenaber die durch die Beitragssatzsenkung induzierte Re-duktion des Barwerts der Beiträge und die höhere Ren-tenanpassung gegenüber. Auch hier überwiegen dierenditesenkenden Effekte, und es kommt wieder zu Ren-diteverlusten, vor allem für die mittleren Jahrgänge. Diejungen Kohorten werden dagegen durch die geringerenBeiträge so stark begünstigt, dass die Renditedifferenzenim Vergleich zur Ausgangssituation immer kleiner wer-den und schließlich verschwinden.

341. Vergleicht man die beiden beschriebenen Reak-tionsmöglichkeiten des Versicherten auf die Anhebung

des gesetzlichen Renteneintrittsalters, dann zeigt sich,dass der Renteneintritt mit 65 Jahren unter Inkaufnahmevon Abschlägen für den Versicherten unter Renditege-sichtspunkten vorteilhafter ist, als alternativ die Erwerb-sphase auszudehnen. Dies deutet umgekehrt darauf hin,dass die Abschläge in Höhe von jährlich 3,6 vH– wenngleich versicherungsmathematisch fair – einenfrüheren Renteneintritt begünstigen.

Bei der Ermittlung von versicherungsmathematischenAbschlägen kommt es darauf an, ob aus der Sicht derRentenversicherung oder aus der Sicht des Versichertenargumentiert wird. Aus der Sicht der Rentenversiche-rung muss der versicherungsmathematisch faire Ab-schlag gerade so bestimmt werden, dass der Barwert derRenten zuzüglich dem Barwert entgangener Beitragsein-nahmen im Falle der Frühverrentung mit dem Barwertder Rente im Falle eines Renteneintritts zum gesetzli-chen Renteneintrittsalter übereinstimmt. Es dürfen alsoaus der Frühverrentung keine Belastung der Rentenver-sicherung und damit höhere Beitragssätze resultieren.Aus der Perspektive des Versicherten ist der Abschlaganreizneutral, wenn der Barwert der Rente bei vorzeiti-gem Renteneintritt mit dem Rentenbarwert abzüglichdem Barwert der zusätzlichen Beitragszahlungen bei re-gulärem Renteneintritt identisch ist. Beide Sichtweisenführen dann zu unterschiedlichen Ergebnissen, wenn derDiskontsatz für die Barwertberechnung unterschiedlichgesetzt wird. Je höher der Diskontsatz ist, desto wenigerwerden zukünftige Abschläge gewichtet, desto höhermüssen mithin die versicherungsmathematischen Ab-schläge sein. Der für die Rentenversicherung relevanteDiskontsatz ist die Rentenanpassungsrate. Für den Ver-sicherten kann seine Zeitpräferenzrate, die mit dem Ka-pitalmarktzins approximiert werden kann, als Diskont-satz dienen. Da dieser Diskontsatz in der Regel höhersein wird als der für die Gesetzliche Rentenversicherungrelevante Diskontsatz, werden die versicherungsmathe-matisch fairen Abschläge aus der Sicht der GesetzlichenRentenversicherung niedriger liegen als die anreizneu-tralen Abschläge aus der Sicht des Versicherten. Letzt-lich kann es dazu kommen, dass die Abschläge aus derSicht der Gesetzlichen Rentenversicherung versiche-rungsmathematisch fair sind, also keinen Beitragssatz-druck durch die Frühverrentung erzeugen, und gleich-zeitig dennoch für die Versicherten einen Anreiz bieten,früher in Rente zu gehen. Berechnungen der beitrags-satzneutralen Abschläge, wie sie zum Beispiel von derRürup-Kommission durchgeführt wurden, kommen zudem Ergebnis, dass die derzeit gültigen Abschläge von3,6 vH je Jahr vorzeitigen Renteneintritts zwar niedrig,aber immer noch versicherungsmathematisch korrektsind. Soll von der Rentenversicherung für den Versicher-ten kein Anreiz zur Frühverrentung ausgehen, müsstendie Abschläge aber höher sein.

Eine weitere Möglichkeit, aus der Sicht des Versichertenanreizneutrale Abschläge zu ermitteln, besteht darin, denAbschlag so zu bestimmen, dass die implizite Rendite un-verändert bleibt, unabhängig davon, ob der Versichertezum gesetzlichen Renteneintrittsalter oder früher, zumBeispiel schon mit 60 Jahren, in Rente geht. Danach be-laufen sich zur Zeit die anreizneutralen Abschläge fürFrauen des Jahrgangs 1940 auf 4,8 vH und sinken bis auf

S c h a u b i l d 56

- Frauen und Männer nach Geburtsjahrgängen -

Frauen

Männer

% %

SR 2003 - 12 - 0627

19 2003

1) Unter Zugrundelegung der Annahmen der Rürup-Kommission.-2) Gemäß den Vorschlägen der Rürup-Kommission soll das gesetzlicheRenteneintrittsalter eines Geburtsjahrgangs ab dem Jahr 2011 jedesJahr um einen Monat erhöht werden. Das neue gesetzliche Rentenein-trittsalter von 67 Jahren gilt erstmalig für den Geburtsjahrgang 1969.

gesetzliches Renteneintrittsalter2)

Renteneintrittsalter 65 Jahre

Status quo1)

0 0

1,5

2,0

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1,5

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4,0

4,5

40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 00

Geburtsjahrgang

Nominale implizite Renditen in der GesetzlichenRentenversicherung nach Anhebung des

gesetzlichen Renteneintrittsalters

223

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

4,0 vH für den Jahrgang 1950. Für die Jahrgänge 1951bis 1975 betragen sie etwa 3,9 vH; für jüngere Jahr-gänge sinken die fairen Abschläge weiter, für die Alters-kohorten ab 1992 ist die gesetzlich vorgeschriebene Ab-schlagshöhe von 3,6 vH anreizneutral. Da sichRentenabschläge um so stärker auf die Rendite auswir-ken, je länger die Rentenbezugsdauer ist, sind die anreiz-neutralen Abschläge für Männer – wegen ihrer geringe-ren Lebenserwartung – höher als für Frauen. Siebetragen 5,4 vH für den Jahrgang 1940 und sinken kon-tinuierlich auf 4,2 vH für den Jahrgang 2003. Wenn manweiter einen gleich hohen Abschlag für Männer undFrauen beibehalten will und berücksichtigt, dass zum ei-nen die Anzahl der Altersrenten für Frauen die für Män-ner um gut 40 vH übersteigt und dass zum anderen derAltersrente eines Mannes oft eine Witwenrente folgt, derAltersrente einer Frau aber in der Regel keine Witwer-rente, ist es plausibel, den einheitlichen Abschlag zwarhöher, aber eher in der Größenordung anzusetzen, wie siefür Frauen ermittelt wird. Deshalb ist die derzeit geltendeAbschlagshöhe von 3,6 vH pro Jahr – bei Anwendung desKriteriums der Gleichheit der impliziten Renditen – fürdie rentennahen Jahrgänge zu niedrig, kann für die jün-geren Jahrgänge aber für das derzeit gültige gesetzlicheRenteneintrittsalter noch als versicherungsmathematischfair gelten. Dies ändert sich allerdings mit der vorge-schlagenen Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsal-ters, weil dann die Rentenbezugsdauer sinkt, was die ver-sicherungsmathematischen Abschläge für die mittlerenund jungen Jahrgänge erhöht.

Selbst wenn die Abschläge zu niedrig sein sollten, so istdoch – wenn man eine Maßnahme nur nach ihrem Bei-tragssatzeffekt beurteilt – die Anhebung des gesetzlichenRenteneintrittsalters einer Erhöhung des tatsächlichenRenteneintrittsalters (bei unveränderter Regelalters-grenze) vorzuziehen, da der finanzielle Nettoeffekt beider Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters hö-her ist. Steigt das tatsächliche Renteneintrittsalter zumBeispiel um ein Jahr, dann ergibt sich der finanzielleNettoeffekt für die Rentenversicherung, indem man diezusätzlichen Beiträge bei längerer Erwerbstätigkeit unddie Ersparnisse bei den Rentenausgaben aufgrund derverkürzten Rentenlaufzeit den Belastungen aufgrundzusätzlicher Ausgaben für dann nicht mehr erhobeneAbschläge und aufgrund der durch die verlängerte Er-werbsphase zusätzlich anfallenden Rentenausgaben ge-genüberstellt (JG 2001 Ziffer 260). Sind die Abschläge(aus der Sicht der Rentenversicherung) versicherungs-mathematisch korrekt, dann ist dieser Nettoeffekt einerErhöhung des tatsächlichen Renteneintrittsalters null.Wird das gesetzliche Renteneintrittsalter zum Beispielum ein Jahr erhöht und reagiert der Versicherte daraufmit einer Verlängerung der Erwerbsphase um ein Jahr,dann fallen bei der Berechnung des Nettoeffekts im Ge-gensatz zur Anhebung des tatsächlichen Renteneintritts-alters die zusätzlichen Ausgaben für nicht mehr erho-bene Abschläge nicht an; der Nettoeffekt ist mithingrößer. Reagiert der Versicherte auf die Anhebung derRegelaltersgrenze nicht mit einer Verschiebung des Ren-teneintritts, dann sind die Abschläge entsprechend höherund der Barwert der Rente entsprechend geringer, was

einen positiven Nettoeffekt und eine Entlastung für dieRentenversicherung bedeutet.

342. Insgesamt wird durch die Anhebung des gesetzli-chen Renteneintrittsalters die langfristige Finanzierbar-keit der Rente verbessert, die intergenerative Ungleich-behandlung gemessen an der impliziten Rendite abererhöht. Die Belastungen, die aufgrund einer Anhebungdes gesetzlichen Renteneintrittsalters entstehen, werdenvon den Jahrgängen 1946 und jünger getragen. Es ergibtsich somit ein Konflikt zwischen der langfristigen Fi-nanzierbarkeit und einer Gleichbehandlung der Genera-tionen. Allerdings hängt dessen Intensität sehr stark vonder unterstellten Beitragssatzsenkung und von der Tatsa-che ab, dass sich Beitragssatzänderungen über die Ren-tenanpassungsformel auf die Rentenzahlungen auswir-ken.

Modifikation der Rentenanpassungsformel: der Nachhaltigkeitsfaktor

343. Während die Anhebung des gesetzlichen Renten-eintrittsalters eine Reaktion auf die angestiegene Le-benserwartung darstellt, soll dem zweiten Problem fürdie Rentenfinanzen, namentlich dem Rückgang der An-zahl der Beitragszahler (ausgelöst durch Geburtenrück-gang beziehungsweise Erwerbstätigenrückgang) unddem daraus resultierenden Druck auf die Beitragssätze,mit einer Änderung der Rentenanpassungsformel begeg-net werden. Die Rürup-Kommission schlägt – genausowie die Herzog-Kommission – vor, einen „Nachhaltig-keitsfaktor“ einzuführen. Zudem soll nach den Vorstel-lungen der Rürup-Kommission die Rentenanpassung ander Entwicklung der versicherungspflichtigen Entgelteanknüpfen und die Rentenanpassung zukünftig immer,anstatt am 1. Juli, erst am 1. Januar des darauf folgendenJahres vorgenommen werden. Dies führt zu folgenderRentenanpassungsformel:

AR: Aktueller Rentenwert,VE: Versicherungspflichtige Entgelte je Beitragszah-

ler,AVA: Altersvorsorgeanteil in vH,RVB: Beitragssatz in der Gesetzlichen Rentenversiche-

rung,RQ: Rentnerquotient = Äquivalenzrentner/Äquivalenz-

beitragszahler.

Mit dem AVA-Faktor wird in der Rentenformel implizitunterstellt, dass der Altersvorsorgeanteil der Versicher-ten stufenweise ansteigt und 4 vH ab dem Jahr 2009 be-trägt. Auch wegen der Freiwilligkeit der Riester-Renteist der tatsächliche Altersvorsorgeanteil aber geringer,weshalb die Verfassungsmäßigkeit der Rentenformel an-

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224

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

gezweifelt wird. Aufgrund dieser juristischen Unsicher-heit diskutierte die Rürup-Kommission eine alternativeRentenanpassungsformel, die den AVA-Faktor nicht ent-hält. Um mit dieser Formel das angestrebte Beitrags-satzziel zu erreichen, muss der Gewichtungsparameterfür die Veränderung des Rentnerquotienten nicht 0,25,sondern 0,33 betragen. Unter gleich bleibenden Annah-men müsste der Gewichtungsfaktor ebenfalls mit 0,33angesetzt werden, wenn auf eine Anhebung der Regelal-tersgrenze verzichtet wird, der Beitragssatz aber den-noch bis zum Jahr 2030 unter 22 vH bleiben soll.344. Um die Einnahmeorientierung der GesetzlichenRentenversicherung zu erhöhen, empfiehlt die Rürup-Kommission, in der Rentenanpassungsformel nicht mehrwie bisher die Entwicklung der Bruttolohn- und -gehalts-summe je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmergemäß den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen,sondern die Entwicklung der versicherungspflichtigenEntgelte je Beitragszahler zu berücksichtigen. DieBruttolöhne und -gehälter enthalten sowohl die Einkom-men der Beamten, die nicht in der Gesetzlichen Renten-versicherung versicherungspflichtig sind, als auch Ein-kommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze sowiedie Teile des Bruttoeinkommens, die zur Entgeltum-wandlung verwendet werden und daher nicht beitrags-pflichtig sind. Versicherungspflichtige Entgelte sinddemgegenüber alle Entgelte im Lohnabzugsverfahren,aus denen GRV-Beiträge geleistet werden müssen. Be-amteneinkommen und Einkommen über der Beitragsbe-messungsgrenze werden nicht berücksichtigt. Brutto-löhne und versicherungspflichtige Entgelte können sichunterschiedlich entwickeln und dadurch die Finanzlageder Rentenversicherung beeinflussen, da die eine Größedie Rentenanpassung und die andere Größe die Beitrags-einnahmen determiniert. In der Vergangenheit hatten sichdie beiden Größen stets parallel entwickelt, seit Mitte derneunziger Jahre gibt es jedoch teilweise erhebliche Dif-ferenzen in den Steigerungsraten. Im Jahr 2002 erhöhtensich die anpassungsrelevanten Bruttolöhne und -gehälterje Beschäftigten um 1,7 vH, die versicherungspflichtigenEntgelte je Beitragszahler aber nur um 0,4 vH. Entspre-chend stiegen die Renten stärker, als es von der Entwick-lung der versicherungspflichtigen Entgelte und damit derBeitragsbasis gerechtfertigt gewesen wäre. Mit der Um-stellung auf die versicherungspflichtigen Entgelte orien-tiert sich die Rentenanpassung stärker an der tatsächli-chen Entwicklung der Einnahmen (einnahmeorientierteAusgabenpolitik), und eine Quelle für den Druck auf dieBeitragssätze wird beseitigt.345. Die Rürup-Kommission plädiert für eine Ver-schiebung der Rentenanpassung vom derzeit 1. Juliauf den 1. Januar des folgenden Jahres, um die Renten-versicherung schon kurzfristig zu entlasten. Dies bedeu-tet, dass am 1. Juli 2004 keine Rentenanpassung statt-finden würde. Diese Maßnahme bringt aufgrund einesBasiseffekts dauerhaft eine Beitragssatzsenkung vonetwa 0,2 Prozentpunkten.Auf die Rentenanpassungsformel wirkt sich diese Maß-nahme derart aus, dass der Zeitindex von VE, RVB, undRQ ein Jahr nach hinten verschoben wird, weil über dieRentenanpassung am 1. Januar des Jahres t schon in t-1entschieden werden muss, die Daten von t-1 aber noch

nicht vorliegen. Es müssen somit die Größen des Jahrest-2 verwendet werden. Damit wird allerdings auch diezeitliche Verzögerung vergrößert, mit der die Rentenan-passung die Erhöhung der Bruttoentgelte nachzeichnet.Mithin kann es in einer konjunkturell schwachen Phasedazu kommen, dass bei einer schlechten Einnahmesitua-tion der Rentenkasse Rentensteigerungen finanziert wer-den müssen, die der Lohnentwicklung aus einer voran-gegangenen besseren konjunkturellen Phase folgen undumgekehrt.

346. Der Geburtenentwicklung und der Änderung inder Erwerbstätigkeit soll in der neuen Rentenan-passungsformel durch den Nachhaltigkeitsfaktor((1-RQt-2/RQt-3)0,25+1) Rechnung getragen werden, derdie Entwicklung des Verhältnisses von Rentnern zuBeitragszahlern (Rentnerquotient) widerspiegelt. Danicht nur die bloße Anzahl der Rentner und Beitrags-zahler für die Rentenfinanzen relevant ist, sondern auchdie Höhe der Renten und die der Löhne, wird die An-zahl der Rentner durch Normierung auf Standardrentenin Äquivalenzrentner und die Anzahl der Beitragszah-ler durch Normierung auf Durchschnittseinkommen inÄquivalenzbeitragszahler umgerechnet. Steigt der Rent-nerquotient, so erhöhen sich die Renten in einem gerin-geren Ausmaß. Die Orientierung der Rentenanpassungam Rentnerquotienten ist sinnvoll, da die Entwicklungdieser Größe direkten Einfluss auf den Beitragssatz hat(Kasten 10, Seite 226). Der Rentnerquotient wird vorallem nach dem Jahr 2015 demographisch bedingt stär-ker ansteigen, entsprechend wird die Rentenanpassungin dieser Zeit geringer ausfallen. Insgesamt wird durchden Nachhaltigkeitsfaktor der Rentenzahlbetrag imJahr 2030 im Vergleich zur Status-quo-Entwicklung um6,4 vH niedriger sein. Der Nachhaltigkeitsfaktor istaber nicht nur geeignet, langfristig die Rentenfinanzenzu stabilisieren, sondern auch kurzfristig, wenn in ei-ner konjunkturell schlechten Situation die Anzahl der(Standard-)Beitragszahler sinkt und deshalb die Renten-erhöhungen gedämpft werden.

Die von der Rürup-Kommission verfolgte Konzeptionder einnahmeorientierten Ausgabenpolitik und der Bei-tragssatzorientierung wird insbesondere durch die Wahldes Gewichtungsfaktors des Rentnerquotienten deut-lich. Denn dieser wurde mit 0,25 gerade so gesetzt, dassmit der Rentenanpassungsformel das Beitragssatzzielvon 22 vH im Jahr 2030 erreicht wird.

Der beitragssatzerhöhende Einfluss der demographi-schen Entwicklung ergibt sich zum einen durch die stei-gende Lebenserwartung und die damit verbundenen län-geren Rentenbezugszeiten, zum anderen durch dieschwache Geburtenentwicklung und der damit einherge-henden geringen Anzahl der Beitragszahler. Der mit derRentenreform 1999 eingeführte, dann aber wieder abge-schaffte Demographie-Faktor (1+0,5(LEt-9-LEt-8)/LEt-8)wollte der steigenden Rentenbezugsdauer Rechnung tra-gen, indem die Rentenanpassung gedämpft wird, wenndie fernere Lebenserwartung (LE) steigt. In der Ent-wicklung des Rentnerquotienten im Nachhaltigkeitsfak-tor schlagen sich dagegen die sinkenden Geburtenzif-fern in der Anzahl der Beitragszahler und die höhereLebenserwartung in der Anzahl der Rentner nieder, so

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

dass der Nachhaltigkeitsfaktor den demographischenProblemen umfassender Rechnung trägt als der Demo-graphie-Faktor. Die Tatsache, dass im Demographie-Faktor die Zuwachsrate der Lebenserwartung mit 0,5gewichtet wird, wurde damit begründet, dass Beitrags-zahler und Rentner die Last der Alterung jeweils zurHälfte tragen sollten. Eine ökonomische Begründunggab es dafür freilich nicht. Damals ging es letztlich da-rum, bestimmte Sparziele bei Einhaltung eines bestimm-ten Rentenniveaus (Nettorentenniveau von 64 vH imJahr 2030) zu erreichen (JG 2000 Ziffer 460). Im Nach-haltigkeitsfaktor lässt sich der Gewichtungsfaktor der

Zuwachsrate des Rentnerquotienten in Höhe von 0,25ebenso wenig rechtfertigen. Dieser Gewichtungsfaktorwird ausschließlich damit begründet, den Beitragssatzbis zum Jahr 2030 nicht über 22 vH steigen zu lassen.Diese Begründung führt dazu, dass zukünftig dieser Ge-wichtungsfaktor – falls sich die der Reform zugrundeliegenden Annahmen nicht bestätigen – mit Blick auf einbestimmtes Beitragssatzziel leicht geändert werdenkönnte, was die Flexibilität der Rentenanpassungsfor-mel erhöhen, die Planungssicherheit für den Einzelnenbezüglich seiner Rentenhöhe im Alter aber weiter redu-zieren würde.

K a s t e n 10

Rentenniveau, Beitragssatz und einnahmeorientierte Ausgabenpolitik

Sehr vereinfachend ergeben sich die Einnahmen einer umlagefinanzierten Rentenversicherung als Produkt ausdem Beitragssatz b und den versicherungspflichtigen Entgelten Y. Die Ausgaben ergeben sich aus derDurchschnittsrente r multipliziert mit der Anzahl der Rentner R, weshalb für die einperiodige Budgetgleichungder Rentenversicherung folgt:

Die versicherungspflichtigen Entgelte ergeben sich durch Multiplikation des durchschnittlichen Einkommens ymit der Anzahl der Beitragszahler B. Damit kann man den Beitragssatz als Produkt aus dem Rentenniveau RN, de-finiert als Durchschnittsrente relativ zum Durchschnittseinkommen, und dem Rentnerquotienten RQ, definiert alsdas Verhältnis zwischen Rentnern und Beitragszahlern, darstellen:

Eine rentenniveauorientierte Politik hält das Rentenniveau konstant und impliziert, dass der Beitragssatz undder Rentnerquotient sich mit der gleichen Rate entwickeln. In einer alternden Gesellschaft mit zunehmendemRentnerquotienten führt diese Politik zu steigenden Beitragssätzen.

Eine beitragssatzorientierte Politik will den Beitragssatz konstant halten, was zur Folge hat, dass das Rentenni-veau mit der gleichen Rate sinken muss, wie der Rentnerquotient steigt. Die Alterung der Bevölkerung führt somitzu einer Verringerung des Rentenniveaus.

In Deutschland wird eine Mischung zwischen beiden Konzeptionen betrieben, wobei in der Vergangenheit ehereine Niveauorientierung vorlag. Sowohl mit der Riester-Reform als auch mit den Rürup-Vorschlägen wird hinge-gen eher eine Politik des konstanten Beitragssatzes verfolgt, wenngleich weniger ein konstanter Beitragssatz alsvielmehr eine Begrenzung des Anstiegs angestrebt wird.

Als einnahmeorientierte Ausgabenpolitik bezeichnet man allgemein eine Politik, bei der die Entwicklung derAusgaben an die Entwicklung der Einnahmen angepasst wird. In der Gesetzlichen Rentenversicherung bedeutetdies, dass sich Änderungen auf der Einnahmeseite in der Rentenanpassung und damit auf der Ausgabenseite nie-derschlagen. Aus Gleichung (1) und (2) kann man für die Zuwachsrate der Durchschnittsrente wr ableiten:

wobei w die Zuwachsrate der jeweiligen Größe bezeichnet. Die Einnahmen der Rentenversicherung werden beein-trächtigt, wenn beispielsweise die versicherungspflichtigen Entgelte aufgrund der wirtschaftlichen oder aufgrundder demographischen Entwicklung sinken beziehungsweise weniger stark steigen. Ebenso führt eine Verringerungder Anzahl der Beitragszahler zu geringeren Einnahmen. Wird also bei der Rentenanpassung (über eine Rentenan-passungsformel) die Entwicklung der versicherungspflichtigen Entgelte oder die Anzahl der Beitragszahler bezie-hungsweise der Rentnerquotient berücksichtigt, liegt eine Einnahmeorientierung der Rentenanpassung vor.

bY=rR(1)

RQRNB

R

y

rb ⋅==(2)

bRYbBRybRQyr wwwwwwwwwww +−=++−=+−= ,(3)

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

347. Die Modifikation der Rentenanpassungsformelzusammen mit der Anhebung des gesetzlichen Renten-eintrittsalters soll gewährleisten, unter den getroffenenAnnahmen den Beitragssatz bis zum Jahr 2030 unter22 vH zu halten; er liegt damit um über 2 Prozentpunkteniedriger als vor der Reform (Schaubild 57).

348. Das Bruttorentenniveau eines Rentners, der45 Entgeltpunkte erworben hat, reduziert sich bei Reali-sierung der Vorschläge der Rürup-Kommission eben-falls beträchtlich von 48,0 vH im Jahr 2003 auf 42,5 vHim Jahr 2020 und auf 40,0 vH im Jahr 2030. Unter Sta-tus-quo-Bedingungen, das heißt als Folge der Rentenre-form 2001, würde dagegen das Bruttorentenniveau auf42,3 vH im Jahr 2030 zurückgehen. Dieser Rückgangwurde bei der Riester-Reform damit gerechtfertigt, dassdurch die zusätzliche private Altersvorsorge die Ni-veausenkung in der Gesetzlichen Rentenversicherungkompensiert werden kann.

Besser als das Bruttorentenniveau kann das Nettorenten-niveau Auskunft darüber geben, in welchem Ausmaß dieGesetzliche Rentenversicherung zur Lebensstandardsi-cherung eines Versicherten beitragen kann. Das Netto-rentenniveau verliert allerdings an Aussagekraft, wennman zu einer nachgelagerten Besteuerung von Altersein-

künften übergeht (Ziffer 286). Die schrittweise Steuer-freistellung der Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversi-cherung erhöht für sich genommen die Nettolöhne underzeugt eine Reduktion des Nettorentenniveaus, ohnedass sich bei den Nettorenten etwas ändert. Für die Be-standsrentner soll der zu besteuernde Rentenanteil kon-stant bleiben, die Rentenzugänge dagegen sollen schritt-weise stärker besteuert werden, so dass auch deshalb dieNettostandardrente sinkt, allerdings nur für die Neurent-ner. Die Nettorente hängt mithin vom Rentenzugangsjahrab, und ein einheitliches Nettorentenniveau kann nichtmehr ausgewiesen werden. Das Bruttorentenniveau desStandardrentners kann dagegen nach wie vor als Maß-zahl dienen, insbesondere wenn es um Änderungen desRentenniveaus im Zeitverlauf geht, zum Beispiel indu-ziert durch eine Rentenanpassungsformel.

Zur Verdeutlichung der rentenerhöhenden Effekte einerVerlängerung der Lebensarbeitszeit wird von der Rürup-Kommission die Rente eines „angepassten“ Standardrent-ners berechnet. Hierbei wird die Anzahl der Entgeltpunktedes Standardrentners ab dem Jahr 2011 ausgehend von45 Entgeltpunkten jährlich um ein zwölftel Entgeltpunkterhöht, so dass der „angepasste“ Standardrentner 45,8 Ent-geltpunkte im Jahr 2020 und 46,7 Entgeltpunkte imJahr 2030 hat. Der Rückgang des Rentenniveaus fällt fürdiesen „angepassten“ Standardrentner entsprechend gerin-ger aus: Das Bruttorenteniveau sinkt von 48,0 vH über43,3 vH im Jahr 2020 auf 41,4 vH im Jahr 2030 und ist da-mit um 1,4 Prozentpunkte höher als bei der amtlichen De-finition des Eckrentners (Schaubild 58, Seite 228).

Eine Reduktion des Rentenniveaus vergrößert das sogenannte Samariterdilemma, dem jede – auch äquiva-lenzbezogene – Rentenversicherung gegenübersteht,wenn vom Staat ein Mindesteinkommen gewährleistetwird. Übersteigt die zu erwartende Rente das Sozialhil-feniveau oder die garantierte Grundsicherung nichtoder kaum, dann kann die Beitragszahlung zur Gesetzli-chen Rentenversicherung, selbst wenn diese gänzlichäquivalenzorientiert ist, als Steuerzahlung empfundenwerden, sofern keine zusätzlichen Einkommen oder Ver-mögen im Alter vorhanden sind beziehungsweise ein An-spruch auf Mindestsicherung im Alter besteht. Die Leis-tungsbezogenheit der Beiträge geht verloren, da siekeine höheren Leistungen als die auch ohne Rentenversi-cherung „sichere“ Mindestsicherung generieren. DieLegitimation der Rentenversicherung wird geschwächt.

349. Wichtig für die Beurteilung des Lebensstandardsder Rentner ist das Gesamtversorgungsniveau, das vonder Rürup-Kommission als Relation der GRV-Rente zu-züglich der Riester-Rente zum durchschnittlichen Brut-toarbeitseinkommen definiert wird. Für die Riester-Rente wird angenommen, dass jährlich vom Lohn 4 vHbei einer Verzinsung von 4 % angespart werden; es wirdunterstellt, dass die minimale Einzahlungsdauer zwölfJahre beträgt, die ersten Riester-Renten also ab demJahr 2015 ausgezahlt werden. Der Auszahlungszeitraumerstreckt sich über 20 Jahre. Das Gesamtversorgungsni-veau des „angepassten“ Standardrentners sinkt damitvon 48,0 vH im Jahr 2003 vorübergehend auf 44,0 vHim Jahr 2014, steigt aber dann wieder auf 47,2 vH im

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1) Status quo-Szenario unter Zugrundelegung der Annahmen der Rürup-Kommission.– 2) Modifikation der Rentenanpassungsformel und schritt-weise Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters; Quelle: Kommis-sion für die Nachhaltigkeit in der Finan -zierung der sozialen Sicherungssysteme.

SR 2003 - 12 - 0617

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2000 05 10 15 20 25 30 35 2040

Beitragssatzpfadin der Gesetzlichen Rentenversicherungim Status quo und nach Verwirklichung

der Kommissionsvorschläge

Status quo1)

Kommissionsvorschläge2)

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

Jahr 2020 und 48,1 vH im Jahr 2030. Das Gesamtversor-gungsniveau des Standardrentners mit 45 Entgeltpunk-ten geht dagegen auf 43,6 vH im Jahr 2014 zurück undsteigt nur auf 46,6 vH im Jahr 2030. Das Gesamtversor-gungsniveau des Standardrentners wird also – trotz Be-rücksichtigung der Riesterrente und der optimistischenAnnahme, dass 4 vH des Arbeitseinkommens für das Al-tersvorsorgesparen aufgewendet werden – durch dieVorschläge der Rürup-Kommission reduziert.

350. Die Modifikation der Rentenanpassungsformelführt für sich genommen zu einem langsameren Renten-anstieg und damit zu einer geringeren Rendite für Be-standsrentner. Auch für die Geburtsjahrgänge ab 1940gibt es einen Renditeverlust, der vor allem für die mittle-ren Jahrgänge recht groß ist (Schaubild 59). Letzterewerden nicht mehr in vollem Ausmaß von den gegen-über der Ausgangssituation niedrigeren Beitragssätzenbegünstigt, aber von der deutlichen Dämpfung des Ren-

tenanstiegs getroffen. Insgesamt schlägt der durch dieveränderte Rentenanpassungsformel erzeugte Rückgangdes Rentenniveaus stärker auf die Rendite durch als derlangsamere Anstieg der Beitragssätze, weshalb alleheute lebenden Jahrgänge vom Renditerückgang in derGesetzlichen Rentenversicherung betroffen sind.

351. Bei Betrachtung der Renditeeffekte der gesam-ten Reform zeigt sich der größte Renditeverlust– teilweise über 0,5 Prozentpunkte – bei den mittlerenGeburtsjahrgängen zwischen 1965 und 1985. Sie werdensowohl von der Modifikation der Rentenanpassungsfor-mel als auch von der Anhebung des gesetzlichen Ren-teneintrittsalters stark getroffen. Die älteren und die jün-geren Kohorten belastet dagegen der Anstieg desRenteneintrittsalters nicht oder nicht so stark, bei denersten, weil sich ihr Renteneintrittsalter nicht oder kaumerhöht und bei den zweiten, weil sie voll von der Bei-tragssatzsenkung als Folge der Anhebung des gesetzli-chen Renteneintrittsalters profitieren.

352. In Anbetracht des – mit einem Renditeverlust„erkauften“ – niedrigeren Beitragssatzpfads kann argu-mentiert werden, dass durch die geringeren Beitrags-sätze für die Versicherten Freiräume geschaffen werden,um die im Vergleich zu einem Reformverzicht realisierteBeitragsersparnis am Kapitalmarkt für die Altersvor-sorge anzulegen. Letztlich bedeutet dies nichts anderes,als dass die Versicherten die Möglichkeit erhalten, vonder unterstellten höheren Rendite am Kapitalmarkt zuprofitieren und somit die Rendite der gesamten Alters-vorsorge (Umlagerente plus Kapitalrente) zu verbessern(JG 2001 Ziffer 248 und Schaubild 36).

Geht man davon aus, dass ein repräsentativer Versicher-ter die Differenz zwischen den Beiträgen ohne Reformund den Beiträgen mit Reform jährlich am Kapitalmarktmit einer Verzinsung von 4 % anlegt und er ab seinem65. Lebensjahr eine Kapitalrente für seine restliche Le-bensdauer erhält, dann ergibt sich für die Geburtsjahr-gänge ab 1998 ein Renditegewinn im Vergleich zur Situ-ation ohne Reform (Schaubild 59). Der „Break-even-Jahrgang“ verschiebt sich in Richtung älterer Jahrgänge,wenn man für die Kapitalanlage eine höhere Verzinsungannimmt und deshalb die kapitalgedeckte Rente im Ver-gleich zur Sozialrente ein größeres Gewicht erhält. Sowürde bei einer Verzinsung von 5 % schon derJahrgang 1989 besser gestellt werden als vor der Re-form.

353. Wenn man das beitragsfinanzierte Umlagesystemerhalten will, sind die Einführung des Nachhaltigkeits-faktors und die Anhebung des gesetzlichen Rentenein-trittsalters geeignete Maßnahmen, um den sinkendenGeburtenzahlen, dem Rückgang der Erwerbstätigenzah-len und der steigenden Lebenserwartung Rechnung zutragen. So kann – sofern sich die getroffenen Annahmenals realistisch erweisen – die langfristige Finanzierbar-keit der umlagefinanzierten Säule und damit das Systemselbst gesichert sowie die Tragfähigkeitslücke der öf-fentlichen Haushalte reduziert werden (Ziffern 452 f.).Dies geschieht allerdings zu Lasten vor allem der mitt-leren Geburtsjahrgänge. Einen Spielraum für weitere

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Status quo

Gesamte Reform "angepasster" Standardrentner1):

Gesamte Reform Standardrentner1):nur geänderte Rentenanpassungsformel

Kommissionsvorschläge

1) Änderung der Rentenanpassungsformel und Anhebung des gesetz-lichen Renteneintrittsalters.

SR 2003 - 12 - 0619

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Bruttorentenniveau im Status quound nach Verwirklichung der Kommissionsvorschläge

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

Rentenniveausenkungen gäbe es nach Durchführung ei-ner solchen Reform kaum mehr, will man die beitragsfi-nanzierte Rentenversicherung nicht weiter ihrer Legiti-mation berauben.

Reformvorhaben der Bundesregierung

354. Die Vorschläge der Rürup-Kommission fandensich teilweise in den von der Bundesregierung im Okto-ber beschlossenen „Eckpunkten für die Weiterentwick-lung der Rentenreform des Jahres 2001“ wieder. Sowurde beschlossen, die Rentenanpassungsformel um ei-nen Nachhaltigkeitsfaktor zu erweitern und außerdem inder Rentenanpassungsformel nicht mehr die Entwick-lung der Bruttolöhne und -gehälter gemäß den Volks-wirtschaftlichen Gesamtrechnungen, sondern die bei-tragspflichtigen Einkommen zu berücksichtigen. DieRentenanpassung soll zukünftig – wie von der Rürup-Kommission vorgeschlagen – am 1. Januar jeden Jahresvorgenommen werden. Eine Entscheidung über die An-hebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters wurde aufdas Jahr 2010 verschoben. Bis dahin wird angestrebt,

das tatsächliche Renteneintrittsalter näher an das gesetz-liche heranzuführen, indem die Beschäftigungschancenvon Älteren verbessert und Frühverrentungsanreize re-duziert werden. Zu berücksichtigen ist allerdings, dassdie Anhebung des tatsächlichen Renteneintrittsalterszwar über vermiedene Rentenzahlungen und zusätzlicheBeitragseinnahmen temporäre Entlastungen bringt, diesewerden aber durch dauerhaft höhere Rentenzahlungenwieder kompensiert, so dass letztlich kaum positive Bei-tragssatzeffekte eintreten dürften (Ziffer 341). An einerAnhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters wirdkein Weg vorbeiführen, sowohl zur Dämpfung der Bei-tragssatzdynamik als auch zur Stabilisierung des Ren-tenniveaus.

Innerhalb der Gesetzlichen Rentenversicherung sind zu-dem folgende Maßnahmen geplant:

– Um die Anreize zur Frühverrentung zu reduzieren,soll die Altersgrenze für die frühestmögliche Inan-spruchnahme der Altersrente wegen Arbeitslosigkeitab dem Jahr 2006 bis zum Jahr 2008 in Monatsschrit-ten von 60 Jahre auf 63 Jahre angehoben werden.

S c h a u b i l d 59

nur geänderte Rentenanpassungsformel

Rentenanpassungsformel und gesetzlichesRenteneintrittsalter1)

Rentenanpassungsformel undRenteneintrittsalter 65 Jahre

Status quo

Gesamtreform ohne Vorsorgesparen2),Gesamtreform2), mit Vorsorgesparen, Verzinsung 5%

Gesamtreform2), mit Vorsorgesparen, Verzinsung 4%

Kommissionsvorschläge: Kommissionsvorschläge und Vorsorgesparen:

1) Das gesetzliche Renteneintrittsalter eines Geburtsjahrgangs wird ab dem Jahr 2011 jedes Jahr um einen Monat erhöht. Das neue gesetzliche Rentenein-trittsalter von 67 Jahren gilt erstmalig für den Geburtsjahrgang 1969.– 2) Änderung der Rentenanpassungsformel und Anhebung des gesetzlichen Renten-eintrittsalters.

SR 2003 - 12 - 0630

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Nominale implizite Renditen in der Gesetzlichen Rentenversicherung für Männerim Status quo und nach Verwirklichung der Kommissionsvorschläge

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

– Die bewerteten Anrechnungszeiten bei schulischerAusbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahressollen für Neurenten abgeschafft werden. Allerdingsgilt eine vierjährige Übergangsfrist ab demJahr 2005. Die Berücksichtigung der Schulausbil-dungszeit als „unbewertete“ Anrechnungszeit bleibterhalten, so dass rentenrechtliche Lücken vermiedenwerden. Insgesamt trägt diese Maßnahme zur Stär-kung der Beitragsäquivalenz bei.

– Die pauschale Höherbewertung der ersten 36 Monatemit Pflichtbeiträgen wird für Neurentner schrittweiseinnerhalb von vier Jahren abgeschafft, sofern es sichnicht um Pflichtbeitragszeiten wegen beruflicherAusbildung handelt.

355. Im Bereich der oft als zu bürokratisch kritisiertenRiester-Rente sollen Verfahrensvereinfachungen vorge-nommen werden. So soll die Anzahl der Zertifizierungs-kriterien (JG 2001 Tabelle 33) reduziert werden. AusGründen des Verbraucherschutzes will man aber unteranderem die Garantie der eingezahlten Beiträge und dieAuszahlung in Form einer monatlichen Leibrente frü-hestens ab dem 60. Lebensjahr beibehalten. Weiterhinsoll der bürokratische Aufwand dadurch reduziert wer-den, dass nicht mehr jedes Jahr ein Antrag auf Zulagegestellt werden muss, sondern ein einmaliger Antrag füralle Folgejahre ausreichend ist. Der bisher nach der Kin-derzahl gestaffelte Sockelbetrag, den die Geringverdie-ner als Mindesteigenbeitrag leisten müssen (JG 2001Tabelle 34), wird vereinheitlicht. Auch die Tatsache,dass bei einem Wegzug des Rentenbeziehers ins Auslanddie Vorschriften der „schädlichen Verwendung“ greifen,die eine Rückerstattung der Förderbeträge verlangen,soll beseitigt werden (JG 2001 Ziffer 246). Im Bereichder betrieblichen Altersversorgung will man Hemmnisseabbauen, indem Arbeitnehmer das Recht erhalten, beimArbeitsplatzwechsel das beim alten Arbeitgeber erwor-bene Kapital in die Einrichtung der betrieblichen Alters-versorgung des neuen Arbeitgebers mitzunehmen.

356. Im Zuge der ansonsten zu begrüßenden Verfah-rensvereinfachungen bei der Riester-Rente ist vom Bun-desministerium für Gesundheit und Soziale Sicherunggeplant, dass zukünftig nur noch solche Verträge staat-lich gefördert werden sollen, die neben der Altersversor-gung auch das Invaliditäts- und Hinterbliebenenrisikoabsichern. Das Ziel dieser Vorschrift besteht darin, dieVoraussetzungen zu schaffen, dass Frauen und Männerdie gleichen Tarife (so genannte Unisex-Tarife) erhalten.Denn wenn diese drei Risiken gleichzeitig abgesichertwerden, ist eine geschlechtsspezifische Unterscheidungbei den Tarifen nicht mehr zu begründen. Unisex-Tarifewerden gefordert, um einer vermeintlichen Ungleichbe-handlung von Frauen entgegen zu wirken. Diese wirddarin gesehen, dass Frauen bei gleicher Sparleistung auf-grund ihrer längeren Lebenserwartung – bei Wahrungder aktuarischen Beitragsäquivalenz – eine niedrigereMonatsrente als Männer beziehen. Darin ist jedoch keineUngleichbehandlung zu erkennen, vielmehr stellt dieseine risikoadäquate Differenzierung dar. Würde manUnisex-Tarife quasi durch die Hintertür bei der Riester-

Rente einführen, indem die Förderung an die Absiche-rung auch des Invaliditäts- und Hinterbliebenenrisikosgeknüpft wird, würde dies nicht nur zu einer Diskrimi-nierung Alleinstehender beiderlei Geschlechts führen,für Männer ergäben sich im Vergleich zur geltenden Re-gelung generell deutliche Nachteile. Für diese Gruppenwürde die Riester-Rente also unattraktiver. Man kanndie Unisex-Tarife bei der Riester-Rente auch nicht damitbegründen, dass sie in der Gesetzlichen Rentenversiche-rung zur Anwendung kommen. Konstituierende Eigen-schaft einer Sozialversicherung ist es gerade, nicht nachRisiken zu differenzieren; deshalb müssen solche Sys-teme obligatorisch sein. Wollte man Unisex-Tarife auchin der Riester-Rente einführen, müsste man diese letzt-lich obligatorisch machen.

3. Pflegeversicherung: Reform unvermeidlich

Die finanzielle Lage der Sozialen Pflegeversicherung

357. Die finanzielle Situation der Sozialen Pflegeversi-cherung war auch in diesem Jahr angespannt. Auf derEinnahmeseite machte sich, genauso wie in der Gesetzli-chen Krankenversicherung, die schlechte konjunkturelleEntwicklung bemerkbar, und auf der Ausgabenseiteführte die kontinuierlich steigende Anzahl der Leis-tungsempfänger zu finanziellen Mehrbelastungen, sodass auch in diesem Jahr ein Defizit von rund0,5 Mrd Euro realisiert wurde. Da die Rücklagen mit4,9 Mrd Euro noch immer relativ hoch sind, ist eine Bei-tragssatzsteigerung kurzfristig nicht notwendig. Gleich-wohl sind die seit dem Jahr 1999 jährlich auftretendenDefizite ein Indikator für die strukturellen Probleme derSozialen Pflegeversicherung, die eine Beitragssatzerhö-hung mittelfristig unumgänglich machen. So ergebenunterschiedliche Modellrechnungen einen notwendigenAnstieg des Beitragssatzes auf 2,7 vH bis 4,6 vH imJahr 2040. Will man diesen absehbaren Anstieg der Bei-tragssätze verhindern, sind auch im Bereich der Pflege-versicherung Reformen notwendig, die schon heute inAngriff genommen werden müssen.

Derzeit sind rund 70,6 Millionen Personen in der Sozia-len Pflegeversicherung (51 Millionen Mitglieder undrund 20 Millionen mitversicherte Familienangehörige)und etwa 8,6 Millionen Personen in der Privaten Pflege-versicherung versichert. Die Anzahl der Leistungsbezie-her beträgt rund 2 Millionen Personen. Davon sind1,89 Millionen Personen Mitglied in der Sozialen Pfle-geversicherung, die sich wiederum in 1,29 Millionenambulant Pflegebedürftige und 0,60 Millionen stationärPflegebedürftige aufteilen (Tabelle 86*, Anhang V).Nach der Schwere der Pflegebedürftigkeit findet eineEinteilung in drei Pflegestufen statt, wobei in der ambu-lanten Pflege 56 vH auf Stufe 1, 34 vH auf Stufe 2 und10 vH auf Stufe 3 entfallen. In der stationären Pflege be-tragen die entsprechenden Anteile 38 vH, 42 vH und20 vH. Im Rahmen der häuslichen Pflege beträgt dasPflegegeld monatlich 205 Euro für Stufe 1, 410 Euro fürStufe 2 und 665 Euro für Stufe 3. Die (alternativen) Pfle-gesachleistungen werden in der Höhe von 384 Euro,921 Euro und 1 432 Euro gewährt. Im Falle einer voll-stationären Pflege betragen die Pflegeaufwendungen

230

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

der Pflegeversicherung 1 023 Euro in Stufe 1, 1 279 Euroin Stufe 2 und 1 432 Euro in Stufe 3.

Im Jahr 2002 beliefen sich die Ausgaben der SozialenPflegeversicherung auf 17,3 Mrd Euro. Die Beitragsein-nahmen betrugen 16,8 Mrd Euro. Über 82 vH der Leis-tungsausgaben werden von Personen im Alter von über60 Jahren und 78 vH der Leistungsausgaben von Perso-nen im Alter von über 65 Jahren verursacht. Dem stehenBeitragseinnahmen von Rentnern in Höhe von rund3 Mrd Euro (18 vH) gegenüber. Jede Pflegekasse ist zurSicherstellung ihrer Leistungsfähigkeit verpflichtet, eineRücklage in Höhe von 50 vH einer durchschnittlichenMonatsausgabe zu bilden. Mit der Rücklage sollen Ein-nahme- und Ausgabenschwankungen innerhalb einesJahres ausgeglichen werden. Wenn die Rücklage dasRücklagesoll übersteigt, muss der Überschuss an einenAusgleichsfonds überwiesen werden. Dieser Ausgleichs-fonds wird vom Bundesversicherungsamt verwaltet. Ne-ben den Rücklageüberschüssen fließen auch die Bei-träge aus Rentenzahlungen in den Fonds ein. Die Mitteldes Ausgleichsfonds werden im Rahmen des Finanzaus-gleichs zwischen den Pflegekassen herangezogen.

Reformvorschlag der Rürup-Kommission

358. In Anbetracht der bei gegebenem Beitragssatzwegen der demographischen Entwicklung zu erwarten-den Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben machtedie Rürup-Kommission auch im Bereich der SozialenPflegeversicherung einen Reformvorschlag, der im We-sentlichen am derzeitigen System festhält, aber einelangfristige Beitragssatzstabilität für die Erwerbstätigengewährleisten soll, indem sowohl an der Einnahmeseiteals auch an der Ausgabenseite angesetzt wird. Konkretenthält der Vorschlag folgende Elemente:

– Dynamisierung der Leistungen: Die Leistungen sol-len jährlich gemäß dem arithmetischen Mittel aus In-flationsrate und Lohnsteigerungsrate zunehmen. Da-mit wird einer realen Entwertung der Leistungenentgegengetreten, und durch die Berücksichtigung derLohnsteigerungsrate wird der Tatsache Rechnung ge-tragen, dass die Pflegeleistungen personalintensivsind und die Kostensteigerungen in diesem Bereichüber der allgemeinen Teuerungsrate liegen können. Inden Kommissionsszenarien wird eine Inflationsratevon 1,5 vH per annum und eine Nominallohnsteige-rung von 3,0 vH jährlich angenommen, so dass dieLeistungssätze um 2,25 vH pro Jahr steigen müssten.

– Finanzielle Gleichstellung von stationärer undambulanter Pflege: Der Umfang der stationärenLeistungen und der qualitätsgesicherten ambulantenPflegesachleistungen soll aneinander angepasst wer-den. So soll ab dem Jahr 2005 die Leistungshöhe fürstationäre und ambulante Pflegeleistungen für Neu-zugänge einheitlich 400 Euro für die Pflegestufe 1,1 000 Euro für die Pflegestufe 2 und 1 500 Euro fürdie Pflegestufe 3 betragen. Es findet also eine Leis-tungserhöhung bei ambulanter und eine Leistungsre-duktion für die Stufen 1 und 2 bei stationärer Pflegestatt. Damit soll der Anreiz zu einer stärkeren Inan-

spruchnahme der stationären Pflege beseitigt werden.Gleichzeitig könnte damit aber die oft beklagte Un-terversorgung in den Pflegeheimen weiter zunehmen.Insgesamt sollen durch die Angleichung der Pflege-sätze mittelfristig Einsparungen in Höhe von etwa2 Mrd Euro erzielt werden. Dem stehen aber zu er-wartende zusätzliche Ausgaben der Sozialhilfeträgergegenüber, wenn deren Ausgaben aufgrund der redu-zierten Leistungen der Pflegeversicherung im statio-nären Bereich steigen. Das Pflegegeld soll in seinerderzeitigen Höhe erhalten bleiben.

– Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsge-richtes: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinemUrteil vom 3. April 2001 die Regelung, dass Mitglie-der der Pflegeversicherung, die Kinder betreuen odererziehen, mit einem gleich hohen Pflegeversiche-rungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastetwerden, als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar er-achtet. Denn kindererziehende Pflichtversicherte leis-teten mit der Kindererziehung konstitutive generativeBeiträge zur Zukunftssicherung des Umlagesystemsund müssten deshalb innerhalb dieses Systems aufder Beitragsseite entlastet werden (JG 2001Ziffern 273 ff.). Eine entsprechende gesetzliche Än-derung muss bis spätestens 31. Dezember 2004 vor-genommen werden. Die Rürup-Kommission ist derAuffassung, dass der Familienlastenausgleich einegesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt und des-halb aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren ist,weshalb sie steuerliche Beitragszuschüsse für Erzie-hende vorschlägt. Trotz der Tatsache, dass solche Zu-schüsse die Einnahmen der Pflegeversicherung nichterhöhen, rechnet die Kommission mit zusätzlichenEinnahmen in Höhe von 1 Mrd Euro. Es bleibt un-klar, wie dieser Betrag aufgebracht werden soll. DieBundesregierung beabsichtigt, dem Urteil des Bun-desverfassungsgerichts durch die Erhebung einesnach Einkommen gestaffelten Zuschlags bei denNichterziehenden zu entsprechen.

– Beitragserhöhung für Rentner und Kapitalde-ckung: Ab dem Jahr 2010 sollen Rentner einen zu-sätzlichen Beitrag zur Pflegeversicherung in Höhevon zunächst 2 vH der beitragpflichtigen Einnahmen(generativer Ausgleichssatz) leisten. Dies soll eineSenkung des allgemeinen Beitragssatzes auf 1,2 vHermöglichen, so dass der Beitragssatz für Rentner3,2 vH beträgt. Davon sollen 0,6 Prozentpunkte vonden Rentenversicherungsträgern (Hälfte des allge-meinen Beitragssatzes) und 2,6 Prozentpunkte vonden Rentnern übernommen werden. Im Zeitverlaufsoll der „generative Ausgleichssatz“ von 2 vH imJahr 2010 über 2,4 vH im Jahr 2020 auf 2,8 vH imJahr 2040 ansteigen. Bei Arbeitern und Angestelltensoll der durch die Reduktion des allgemeinen Bei-tragssatzes erzeugte Spielraum von 0,5 Prozentpunk-ten im Jahr 2010 zur obligatorischen Bildung von Al-terungsrückstellungen auf individuellen, bei denRentenversicherungsträgern zentral geführten Pflege-konten genutzt werden, so dass der gesamte Beitrags-satz für Arbeiter und Angestellte ab dem Jahr 2010

231

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Die wirtschaftliche Lage im Jahr 2003

nach wie vor bei 1,7 vH liegen wird. Der angesparteKapitalbestand wird zum Zeitpunkt des Rentenein-tritts als Leibrente ausgezahlt und soll dazu dienen,die zusätzliche Belastung mit Pflegeversicherungs-beiträgen im Rentenalter aufzubringen. Der Beitrags-satz zur Bildung des privaten Kapitalstocks wirddann im Zeitablauf sukzessive reduziert und der all-gemeine Beitragssatz der Pflegeversicherung im glei-chen Ausmaß erhöht, so dass der Gesamtbeitragssatzbis zum Jahr 2040 bei 1,7 vH konstant bleibt. Insge-samt ist das Modell so ausgestaltet, dass der Netto-beitrag der Rentner im Zeitraum der Jahre 2010bis 2040 rund 2,6 vH (Gesamtbeitrag auf Renten ab-züglich der privat angesparten Rente, abzüglich desBeitragsanteils der Rentenversicherungsträger) be-trägt (Tabelle 45). Somit wird erreicht, dass Arbeit-nehmer und Rentner jeder Generation die gleichenBelastungen durch die Pflegeversicherung tragenmüssen, freilich mit einem Belastungssprung beimÜbergang von der Erwerbsphase in die Rentenphase.Wenn, wie von der Bundesregierung beschlossen, dieRentner ab dem 1. April 2004 den gesamten Pflege-versicherungsbeitrag zahlen müssen, bestehen fürdieses Konzept faktisch keine Umsetzungschancenmehr.

359. Die Anerkennung des Reformbedarfs seitens derBundesregierung und die sich daran anschließenden Re-formüberlegungen zeigen, dass die Einführung einerumlagefinanzierten Pflegeversicherung vor dem Hinter-grund der zu erwartenden demographischen Entwick-lung ein Fehler war. Besser wäre es gewesen, eine kapi-

talgedeckte Pflegeversicherung mit Versicherungspflichtund Kontrahierungszwang für die Versicherungsunter-nehmen zu etablieren (SG 94 Ziffern 3 ff.). Ein Umstiegist auch heute noch möglich, er würde zwar Übergangs-kosten verursachen, die aber im Vergleich zu einem Sys-temwechsel bei der Gesetzlichen Rentenversicherungoder Gesetzlichen Krankenversicherung noch beherrsch-bar wären.

Ein Weg besteht in dem an der Universität Freiburg ent-wickelten und von der Rürup-Kommission wegen derZusatzbelastung für die heute lebenden Jahrgänge ver-worfenen Reformvorschlag eines so bezeichneten Aus-laufmodells. Danach sollen im Jahr 2005 alle dann un-ter 60-Jährigen ihren Anspruch auf Leistungen aus derSozialen Pflegeversicherung verlieren und einer obliga-torischen privaten Pflegeversicherung zugeführt werden.Die von diesen Personen bisher geleisteten Einzahlun-gen in die Pflegekassen könnten als langfristige Schuld-verschreibungen verbrieft werden, womit eine impliziteStaatsschuld explizit gemacht würde. Die über 60-Jähri-gen behalten ihren Leistungsanspruch aus der SozialenPflegeversicherung, müssen aber eine so genannte Aus-gleichspauschale von 40 Euro monatlich leisten. DiesePauschale kann damit gerechtfertigt werden, dass mitihr den Älteren ein Teil ihres Einführungsgewinns entzo-gen wird. Da die Einnahmen aus der Ausgleichspau-schale nicht ausreichen, um die Pflegeleistungen zu fi-nanzieren, müssen zudem noch die unter 60-Jährigeneinen so genannten Solidarbeitrag, der nichts anderesals eine Pflegesteuer darstellt, in Höhe von zunächst1,1 vH des Bruttoarbeitseinkommens leisten. Der Soli-darbeitrag steigt im Zeitverlauf auf 1,8 vH an, sinkt aber

Ta b e l l e 45

Entwicklung der Beitragssätze in der Sozialen Pflegeversicherungnach dem Reformvorschlag der Rürup-Kommission1)

vH

Gene-rativer

Ausgleichs-beitrags-

satz

All-gemeinerBeitrags-

satz

Spar-anteil für

Pflege-konto

Gesamt-beitrags-

satz (Umlage +

Kapital-deckung)

Gesamt-beitrags-satz auf Renten

Beitrags-satz für Renten-

versiche-rungs-träger

Beitrags-satz für Rentner

Anteil der Leibrente aus dem Pflege-kontoan der

Standard-rente

Netto-beitrags-satz der Rentner

(1) (2) (3) (4)=(2)+(3) (5)=(1)+(2) (6)=(2)/2 (7)=(5)-(6) (8) (9)=(7)-(8)

2005 0,0 1,7 0,0 1,7 1,7 0,85 0,85 0,00 0,852010 2,0 1,2 0,5 1,7 3,2 0,60 2,60 0,00 2,602015 2,2 1,4 0,3 1,7 3,6 0,70 2,90 0,34 2,562020 2,4 1,5 0,2 1,7 3,9 0,75 3,15 0,57 2,582025 2,6 1,6 0,1 1,7 4,2 0,80 3,40 0,76 2,642030 2,6 1,7 0,0 1,7 4,3 0,85 3,45 0,90 2,552035 2,8 1,7 0,0 1,7 4,5 0,85 3,65 0,97 2,682040 2,8 1,7 0,0 1,7 4,5 0,85 3,65 1,03 2,62

1) Zu den Einzelheiten siehe Ziffer 358.

Quelle für Grundzahlen: Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme

Jahr

232

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Soziale Sicherung: Reformbemühungen und Reformdiskussionen

dann bis auf null im Jahr 2045 ab. Zusätzlich zum Soli-darbeitrag müssen diese Personen noch den Beitrag zurprivaten Pflegeversicherung aufbringen, so dass sicheine Zweifachbelastung ergibt. Diese zusätzliche Belas-tung könnte man aber insofern als gerechtfertigt be-zeichnen, da diese Generation mit ihrer geringen Gebur-tenrate maßgeblich zum demographischen Problembeigetragen hat. Insgesamt sollte die altersspezifischeAusscheidegrenze, der Solidarbeitrag der Erwerbstäti-gen und die Ausgleichspauschale so aufeinander abge-stimmt werden, dass die Belastungen der einzelnen Jahr-gänge über die verbleibende Lebenszeit gleich sind. DasModell würde dazu führen, dass gerade dann, wenn diedemographischen Probleme ihren Höhepunkt erreichen,nur noch eine demographiefestere private Pflegeversi-cherung bestünde.

Problematischer ist das Konzept der Herzog-Kommis-sion, in dem ebenfalls ein Übergang zu einem kapitalge-deckten Prämienmodell vorgesehen ist. Der Beitragssatz

soll in einer Überführungsphase bis zum Jahr 2030 bei3,2 vH liegen, um mit den Mehreinnahmen einen kollek-tiven Kapitalstock aufzubauen. Die Mittel des Kapital-stocks sollen ab dem Jahr 2030 dazu verwendet werden,um Alterungsrückstellungen zugunsten älterer Versi-cherter zu bilden beziehungsweise die nach versiche-rungsmathematischen Grundsätzen berechneten Prä-mien zu deckeln. Zur Entlastung der Arbeitgeber ist dieStreichung eines Urlaubstags oder Feiertags geplant,die 0,5 Beitragssatzpunkten entsprechen soll. Dies kannzwar den Anstieg der Arbeitskosten begrenzen, ändertaber nichts daran, dass der für die Beschäftigung wich-tige Abgabenkeil durch die Anhebung des Pflegeversi-cherungsbeitragssatzes größer wird. Die Prämie sollnach den Berechnungen der Herzog-Kommission imJahr 2030 für einen 20-Jährigen 52 Euro und für Älteremaximal 66 Euro betragen. Der soziale Ausgleich sollaus Steuermitteln finanziert werden und wird auf9 Mrd Euro jährlich veranschlagt.

233

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DRITTES KAPITEL

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004

I. Überblick: Konjunkturhoffnungen ruhen erneut nicht in Schwung. Dies führte dazu, dass das

auf der Weltwirtschaft

360. Die gesamtwirtschaftliche Produktion in Deutsch-land stagnierte in diesem Jahr. Insgesamt war der An-stieg des Bruttoinlandsprodukts auch unter Berücksichti-gung des eingetretenen Irak-Kriegs und der Euro-Aufwertung deutlich schwächer als vor Jahresfrist vonuns prognostiziert. Die Weltkonjunktur kühlte sich zuBeginn dieses Jahres ab, und die Exporte schrumpftenbis zur Jahresmitte. Die Inlandsnachfrage kam nach demmerklichen Rückgang in den vergangenen zwei Jahren

Bruttoinlandsprodukt in der ersten Hälfte dieses Jahressogar sank.

In der zweiten Jahreshälfte sind die Exporte wieder ge-stiegen. Die Hoffnungen für das Jahr 2004 richten sichnun darauf, dass sich der Aufschwung der Weltwirt-schaft fortsetzt und der außenwirtschaftliche Funke aufdie Binnenwirtschaft überspringt.

361. Die Ausgangsbedingungen sind günstig. Nach-frage und Produktion in der Weltwirtschaft haben sich inder zweiten Hälfte dieses Jahres spürbar belebt. Kon-junkturlokomotive sind erneut die Vereinigten Staaten,deren wirtschaftliche Entwicklung nach Wegfall derkriegsbedingten Verunsicherung durch kräftige geld-und finanzpolitische Impulse angeregt wurde. In Japankam es ebenfalls zu einer deutlichen Steigerung der ge-samtwirtschaftlichen Produktion. Die Wirtschaft imEuro-Raum hinkte dieser Entwicklung hinterher; aberauch hier haben sich die Konjunkturerwartungen verbes-sert. Insgesamt wird die gesamtwirtschaftliche Produk-tion in den meisten Industrieländern im Jahr 2004 deut-lich stärker zunehmen als in diesem Jahr. DasKonjunkturgefälle zwischen den Vereinigten Staaten undder Europäischen Union wird allerdings bestehen blei-ben (Schaubild 60).

362. Die Perspektiven für die deutsche Binnenwirt-schaft sind weniger klar. Die Europäische Zentralbankverfolgt einen expansiven Kurs: Die Realzinsen sindauf einem sehr niedrigen Stand und gegenwärtig sprichtvieles für ein Beibehalten des derzeitigen Leitzinsni-veaus bis weit in das nächste Jahr hinein. Die Finanz-politik steht unter Konsolidierungsdruck. In diesemJahr wurde insbesondere in den Sozialversicherungenein Maßnahmebündel beschlossen, das für das kom-mende Jahr Einsparungen in beträchtlicher Höhe vor-sieht. Bei den steuerpolitischen Vorhaben ist die Umset-zung hingegen mit zahlreichen Fragezeichen versehen.Dies betrifft vor allem das Vorziehen der Steuerreformund deren Gegenfinanzierung sowie die Reform derGewerbesteuer. Die bisher beschlossenen Sparmaßnah-men haben für sich genommen einen kontraktiven Ef-fekt. Dem steht die dadurch ermöglichte Beitragssatz-senkung in der Gesetzlichen Krankenversicherungentgegen. Zudem sollte von den bereits in Angriff ge-nommenen Strukturreformen ein positiver Erwartungs-effekt auf die Unternehmen ausgehen: Der Reformstauin Deutschland beginnt sich aufzulösen. Mit raschenund kräftigen Wirkungen der Reformen ist jedoch kurz-fristig nicht zu rechnen; der Einfluss auf die inländi-

Das Wichtigste in Kürze

(1) In diesem Jahr stagnierte das deutsche Brutto-inlandsprodukt.

(2) Die konjunkturelle Entwicklung in Deutschlandwird sich im Jahr 2004 nur langsam beleben. DieImpulse kommen primär von der anziehendenWeltkonjunktur; die Binnennachfrage bleibtschwach.

(3) Nach unserer Basisprognose (Status-quo-Prog-nose) wird das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2004um 1,5 vH zunehmen. Unterstellt ist dabei, dass esnicht zu einem Vorziehen der Steuerreform kommtund die begleitenden Finanzierungsmaßnahmennicht in Kraft treten.

(4) Bei Vorziehen der Steuerreform und In-Kraft-Tre-ten der vom Deutschen Bundestag beschlossenenFinanzierungsmaßnahmen wird das Bruttoinlands-produkt im kommenden Jahr um 1,7 vH zuneh-men.

(5) Die Arbeitslosigkeit verharrt mit einer Quote von10,6 vH auf hohem Niveau; der Beschäftigungs-abbau schwächt sich ab. Im zweiten Halbjahr deskommenden Jahres setzt eine Entspannung aufdem Arbeitsmarkt ein.

(6) Auch im Jahr 2004 wird die Defizitgrenze des Sta-bilitäts- und Wachstumspakts verletzt. Nach derBasisprognose beträgt die Defizitquote 3,4 vH,nach der Alternativprognose 3,6 vH.

(7) Der Anstieg der Verbraucherpreise bleibt mode-rat und liegt im Jahr 2004 in Deutschland bei1,2 vH.

234

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Überblick: Konjunkturhoffnungen ruhen auf der Weltwirtschaft

sche Wirtschaftsentwicklung im Jahr 2004 wird dahereher in einer Verbesserung des Vertrauens in die Hand-lungsfähigkeit der Politik bestehen als in konkreten Be-schäftigungs- und Produktionseffekten. Zusammen mitden Impulsen aus dem Ausland dürfte dies aber ausrei-chen, um eine moderate Erholung der Inlandsnachfrageherbeizuführen.

363. Der Sachverständigenrat erstellt seine Prognosezur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung für das kom-mende Jahr regelmäßig unter der Annahme des gesetz-geberischen Status quo. Das bedeutet, dass bei Geset-zesänderungen nur diejenigen Maßnahmen einfließen,die zum Zeitpunkt der Prognoseerstellung bereits ver-abschiedet sind oder bei denen keine Zustimmungs-pflicht des Bundesrates besteht. Dieses Vorgehen ist imRegelfall unproblematisch. Angesichts der Vielzahl derim kommenden Jahr finanzwirksamen Gesetze, derenUmsetzung durch die Beteiligung des Bundesrates imweiteren Verlauf der Gesetzgebung gegenwärtig unge-wiss ist, entstehen aber für die Prognose des kommen-den Jahres erhebliche Unsicherheiten. Dies betrifft dasVorziehen der Steuerreform sowie die steuerpoliti-schen Einsparmaßnahmen (Haushaltsbegleitgesetz, Re-form der Gewerbesteuer, Gesetz zur Förderung derSteuerehrlichkeit, Korb II und Steueränderungsge-setz 2003). Die Auswirkungen dieser Maßnahmen wer-den deshalb in der Basisprognose nicht berücksichtigt.Unter diesen Annahmen ergibt sich für das kommendeJahr eine Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts von1,5 vH.

In einer Alternativprognose wird unterstellt, dass dieentsprechenden Gesetze, so wie vom Deutschen Bundes-tag beschlossen, in Kraft treten. Unter dieser Annahmeergibt sich für das kommende Jahr eine Zuwachsrate desBruttoinlandsprodukts von 1,7 vH.

364. Ein Risiko für die konjunkturelle Entwicklung desnächsten Jahres stellen die Zwillingsdefizite in den Ver-einigten Staaten dar. Der massive Anstieg der Staats-verschuldung könnte das Vertrauen der Anleger in dieamerikanische Wirtschaft beschädigen. Bleiben die Ka-pitalzuflüsse aus oder wird Kapital aus den VereinigtenStaaten per saldo abgezogen, ist die Finanzierung desamerikanischen Leistungsbilanzdefizits nicht mehr zumgegenwärtigen Wechselkurs möglich, und der Kurs desUS-Dollar könnte abrupt fallen. Eine starke Aufwertungdes Euro aber würde die fragile Erholung in Deutschlandbelasten.

Angesichts der deutlichen Festigung des Aufschwungsin den Vereinigten Staaten, durch die eine Kapitalanlageweiterhin attraktiv bleibt, erscheint uns ein solches Sze-nario im nächsten Jahr jedoch als wenig wahrscheinlich.Risiken für den Aufschwung gibt es auch im Inland:Wenn die Umsetzung der Reformen stockt, könnte diegrößere Zuversicht der Investoren und Verbraucherrasch wieder verfliegen.

S c h a u b i l d 60

-30

-20

-10

10

0

-0,5

0,5

1,0

1,5

2,0

0

Konjunkturklima und BruttoinlandsproduktSaisonbereinigt

Bruttoinlandsprodukt5)

1) Veränderung gegenüber dem Vorquartal in vH.– -2) Nationaler Einkaufsmanagerindex (PMI) für das Verarbeitende Gewerbe des Insti-tute for Supply Management (ISM): Ein Wert von über 50 deutet imAllgemeinen auf eine zunehmende Aktivität im Verarbeitenden Ge-werbe hin.– –3) In Preisen von 1996. 4) Arithmetisches Mittel aus denIndikatoren: Produktionsaussichten, Fertigwarenlager und Auftrags-bestand. 5) In Preisen von 1995. 6) Verarbeitendes Gewerbe ohne– –Nahrungs- und Genussmittelgewerbe. Mittelwerte aus den Firmen-meldungen zur gegenwärtigen und der in den nächsten sechs Mona-ten erwarteten Geschäftslage. .Saisonbereinigt, eigene Berechnung

Quellen: BEA, EU, Ifo, ISM

Vertrauensindikatorder Industrie4)

EU-15

-30

-15

15

30

0

-0,5

0,5

1,0

1,5

2,0

0

I II III IV I II III IV I II III IV I II III IV2000 2001 2002 2003

Bruttoinlandsprodukt5)

Ifo-Geschäftsklima-Index6)

Deutschland

30

40

50

60

-0,5

0,5

1,0

1,5

2,0

0

Vereinigte Staaten

Bruttoinlandsprodukt3)

Unternehmervertrauen2)

vH1)

Saldo

SR 2003 - 12 - 0718

235

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II. Prognose

365. Die Prognose beruht auf Daten zur Lage der Welt-wirtschaft und der inländischen Wirtschaft sowie aufIndikatoren über die Erwartungen und Pläne der Wirt-schaftssubjekte, die bis Anfang November 2003 vorla-gen und die im vorhergehenden Kapitel ausführlich dar-gestellt wurden. Die prognostizierte Entwicklung wirdvon uns als die wahrscheinlichste betrachtet, sie ist, wiejede Aussage über die Zukunft, mit Unsicherheit verbun-den. Ihr liegen Annahmen über den Kurs der Wirt-schaftspolitik sowie über die Entwicklung an den Rohöl-und Devisenmärkten zugrunde (Kasten 11).

Kräftige Belebung der Weltkonjunktur

366. In den Vereinigten Staaten hat sich der Anstiegder gesamtwirtschaftlichen Produktion im dritten Quar-tal dieses Jahres kräftig beschleunigt; das Bruttoinlands-produkt stieg gegenüber dem Vorquartal mit einer Jah-resrate von 7,2 vH. Zu diesem Produktionszuwachstrugen sowohl die Inlandsausgaben als auch die Exportebei. Anders als im Vorquartal erhöhten sich bei den in-ländischen Verwendungskomponenten die staatlichenAusgaben kaum, während die privaten stark zulegten.Die privaten Haushalte weiteten auch im dritten Quartalihre Konsumausgaben stark aus; im Wohnungsbau stiegdie Investitionstätigkeit mit mehr als 20 vH deutlich an.Auch die Unternehmensinvestitionen, insbesondere diein Ausrüstungen und Software, expandierten kräftig.

Die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Jahr war inhohem Maße auf die expansive Finanz- und Geldpolitikzurückzuführen. So erhielten die privaten HaushalteSteuerschecks für rückwirkende Steuererleichterungen,und die steuerliche Belastung von Dividenden wurde ge-senkt. Außerdem nutzten die privaten Haushalte denRückgang der Hypothekenzinsen zur Umschuldung undverringerten so ihre Zinsbelastung. Gleichzeitig vergrö-ßerten die Refinanzierungsmöglichkeiten den Spielraumfür zusätzlichen Konsum. Positiv auf die konjunkturelleEntwicklung wirkte aber auch, dass die UnternehmenFortschritte bei der Bilanzkonsolidierung machten undihre Gewinnlage verbessert haben. Schließlich hat derAnstieg der Aktienkurse die Unternehmensfinanzierungerleichtert und die Vermögensposition der privaten Haus-halte wieder verbessert. Alles in allem ist die Dynamikdes Aufschwungs deutlich stärker geworden.

367. Im Jahr 2004 wird sich die Expansion von Nach-frage und Produktion in den Vereinigten Staaten in ähn-lichem Tempo fortsetzen. Mit einem besonders kräftigenAnstieg ist für die Unternehmensinvestitionen zu rech-nen, da die Ertragsaussichten sich weiter verbessern.Außerdem werden die Investitionen im kommenden Jahrweiterhin durch die in diesem Jahr beschlossenen steuer-lichen Maßnahmen angeregt. Im Wohnungsbau ist dage-gen aufgrund der gestiegenen Hypothekenzinsen eineAbflachung des Investitionsanstiegs wahrscheinlich. DieAusweitung des privaten Verbrauchs wird im Jahr 2004anhalten. Die konsumanregende Wirkung der Steuerent-lastung wird im Verlauf des nächsten Jahres zwar leicht

abnehmen, erhöhend auf die Privaten Konsumausgabenwirken aber der Anstieg der Beschäftigung und die dar-aus entstehende Zunahme der verfügbaren Einkommen.Von der Außenwirtschaft ist per saldo allerdings auch imkommenden Jahr mit keinen nennenswerten Impulsen zurechnen. Zwar ist die preisliche Wettbewerbsfähigkeitamerikanischer Produkte durch die Abwertung des US-Dollar gestiegen; dies dürfte zusammen mit der kon-junkturellen Erholung bei den Handelspartnern zu einemkräftigen Exportanstieg führen. Allerdings werden auf-grund der merklichen Expansion der Inlandsnachfragedie Importe trotz der deutlichen Abwertung des US-Dol-lar in diesem Jahr erneut stark zunehmen. Insgesamtwird der Außenbeitrag daher – wenn auch nur gering-fügig – negativ bleiben.

368. Vor diesem Hintergrund wird das Bruttoinlands-produkt in den Vereinigten Staaten im Jahr 2004 um4,0 vH zunehmen (Tabelle 46, Seite 238). Die gesamt-wirtschaftliche Kapazitätsauslastung wird steigen undsich damit langsam wieder ihrem langjährigen Durch-schnitt annähern. Wegen der noch bestehenden Unteraus-lastung des Produktionspotentials ist eine Beschleuni-gung des Preisniveauanstiegs aber nicht wahrscheinlich.Nachdem sich die Verbraucherpreise in diesem Jahr we-gen der Importverteuerung etwas stärker erhöht hatten(2,4 vH), wird der Anstieg des Index der Verbraucher-preise im Durchschnitt des Jahres 2004 mit 1,8 vH gerin-ger ausfallen. Die Beschäftigung dürfte im Verlauf desJahres 2004 beschleunigt zunehmen; die Arbeitslosen-quote wird im Jahresdurchschnitt unter 6,0 vH liegen.

Das Haushaltsdefizit des Staates insgesamt in Relationzum nominalen Bruttoinlandsprodukt wird von 5,2 vHauf 5,6 vH im Jahr 2004 steigen. Der Hauptteil davonentfällt auf den Bundeshaushalt. Das Defizit in der Leis-tungsbilanz bezogen auf das nominale Bruttoinlandspro-dukt wird mit 5,1 vH etwas größer sein als in diesemJahr. Dies beruht darauf, dass kurzfristig der Effekt derabwertungsbedingten Verteuerung der Importe stärkerwirkt als die Abwertung auf die Export- und Importvolu-men.

369. In Japan ist die gesamtwirtschaftliche Produktionim Jahr 2003 unerwartet stark gestiegen, nachdem sie inden letzten beiden Jahren nahezu stagniert hatte. DieProduktionsausweitung ist vor allem auf eine beschleu-nigte Ausweitung der Inlandsnachfrage zurückzuführen.Die Unternehmensinvestitionen stiegen kräftig an, diePrivaten Konsumausgaben wurden aufgrund eines deut-lichen Anstiegs der Reallöhne und damit zusammenhän-gend einer Zunahme der realen verfügbaren Einkommenmoderat erhöht. Die öffentlichen Haushalte trugen kaumzur Nachfragebelebung bei: Angesichts eines Haushalts-defizits in Höhe von 7,4 vH und einer Staatsverschul-dung von 155 vH (jeweils in Relation zum nominalenBruttoinlandsprodukt) war der Spielraum für expansiveMaßnahmen gering. Die Zentralbank förderte die kon-junkturelle Entwicklung durch die Fortsetzung ihres sehrexpansiven Kurses. Schließlich zogen im zweiten Halb-jahr die Exporte in die südostasiatischen Nachbarländerund nach Nordamerika deutlich an.

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004

236

Page 263: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

K a s t e n 11

Annahmen der Prognose

Mit Blick auf die Weltwirtschaft basiert die Prognose auf folgenden Annahmen:

– Der Preis für Rohöl liegt im Jahresdurchschnitt in der Größenordnung von 27 US-Dollar pro Barrel der SorteBrent.

– Der reale effektive Wechselkurs des Euro wird im Jahr 2004 etwa auf dem Niveau vom Herbst dieses Jahresliegen.

– Die Geldpolitik in den Vereinigten Staaten behält ihren expansiven Kurs bei.

Darüber hinaus enthält die Prognose folgende Annahmen für den Euro-Raum beziehungsweise für die deutscheVolkswirtschaft:

– Die Inflationsrisiken bleiben gering und veranlassen die Europäische Zentralbank nicht, ihre Politik niedrigerZinsen aufzugeben.

– Die Erhöhung der Tariflöhne in Deutschland im Jahr 2004 wird sich etwa in der Größenordnung dieses Jahresbewegen.

– Grundlage der Basisprognose ist die derzeitige Gesetzeslage, das heißt, in ihr werden nur die Maßnahmen be-rücksichtigt, die bis Anfang November endgültig beschlossen wurden.

– In einer ergänzenden Rechnung wird untersucht, welche Wirkung das Vorziehen der dritten Stufe der Steuer-reform einschließlich der Finanzierungsmaßnahmen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hätte.

370. Im Jahr 2004 wird sich die Erholung in Japan schwung in den Vereinigten Staaten und in Japan wird

fortsetzen, allerdings in merklich verlangsamtemTempo. Die bisherigen Bemühungen der Regierung zurBehebung der Bilanzprobleme im Banken- und Unter-nehmensbereich haben die Verschuldungssituation bis-her nur partiell entspannt. In weiten Bereichen, insbe-sondere in kleinen und mittleren Unternehmen, ist derKonsolidierungsbedarf weiter erheblich und verhindert,dass die Erholung an Breite gewinnt.

Dies dämpft vor allem den Anstieg der Unternehmensin-vestitionen. Dagegen dürfte die Zunahme der PrivatenKonsumausgaben vor dem Hintergrund einer leichtenVerbesserung der Beschäftigungssituation an Stärke ge-winnen. Demgegenüber werden die Exporte kräftig zu-nehmen und wieder stärker zum gesamtwirtschaftlichenProduktionsanstieg beitragen. Zwar wird die Ausfuhrdurch die Aufwertung des Yen gegenüber dem US-Dol-lar gedämpft; größer ist aber der Effekt der beschleunig-ten Expansion der Exportmärkte.

Insgesamt wird das Bruttoinlandsprodukt in Japan imJahr 2004 um 1,8 vH steigen. Die Auslastung der ge-samtwirtschaftlichen Kapazitäten wird sich bei dieserProduktionszunahme leicht erhöhen. Es bleibt aber im-mer noch eine beträchtliche Output-Lücke, so dass dieDeflationstendenzen nicht verschwinden, wohl aber imJahresverlauf leicht nachlassen werden.

371. In den südostasiatischen Schwellenländern ist dieProduktion im zweiten Halbjahr dieses Jahres zügig ge-stiegen. Nach Überwindung der SARS-Krise und derRezession in Südkorea ist die Inlandsnachfrage insge-samt wieder deutlich aufwärts gerichtet. Der Auf-

die Exporte auch im kommenden Jahr kräftig anregen.Außerdem profitieren die Volkswirtschaften dieser Re-gion von dem starken Wachstum in China. Insgesamtwird das Bruttoinlandsprodukt dieser Ländergruppe um4,6 vH zunehmen, in China ist von einem Zuwachs inHöhe von rund 8 vH auszugehen.

Die wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika warweiterhin sehr heterogen. Während die Erholung in Ar-gentinien und Brasilien bereits in diesem Jahr Fort-schritte machte, wird in Venezuela, wo die wirtschaftli-che Aktivität in diesem Jahr einbrach, erst im nächstenJahr eine Besserung einsetzen. In Mexiko dürfte die Pro-duktion im Sog der Vereinigten Staaten stark zulegen.Insgesamt wird das Bruttoinlandsprodukt in Lateiname-rika im Jahr 2004 um 3,7 vH zunehmen, nachdem essich in diesem Jahr kaum erhöht hatte (1,0 vH).

372. Angesichts der voraussichtlichen Entwicklung derWeltkonjunktur wird sich die Expansion des Welthan-dels merklich beschleunigen. Im Jahresdurchschnitt wirddas Welthandelsvolumen nach einer verhaltenen Zu-nahme in diesem Jahr um 3,7 vH im Jahr 2004 um7,4 vH steigen.

Moderate Erholung im Euro-Raum

373. Die konjunkturelle Expansion im Euro-Raum hatsich im ersten Halbjahr 2003 stark abgeschwächt. Be-sonders ausgeprägt war der Abschwung in den drei gro-ßen Ländern Deutschland, Frankreich und Italien, dieannähernd 70 vH des Bruttoinlandsprodukts des Euro-Raums erwirtschaften. Von der Flaute verschont blieben

Prognose

237

Page 264: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ta b e l l e 46

Die voraussichtliche Entwicklung in ausgewählten Ländern und Ländergruppen

Anteil ander Aus-

fuhr3)

Deutsch-lands

Anteil amBrutto-inlands-produkt4)

der Welt2003 2004 2003 2004 2002

Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH vH

Deutschland ................................... - 0,0 + 1,5 + 1,1 + 1,2 X 4,4

Frankreich ...................................... + 0,2 + 1,7 + 2,0 + 1,9 10,8 3,2

Italien ............................................. + 0,4 + 1,5 + 2,8 + 2,5 7,3 3,0

Niederlande .................................... - 0,7 + 0,9 + 2,4 + 1,7 6,1 0,9

Österreich ....................................... + 0,8 + 1,8 + 1,3 + 1,8 5,1 0,5

Belgien ........................................... + 0,8 + 1,8 + 1,5 + 1,9 4,8 0,6

Spanien .......................................... + 2,3 + 2,9 + 3,2 + 3,0 4,6 1,8 Finnland ......................................... + 1,3 + 2,7 + 1,3 + 1,4 1,0 0,3 Portugal .......................................... - 0,8 + 1,1 + 3,3 + 2,4 1,0 0,4 Griechenland .................................. + 4,0 + 4,1 + 3,6 + 4,0 0,8 0,4

Irland .............................................. + 1,6 + 3,6 + 4,1 + 3,4 0,6 0,3

Luxemburg ..................................... + 1,3 + 1,8 + 2,3 + 1,8 0,4 0,0

Euro-Raum5) .................................... + 0,4 + 1,8 + 2,0 + 2,0 42,6 15,7

Vereinigtes Königreich .................. + 2,0 + 2,9 + 1,4 + 2,0 8,4 3,1

Schweden ....................................... + 1,4 + 2,3 + 2,2 + 1,9 2,1 0,5

Dänemark ....................................... + 0,7 + 1,9 + 2,1 + 1,9 1,7 0,3

Europäische Union5) ........................ + 0,7 + 1,9 + 1,9 + 2,0 54,7 19,7

Schweiz .......................................... - 0,4 + 1,1 + 0,5 + 0,6 4,1 0,4

Norwegen ....................................... + 0,4 + 2,1 + 2,6 + 1,5 0,7 0,3

Westeuropa6) .................................... + 0,7 + 2,0 + 2,0 + 2,0 59,5 20,4

Vereinigte Staaten .......................... + 2,9 + 4,0 + 2,4 + 1,8 10,3 21,1

Japan .............................................. + 2,7 + 1,8 - 0,3 - 0,3 1,9 7,1

Kanada ........................................... + 1,8 + 2,8 + 2,9 + 1,5 0,9 2,0

Industrieländer, zusammen6) ............ + 2,0 + 2,8 + 1,9 + 1,6 72,5 50,6

Mittel- und Osteuropa7) ................... + 3,3 + 3,8 + 3,3 + 4,2 8,8 2,2

Lateinamerika8) ................................ + 1,0 + 3,7 +11,2 + 7,2 2,0 7,0

Südostasiatische Schwellenländer9) + 3,0 + 4,6 + 1,5 + 1,5 3,5 4,8

China .............................................. + 8,5 + 8,0 + 0,8 + 1,5 2,2 12,7

Länder, zusammen6) ......................... + 3,1 + 3,9 . . 89,0 77,4

1) Eigene Schätzung auf Basis von Angaben internationaler und nationaler Institutionen. - 2) Harmonisierter Verbraucherpreisindex für die Län-der der Europäischen Union und Norwegen. Für die anderen Industrieländer: nationale Verbraucherpreisindizes. - 3) Spezialhandel. Vorläufige Ergebnisse. - 4) Angaben des IWF in jeweiligen Preisen und Kaufkraftparitäten; vorläufige Ergebnisse. Die Umrechnung zu laufenden Wechsel-kursen kann zu abweichenden Ergebnissen bei den Anteilen an der Weltproduktion führen. - 5) Die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr sind gewichtet mit den Anteilen am realen Bruttoinlandsprodukt (in Euro) der Europäischen Union im Jahr 2002. Summe der genannten Länder. - 6) Die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr sind gewichtet mit den Anteilen am nominalen Bruttoinlandsprodukt (in KKS) der Welt im Jahr 2002. Summe der genannten Länder. - 7) Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn. - 8) Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru, Venezuela. - 9) Hongkong (China), Malaysia, Singapur, Südkorea, Tai-wan, Thailand.

Verbraucherpreise1)2)Bruttoinlandsprodukt (real)1)

Land/Ländergruppe

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004

238

Page 265: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

nur Spanien und Griechenland. Insgesamt blieben diebinnenwirtschaftlichen Auftriebskräfte schwach. Als dieExporte im ersten Halbjahr, auch als Reaktion auf dieAufwertung des Euro, deutlich sanken, ging die gesamt-wirtschaftliche Produktion sogar zurück. Seit diesemTiefpunkt haben sich die Erwartungen der Unternehmerund Verbraucher verbessert, wenngleich die Umfrage-werte vielfach noch deutlich unter dem langfristigenDurchschnitt liegen. Zu der Stimmungsaufhellung trugbei, dass die Perspektiven für die Weltkonjunktur wiedermerklich günstiger beurteilt wurden. Außerdem hat dieEuropäische Zentralbank in Anbetracht der schwachenWirtschaftsentwicklung und der geringen Risiken für diePreisniveaustabilität die Leitzinsen im ersten Halb-jahr 2003 nochmals gesenkt.

In den öffentlichen Haushalten haben sich – vor allemkonjunkturbedingt – die Defizite erheblich vergrößert.Deutschland und Frankreich werden das Defizitkrite-rium des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahr 2004erneut verletzen. Insgesamt dürfte die Finanzpolitik inetwa konjunkturneutral sein.

374. Im Jahr 2004 ist mit einer spürbaren Belebung derwirtschaftlichen Aktivität im Euro-Raum zu rechnen.Vor allem die Ausfuhr wird sich infolge der kräftigerenWeltkonjunktur deutlich erholen. Die dämpfenden Ef-fekte der Aufwertung des Euro dürften im Laufe desJahres merklich an Stärke verlieren und gegenüber denpositiven Wirkungen des Aufschwungs in der Weltwirt-schaft zurücktreten. Auch die Binnenkonjunktur wird imJahresverlauf an Dynamik gewinnen. Die niedrigen Zin-sen entlasten Haushalte und Unternehmen. Die Kurser-holung an den Aktienmärkten hat in diesem Jahr einenTeil der vorangegangenen Verluste wieder wettgemacht.Die Unternehmen haben beim Abbau der Schulden undbei der Senkung der Kosten Fortschritte erzielt. Vertrau-ensbildend auf die Investoren wirkt überdies die Bereit-schaft der Politik, die Strukturprobleme durch Reformenanzugehen. Aufgrund dieser Faktoren und der günstige-ren Absatzperspektiven werden die Unternehmen imweiteren Jahresverlauf wieder geringfügig mehr inves-tieren. Für den privaten Konsum ist wegen der unverän-dert hohen Arbeitslosigkeit aber lediglich eine schwacheBelebung zu erwarten.

Insgesamt wird das Bruttoinlandsprodukt im Euro-Raumim Jahr 2004 um 1,8 vH steigen nach 0,4 vH in diesemJahr. Vor allem die großen Länder werden aufholen, sodass sich eine insgesamt ausgewogenere Entwicklungeinstellen wird. Bei dem prognostizierten Anstieg derProduktion wird die gesamtwirtschaftliche Kapazitäts-auslastung die Normalauslastung weiter deutlich unter-schreiten. Für die Beschäftigung ist bei einem Zuwachsder Produktivität um rund 1,5 vH nur mit einer mäßigenZunahme zu rechnen.

Der Anstieg der Verbraucherpreise im Euro-Raum (ge-messen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex) wirdim kommenden Jahr mit 2,0 vH auf der mittelfristigenStabilitätsobergrenze der Europäischen Zentralbank lie-gen. Die Jahresteuerungsrate in der ersten Hälfte des

Jahres wird, vor allem bedingt durch den Basiseffekt deretwas höheren Inflationsraten zu Beginn des Jah-res 2003, etwas niedriger sein als die Werte in der zwei-ten Jahreshälfte.

375. Anders als der Euro-Raum verzeichnete das Ver-einigte Königreich in diesem Jahr einen kräftigen Pro-duktionsanstieg. Maßgeblich dafür war vor allem die ex-pansive Ausrichtung der Finanzpolitik. Sie wird auch dieEntwicklung im kommenden Jahr bestimmen. Alles inallem wird sich das Bruttoinlandsprodukt im VereinigtenKönigreich im Jahr 2004 um 2,9 vH erhöhen, nachdemes in diesem Jahr um 2,0 vH gestiegen ist. Die Arbeitslo-senquote dürfte leicht unter 5 vH sinken. Der Preisni-veauanstieg wird sich innerhalb der Zielmarge der Re-gierung bewegen.

376. In den Beitrittsländern zur Europäischen Unionhat sich der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produk-tion in diesem Jahr leicht beschleunigt. Vor allem derprivate Verbrauch expandierte zügig; aber auch bei denInvestitionen zeigte sich eine deutliche Aufwärtstendenznach dem Rückgang im Jahr zuvor. Trotz der engenHandelsverflechtung mit dem Euro-Raum gingen vonden Exporten stützende Effekte auf den Aufschwungaus. In einigen Fällen trugen Abwertungen gegenüberdem Euro dazu bei, dass der Beitrag der Exporte zurProduktionsausweitung sogar beträchtlich stieg. ImJahr 2004 wird sich die Zunahme der Produktion noch-mals verstärken. Die Konjunkturerholung, insbesonderein Europa, wird den Exporten zusätzlichen Schwung ge-ben. Die Binnennachfrage dürfte durch kräftig steigendeInvestitionen angetrieben werden. Hierzu tragen günsti-gere Absatzerwartungen, höhere Gewinne und weiterhinhohe Direktinvestitionen nach dem Beitritt zur Europäi-schen Union bei. Für den privaten Verbrauch ist ein un-verminderter Anstieg zu erwarten. Insgesamt wird sichdas Bruttoinlandsprodukt der Beitrittsländer imJahr 2004 um 3,8 vH erhöhen, nach einem Zuwachs um3,1 vH in diesem Jahr.

Deutschland: Nur verhaltene Erholung trotz kräftiger Impulse von außen

377. Die deutsche Wirtschaft tritt seit drei Jahren aufder Stelle. Die Produktion lahmt, die Beschäftigung istrückläufig und die hohe Arbeitslosigkeit belastet. Trotzder hartnäckigen Stagnation wurden die Wirtschaftsaus-sichten in Deutschland seit der Jahresmitte zunehmendfreundlicher eingeschätzt. So zeigten Umfragen, dass dieErwartungen der Unternehmer deutlich zuversichtlichergeworden sind; das Vertrauen der Verbraucher hat sichausgehend von einem sehr niedrigen Niveau allerdingsnur zaghaft verbessert. Einen wichtigen Beitrag zumStimmungsumschwung bei den Unternehmen hat diekräftige Erholung der Weltkonjunktur in der zweitenJahreshälfte geleistet. Expansive Wirkungen gehen auchvon der Geldpolitik aus: Die Zinsen sind niedrig, die Li-quiditätsversorgung ist reichlich. Beides steht einer Er-holung nicht im Weg.

Prognose

239

Page 266: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Die Verbesserung der Konjunkturerwartungen basiertenicht nur auf außenwirtschaftlichen und politischen Fak-toren, sondern auch auf allmählichen Fortschritten derUnternehmen bei der Anpassung an veränderte Marktbe-dingungen. So haben viele Unternehmen ihre Kostendurch Personalabbau und Auslagerung von Aktivitätengesenkt, das Sortiment bereinigt und Produkt-innovationen eingeführt, ihre Bilanzen verbessert unddie Verschuldung gesenkt. Die Maßnahmen haben dazubeigetragen, die Wettbewerbsfähigkeit und die Gewinn-situation der Unternehmen zu verbessern. Gleichwohl istdie Ertragslage immer noch sehr gedrückt; nach derDIHK-Umfrage vom Herbst 2003 meldeten nur 19 vHder Unternehmen eine Verbesserung, aber 44 vH eineVerschlechterung ihrer Gewinnlage. Besonders ungüns-tig war die Situation im Baugewerbe und im Handel.

378. Abgesehen von den konjunkturbedingten Mehr-ausgaben und Einnahmeausfällen wirkte die Haushalts-politik in diesem Jahr weitgehend neutral. In der Ba-sisprognose ist unterstellt, dass sie diesen Kurs imJahr 2004 beibehält. Unter Zugrundelegung der gelten-den Gesetzeslage (also ohne das Vorziehen der drittenStufe der Steuerreform und ohne andere Maßnahmen,die noch der Zustimmung im Bundesrat bedürfen) wirddas Finanzierungsdefizit des Staates in Relation zum no-minalen Bruttoinlandsprodukt 3,4 vH betragen; es wirddamit um 0,7 Prozentpunkte niedriger sein als in diesemJahr. In der Alternativrechnung wird die Defizitquote bei3,6 vH liegen.

Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts: Basisprognose

379. Nach dem Rückgang der Exporte im ersten Halb-jahr des Jahres 2003 ist angesichts der anziehendenWeltkonjunktur wieder mit einer merklichen Belebungzu rechnen. Der Druck auf die preisliche Wettbewerbsfä-higkeit inländischer Produzenten, der durch die Aufwer-tung des Euro entstanden ist, dürfte bei kräftig expandie-render Auslandsnachfrage an Bedeutung verlieren.Erfahrungsgemäß ist für die deutsche Ausfuhr in Länderaußerhalb des Euro-Raums die Einkommensentwicklungin diesen Ländern wichtiger als die Wechselkursent-wicklung. Da der Aufschwung in der Weltwirtschaft vorallem mit einer globalen Belebung der Investitionstätig-keit verbunden ist, wird sich die Ausfuhr solcher Güterüberdurchschnittlich erhöhen. Zusätzlich werden weitereProduktionsverlagerungen ins Ausland durch deutscheUnternehmen zu höheren Investitionsgüterexporten füh-ren. Diese Erwartung zeigt sich auch in der DIHK-Um-frage vom Herbst 2003. Die vergleichsweise schwacheKonjunkturbelebung in den Partnerländern im Euro-Raum wird sich dämpfend auf die Ausfuhr deutscherProdukte in diese Region niederschlagen. Kräftig zuneh-men werden dagegen die Exporte in die Beitrittstaatenund nach Russland, nach Südostasien, vor allem China,und in die Vereinigten Staaten.

Insgesamt wird der Exportzuwachs im nächsten Jahr4,8 vH betragen, nachdem er sich in diesem Jahr auf

1,1 vH belief (Tabelle 47, Seiten 242 f.). Damit bleibtdie Expansion der Exporte wie schon in diesem Jahr hin-ter der Ausweitung des Welthandels zurück. Auch dieImporte werden zulegen, wegen der moderaten Erholungim Inland aber deutlich schwächer als die Exporte. DerBeitrag des Außenhandels zum Anstieg der gesamtwirt-schaftlichen Produktion im Inland wird in der Größen-ordnung von 0,7 Prozentpunkten liegen, nachdem er imVorjahr noch null war.

380. Der seit dem Jahr 2001 andauernde Rückgang derAusrüstungsinvestitionen hat sich in diesem Jahr, wenn-gleich stark abgeschwächt, fortgesetzt. Trotz des welt-weiten Aufschwungs, der freundlicheren Einschätzungder inländischen Konjunkturperspektiven und der Ver-besserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit bliebdas Investitionsklima bislang unterkühlt. Dabei sprächemanches für eine stärkere Investitionstätigkeit: So sinddie Kapazitäten in der Industrie aufgrund der langen In-vestitionszurückhaltung vielfach veraltet, nimmt dochdie Nutzungsdauer von Investitionsgütern aufgrund desrascheren technischen Fortschritts tendenziell ab. Diesdeutet auf einen erheblichen Bedarf an Ersatzinvestitio-nen hin. Von der Finanzierungsseite her – größere Ei-genfinanzierungsspielräume, niedrige Zinsen, Erholungder Aktienkurse – sind die Bedingungen für eine Bele-bung der Investitionen ebenfalls günstig. Dennoch plantnach der DIHK-Umfrage nur etwa ein Sechstel der be-fragten Unternehmen höhere Investitionen, ein Drittelwill die Investitionen im Jahr 2004 sogar kürzen, beson-ders gering sind die Investitionsabsichten in der Bau-wirtschaft. Ein Grund für die niedrige Investitionsnei-gung ist die schwache Binnenkonjunktur, sie dämpft dieerwartete Rentabilität von Investitionen. Außerdem zeigtdie hohe Zahl an Insolvenzen, dass die Ertragslage invielen Bereichen noch ungünstig ist. Gebremst wird dieinländische Investitionstätigkeit auch dadurch, dass ausKostengründen vermehrt Teile der Produktion ins Aus-land verlagert werden, insbesondere in die Beitrittstaa-ten.

Angesichts dieser uneinheitlichen Perspektive wird dieKonjunkturbelebung nur mit einem moderaten Anstiegder Investitionen in Ausrüstungen im Verlauf desJahres 2004 einhergehen. Erweiterungsinvestitionenspielen dabei kaum eine Rolle. In der Industrie werdenProduktinnovationen in stärkerem Maße als Investitions-grund genannt. Dies spricht für die Tendenz, die inländi-sche Produktion auf wertschöpfungsintensive Bereichezu konzentrieren. Die höheren Investitionsaufwendun-gen werden vor allem die Bereiche Informationstechno-logie und Telekommunikation betreffen; im Maschinen-bau wird die Nachfrage aus dem Inland erst im späterenVerlauf des Jahres zunehmen. Insgesamt wird für dieAusrüstungsinvestitionen, die in diesem Jahr erneutleicht um 0,3 vH gesunken sind, im Jahr 2004 ein An-stieg von 3,0 vH erwartet. Die Investitionen in SonstigeAnlagen werden sich um 4,5 vH erhöhen nach einer Zu-nahme von 1,9 vH in diesem Jahr.

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004

240

Page 267: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

381. Bei den Bauinvestitionen setzte sich die seitMitte der neunziger Jahre andauernde Talfahrt in die-sem Jahr fort. Im Jahresdurchschnitt lagen die Bauin-vestitionen um 3,6 vH unter dem Vorjahresniveau. Imnächsten Jahr könnte die Talsohle erreicht sein; eineBesserung ist jedoch noch nicht in Sicht. Die Belebungder Ausrüstungsinvestitionen wird nicht ausreichen, umdem Wirtschaftsbau spürbare Impulse zu geben, zumalErweiterungsinvestitionen kaum geplant werden. BeiBürogebäuden gibt es weiterhin erhebliche Leerstände.Die Bauinvestitionen im öffentlichen Bereich werdenwegen der angespannten Haushaltslage, insbesonderebei den Kommunen, weiter eingeschränkt. Nur im Woh-nungsbau wird aufgrund eines Sondereffekts mehr in-vestiert. Hier hat die Ankündigung, die Eigenheimzu-lage zu kürzen oder ganz zu streichen, dazu geführt,dass potentielle Bauherren in erheblichem UmfangBauanträge vorgezogen haben, um den Anspruch aufdie Zulage zu sichern. Nach dem Anstieg der Bauge-nehmigungen haben sich auch die Auftragseingängestabilisiert. Eine temporär entlastende Rolle in diesemJahr hat auch die Beseitigung der Flutschäden in Ost-deutschland gespielt. Im Jahr 2004 wird der Schub anvorgezogenen Bauvorhaben die Wohnungsbauinvesti-tionen vorübergehend merklich steigen lassen, im spä-teren Jahresverlauf wird sich der Effekt allerdingswieder abschwächen. Insgesamt werden die Bauinvesti-tionen im Jahr 2004 um 0,2 vH über dem Niveau in die-sem Jahr liegen.

382. Die Privaten Konsumausgaben sind in diesemJahr nur geringfügig gestiegen. Ein Grund dafür war dieschwache Einkommensentwicklung: Die Nettolöhne und-gehälter nahmen aufgrund sinkender Beschäftigung undhöherer Sozialversicherungsabgaben um 1,0 vH ab. Vorallem wegen höherer Transferzahlungen stieg das ver-fügbare Einkommen um 1,4 vH, bereinigt um den An-stieg der Verbraucherpreise um 0,3 vH. Zudem belasteteder Anstieg der Arbeitslosigkeit die Konsumneigung;die Sparquote stieg auf 11,0 vH. Das Konsumklima ver-besserte sich nach dem Ende des Irak-Kriegs zwar; imHerbst lag es aber noch deutlich niedriger als zur glei-chen Zeit im Vorjahr. Nach Umfragen ist die Neigunglangfristige Konsumgüter zu erwerben unverändert nied-rig.

Im Jahr 2004 wird das verfügbare Einkommen lediglichin einer ähnlichen Größenordnung zunehmen wie in die-sem Jahr: Einerseits kommt es aufgrund der ausgesetz-ten Rentenanpassung sowie des höheren Beitrags derRentner zur Sozialen Pflegeversicherung zu Nettoren-tensenkungen; andererseits fällt bei sich verringerndemBeschäftigungsrückgang der Anstieg der Löhne und Ge-hälter etwas höher aus. Außerdem tritt in jedem Fall diezweite Stufe der Steuerreform mit einem Entlastungsef-fekt in Kraft. Die Verunsicherung durch die Reformde-batte und die Rentendiskussion dürfte sich allmählich le-gen, sobald die meisten Entscheidungen gefallen sind.Die Verringerung der künftigen Rentenansprüche wirdallerdings zu einem stärkeren Altersvorsorgesparen füh-

ren. Insgesamt tragen die Privaten Konsumausgaben zurKonjunkturbelebung bei. Nach einer Erhöhung um0,2 vH in diesem Jahr ist im nächsten Jahr mit einem Zu-wachs von 0,8 vH zu rechnen.

383. Alles zusammengenommen war die gesamtwirt-schaftliche Produktion im Jahr 2003 nach einem Rück-gang im ersten Halbjahr in der zweiten Jahreshälfte wie-der leicht aufwärts gerichtet. Die Stärke des Anstiegswurde durch die Verbesserung des Geschäftsklimas undder Unternehmenserwartungen jedoch überzeichnet. Imvierten Quartal lag das Bruttoinlandsprodukt nur gering-fügig über dem Vorjahreswert. Im Jahresergebnis stag-nierte das Bruttoinlandsprodukt.

Im Jahr 2004 wird die Erholung zwar etwas an Schwunggewinnen, aber immer noch verhalten bleiben. Zu demProduktionsanstieg werden sowohl die Inlandsnachfrageals auch die Exporte beitragen. Das Bruttoinlandspro-dukt wird im Jahresergebnis um 1,5 vH höher sein als indiesem Jahr (Schaubild 61); vom vierten Quartal 2003zum vierten Quartal 2004 wird es um rund 2 vH zuneh-men.

S c h a u b i l d 61

1) Vierteljahreswerte: Saisonbereinigung nach dem Census-VerfahrenX-12-ARIMA.– 2) Zahlenangaben: Veränderung gegenüber dem Vor-jahr in vH.

Voraussichtliche Wirtschaftsentwicklung1)

Mrd Euro

Log. Maßstab

Prognose2)

Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 1995

Log. Maßstab

Mrd Euro

Prognosezeitraum

1,5 vH

Jahresdurchschnitte2)

-0,0 vH0,2 vH

I II III IV I II III IV I II III IV2002 2003 2004

480

490

500

510

520

480

490

500

510

520

SR 2003 - 12 - 0650

Prognose

241

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Ta b e l l e 47

Die wichtigsten Daten der VolkswirtschaftlichenSchätzung für das 2. Halbjahr 2003

Absolute Werte

2003 2004 1. Hj. 2. Hj. 1. Hj. 2. Hj.

Verwendung des Inlandsprodukts In jeweiligen Preisen

Konsum (Ausgabenkonzept) .............................. Mrd Euro 1 640,92 1 661,3 1 688,5 810,47 850,8 820,2 868,3

Private Haushalte2) ........................................... Mrd Euro 1 236,49 1 251,0 1 280,1 614,69 636,3 625,0 655,1 Staat ................................................................ Mrd Euro 404,43 410,3 408,5 195,78 214,5 195,2 213,2

Bruttoanlageinvestitionen ................................... Mrd Euro 391,96 382,0 388,7 181,74 200,3 183,8 204,9 Ausrüstungsinvestitionen ................................ Mrd Euro 151,85 149,7 154,7 71,18 78,5 71,8 82,9 Bauinvestitionen ............................................. Mrd Euro 215,52 207,5 208,1 98,56 109,0 99,6 108,6 Sonstige Anlagen ............................................ Mrd Euro 24,59 24,8 25,9 12,00 12,8 12,4 13,4

Vorratsveränderungen3) ....................................... Mrd Euro - 13,15 - 9,3 - 14,0 + 11,53 - 20,9 + 3,8 - 17,7 Inländische Verwendung .................................... Mrd Euro 2 019,73 2 033,9 2 063,3 1 003,74 1 030,2 1 007,8 1 055,5 Außenbeitrag ...................................................... Mrd Euro + 90,67 + 98,4 +115,3 + 39,16 + 59,2 + 56,5 + 58,9

Exporte von Waren und Dienstleistungen ....... Mrd Euro 757,64 765,6 809,4 373,53 392,1 392,1 417,3 Importe von Waren und Dienstleistungen ....... Mrd Euro 666,97 667,3 694,0 334,37 332,9 335,6 358,4

Bruttoinlandsprodukt ........................................ Mrd Euro 2 110,40 2 132,3 2 178,6 1 042,90 1 089,4 1 064,3 1 114,3

In Preisen von 1995

Konsum (Ausgabenkonzept) .............................. Mrd Euro 1 513,64 1 518,4 1 527,4 748,18 770,2 749,5 777,9

Private Haushalte2) ........................................... Mrd Euro 1 125,29 1 127,6 1 136,1 555,29 572,3 556,0 580,1 Staat ................................................................ Mrd Euro 388,35 390,8 391,3 192,89 197,9 193,5 197,8

Bruttoanlageinvestitionen ................................... Mrd Euro 396,94 389,2 395,5 185,46 203,8 187,5 208,1 Ausrüstungsinvestitionen ................................ Mrd Euro 152,48 152,0 156,6 72,66 79,3 73,1 83,5 Bauinvestitionen ............................................. Mrd Euro 217,07 209,3 209,8 99,24 110,1 100,3 109,5 Sonstige Anlagen ............................................ Mrd Euro 27,39 27,9 29,2 13,56 14,4 14,1 15,1

Vorratsveränderungen3) ....................................... Mrd Euro - 22,01 - 19,0 - 17,3 + 3,50 - 22,5 - 0,3 - 16,9 Inländische Verwendung .................................... Mrd Euro 1 888,57 1 888,6 1 905,7 937,14 951,5 936,7 969,0 Außenbeitrag ...................................................... Mrd Euro +101,13 +100,4 +113,8 + 41,46 + 59,0 + 56,0 + 57,8

Exporte von Waren und Dienstleistungen ....... Mrd Euro 722,63 730,7 765,5 357,35 373,4 372,4 393,2 Importe von Waren und Dienstleistungen ....... Mrd Euro 621,50 630,3 651,7 315,89 314,4 316,3 335,4

Bruttoinlandsprodukt ........................................ Mrd Euro 1 989,70 1 989,0 2 019,5 978,60 1 010,4 992,7 1 026,8

Bruttonationaleinkommen .................................. Mrd Euro 1 989,49 1 984,5 2 015,2 969,44 1 015,1 984,3 1 031,0

Preisentwicklung (Deflator) Konsumausgaben (Ausgabenkonzept) ................ 1995 = 100 108,4 109,4 110,6 108,3 110,5 109,4 111,6

darunter: Private Haushalte2) ............................ 1995 = 100 109,9 110,9 112,7 110,7 111,2 112,4 112,9 Bruttoinlandsprodukt ......................................... 1995 = 100 106,1 107,2 107,9 106,6 107,8 107,2 108,5

Inländische Verwendung .................................... 1995 = 100 106,9 107,7 108,3 107,1 108,3 107,6 108,9

Entstehung des Inlandsprodukts Erwerbstätige (Inland) ........................................ 1 000 38 671 38 126 38 004 37 933 38 320 37 689 38 320

Arbeitszeit4) .......................................................... Stunden . . . . . . . Arbeitsvolumen .................................................. Mrd Std. 55,79 55,0 55,1 27,02 28,0 27,0 28,1

Produktivität ....................................................... Euro je Std. 35,66 36,1 36,7 36,22 36,1 36,8 36,5

Verteilung des Volkseinkommens Volkseinkommen ............................................... Mrd Euro 1 571,51 1 579,7 1 610,0 760,68 819,0 775,2 834,8

Arbeitnehmerentgelte ...................................... Mrd Euro 1 130,46 1 133,4 1 149,7 536,21 597,2 542,0 607,7

darunter: Nettoarbeitnehmerentgelte5) .......... Mrd Euro 593,48 587,6 601,9 274,63 312,9 280,0 321,9 Unternehmens- und Vermögenseinkommen ... Mrd Euro 441,05 446,3 460,3 224,47 221,8 233,2 227,1

Verfügbares Einkommen der

privaten Haushalte2) .......................................... Mrd Euro 1 365,28 1 384,6 1 407,9 691,84 692,8 702,5 705,4

darunter: Sparen der privaten Haushalte2)6) .. Mrd Euro 146,34 154,5 151,8 86,72 67,8 88,5 63,3

Nachrichtlich:

Lohnstückkosten7) ................................................ 1995 = 100 103,1 103,7 103,9 99,7 107,6 99,7 107,9

Verbraucherpreisindex ......................................... 2000 = 100 103,4 104,5 105,7 104,3 104,6 105,4 106,0

1) Abweichungen in den Summen durch Runden der Zahlen. - 2) Einschließlich private Organisationen ohne Erwerbszweck. - 3) EinschließlichNettozugang an Wertsachen. - 4) Einschließlich Veränderung der Arbeitstage.

2004 Einheit1) 2002 2003

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004

242

Page 269: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ta b e l l e 47

Gesamtrechnungen für Deutschlandund Vorausschau auf das Jahr 2004

2003 2004 1. Hj. 2. Hj. 1. Hj. 2. Hj.

Verwendung des InlandsproduktsIn jeweiligen Preisen

+ 0,9 + 1,2 + 1,6 + 1,5 + 1,0 + 1,2 + 2,1 Konsum (Ausgabenkonzept)

+ 0,3 + 1,2 + 2,3 + 1,6 + 0,7 + 1,7 + 3,0 Private Haushalte2)

+ 2,6 + 1,5 - 0,5 + 1,3 + 1,6 - 0,3 - 0,6 Staat- 6,8 - 2,5 + 1,8 - 4,1 - 1,1 + 1,1 + 2,3 Bruttoanlageinvestitionen- 9,3 - 1,4 + 3,4 - 2,6 - 0,4 + 0,9 + 5,7 Ausrüstungsinvestitionen- 5,9 - 3,7 + 0,3 - 5,7 - 1,9 + 1,0 - 0,4 Bauinvestitionen+ 1,0 + 0,9 + 4,2 + 0,2 + 1,6 + 3,7 + 4,7 Sonstige Anlagen

. . . . . . . Vorratsveränderungen3)

- 0,6 + 0,7 + 1,4 + 1,2 + 0,2 + 0,4 + 2,5 Inländische Verwendung. . . . . . . Außenbeitrag

+ 3,6 + 1,1 + 5,7 + 1,3 + 0,8 + 5,0 + 6,4 Exporte von Waren und Dienstleistungen- 3,4 + 0,0 + 4,0 + 2,5 - 2,3 + 0,4 + 7,7 Importe von Waren und Dienstleistungen

+ 1,8 + 1,0 + 2,2 + 0,8 + 1,3 + 2,0 + 2,3 Bruttoinlandsprodukt

In Preisen von 1995

- 0,3 + 0,3 + 0,6 + 0,7 - 0,0 + 0,2 + 1,0 Konsum (Ausgabenkonzept)

- 1,0 + 0,2 + 0,8 + 0,7 - 0,3 + 0,1 + 1,4 Private Haushalte2)

+ 1,7 + 0,6 + 0,1 + 0,7 + 0,6 + 0,3 - 0,1 Staat- 6,7 - 1,9 + 1,6 - 3,1 - 0,9 + 1,1 + 2,1 Bruttoanlageinvestitionen- 9,1 - 0,3 + 3,0 - 0,3 - 0,3 + 0,6 + 5,3 Ausrüstungsinvestitionen- 5,8 - 3,6 + 0,2 - 5,6 - 1,7 + 1,1 - 0,6 Bauinvestitionen+ 1,6 + 1,9 + 4,5 + 1,6 + 2,3 + 3,8 + 5,1 Sonstige Anlagen

. . . . . . . Vorratsveränderungen3)

- 1,6 + 0,0 + 0,9 + 0,7 - 0,7 - 0,0 + 1,8 Inländische Verwendung. . . . . . . Außenbeitrag

+ 3,4 + 1,1 + 4,8 + 1,6 + 0,7 + 4,2 + 5,3 Exporte von Waren und Dienstleistungen- 1,7 + 1,4 + 3,4 + 4,4 - 1,4 + 0,1 + 6,7 Importe von Waren und Dienstleistungen

+ 0,2 - 0,0 + 1,5 - 0,1 + 0,1 + 1,4 + 1,6 Bruttoinlandsprodukt

+ 0,5 - 0,3 + 1,5 - 0,5 + 0,0 + 1,5 + 1,6 Bruttonationaleinkommen

Preisentwicklung (Deflator)+ 1,2 + 0,9 + 1,0 + 0,9 + 1,0 + 1,0 + 1,1 Konsumausgaben (Ausgabenkonzept)

+ 1,3 + 1,0 + 1,6 + 0,9 + 1,0 + 1,5 + 1,6 darunter: Private Haushalte2)

+ 1,6 + 1,1 + 0,6 + 0,9 + 1,2 + 0,6 + 0,7 Bruttoinlandsprodukt

+ 1,0 + 0,7 + 0,5 + 0,5 + 0,9 + 0,5 + 0,6 Inländische Verwendung

Entstehung des Inlandsprodukts- 0,6 - 1,4 - 0,3 - 1,6 - 1,2 - 0,6 - 0,0 Erwerbstätige (Inland)

- 0,5 + 0,0 + 0,4 + 0,1 - 0,0 + 0,5 + 0,4 Arbeitszeit4)

- 1,1 - 1,4 + 0,1 - 1,5 - 1,2 - 0,2 + 0,4 Arbeitsvolumen

+ 1,3 + 1,4 + 1,4 + 1,4 + 1,3 + 1,6 + 1,2 Produktivität

Verteilung des Volkseinkommens+ 1,9 + 0,5 + 1,9 - 0,4 + 1,4 + 1,9 + 1,9 Volkseinkommen+ 0,8 + 0,3 + 1,4 + 0,2 + 0,3 + 1,1 + 1,8 Arbeitnehmerentgelte

+ 0,2 - 1,0 + 2,4 - 1,0 - 1,0 + 1,9 + 2,9 darunter: Nettoarbeitnehmerentgelte5)

+ 4,8 + 1,2 + 3,2 - 1,8 + 4,4 + 3,9 + 2,4 Unternehmens- und VermögenseinkommenVerfügbares Einkommen der

+ 0,5 + 1,4 + 1,7 + 1,9 + 0,9 + 1,5 + 1,8 privaten Haushalte2)

10,6 11,0 10,6 12,4 9,6 12,4 8,8 Sparquote der privaten Haushalte

Nachrichtlich:

+ 0,7 + 0,6 + 0,2 + 0,6 + 0,6 + 0,0 + 0,3 Lohnstückkosten7)

+ 1,4 + 1,1 + 1,2 + 1,0 + 1,1 + 1,1 + 1,3 Verbraucherpreisindex

5) Nettolöhne und -gehälter.- 6) Verfügbares Einkommen abzüglich Private Konsumausgaben zuzüglich Zunahme betrieblicher Versorgungs-ansprüche und Ansprüche aus der „Riester-Rente“. - 7) Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmer in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 1995 je Erwerbstätigen (jeweils Inlandskonzept).

2004

Veränderung gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum in vH

2002 2003

Prognose

243

Page 270: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Eine Besonderheit des Jahres 2004 besteht darin, dass esein Schaltjahr ist und deswegen einen zusätzlichen Ar-beitstag aufweist; außerdem fallen vier (in manchenBundesländern sogar fünf) variable gesetzliche Feier-tage auf Wochenenden. Dies schlägt sich in einer unge-wöhnlich großen Abweichung zwischen der Zunahmedes Bruttoinlandsprodukts und dem Anstieg des saison-und kalenderbereinigten Bruttoinlandsprodukts nieder:Während das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt um1,5 vH steigt, erhöht sich das saison- und kalenderberei-nigte Bruttoinlandsprodukt nur um 1,0 vH. Dieser Kor-rekturfaktor basiert auf Produktionseffekten, die bei Ver-änderungen der Zahl der pro Quartal geleistetenArbeitstage in der Vergangenheit gemessen wurden. Er-fahrungsgemäß sind die relativen Produktionsänderun-gen deutlich kleiner als die relativen Änderungen derZahl der geleisteten Arbeitstage, außerdem variieren siestark von Wirtschaftsbereich zu Wirtschaftsbereich. DieDifferenz von einem halben Prozentpunkt ist also einmittlerer statistischer Erfahrungswert. Inwieweit vordem Hintergrund der gegenwärtigen gedrückten Wirt-schaftslage der Produktionseffekt davon abweichenkönnte, wird über die entsprechenden Kalendereffekteder amtlichen Statistik nicht berücksichtigt. Angesichtsder schwachen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung undder seit geraumer Zeit gedämpften Binnennachfragelässt sich argumentieren, dass der tatsächliche Arbeitsta-geeffekt geringer sein könnte als der mit den vorgegebe-nen Kalenderfaktoren ermittelte. In jedem Fall aber istder rechnerische Kalendereffekt von 0,5 Prozentpunk-ten, der sich aus unserer Prognose ergibt und der in ähn-licher Größenordnung auch in den Prognosen andererInstitutionen ausgewiesen wird, mit Vorsicht zu interpre-tieren.

Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts: Alternativprognose

384. Im Alternativszenario wird unterstellt, dass zum1. Januar 2004 die dritte Stufe der Steuerreform in Krafttritt und ebenso die begleitenden Finanzierungsmaßnah-men, wie sie vom Deutschen Bundestag beschlossenwurden. Das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerre-form entlastet die Bürger um 15,6 Mrd Euro; unter Be-rücksichtigung der Gegenfinanzierung ergibt sich eineNettoentlastung von knapp 4 Mrd Euro. Dies führt vorallem zu einem Anstieg der verfügbaren Einkommen derprivaten Haushalte. Außerdem steigen die Nettoerträgeder Personengesellschaften. Der daraus resultierendeZuwachs der Privaten Konsumausgaben wird 0,3 Pro-zentpunkte betragen; in diesem Fall werden sie imJahr 2004 um 1,1 vH statt um 0,8 vH ausgeweitet. EinTeil dieser Mehrausgaben wird durch zusätzliche Im-porte gedeckt werden. Auf der Unternehmensseite wer-den durch das Vorziehen der Steuerreform vor allemkleine und mittlere Unternehmen begünstigt. Damit er-weitert sich für diese Unternehmen der Finanzierungs-spielraum. Von dieser Wirkung wird aber kein stärkererInvestitionsanstieg im Jahr 2004 erwartet, da sie mitdem zusätzlichen Ertrag ihre Eigenkapitalausstattungund ihre Bilanzstruktur verbessern werden.

Alles in allem wird die gesamtwirtschaftliche Produk-tion bei einer vorgezogenen Steuerentlastung mit der un-terstellten Gegenfinanzierung aufgrund der unmittelba-ren Nachfrageeffekte etwas stärker steigen. DasBruttoinlandsprodukt nimmt um 1,7 vH zu und damitum 0,2 Prozentpunkte mehr als in der Basisprognose.Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt verläuft in die-sem Fall nicht wesentlich anders als im Referenzszena-rio. Das staatliche Finanzierungsdefizit in Relation zumnominalen Bruttoinlandsprodukt beträgt dann 3,6 vHstatt 3,4 vH.

Die quantitativen Auswirkungen eines Vorziehens derSteuerreform werden vom Sachverständigenrat geringeingeschätzt. Zu bedenken ist allerdings, dass ein Schei-tern der geplanten Gesetzesvorhaben zu einer Enttäu-schung der Erwartungshaltung bei privaten Haushaltenund im Unternehmenssektor führen könnte. Dagegenspricht, dass trotz der Aussicht auf die vorgezogeneSteuerentlastung sich die skeptische Grundtendenz derErwartungen nicht maßgeblich aufgehellt hat. Dement-sprechend ist nicht damit zu rechnen, dass die Erwartun-gen sich stark verschlechtern, wenn die Steuerentlastungnicht vorgezogen wird, zumal sie damit nicht ausfällt,sondern nur ein Jahr später in Kraft tritt.

Lage auf dem Arbeitsmarkt bleibt trist

385. Der seit zwei Jahren andauernde Rückgang derErwerbstätigkeit setzt sich im Jahr 2004 fort, kommtaber im Jahresverlauf zum Stillstand; im Jahresmittelwird die Zahl der Erwerbstätigen gleichwohl um 0,3 vHauf 38,00 Millionen Personen im Inland zurückgehen(Tabelle 48).

Aufgrund von Strukturverschiebungen innerhalb derErwerbstätigen durch die Reform der geringfügig ent-lohnten Beschäftigungsverhältnisse wird die Zahl dersozialversicherungspflichtig Beschäftigten stärker zu-rückgehen als die der Erwerbstätigen. Die Zahl der Selb-ständigen wird, nicht zuletzt aufgrund der verstärktenInanspruchnahme von Maßnahmen zur direkten Förde-rung regulärer Beschäftigung wie dem Existenzgrün-dungszuschuss oder dem Überbrückungsgeld, stärkerzunehmen als in der Vergangenheit.

Die Zahl der registrierten Arbeitslosen wird mit4,40 Millionen Personen nur geringfügig über dem Vor-jahresniveau liegen. Dies widerspricht der Erfahrung,nach der die Zahl der Arbeitslosen der Entwicklung derErwerbstätigkeit nachläuft, so dass im Jahr 2004 eigent-lich ein Anstieg zu erwarten wäre. Dass es nicht sokommt, liegt daran, dass wie bereits im Jahr 2003 diekonjunkturelle Entwicklung durch Änderungen in derPolitik der Arbeitsverwaltung überlagert wird (Zif-fern 228 ff.), die beispielsweise zu verstärkten Abgän-gen von Nichtleistungsempfängern aus der registriertenArbeitslosigkeit führen und damit den aufgrund derBeschäftigungsentwicklung eigentlich zu erwartendenAnstieg der Arbeitslosigkeit dämpfen. Die Zahl der ver-deckt Arbeitslosen wird sich aufgrund einer fortge-setzten Rückführung von „Beschäftigung schaffendenMaßnahmen“ und von Maßnahmen der beruflichen Wei-terbildung weiter verringern.

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004

244

Page 271: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

386. Vor dem Hintergrund der unterstellten Basisan-nahmen eines Ölpreises von 27 US-Dollar je Barrel, ei-nes gegenüber Oktober 2003 konstanten Euro-Außen-werts sowie einer anziehenden Weltkonjunktur, steigendie Importpreise im Jahresdurchschnitt um 0,6 vH. DasNiveau der Verbraucherpreise in Deutschland nimmt imJahresdurchschnitt um 1,2 vH zu. Trotz der Erhöhungder Tabaksteuer sowie einer Anhebung der Medikamen-ten-Zuzahlungen zu Beginn des nächsten Jahres wird diePreissteigerungsrate in den ersten sechs Monaten leichtüber 1,0 vH liegen und damit geringfügig niedriger seinals in der zweiten Jahreshälfte (etwa 1,3 vH).

Defizitkriterium wird auch im Jahr 2004 verletzt

387. Im kommenden Jahr wird das staatliche Finanzie-rungsdefizit nach einem Betrag von 86,6 Mrd Euro indiesem Jahr mit etwa 74,8 Mrd Euro zwar etwas vermin-dert, aber es befindet sich noch immer auf einem hohenNiveau (Tabelle 49, Seite 246). Das Ziel, eine Defizit-quote von unter 3,0 vH zu realisieren, wird damit zumdritten Mal in Folge verfehlt. Hierbei ist allerdings anzu-

merken, dass der Sachverständigenrat lediglich diejeni-gen Maßnahmen aus dem Strauß der im Herbst 2003 aufden Weg gebrachten Reformen in seiner Prognose be-rücksichtigt, die im Bundesrat nicht zustimmungspflich-tig sind oder die sich auf durch die Bundesregierungkontrollierbare Ausgabenpositionen im Bundeshaushaltbeziehen. Daher bleiben vor allem die geplanten Steuer-rechtsänderungen einschließlich des Vorziehens der drit-ten Stufe der Steuerreform und der Maßnahmen im Rah-men des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungenam Arbeitsmarkt in der Basisprognose außer Ansatz. Be-rücksichtigt wurden die Einsparungen im Personalbe-reich des Bundes, das GKV-Modernisierungsgesetz unddie angekündigten Sparmaßnahmen im Bereich der Ge-setzlichen Rentenversicherung. Ferner wurde unterstellt,dass die Länder – entsprechend ihrer Ankündigungenhinsichtlich der Reduzierung des Urlaubsgelds und derZuwendungen – ebenfalls im Personalbereich auf einenrestriktiveren Kurs einschwenken. In dem Basisszenarioergibt sich aus diesen Überlegungen ein Defizit des Staa-tes in Höhe von 3,4 vH in Relation zum nominalen Brut-toinlandsprodukt.

Ta b e l l e 48

2002 20032) 20042)

Erwerbspersonen3)4) ................................................................ 42 006 41 741 41 632

Erwerbslose5) ..................................................................... 3 396 3 675 3 688 Pendlersaldo6) .................................................................... 61 60 60 Erwerbstätige7) .................................................................. 38 671 38 126 38 004

Registrierte Arbeitslose8) ........................................................ 4 060 4 383 4 399 davon:

2 498 2 755 2 765 1 563 1 628 1 634

Verdeckt Arbeitslose9) ............................................................ 1 749 1 612 1 511 davon:

1 061 1 040 1 007 687 571 504

Arbeitslosenquote8)10) ............................................................. 9,8 10,5 10,6

Quote der offenen und verdeckten Arbeitslosigkeit11) ........... 13,4 13,9 13,8

EU-standardisierte Erwerbslosenquote12) ............................... 8,6 9,3 9,4

1) Jahresdurchschnitte. - 2) Eigene Schätzung. - 3) Personen im erwerbsfähigen Alter, die ihren Wohnort in Deutschland haben (Inländerkon-zept). - 4) In der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. - 5) Abgrenzung nach der Definition der Internationalen Arbeitsor-ganisation (ILO). - 6) Saldo der erwerbstätigen Einpendler aus dem Ausland / Auspendler in das Ausland. - 7) Erwerbstätige Personen, die einenArbeitsplatz in Deutschland haben, unabhängig von ihrem Wohnort (Inlandskonzept). - 8) Quelle: Bundesanstalt für Arbeit. - 9) Erläuterungensiehe Tabelle 26, Seite 137. - 10) Anteil der registrierten Arbeitslosen an allen zivilen Erwerbspersonen (abhängige zivile Erwerbspersonen, Selb-ständige, mithelfende Familienangehörige). - 11) Registrierte (offene) und verdeckt Arbeitslose in vH der Erwerbstätigen (Inländerkonzept) ab-züglich der Differenz zwischen den registrierten Arbeitslosen und den Erwerbslosen (ILO-Definition) plus offen und verdeckt Arbeitslose abzüg-lich subventioniert Beschäftigte (Inländerkonzept). - 12) Erwerbslose nach dem auf der Abgrenzung des ILO basierenden Konzepts der EU, be-zogen auf alle Erwerbspersonen.

Der Arbeitsmarkt in Deutschland1)

Tausend Personen

Quoten (vH)

im früheren Bundesgebiet ohne Berlin ............................in den neuen Bundesländern und Berlin ..........................

im früheren Bundesgebiet ohne Berlin ............................in den neuen Bundesländern und Berlin ..........................

Prognose

245

Page 272: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Würden hingegen die Maßnahmen des Haushaltsbegleit-gesetzes 2004, des Gesetzes zur Reform der Gewerbe-steuer, des Korb II, des Steueränderungsgesetzes 2003,des Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit unddas Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Ar-beitsmarkt ebenfalls in die Prognose einbezogen, ergäbesich eine Defizitquote von 3,6 vH. Kommt es hingegenausschließlich zu einem Vorziehen der dritten Stufe derSteuerreform ohne die geplanten Konsolidierungsmaß-nahmen, würde das staatliche Defizit in Relation zumnominalen Bruttoinlandsprodukt mit 4,1 vH genausohoch ausfallen wie in diesem Jahr.

388. Nach einem leichten Anstieg der staatlichen Ein-nahmen von 1,3 vH in diesem Jahr werden sie im kom-menden Jahr mit 2,1 vH etwas kräftiger expandieren.Dieser schwache Zuwachs der Einnahmen ist auf dieEntlastungen im Rahmen der zweiten Stufe der Steuerre-form und die Senkung der Beiträge zur GesetzlichenKrankenversicherung um etwa 0,4 Prozentpunkte zu-rückzuführen. Einnahmeerhöhend wirken hingegen vorallem die Anhebung der Verbrauchsteuersätze für Tabak-waren, die zu Mehreinnahmen von 1,3 Mrd Euro führen

dürfte, und die Progressionseffekte bei der Lohn- undEinkommensteuer.

Der Anstieg der Gesamtausgaben fällt im kommendenJahr mit 0,8 vH gegenüber einem Anstieg von 2,4 vH indiesem Jahr deutlich milder aus. Eine Ursache hierfürsind die geplanten Einsparungen im Bereich der Gesetz-lichen Rentenversicherung und die deutlich abge-schwächte Zunahme der Ausgaben im Bereich des Ar-beitslosengelds und der Arbeitslosenhilfe, aber auch diekaum merklich zunehmenden Arbeitnehmerentgelte desStaates. Hinzu kommen die auf Selbstbehalte und Aus-gliederungen zurückzuführenden Einsparungen bei derGesetzlichen Krankenversicherung, die – nach Jahreneines starken Anstiegs – im Bereich der sozialen Sach-leistungen für einen leichten Rückgang dieser Ausga-benkategorie sorgen. Für die Zinsausgaben wird imkommenden Jahr wieder eine Zunahme erwartet. Damitist der ausgabendämpfende Effekt einer günstigeren Re-finanzierung von höher verzinsten Anleihen des Staatesweitgehend ausgelaufen. Die staatlichen Investitionenwerden auch im nächsten Jahr infolge der stark defizitä-ren öffentlichen Haushalte weiter rückläufig sein. Die

Ta b e l l e 49

Einnahmen und Ausgaben des Staates 1)

Schätzung für das Jahr 2003 und Prognose für das Jahr 2004

2002 2003 2004 2003 2004

Mrd EuroVeränderung gegenüber

dem Vorjahr in vH

Einnahmen ....................................... 949,5 961,6 981,5 + 1,3 + 2,1 darunter:Steuern ........................................... 477,6 482,9 500,1 + 1,1 + 3,6 Sozialbeiträge ................................. 389,0 396,3 398,8 + 1,9 + 0,6

Ausgaben .......................................... 1 023,9 1 048,3 1 056,3 + 2,4 + 0,8 davon:Vorleistungen ................................. 84,5 84,6 85,5 + 0,2 + 1,0 Arbeitnehmerentgelte ..................... 167,7 169,2 169,4 + 0,9 + 0,1 Geleistete Vermögenseinkommen ... 65,2 66,2 68,0 + 1,5 + 2,6 Geleistete Transfers ........................ 638,9 658,6 665,0 + 3,1 + 1,0 Bruttoinvestitionen ......................... 34,3 32,3 31,9 - 5,8 - 1,5 Sonstiges3) ......................................... 33,3 37,2 36,6 X X

Finanzierungssaldo ........................... - 74,3 - 86,6 - 74,8 X X

Nachrichtlich:Staatsquote4) ...................................... 48,5 49,2 48,5 X XAbgabenquote4) ................................. 40,6 40,8 40,7 X XDefizitquote4) .................................... - 3,5 - 4,1 - 3,4 X X

1) Gebietskörperschaften und Sozialversicherung in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Gebietskörperschaften: Bund,Länder und Gemeinden, EU-Anteile, ERP-Sondervermögen, Lastenausgleichsfonds, Fonds "Deutsche Einheit", Vermögensentschädigungsfonds,Teile des Bundeseisenbahnvermögens, Erblastentilgungsfonds. - 2) Abweichungen in den Summen durch Runden der Zahlen. - 3) Vermögens-transfers, geleistete sonstige Produktionsabgaben sowie Nettozugang an nichtproduzierten Vermögensgütern. - 4) Ausgaben/Steuern und Erb-schaftsteuer, Steuern an die EU sowie tatsächliche Sozialbeiträge/Finanzierungssaldo jeweils in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in jeweiligenPreisen.

Art der Einnahmenund Ausgaben2)

Die voraussichtliche Entwicklung im Jahr 2004

246

Page 273: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

staatliche Investitionsquote erreicht im Jahr 2004 mit1,5 vH ihren niedrigsten Wert seit der Vereinigung. Imkommenden Jahr wird die Staatsquote leicht um0,7 Prozentpunkte auf ein Niveau von 48,5 vH zurück-geführt werden.

Risiko Wechselkursentwicklung

389. Die Kondition der inländischen Wirtschaft istschwach. Ohne die kräftigen Anstöße von außen wäreim Jahr 2004 eine erneute Stagnation nicht auszuschlie-ßen. Über der weltwirtschaftlichen Entwicklung hängtaber das Damoklesschwert des hohen Leistungsbilanz-defizits der Vereinigten Staaten. Der massive Kapitalzu-fluss ist für die Wirtschaft der Vereinigten Staaten einwichtiger Wachstumsfaktor; er hat aber auch die Aus-landsverschuldung des Landes enorm erhöht. Solangedie amerikanische Wirtschaft expandiert und als Anlage-land attraktiv bleibt, schafft die starke Zunahme derAuslandsverschuldung keine akuten Probleme. Bei dererwarteten Wirtschaftsentwicklung im Jahr 2004 wird esnicht schwer fallen, das Leistungsbilanzdefizit zu finan-zieren. Der gegenwärtige Aufschwung ist in hohemMaße durch die expansive Finanz- und Geldpolitik ge-stützt worden. Wenn die Auftriebskräfte nach demJahr 2004 erlahmen, können ähnliche Impulse nichtmehr mobilisiert werden, da die Haushaltsdefizite be-reits sehr groß sind und die Zinsen kaum noch gesenkt

werden können. Wenn die Kapitalströme sich dann vonden Vereinigten Staaten abwenden, käme der US-Dollarmassiv unter Druck. Die Kehrseite wäre eine abrupteAufwertung des Euro. Die Erfahrung zeigt, dass dieWechselkurse sich in solchen Situationen in kurzer Zeitdrastisch verändern können. Für die Konjunktur desEuro-Raums und speziell für die stark exportabhängigedeutsche Wirtschaft würden daraus erhebliche dämp-fende Wirkungen entstehen, unmittelbar auf die Exporteund indirekt auf die Inlandsnachfrage. Die Wirkungender Abwertung des US-Dollar für sich genommen wärenSimulationen zufolge nicht übermäßig groß. Berechnun-gen mit dem makroökonometrischen Mehrländermodellder Deutschen Bundesbank ergeben, dass eine dauer-hafte Abwertung des US-Dollar um 10 vH das Bruttoin-landsprodukt in Deutschland im ersten und im folgendenJahr um jeweils 0,2 vH verringert (JG 2002 Ziffer 330).Wahrscheinlich ist, dass eine solche Wechselkursent-wicklung mit einer Abschwächung der Wirtschaftsent-wicklung in den Vereinigten Staaten einhergeht. Erfah-rungsgemäß schlägt eine schlechte Auslandskonjunkturaber stärker auf die Exporte durch als eine Aufwertung.

Auf kurze Sicht halten wir aus den oben genanntenGründen die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwick-lung für gering. Mittelfristig könnte das hohe Leistungs-bilanzdefizit in den Vereinigten Staaten aber zu einemStörfaktor für die Wirtschaftsentwicklung im Inlandwerden.

Prognose

247

Page 274: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

VIERTES KAPITEL

Öffentliche Haushalte sanieren

Ein kurzer Überblick dieser Entscheidungsstrukturen ist ineffizient, sie steht

390. In seinem letzten Jahresgutachten hatte der Sach-verständigenrat der Wirtschaftspolitik der Bundesregie-rung kein gutes Zeugnis ausgestellt. Das Gesamturteillautete, dass die Regierungspolitik bis zum damaligenZeitpunkt „eine konsistente und umfassende Strategiefür mehr Beschäftigung und ein höheres Wachstum ver-missen“ ließ. Die Politik wurde aufgefordert: „Es mussmehr getan werden, um die drängendsten wirtschaftli-chen Probleme zu lösen“ (JG 2002 Ziffer 422). DerSachverständigenrat hat dazu in seinem letzten Jahres-gutachten unter dem Titel „Zwanzig Punkte für Beschäf-tigung und Wachstum“ ein umfassendes Reformpro-gramm vorgelegt.

In diesem Jahr fällt die Beurteilung der Wirtschaftspolitikdeutlich besser aus. Mit der Agenda 2010 hat die Bundes-regierung mutige und in einzelnen Bereichen weit rei-chende Reformen auf den Weg gebracht. Das verdient An-erkennung. Viele der vom Sachverständigenrat – abernatürlich auch von anderen Wissenschaftlern undBeratungsgremien – aufgezeigten Reformnotwendigkei-ten in den Systemen der Sozialen Sicherung und auf denArbeitsmärkten sind mittlerweile von der Politik aufge-griffen worden. Einige wenige Vorschläge – wie die Ver-kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds – sind be-reits beschlossen und werden demnächst in Kraft treten;andere – zum Beispiel die Zusammenlegung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe – befinden sich noch im Gesetz-gebungsverfahren; weitere – etwa eine Reform der Struk-tur der Sozialhilfe – sind von der Regierungskoalitionbislang allerdings nicht in ausreichendem Maße aufgegrif-fen worden, sie sind jedoch in Teilen in Reformvorschlägeund Gesetzentwürfe der Opposition eingegangen.

391. Insgesamt kann man der Regierung bescheinigen,dass sie richtige und wichtige Reformschritte auf den Ar-beitsmärkten und in den Systemen der Sozialen Siche-rung eingeleitet hat. Es ist richtig, dass in bestimmten Be-reichen noch mehr getan werden muss. Aber das bedeutetnur, dass der eingeschlagene Weg konsequent fortzuset-zen ist. Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, nach langerZeit des reformerischen Stillstands zunächst das alsmachbar Angesehene umzusetzen. Schon das kannschwierig genug sein. Es müssen nicht nur mögliche Wi-derstände in den eigenen Reihen überwunden werden– das ist ein unvermeidbarer, wenngleich manchmal zeit-raubender Teil des demokratischen Willensbildungspro-zesses. Bei zentralen Vorhaben ist daneben eine Verstän-digung mit der Opposition erforderlich, da diese über dieMehrheit im Bundesrat verfügt und die meisten Reform-vorhaben zustimmungspflichtig sind. Auch dieser Koor-dinationsprozess ist Teil der demokratischen Entschei-dungsabläufe; aber die gegenwärtige Ausgestaltung

für eine Fehlentwicklung des föderativen Systems inDeutschland. Es gibt keinen Zweifel: Der Föderalismusmuss grundlegend reformiert werden, Änderungen in derFinanzverfassung eingeschlossen, um der Politikver-flechtungsfalle zu entkommen und um Entscheidungs-blockaden aufzubrechen. Ohne eine solche Reform wirdes auch zukünftig bei dem quälenden Hin und Her zwi-schen dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat undder Verdrossenheit der Bürger über die politischen Ent-scheidungsprozesse und die unzureichenden Reform-ergebnisse bleiben. Das wäre schlecht für Deutschland. 392. Im Hinblick auf die Umgestaltung der Systemeder Sozialen Sicherung liegen für die Bereiche der Ge-setzlichen Krankenversicherung, der Gesetzlichen Ren-tenversicherung und der Sozialen Pflegeversicherungmittlerweile ausgearbeitete Reformvorschläge vor. DerSachverständigenrat beschreibt und kommentiert dieseEmpfehlungen (Ziffern 289 ff.), aber er stellt in diesemGutachten keine neuen Vorschläge zur Diskussion.Zentrale Punkte der in den letzten Jahresgutachtenpräsentierten Reformprojekte (JG 2000 Ziffern 441 ff.,Ziffern 467 ff.; JG 2002 Ziffern 483 ff.) sind von der„Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierungder Sozialen Sicherungssysteme“ („Rürup-Kommis-sion“), aber auch von der „Kommission ‚soziale Sicher-heit‘ zur Reform der Sozialen Sicherungssysteme“(„Herzog-Kommission“) aufgegriffen worden; sie müs-sen jetzt noch umgesetzt werden. Auch auf den Arbeits-märkten ist seit Anfang dieses Jahres vieles in Bewe-gung gekommen. Allerdings gibt es hier noch eine Reiheunerledigter Aufgaben. Der Sachverständigenrat weistdeshalb noch einmal auf die aus seiner Sicht offenenPunkte hin, die um weitere Maßnahmen ergänzt werden(Ziffern 673 ff., 694 ff. und 710 ff.).Die größte Sorge bereitet in diesem Jahr die Lage der öf-fentlichen Finanzen. Deshalb stehen die Analyse derstaatlichen Finanz- und Steuerpolitik und daraus abge-leitete Reformvorschläge im Mittelpunkt des diesjähri-gen Jahresgutachtens.393. Die öffentlichen Haushalte laufen aus dem Ruder,nicht nur beim Bund, auch bei den Ländern. Die Bestim-mung des Artikel 115 Grundgesetz, die sich analog inLänderverfassungen findet, dass die Nettokreditauf-nahme die in den jeweiligen Haushaltsplänen veran-schlagten Investitionsausgaben nicht überschreiten darf,wird nach dem vergangenen auch in diesem Jahr ver-letzt. Zu bezweifeln ist, dass eine solche Politik durchdie im Grundgesetz und in den Länderverfassungen und/oder Landeshaushaltsordnungen genannten Ausnahme-tatbestände gedeckt ist. Mit einer staatlichen Defizit-quote von über 4 vH wird ebenfalls die durch den Sta-bilitäts- und Wachstumspakt gesetzte Obergrenze von

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3 vH erheblich überschritten. Bereits im letzten Jahrwurde dieses Kriterium verletzt, und es wird mit sehrhoher Wahrscheinlichkeit im kommenden Jahr wieder sosein. Die dramatische Situation der öffentlichen Finan-zen ist zu einem erheblichen Teil auf die nun seit dreiJahren andauernde Stagnationsphase der deutschenVolkswirtschaft zurückzuführen. Von einigen Ökonomenund von Teilen der Öffentlichkeit wurde deshalb eine ak-tivere, auf die Stützung der gesamtwirtschaftlichenNachfrage gerichtete (diskretionäre) Finanzpolitik ge-fordert. Dies dürfte mit zum Beschluss der Bundesregie-rung beigetragen haben, die für das Jahr 2005 vorgese-hene dritte Stufe der Steuerreform auf das Jahr 2004vorzuziehen. Der Sachverständigenrat sieht die Erfolgs-möglichkeiten einer diskretionären Konjunkturpolitikskeptisch. In der Regel genügt es, die automatischen Sta-bilisatoren wirken zu lassen. Die Finanzpolitik kann sichdann auf die längerfristige Aufgabe konzentrieren, güns-tige Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung undWachstum zu schaffen. Das Anfang des Jahres vor dem Hintergrund der sich ver-schlechternden Finanzlage von der Europäischen Kom-mission und dem ECOFIN-Rat eingeleitete Verfahrenwegen eines übermäßigen Defizits im Rahmen des Stabi-litäts- und Wachstumspakts sollte von den Brüsseler In-stitutionen gemäß den Regeln des Pakts fortgesetzt wer-den. Der Frankreich gewährte Konsolidierungsaufschub,der wohl auch präjudizierende Wirkung für Deutschlandhaben wird, wirft allerdings kein gutes Licht auf die An-wendung des Pakts in dem Moment, in dem er sich daserste Mal bewähren muss. Mit Blick auf die andauerndeDiskussion um die Reform des Stabilitätspakts sprichtsich der Sachverständigenrat nachdrücklich für eine Bei-behaltung des Pakts und seiner Regeln aus. Dies bedeutetnicht, dass auf längere Sicht keine Verbesserungen desgeltenden Regelwerks möglich wären, diese sind aberweitgehend innerhalb des geltenden Pakts umsetzbar.Weitergehender radikaler Reformmaßnahmen bedarf eszum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht.Tatsächlich spiegeln die staatlichen Defizite oder Schul-denstände die von den gegenwärtigen an die zukünftigenGenerationen weiter gegebenen Belastungen bei weitemnicht vollständig wider. Zur Beurteilung der Tragfähig-keit der Finanzpolitik müssen neben den expliziten auchdie impliziten Staatsschulden berücksichtigt werden, dieinsbesondere durch die umlagefinanzierten Systeme derSozialen Sicherung im Zusammenhang mit der absehba-ren demographischen Entwicklung bewirkt werden. Dievom Sachverständigenrat berechneten Tragfähigkeitslü-cken betragen dabei ein Mehrfaches der expliziten staat-lichen Schulden. Die aus diesen Berechnungen zu ziehende Schlussfolge-rung ist eindeutig: Es gibt keine Alternative zu einer ent-schlossenen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte.Dabei sind Maßnahmen auf der Ausgabenseite der staat-lichen Budgets Steuersatzerhöhungen vorzuziehen. DerSachverständigenrat stellt auch dazu entsprechende Vor-schläge zur Diskussion.Dringend erforderlich ist eine Neuausrichtung im Be-reich der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung.Der Steuerpolitik fehlt gegenwärtig ein klares Leitbild.

Ohne ein solches bleiben die vielen steuerpolitischenEinzelmaßnahmen aber ein ungeordnetes Stückwerk mitteilweise sogar widersprüchlicher Zielsetzung. Dies ver-unsichert Investoren und private Haushalte. Der Sach-verständigenrat legt daher in diesem Jahr Vorschläge füreine konzeptionelle Neuordnung der Einkommen- undKörperschaftsteuer vor (Ziffern 558 ff.). Handlungsbe-darf besteht in mehrfacher Hinsicht: Die Tarifbelastungvon Unternehmensgewinnen muss weiter reduziert wer-den; bezogen auf die effektiven Steuerbelastungen istDeutschland immer noch ein Hochsteuerland. Diegegenwärtige Unternehmensbesteuerung verzerrt die In-vestitionsentscheidungen, die Finanzierungsentschei-dungen und die Rechtsformwahl; die Unternehmensbe-steuerung muss in die Einkommensteuer integriertwerden. Die Besteuerung der Kapitaleinkommen ist einheilloses Durcheinander, sie muss vereinheitlicht wer-den. Die Einkommens- und Unternehmensbesteuerungin Deutschland ist eine Wachstumsbremse; sie ist drin-gend reformbedürftig. In diese Reform ist eine Neuord-nung der Kommunalbesteuerung einzubeziehen. Dievom Deutschen Bundestag beschlossene Umgestaltungder Gewerbesteuer in eine Gemeindewirtschaftssteuerist nicht überzeugend. Nach Ansicht des Sachverständi-genrates stellt die duale Einkommensteuer eine wachs-tumsfreundliche und systematische Reformoption dar(Ziffern 584 ff.). In ein solches Steuersystem fügen sichsowohl eine Abgeltungssteuer auf Zinseinkünfte alsauch ein kommunales Zuschlagsrecht auf die Steuern aufArbeitseinkommen und Kapitaleinkommen nahtlos ein.

I. Wirtschaftspolitik im ersten Jahrder 15. Legislaturperiode

Das Wichtigste in Kürze

(1) Nach einem Fehlstart hat die Bundesregierung mitder Agenda 2010 mutige und in einzelnen Berei-chen weit reichende Reformen auf den Weg ge-bracht.

(2) Bei In-Kraft-Treten des Vorziehens der drittenStufe der Steuerreform und der vom DeutschenBundestag beschlossenen Finanzierungsmaßnah-men wird ein leichter konjunktureller Impuls aus-gelöst.

(3) Das Vorziehen der Steuerreform trägt jedoch dazubei, dass Deutschland im Jahr 2004 zum drittenMal in Folge die Defizitbegrenzung des Stabili-täts- und Wachstumspakts verletzen wird. Auchdie Defizitobergrenze des Artikel 115 Grundge-setz wird überschritten. Der Sachverständigenratbezweifelt, dass dies mit der Ausnahmeklausel desArtikel 115 Grundgesetz begründet werden kann.

(4) Eine diskretionäre Finanzpolitik ist möglicher-weise kurzfristig wirksam, aber nicht sehr effektivund nicht zielgenau. Sie trägt zu einer höherenOutputvolatilität bei und reduziert das Potential-wachstum. Das Stabilisierungsziel sollte über dieautomatischen Stabilisatoren erreicht werden.

Wirtschaftspolitik im ersten Jahr der 15. Legislaturperiode

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Wie man es nicht machen soll

394. In den ersten Monaten nach der Bundestagswahlam 22. September 2002 war eine klare wirtschaftspoli-tische Linie nicht zu erkennen. Schon die Koalitions-vereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/DIEGRÜNEN ließ eindeutige ökonomische Prioritäten ver-missen. Auch fehlte eine überzeugende langfristige Pers-pektive im Hinblick auf das Wachstumsziel (JG 2002Ziffern 399 ff.). Der erste Entwurf eines „Steuervergüns-tigungsabbaugesetzes“ enthielt dann ein Sammelsuriumvon Vorschlägen zum Abbau von Steuervergünstigungenund Ausnahmeregelungen. Vorgesehen waren nebenvielen weiteren Maßnahmen unter anderem Ein-schränkungen bei der Eigenheimzulage, eine pauschaleBesteuerung von Veräußerungsgewinnen, Einschränkun-gen bei der Verlustverrechnung, eine Anhebung der Be-steuerung bei privater Nutzung eines betrieblichenKraftfahrzeugs bis hin zur Aufhebung der umsatzsteuer-lichen Ermäßigung für Leistungen, die unter anderemunmittelbar der Vatertierhaltung oder der künstlichenTierbesamung dienen. In der Öffentlichkeit stieß diesesGesetz damals auf einen Sturm der Entrüstung. Es wurdeals gigantisches Steuererhöhungsprogramm gebrand-markt, das zum Verlust mehrerer 100 000 Arbeitsplätzeführen werde. Nach Durchlaufen des Vermittlungsver-fahrens haben Bundestag und Bundesrat am11. April 2003 schließlich einem Minimal-Kompromisszugestimmt (Ziffer 280). Anzumerken ist, dass die nochvor einem Jahr abgelehnten Kürzungen vieler Steuerver-günstigungen zwischenzeitlich auf breiteren Konsensstoßen.

Die Verwirrung und Verunsicherung der Bürger wurdegesteigert durch die Forderung des damaligen Minister-präsidenten Gabriel und seines Kollegen Steinbrücknach Wiedererhebung der als „Verantwortungssteuer“bezeichneten Vermögensteuer, die bis zu 9 Mrd EuroAufkommen – also knapp doppelt so viel wie im Jahrvor der Aussetzung der Vermögensteuer – erbringensollte. Andere Vorschläge wurden verkündet und eineWoche später zurückgezogen. Darauf muss hier nichtweiter eingegangen werden. Bis zum März dieses Jahresfehlte der Wirtschaftspolitik jegliche klare Linie undüberzeugende Konzeption.

Kurswechsel mit der Agenda 2010

395. Das änderte sich mit der Regierungserklärung desBundeskanzlers am 14. März 2003, in der die Grund-züge der Agenda 2010 vorgestellt wurden. Seitdem hatdie Bundesregierung einen umfangreichen Reformkata-log in einem bemerkenswerten Tempo auf den Weg ge-bracht. Einige Maßnahmen haben bereits Gesetzeskrafterlangt – etwa die Verlängerung der Ladenöffnungszei-ten oder die Gesetze für moderne Dienstleistungen amArbeitsmarkt (Hartz I und II). Andere Vorhaben sindvom Deutschen Bundestag verabschiedet, aber die Ent-scheidungen des Bundesrates stehen noch aus.

Im Jahr 2004 sollen in Kraft treten:

– das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform undein Abbau von Subventionen und Steuervergünsti-gungen im Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes(Ziffer 285),

– Maßnahmen im Bereich der Einkommens- und Un-ternehmensbesteuerung im Gesetz zur Umsetzungder Protokollerklärung der Bundesregierung zur Ver-mittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsab-baugesetz (Ziffern 281 f.),

– eine Steueramnestie durch das Gesetz zur Förderungder Steuerehrlichkeit (Ziffer 283),

– der Ersatz der Gewerbesteuer durch die Gemeinde-wirtschaftssteuer durch das Gesetz zur Reform derGewerbesteuer (Ziffer 284),

– die Verkürzung der Anspruchsdauer auf Bezug vonArbeitslosengeld durch das Gesetz zu Reformen amArbeitsmarkt (Ziffer 229 und Ziffer 700),

– die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und So-zialhilfe im Rahmen des Dritten und Vierten Gesetzesfür moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt(Ziffern 230 ff. und Ziffern 716 f.),

– das GKV-Modernisierungsgesetz (Ziffern 291 ff.),

– das Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung,

– das Sofortprogramm zur Stabilisierung der Renten-finanzen.

Daneben gibt es weitere Gesetzentwürfe oder Reform-vorhaben, die erst später in Kraft treten sollen, wie

– der Übergang zur nachgelagerten Besteuerung beiden Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezü-gen durch das Alterseinkünftegesetz (Ziffer 286),

– eine grundlegende Reform der Gesetzlichen Renten-versicherung und der Sozialen Pflegeversicherung(Ziffern 354 ff.),

– die Entscheidung über die Umstellung der Finanzie-rung der Gesetzlichen Krankenversicherung auf eineBürgerversicherung oder auf Gesundheitsprämien(Ziffern 306 ff.).

396. Allein wegen ihres Umfangs ist das eine beein-druckende Liste von Reformprojekten. Noch vor zweioder drei Jahren war ganz und gar nicht abzusehen, dasses zu einer Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe undSozialhilfe kommt, dass die Bezugsdauer des Arbeitslo-sengelds gekürzt wird und dass in Deutschland ernsthaftüber pauschale Gesundheitsprämien diskutiert wird.Nicht alle Reformvorhaben sind uneingeschränkt positivzu beurteilen; viele Einzelpunkte müssen sich Kritik ge-fallen lassen. Aber man muss zugestehen, dass sich et-was bewegt – und dass die weitaus meisten Reformen indie vom Sachverständigenrat und anderen aufgezeigteRichtung gehen. Angesichts der Fülle an Reformprojek-ten wird jetzt vielfach schon wieder – gerade auch vondenen, die vehement umfangreiche Reformen geforderthaben – ein Reformchaos beklagt, das eine klare Linievermissen lasse. Zwar ist in der Tat ungewiss, welche

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Reformvorhaben letztlich mit welchen Ergebnissen denBundesrat passieren werden. Aber das liegt überwiegendan der schon erwähnten Politikverflechtungsfalle, in dieder Föderalismus in seiner gegenwärtigen Ausgestaltunggeführt hat.

Abschied von der Politik der „ruhigen Hand“

397. Im Herbst 2001 wurde angesichts der damaligenkonjunkturellen Schwäche von Verbänden, aber auchvon wissenschaftlicher Seite ein Vorziehen der für dasJahr 2003 vorgesehenen zweiten Stufe der Steuerreformgefordert. Die Bundesregierung hat diesen Forderungennicht nachgegeben und stattdessen die Vorteile einer„Politik der ruhigen Hand“ betont. Der Sachverständi-genrat hatte dies in seinem Jahresgutachten 2001 „FürStetigkeit – gegen Aktionismus“ ausdrücklich begrüßt(JG 2001 Ziffer 387). Im Jahr danach wurde dann diezweite Stufe der Steuerreform als Reaktion auf die Flut-katastrophe vom August 2002 um ein Jahr auf den1. Januar 2004 verschoben. Der Sachverständigenrat hatdies vor dem Hintergrund der damaligen Ausnahmesitu-ation und angesichts der Alternativen für vertretbar ge-halten (JG 2002 Ziffer 545). In diesem Jahr wurde nununter Hinweis auf die anhaltende Stagnationsphase (undmöglicherweise auch als Reaktion auf die massive Steu-ersenkungskampagne einer auflagestarken Tageszei-tung) ein Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreformauf den 1. Januar 2004 beschlossen. Das entsprechendeGesetz wurde am 17. Oktober vom Deutschen Bundes-tag verabschiedet. Der Sachverständigenrat bewertet dieNachteile dieser Maßnahme höher als deren Vorteile.Die Zustimmung des Bundesrates ist derzeit ungewiss.

398. Mit dem Vorziehen der Steuerreform soll – inErgänzung zu den strukturellen Reformen derAgenda 2010 – „den Bürgerinnen und Bürgern mehrGeld in die Taschen gegeben und Konsum und Wachs-tum gefördert werden“, so das Bundesministerium derFinanzen in einer Presseerklärung vom 29. Juni 2003.Wenn ein konjunktureller Impuls über eine Nachfrage-stimulierung erreicht werden soll, ist es in der Tat ange-bracht, die mit dem Vorziehen der Steuerreform gegenü-ber der ursprünglichen Finanzplanung einhergehendenSteuerausfälle von voraussichtlich 15,6 Mrd Euro übereine höhere staatliche Neuverschuldung auszugleichen.Für den Bundeshaushalt bedeutet dies Steuerausfälle vonrund 7 Mrd Euro, die durch eine zusätzliche Neuver-schuldung von 5 Mrd Euro und Privatisierungserlösevon etwa 2 Mrd Euro gedeckt werden sollen. Der Aus-gleich der Steuerausfälle bei den Bundesländern und Ge-meinden ist zur Zeit noch ungeklärt.

Die Steuersenkung wird einen konjunkturellen Impulsauslösen – aber dieser Impuls wird gering sein. Würdenmit dem Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreformauch die vom Deutschen Bundestag zur Gegenfinanzie-rung vorgesehenen Maßnahmen (Haushaltsbegleitge-setz, Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit,Korb II, Hartz IV und Steueränderungsgesetz 2003) inKraft treten, würde die Veränderungsrate des Bruttoin-

landsprodukts im kommenden Jahr um 0,2 Prozent-punkte höher ausfallen als ohne dieses Maßnahmepaket.Der leichte konjunkturstimulierende Effekt ist gegenmögliche langfristige negative Effekte abzuwägen.

399. Das Vorziehen der Steuerreform trägt dazu bei,dass Deutschland auch im Jahr 2004 und damit zum drit-ten Mal in Folge gegen die Defizitbegrenzung des EG-Vertrages beziehungsweise des Europäischen Stabilitäts-und Wachstumspakts verstoßen wird (Ziffer 425). Eben-falls zum dritten Mal in Folge wird auf Bundesebene dieNeuverschuldung mit geplanten 30,8 Mrd Euro die mit24,8 Mrd Euro veranschlagten Ausgaben für Investitio-nen überschreiten und damit die Defizitbegrenzung desArtikel 115 Grundgesetz verletzen. Zur Abwehr einerStörung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts istdies zwar zulässig. Nach einer Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1989 muss dieBundesregierung dann aber begründen, warum die er-höhte Neuverschuldung für diesen Zweck geeignet seinsoll. Das dürfte nicht ganz einfach sein, da die Fehlent-wicklungen in Deutschland in erster Linie aus einer zuhohen strukturellen Arbeitslosigkeit sowie aus einem zugeringen Potentialwachstum bestehen (JG 2002 Zif-fer 533). Dann müsste man zur Abhilfe nämlich diestaatliche Verschuldung reduzieren, nicht aber sie erhö-hen. Nur bei einer drohenden Rezession könnte eine hö-here Neuverschuldung gerechtfertigt werden. Aber da-von kann bei einer für das nächste Jahr zu erwartendenVeränderungsrate des Bruttoinlandsprodukts von 1,5 vHoder 1,7 vH und einem Potentialwachstum in ähnlicherGrößenordnung definitiv nicht gesprochen werden. DerBezug auf die Ausnahmeklausel des Artikel 115 stehtdeshalb auf mehr als wackligen Füßen.

400. Auch wenn die Entscheidung des Deutschen Bun-destages über das Vorziehen der dritten Stufe der Steuer-reform jetzt gefallen ist, sind doch einige grundsätzlicheGedanken über die Erfolgsbedingungen und die Wirk-samkeit diskretionärer Finanzpolitik angebracht. In denVereinigten Staaten hat die Regierung massiv auf einediskretionäre Finanzpolitik gesetzt (Ziffern 79 ff.). Undauch in der Wissenschaft scheint sich nach jahrelangerSkepsis eine etwas positivere Einschätzung diskretionä-rer staatlicher Eingriffe abzuzeichnen. Der Sachverstän-digenrat steht einer solchen Politik skeptisch gegenüber.Der Rückgriff auf eine diskretionäre Finanzpolitik istnicht nur gegenwärtig nicht opportun, er ist auch nur inseltenen Fällen ökonomisch sinnvoll. Allem voran seiauf die eingeschränkte kurzfristige und geringe langfris-tige Effektivität einer solchen Politik hingewiesen. Neu-ere empirische Arbeiten belegen zudem, dass Länder,die eine diskretionäre Finanzpolitik aktiv eingesetzt ha-ben, dadurch sowohl zu einer höheren Outputvolatilitätbeigetragen als auch das Potentialwachstum signifikantreduziert haben. Eine solche Politik ist dann möglicher-weise kurzfristig effektiv, langfristig aber sicher kontra-produktiv. Auch eine Vielzahl von weiteren Gründenlegt einen Verzicht auf eine diskretionäre antizyklischeFinanzpolitik nahe.

Wirtschaftspolitik im ersten Jahr der 15. Legislaturperiode

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Diskretionäre Finanzpolitik oder automatische Stabilisatoren?

401. Das Ziel der Stabilisierungspolitik besteht darin,die Schwankungen des Bruttoinlandsprodukts um seinenlangfristigen Wachstumstrend zu dämpfen. Dies kann imBereich der Finanzpolitik über ein Wirken der automati-schen Stabilisatoren oder über eine aktive diskretionäreStabilisierungspolitik ermöglicht werden. Die diskretio-näre Finanzpolitik wird üblicherweise anhand der Verän-derungen des konjunkturbereinigten Defizits gemessen,während sich die automatischen Stabilisatoren über dieReagibilität der nicht konjunkturbereinigten Haus-haltssalden auf konjunkturelle Schwankungen ermittelnlassen. Automatische Stabilisatoren können dabei diekonjunkturellen Ausschläge infolge ökonomischer Stö-rungen nur dämpfen, diese Störungen selbst jedoch nichtkonterkarieren. Beispiele solcher Stabilisatoren sind dieArbeitslosenversicherung oder die progressive Einkom-mensbesteuerung. Beide tragen zu einer Verstetigungdes verfügbaren Einkommens und damit der Konsum-,Spar- und Arbeitsangebotsentscheidungen der privatenHaushalte im Konjunkturverlauf bei, wobei das Ausmaßder automatischen Konjunkturstabilisierung mit derHöhe der staatlichen Ausgaben in Relation zum Brutto-inlandsprodukt, der Progressivität des Steuersystemsund der Höhe der Leistungen der Arbeitslosenversiche-rung steigt. Die laufenden Strukturreformen, die eineAbflachung der Steuerprogression und ein Abschmelzendes Leistungsniveaus der Arbeitslosenversicherung be-wirken, tragen somit dazu bei, die automatischen Stabili-satoren in den nächsten Jahren tendenziell zu schwä-chen. Aus dieser Tatsache allein die Notwendigkeit einesvermehrten Einsatzes diskretionärer antizyklischer Fi-nanzpolitik abzuleiten, wäre jedoch verfehlt, denn esgibt gewichtige theoretische und empirische Gründe, dieZweifel an der Wirksamkeit und Effektivität einer sol-chen Politik aufkommen lassen.

402. Ein rechtzeitiger Einsatz der diskretionären Fi-nanzpolitik zur Konjunkturstabilisierung wird in derPraxis dadurch erschwert, dass es bei der statistischenErfassung des Bruttoinlandsprodukts zu zeitlichen Ver-zögerungen kommt, da vorläufige Quartalszahlen erstnach rund sechs Wochen verfügbar sind. Ferner ist nichteinfach und zeitnah zu definieren, wann eine Rezessionvorliegt. Eine verbreitete Praxis definiert rezessive Pha-sen über einen Rückgang in der Zuwachsrate des Brutto-inlandsprodukts über mindestens zwei aufeinander fol-gende Quartale. Legt man diese stark simplifizierendeDefinition zu Grunde, dann dauerten Rezessionen in derNachkriegszeit durchschnittlich rund drei Quartale. Be-rücksichtigt man hier die zeitliche Verzögerung, mit dergesamtwirtschaftliche Daten den Entscheidungsträgernin der Politik bekannt werden, dann ist die typische Re-zession beendet, bevor sie diagnostiziert ist.

Zu den potentiellen Verzögerungen beim Erkennen einesstabilisierungspolitischen Handlungsbedarfs gesellensich weitere Zeitverzögerungen, die mit der Beschluss-fassung und Umsetzung der Politikmaßnahmen zu tunhaben. Die Bedenken gegenüber einer diskretionären Fi-

nanzpolitik als Stabilisierungsinstrument konzentrierensich darauf, dass bei der Finanzpolitik – im Gegensatzzur Geldpolitik – die Entscheidungsverzögerungen rechthoch sind: Abgesehen von den Einmalmaßnahmen, dienach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz über Ver-ordnungen erlassen werden können, müssen finanzpoli-tische Maßnahmen in der Regel ein zeitraubendes parla-mentarisches Verfahren bewältigen. Dies verzögert denEinsatz der finanzpolitischen Instrumente zusätzlich.Eine zeitnahe Konjunkturstabilisierung wird fernerdurch die üblichen Wirkungsverzögerungen unterlaufen,denn es vergeht Zeit zwischen dem Ergreifen der Maß-nahmen und der Entfaltung ihrer Wirkungen. Je längerund variabler diese Wirkungsverzögerungen sind, destoschwieriger ist es, eine optimale Stabilisierungspolitikzu implementieren. Die empirische Literatur deutet dar-auf hin, dass geldpolitische Maßnahmen, wie Zinsände-rungen durch die Zentralbank, die Wirtschaftsaktivitätmit erheblich größeren Zeitverzögerungen – die Schät-zungen variieren von mehreren Monaten bis zu einemJahr oder sogar darüber hinaus – beeinflussen als finanz-politische Maßnahmen, die in der Regel schon nach dreibis sechs Monaten erste Wirkungen entfalten und ihrenmaximalen Effekt zwischen neun und achtzehn Monatenerzielen.

In der Summe können alle Wirkungsverzögerungen zu-sammen dazu führen, dass eine diskretionäre expansiveFinanzpolitik nicht wie intendiert in der Rezessions-phase, sondern erst in der folgenden Expansionsphaseihre maximale Wirkung erreicht und die konjunkturellenAusschläge verstärkt statt sie zu dämpfen. Sie kann so-mit prozyklisch wirken.

403. Zusätzlich zu diesen traditionellen Argumentenwurden in jüngster Zeit weitere Einwände gegen einediskretionäre Finanzpolitik vorgetragen. So wird argu-mentiert, dass einmal eingeleitete finanzpolitische Maß-nahmen bei Änderungen in den ökonomischen Rahmen-bedingungen viel schwieriger zu revidieren sind alsgeldpolitische Entscheidungen und die Finanzpolitik da-her als Stabilisierungsinstrument weniger flexibel ein-setzbar ist. Ferner wird zu bedenken gegeben, dass dieFinanzpolitik auch anderen wirtschaftspolitischen Zie-len, etwa distributiven oder allokativen, verpflichtet ist.Zusätzlich spielen politökonomische und wahlstrategi-sche Überlegungen in der Finanzpolitik eine bedeutendeRolle, was typischerweise zu einer zu geringen Stabili-sierungsorientierung der Finanzpolitik beiträgt. Als wei-terer Einwand gegen eine diskretionäre Finanzpolitikwird gelegentlich vorgebracht, dass eine Verdrängungprivater Investitionen durch kreditfinanzierte staatlicheAusgabenprogramme eintreten könne. Dabei wird häu-fig zwischen direkten Verdrängungseffekten und den in-direkten Effekten über die Kapitalkosten unterschieden.Für beide Formen von Verdrängungseffekten gibt es em-pirisch kaum Belege.

Diskretionäre Finanzpolitik wird oft auch unter Hinweisauf mögliche Ricardianische Effekte diskutiert. Die Hy-pothese der Ricardianischen Äquivalenz besagt, dass füreinen gegebenen Zeitpfad der Staatsausgaben die Frage

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der Finanzierung dieses Ausgabenstroms irrelevant ist,es also unbedeutend ist, ob die Staatsausgaben über Kre-dite oder Steuern finanziert werden. Dieses Äquivalenz-postulat der Finanzpolitik gilt nur unter sehr rigiden Vor-aussetzungen und bezieht sich nur auf die Frage nach derFinanzierung eines gegebenen Ausgabenpfads. Ricardia-nische Äquivalenz gilt in theoretischen Modellen insbe-sondere dann nicht, wenn verzerrende Steuern gesenktwerden, die privaten Haushalte nur einen begrenztenZeithorizont in ihre Entscheidungen einbeziehen, keineperfekte Voraussicht haben, nicht altruistisch sind oderLiquiditätsbeschränkungen unterliegen. Auch findenempirische Studien nur wenige Belege für Ricardiani-sche Äquivalenz, wenngleich die empirische Evidenznicht eindeutig ist.

Im Zusammenhang mit diskretionärer Finanzpolitik wirdoft auch auf mögliche nicht-keynesianische Effekte ver-wiesen: Obwohl in der finanzpolitischen Praxis generellpositive, aber geringe Fiskalmultiplikatoren vorliegendürften, gibt es auch empirische Belege für stimulie-rende Konsolidierungsmaßnahmen. Als Beispiele wer-den häufig Dänemark in den Jahren 1983 bis 1986 undIrland in den Jahren 1987 bis 1989 erwähnt. Solche ex-pansiven Wirkungen einer Haushaltskonsolidierungscheinen dann besonders wahrscheinlich zu sein, wenneine beherzte Konsolidierung eingeleitet wurde und eineerhebliche Rückführung des Primärdefizits hauptsäch-lich über die Ausgabenseite erfolgte, etwa durch dieRückführung nichtproduktiver Staatsausgaben. Im Aus-gangspunkt solcher erfolgreichen expansiv wirkendenKonsolidierungsepisoden lagen oft erhebliche Risiko-prämien in den Nominalzinssätzen wegen hoher Staats-schuldenstände vor, und die Konsolidierung förderte dieTragfähigkeit der Staatsfinanzen indem sie die Notwen-digkeit einer noch massiveren zukünftigen Konsolidie-rung reduzierte und damit einen absehbaren höherenzukünftigen Finanzierungsbedarf für gegenwärtige Kon-sum- und Investitionsvorhaben freisetzte. Zusätzlichgingen solche Episoden mit einer erheblichen Verbesse-rung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einher,denn sie waren begleitet von Lohnzurückhaltung und ei-ner signifikanten Abwertung der Landeswährung.

Fazit: Skepsis gegenüber diskretionärer Finanzpolitik

404. Die verschiedenen hier diskutierten Aspekte legeneine nur begrenzte Eignung der diskretionären Finanz-politik als Stabilisierungsinstrument nahe. Dafür sprichteine möglicherweise erhebliche Zeitspanne zwischen derDiagnose der konjunkturellen Probleme, dem Beschlussund der Umsetzung von Gegenmaßnahmen und ihremWirken. Die häufig als Argumente gegen eine diskretio-näre Finanzpolitik vorgebrachten negativen Verdrän-gungseffekte und Ricardianischen Effekte finden empi-risch dagegen kaum Bestätigung. Jedoch ist dieEffektivität der Finanzpolitik als Stabilisierungsinstru-ment in Frage zu stellen: Empirisch sind die Effekte vondiskretionären finanzpolitischen Maßnahmen auf dieWirtschaftsaktivität zwar positiv, aber in aller Regel nu-merisch gering. Neuere ökonometrische Untersuchun-

gen liefern kaum Belege für erhebliche KeynesianischeMultiplikator-Effekte. Die geschätzten kurzfristigenMultiplikatoren liegen bei etwa 0,2 bis 0,5 im Falle vonSteueränderungen, wobei im Ländervergleich nur ge-ringe Unterschiede in den Schätzwerten feststellbar sind.Im Falle einer Änderung der Staatsausgaben liegt derkurzfristige Multiplikator bei eins, mit einer Streubreiteder Schätzwerte zwischen 0,6 und 1,4 im Länderver-gleich, wobei empirische Analysen für Deutschlandnahelegen, dass die kurzfristigen Effekte von Ausga-benänderungen am oberen Ende dieses Schätzbereichsliegen. Die eingeschränkte kurzfristige und geringe lang-fristige Effektivität diskretionärer Finanzpolitik begrün-det berechtigte Zweifel an ihrer Eignung als effektivesStabilisierungsinstrument, zumal neuere empirische Ar-beiten nahelegen, dass eine solche Politik zu einer höhe-ren Outputvolatilität beitragen und damit das langfristigeWachstum signifikant reduzieren kann.

Aus aktuellem Anlass:

Bemerkungen zum Steuerreformvorschlag des CDU-Bundesvorstands

405. An Steuerreformvorschlägen mangelt es zur Zeitnicht. Besondere Aufmerksamkeit hat in der Öffentlich-keit ein am 3. November 2003 vom CDU-Bundesvor-stand beschlossener Entwurf für „Ein modernes Einkom-mensteuerrecht für Deutschland“ gefunden, dem eineVorlage des CDU-Politikers Friedrich Merz zugrundeliegt („Merz-Konzept“). Dabei handelt es sich aber imGegensatz zum „Karlsruher Entwurf“ nicht um ein aus-gearbeitetes Steuergesetz. Stattdessen werden zehn Leit-sätze formuliert, mit denen „eine radikale Vereinfachungund eine grundlegende Reform des deutschen Einkom-mensteuersystems“ bezweckt werden.

– Gegenstand der Besteuerung ist nach diesem Vor-schlag das Markteinkommen, das jedes realisierte,durch Betätigung am Markt erworbene Einkommenumfasst (erster Leitsatz).

– Die Steuererhebung wird durch Ausbau und Verein-heitlichung der elektronischen Datenübermittlungund Datenverarbeitung sowie durch ein umfassendesQuellenabzugsverfahren vereinfacht (zweiter Leit-satz).

– Die bisherigen sieben Einkunftsarten werden zu vierzusammengefasst: Einkünfte aus unternehmerischerTätigkeit (Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft,aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit undaus Vermietung und Verpachtung), Einkünfte ausnichtselbständiger Arbeit, Einkünfte aus Kapitalver-mögen und Sonstige Einkünfte. Die steuerliche Ge-winnermittlung löst sich von der Handelsbilanz, in-dem ein eigenständiges Steuerbilanzrecht geschaffenwerden soll; kleineren Unternehmen wird ein Wahl-recht zur Einnahmen-Überschuss-Rechnung einge-räumt (dritter Leitsatz).

– Steuervergünstigungen werden bis auf wenige Sach-verhalte beseitigt (vierter Leitsatz).

Wirtschaftspolitik im ersten Jahr der 15. Legislaturperiode

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– Jede Person erhält einen Grundfreibetrag von8 000 Euro; außerdem gibt es einen Arbeitnehmer-freibetrag von 1 000 Euro. Der gegenwärtige linear-progressive Tarif wird durch einen Stufengrenzsatzta-rif ersetzt, mit Steuersätzen von 12 vH, 24 vH und36 vH für zu versteuernde Einkommen zwischen8 000 und bis zu 16 000 Euro, ab 16 000 und bis zu40 000 Euro und ab 40 000 Euro. Für Einkünfte ausunternehmerischer Tätigkeit gilt eine Tarifbegren-zung von 24 vH, solange eine Belastung mit Gewer-besteuer vorliegt (fünfter Leitsatz).

– Das Ehegattensplitting wird beibehalten; der privateHaushalt wird grundsätzlich als Arbeitgeber aner-kannt (sechster Leitsatz).

– Kapitaleinkünfte mit Ausnahme von Dividenden wer-den im Wege des Quellensteuerabzugsverfahrens ein-heitlich mit 24 vH belastet; die Kapitalertragsteuerhat Vorauszahlungscharakter und wird auf die Ein-kommensteuer angerechnet (siebter Leitsatz).

– Gewinne aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern,die der Einkünfteerzielung dienen, unterliegen derEinkommensbesteuerung. Dazu gehören unter ande-rem Grundstücke, vermietete Immobilien und Wertpa-piere. Der Privatsphäre zuzuordnende Wirtschaftsgü-ter, etwa selbstgenutztes Wohneigentum, bleibensteuerfrei (achter Leitsatz).

– Alterseinkünfte, einschließlich der Alterssicherungdienende Leibrenten, werden nachgelagert besteuert(neunter Leitsatz).

– An der Körperschaftsteuer wird festgehalten. DerKörperschaftsteuersatz auf einbehaltene und ausge-schüttete Gewinne beträgt 24 vH. Die auf Dividendenlastende Vorbelastung mit Körperschaftsteuer sollmit der Einkommensteuer über ein vereinfachtes An-rechnungsverfahren verrechnet werden. Veräuße-rungsgewinne zwischen Kapitalgesellschaften sindsteuerpflichtig, soweit sie auf stille Reserven entfal-len. Der Verlustausgleich bleibt als Verlustvortraguneingeschränkt zulässig (zehnter Leitsatz).

406. Das Merz-Konzept ist in der Öffentlichkeit über-wiegend positiv, teilweise mit Begeisterung aufgenom-men worden. Es wurde als „Befreiungsschlag in SachenSteuern und Übersichtlichkeit“ gelobt, der die not-wendige Vereinfachung des Steuerrechts gewährleiste.Hervorgehoben werden vor allem die weitgehende Ab-schaffung von Steuervergünstigungen, der hohe Grund-freibetrag sowie der einfache Stufentarif mit nur drei(Grenz-)Steuersätzen. Von anderer Seite werden aber ge-rade die Abschaffung bestimmter Steuervergünstigun-gen, besonders der Pendlerpauschale und der Steuerfrei-heit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- oderNachtarbeit kritisiert. Auch wird der Stufentarif im Ver-gleich zum linear-progressiven Tarif als „unsozial undungerecht“ bezeichnet.

Der Sachverständigenrat kommt bei seiner Analyse derSteuervergünstigungen (Ziffern 484 ff.) zu der Schluss-folgerung, dass zwar die Steuerfreiheit der Zuschläge fürSonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit zu streichen ist,

die Entfernungspauschale jedoch keine Steuervergünsti-gung darstellt, sondern systemgerechter Bestandteil ei-ner am Nettoprinzip ausgerichteten Einkommensbesteu-erung ist – wenngleich auch eine Kürzung der Beträgevertretbar ist. Die Frage des Tarifverlaufs kann nicht ein-deutig entschieden werden; ein linear-progressiver Tarifist jedenfalls nicht von vornherein „gerechter“ als einStufentarif.

Diese Fragen sind öffentlichkeitswirksam, stellen abernicht die eigentlich brisanten steuerlichen Probleme dar.Die Hauptprobleme des deutschen Steuerrechts liegennicht im Tarifverlauf, sie liegen in der Abgrenzung derBemessungsgrundlage, der fehlenden Entscheidungs-neutralität und der mangelhaften Abstimmung von Ein-kommens- und Unternehmensbesteuerung. Unter diesenAspekten kann das Merz-Konzept in der vorliegendenFassung nicht überzeugen. Anzumerken ist dabei, dassdie Leitsätze eine Reihe von Fragen offen lassen. Für diefolgenden Ausführungen wird die jeweils plausibelsteLösung unterstellt.

407. Das vom CDU-Bundesvorstand beschlosseneSteuerreformkonzept stellt entgegen seiner Zielsetzungweder Rechtsformneutralität noch Finanzierungsneutra-lität her. Es führt tendenziell zu einer zusätzlichen steu-erlichen Belastung von Kapitalgesellschaften und machtdamit den Standort Deutschland eher unattraktiver. Esbewirkt eine unterschiedliche steuerliche Behandlungsowohl der in den Einkünften aus unternehmerischer Tä-tigkeit aufgegangenen Einkunftsarten als auch von Zins-einkünften und Dividendeneinkünften. Damit das ge-plante körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahrenmit dem EU-Recht vereinbar ist, muss eine Anrechnungausländischer Körperschaftsteuern auf die deutsche Ein-kommensteuer zugelassen werden, was auf administra-tive Probleme stößt und das nationale Steueraufkommenschmälert. Generell werden die komplizierten Fragender internationalen Besteuerung im Merz-Konzept nichtnäher behandelt. Das vereinfacht die Präsentation desSteuerkonzepts; eine Vereinfachung des Steuersystemskann daraus aber noch nicht abgeleitet werden.

408. Für Einkünfte aus unternehmerischer Tätigkeitwird der Steuersatz auf 24 vH begrenzt, solange die Ge-werbesteuer erhoben wird. Thesaurierte Gewinne vonKapitalgesellschaften unterliegen ebenfalls einem Steu-ersatz von 24 vH. Im Hinblick auf die Selbstfinanzie-rung sind Personenunternehmen im Vorteil, falls sie ineine niedrigere Stufe des Einkommensteuertarifs fallen;wegen der hohen Grundfreibeträge auch für Kinder istdas nicht auszuschließen. Bei Anwendung des Spitzen-steuersatzes sind Personenunternehmen gegenüber Kapi-talgesellschaften im Fall der Ausschüttung im Vorteil, daDividenden über das Anrechnungsverfahren einer Ein-kommensteuerbelastung von 36 vH unterliegen. DasZiel der Rechtsformneutralität wird somit verfehlt. Un-terstellt ist dabei, dass bei Personengesellschaften amMitunternehmerkonzept festgehalten wird.

Auch das Prinzip der Finanzierungsneutralität wird ver-letzt. Bei Vernachlässigung der Gewerbesteuer werdeneinbehaltene Gewinne bei Kapitalgesellschaften mit

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24 vH besteuert; allerdings sind Gewinne aus der Veräu-ßerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften voll ein-kommensteuerpflichtig – der achte und zehnte Leitsatzlassen keine andere Schlussfolgerung zu. Dann kommtes zur Doppelbesteuerung offener Rücklagen und stillerReserven. Bei privaten Kapitalgebern liegt die Steuerbe-lastung somit unter Einschluss der Veräußerungsgewinn-besteuerung in der Spitze bei 51,36 vH (24 vH Körper-schaftsteuer und zusätzlich 36 vH auf die Ausschüttung(100 - 24)). Dabei sind Gewerbesteuer und Solidaritäts-zuschlag noch vernachlässigt. Demgegenüber werdenDividenden bei privaten Kapitalgebern mit maximal36 vH besteuert, aber nur mit 24 vH, wenn sie einkom-mensteuerpflichtigen Unternehmen oder Kapitalgesell-schaften zufließen. Auch Fremdkapitalzinsen werden beiprivaten Kapitalgebern unter Berücksichtigung der anre-chenbaren Kapitalertragsteuer in der Spitze mit 36 vHbesteuert, auf Unternehmensebene dagegen lediglich mit24 vH. Die Veräußerungsgewinnbesteuerung bewirkt zu-dem eine zusätzliche Diskriminierung von Kapitalge-sellschaften, da bei der Veräußerung von Anteilen anPersonengesellschaften offene Rücklagen nicht erfasstund nur die stillen Reserven besteuert werden, dann abervom Erwerber abgeschrieben werden können. EineGleichstellung von Personenunternehmen und Kapital-gesellschaften könnte über eine komplizierte Buchwert-fortschreibung bei den Anteilseignern erreicht werden(Ziffer 576). Zu einer Vereinfachung des Steuersystemswürde das definitiv nicht beitragen.

409. Nicht nur Kapitaleinkünfte werden unterschied-lich besteuert, je nachdem ob sie bei privaten Kapitalge-bern oder bei einkommen- oder körperschaftsteuer-pflichtigen Unternehmen anfallen, auch innerhalb derEinkünfte aus unternehmerischer Tätigkeit und zwi-schen diesen und den Einkünften aus Kapitalvermögenkommt es zu Besteuerungsunterschieden. Einkünfte ausVermietung und Verpachtung unterliegen nicht der Ge-werbesteuer – jedenfalls ist das den Leitsätzen nicht zuentnehmen. Sie werden wegen der Tarifbegrenzung desfünften Leitsatzes nur mit 24 vH besteuert, während Ge-winne von Kapitalgesellschaften und Personenunterneh-men sowie Einkünfte aus Kapitalvermögen in der Spitzehöher besteuert werden.

Kapitalgesellschaften werden in Deutschland stärker be-steuert als in anderen Ländern (Ziffern 520 ff.). Zur Ver-besserung der Standortattraktivität ist eine Senkung derTarifbelastung und der effektiven Durchschnittsteuerbe-lastungen angezeigt. Dies leisten diese Vorschläge nicht.Im Gegenteil: Kapitalgesellschaften sind eher die Verlie-rer des Steuerreformkonzepts. Zwar würde sich die Ta-rifbelastung auf Unternehmensebene zunächst durch dieReduktion des Körperschaftsteuersatzes von, im nächs-ten Jahr, 25 vH auf 24 vH reduzieren. Zu berücksichti-gen ist dann allerdings, dass nach dem zehnten LeitsatzGewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Kapital-gesellschaften bei körperschaftsteuerpflichtigen Anteils-eignern besteuert werden, soweit sie auf stille Reservenentfallen. Nach § 8b Absatz 2 KStG ist dies gegenwärtignicht der Fall. Diese Regelung ist auch systemgerecht,

vorausgesetzt an Kapitalgesellschaften ausgeschütteteDividenden bleiben steuerfrei. Alternativ könnten anKapitalgesellschaften fließende Dividenden in das An-rechnungsverfahren einbezogen werden, was aber einerSteuerfreistellung letztlich äquivalent ist. Dann läufteine Veräußerungsgewinnbesteuerung auf Kapitalgesell-schaftsebene ohnehin ins Leere (Ziffer 573 ff.). Zwarfinden sich im Merz-Konzept keine Aussagen zur Be-steuerung von Dividenden bei Kapitalgesellschaften; esmuss aber davon ausgegangen werden, dass Dividenden-zahlungen zwischen Kapitalgesellschaften steuerbefreitsind, da es sonst zu Kaskadeneffekten kommen könnte.

410. Für die Abschaffung des körperschaftsteuerli-chen Anrechnungsverfahrens wurden vor allem europa-rechtliche Gründe angeführt (JG 2001 Ziffern 550 ff.).Wenn das Anrechnungsverfahren jetzt wieder eingeführtwürde, könnte es nicht – wie früher – auf nationaleSachverhalte beschränkt werden. Die im EG-Vertragverankerten Grundfreiheiten der Kapitalverkehrsfreiheit(Artikel 56 EG-Vertrag) und der Niederlassungsfreiheit(Artikel 43 EG-Vertrag) gebieten letztlich, dass beigrenzüberschreitenden Beteiligungen eine Vollanrech-nung ausländischer Körperschaftsteuern auf die deut-sche Einkommensteuer eingeräumt wird. Dazu muss dieVorbelastung von grenzüberschreitenden Dividenden-zahlungen mit ausländischer Körperschaftsteuer bekanntsein. Angesichts der Vielfalt der ausländischen Körper-schaftsteuersysteme ist schon dies administrativ aufwän-dig festzustellen. Außerdem würde bei einseitigerAnrechnung ausländischer Körperschaftsteuern das in-ländische Steueraufkommen belastet; jede Erhöhung vonKörperschaftsteuersätzen im Ausland würde – entspre-chende Beteiligungen vorausgesetzt – zu einer Vermin-derung des inländischen Steueraufkommens führen. Ge-rade wegen dieser Probleme ist in Europa generell eineAbkehr vom körperschaftsteuerlichen Anrechnungsver-fahren zu beobachten. Bedauerlicherweise finden sichim Merz-Konzept keinerlei Ausführungen, wie mit die-ser Problematik umgegangen werden soll.

Abgesehen von den beschriebenen Schwierigkeiten isteine Reihe anderer offener Fragen zu klären, etwa derÜbergang vom gerade erst eingeführten Halbeinkünfte-verfahren zurück zu einem Anrechnungsverfahren. Umeinen erneuten Einbruch beim Körperschaftsteuerauf-kommen zu vermeiden, müsste zum Beispiel geklärtwerden, wie die einbehaltenen Gewinne steuerlich zubehandeln sind, die von Kapitalgesellschaften seit demJahr 2001 erwirtschaftet wurden.

411. Es ist zu begrüßen, dass in Deutschland eine Dis-kussion über eine Neuordnung des Steuersystems inGang gekommen ist. Eine grundlegende Steuerreformmuss aber sorgfältig durchdacht und vorbereitet werden.Zu bedenken sind insbesondere auch internationaleSachverhalte. Das Merz-Konzept steht hier noch am An-fang. Andere Steuerreformvorschläge, wie beispiels-weise der Karlsruher Entwurf, sind in den eigentlichproblematischen Teilen des Steuerrechts konsequenterund systematischer ausgearbeitet (Ziffern 602 ff.).

Wirtschaftspolitik im ersten Jahr der 15. Legislaturperiode

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II. Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert

412. In Deutschland und in Frankreich hat in diesemJahr das Haushaltsdefizit zum zweiten Mal in Folge die3-vH-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts über-schritten; Portugal und Italien konnten einen Konfliktmit der Stabilitätsnorm wieder nur durch Einzelmaßnah-men knapp vermeiden. Wegen des hohen Gewichts dergroßen Länder lag auch das Haushaltsdefizit des Euro-Raums insgesamt (erstmals seit Existenz der Währungs-union) nahe an der 3-vH-Grenze. Von Haushaltsdisziplinund nachhaltiger Konsolidierung sind weite Teile desEuro-Raums somit weiter entfernt als zu Beginn derWährungsunion. Verschärfend kommt hinzu, dass in denlaufenden Defizitverfahren Frankreich für das Jahr 2003den Empfehlungen des ECOFIN-Rats nach Artikel 104Absatz 7 EG-Vertrag bisher nicht gefolgt ist. In Reaktiondarauf empfahl die Europäische Kommission dem Rat,das Defizitverfahren gegen Frankreich voranzutreiben,gewährte Frankreich jedoch einen Aufschub bei derRückführung der Defizite unter die 3-vH-Grenze biszum Jahr 2005. In seiner Sitzung am 4. November 2003konnte sich der ECOFIN-Rat nicht dazu durchringen,dieser Empfehlung zu folgen. Stattdessen vertagte er dieEntscheidung und hat damit die Glaubwürdigkeit desPakts bis über die Grenzen hinaus strapaziert. Ob es beider nächsten Sitzung am 25. November 2003 zu einerEntschließung kommt, ist ungewiss, da gleichzeitig Ver-fahren gegen weitere (stimmgewichtige) „Sünder“ lau-

fen. Sollte sich die Befürchtung bewahrheiten, dass beifortgesetzten Verstößen gegen Vorgaben des Pakts „Sün-der“ andere „Sünder“ nicht sanktionieren, wäre der Paktin seinen Grundfesten zerrüttet und somit faktisch tot.

Dies wäre fatal, denn der Pakt ist ein sinnvolles Regel-werk und muss nur entsprechend angewandt werden.Die gegenwärtige Situation ist nicht dadurch gekenn-zeichnet, dass dieses Regelwerk in Gefahr ist, verabsolu-tiert zu werden, es ist vor allem durch eine äußerst ex-tensive Auslegung der eingebauten Flexibilität in einerGlaubwürdigkeitskrise. Nicht der Pakt ist das Problem,sondern die Tatsache, dass insbesondere die großen Län-der der Währungsunion in guten Zeiten nicht ausrei-chend konsolidiert haben und daher in der derzeitigenStagnationsphase in Konflikt mit der Defizitgrenze gera-ten sind.

Die Europäische Kommission hat sich für eine flexibleHandhabung des Stabilitäts- und Wachstumspakts ent-schieden und einer forcierten mittelfristigen Konsolidie-rung Vorrang vor einer strengeren kurzfristigen Anwen-dung des Regelwerks eingeräumt. Der ECOFIN-Ratscheint über diese flexible Anwendung des Pakts nochhinausgehen zu wollen. Eine strikte Auslegung würdeschon Ende 2004 die Verhängung von Sanktionen erfor-dern, es sei denn, die von der Europäischen Kommissionfür das Jahr 2004 projizierten Defizite in Höhe von3,8 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandsproduktin Frankreich und 3,9 vH in Deutschland würden unterdie 3-vH-Grenze geführt. Dies ist unrealistisch. AlsKonsequenz müssten dann die Regeln wie vorgesehenangewandt werden. Anders als häufig behauptet, erfor-dert dies nicht zwingend ein prozyklisches Verhalten derFinanzpolitik. Entscheidet sich ein Land, das Wirken derautomatischen Stabilisatoren nicht abzuschneiden odergar zusätzliche expansive diskretionäre Maßnahmen ein-zuleiten, so legt der Pakt diesem Land bei Überschreitender Defizitgrenze fiskalische Kosten dieses nicht ver-tragskonformen Verhaltens in Gestalt von Sanktionenauf. Als Sanktion ist in der Regel zunächst eine unver-zinsliche Bareinlage vorgesehen. Diese wäre in denkonkreten Fällen vermutlich nicht vor Ende 2004 zu hin-terlegen und würde in den Jahren 2005 und 2006 ver-gleichsweise geringe finanzielle Belastungen nach sichziehen, da nur etwaige Zinszahlungen für die Finanzie-rung der Bareinlage als Kosten anfallen. Teuer würdeder Verstoß gegen den Pakt erst, wenn Ende 2006 dieBareinlage in ein Bußgeld umgewandelt würde.

Angesichts der lebhaften öffentlichen Kritik am Pakt undangesichts der zahlreichen Vorschläge zu seiner Modifi-kation ist es geboten, sich ausführlich mit seinen Zielen,Regeln und Sanktionsmechanismen sowie etwaigen Al-ternativen auseinanderzusetzen. In der Diskussion ummehr oder minder weitreichende Modifikationen des Sta-bilitäts- und Wachstumspakts scheinen dem Erfindungs-reichtum kaum Grenzen gesetzt zu sein (Kasten 12, Sei-ten 268 f.). Der Sachverständigenrat will sich an diesemWettstreit konkurrierender Ideen nicht beteiligen, dennmit jedem dieser Vorschläge sind neben vermeintlichattraktiven Eigenschaften auch gravierende praktische

Das Wichtigste in Kürze

(1) Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist ein sinn-volles und notwendiges Regelwerk. Er soll dieTragfähigkeit der nationalen Finanzpolitiken imEuro-Raum sicherstellen und möglichen Konflik-ten zwischen der einheitlichen Geldpolitik undden nationalen Finanzpolitiken vorbeugen.

(2) Die Europäische Kommission wird derzeit ihrerRolle als Hüterin des Pakts nicht gerecht. Sie sollteden Pakt konsequent anwenden und Verstöße ge-gen den Pakt entschlossener entgegentreten.

(3) Mehr noch als die Europäische Kommission trägtgegenwärtig der ECOFIN-Rat zur Demontage desPakts bei. Er hat die Entscheidung über weitereSchritte im Defizitverfahren gegen Frankreich mitungewissem Ausgang vertagt. Werden fortgesetztVerstöße gegen die Vorgaben des Pakts nicht sank-tioniert, ist der Pakt faktisch tot.

(4) Als Konsequenz der wiederholten und andauern-den Verstöße gegen die Haushaltsregeln des Paktsmüssen in Deutschland umgehend entschlosseneKonsolidierungsmaßnahmen eingeleitet werden.Andernfalls sind mögliche Sanktionen – zunächstdie Hinterlegung einer zinslosen Bareinlage – zuakzeptieren.

Öffentliche Haushalte sanieren

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Probleme verbunden, so dass eine Abkehr vom Pakt inseiner jetzigen Form als nicht sinnvoll erscheint.

Ausgestaltung und Begründung des Stabilitäts- und Wachstumspakts

Regelungen und Verfahren

413. Artikel 104 EG-Vertrag und der ihn präzisierendeStabilitäts- und Wachstumspakt regeln die Haushaltsü-berwachung der Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion sowie das Verfahren, das bei einem übermäßigenöffentlichen Defizit in einem Mitgliedsland anzuwendenist. Nach Artikel 104 Absatz 1 EG-Vertrag sind die Mit-gliedstaaten der Europäischen Währungsunion ver-pflichtet, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden.Gemäß Stabilitäts- und Wachstumspakt soll in einer kon-junkturellen Normallage der öffentliche Haushalt mittel-fristig ausgeglichen sein oder einen Überschuss aufwei-sen. In Ausnahmefällen – wie Naturkatastrophen – oderin schweren Rezessionen, bei denen das Bruttoinlands-produkt innerhalb eines Jahres um mehr als 2 vH sinkt,sind Abweichungen von dieser Regel vorgesehen, und eskann eine Defizitquote von über 3 vH in Kauf genom-men werden. Jedoch kann auch schon bei einem Rück-gang des Bruttoinlandsprodukts zwischen 0,75 vH und2 vH ein Ausnahmetatbestand gegeben sein, wenn Hin-weise auf eine schwere Rezession bestehen und dasBruttoinlandsprodukt abrupt zurückgegangen ist; bei ei-nem Sinken des Bruttoinlandsprodukts um weniger als0,75 vH soll eine Überschreitung der Obergrenze „in derRegel“ als übermäßiges Defizit gelten. Die Entschei-dung darüber obliegt dem ECOFIN-Rat.

414. Um die Einhaltung dieser Bestimmungen zu ge-währleisten, wurde im Stabilitäts- und Wachstumspaktein multilaterales Haushaltsüberwachungsverfahren ver-ankert. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt umfasstzwei Verordnungen und eine Entschließung. Die Verord-nung (EG) Nr. 1466/97 vom 7. Juli 1997 regelt die haus-haltspolitische Überwachung und die Überwachung undKoordination der Wirtschaftpolitiken innerhalb der Eu-ropäischen Union, die Verordnung (EG) Nr. 1467/97vom 7. Juli 1997 das Verfahren im Falle eines übermäßi-gen Defizits in einem Mitgliedsland. Die Entschließungdes Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachs-tumspakt vom 17. Juni 1997 verpflichtet die Mitglied-staaten, mittelfristig einen ausgeglichenen oder einenüberschüssigen Haushalt aufzuweisen. Als Entschlie-ßung hat diese Verpflichtung allerdings lediglich denCharakter einer politischen Willenserklärung; sie istrechtlich unverbindlich und kann nicht eingeklagt wer-den.

Im Rahmen der Haushaltsüberwachung muss jeder Mit-gliedstaat der Währungsunion ein jährlich zu aktualisie-rendes Stabilitätsprogramm mit den kurz- und mittelfris-tigen Zielen für die Haushaltslage und die öffentlicheVerschuldung vorlegen, das von der Europäischen Kom-mission und vom Rat der Wirtschafts- und Finanzminis-ter geprüft und dessen Einhaltung überwacht wird. DieProgramme enthalten auch die zugrunde liegenden ma-kroökonomischen Annahmen und die geplanten finanz-

politischen Maßnahmen zur Erreichung der Ziele. Zu-dem müssen die Länder der Europäischen Kommissionzweimal jährlich ihre Haushaltsergebnisse und Projekti-onen melden. Steuert das Defizit auf die 3-vH-Ober-grenze zu und ist es zweifelhaft, ob sich die im Stabili-tätsprogramm genannten Ziele erreichen lassen, so istdie Europäische Kommission auf der Grundlage derVerordnung (EG) Nr. 1466/97 des Stabilitäts- undWachstumspakts über den Ausbau der haushaltspoliti-schen Überwachung verpflichtet, dem ECOFIN-Rat zuempfehlen, eine frühzeitige Warnung gegenüber demLand auszusprechen, verbunden mit einer Empfehlungnotwendiger Anpassungsmaßnahmen. Wird die 3-vH-Obergrenze durchbrochen, wird ein Verfahren wegenübermäßigen Haushaltsdefizits eröffnet.

Ist das Defizitverfahren gegen ein Mitgliedsland einge-leitet, prüft die Kommission die geplanten Maßnahmenzur Haushaltskonsolidierung und Wachstumsförderungund bewertet die Haushaltslage des betroffenen Landesim Rahmen der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung.Ihre Analyse geht dann an den Wirtschafts- und Finanz-ausschuss der Europäischen Union, der innerhalb vonzwei Wochen seine Stellungnahme abgeben muss. BeideGremien stellen ihre Berichte dem Ministerrat vor. Die-ser muss innerhalb von drei Monaten mit qualifizierterMehrheit entscheiden, ob es sich bei der Haushaltslagedes betroffenen Landes um ein „übermäßiges Haushalts-defizit“ handelt. Wird dies festgestellt, so gibt der Minis-terrat Empfehlungen über vorzunehmende Maßnahmenan das betroffene Mitgliedsland ab. Diese sind binnenvier Monaten einzuleiten. Bei fortdauerndem mangeln-den Konsolidierungserfolg sind im Rahmen eines mehr-stufigen und zeitlich gestaffelten Verfahrens konkreteSanktionen vorgesehen. Im ersten Jahr der Verhängungvon Sanktionen ist eine unverzinsliche Einlage zu hinter-legen, die sich aus einer fixen Komponente in Höhe von0,2 vH in Relation zum nominalen Bruttoinlandsproduktund einer variablen Komponente, die 10 vH der Summebeträgt, um die das Defizit die 3-vH-Grenze übersteigt.Insgesamt gilt jedoch für die Summe der beiden Kompo-nenten ein Betrag, der die Obergrenze von 0,5 vH in Re-lation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht über-steigen darf. In jedem folgenden Jahr wird dannzusätzlich nur die variable Komponente angewendet.Die Umwandlung in ein Bußgeld erfolgt, wenn ein Landinnerhalb von zwei Jahren sein Defizit nicht merklichgesenkt oder keine deutlichen Anstrengungen zur Verrin-gerung unternommen hat (Schaubild 62, Seite 258).

Gründe für den Pakt

415. Ein zentrales Ziel des Stabilitäts- und Wachstum-spakts ist es, zur Sicherung der Nachhaltigkeit derStaatsfinanzen beizutragen. Artikel 121 EG-Vertrag ver-pflichtet die Mitglieder der Europäischen Währungs-union zu einer „auf Dauer tragbare[n] Finanzlage der öf-fentlichen Hand, ersichtlich aus einer öffentlichenHaushaltslage ohne übermäßiges Defizit“. Dieser Ver-pflichtung liegt die Prämisse zugrunde, dass eine ge-sunde Finanzlage erforderlich sei, um „die Preisstabilitätzu fördern und die Bedingungen für anhaltendes Wachs-tum von Produktion und Beschäftigung zu verbessern“

Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert

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S c h a u b i l d 62

ECOFIN-Rat:In-Verzug-Setzen des Mitgliedstaats unter Vorgabe vonSanierungsmaßnahmen )(Artikel 104 Absatz 9

- Berichterstattungspflicht des Mitgliedstaats zur Überprüfungder Anpassungsbemühungen möglich

ECOFIN-Rat:Möglichkeiten zu Sanktionen (Artikel 104 Absatz 11), in der Regel

- Hinterlegung unverzinslichen Einlageeiner

Weitere UntätigkeitFrist: 1 Monat

5. Stufe

Land kommt den Empfehlungen nach

Verfahren ruht

6. Stufe

Vorgaben nicht befolgtFrist: 2 Monate seit In-Verzug-Setzen

Das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit nach Artikel 104 EG-Vertrag

Verfahren ruht

2

2 Jahre nach Hinterlegung dieser Einlage

7. Stufe Rückzahlung derEinlage

ECOFIN-Rat:Umwandlung der unverzinslichen Einlage in eine Geldbuße

SR 2003 - 12 - 0662

Europäische Kommission:Überwachung der Haushaltsdisziplin

(Artikel 104 Absatz 2)

Europäische Kommission:Bericht (bei Überschreiten zwingend; bei

Gefahr fakultativ) an den ECOFIN-Rat(Artikel 104 Absatz 3)

ECOFIN-Rat:Entscheidung (auf Empfehlung der Kommission),ob ein übermäßiges Defizit vorliegt(Artikel 104 Absatz 6)- nach Anhörung des betreffenden

Mitgliedstaats- nach Prüfung der wirtschaftlichen Gesamtlage- mit qualifizierter Mehrheit (der betreffende

Mitgliedstaat ist stimmberechtigt)Frist: 3 Monate nach Meldetermin

ECOFIN-Rat:Empfehlungen zur Rückführung des Defizits (Artikel 104 Absatz 7)und Fristsetzung von 4 Monaten für das Ergreifen wirksamerMaßnahmen

ECOFIN-Rat:Feststellung, dass keine wirksamen Maßnahmen ergriffen wurden- Möglichkeit zur Veröffentlichung der Empfehlungen

(Artikel 104 Absatz 8)

Kein übermäßiges Defizit:Defizitquote < 3 vH oderDefizitquote vorübergehend > 3 vHaufgrund eines außergewöhnlichenEreignisses oder starken Wirtschafts-abschwungs (jährlicher Rückgang desrealen BIP um > 2 vH)

1. Stufe

2. Stufe

Kein Verfahren

Ste

llung

nahm

eÜbermäßiges Defizit Kein übermäßiges Defizit

Kein Verfahren3. Stufe

Defizit besteht weiter

4. Stufe

Im Jahr nach der Feststellung des übermäßigen Defizits

Übermäßiges Defizit korrigiert

Feststellung

Verfahren beendet

2 2

Übermäßiges Defizit:- Defizitquote > 3 vH- Schuldenstandsquote > 60 vH

Stellungnahme des Wirtschafts- undFinanzausschusses (Artikel 104 Absatz 4)Frist: 2 Wochen

1 1

1 Auf Empfehlung der Europäischen Kommission und mit 2/3 Mehrheit der Stimmen (betreffender Mitgliedstaat ist nicht stimmberechtigt).

Auf Empfehlung der Europäischen Kommission und mit 2/3 Mehrheit der Stimmen (stimmberechtigt sind die Teilnehmer der 3. Stufe der WWU mit Ausnahme desvom Verfahren betroffenen Mitgliedstaats).

Übermäßiges Defizit korrigiertReferenzwert weiterhin überschritten

Vorgaben befolgt

Öffentliche Haushalte sanieren

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(Verordnung (EG) Nr. 1466/97). Die Nachhaltigkeit deröffentlichen Finanzen ist im Vertrag von Maastricht kon-kretisiert durch eine Schuldenstandsquote von 60 vH inRelation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt; dieseQuote entsprach dem EU-Durchschnitt im Jahr 1991.Nach Artikel 104 Absatz 2 EG-Vertrag darf die gesamt-staatliche Schuldenstandsquote nur dann über dem Refe-renzwert von 60 vH liegen, wenn sie hinreichend rück-läufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert.Wird ein jährlicher nominaler Zuwachs desBruttoinlandsprodukts von 5 vH unterstellt, so ist eineSchuldenstandsquote von 60 vH mit einer Defizitquotevon 3 vH kompatibel. Eine geringere Zuwachsrate desBruttoinlandsprodukts erfordert zur Sicherung einerkonstanten Schuldenstandsquote eine niedrigere Defizit-quote. Im Stabilitäts- und Wachstumspakt ist das Krite-rium der dauerhaften Tragfähigkeit der öffentlichen Fi-nanzen nicht explizit quantitativ enthalten, sondern nurimplizit an dem 3-vH-Defizitkriterium festgemacht. DerStabilitäts- und Wachstumspakt fordert lediglich eine ge-ringe Koordinierung der Fiskalpolitiken der Mitglieds-länder durch die Einhaltung der 3-vH-Obergrenze unddurch den Prozess der multilateralen Haushaltsüberwa-chung. Er verzichtet auf weitergehende Festlegungenüber Höhe oder Zusammensetzung der Staatsausgabenoder Staatseinnahmen, über die Qualität der Altschul-den, über das Primärdefizit, über den Schuldendienstoder die Höhe der impliziten Verschuldung und ihresBeitrags zur Tragfähigkeitslücke. Aus der Forderungnach Tragfähigkeit der Staatsfinanzen ist allerdings perse keine zwingende europäische Normsetzung abzulei-ten. Es gibt jedoch eine Reihe von Gründen, die eineneuropäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt nahe legt.

416. Vertrauens- und Selbstverpflichtungseffekte beimÜbergang in die Währungsunion waren ein weitereswichtiges Argument für den Pakt. Die wirtschaftspoliti-schen Akteure sahen sich mit der Schaffung einer neuenWährung und einer neu gegründeten Zentralbank einemVertrauensproblem ausgesetzt. Es musste der Öffentlich-keit und den Finanzmärkten glaubwürdig vermittelt wer-den, dass die finanzpolitischen Konsolidierungsanstren-gungen im Vorfeld der dritten Stufe der EuropäischenWährungsunion von Dauer sein würden. Ohne Regelnzur Sicherung einer soliden Finanzpolitik fällt es aucheiner unabhängigen Notenbank schwer, geringe Inflati-onsraten und eine stabile Währung zu gewährleisten.Der Pakt diente dazu, die Besorgnis vor einer instabilenWährung dadurch abzumildern, dass der Verpflichtungder Notenbank zur Wahrung der Preisniveaustabilitäteine Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten der Wäh-rungsunion auf eine solide Finanzpolitik an die Seite ge-stellt und institutionell auf der Gemeinschaftsebene ver-ankert wurde. Vor dem Hintergrund der bevorstehendenErweiterung der Europäischen Union haben diese Argu-mente nichts an Aktualität verloren.

417. Eine wichtige ökonomische Begründung für dieNotwendigkeit eines Pakts auf europäischer Ebene be-steht in der Vermeidung externer Effekte. Diese könnenals Zinsexternalitäten in einer Währungsunion daraus re-sultieren, dass die einzelnen Mitgliedsländer die Kosten

ihrer durch Schuldenexpansion bedingten höheren Kre-ditrisiken nicht selbst in vollem Umfang tragen müssen,sondern in Form eines Anstiegs der Zinsen für den ge-samten Euro-Raum auf die anderen Mitgliedsländer teil-weise überwälzen. Der Wegfall von Währungsrisiken re-duziert im Vergleich zu einem Regime nationalerWährungen den Anreiz, übermäßige Defizite zu vermei-den, da im Euro-Raum nur Bonitäts- und Liquiditätsrisi-ken einen Risikozuschlag auf den Zinssatz rechtfertigen.Inwieweit sich diese Zuschläge auf die nationale Ebenebeschränken oder sich in höheren langfristigen Zinsenfür den Euro-Raum insgesamt widerspiegeln, hängt vonder Glaubwürdigkeit eines Haftungsausschlusses ab.Artikel 103 EG-Vertrag sieht vor, dass für die Verbind-lichkeiten einer Körperschaft innerhalb der Europäi-schen Union weder die Europäische Union noch die Mit-gliedstaaten haften. Ist dies nicht glaubwürdig, könnendie Finanzmärkte den einzelnen Ländern keine unter-schiedlichen Bonitätsrisiken zuordnen, und es würdeaufgrund der übermäßigen Defizite einzelner Länder dasZinsniveau im Euro-Raum insgesamt steigen.

418. Schließlich soll der Pakt vermeiden, dass es inner-halb der Währungsunion zu einem Spannungsverhältniszwischen nationalen Kompetenzen in der Finanzpolitikund der gemeinsamen europäischen Geldpolitik kommt.Durch den Abbau von Staatsdefiziten und die Eindäm-mung der Schuldendynamik schützt der Pakt die Europä-ische Zentralbank davor, dass die Finanzpolitik zur Min-derung schuldenbedingter Zinsbelastung bei derGeldpolitik Zinssenkungen einfordert. Damit ergänzt derPakt den Vertrag von Maastricht, der den direkten An-kauf von Staatsschuldpapieren durch die EuropäischeZentralbank ausschließt und in Artikel 108 der Europäi-schen Zentralbank in hohem Maße eine formale Unab-hängigkeit zur Wahrung der Geldwertstabilität zubilligt.Eine unmittelbare Einflussnahme eines Landes auf diegeldpolitischen Entscheidungen der Europäischen Zen-tralbank erscheint wegen ihrer Unabhängigkeit somitunwahrscheinlich. Die Erfahrungen der letzten Jahre zei-gen, dass sich die Europäische Zentralbank Versuchenpolitischer Einflussnahme durchaus zu entziehen ver-mag. Dies schließt jedoch nicht aus, dass solche Pro-bleme in der Zukunft an Relevanz gewinnen könnten;der Stabilitäts- und Wachstumspakt sichert die Europäi-sche Zentralbank vor solchen Eventualitäten. Ein zwei-tes mögliches Problem ergibt sich aus der Glaubwürdig-keit des Haftungsausschlusses. Die Aussicht auf eineMonetisierung der Staatsschuld erhöht das moralischeRisiko beim souveränen Schuldner und steigert die Ge-fahr einer unsoliden nationalen Finanzpolitik. Der Paktsoll dem vorbeugen, indem er durch die Sicherstellungeiner soliden nationalen Finanzpolitik eine stabilitätsori-entierte europäische Geldpolitik erleichtert.

419. Die Notwendigkeit von gemeinsamen finanzpoli-tischen Regeln in der Währungsunion wird von Gegnernund Befürwortern des Stabilitäts- und Wachstumspaktsanerkannt. Es stellt sich jedoch die Frage, wie diese ge-meinsamen Regeln zielführend institutionell zu veran-kern sind. Dabei ist festzuhalten, dass die Tragfähigkeitstaatlicher Finanzen für sich genommen auch durch nati-

Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert

259

Page 286: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

onale Regelwerke garantierbar erscheint. Die Vermei-dung von Konflikten mit der Europäischen Zentralbankund die Internalisierung europaweiter externer Zinsef-fekte legen jedoch einen europäischen Pakt als Lösungnahe. Schließlich fördern der Gruppenzwang im Minis-terrat und die Überwachung der Haushaltsplanung durchdie Europäische Kommission die Anreize zur Stärkungder Haushaltsdisziplin mehr, als nationale Regelwerkedies tun würden. Zudem sind Sanktionen bei wiederhol-tem Verstoß gegen die Haushaltsdisziplin nur sinnvollund glaubwürdig auf europäischer Ebene organisierbar.

Anders als nationale Vorschriften wird der Stabilitäts-und Wachstumspakt in der Öffentlichkeit der betroffenenLänder häufig als externe Einmischung in die Finanz-angelegenheiten souveräner Staaten kritisiert. Die ge-genteilige Sicht ist aber angebracht: Der Pakt schützt fi-nanzpolitisch verantwortungsvoll handelnde Staaten unddie Europäische Zentralbank vor den Folgen einer un-verantwortlichen Haushaltspolitik in Teilen des Euro-Raums. Er verhindert negative externe Effekte. Dieseswichtige Ziel des Pakts wird in der öffentlichen Debattenicht ausreichend gewürdigt. Auch ist anzumerken, dassHaushaltskonsolidierung unabhängig von der Existenzdes Stabilitäts- und Wachstumspakts im Eigeninteresseder Länder geboten ist. In der Europäischen Währungs-union bestehen infolge der demographischen Entwick-lung in vielen Ländern erhebliche Tragfähigkeitslücken,nicht zuletzt wegen der zu erwartenden hohen Belastun-gen zukünftiger Generationen durch die umlagefinan-zierten Systeme der Sozialen Sicherung. Eine fortge-setzte Verschuldungspolitik verschärft diese Probleme.Schließlich sei darauf hingewiesen, dass solide öffentli-che Finanzen und ein hohes Wirtschaftswachstum keineGegensätze sind. Vielmehr ist die zutreffende Philoso-phie des Stabilitäts- und Wachstumspakts, dass mittel-bis langfristig solide öffentliche Finanzen die Vorausset-zung für einen höheren Wachstumspfad schaffen.

Hat der Pakt versagt?

420. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat insbeson-dere in den großen Mitgliedsländern des Euro-Raumskeine dauerhafte Haushaltsdisziplin erzwungen und dieTragfähigkeit der Staatsfinanzen nicht deutlich verbes-sert. In den kleineren Mitgliedstaaten der Währungs-union hat der Pakt dagegen deutlich stärkere Disziplinie-rungseffekte entfaltet und damit dort am besten gewirkt,wo die geringsten externen Effekte auf Zinssätze oderInflationsraten zu erwarten sind. Einen ausgeglichenenHaushalt oder geringe Defizite wiesen im Jahr 2003Spanien (0,0 vH), Luxemburg (0,4 vH), Belgien(0,1 vH) und Irland (1,0 vH) auf, im europäischen Mit-telfeld lagen Griechenland (1,7 vH), Österreich (1,2 vH)und die Niederlande (2,4 vH); Finnland erzielte dagegenauch in diesem Jahr einen Haushaltsüberschuss von2,5 vH in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (Tabel-le 50). Vor Beginn der Währungsunion war die Haus-haltslage in diesen Mitgliedstaaten erheblich schlechter,und in einigen Ländern betrug das gesamtstaatliche De-fizit mehr als das Doppelte des Referenzwerts. Die Aus-

gangslage im Jahr 1995 verdeutlicht den massiven Haus-haltskonsolidierungsbedarf, der in einigen Ländern derWährungsunion durch die Konvergenzkriterien desMaastricht-Vertrages vorgegeben wurde. Zu Beginn derWährungsunion hatten außer Portugal und Österreichalle damaligen Mitgliedsländer des Euro-Raums ihrHaushaltsdefizit auf unter 2 vH zurückgefahren. DieAusgangslage für eine weitere Konsolidierung war zuBeginn der Währungsunion gut.

421. Die mangelnde Konsolidierung in den großenMitgliedstaaten der Währungsunion kann auch anhandeines Konvergenzdiagramms graphisch verdeutlichtwerden. Wählt man das Jahr 1995, in dem alle potentiel-len Mitgliedsländer der Währungsunion auf die Einhal-tung der 3-vH-Obergrenze verpflichtet wurden, als Aus-gangspunkt, so ergibt sich eine negative Beziehungzwischen Ausgangslage und Konsolidierungsbedarf:Diejenigen Länder, die die höchsten Defizite in der Aus-gangslage hatten, mussten am meisten konsolidieren, umdie 3-vH-Grenze zu erreichen. Dieser Zusammenhangimpliziert eine inverse Beziehung zwischen Defizitver-änderung und Ausgangsdefizit. Dies findet auch empiri-sche Bestätigung: Für den Zeitraum der Jahre 1995bis 2002 kann unter den Mitgliedsländern der Wäh-rungsunion eine signifikante Defizitkonvergenz festge-stellt werden (Schaubild 63). Die Position der einzelnen

S c h a u b i l d 63

-2

2

4

6

8

10

0

Ver

änd

erun

gd

erQ

uote

2002

zu19

95

-12 -10 -8 -6 -4 -2 2 40

Quote 1995 (vH)2)

Konvergenz der Finanzierungssalden des Staates1)

im Zeitraum 1995 bis 2002

EU-15

Euro-Raum

Deutschland

Luxemburg

Irland

Griechenland

Schweden

Finnland

Spanien

Italien

VereinigtesKönigreich

Österreich

Dänemark

Belgien

NiederlandeFrankreich

Portugal

y = 1,023 - 0,6994xR = 0,4952

1) In Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH.– 2) Defizit (-),Überschuss (+).

Quelle: EU

Prozentpunkte

SR 2003 - 12 - 0667

Öffentliche Haushalte sanieren

260

Page 287: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Länder ist dabei durch jeweils unterschiedliche Kombi-nationen von Ausgangsdefizit und Defizitveränderungnach sieben Jahren gekennzeichnet. Die im Länderver-gleich durch die Ausgangssituation erklärte Konsolidie-rung wird durch die Regressionsgerade beschrieben.Alle großen Länder liegen systematisch unter der Gera-den der im Ländervergleich durchschnittlichen Konsoli-

dierung. Auffallend ist, dass Deutschland trotz seiner imLändervergleich günstigen Ausgangslage weit hinter denKonsolidierungserfolgen aller anderen Mitgliedstaatender Währungsunion zurückblieb.

422. Die unterschiedliche Dynamik in den Defizit-quoten der kleinen und der großen Mitgliedstaaten der

Ta b e l l e 50

Finanzierungsdefizit (-) / -überschuss (+)1)

1995 1996 1997 1998 1999 20002) 2001 2002 2003

Belgien ............................. - 4,3 - 3,8 - 2,0 - 0,7 - 0,4 + 0,2 + 0,6 + 0,1 - 0,1 Deutschland ..................... - 3,5 - 3,4 - 2,7 - 2,2 - 1,5 + 1,3 - 2,8 - 3,5 - 4,1 Finnland ........................... - 3,9 - 2,9 - 1,3 + 1,6 + 2,2 + 7,1 + 5,2 + 4,2 + 2,5 Frankreich ........................ - 5,5 - 4,1 - 3,0 - 2,7 - 1,8 - 1,4 - 1,5 - 3,1 - 4,1 Griechenland .................... -10,2 - 7,4 - 4,0 - 2,5 - 1,8 - 1,9 - 1,5 - 1,2 - 1,7 Irland ................................ - 2,1 - 0,1 + 1,1 + 2,4 + 2,4 + 4,4 + 0,9 - 0,2 - 1,0 Italien ............................... - 7,6 - 7,1 - 2,7 - 3,1 - 1,7 - 0,6 - 2,6 - 2,3 - 2,7 Luxemburg ....................... + 2,1 + 1,9 + 3,2 + 3,2 + 3,5 + 6,4 + 6,2 + 2,4 - 0,4 Niederlande ...................... - 4,2 - 1,8 - 1,1 - 0,8 + 0,7 + 2,2 + 0,0 - 1,6 - 2,4 Österreich ......................... - 5,2 - 3,8 - 1,9 - 2,4 - 2,3 - 1,5 + 0,3 - 0,2 - 1,2 Portugal ............................ - 5,5 - 4,8 - 3,6 - 3,2 - 2,8 - 2,8 - 4,2 - 2,7 - 3,0 Spanien ............................ - 6,6 - 5,0 - 3,2 - 3,0 - 1,2 - 0,8 - 0,3 + 0,1 + 0,0 Euro-Raum4) .................... - 5,1 - 4,3 - 2,6 - 2,3 - 1,3 + 0,2 - 1,6 - 2,2 - 2,9

Dänemark ......................... - 2,3 - 1,0 + 0,4 + 1,1 + 3,3 + 2,6 + 3,1 + 1,9 + 1,2 Schweden ......................... - 7,4 - 2,9 - 1,7 + 2,3 + 1,5 + 3,4 + 4,5 + 1,3 + 0,2 Vereinigtes Königreich .... - 5,8 - 4,2 - 2,2 + 0,1 + 1,1 + 3,9 + 0,7 - 1,5 - 2,9

EU-15 ................................ - 5,2 - 4,2 - 2,5 - 1,7 - 0,7 + 1,0 - 0,9 - 1,9 - 2,7

Belgien ............................. - 3,9 - 2,8 - 1,8 - 0,7 - 1,1 - 1,3 - 0,4 + 0,0 + 0,8 Deutschland ..................... - 3,7 - 3,2 - 2,3 - 2,0 - 1,5 - 1,9 - 3,3 - 3,4 - 3,5 Finnland ........................... - 1,7 - 1,9 - 2,2 - 0,2 + 0,6 + 4,5 + 4,2 + 3,8 + 2,8 Frankreich ........................ - 5,1 - 3,5 - 2,5 - 2,7 - 2,3 - 2,4 - 2,5 - 3,7 - 3,9 Griechenland .................... - 8,9 - 6,3 - 3,2 - 1,9 - 1,4 - 1,9 - 2,2 - 1,5 - 2,2 Irland ................................ - 1,0 + 0,6 + 0,8 + 1,9 + 1,0 + 2,4 - 0,7 - 1,9 - 1,0 Italien ............................... - 7,7 - 7,0 - 2,8 - 3,2 - 1,9 - 2,5 - 3,2 - 2,3 - 2,1 Luxemburg ....................... + 4,4 + 5,3 + 4,6 + 3,5 + 2,1 + 2,4 + 3,7 + 1,3 - 0,5 Niederlande ...................... - 3,5 - 1,4 - 1,3 - 2,0 - 1,3 - 1,0 - 1,7 - 2,1 - 1,3 Österreich ......................... - 5,0 - 3,6 - 1,4 - 2,4 - 2,5 - 2,4 + 0,1 - 0,2 - 0,7 Portugal ............................ - 4,7 - 4,3 - 3,5 - 3,6 - 3,5 - 4,2 - 4,9 - 2,7 - 2,0 Spanien ............................ - 5,9 - 4,0 - 2,6 - 2,9 - 1,5 - 1,6 - 0,9 - 0,2 + 0,1 Euro-Raum4) .................... - 4,9 - 3,9 - 2,3 - 2,3 - 1,7 - 1,9 - 2,3 - 2,4 - 2,3

Dänemark ......................... - 2,2 - 1,2 - 0,3 + 0,4 + 2,2 + 1,1 + 2,0 + 1,1 + 1,0 Schweden ......................... - 7,2 - 2,1 - 1,0 + 2,4 + 0,4 + 1,4 + 3,5 + 0,8 + 0,4 Vereinigtes Königreich .... - 5,7 - 4,2 - 2,5 - 0,3 + 0,8 + 0,8 + 0,4 - 1,4 - 2,4

EU-15 ................................ - 5,0 - 3,8 - 2,3 - 1,8 - 1,1 - 1,2 - 1,6 - 2,1 - 2,2

1) In Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt in vH. - 2) Für das Jahr 2000 einschließlich UMTS-Erlöse. - 3) Werte für das Jahr 2003eigene Schätzung. - 4) Ab 1999 mit Griechenland. - 5) Berechnungen der Europäischen Kommission. Zu den Einzelheiten der methodischenVorgehensweise siehe Europäische Kommission (2003) Cyclical Adjustment of Budget Balances, ECFIN/158/2003.

Quelle: EU

Konjunkturbereinigt5)

Finanzierungssalden des Staates in den Ländern der Europäischen Union

Unbereinigt3)

Land/Ländergruppe

Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert

261

Page 288: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Währungsunion reflektiert nur zum Teil eine unter-schiedliche realwirtschaftliche Dynamik dieser Länder.Es trifft zu, dass die aufholenden peripheren Volkswirt-schaften des Euro-Raums sich ausgesprochen dynamischentwickelten und in den großen Ländern die Wirtschafts-dynamik nur unterdurchschnittlich bis mittelmäßig war.Jedoch haben die meisten kleinen Länder die günstigekonjunkturelle Entwicklung der Jahre 1999 und 2000stärker als die großen Länder genutzt, um ihre konjunk-turbereinigten Haushaltssalden zu konsolidieren. In denmeisten kleinen Ländern des Euro-Raums sanken diekonjunkturbereinigten Defizite. Dagegen stieg inDeutschland das konjunkturbereinigte Defizit in derWährungsunion kontinuierlich an: Es betrug 1,9 vH imJahr 2000 und stieg auf 3,3 vH im Jahr 2001 sowie3,4 vH im Jahr 2002. Auch in Frankreich bestand daskonjunkturbereinigte Defizit in den Jahren 1999bis 2001 mit 2,3 vH bis 2,5 vH fort und durchbrach mit3,7 vH im Jahr 2002 und 3,9 vH im Jahr 2003 ebensowie das laufende Defizit die 3-vH-Marke. Die an denkonjunkturbereinigten Salden ersichtliche mangelndeKonsolidierung gerade der großen Länder in den gutenkonjunkturellen Zeiten ist primär verantwortlich dafür,dass mit der einsetzenden Wirtschaftsflaute die laufen-den Defizite dieser Länder die 3-vH-Obergrenze über-stiegen.

Analysiert man darüber hinaus die Zusammensetzungder Defizite näher, so wird ersichtlich, dass in Frank-reich und Deutschland die Zinszahlungen auf Staats-schulden in Relation zum nominalen Bruttoinlandspro-dukt seit Jahren fast konstant sind, während in denkleinen Mitgliedstaaten der Schuldenabbau in Verbin-dung mit historisch niedrigen Zinsen zu einer erhebli-chen Reduktion der Haushaltsbelastung durch Schulden-dienste führte. Dies liegt daran, dass Deutschland undFrankreich aufgrund ihres niedrigen Zinsniveaus Mitteder neunziger Jahre von der Zinskonvergenz in Europaim Vorfeld der Währungsunion weitaus weniger begüns-tigt wurden als die peripheren Volkswirtschaften (Spa-nien, Portugal, Irland, Griechenland). Auch in der Wäh-rungsunion profitierten einige der kleinen Länderzunächst weiterhin von diesem Zinsbonus, indem sie fäl-lig werdende hochverzinsliche Wertpapiere durch gerin-ger zu verzinsende Neuemissionen refinanzieren konn-ten.

423. Die in der Entschließung des Europäischen Ratesvom 17. Juni 1997 enthaltene politische Willenserklä-rung zum mittelfristigen Haushaltsausgleich ist rechtlichunverbindlich und nicht sanktionsfähig. Eine grundsätz-liche Änderung dieser Problematik ist nicht absehbar,denn der Zeitpunkt, an dem die Mitgliedstaaten mit der-zeit vergleichsweise hohen Defiziten einen ausgegliche-nen Haushalt vorzulegen beabsichtigen, ist zwischen derEuropäischen Kommission und diesen Ländern nach wievor umstritten. Ursprünglich war das Jahr 2002 als Zielfür einen nahezu ausgeglichenen Haushalt anvisiert wor-den. Inzwischen wurde die Zielmarke bereits zweimal,zunächst auf das Jahr 2004 und dann auf das Jahr 2006,verschoben. Noch im Herbst des vergangenen Jahres ha-ben Deutschland, Portugal und Italien das Ziel des Haus-

haltsausgleichs bis zum Jahr 2006 in den jeweiligen na-tionalen Stabilitätsprogrammen berücksichtigt und sichauf diesen Zeitplan verpflichtet, Frankreich jedoch le-diglich unter der Bedingung hoher gesamtwirtschaftli-cher Zuwachsraten. In Anbetracht der schwachen Wirt-schaftsdynamik wird mittlerweile vom Bundesministerder Finanzen ein Haushaltsausgleich bis zum Ende desJahrzehnts angestrebt. Ohne nachhaltige Konsolidierungsteht der Stabilitäts- und Wachstumspakt jedoch nachder sich abzeichnenden Wirtschaftserholung beimnächsten Konjunkturabschwung erneut vor denselbenProblemen, mit denen er gegenwärtig konfrontiert ist.

Auch die Europäische Kommission erachtet mangelndeKonsolidierungsbemühungen als das primäre Problembei der Anwendung des Pakts. Sie sieht die Ursachen derübermäßigen Defizite in allen bisher eröffneten Defizit-verfahren darin, dass die Überschreitung der Defizit-obergrenze von 3 vH weder aus schweren Rezessionenim Sinne des EG-Vertrages sowie des Stabilitäts- undWachstumspakts, noch aus ungewöhnlichen Ereignissen,die sich der Kontrolle des Landes entziehen, herrühren.Vielmehr haben Ausgabenüberschreitungen trotz einesabsehbaren Reformbedarfs der beitragsfinanzierten Sys-teme der Sozialen Sicherung sowie Steuermindereinnah-men in Folge von unzureichend gegenfinanzierten Steu-erreformvorhaben die übermäßigen Defizite ausgelöst.

Die aktuelle Lage

424. Gegenwärtig laufen Verfahren wegen eines über-mäßigen Defizits gegen Deutschland, Frankreich undPortugal. Hierbei ist das Verfahren gegen Frankreich amweitesten fortgeschritten. Frankreich droht in der nächs-ten Stufe prinzipiell die Verhängung von Sanktionennach Artikel 104 Absatz 11 EG-Vertrag. Deutschlandund Portugal haben Empfehlungen nach Artikel 104Absatz 7 EG-Vertrag erhalten.

425. Im laufenden Defizitverfahren gegen Deutschlandhat der ECOFIN-Rat in seiner Entscheidung vom21. Januar 2003 das Bestehen eines übermäßigen Defi-zits festgestellt und angemerkt, dass gegen Ende derneunziger Jahre, als sich Deutschland einer relativ güns-tigen konjunkturellen Entwicklung erfreute, bei derHaushaltskonsolidierung nur begrenzte Fortschritte er-zielt wurden. Somit bestand nur ein geringer Haushalts-spielraum, um die Auswirkungen einer Konjunkturab-schwächung oder unerwartete Einnahmeausfälle infolgeder im Jahr 2001 durchgeführten Steuerreform auszu-gleichen, so dass es im Jahr 2002 zu einer deutlichenVerfehlung des Referenzwerts von 3 vH kam. Der ECO-FIN-Rat stellte ebenfalls fest, dass die Überziehung desEtats und die Einnahmeausfälle nur zum Teil mit kon-junkturellen Faktoren erklärbar sind.

In der Empfehlung des ECOFIN-Rats vom 21. Januar2003 wurde eine rasche Rückführung des Defizits ange-mahnt und Deutschland aufgefordert, seine Haushalts-planung zügig umzusetzen. Diese sah eine Verringerungdes gesamtstaatlichen Defizits um 1 Prozentpunkt auf2¾ vH vor. Auch wurde von der Bundesregierung ver-langt, den Anstieg der Schuldenstandsquote im

Öffentliche Haushalte sanieren

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Jahr 2003 zu stoppen und umzukehren. Schließlichwurde von Deutschland eine Rückführung des konjunk-turbereinigten Defizits um 1 vH in Relation zum nomina-len Bruttoinlandsprodukt gefordert. Deutschland stelltefür das Jahr 2003 in seinem Stabilitätsprogramm dieUmsetzung von Strukturreformen zur Förderung desWachstums in Aussicht.

Auch in diesem Jahr durchbrach jedoch das gesamtstaat-liche Defizit in Deutschland mit 4,1 vH die 3-vH-Markedes Stabilitäts- und Wachstumspakts deutlich (Zif-fer 261). Nach dem Jahr 2002 wies Deutschland somitzum zweiten Mal in Folge ein übermäßiges Defizit auf.Gemäß Berechnungen der Europäischen Kommissionstieg das konjunkturbereinigte gesamtstaatliche Defizitvon einem Vorjahreswert von 3,4 vH leicht auf einenWert von 3,5 vH in diesem Jahr an. Der Konsolidie-rungserfolg blieb somit deutlich hinter den Konsolidie-rungszusagen zurück. Es ist daher damit zu rechnen,dass die Europäische Kommission noch in diesem Jahrnach Artikel 104 Absatz 8 EG-Vertrag feststellen wird,dass Deutschland keine geeigneten Maßnahmen zurRückführung der Defizite ergriffen hat. Dann könnte siedem ECOFIN-Rat empfehlen, Deutschland – zusammenmit Frankreich – gemäß Artikel 104 Absatz 9 EG-Ver-trag aufzufordern, neue Maßnahmen zu treffen, um dasübermäßige Defizit abzubauen. Für das Jahr 2004 hatsich die Bundesregierung durch den Beschluss zum Vor-ziehen der dritten Stufe der Steuerreform in dasJahr 2004 noch weiter davon entfernt, im kommendenJahr die Defizitobergrenze des Stabilitäts- und Wachs-tumspakts einzuhalten. Während ohne diese Maßnahmeeine Defizitquote von 3,4 vH möglich erscheint, wird dieDefizitquote bei Verzicht auf Gegenfinanzierung erneutüber 4 vH liegen und bei der geplanten teilweisen Ge-genfinanzierung immerhin noch rund 3,6 vH betragen.Das beabsichtigte Vorziehen der Steuerreform ist nichtnur wegen der vermutlich geringen konjunkturellen Ef-fekte, sondern auch wegen der möglichen negativen Sig-nalwirkungen einer schuldenfinanzierten Steuersenkungdie falsche Maßnahme.

Die Europäische Kommission hat Deutschland vor demHintergrund einer auch im Jahr 2003 schwächer als imHaushalt eingestellten gesamtwirtschaftlichen Aktivitätdie Möglichkeit eröffnet, nicht mit zusätzlichen Konsoli-dierungsmaßnahmen gegensteuern zu müssen, um dieDefizitgrenze einzuhalten. Wegen des erneuten massivenVerfehlens der Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstums-pakts droht Deutschland jedoch der Übergang desDefizitverfahrens in die nächste Stufe. Ohne Korrektur-maßnahmen wäre dann frühestens zum Ende desJahres 2004 eine zinslose Bareinlage von maximal etwa11 Mrd Euro fällig.

426. Für die Europäische Kommission drohen nicht dieDefizitverfahren gegen Deutschland oder Portugal, son-dern vielmehr das Verfahren gegen Frankreich immermehr zu einem Präzedenzfall zu werden. Für Frankreichist das Defizitverfahren am weitesten fortgeschritten, dadie französische Regierung bis Oktober dieses Jahreswenig Neigung zeigte, den Empfehlungen der Kommis-sion nachzukommen.

Im laufenden Defizitverfahren gegen Frankreich hat derECOFIN-Rat am 3. Juni 2003 auf Anregung der Europä-ischen Kommission gemäß Artikel 104 Absatz 7 eineEmpfehlung an Frankreich abgegeben. Die französischeRegierung wurde aufgefordert, das bestehende übermä-ßige Defizit so rasch wie möglich, spätestens aber biszum Jahr 2004, abzubauen. Nach Ansicht der Europä-ischen Kommission sollte Frankreich sein konjunkturbe-reinigtes Defizit in den Jahren 2003 und 2004 jeweilsum 0,5 Prozentpunkte senken und die öffentliche Schul-denstandsquote wieder auf einen Abwärtspfad bringen.Die dazu erforderlichen Maßnahmen waren vor dem3. Oktober 2003 zu treffen. Die französische Regierungergriff jedoch keine Sofortmaßnahmen, sondern sah le-diglich in ihrer im September 2003 dem Parlament vor-gelegten Haushaltsplanung für das Jahr 2004 eine Ver-ringerung des konjunkturbereinigten Defizits um0,7 Prozentpunkte vor, die jedoch nicht ausreichendwäre, um unter die 3-vH-Obergrenze zu gelangen.

Am 8. Oktober dieses Jahres empfahl die EuropäischeKommission dem ECOFIN-Rat daher gemäß Artikel 104Absatz 8 EG-Vertrag festzustellen, dass Frankreichkeine geeigneten Gegenmaßnahmen ergriffen hat.

Am 21. Oktober 2003 hat die Europäische Kommissiondem ECOFIN-Rat empfohlen, Frankreich gemäßArtikel 104 Absatz 9 EG-Vertrag aufzufordern, neueMaßnahmen zu treffen, um das übermäßige Defizit abzu-bauen. Dabei zog die Kommission in Betracht, dass derKonjunkturabschwung, der zu einer Verschlechterungder Haushaltslage beitrug, plötzlich und unerwartet ein-trat. Durch den Abschwung wäre eine Rückführung deskonjunkturbereinigten Defizits um 1,5 Prozentpunkte imJahr 2004 erforderlich geworden, um das Defizit unterdie 3-vH-Marke zu führen. Der Hinweis auf die uner-wartete Konjunkturschwäche rechtfertigt nach Ansichtder Europäischen Kommission, die Möglichkeit zu eröff-nen, nicht mit zusätzlichen Konsolidierungsmaßnahmengegensteuern zu müssen, um die Defizitgrenze einzuhal-ten. Die Europäische Kommission erlaubt Frankreich,das Defizit erst im Jahr 2005 unter die 3-vH-Obergrenzezu senken und fordert für das Jahr 2004 eine Rückfüh-rung des konjunkturbereinigten Defizits um 1 Prozent-punkt. Damit gewährte sie Frankreich einen Aufschub.Frankreich soll bis zum 15. Dezember einen Bericht vor-legen, wie es der Empfehlung folgen will. Auch sollFrankreich in den kommenden beiden Jahren vier Um-setzungsberichte einreichen, anhand derer der Abbaudes übermäßigen Defizits geprüft werden kann.

Im aktuellen Stadium des Defizitverfahrens ist der ECO-FIN-Rat bei seiner Sitzung am 4. November den Vor-schlägen der Europäischen Kommission nicht gefolgtund hat die erneute Entscheidung über die Empfehlungnach Artikel 104 Absatz 9 EG-Vertrag an Frankreich mitungewissem Ausgang vertagt. Wäre diese Empfehlungan Frankreich gerichtet worden und würde Frankreichdiese nicht befolgen, ginge das Verfahren automatisch indie letzte Stufe über, in der nach Artikel 104 Absatz 11EG-Vertrag die Europäische Kommission dem ECOFIN-Rat Sanktionen empfehlen kann. In der Regel ist zu-nächst eine unverzinsliche Bareinlage zu hinterlegen, diesich im Falle Frankreichs auf maximal rund 8 Mrd Eurobelaufen könnte.

Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert

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Der Pakt vor der Zerreißprobe

427. Mit dem Zugeständnis an Frankreich, erst imJahr 2005 die 3-vH-Obergrenze des Stabilitäts- undWachstumspakts unterschreiten zu müssen, wollte dieEuropäische Kommission eine Abstimmungsniederlageim ECOFIN-Rat vermeiden, denn sie musste befürchten,dass die EU-Finanzminister die ursprüngliche Empfeh-lung nicht unverändert billigen würden. Diese Befürch-tungen scheinen nicht unbegründet, denn der ECOFIN-Rat hat in seiner Sitzung am 4. November sogar die Be-schlussfassung über die abgemilderte Empfehlung anFrankreich vertagt. Die Europäische Kommission undder ECOFIN-Rat riskieren damit ungeachtet der für siepolitisch schwierigen Ausgangssituation aufgrund paral-leler Defizitverfahren gegen die beiden größten Mit-gliedsländer eine weitere inhaltliche Aushöhlung desStabilitäts- und Wachstumspakts. Dieses Ausnützen desihnen zustehenden erheblichen Ermessensspielraumswäre allenfalls akzeptabel, wenn nur dadurch der Pakteine Überlebenschance hätte und weiterhin seine Wir-kung entfalten könnte. Dem Stabilitäts- und Wachstums-pakt wird jedoch durch die Vermeidung der konsequen-ten Umsetzung seiner Regeln zunehmend seineGlaubwürdigkeit genommen. Die Entscheidung der Eu-ropäischen Kommission und die höchst bedauerlicheHaltung des ECOFIN-Rats senden das falsche Signal andiejenigen Länder in der Währungsunion, die Konsoli-dierungsbemühungen in einem wirtschaftlich ungünsti-gen Umfeld eingeleitet haben, wie dies beispielsweisedie Niederlande in diesem Jahr taten. Zu befürchten ist,dass die Länder des Euro-Raums zukünftig weniger am-bitioniert den Pfad der Konsolidierung beschreiten wer-den. Fatal ist das Signal, das die flexible Handhabungdes Stabilitäts- und Wachstumspakts an die beitretendenLänder übermittelt, denn es ist unglaubwürdig, den Bei-trittsländern eine strikte Einhaltung der Regeln des„Klubs der Euro-Länder“ nahe zu legen, wenn die Klub-mitglieder selbst sich nicht an diese Regeln halten.

Handlungsoptionen auf europäischer Ebene

428. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt steht amScheideweg. Letztendlich ist der Pakt nicht in der Lage,ein souveränes Land zu zwingen, eine Konsolidierunggegen seinen eigenen Willen zu betreiben. Die vorgese-henen Sanktionen sind kaum mehr glaubhaft und dahernicht disziplinierend, da in der gegenwärtigen Konstella-tion im Rat „Sünder“ über andere „Sünder“ befinden,was strategisches Abstimmungsverhalten fördert. Wegender hohen Konsenshürden der Entscheidungen (zweiDrittel-Mehrheit) leidet die Glaubwürdigkeit der Ver-hängung von Sanktionen. Durch die flexible Handha-bung der Ausnahmetatbestände untergräbt die Europä-ische Kommission das Fundament ihrer eigenenAutorität als Hüterin des Pakts. Die Europäische Kom-mission und der ECOFIN-Rat sind im Umgang mit denmangelnden Konsolidierungsbemühungen der großenMitgliedsländer der Währungsunion der Versuchung er-legen, das Zugeständnis von höheren Defiziten heute andie Zusage einer stärkeren Konsolidierung in der Zu-

kunft zu knüpfen. Bei einer derart pragmatischen Hand-habung des Pakts unter extremer Ausnutzung aller Inter-pretationsspielräume besteht die große Gefahr, dasswegen der offensichtlichen Zeitinkonsistenzproblemesolcher Zusagen der Pakt seine Glaubwürdigkeit verliert.Wenn die Staaten des Euro-Raums verkennen, dass einsolides Haushaltsgebaren nach den Regeln des Pakts imgegenseitigen Interesse aller Beteiligten liegt, dann wirder langfristig nicht überleben, mit bedenklichen Folgenfür die Stabilität der gemeinsamen Währung. Dies soll-ten Europäische Kommission und Ministerrat nicht ris-kieren; sie sollten die Regeln des Pakts so anwenden,dass er seine disziplinierende Wirkung entfaltet.

429. An dieser Einschätzung mag man kritisieren, dassder Stabilitäts- und Wachstumspakt aus stabilisierungs-politischer Sicht kontraproduktiv sei, wenn er in wirt-schaftlichen Schwächephasen beim Erreichen der 3-vH-Defizitmarke eine Begrenzung der konjunkturell alssinnvoll erachteten finanzpolitischen Stimuli erforder-lich mache. Dieser Einwand ist nur teilweise gerechtfer-tigt, denn der Pakt enthält für kräftige konjunkturelleAbschwungphasen durchaus Ausnahmeregelungen, dieein Überschreiten der 3-vH-Grenze erlauben. Richtig istaber, dass für Konjunkturzyklen, die nicht unter die defi-nierten Ausnahmen fallen, ein Überschreiten des 3-vH-Kriteriums eine Verletzung des Pakts darstellt, die einDefizitverfahren zur Folge haben sollte. Dies ist exaktdie Situation, in der sich die beiden großen EWU-Ländergegenwärtig befinden.

Die Verschlechterung der Haushaltsposition aus kon-junkturellen Gründen kann ihre Ursachen im Wirken derautomatischen Stabilisatoren und in einer diskretionärantizyklischen Finanzpolitik des betreffenden Landeshaben. Für ein Überschreiten der Defizitgrenze ist dieseUnterscheidung irrelevant. Aus ökonomischer Sicht gibtes aber gute Gründe, die stabilisierungspolitische Rolleder Finanzpolitik den automatischen Stabilisatoren zuzu-weisen (Ziffer 804 und JG 2001 Ziffern 388 ff.). DasÜberschreiten der Defizitgrenze in „normalen“ konjunk-turellen Abschwungsphasen durch die automatischenStabilisatoren ist mit Blick auf die empirisch festgestell-ten Elastizitäten der öffentlichen Haushalte im Hinblickauf Schwankungen des Auslastungsgrads, – als Faustre-gel kann hier eine Reagibilität von 0,5 unterstelltwerden –, überhaupt nur möglich, wenn der konjunktur-bereinigte Haushalt des betreffenden Landes von nullabweicht. Gemäß der Vorgaben des Pakts, der ja geradeeine zumindest ausgeglichene Haushaltsposition fordert,handelt es sich demnach um ein transitorisches Problem,dessen Ursachen in mangelnden Konsolidierungsan-strengungen dieser Länder in der Vergangenheit liegen.In einer solchen Situation ist in der Tat ein Zielkonfliktzwischen den kurzfristigen stabilisierungspolitischen Er-fordernissen und den Defizitvorgaben des Pakts zu kon-statieren. Die Logik des Stabilitäts- und Wachstums-pakts lässt in diesen Fällen den betreffenden Ländernzwei prinzipielle Möglichkeiten: Verfolgt man das Ziel,die öffentlichen Defizite unter die 3-vH-Grenze zu brin-gen, impliziert dies eine prozyklische Politik; will mandiese vermeiden, dann ist gemäß den geltenden Regeln

Öffentliche Haushalte sanieren

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ein Defizitverfahren mit seinen möglichen Folgen zu ak-zeptieren. Ein Land, das sich in einer solchen Situationbefindet, ist demnach nicht unter allen Umständen zu ei-ner den Konjunkturzyklus verstärkenden Politik ge-zwungen, hat dann aber die Konsequenzen dieser Ent-scheidung zu akzeptieren. Diesen Zielkonflikt nichtoffen zu Tage treten zu lassen, sondern das wiederholteÜberschreiten der Defizitgrenze ohne entsprechendeSanktionierung zu gestatten, enthält die Gefahr, dass derPakt in den Augen der Öffentlichkeit als „zahnloser Ti-ger“ wahrgenommen und damit nachhaltig beschädigtwird. Nicht akzeptabel unter dem geltenden Regelrah-men ist insbesondere, wenn der Preis, mit dem der Stabi-litäts- und Wachstumspakt eine solche Entscheidung be-legt, diskretionär abgesenkt wird. Deshalb sind dieBeschlüsse der Europäischen Kommission und des Mi-nisterrats im laufenden Defizitverfahren gegenüberFrankreich, die ja zugleich auch präjudizierende Wir-kung für das Verfahren gegen Deutschland haben wer-den, kritisch zu sehen.

Handlungsoptionen der Bundesregierung

430. Als Konsequenz des wiederholten und andauern-den Verstoßes gegen die Haushaltsregeln des Stabilitäts-und Wachstumspakts sollte die Bundesregierung umge-hend ernsthafte Konsolidierungsmaßnahmen einleiten.Andernfalls sollte sie mögliche Sanktionen akzeptierenund sich auf die Hinterlegung einer zinslosen Bareinlageeinstellen. Um einer Umwandlung der Bareinlage in eineGeldbuße vorzubeugen, ist es erforderlich, in den kom-menden Jahren die Konsolidierungsbemühungen zuintensivieren und die Budgetdefizite in der sich abzeich-nenden konjunkturellen Erholungsphase rasch und kon-tinuierlich in Richtung Budgetausgleich zurückzuführen.Nur so ist sichergestellt, dass der für ein reibungslosesFunktionieren der Europäischen Währungsunion not-wendige Stabilitäts- und Wachstumspakt seine inten-dierte Wirkung entfalten kann. Dies sollte von der Bun-desregierung aktiv unterstützt werden. In der aktuellenSituation erfordert dies nicht, dass ein prozyklischesVerhalten der fiskalpolitischen Instrumente durch dieBegrenzung der automatischen Stabilisatoren erzwungenwerden muss, denn eine merkliche Senkung der Haus-haltsdefizite bis zum Jahr 2006 ist in Anbetracht derAussicht auf eine Konjunkturbelebung auch ohne solcheMaßnahmen möglich.

431. In der Öffentlichkeit wird eine Sanktion gegenübereinem Land, das sich in einer ohnehin gesamtwirtschaft-lich schwierigen Lage befindet, vielfach als paradoxempfunden. Hier gilt es allerdings zu beachten, dass dieSanktionsskala mit einer unverzinslichen Einlage be-ginnt, die in den nationalen Haushalten als nicht defizit-wirksame finanzielle Transaktion verbucht wird. Dieswird man nicht als eine drakonische Strafe bezeichnenkönnen. Erst nach zwei Jahren wird diese Einlage in einedefizitwirksame Geldbuße umgewandelt, falls es zwi-schenzeitlich zu keiner Verbesserung der Haushaltslagedes betreffenden Landes gekommen ist. Auf die konkreteProblemsituation in Deutschland und Frankreich bezogen

heißt dies: Das erneute Überschreiten der Defizitgrenzeim kommenden Jahr wäre aus Sicht des Sachverständi-genrates mit einer regelkonformen weiteren Anwendungdes Defizitverfahrens zu ahnden gewesen, auch mit derFolge einer dann fällig werdenden Einlage. Die Nichtein-haltung der Defizitgrenze bedeutet, dass in der gegenwär-tigen Konfliktsituation beide Länder einer graduellenKonsolidierung den Vorzug vor einer massiven Rückfüh-rung der Defizite geben. Dafür mag es ökonomische undauch politische Gründe geben; dann sind jedoch die Kon-sequenzen dieses Handelns zu akzeptieren.

432. In einem nationalen Stabilitätspakt ist die Auftei-lung der Konsolidierungserfordernisse zwischen Bund,Ländern und Gemeinden zu regeln und die Konsolidie-rung der Haushalte der Gebietskörperschaften mit denjährlich bei der Europäischen Kommission einzurei-chenden nationalen Stabilitätsprogrammen abzustim-men. Dabei ist mittelfristig das im Stabilitäts- undWachstumspakt verankerte Ziel anzustreben, einen zu-mindest ausgeglichenen Haushalt zu erreichen oderHaushaltsüberschüsse zu erwirtschaften. In der Sitzungam 21. März 2002 hat der Finanzplanungsrat die Rege-lung getroffen, dass der Bund (einschließlich der Sozial-versicherungen) sowie Länder und Kommunen sich daszur Verfügung stehende Verschuldungsvolumen in denJahren 2003 bis 2006 im Verhältnis 45 zu 55 teilen.Nach welchen Kriterien – diskutiert werden in diesemZusammenhang die Einwohnerzahl, das regionale Brut-toinlandsprodukt oder der Schuldenstand – das Ver-schuldungsvolumen zwischen den einzelnen Ländernhorizontal zu verteilen ist, blieb ungeklärt.

Formal trägt der Bund gegenüber der EuropäischenUnion die Verantwortung für die finanziellen Verpflich-tungen aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt. Das fürdie Berechnung etwaiger Strafzahlungen relevante Defizitin der Definition der Volkswirtschaftlichen Gesamtrech-nungen betrug im Jahr 2003 insgesamt 4,1 vH in Relationzum nominalen Bruttoinlandsprodukt, davon entfielen3,8 vH auf die Gebietskörperschaften und 0,3 vH auf dieSozialversicherungen. Bei den Gebietskörperschaften lagder Anteil des Bundes am Finanzierungssaldo imJahr 2003 bei 1,9 vH nach 1,6 vH im Vorjahr. Der Anteilder Länder betrug im laufenden Jahr 1,8 vH nach 1,5 vHim Vorjahr, und der Anteil der Gemeinden blieb mit0,1 vH in beiden Jahren vernachlässigbar gering.

433. Man kann sich leicht ausmalen, dass in Anbe-tracht der Zuspitzung der Haushaltslage der Gebietskör-perschaften ein erhebliches Konfliktpotential insbeson-dere zwischen Bund und Ländern besteht, wenn erstmalsdie Hinterlegung einer zinslosen Bareinlage oder etwa-ige Geldbußen wegen eines übermäßigen Defizits dro-hen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Erhöhung derDefizite gegenüber den im Finanzplanungsrat imJahr 2002 vereinbarten Eckwerten primär beim Bund an-zusiedeln ist (Ziffer 273). Doch auch die Finanzlage derBundesländer insgesamt hat sich seit dem Jahr 2000drastisch verschlechtert, da sie unter massiven Einnah-meverlusten leiden. Statt in gegenseitige Schuldzuwei-sungen und Verteilungskämpfe einzusteigen, sollte der

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nationale Stabilitätspakt um Regelungen zur Aufteilungder Strafzahlungen auf die Gebietskörperschaften er-gänzt werden. Die durch Artikel 109 Absatz 1 Grundge-setz verfassungsmäßig geschützte Haushaltsautonomieder Länder erfordert es, die auch aus europäischer Per-spektive gebotene Konsolidierungsstrategie in eine vomSachverständigenrat angeregte generelle Reform des Fö-deralismus und des deutschen Steuersystems einzubin-den (Ziffern 510 ff.).

Sinnvolle mittel- bis langfristige Reformen

434. Die strikte Anwendung des Stabilitäts- undWachstumspakts in der aktuellen Situation schließt nichtseine sinnvolle Weiterentwicklung durch Stärkung derLangfristorientierung und Beseitigung der asymmetri-schen Wirkungsweise aus. Dazu hat die EuropäischeKommission im November 2002 Vorschläge an den Ratunterbreitet. Die meisten dieser Reformvorschläge bie-ten die Möglichkeit zu Modifikationen des Pakts, die imWesentlichen an den Verfahren ansetzen und häufig in-nerhalb des bestehenden Regelwerks vorgenommenwerden können. Neben prozeduralen Vorschlägen wurdejedoch auch eine Reihe weitreichender Vorschläge zurDiskussion gestellt, die eine Anpassung des Regelwerksselbst erfordern.

Am 27. November 2002 unterbreitete die EuropäischeKommission einen Maßnahmenkatalog zur Stärkung derKoordination der Budgetpolitiken, der eine stärkereÜberwachung und Kontrolle der Kommission über dienationalen Finanzpolitiken zum Inhalt hat. Dabei hat siefünf konkrete Änderungen vorgeschlagen:

– Die Erfordernisse eines nahezu ausgeglichenenHaushalts oder Budgetüberschusses sollten im Sinneeines konjunkturbereinigten Finanzierungssaldos in-terpretiert werden, wie ihn die Europäische Kommis-sion mit dem von ihr entwickelten Verfahren eineskonjunkturbereinigten Defizits misst.

– Die Rückführung der konjunkturbereinigten Defizit-quote soll zumindest 0,5 Prozentpunkte pro Jahr be-tragen und schneller erfolgen in Ländern mit hohenDefizit- oder Schuldenstandsquoten oder günstigenWachstumsbedingungen.

– Die Mitgliedsländer der Währungsunion sollen eineprozyklische Lockerung der Finanzpolitiken in einemgünstigen Wachstumsumfeld vermeiden und das Wir-ken der automatischen Stabilisatoren über den Kon-junkturzyklus hinweg ermöglichen.

– Die Europäische Kommission gesteht Ländern, wel-che strukturelle Reformen implementieren, im Aus-gleich dafür eine temporäre geringfügige Verschlech-terung der zugrundeliegenden Budgetpositionen zu,falls diese Länder eine Schuldenstandsquote vondeutlich unter 60 vH und eine niedrige impliziteStaatsverschuldung aufweisen. Auch muss ein ausrei-chender Sicherheitsabstand zur 3-vH-Grenze der De-fizitquote gewahrt bleiben.

– Schließlich ist die Europäische Kommission bestrebt,die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen als zentralesPolitikziel zu verfolgen. Dazu will sie zukünftig dasKriterium des Schuldenstands stärker berücksichti-gen. Diejenigen Länder, deren gesamtstaatliche Ver-schuldung deutlich über dem Referenzwert von 60 vHin Relation zum nominalen Bruttoinlandsproduktliegt, müssen in ihren nationalen Stabilitätsprogram-men ihre Strategie zum Schuldenabbau offen legen.Auch sollen Länder jährlich ein Programm vorlegen,wie sie den Herausforderungen einer alternden Ge-sellschaft begegnen wollen.

Zur Umsetzung dieser Vorschläge legte die EuropäischeKommission ein Vier-Punkte-Programm vor:

– Die Mitgliedstaaten sollten ihre politische Unterstüt-zung für den Stabilitäts- und Wachstumspakt in einerEntschließung zur Stärkung der haushaltspolitischenKoordinierung bestätigen. Insbesondere soll die Ver-pflichtung bezüglich eines „nahezu ausgeglichenenHaushalts oder Haushaltsüberschusses“ durch einejährliche Rückführung der konjunkturbereinigten De-fizite um mindestens 0,5 vH in Relation zum nomina-len Bruttoinlandsprodukt zugesichert werden. Ländermit einem sehr hohen Schuldenstand sollen zusagen,diesen rascher zurückzuführen. Alle Mitgliedsländersollten schließlich die Anwendung der Durchset-zungsverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspaktserleichtern.

– Bei der Beurteilung der Stabilitäts- und Konvergenz-programme soll der Qualität der öffentlichen Finan-zen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Beson-ders berücksichtigt werden sollte, ob die geplantenHaushaltsmaßnahmen zu Wachstum und Beschäfti-gung beitragen und ob die Verbesserung der Haus-haltssalden über Ausgabensenkungen oder Steuerer-höhungen erreicht wird. Ferner beabsichtigt dieEuropäische Kommission, ihre Überwachung derVolkswirtschaften der Mitgliedstaaten zu verstärken,indem eingehende Länderstudien durchgeführt undveröffentlicht werden.

– Die Europäische Kommission will effizientere Durch-setzungsverfahren entwickeln und den Frühwarnme-chanismus bei deutlichen Abweichungen von denHaushaltszielen schneller anhand von eindeutigenKriterien aktivieren. Auch sollen Warnungen bei ei-ner prozyklischen Lockerung der Haushaltspolitik inguten Zeiten als Verletzung der Haushaltsvorgabenauf EU-Ebene betrachtet werden. Ferner soll ein De-fizitverfahren auch dann eröffnet werden, wenn dieRückführung des Schuldenstands auf den Referenz-wert von 60 vH in Relation zum nominalen Bruttoin-landsprodukt nicht als „rasch genug“ eingestuftwird. Auch soll die Europäische Kommission ermäch-tigt werden, Frühwarnungen – ohne eine entspre-chende Abstimmung im Rat – direkt an die Mitglied-staaten zu richten.

– Schließlich möchte die Europäische Kommissioneine bessere Kommunikation durch Offenheit undTransparenz. Dazu beabsichtigt sie, ihre detaillierteBewertung der Stabilitäts- und Konvergenzpro-

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gramme zu veröffentlichen und zu untersuchen, wiees in den Mitgliedstaaten um die Erreichung ihrerHaushaltsziele steht. Die Mitgliedstaaten sollendiese Berichte der Europäischen Kommission bei ih-rer Aufstellung der jährlichen Haushaltspläne be-rücksichtigen.

435. Die von der Europäischen Kommission unterbrei-teten Vorschläge zur Modifikation des Pakts sind alssinnvoll anzusehen, soweit sie die Stärkung der Konsoli-dierungsanreize in konjunkturellen Erholungsphasenund die zunehmende Berücksichtigung der budgetärenKonsequenzen von impliziten Pensionsverpflichtungenbetreffen. Richtig ist auch die stärkere Fokussierung aufkonjunkturbereinigte Defizite. Finanzpolitik muss sichvorzugsweise an konjunkturbereinigten Größen orientie-ren. Um differierende Schätzungen der konjunkturberei-nigten Defizite je nach Methode zu vermeiden, ist imVerfahren der Haushaltsüberwachung durchgängig dievon der Europäischen Kommission entwickelte Berech-nungsmethode zu verwenden. Positiv zu sehen sind auchdie Vorschläge, in der Beurteilung der Haushaltspolitikstärker auf die Struktur und Qualität der öffentlichen Fi-nanzen abzustellen. Mit einer gewissen Skepsis zu be-gegnen ist jedoch den Vorschlägen, zur Umsetzung vonStrukturreformen eine temporäre Abweichung vom Zieleines ausgeglichenen Haushalts zuzulassen, wenn einniedriger Schuldenstand, niedrige Defizitquoten undeine geringe implizite Staatsverschuldung vorliegen. BeiErfüllung dieser Bedingungen gefährden vorüberge-hende geringe Defizite zwar nicht die Solidität derStaatsfinanzen, die Regelung reduziert jedoch die Trans-parenz des Verfahrens. Durch das Zugeständnis vonAusnahmeregelungen will die Europäische Kommissionim Rat die Akzeptanz der eigenen Vorschläge erhöhenund sich Entscheidungsspielräume eröffnen. Der gegen-wärtige Umgang der Europäischen Kommission mit die-sen Flexibilitätsklauseln gibt jedoch Anlass zur Sorge.Da mittelfristig bis langfristig kein grundsätzlicher Ge-gensatz zwischen Strukturreformen am Arbeitsmarktoder in den Sozialsystemen und einer auf Haushaltsaus-gleich bedachten soliden Finanzpolitik besteht, sind sol-chen kurzfristigen Ausnahmeregelungen enge Grenzenzu setzen.

436. Weitere absehbare Änderungen für die Verfahrendes Stabilitäts- und Wachstumspakts ergeben sich durchden vom Verfassungskonvent vorgelegten Entwurf füreine Europäische Verfassung. Hierbei sind Teile der Vor-schläge der Europäischen Kommission aufgenommenworden. Eine wichtige Neuerung besteht darin, die Re-geln des Stabilitäts- und Wachstumspakts auch dazu ein-zusetzen, unzureichende Konsolidierungsbemühungenin guten Zeiten zu sanktionieren. Damit unabhängig vomKonjunkturverlauf Anreize zu nachhaltiger Finanzpoli-tik bestehen, soll die Europäische Kommission dasRecht ausüben können, in konjunkturell guten Zeiten einLand zu verwarnen, das seine Ziele zur Rückführung deskonjunkturbereinigten Defizits verfehlt oder zu verfeh-len droht – ungeachtet eines möglicherweise unbedenk-

lichen Finanzierungssaldos. Dies ist durch die bisherigeVerordnung (EG) Nr. 1466/97 nicht gedeckt und stellteine Erweiterung der Kommissionsbefugnisse dar. Einezweite Regelung sieht vor, dass die Europäische Kom-mission zukünftig eigenständig die Initiative für die Ver-öffentlichung einer Frühwarnung ergreifen kann. Es istferner geplant, dass die Ablehnung einer solchen Initia-tive durch den Rat nur einstimmig möglich ist. Diese Re-gelung ist als sinnvoll einzustufen, da sie Entscheidun-gen über die Einleitung eines Defizitverfahrenserleichtert und damit die Anreize zu strategischem Ab-stimmungsverhalten im Rat mindert.

Fazit: Der Pakt ist besser als sein Ruf

437. Zusammengefasst sei betont, dass der Sachver-ständigenrat kurzfristig keine Alternative dazu sieht, inden laufenden Verfahren wegen übermäßiger Defizitedie Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts wie da-rin vorgesehen anzuwenden. Vom Grundgedanken desPakts, der Konsolidierung der Staatshaushalte im ge-meinsamen Interesse aller beteiligten Länder der Wäh-rungsunion, darf nicht abgewichen werden. Noch habendie betroffenen Länder die Chance, bei konsequentenKonsolidierungsbemühungen wegen der sich abzeich-nenden Wirtschaftsbelebung erste Erfolge beim Defizit-abbau zu erzielen, bevor Sanktionen in nennenswerterHöhe fällig werden.

Die Kritik, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt zuwenig Flexibilität besäße, vermag der Sachverständigen-rat nicht zu teilen. Die Flexibilität des Pakts wird bei-spielsweise durch die Ausnahmetatbestände garantiert,unter denen eine temporäre Überschreitung der Defizit-und Schuldenstandsobergrenze tolerierbar ist. Interpreta-tionsspielräume eröffnen sich auch dadurch, dass dieFeststellung eines übermäßigen Defizits zwar an die ak-tuellen jährlichen Werte der Defizitquote gebunden ist,die Europäische Kommission bei ihrer Stellungnahmeund ihren Empfehlungen an den ECOFIN-Rat jedoch ge-halten ist zu berücksichtigen, „ob das Defizit die öffent-lichen Ausgaben für Investitionen übertrifft“ (Arti-kel 104 Absatz 3 EG-Vertrag). Berücksichtigt werdensollen ferner „alle sonstigen einschlägigen Faktoren,einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haus-haltslage des Mitgliedslandes“ (Artikel 104 Absatz 3EG-Vertrag). Die Verpflichtung zur Würdigung aller ein-schlägigen, relevanten Rahmenbedingungen im Defizit-verfahren verleiht dem Pakt einen hohen Grad an Flexi-bilität; diese sollte man jedoch nicht überstrapazieren.Der Pakt ist bewusst so angelegt, dass sich seine Vor-züge erst dann voll ausschöpfen lassen, wenn die Länderüber den Konjunkturzyklus hinweg die Tragfähigkeit ih-rer öffentlichen Finanzen durch eine ausgeglicheneHaushaltslage und einen niedrigen Schuldenstand gesi-chert haben. Eine zu flexible Auslegung der General-klauseln schiebt die Konsolidierung in immer fernereZukunft und untergräbt somit die Glaubwürdigkeit desStabilitäts- und Wachstumspakts (Kasten 12, Seite 268).

Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert

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K a s t e n 12

Weiterreichende Vorschläge zur längerfristigen Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts

Unter den vorgeschlagenen Reformoptionen werden handelbare Defizitzertifikate, Ausgabenziele und „GoldeneRegeln“ für Staatsfinanzen prominent diskutiert. Auch werden eine stärkere Berücksichtigung des Schuldenstandsangeregt und zur Stärkung der Haushaltsdisziplin die Delegation von Entscheidungsbefugnissen an unabhängigeExpertenkomitees erörtert. Der Sachverständigenrat hält den überwiegenden Teil dieser Vorschläge für wenig ziel-führend, um die Wirkungsweise des Pakts zu verbessern, da sie seine Anwendbarkeit teils erheblich komplizieren,im Vergleich zum jetzigen Pakt eine weiterreichende Koordinierung der Fiskalpolitiken erfordern und Interpretati-onsspielräume mit erheblichem Missbrauchspotential eröffnen. Die einzelnen Vorschläge seien im Folgenden kurzkritisch gewürdigt.

Defizitziele für den Euro-Raum

Eine wenig überzeugende Reformoption ergibt sich aus der Überlegung, dass in einer Währungsunion letztlichnicht die einzelstaatliche, sondern die aggregierte Finanzpolitik relevant sei. Dem entspringt der Vorschlag, einDefizitziel für den Euro-Raum als Ganzes zu setzen. Dies könnte dann in einem zweiten Schritt in nationale De-fizitziele unterteilt werden. Der Vorschlag würde es erlauben, dass einzelne Länder die Defizitgrenze von 3 vHüberschreiten, sofern andere darunter blieben. Dies widerspricht jedoch dem Prinzip einer nachhaltigen Konsoli-dierung. Auch wird ein Mechanismus zur europaweiten Koordination der Finanzpolitiken erforderlich, der imStadium der Finanzplanung schwierig zu organisieren ist. Um diesem Problem zu begegnen, wurde darauf auf-bauend auch erwogen, handelbare Verschuldungsrechte einzuführen (Casella, 2001). Kurzfristig könnte dann einLand bei den anderen Ländern Verschuldungsrechte erwerben, was der Finanzpolitik mehr Flexibilität verleiht;langfristig besteht wegen der Kosten des Erwerbs von Verschuldungsrechten jedoch ein Anreiz für jedes Land,sein Defizit zurückzuführen. Der Vorschlag ist keine sinnvolle Alternative zum Stabilitäts- und Wachstumspakt,da er mit erheblichen Operationalisierungsschwierigkeiten behaftet ist. Schwierig zu entscheiden ist die Erst-zuteilung der Verschuldungsrechte. Ferner besteht das Problem einer mangelnden Wettbewerbsintensität im De-fizithandel.

Ausgabenziele

Es wird gelegentlich argumentiert, eine langfristige Ausgabenplanung würde einer Ausgabenausweitung in Auf-schwungphasen entgegenwirken. Ausgabenziele anstelle von Defizitzielen zu verwenden, wird mit einer besserenKontrollierbarkeit und höheren Transparenz begründet, da die Staatsausgaben im Konjunkturverlauf wenigerschwankten und besser planbar seien als das Defizit. Ausgabenobergrenzen können sinnvoller Bestandteil einernationalen Konsolidierungsstrategie sein, als Budgetregeln auf europäischer Ebene sind sie nicht geeignet. Siegreifen stärker als der Stabilitäts- und Wachstumspakt in die nationale Budgetautonomie ein, was negativ zu be-werten ist. Auch verfehlen sie ein wesentliches Ziel des Pakts, nämlich die Vermeidung negativer externer Effekteeines übermäßigen Defizits auf andere Mitgliedsländer.

„Goldene Regeln“

Eine Orientierung des Defizitverfahrens an einer so genannten „Goldenen Regel“ fordert, bei der Defizitberech-nung von Ausgaben für öffentliche Nettoinvestitionen zu abstrahieren oder alternativ die öffentliche Neuverschul-dung auf die Höhe der öffentlichen Nettoinvestitionen zu begrenzen. Eine solche Regel ist in der Finanzverfassungdes Vereinigten Königreichs implementiert. Für den Euro-Raum wurde die Orientierung der Finanzplanung an ei-ner „Goldenen Regel“ unter anderem durch Modigliani et al. (1998) sowie Blanchard und Giavazzi (2002) gefor-dert. Dabei sollte das Staatsbudget aufgeteilt werden in ein defizitfinanziertes Investitionsbudget und ein laufen-des Defizit.

Grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass öffentliche Investitionen wegen der Nutzen für zukünftige Generatio-nen zum Teil über Schulden finanziert werden können, um so die Nutznießer der Investitionen an den Finanzie-rungskosten zu beteiligen. Problematisch ist jedoch, die öffentlichen Investitionen unabhängig von der privatenKapitalakkumulation zu betrachten, wenn beide in substitutionaler Beziehung zueinander stehen. Je nach Produk-tivitätsverhältnis könnte der Verzicht auf staatliche Investitionen über einen Rückgang der Steuerlast zusätzlicheproduktivere private Investitionen induzieren. „Goldene Regeln“ könnten auch Fehlanreize setzen, die Strukturund Höhe der öffentlichen Ausgaben zu ändern, indem als konsumtiv gebuchte Ausgaben zurückgeführt werden,auch wenn sie – wie Bildungsausgaben – investiven Charakter aufweisen.

Öffentliche Haushalte sanieren

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In der Praxis stoßen „Goldene Regeln“ auf erhebliche Umsetzungsprobleme. Als Beleg dafür sei auf die Vielzahlvon Vorschlägen verwiesen, die eine Sonderbehandlung von öffentlichen Investitionen bei der Defizitberechnungzum Gegenstand haben. So seien Ausgaben der öffentlichen Hand für Bildung, Ausbildung und Beschäftigungs-förderung aus dem Defizit herauszunehmen. Weiter wird angeregt, den Beitrag der Mitgliedsländer zu europäi-schen Projekten wie die Ausgaben für die Transeuropäischen Netze auszuklammern. Auch Teile des Verteidi-gungshaushalts oder Mehrausgaben für die Bekämpfung des Terrorismus seien auf das Defizit anzurechnen. DieseMaßnahmen sind nicht geeignet, Verbesserungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts herbeizuführen.

Finanzpolitikkomitees

Zur institutionellen Verbesserung der Haushaltsüberwachung und des Defizitverfahrens schlägt Wyplosz (2002)vor, unabhängige fiskalpolitische Komitees auf nationaler Ebene zu gründen und ihnen die Verantwortung dafürzu übertragen, im Sinne einer nachhaltigen Finanzpolitik die mittelfristige Defizitplanung festzulegen. Weiter füh-rende Überlegungen dazu finden sich bei Fatás et al. (2003). Weder ökonomisch noch politisch vermag dieser Vor-schlag zu überzeugen. Die Festlegung eines Defizitziels durch ein unabhängiges Komitee kann nicht losgelöstwerden von den bei der Finanzpolitik verbleibenden Entscheidungen über Höhe und Struktur von Einnahmen undAusgaben, mit denen allokative und distributive Ziele verfolgt werden. Politisch ist es nur schwer vorstellbar, dassdie Finanzpolitik zentrale Kompetenzen an eine unabhängige Behörde abgibt. Schließlich bleibt das Problem dermangelnden demokratischen Legitimität einer solchen Institution.

Stärkere Fokussierung auf den Schuldenstand

Eine Reihe von Vorschlägen regt an, dem Schuldenstand und der Tragfähigkeit der Finanzpolitik ein größeres Ge-wicht zu verleihen. Buiter und Grafe (2002) schlagen vor, nur langfristig einen durchschnittlichen Ausgleich vonSteuereinnahmen und öffentlichen Ausgaben zu fordern. Wegen ihrer Langfristorientierung ist diese Regel in derPraxis kaum operationalisierbar und kontrollierbar. Auch Pisani-Ferry (2002) fordert, die jährliche Überprüfungdes Defizits durch die Europäische Kommission durch eine mittelfristige Kontrolle der Tragbarkeit der Finanzpo-litik zu ersetzen. Einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet die European Economic Advisory Group (2003), die an-regt, die erlaubte Defizitobergrenze mit dem jeweiligen Verschuldungsniveau zu verbinden und das Defizitverfah-ren zur Stärkung der Sanktionsfähigkeit beim Europäischen Gerichtshof anzusiedeln.

Eine stärkere Berücksichtigung der Schuldenstandsquote weist in die richtige Richtung, leidet jedoch unter erheb-lichen praktischen Umsetzungsproblemen. So ist die jährliche Schuldenstandsquote ein schlechter Indikator für dieTragfähigkeit der Staatsschulden. Alternative Ansätze zur Ermittlung der Tragfähigkeit der Finanzpolitik basierenauf recht komplexen Verfahren, die neben der expliziten Staatsschuld auch die impliziten Staatsschulden, etwa durchPensionsverpflichtungen, erfassen. Der Vorteil dieser Ansätze ist, dass sie den teils massiven Konsolidierungsbedarfklar abbilden. Die Erfassung der Tragfähigkeitslücke sollte im Prozess der Haushaltsüberwachung an Bedeutung ge-winnen; sie sollte den Indikator Schuldenstandsquote jedoch nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen.

Literatur

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Stabilitäts- und Wachstumspakt: Flexibilität überstrapaziert

269

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III. Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

438. Auf europäischer Ebene ist die Nachhaltigkeitoder Tragfähigkeit der Finanzpolitik zur wichtigstenLeitlinie der Haushaltspolitik geworden. So verpflichtetArtikel 121 Absatz 1 EG-Vertrag die Mitgliedstaaten,„eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichenHand“ sicherzustellen. Die Beurteilung nachhaltiger öf-fentlicher Finanzen erfolgt dabei an Hand der Höhe dergesamtstaatlichen Finanzierungssalden oder Schulden-stände. Durch die Vermeidung übermäßiger Defizite imSinne des Artikel 104 Absatz 1 EG-Vertrag mit den Re-ferenzwerten von 3 vH als Obergrenze für die Defizit-quote und 60 vH für die Schuldenstandsquote sowiedurch die in der Entschließung des Europäischen Rateszum Stabilitäts- und Wachstumspakt enthaltene Vorgabeeines mittelfristigen Haushaltsausgleichs soll eine nach-haltige Finanzpolitik gesichert werden.

Auch die Bundesregierung hat in den letzten Jahren derNotwendigkeit einer langfristigen Orientierung der Fi-nanzpolitik eine größere Bedeutung zugeschrieben alseiner kurzfristigen, konjunkturpolitischen Ausrichtung.Forderungen nach „nachhaltig soliden Staatsfinanzen“,„Generationengerechtigkeit“ und einem „tragfähigenSteuer- und Abgabensystem“ prägten die finanzpoliti-sche Debatte und waren und sind zentrale Elemente dervom Bundesministerium der Finanzen im November2000 vorgelegten „Finanzpolitischen Leitplanken“. ImLaufe dieses Jahres traten dann allerdings konjunkturpo-litisch motivierte Überlegungen und Maßnahmen in denVordergrund.

Trotz der großen Akzeptanz, die die Forderung nach ei-ner nachhaltigen oder tragfähigen Finanzpolitik in Öf-fentlichkeit und Politik genießt, fehlt es bislang an einerdiesbezüglichen Berichterstattung in der Haushalts- undFinanzplanung und in der amtlichen Statistik. Das Bun-

desministerium der Finanzen beabsichtigt, im Laufe deskommenden Jahres einen Bericht zur Nachhaltigkeit deröffentlichen Finanzen vorzulegen. Der Sachverständi-genrat teilt die Einschätzung, dass kontinuierliche Trag-fähigkeitsanalysen zu einer größeren Transparenz undVersachlichung der finanzpolitischen Diskussion beitra-gen können. Deshalb werden in diesem Gutachten Vor-gehen und Problematik von Tragfähigkeitsanalysen er-läutert und anhand von Berechnungen illustriert.

Quantitative Analysen erfordern eine Präzisierung undOperationalisierung des Tragfähigkeitsbegriffs. Defizit-quoten oder Schuldenstandsquoten greifen als Tragfä-higkeitsindikatoren zu kurz. Neben der expliziten staatli-chen Verschuldung muss zusätzlich auch eine möglicheimplizite Verschuldung berücksichtigt werden. Das Kon-zept der Tragfähigkeitslücke, das aus einer langfristi-gen Betrachtung der staatlichen Einnahme- und Ausga-benströme abgeleitet wird, beschreibt dann dennotwendigen finanzpolitischen Handlungsbedarf zur Si-cherstellung tragfähiger öffentlicher Haushalte. UnterZugrundelegung plausibler Parameterwerte ergibt sichfür Deutschland im Jahr 2002 eine erhebliche Tragfähig-keitslücke, die die Schuldenstandsquote um ein Mehrfa-ches übersteigt. Bei der Interpretation von Tragfähig-keitslücken ist allerdings Vorsicht geboten, da ihreQuantifizierung mit einer Reihe von methodischen Pro-blemen behaftet ist. Insoweit können numerische Wertefür Tragfähigkeitslücken die verschuldungsorientiertenReferenzwerte des EG-Vertrages nicht ersetzen, wohlaber sinnvoll ergänzen.

Zusätzlich zu den nachfolgenden Ausführungen werdenin den Ziffern 765 ff.) das methodische Grundkonzeptund die Datenbasis unserer Berechnungen genauer be-schrieben.

Nachhaltigkeit, Tragfähigkeit, explizite und implizite Staatsschulden

439. In der wirtschaftspolitischen Debatte über Um-weltpolitik, Sozialpolitik oder Steuer- und Ausgabenpo-litik ist ein inflationärer Gebrauch des Begriffs „Nach-haltigkeit“ festzustellen. Mit ihm werden ökologische,ökonomische und soziale Zielsetzungen sowie Vorstel-lungen über Generationengerechtigkeit assoziiert. Einderart allgemeiner, unspezifischer Nachhaltigkeitsbe-griff ist für quantitative Analysen ungeeignet. Dazu wirdeine präzise, operationalisierbare Definition benötigt. ImFolgenden geht es ausschließlich um die Nachhaltigkeitder öffentlichen Haushalte, das heißt der Haushalte derGebietskörperschaften und der Sozialversicherungen.Der mehrdimensionale Begriff Nachhaltigkeit wird alsoauf seine ökonomische Dimension reduziert und darüberhinaus nur auf die öffentlichen Haushalte bezogen. MitBlick auf diese verengte Sichtweise wird hier von Trag-fähigkeit statt von Nachhaltigkeit gesprochen.

Intuitiv lassen sich die öffentlichen Haushalte als tragfä-hig bezeichnen, wenn die gegenwärtig und die aufGrundlage des geltenden Rechts fortgeschriebenen zu-künftig erzielten staatlichen Einnahmen ausreichen, um

Das Wichtigste in Kürze

(1) Zur Beurteilung der Tragfähigkeit der öffentlichenHaushalte sind neben den expliziten staatlichenSchulden auch die impliziten Staatsschulden ein-zubeziehen, die etwa aus der Gesetzlichen Renten-versicherung oder den Pensionsansprüchen derBeamten resultieren.

(2) Die Tragfähigkeitslücke zeigt einen unabweisba-ren finanzpolitischen und sozialpolitischen Hand-lungsbedarf an. Sie beträgt für das Basisjahr 2002ein Mehrfaches der expliziten Schuldenstands-quote von 60,8 vH.

(3) Die Höhe der impliziten Staatsschuldenquote kannin etwa halbiert werden, wenn das gesetzlicheRenteneintrittsalter langfristig von 65 auf 67 Jahreheraufgesetzt und die Rentenanpassungsformelum einen Nachhaltigkeitsfaktor ergänzt wird.

Öffentliche Haushalte sanieren

270

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sämtliche staatliche Zahlungs- und andere Ausgabenver-pflichtungen abzudecken. Zahlungsverpflichtungen tre-ten zum einen in Form von staatlichen Zinsausgaben undder Tilgung der ausstehenden Staatsschuld auf. Dabeihandelt es sich um verbriefte Forderungen der Inhabervon Staatsschuldtiteln an den Staat; ihr Barwert ent-spricht gerade dem ausgewiesenen, expliziten Schulden-stand, bewertet zu jeweiligen Kursen. Zum anderen stel-len aber auch die durch Beitragszahlungen, etwa zurGesetzlichen Rentenversicherung, erworbenen Anwart-schaften oder die Pensionsansprüche der Beamten zu-künftige Zahlungsverpflichtungen des Staates dar. DieseAnsprüche sind – ebenso wie die Gehaltsansprüche deröffentlichen Bediensteten – unverbrieft; ihre Höhe kanndurch zukünftige gesetzgeberische Maßnahmen beein-flusst werden. Aus Sicht des Staates handelt es sich umimplizite Verbindlichkeiten, die dem Grunde, aber nichtkonkret der Höhe nach bestimmt sind. Diesen Verbind-lichkeiten stehen Steuer- und Beitragseinnahmen gegen-über. Wenn der Barwert aller staatlichen Zahlungsver-pflichtungen unter Einschluss aller anderen geplantenAusgaben den Barwert der zukünftigen Beitrags- undSteuereinnahmen übersteigt, tritt zusätzlich zur explizi-ten noch eine implizite Staatsschuld auf. Zwischen ex-pliziten und impliziten Staatsschulden existieren im Hin-blick auf ihre Verbindlichkeit insofern wichtigeUnterschiede, als Letztere durch Reformen der Systemeder Sozialen Sicherung oder durch eine Konsolidierungder öffentlichen Haushalte abgebaut werden können,während die Bedienung der expliziten öffentlichenSchulden auf privatrechtlichen Verträgen beruht.

Staatliche Finanzierungssalden und Schuldenstände als Tragfähigkeitsindikatoren unzureichend

440. Die Unterscheidung zwischen expliziten und imp-liziten Schulden des Staates macht ungeachtet konzepti-oneller Unterschiede in prägnanter Weise klar, warum

Tragfähigkeitsanalysen, die sich an den jährlich ausge-wiesenen Finanzierungssalden und Schuldenständen ori-entieren, nicht in der Lage sind, den tatsächlichen Kon-solidierungsbedarf korrekt zu erfassen. Zwar werden inder öffentlichen Diskussion Konsolidierungsnotwendig-keit und Konsolidierungserfolge nahezu ausschließlichan der Verletzung oder Erreichung solcher auf ein Jahrbezogenen Indikatoren festgemacht, insbesondere an-hand der im EG-Vertrag spezifizierten Referenzwerte fürdie gesamtstaatliche Defizitquote und – mit Abstri-chen – Schuldenstandsquote; als Indikatoren für dieTragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sind dieseKennziffern jedoch nur unzureichend geeignet. Die ein-geschränkte Aussagekraft von jährlichen Finanzierungs-salden oder Schuldenständen wird offensichtlich, wennman sich den Zusammenhang von umlagefinanziertenRentensystemen und staatlichen Verschuldungsaktivitä-ten klar macht. In einem umlagefinanzierten System derAlterssicherung wird überhaupt keine explizite staatli-che Verschuldung ausgewiesen. Es lässt sich aber zei-gen, dass ein Umlagesystem ökonomisch äquivalent istzu einem ganz bestimmten Zeitpfad einer staatlichenVerschuldung (Kasten 13). Realwirtschaftlich äquiva-lente Zustände können sich demnach im Hinblick auf dieausgewiesenen Finanzierungssalden oder Schulden-stände unterscheiden. Dies zeigt einerseits, dass den ex-pliziten Staatsschulden nur eine sehr eingeschränkteAussagekraft zukommt. Es macht andererseits aber auchdie Notwendigkeit klar, die explizite Staatsschuld durchden Ausweis impliziter Staatsschulden zu ergänzen.Die in einem umlagefinanzierten Alterssicherungssys-tem aufgebaute implizite Staatsschuld entspricht dabeigerade derjenigen expliziten staatlichen Verschuldung,mit der sich ein Umlageverfahren exakt replizieren lässt.Explizite und implizite gesamtstaatliche Verschuldungzusammengenommen geben dann die Verpflichtungenan, die durch zukünftige staatliche Einnahmeüber-schüsse gedeckt sein müssen.

K a s t e n 1 3

Implizite Staatsverschuldung umlagefinanzierter Rentensysteme

Die in einem umlagefinanzierten System der Sozialen Sicherung enthaltene implizite Staatsschuld soll anhand ei-nes drastisch vereinfachten Beispiels illustriert werden. Natürlich könnte dieses Beispiel realitätsnäher ausgestal-tet werden; dann würde alles komplizierter, aber auch undurchsichtiger und weniger klar.

Betrachtet wird ein Modell mit „überlappenden Generationen“, das den Lebenszyklus einer Person in zwei gleichlange Perioden unterteilt. Jede Periode bestehe dabei aus 30 Jahren. Nach einer Erwerbstätigkeit in der ersten Pe-riode wird die zweite im Ruhestand verbracht. In jeder Periode leben dann Erwerbstätige und Rentner, die unter-schiedlichen Generationen beziehungsweise Alterskohorten zuzurechnen sind. Die Erwerbstätigen gehören der indieser Periode geborenen Generation an, die Rentner der in der Vorperiode geborenen. Die Lohnsumme nehme injeder Periode um 50 vH (n = 0,5) zu, der Realzins betrage in jeder Periode 150 % (r = 1,5). Diese Werte ergebensich unter den Annahmen, dass jede Periode 30 Jahre umfasst und der jährliche Realzins 3,1 % und die Zuwachs-rate der Lohnsumme 1,36 vH betragen. Dabei kann offen bleiben, ob die Lohnsumme produktivitäts- oder bevöl-kerungsbedingt zunimmt.

Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

271

Page 298: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

In der Ausgangsperiode wird ein umlagefinanziertes Alterssicherungssystem eingeführt, in dem das sich als kon-stanter Prozentsatz der Lohnsumme ergebende Beitragsaufkommen der Erwerbstätigen gerade 1 000 Euro beträgt(Tabelle 51). Die Auszahlungen der Rentenkasse werden in jeder Periode vollständig über Sozialversicherungs-beiträge der Erwerbstätigen finanziert. Von Erweiterungen wie einem Bundeszuschuss oder einer Schwankungsre-serve wird abgesehen. In der Tabelle sind die in den einzelnen Perioden anfallenden Einzahlungen (–) in die Ren-tenversicherung und Auszahlungen (+) daraus angegeben.

Ta b e l l e 5 1

Finanzierungssaldo und Schuldenstand des staatlichen Gesamthaushalts sind in jeder Periode null, da das Budgetder Rentenversicherung periodisch ausgeglichen ist. Die jeweils eingekreisten Werte geben die von einer Genera-tion geleisteten Beiträge und empfangenen Renten an. Während die in der ersten Periode lebende Rentnergenera-tion einen „Einführungsgewinn“ von 1 000 Euro realisiert, sind die Barwerte der Differenz von Beiträgen undRentenauszahlungen für alle ab der ersten Periode geborenen Generationen negativ. Für die in der Ausgangs-

periode geborene Generation beläuft sich dieser Barwert auf Euro, für die in einer

späteren Periode t geborene Generation beträgt er Euro. Diskontiert man sämtliche ge-

nerationenspezifischen (negativen) Barwerte auf die Ausgangsperiode, ergibt sich eine barwertmäßige Äquivalenzvon Einkommensverlusten und Einführungsgewinn. Dies zeigt die intergenerative Umverteilung eines umlage-finanzierten Alterssicherungssystems an. Was die eine Generation gewinnt, verlieren die anderen; ein umlage-finanziertes Rentensystem ist ein intergeneratives Nullsummenspiel.

+1 000 -1 000 - -

+1 500 -1 500 - -

+2 250 -2 250 - -

+3 375 -3 375 - -

+5 062,50 -5 062,50 - -

. . - -

5

6

1

2

3

4

Umlagefinanziertes RentensystemEuro

Periode

Staatlicher

Finanzie- rungs- saldo

Schulden-standzum

Perioden-ende

Alters-einkünfte

der Rentner

Beiträgeder

Erwerbs-tätigen

1 000 1 5001 1 5,+------------------+– 400–=

1 000 1 5t 1 5t 1+,1 1 5,+------------------–,⋅–

Öffentliche Haushalte sanieren

272

Page 299: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Unter denselben Annahmen wird in Tabelle 52 der Fall betrachtet, dass in der Ausgangsperiode staatliche Transfersin Höhe von 1 000 Euro an die in dieser Periode lebenden Rentner geleistet werden. Dazu nimmt der Staat zu Be-ginn der Periode einen entsprechenden Kredit auf, der mit dem Marktzins von 150 % pro Periode (oder 3,1 % proJahr) zu verzinsen ist. Dabei handelt es sich um Papiere mit einer Laufzeit von einer Periode, die von den in derAusgangsperiode lebenden Erwerbstätigen zum Zwecke der Altersvorsorge gezeichnet werden. Zu Beginn derzweiten Periode werden die in der Vorperiode aufgenommenen staatlichen Kredite getilgt. Dies führt zu entspre-chenden Einnahmen bei den in dieser Periode lebenden Rentnern, die überdies Zinseinkünfte in Höhe von1 500 Euro beziehen und diese versteuern müssen. Sie sind als staatliche Transfers ausgewiesen. Der staatliche Fi-nanzbedarf beläuft sich in der zweiten Periode also auf 2 500 Euro oder das (1+r)-fache der Ausgangsschulden. An-genommen sei jetzt, dass davon 1 500 Euro – oder das (1+n)-fache der Ausgangsschuld – über eine erneute Kredit-aufnahme finanziert werden. Die verbleibende Differenz von 1 000 Euro – allgemeiner: das (r-n)-fache derAusgangsschuld – wird über Steuern finanziert, die von den Rentnern erhoben werden. Die verfügbaren Einkom-men der Rentner in der zweiten Periode belaufen sich dann auf 1 500 Euro. Der staatliche Finanzierungssaldo ergibtsich als Differenz von (Brutto-)Kreditaufnahme in Höhe von 1 500 Euro und Schuldentilgung von 1 000 Euro. Diein den weiteren Zeilen der Tabelle angegebenen Einzahlungen und Auszahlungen erklären sich analog.

Der Vergleich der beiden Tabellen zeigt, dass sich für die einzelnen Generationen exakt dieselben Netto-Einkom-men und Ausgaben ergeben. Aus Sicht der privaten Haushalte, und nur darauf kommt es an, sind die betrachtetenSachverhalte – umlagefinanzierte Alterssicherung einerseits, kreditfinanzierte staatliche Transfers andererseits –identisch. Die staatlichen Finanzierungssalden und Schuldenstände sind in den behandelten Fällen allerdings un-terschiedlich. Damit sollte klar geworden sein, dass den herkömmlichen finanzpolitischen Indikatoren Finanzie-rungssaldo und Schuldenstand keine Aussagekraft im Hinblick auf Generationengerechtigkeit oder Tragfähigkeitder Finanzpolitik zukommt.

Ta b e l l e 5 2

Die in der letzten Spalte von Tabelle 52 ausgewiesenen Schuldenstände stellen gerade die implizite Verschuldungdar, die einem umlagefinanzierten Alterssicherungssystem zum Zeitpunkt t zuzuordnen ist. So beläuft sich im Bei-spiel die implizite Verschuldung eines in Periode 5 befindlichen Umlagesystems auf 5 062,50 Euro. Diese impli-zite Schuld entspricht den zukünftigen Netto-Verpflichtungen der Beitragszahler in der umlagefinanzierten Ren-tenversicherung.

Kreditfinanzierung von TransfersEuro

+ 1 000 - - + 1 000 - 1 000 - 1 000 + 1 000

+ 1 500 + 1 000 - 1 000 + 1 500 - 1 500 - 500 + 1 500

+ 2 250 + 1 500 - 1 500 + 2 250 - 2 250 - 750 + 2 250

+ 3 375 + 2 250 - 2 250 + 3 375 - 3 375 - 1 125 + 3 375

+ 5 062,50 + 3 375 - 3 375 + 5 062,50 - 5 062,50 - 1 687,50 + 5 062,50

. . . . . . .

Verfügbare Einkommen

Einnahmen und Steuern der Rentner Staatlicher

Finanzie- rungs- saldo

Schuldenstand zum

PeriodenendeSteuern

Ausgabender Erwerbs-tätigen fürErwerb von

Staatspapieren

Verkaufvon

Staats-papieren

Staatliche Transfers

Periode

1

2

3

4

5

6

Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

273

Page 300: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Definition und Ermittlung von Tragfähigkeitslücken

441. Da es bei der Ermittlung der Tragfähigkeit öffent-licher Haushalte wesentlich auf die zukünftigen staatli-chen Einnahmen und Ausgaben ankommt, müssen Trag-fähigkeitsindikatoren zwingend aus einer in die Zukunftgerichteten Betrachtung der staatlichen Einnahmen undAusgaben, der intertemporalen Budgetgleichung desStaates, abgeleitet werden. Um in unterschiedlichenJahren anfallende Einnahmen und Ausgaben vergleich-bar zu machen, sind die entsprechenden Barwerte zu er-mitteln. Geht man von einer sehr langfristigen Betrach-tung aus, erfordert die Einhaltung der intertemporalenstaatlichen Budgetgleichung, dass der Barwert aller Pri-märsalden dem Schuldenstand der Ausgangsperiode ent-spricht. Der Primärsaldo ist dabei die Differenz vonstaatlichen Einnahmen und staatlichen Ausgaben (ohneZinsausgaben). Bei positivem Saldo liegt ein Primär-überschuss vor, andernfalls ein Primärdefizit. Die inter-temporale staatliche Budgetbeschränkung ist eine Identi-tät, die ex post erfüllt sein muss. Ex ante werden diegeplanten oder die in die Zukunft fortgeschriebenenstaatlichen Einnahmen und Ausgaben die intertemporaleBudgetrestriktion jedoch nicht notwendigerweise erfül-len. Von einer tragfähigen Finanzpolitik spricht mandann, wenn der Gegenwartswert der geplanten Primär-überschüsse dem aktuellen Schuldenstand entspricht, dieintertemporale staatliche Budgetgleichung also ex anteerfüllt ist. Umgekehrt ist die Finanzpolitik nicht tragfä-hig, wenn aus Ex-ante-Sicht der Gegenwartswert derPrimärsalden nicht ausreicht, um die Verbindlichkeitenin Höhe der Staatsschulden zu decken. Die Differenzwird als Tragfähigkeitslücke bezeichnet. In ihrer Höheergibt sich ein unabweisbarer finanzpolitischer Korrek-turbedarf. Je größer die Tragfähigkeitslücke, desto grö-ßer ist der finanzpolitische Anpassungsbedarf.

442. Tragfähigkeitslücken lassen sich alternativ, aberäquivalent entweder über die Barwerte der zukünftigenPrimärsalden oder über die Generationenkonten der le-benden und zukünftigen Generationen ermitteln, bei zu-sätzlicher Berücksichtigung der Schuldenstandquote desBasisjahres (Gleichungen 6 und 9 in den Ziffern (769)und (770)). In sämtlichen Jahren treten Primärdefiziteauf, mit im Zeitablauf ansteigender Tendenz. ImJahr 2050 erreichen die Primärdefizite einen Wert vonetwa 7 vH in Relation zum Bruttoinlandsprodukt(Schaubild 64). In diesem Verlauf spiegeln sich die zu-nehmenden finanziellen Verbindlichkeiten der sozialenSicherungssysteme in Folge des demographischen Wan-dels wider. Zusätzlich zu den zukünftig anfallendenMehrbelastungen sind dann noch die im Basisjahr vor-handenen expliziten Staatsschulden zu bedienen. Die ho-hen zukünftigen Primärdefizite schlagen sich in derhohen Tragfähigkeitslücke nieder. Eine tragfähige Fi-nanzpolitik würde demgegenüber die Realisierung vonPrimärüberschüssen erfordern.

443. Statt über Primärsalden lässt sich die Tragfähig-keit der öffentlichen Haushalte auch über so genannteGenerationenkonten ermitteln. Tatsächlich weist dieseVorgehensweise zur Ermittlung von Tragfähigkeitslü-cken bestimmte Vorteile auf. Tragfähigkeitslücken sind

in beträchtlichem Umfang auf die demographische Ent-wicklung zurückzuführen. Die demographisch bedingtenBelastungen der öffentlichen Haushalte lassen sich beieiner, den Generationenkonten zugrunde liegendenaltersspezifischen Zuordnung zukünftiger staatlicherEinnahmen und Ausgaben aber verlässlicher prognosti-zieren, während Primärsalden die Demographieabhän-gigkeit des Staatsbudgets eher verdecken.

Für jede Alterskohorte weist das entsprechende Gene-rationenkonto im Jahr 2002 den Barwert der Netto-Abgabenbelastung über den gesamten verbleibendenLebenszyklus aus, das heißt, den Barwert der generatio-nenspezifischen Abgabenbelastung abzüglich des Bar-werts der einer Generation zurechenbaren staatlichenAusgaben (Schaubild 65). Ein positives Generationen-konto entspricht einer Nettozahlung; die geleisteten oderzu leistenden Abgaben übersteigen also barwertmäßigdie empfangenen Transferleistungen und die sonstigenzurechenbaren staatlichen Ausgaben. Umgekehrt zeigtein negatives Generationenkonto an, dass ein Mitglieddieser Generation in seiner verbleibenden Lebenszeitper saldo mehr Leistungen vom Staat erhält als es Abga-ben abführt. Eine 25-jährige Person muss im Jahr 2002für die Restlebenszeit mit einer Nettozahlung von imBarwert 104 800 Euro rechnen, während eine imJahr 2002 geborene Person einen Nettotransfer von ins-gesamt 59 200 Euro erhält. Wegen der zunehmenden Le-bensdauer und eines entsprechend längeren Bezugs vonTransferleistungen im Alter erhalten die zukünftigen Ge-

S c h a u b i l d 6 4

2

4

6

8

10

0

2

4

6

8

10

02002 2010 2020 2030 2040 2050

- Basisjahr 2002 -

Primärdefizit in Relation zum Bruttoinlandsprodukt1)

für die Jahre 2002 bis 2050

vH vH

SR 2003 - 12 - 0659

1) Ausgaben (ohne Zinsausgaben) abzüglich Einnahmen des Staates.

Öffentliche Haushalte sanieren

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Page 301: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

nerationen pro Kopf höhere Nettotransfers als eine imAusgangsjahr geborene Person. Die Nettotransfers zu-künftiger Generationen sind im Schaubild nicht darge-stellt; sie entsprechen in etwa denjenigen der im Basis-jahr geborenen Personen.

Da alle vergangenen, vor dem Basisjahr geleistetenZahlungen und empfangenen öffentlichen Leistungen inden Generationenkonten außer Acht gelassen werden– es finden nur die gegenwärtigen und zukünftigen Zah-lungsströme Berücksichtigung –, können Generationen-konten für unterschiedliche, vor dem Basisjahr geboreneAlterskohorten nicht sinnvoll miteinander verglichenwerden. Gleichwohl vermitteln die Generationenkontenfür sich genommen interessante Informationen. Wennstatt der Niveaus die Veränderungen der Generationen-konten aufgrund von Politikmaßnahmen betrachtet wer-den, können die Nettozahlungen oder Nettotransfersauch sinnvoll für alle Alterskohorten verglichen werden.Summiert man die mit der jeweiligen Jahrgangsstärkegewichteten Nettotransfers und Nettozahlungen allerheute und zukünftig lebenden Generationen, entsprichtdies dem Barwert der staatlichen Primärsalden und da-mit den impliziten Schulden. Durch Addition des explizi-ten Schuldenstands erhält man dann die Tragfähigkeits-lücke.

Bis zu dieser Stelle ist das Konzept der Generationenbi-lanzierung vergleichsweise unproblematisch, sieht manvon Schwierigkeiten einer altersspezifischen Zuordnungder staatlichen Ausgaben und Einnahmen ab. Erhebli-

che Vorbehalte sind allerdings dann angebracht, wenn,wie in vielen Anwendungen von Generationenbilanzenüblich, die zur Schließung einer Tragfähigkeitslücke er-forderlichen Zahlungsströme einzelnen Generationenzugerechnet werden. Angenommen wird dabei regelmä-ßig, dass ausschließlich die zukünftigen Generationendie Lasten aus der Schließung einer Tragfähigkeitslückein Form höherer Nettozahlungen tragen. Das ist inso-fern unplausibel, als zwei aufeinander folgende Geburts-jahrgänge – die im Basisjahr und die nur ein Jahr späterGeborenen, die jahrzehntelang nebeneinander leben – invöllig unterschiedlicher Weise belastet werden, um eineTragfähigkeitslücke zu schließen. Wenn Generationen-konten jedoch ausschließlich zur Ermittlung von Tragfä-higkeitslücken verwendet werden, von einer Zuordnungder Tragfähigkeitslücke auf Generationen also abgese-hen wird, ist diese Kritik am Konzept der Generationen-bilanzierung nicht weiter relevant. Dieses Vorgehen wirdhier gewählt.

444. Die Ermittlung von Tragfähigkeitslücken hat fürsich genommen nichts mit irgendwelchen Vorstellungenvon Generationengerechtigkeit zu tun. Erst im Zusam-menhang mit den zur Schließung von Tragfähigkeitslü-cken vorgesehenen Maßnahmen werden intergenerativeGerechtigkeitsurteile und Verteilungseffekte relevant.Die Belastung gegenwärtiger und zukünftiger Generatio-nen hängt dann davon ab, ob und wie Ausgabenkürzun-gen oder auch Abgabenerhöhungen in der Gegenwartoder in der Zukunft vorgenommen werden.

S c h a u b i l d 6 5

-280

-240

-200

-160

-120

-80

-40

40

80

120

160

0

1 000 Euro

-280

-240

-200

-160

-120

-80

-40

40

80

120

160

0

1 000 Euro

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95Lebensalter im Jahr 2002

Generationenbilanz 2002

Nettozahlungenin Barwerten

Nettotransfersin Barwerten

SR 2003 - 12 - 0633

=3,0%, =1,5 vHr n

Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

275

Page 302: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Quantifizierung von Tragfähigkeitslücken und Konsolidierungserfordernisse

445. Bei der Berechnung der Tragfähigkeitslücken deröffentlichen Haushalte in Deutschland im Basis-jahr 2002 kann zwischen dem tatsächlichen – in denVolkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ausgewiese-nen – Budget und einem konjunkturell bereinigten Bud-get unterschieden werden. Prinzipiell empfiehlt sichdies, weil die Wahl des Ausgangsjahrs für die Höhe derTragfähigkeitslücke insofern von Bedeutung ist, als dasstaatliche Budget dieser Periode Ausgangspunkt für dieFortschreibung der Einnahmen und Ausgaben in die Zu-kunft ist und der Primärsaldo des Basisjahrs durch kon-junkturelle und andere temporäre Effekte (wie etwaUMTS-Lizenzerlöse) verzerrt werden kann. Diesen Pro-blemen lässt sich durch Eliminierung von Einmaleffek-ten und einer Konjunkturbereinigung Rechnung tragen.Bei den Berechnungen für das Basisjahr 2002 wird je-doch von der konjunkturellen Bereinigung des Budgetsabgesehen, da sich kaum nennenswerte Unterschiedezwischen dem bereinigten und dem unbereinigten Bud-get ergeben.

Unter Zugrundelegung einer jährlichen Zuwachsrate desBruttoinlandsprodukts von 1,5 vH und eines Marktzin-ses von 3 % beläuft sich die Tragfähigkeitslücke für dasBasisjahr 2002 auf etwa 330 vH in Relation zum nomi-nalen Bruttoinlandsprodukt (Schaubild 66). Berücksich-tigt man, dass die explizite Staatsverschuldung imJahr 2002 bei 60,8 vH gelegen hat, so verbleiben impli-zite, nicht verbriefte Staatsschulden in Höhe von etwa270 vH. Diese resultieren im Wesentlichen aus den An-sprüchen an die umlagefinanzierten Sozialversiche-rungssysteme einschließlich der Pensionsansprüche(JG 2001 Ziffern 219 ff.) und den nicht durch Ausgaben-kürzungen gedeckten Einnahmeausfällen der in den letz-ten Jahren implementierten Steuerreformen. Unter dengetroffenen Annahmen übersteigen die implizitenStaatsschulden die expliziten also um einen Faktor vonfast 4,5.

446. Tragfähigkeitslücken in dieser Größenordnungzeigen einen erheblichen finanzpolitischen oder sozial-politischen Korrekturbedarf an. Zu ihrer Schließungmüssen dann entweder die staatlichen Einnahmen er-höht, die staatlichen Ausgaben gekürzt oder Ausgaben-kürzungen mit Einnahmeerhöhungen kombiniert wer-den. Dieser Korrekturbedarf lässt sich mit Hilfe zweieraggregierter Kennziffern veranschaulichen, dem einheit-lichen Ausgabenkürzungssatz und dem Abgabenerhö-hungssatz.

Die erste Kennziffer für den finanzpolitischen Korrek-turbedarf, der Ausgabenkürzungssatz, gibt denjenigenProzentsatz an, um den alle gegenwärtigen und zukünfti-gen staatlichen Ausgaben einheitlich zu kürzen sind, umbei gegebenem Zeitpfad der öffentlichen Einnahmen dieTragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sicherzustellen.In den Berechnungen für das Basisjahr 2002 ermitteltman für diesen Satz einen Wert von 12,1 vH. SämtlicheStaatsausgaben, die gegenwärtigen und die aus heutigerSicht in die Zukunft fortgeschriebenen, müssten dem-

nach um rund 12 vH reduziert werden, damit tragfähigeöffentliche Finanzen garantiert sind. Im Basisjahr 2002hätte dies eine Rückführung der staatlichen Ausgaben-quote von 48,5 vH auf 42,6 vH bedeutet beziehungs-weise eine Kürzung der staatlichen Ausgaben um125 Mrd Euro. Werden nur bestimmte Staatsausgaben-kategorien gekürzt, oder werden die Staatsausgaben nurfür begrenzte Zeiträume reduziert, müssen die Ausga-benkürzungen entsprechend höher ausfallen. Alternativgibt der Abgabenerhöhungssatz denjenigen Prozentsatzan, um den sämtliche Abgaben in allen Perioden erhöhtwerden müssten, damit bei gegebenem Zeitpfad derstaatlichen Ausgaben die Tragfähigkeitslücke beseitigtwird. Dieser Satz beläuft sich auf 14,5 vH. Bei positivenimpliziten Staatsschulden muss der Abgabenerhöhungs-satz numerisch größer sein als der Ausgabenkürzungs-satz, da der Barwert der staatlichen Ausgaben den derEinnahmen übersteigt.

Rein rechnerisch sind Ausgabenkürzungen und Abga-benerhöhungen gleichermaßen geeignet, eine Tragfähig-keitslücke zu schließen. Dies liegt daran, dass in den hierverwendeten Methoden zur Ermittlung von Trag-fähigkeitslücken Verhaltensanpassungen der privatenWirtschaftseinheiten und Preisreaktionen als Folge staat-licher Konsolidierungsmaßnahmen unberücksichtigtbleiben. In der Realität ist aber mit solchen Reaktionenzu rechnen, so dass Ausgabenkürzungen und Abgaben-

S c h a u b i l d 6 6

Tragfähigkeitslücke für das Jahr 2002

270,5

60,8

331,3

SR 2003 - 12 - 0654

Abgaben-erhöhungs-satz: 14,5 vH1)

Ausgaben-kürzungs-satz: 12,1 vH1)

- in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH -

Implizite Staatsschuld Explizite Staatsschuld

1) Zu den Einzelheiten siehe Ziffer 446.

Öffentliche Haushalte sanieren

276

Page 303: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

erhöhungen keineswegs gleichwertige Instrumente zurBeseitigung einer Tragfähigkeitslücke sind. Berücksich-tigt man die genannten Anpassungsreaktionen, sprichtalles dafür, erforderliche Konsolidierungsmaßnahmenauf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte oderdurch den Abbau von Steuervergünstigungen, nicht aberdurch Erhöhung von Steuersätzen durchzuführen. DieSkepsis gegenüber Steuersatzerhöhungen beruht auf ih-ren negativen Wohlfahrts- und Wachstumseffekten(Ziffern 819 ff. und JG 2002 Ziffer 379), die aber geradein Tragfähigkeitsanalysen nicht erfasst werden. Bei derInterpretation von Tragfähigkeitslücken und ausgaben-oder einnahmeseitigen Korrekturfaktoren ist also Vor-sicht angebracht. Sie indizieren zwar einen unabweisba-ren finanzpolitischen Handlungsbedarf; aus ihnen lassensich aber für sich genommen noch keine ökonomisch be-gründeten Empfehlungen über die zur Schließung dieserLücken angebrachten finanzpolitischen Maßnahmen ab-leiten. Dazu muss auf Erkenntnisse der ökonomischenTheorie und auf empirische Untersuchungen zurückge-griffen werden. Dann ist das Ergebnis aber klar: DieKonsolidierung der öffentlichen Hauhalte ist über Aus-gabenkürzungen und den Abbau von Steuervergünsti-gungen vorzunehmen, nicht aber über Erhöhungen vonAbgabensätzen (Ziffern 807 ff.).

Bestimmungsgründe der Tragfähigkeitslücke und Sensitivitätsanalysen

447. Die unter den gesetzten Annahmen bezüglichWachstumsrate und Zinssatz ermittelten hohen Tragfä-higkeitslücken und impliziten Schuldenquoten werfendie Frage nach den tieferen Ursachen auf. Diese liegenzum großen Teil in der absehbaren demographischenEntwicklung.

Den Berechnungen zur Tragfähigkeit der öffentlichenHaushalte liegen die Ergebnisse und Annahmen derfünften (mittleren) Variante der 10. koordinierten Bevöl-kerungsvorausberechnung zugrunde, die das Statisti-sche Bundesamt im Juni dieses Jahres veröffentlicht hat.Danach zeichnen sich in den kommenden 50 Jahren mar-kante Änderungen im Hinblick auf Niveau und Al-tersaufbau der deutschen Bevölkerung ab. Bis zumJahr 2050 wird die Bevölkerungszahl von rund 82,5 Mil-lionen Einwohnern auf 75,1 Millionen zurückgehen.Gleichzeitig kommt es zu einer erheblichen Veränderungin der Altersstruktur, die durch sinkende Geburtenzahlen(bei konstanter Geburtenziffer) und einen Anstieg derLebenserwartung bewirkt wird. So wird der Altenquoti-ent, die Relation der 65-jährigen und älteren Personenzur Zahl der 20- bis 64-jährigen, von etwa 28 vH imJahr 2001 auf fast 55 vH im Jahr 2050 zunehmen.

448. Die absehbare demographische Entwicklung hatweit reichende Konsequenzen für die umlagefinanzier-ten Systeme der Sozialen Sicherung und darüber auf dieTragfähigkeit der öffentlichen Haushalte. Um dieseKonsequenzen und den qualitativen und quantitativenHandlungsbedarf der Finanz- und Sozialpolitik zuverdeutlichen, soll die Abhängigkeit der Tragfähigkeits-

lücke von einzelnen Determinanten der Bevölkerungs-entwicklung durch einige Simulationsrechnungen aufge-zeigt werden. Die demographische Entwicklung istdabei auf die folgenden drei Bestimmungsgründe zu-rückzuführen: die Geburtenhäufigkeit, die Lebenserwar-tung sowie die Migration.

Die zusammengefasste Geburtenziffer gibt die durch-schnittliche Kinderzahl an, die eine Frau im Laufe ihresLebens gebärt. Sie liegt in Deutschland gegenwärtig bei1,4 und damit unter dem Wert in den meisten anderenLändern (Tabelle 53). Um den Stand der Bevölkerungkonstant zu halten, wäre eine Geburtenziffer von

Ta b e l l e 5 3

Männlich Weiblich

Belgien ........................ 1,64 74,5 80,1 Dänemark .................... 1,75 74,3 78,9 Deutschland ................. 1,35 75,1 81,1 Finnland ....................... 1,73 74,6 81,5 Frankreich .................... 1,89 75,5 82,9 Griechenland ............... 1,25 75,4 80,7 Irland ........................... 1,98 73,0 78,5 Italien ........................... 1,25 76,7 82,8 Luxemburg .................. 1,65 74,9 81,3 Niederlande ................. 1,71 75,8 80,7 Österreich .................... 1,33 75,6 81,6 Portugal ....................... 1,46 73,5 80,3 Schweden ..................... 1,57 77,5 82,1 Spanien ........................ 1,24 75,6 82,9 Vereinigtes Königreich 1,65 78,3 80,4

Europäische Union (EU-15) ...................... 1,46 75,5 81,6

Island ........................... 1,95 78,3 82,9 Japan ............................ 1,41 77,6 84,2 Norwegen .................... 1,78 76,2 81,3 Schweiz ....................... 1,41 77,2 82,8 Vereinigte Staaten ....... 2,06 74,4 80,0

1) Zusammengefasste Geburtenziffer; durchschnittliche Zahl der Kin-der, die eine Frau im Laufe ihres Lebens gebärt, und zwar unter der An-nahme, dass sich die altersspezifischen Geburtenziffern künftig nichtändern. Es wird davon ausgegangen, dass in den Industrieländern bei2,1 Kindern je Frau der Erhalt der Bevölkerung gesichert ist. Für Japanund die Vereinigten Staaten im Jahr 2000. - 2) Für Luxemburg imJahr 2000.

Quelle: EU

Lebenserwartung eines im Jahr 2001

Neugeborenen2)

Geburten-

ziffer1)

(2001)

Geburtenziffer und Lebenserwartungin ausgewählten Ländern

Land/Ländergruppe

Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

277

Page 304: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

etwa 2,1 erforderlich, weil regelmäßig mehr Jungen alsMädchen geboren werden. In der 10. koordinierten Be-völkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundes-amtes wird unterstellt, dass die Geburtenziffer von 1,4dauerhaft ist. Die Lebenserwartung für beide Geschlech-ter ist aktuell in Deutschland verglichen mit anderenLändern unterdurchschnittlich. Für Tragfähigkeitsanaly-sen relevant ist allerdings weniger das Niveau als dieVeränderung der Lebenserwartung. Unter anderem auf-grund medizinischen Fortschritts sowie verbesserter Ar-beitsbedingungen ist die Lebenserwartung von neugebo-renen Mädchen zwischen 1950 und 2000 in Deutschlandum mehr als zwölf Jahre und für Jungen um mehr alszehn Jahre gestiegen.

Für die Zukunft ist gemäß der 10. koordinierten Bevöl-kerungsvorausberechnung mit einer weiteren Zunahmeder Lebenserwartung zu rechnen (Tabelle 54). In Bezugauf die Außenwanderung wird unterstellt, dass sich dieNettozuwanderung von Deutschen wegen des versiegen-den Zustroms von Aussiedlern bis zum Jahr 2040 aufnull reduziert. Im Hinblick auf die Nettozuwanderungvon Ausländern wird alternativ von einer jährlichen Net-tozuwanderung von 100 000 bis maximal 300 000 Per-

sonen ausgegangen. Insgesamt werden in der 10. koordi-nierten Bevölkerungsvorausberechnung neun Variantenberechnet, die sich in den Annahmen über Außenwande-rung und Lebenserwartung unterscheiden.

449. Die Abhängigkeit der Tragfähigkeitslücke vonden unterschiedlichen Bestimmungsgründen der demo-graphischen Entwicklung wird deutlich, wenn Annah-men über Lebenserwartung und Außenwanderungschrittweise variiert werden. Die markierten Felder inTabelle 54 beschreiben das Vorgehen.

Ausgehend von der Basissimulation, die der fünften(mittleren) Variante der jüngsten Bevölkerungsprognoseentspricht, werden mit den Simulationen I und II derEinfluss unterschiedlicher Annahmen über die Lebenser-wartung auf die Tragfähigkeitslücken isoliert (Schau-bild 67). Simulation I basiert auf der zweiten Variantedes Statistischen Bundesamtes; in Simulation II wird un-terstellt, dass die Lebenserwartung des Jahres 2000 un-verändert auch in allen späteren Jahren gilt. Man sieht,dass sich die Tragfähigkeitslücke in Simulation II mehrals halbiert; die implizite Schuldenstandsquote geht so-gar um fast zwei Drittel ihres Ausgangswerts zurück.

Ta b e l l e 5 4

Annahmen zur Wanderung (Personen)2):

100 000 200 000 Bis 2010: 200 000Ab 2011: 300 000

Im Jahr 2000m w

bei Geburt 74,8 80,8 im Alter von 60 Jahren 79,2 83,5

Im Jahr 2050m w

bei Geburt 78,9 85,7 im Alter von 60 Jahren 82,0 87,7

m wbei Geburt 81,1 86,6 im Alter von 60 Jahren 83,7 88,2

m wbei Geburt 82,6 88,1 im Alter von 60 Jahren 84,9 89,4

1) m = männlich, w = weiblich. - 2) bis Varianten gemäß der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundes-amtes vom Juni 2003.

- Deutsche: Schrittweiser Abbau des Wanderungsüberschusses von jährlich 80 000 bis auf null im Jahr 2040

- Ausländer: Nettozuwanderung von jährlichLebenserwartung (Jahre)1)

Annahmen zur demographischen Entwicklung

II

IIII

Basis-simu- lation

IV

1 2 3

4 5

87 9

6

1 9

Öffentliche Haushalte sanieren

278

Page 305: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Deutlich wird der große Einfluss der zunehmenden Le-benserwartung auf die Tragfähigkeit der öffentlichenHaushalte. Demgegenüber haben unterschiedliche An-nahmen über die Außenwanderung einen weitaus gerin-geren Einfluss auf die Tragfähigkeitslücke. Dies zeigtder Vergleich der Simulationen I und III. Mit Simula-tion IV wird gegenüber der Basissimulation ein günsti-geres Zuwanderungsszenario betrachtet, bei gleichzeitigzunehmender Lebenserwartung. Einmal mehr wird diegroße Bedeutung der sich verändernden Lebenserwar-tung offenkundig.

450. Die Höhe der Tragfähigkeitslücke hängt nicht nurvon Annahmen über die demographische Entwicklungab, sondern auch und vor allem von der Differenz zwi-schen dem unterstellten Zins und der angenommenenWachstumsrate, dem Zins-Wachstums-Differential. Diegroße Bedeutung dieser Größe ist aus der Wachstums-theorie bekannt.

Gemäß Ziffer 769 ergibt sich die Tragfähigkeitslücke in Relation zum Bruttoinlandsprodukt der Aus-

gangsperiode als Summe des gegenwärtigen Schulden-stands und des Barwerts aller sich bei Fortschreibung

der aktuellen Finanzpolitik ergebenden Primärsalden, jeweils in Relation zum Bruttoinlandsprodukt:

Für gegebene und nimmt die Tragfähigkeitslückebei höherem Zinssatz r und festem n ab und mit höhererWachstumsrate n bei festem r zu, vorausgesetzt, dass derBarwert aller Primärsalden negativ ist und damit impli-zite Schulden vorliegen. Dass es dabei letztlich auf dasZins-Wachstums-Differential ankommt, wird deutlichdurch die Umformung

Je größer die Differenz (r-n), desto kleiner ist der Bar-wert der Primärsalden und – falls dieser negativ ist –damit auch die Tragfähigkeitslücke. Ökonomisch leuch-tet dies unmittelbar ein: Ein höherer Marktzins reduziertbei gegebenem n den Barwert der Primärdefizite; mit

S c h a u b i l d 6 7

50

100

150

200

250

300

350

400

450

0

vH

50

100

150

200

250

300

350

400

450

0

vH

Basissimulation Simulation I Simulation II Simulation III Simulation IV

Tragfähigkeitslücken für das Jahr 2002 in Simulationsexperimenten1)

60,8 60,8 60,8 60,8 60,8

270,5

222,5

95,2

235,5

315,3

331,3

296,3

376,1

SR 2003 - 12 - 0632

156,0

Implizite Staatsschuld Explizite Staatsschuld

283,3

- in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH -

1) Zu den Einzelheiten siehe Ziffern 445 ff.

TL0y

b0y

pty

∑∞

=

+

++

+−=

0

1

001

1

1t

tytyy

r

n

n

pbTL .

b0y pt

y

r

nr

r

n

+−−=

++

11

1

1.

Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

279

Page 306: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

einer geringeren Wachstumsrate des Bruttoinlandspro-dukts nehmen unter der Annahme gegebener Primärdefi-zitquoten die Primärdefizite ab und bei festem r auch de-ren Barwerte.

Problematisch ist dabei der Sachverhalt, dass das Aus-maß der Tragfähigkeitslücke erheblich auf Änderungendes Zins-Wachstums-Differentials reagiert (Tabelle 55).So lässt beispielsweise eine um 0,5 Prozentpunkte ver-ringerte (1,0 Prozentpunkte vergrößerte) Differenz dieTragfähigkeitslücke von rund 330 vH auf über 460 vHanwachsen (auf knapp 210 vH schrumpfen). Somit kannes zu Irritationen und Missverständnissen kommen,wenn in der finanzpolitischen Debatte mit unterschied-lich hohen Tragfähigkeitslücken argumentiert wird.Diese Ausführungen legen eine besondere Vorsicht beider Interpretation der Niveaus von Tragfähigkeitslückennahe. Es wird auch deutlich, dass die Ausgabenkür-zungs- und Steuererhöhungssätze weitaus weniger sensi-tiv auf Veränderungen der Spanne zwischen Wachstums-rate und Zinssatz reagieren als die Tragfähigkeitslücken.Dies liegt daran, dass die Korrekturfaktoren Prozent-sätze sind und das Zins-Wachstums-Differential in denZähler und Nenner eingeht. Insofern stellen die Korrek-tursätze weniger missverständliche, allerdings auch we-niger anschauliche Indikatoren für die Tragfähigkeit deröffentlichen Haushalte dar.

451. Betrachtet man den Einfluss von Politikänderun-gen oder Änderungen in der demographischen Entwick-lung auf die Tragfähigkeitslücke, sind die relativen Än-derungen der Tragfähigkeitslücke oder der implizitenStaatsschuld robuster gegenüber dem Zins-Wachstums-Differential. Dies wird aus Tabelle 56 deutlich, in der die

Auswirkungen der in Tabelle 54 markierten Demogra-phie-Experimente auf die Tragfähigkeitslücken und de-ren Veränderung für unterschiedliche Zins-Wachstums-Differenzen dargestellt sind. Der Einfluss der Finanzpo-litik auf die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushaltewird deshalb am aussagekräftigsten über die relativeVeränderung der Tragfähigkeitslücke oder der implizitenStaatsschuld erfasst. Allerdings sind auch dann belast-bare Aussagen nur innerhalb bestimmter Bandbreitenmöglich.

Rentenreform und Tragfähigkeitslücke

452. Die letzte Tabelle verdeutlicht, dass die Tragfä-higkeitslücke in hohem Maße von der Veränderung derBevölkerungsstruktur, insbesondere der steigenden Le-benserwartung beeinflusst wird. Diese wiederum hatvor allem Auswirkungen auf die umlagefinanziertenSozialversicherungssysteme. Nun lässt sich die Verän-derung der Lebenserwartung durch finanzpolitischeMaßnahmen gar nicht oder nur marginal beeinflussen;sie hängt in erster Linie vom medizinischen Fortschritt,vom Ernährungsverhalten und anderen für die Politikweitgehend exogenen Faktoren ab. Deshalb muss derAbbau der Tragfähigkeitslücke an der Einnahme- oderAusgabenseite der Systeme der Sozialen Sicherung an-setzen. Dazu hat der Sachverständigenrat weit rei-chende Vorschläge unterbreitet (zuletzt JG 2002Ziffern 483 ff.), die von der Rürup-Kommission aufge-nommen, präzisiert und erweitert wurden (Zif-fern 306 ff., 338 ff., 358 f.). Die Maßnahmen zur Re-form der Rentenversicherung zielen dabei auf dieSicherstellung der Tragfähigkeit dieses Zweigs der So-

Ta b e l l e 5 5

Zinssatz .................................... 3,0 Wachstumsrate ......................... 1,5

Zinssatz .................................... 2,5 Wachstumsrate ......................... 1,5

Zinssatz .................................... 4,0 Wachstumsrate ......................... 1,5

Zinssatz .................................... 4,0 Wachstumsrate ......................... 1,75

1) In Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH.

13,8

%/vH

vH1) vH

Tragfähig- keitslücke

ImpliziteStaatsschuld

Ausgaben-kürzungs-

satz

Steuer-erhöhungs-

satz

230,6 169,8 11,9 13,9

208,7 147,9 11,8

464,3 403,5 12,3

Sensitivitätsanalysen im Hinblick auf das Zins-Wachstums-Differential bei der Basissimulation 2002

14,8

331,3 270,5 12,1 14,5

Öffentliche Haushalte sanieren

280

Page 307: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

zialversicherung, während der auch vom Sachver-ständigenrat zur Diskussion gestellte Übergang zuKopfpauschalen (Gesundheitsprämien) im Bereich derGesetzlichen Krankenversicherung eher die Beschäfti-gungs- und Wachstumswirkungen zum Ziel hat. Dieselassen sich aber im Rahmen von Tragfähigkeitsanaly-sen nicht adäquat erfassen.

453. Die Rürup-Kommission hat für den Bereich derRentenversicherung insbesondere zwei Maßnahmen vor-geschlagen (Ziffern 338 ff.): Zum einen soll die gesetzli-che Altersgrenze für Regelaltersrenten von derzeit65 Jahren beginnend ab dem Jahr 2011 schrittweisebis 2035 auf 67 Jahre heraufgesetzt werden. Zum ande-ren wird empfohlen, die aktuelle Rentenanpassungsfor-mel durch einen Nachhaltigkeitsfaktor zu ergänzen.Dadurch werden das Verhältnis von Rentnern zu Bei-tragszahlern und damit auch die demographische Ent-wicklung in der Rentenanpassungsformel berücksichtigt(Schaubild 68, Seite 282).

Deutlich wird, dass beide Reformvorschläge in erhebli-chem Maße zur Tragfähigkeit der öffentlichen Haushaltebeitragen. Dabei reduziert der Nachhaltigkeitsfaktor diegesamtstaatliche Tragfähigkeitslücke mit rund 25 vH ummehr als die in der aktuellen Debatte im Vordergrundstehende Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die eine

Verringerung von etwa 16 vH bewirkt. Zusammenge-nommen haben diese Maßnahmen eine Abnahme derTragfähigkeitslücke um etwas weniger als 40 vH zurFolge und neutralisieren somit fast die Effekte der zu-nehmenden Lebenserwartung: Die Tragfähigkeitslückenach Umsetzung beider Vorschläge liegt nicht wesent-lich über derjenigen der Simulation II, in der die Lebens-erwartung der im Jahr 2000 Geborenen konstant gehal-ten wurde.

Fazit: Tragfähigkeitslücken berechnen, aber vorsichtig interpretieren

454. Die Sicherstellung der Tragfähigkeit der öffentli-chen Haushalte ist eine der zentralen Zukunftsaufgabender deutschen Finanz- und Sozialpolitik. Sowohl dasAusmaß der expliziten Staatsverschuldung als auch dieinsbesondere aus der demographischen Entwicklung re-sultierenden Finanzierungslasten, die Teil der implizitenStaatsschulden sind, zeigen einen erheblichen finanzpo-litischen Handlungsbedarf auf. Dieser Handlungsbedarflässt sich über das Konzept der Tragfähigkeitslückequantifizieren, die aus der intertemporalen staatlichenBudgetgleichung abgeleitet wird. Nachhaltig oder trag-fähig ist die Finanzpolitik dann, wenn keine Tragfähig-keitslücke existiert, ihr Wert also null ist. Unsere

Ta b e l l e 5 6

Sensitivität der Tragfähigkeitslücke und der impliziten Staatsschuld1)

I II III IV I II III IV

r = 3,0%; n = 1,5 vH

Tragfähigkeitslücke2) 331,3 283,3 156,0 296,3 376,1 -14,5 -52,9 -10,6 +13,5

Implizite Staatsschuld2) 270,5 222,5 95,2 235,5 315,3 -17,7 -64,8 -12,9 +16,6

r = 2,5%; n = 1,5 vH

Tragfähigkeitslücke2) 464,3 388,1 186,7 394,3 554,6 -16,4 -59,8 -15,1 +19,4

Implizite Staatsschuld2) 403,5 327,3 125,9 333,5 493,8 -18,9 -68,8 -17,3 +22,4

r = 4,0%; n = 1,5 vH

Tragfähigkeitslücke2) 208,7 184,8 120,9 196,6 225,1 -11,5 -42,1 - 5,8 + 7,9

Implizite Staatsschuld2) 147,9 124,0 60,1 135,8 164,3 -16,2 -59,4 - 8,2 +11,1

r = 4,0%; n = 1,75 vH

Tragfähigkeitslücke2) 230,6 202,6 127,7 215,1 251,1 -12,1 -44,6 - 6,7 + 8,9

Implizite Staatsschuld2) 169,8 141,8 66,9 154,3 190,3 -16,5 -60,6 - 9,1 +12,1

1) Simulationsexperimente aus Tabelle 55. - 2) In Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH.

Basis-simu-lation

Relative Änderung gegenüber Basissimulation (vH)

Simulation

Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

281

Page 308: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Öffentliche Haushalte sanieren

282

S c h a u b i l d 6 8

Heraufsetzung desgesetzlichen Renteneintrittsalters

relative Änderungen (vH):

Tragfähigkeitslücke: -16,4Implizite Staatsschuld: -20,0

Berücksichtigung einesNachhaltigkeitsfaktors

relative Änderungen (vH):

Tragfähigkeitslücke: -24,5Implizite Staatsschuld: -30,0

Heraufsetzung desgesetzlichen Renteneintrittsaltersund Berücksichtigung einesNachhaltigkeitsfaktors

relative Änderungen (vH):

Tragfähigkeitslücke: -39,1Implizite Staatsschuld: -47,9

331,3

250,1

277,1

201,8

Einfluss von Rentenreformvorschlägen auf die Tragfähigkeitslücke1)

I

II

I + II

Bas

issi

mul

atio

n

Implizite Staatsschuld (2002)

Explizite Staatsschuld (2002)

SR 2003 - 12 - 0631

- in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in vH -

270,5

60,8

60,8

216,3

141,0

60,8 60,8

189,3

1) Zu den Einzelheiten siehe Ziffern 452 f.

Page 309: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Berechnungen zeigen allerdings, dass die Tragfähig-keitslücke ein Mehrfaches des gegenwärtigen Bruttoin-landsprodukts beträgt und damit eine bedenkliche Höheerreicht hat, die politisches Handeln erfordert.

Bei der Interpretation der Ergebnisse von Tragfähig-keitsanalysen ist aus verschiedenen Gründen Vorsichtgeboten. Da sehr lange Zeiträume betrachtet werden, istdie Prognose der öffentlichen Einnahmen und Ausgabenmit großen Unsicherheiten behaftet. Auch sind die abso-luten Größen der Tragfähigkeitslücken nicht sehr aussa-gekräftig; sie reagieren sehr sensitiv auf Annahmen überdie Wachstumsrate und den Zinssatz. In weitaus geringe-rem Maße gilt dies jedoch für die relative Änderung derTragfähigkeitslücken als Folge von Politikmaßnahmen.Sie erlauben deshalb eine einigermaßen verlässliche Ein-schätzung und vergleichende Beurteilung der Wirksam-keit alternativer Reformoptionen auf die Tragfähigkeitder öffentlichen Finanzen. Die gebotene Vorsicht bei derInterpretation von Tragfähigkeitslücken ist jedoch keinGrund, auf derartige Berechnungen zu verzichten. Es istin jedem Fall besser, eine ungefähre Vorstellung von denauf die öffentlichen Haushalte zukommenden Belastun-gen zu haben, als aus lauter Skrupeln überhaupt nichts zusagen und damit die Notwendigkeit eines politischen Ge-gensteuerns zu ignorieren.

Tragfähigkeitslücken zeigen einen unabweisbaren fi-nanz- oder sozialpolitischen Handlungsbedarf an. Ir-gendwelche Gerechtigkeitsurteile, intergenerative oderintragenerative, sind damit nicht verbunden. Sie werdenerst im Zusammenhang mit konkreten Maßnahmen zurSchließung oder Reduzierung der Tragfähigkeitslückerelevant. Wie die Lasten zur Beseitigung einer nichttragfähigen Finanzpolitik auf unterschiedliche Haus-haltsgruppen oder auf gegenwärtige und zukünftige Ge-nerationen verteilt werden, muss letztlich politisch ent-schieden werden. Die Wissenschaft kann nur die durchbestimmte Maßnahmen hervorgerufenen Verteilungsef-fekte aufzeigen. Vom Anspruch her bescheidener ist es,wenn man sich auf die Berechnung von relativen Verän-derungen der Tragfähigkeitslücken beschränkt. Mankann dann immer noch Aussagen über die Entwicklungder Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen machen,ohne jedoch implizite oder explizite Gerechtigkeitsur-teile treffen zu müssen. Politik und Öffentlichkeitgewinnen so einen Eindruck vom Ausmaß der Konsoli-dierungsnotwendigkeit und von den Konsolidierungser-folgen bestimmter Maßnahmen.

Zur Illustration wurden die Änderungen der Tragfähig-keitslücke aufgrund einer schrittweisen Heraufsetzungdes gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf67 Jahre sowie einer Modifikation der aktuellen Renten-formel um einen Nachhaltigkeitsfaktor untersucht. BeideMaßnahmen wurden von der Rürup-Kommission vorge-schlagen. Im Ergebnis bewirken beide Reformvor-schläge, dass die Tragfähigkeit der Systeme der SozialenSicherung wesentlich erhöht wird. Die Berechnungenzeigen aber auch, dass diese Reformschritte zwar not-wendig, aber nicht hinreichend sind. Sie müssen ergänztwerden durch weiter gehende Konsolidierungsmaßnah-men in den öffentlichen Haushalten.

IV. Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

455. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Defizit-entwicklung, der Vorgabe des Stabilitäts- und Wachs-tumspakts, auf mittlere Frist eine ausgeglichene Haus-haltsposition zu erreichen, und der in längerfristigerBetrachtung festgestellten Tragfähigkeitslücke ist eineKonsolidierung der öffentlichen Haushalte unabweis-bar. Die vielfach anzutreffende Vorstellung, dass überein höheres Wirtschaftswachstum allein eine den Anfor-derungen der Zukunft gerecht werdende Lage der Staats-finanzen erreicht werden könne, ist unrealistisch. Eineinfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: Um ausge-hend von den Zinslasten, Ausgaben und Einnahmen deröffentlichen Haushalte des Jahres 2002, auch nur eineStabilisierung der ausgewiesenen Schuldenstandsquotein den kommenden 30 Jahren zu erreichen, müsste dieZuwachsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts jähr-lich über 6 vH betragen. Hierbei ist der in der demo-graphischen Entwicklung angelegte Druck auf die Aus-gaben der kommenden Jahrzehnte, der bei einerunveränderten Politik entstehen wird, noch nicht berück-sichtigt. Realistischerweise wird also ein höheres Wirt-schaftswachstum für sich genommen die Probleme der

Das Wichtigste in Kürze

(1) Haushaltskonsolidierung sollte der Realisierunglangfristiger Ziele dienen.

(2) Konsolidierungen durch Ausgabenkürzungensind erfahrungsgemäß nachhaltiger als solcheüber Einnahmeerhöhungen. Eine erfolgreicheHaushaltskonsolidierung benötigt kein günstigeskonjunkturelles Umfeld.

(3) Der Abbau von Steuervergünstigungen zur Finan-zierung von Tarifsenkungen hat positive gesamt-wirtschaftliche Effekte. Eine Rückführung vonSteuervergünstigungen ist aber auch zu Konsoli-dierungszwecken angebracht.

(4) Ein gezielter, kriteriengeleiteter Abbau von Fi-nanzhilfen und Steuervergünstigungen ist der Ra-senmähermethode überlegen.

(5) Das Volumen der hier vorgeschlagenen Ausga-benkürzungen und Rücknahmen von Steuerer-leichterungen beläuft sich nach Auslaufen dieserMaßnahmen auf über 25 Mrd Euro pro Jahr.Nicht berücksichtigt sind dabei Steuervergünsti-gungen im Unternehmensbereich; ihr Abbaumuss in eine Reform der Unternehmensbesteue-rung integriert werden.

(6) Das Ehegattensplitting ist keine Steuervergünsti-gung. Die Entfernungspauschale ist nicht gene-rell eine Steuervergünstigung; daher ist eine Kür-zung vertretbar.

Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern

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öffentlichen Haushalte nicht lösen können. Gleichwohlbleibt, neben anderen Gründen, gerade auch aus finanz-politischer Sicht die Stärkung des gegenwärtig niedrigenPotentialwachstums eine der zentralen wirtschaftspoliti-schen Aufgaben. Der Sachverständigenrat hat sich inseinem letzten Jahresgutachten ausführlich mit den Ur-sachen und mit geeigneten Therapievorschlägen derdeutschen Wachstumsschwäche beschäftigt (JG 2002Ziffern 332 ff.).

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monatenauf dem Arbeitsmarkt und im Bereich der SozialenSicherung zahlreiche Reformmaßnahmen in Gesetzent-würfen konkretisiert, die durchaus geeignet sind, dieAussichten für ein dauerhaft günstigeres Wachstum zuverbessern. Diese Vorhaben sollten bei entsprechenderlegislativer Umsetzung in den nächsten Jahren eine Ent-lastungswirkung für die öffentlichen Haushalte entfal-ten. Die derzeit zu beobachtende politische Aufgeschlos-senheit gegenüber Reformen gilt es zu bewahren. MitBlick auf die in der demographischen Entwicklung an-gelegten Probleme der steigenden impliziten Verschul-dung ist vor allem eine Rentenreform notwendig, die diezukünftigen impliziten Lasten des Umlagesystems zu-rückführt. In diesem Zusammenhang ist der Aufschubeiner Entscheidung über die Verlängerung der Regel-altersgrenze auf 67 Jahre zu bedauern (Ziffern 354).

Über die Ausgabenkorrekturen in den Systemen der So-zialen Sicherung hinaus hat die Bundesregierung einumfangreiches steuerliches Maßnahmenbündel auf denWeg gebracht, das bei vollständiger Umsetzung für dieGebietskörperschaften geschätzte Einnahmeverbesse-rungen ab dem Jahr 2005 in einer Größenordnung vonüber 17 Mrd Euro zur Folge haben soll (einschließlichHartz IV). Im kommenden Jahr wird trotz der geplantenEinsparungen durch das Vorziehen der dritten Stufe derSteuerreform voraussichtlich eine Mindereinnahme vonannähernd 4 Mrd Euro zu verzeichnen sein (Tabelle 57,Seite 303).

Der mittelfristige Einspareffekt dieser Maßnahmen istjedoch angesichts des Konsolidierungsbedarfs nicht aus-reichend: Zusätzliche beherzte Anstrengungen sind er-forderlich, um die öffentlichen Haushalte in Deutschlandwieder in Ordnung zu bringen. Allein die Zielvorgabeeines mittelfristig ausgeglichenen Haushalts verlangt beieinem konjunkturbereinigten Defizit im Jahr 2003 von3½ vH in Relation zum nominalen BruttoinlandsproduktKonsolidierungsanstrengungen von über 50 Mrd Euro,dies entspricht etwa 5 vH der Gesamtausgaben desJahres 2003. Ein Konsolidierungsprogramm dieses Aus-maßes wird nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums zurealisieren sein. Notwendig ist daher eine auf Dauer an-gelegte, überzeugende Konsolidierungsstrategie. Es giltdie Einsicht in die Notwendigkeit staatlicher Sparmaß-nahmen zu stärken. Eine solche breite Grundüberzeu-gung auf Seiten der Unternehmen und Haushalte ist aberunverzichtbar, da Konsolidierung immer bedeutet, gegenden Widerstand organisierter gruppenspezifischer Ei-geninteressen überkommene Besitzstände zu beseitigen.

Gegenwärtig scheint die Ausgangslage zur Formulie-rung und Durchsetzung einer solchen Konsolidierungs-

strategie günstig. Die anhaltende wirtschaftliche Schwä-chephase hat die Erkenntnis verstärkt, dass ohnetiefgreifende Reformen keine dauerhafte Verbesserungder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geschaffenwerden kann; dabei muss klar sein, dass die Konsolidie-rung der öffentlichen Haushalte nicht nach dem SanktFlorians-Prinzip vonstatten gehen kann.

Grundsätzliche Fragen zur Konsolidierungsstrategie

Konsolidierung über die Einnahme- oder die Ausgabenseite?

456. Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte er-fordert eine Verbesserung der Primärsaldenposition, alsoder Differenz zwischen den staatlichen Einnahmen undden Ausgaben ohne Zinsaufwendungen für die aufgelau-fenen Schulden. Eine Erhöhung der Primärsaldenquotelässt sich über Einnahmesteigerungen, über Ausga-bensenkungen oder über eine Kombination dieser beidenStrategien erreichen. Rechnerisch sind Einnahmeerhö-hungen und Ausgabenreduzierungen gleichermaßen ge-eignet, eine dauerhafte Verbesserung der Lage der öf-fentlichen Haushalte zu erzeugen. Aus ökonomischerSicht sprechen jedoch gute Gründe dafür, eher den Wegüber eine Rückführung der Ausgaben als den über eineErhöhung der Einnahmen zu gehen: Zum einen lässt sichempirisch belegen, dass – ausgehend von dem in denLändern der Europäischen Währungsunion erreichtenNiveau der Staatstätigkeit – geringere Staatsausgabendas Wirtschaftswachstum eher fördern, wohingegen hö-here Einnahmen in der Tendenz negativ wirken(Ziffern 816 ff. und JG 2002 Ziffern 606 f.). Zum ande-ren kommen aktuelle Studien zu dem wichtigen Ergeb-nis, dass Konsolidierungen, die auf der Ausgabenseiteansetzen, die Situation der Staatsfinanzen dauerhafterverbessern als Konsolidierungen, die stärker über eineErhöhung der Einnahmeseite durchgeführt werden.

Eine entsprechende Analyse der Konsolidierungsbemü-hungen in den Ländern der Europäischen Währungs-union für den Zeitraum der Jahre 1970 bis 2002 zeigt,dass erfolgreiche Konsolidierungen die Gesamtausga-benquote reduzierten (Ziffer 807). Konsolidierungsmaß-nahmen gelten dabei dann als erfolgreich, wenn es nachihrem Abschluss in den folgenden drei Jahren zu keinerVerschlechterung der konjunkturbereinigten Primärsal-denposition kam. Konsolidierungen, nach denen es nichtgelang, die Primärsaldenposition auf dem niedrigerenNiveau nach Ende der Konsolidierungsphase zu stabili-sieren, und die somit erfolglos waren, sind demgegen-über während der Konsolidierungsphasen durch eineErhöhung der Ausgabenquote bei gleichzeitigem deutli-chen Anstieg der Einnahmequote gekennzeichnet.

457. Die Tatsache, dass einnahmeseitige Konsolidie-rungen seltener von einem dauerhaftem Erfolg gekröntsind, bedarf mit Blick auf die aktuelle Diskussion überden Abbau von Steuervergünstigungen einiger qualifi-zierender Anmerkungen: Die Einnahmeseite in Formvon Steuern wird in der eigenen und in anderen Studienmangels geeigneterer Indikatoren im Länderquerschnitt

Öffentliche Haushalte sanieren

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und über einen längeren Betrachtungszeitraum über dieSteuerquoten erfasst. Diese sind jedoch für die Effizi-enzwirkungen des Steuersystems nicht sehr aussagekräf-tig (Ziffer 528). Die Datenlage ermöglicht allerdingsnicht, die Erhöhung der Steuerquote im Konsolidierungs-prozess in diejenigen Einnahmezuwächse zu zerlegen,die sich aufgrund einer Verbreiterung der Bemessungs-grundlage, beispielsweise durch den Abbau von Steuer-vergünstigungen bei unveränderten Sätzen ergeben undEinnahmeerhöhungen, die aus der Anhebung von Steu-ersätzen resultieren.

Eine Einnahmeerhöhung durch Verbreiterung der Be-messungsgrundlage – zum Beispiel durch einen Abbauvon Steuervergünstigungen – ist aber unter Wachstums-und Effizienzgesichtspunkten einer Steuersatzerhöhungnicht äquivalent, sondern in den meisten Fällen überle-gen. Deshalb ist auch der immer wieder vorgebrachteEinwand unzutreffend, dass eine durch den Abbau vonSteuervergünstigungen finanzierte Steuersatzsenkungnichts bringe, weil dem Bürger erst das Geld aus der lin-ken Tasche gezogen werde (mittels Abbau von Steuer-vergünstigungen), das ihm dann in die rechte Tasche(über Steuersatzsenkungen) gesteckt werde. Richtig istdaran, dass eine Beseitigung von Steuervergünstigungenfür den Steuerpflichtigen eine Verminderung des verfüg-baren Einkommens bedeutet und eine Steuersatzsenkungsein verfügbares Einkommen erhöht. Änderungen derSteuersätze rufen aber neben diesen primären Einkom-menseffekten noch weitere Einkommenswirkungen her-vor, weil sie – anders als die meisten Steuervergünsti-gungen – auch die relativen Preise ändern: Wenn dieSteuersätze auf ein bestimmtes Gut oder einen Produkti-onsfaktor sinken, werden dieses Gut oder dieser Faktorim Vergleich zu anderen Gütern oder Faktoren relativbilliger, bei einer Erhöhung des Steuersatzes relativ teu-rer. Mit diesen relativen Preiseffekten sind zusätzliche,das heißt über die primären Einkommenseffekte hinaus-gehende Wohlfahrtseffekte und Einkommenswirkungenverbunden. Dies sind die so genannten Zusatzlasten derBesteuerung. Amerikanische Untersuchungen ermittelnfür diese Zusatzlasten Werte von bis zu 40 vH der Steu-erzahlung. Für Deutschland kann von vergleichbarenGrößenordnungen ausgegangen werden (JG 2002Ziffer 379). Zusatzlasten gehen mit Steuersatzänderun-gen einher, in der Regel aber nicht mit einer Änderungder Steuerbemessungsgrundlage. Dies bedeutet dann,dass eine Steuersatzsenkung, die den Bürger um100 Euro entlastet, für diesen im genannten Fall tatsäch-lich bis zu 140 Euro wert ist; der Abbau einer Steuerver-günstigung, der den Bürger mit 100 Euro belastet, stelltfür ihn dagegen auch nur einen Verlust von 100 Eurodar. In der Summe kann er sich also durch eine Steuer-satzsenkung bei gleichzeitiger aufkommensneutralerVerbreiterung der Bemessungsgrundlage über einen Ab-bau von Steuervergünstigungen wohlfahrtsmäßig ver-bessern, im Beispiel um bis zu 40 Euro. Was hier anhandeines einzelnen Steuerpflichtigen erläutert wurde, giltmutatis mutandis auch in gesamtwirtschaftlicher Be-trachtung. Deshalb tritt der Sachverständigenrat auchimmer wieder für eine Strategie der Senkung der Steuer-sätze bei gleichzeitiger, aufkommensneutraler Verbreite-

rung der Bemessungsgrundlage („tax-cut-cum-base-broadening“) ein (Ziffer 582 und JG 2002 Ziffer 37).

Nicht überzeugend ist auch das häufig vertretene Argu-ment, dass ein Abbau von Steuervergünstigungen, egalob zur Finanzierung von Steuersatzsenkungen oder alsBeitrag zur Haushaltskonsolidierung, prinzipiell abzu-lehnen sei, weil dies auf eine Steuererhöhung hinaus-laufe und eine Ausgabenkürzung deshalb in jedem Fallvorzuziehen sei. Gegen diese Sichtweise spricht schon,dass die Unterscheidung zwischen Steuervergünstigun-gen und staatlichen Ausgaben oft nicht so eindeutig ist,wie es in der öffentlichen Diskussion den Anschein hat.So wird beispielsweise die Eigenheimzulage in der Fi-nanzstatistik über den Abzug vom Steueraufkommen aufder Einnahmeseite erfasst, wohingegen die gleicheTransaktion in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrech-nungen als Ausgabe gebucht wird. Ebenso werden dasKindergeld und die Investitionszulage in der Finanzsta-tistik auf der Einnahmeseite als Abzugsposten berück-sichtigt (Ziffer 274). Eine Reduzierung dieser Zahlungenschlägt sich damit als Erhöhung der Einnahmen nieder;wären diese Begünstigungen hingegen auf der Ausga-benseite erfasst worden, würde sich ihre Beseitigung alsAusgabenkürzung darstellen. Ökonomisch ist beidesaber äquivalent. Generell können ein Abbau von Steuer-vergünstigungen und die Kürzung von Ausgaben bei ge-samtwirtschaftlicher Betrachtung auf dasselbe hinaus-laufen. Ein Abbau von Steuervergünstigungen entziehtden Bürgern Einkommen, eine Reduzierung von Trans-ferausgaben aber auch. Wenn in beiden Fällen keine Zu-satzlasten auftreten, ist es aus Sicht des Steuerpflichti-gen gleichgültig, warum er 100 Euro weniger in derTasche hat. Wenn der Abbau von Steuervergünstigungeneinerseits, die Kürzung von Ausgaben andererseits un-terschiedliche Personen treffen, treten zwar Verteilungs-effekte auf, in gesamtwirtschaftlicher Betrachtung sinddie Ergebnisse aber wiederum weitgehend äquivalent.

Aus diesen Überlegungen folgt zweierlei: Zum einen istes nicht zuletzt aufgrund der teilweise arbiträrenAbgrenzung zwischen Ausgaben und Steuervergünsti-gungen zu begrüßen, dass die Bundesregierung laut Ka-binettsbeschluss vom 1. Oktober dieses Jahres beabsich-tigt, bestehende Steuervergünstigungen so weit wiemöglich in Finanzhilfen zu überführen und neue Sub-ventionstatbestände grundsätzlich nur noch in Form vonFinanzhilfen zu gewähren. Zum anderen sollte der Ab-bau von Steuervergünstigungen wegen seiner weitge-henden gesamtwirtschaftlichen Äquivalenz zu Ausga-benkürzungen nicht länger als sinnvolles Mittel auch zurHaushaltskonsolidierung tabuisiert werden. Aus politö-konomischen Gründen kann es allerdings sinnvoll sein,die Rückführung staatlicher Ausgaben vorrangig für dieHaushaltskonsolidierung einzusetzen und den Abbauvon Steuervergünstigungen zur Finanzierung von Steu-ersatzsenkungen. Die betroffenen Unternehmen undKonsumenten dürften dem Abbau von Steuervergünsti-gungen vermutlich weniger Widerstand entgegensetzen,wenn sie im Gegenzug durch Steuersatzsenkungen ent-lastet werden. Prinzipiell eignet sich ein Abbau vonSteuervergünstigungen aber ebenso gut zur Haushalts-konsolidierung wie eine Kürzung von Ausgaben.

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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Page 312: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Konsolidierungen nur in einem günstigen konjunkturellen Umfeld?

458. Die Beobachtung, dass aufgrund der inzwischendreijährigen wirtschaftlichen Stagnationsphase in derÖffentlichkeit die grundsätzliche Bereitschaft zur Besei-tigung finanzwirksamer Begünstigungen gestiegen zusein scheint, erleichtert die Durchsetzung staatlicherSparmaßnahmen. Gleichzeitig aber bringt das schwachewirtschaftliche Umfeld ein Problem für die Konsolidie-rung mit sich: Die Rückführung staatlicher Ausgabenwirkt für sich genommen im Kreislauf der Gesamtwirt-schaft kontraktiv, mit der möglichen Folge einer zusätz-lichen Verschlechterung der konjunkturellen Situation.Dieses Argument ist ernst zu nehmen und zwar umsomehr, als die verfügbare empirische Evidenz in der Re-gel eine solche keynesianische Sicht der Wirkungen ei-ner Veränderung der staatlichen Ausgaben und Einnah-men stützt (Ziffer 815). Dies legt nahe, aus Gründen derkonjunkturellen Stabilisierung Konsolidierungsschrittenicht in einem schwachen gesamtwirtschaftlichen Um-feld zu beginnen, sondern diskretionäre Sparmaßnahmenin konjunkturellen Aufschwungphasen, besser noch inBoomphasen durchzuführen. Gegen den Erfolg einersolchen, prinzipiell sinnvollen Strategie sprechen aller-dings neben politökonomischen Argumenten auch einigeempirische Befunde: In konjunkturell guten Zeitenunterbleiben oft die notwendigen Anstrengungen, daSparmaßnahmen eher unpopulär sind und ein positiveswirtschaftliches Umfeld die tatsächlichen Konsolidie-rungserfordernisse überdeckt. Dies lässt sich exempla-risch anhand der Entwicklung in den Jahren 1999und 2000 beobachten, als bei recht hohen Zuwachsratendes Bruttoinlandsprodukts in allen Staaten des europä-ischen Währungsraums die unbereinigten Defizitquotenzurückgingen. Gleichzeitig stiegen in einer ganzenReihe von Ländern jedoch die konjunkturbereinigtenDefizite noch an beziehungsweise gingen die konjunk-turbereinigten Überschüsse zurück. Für die großen Län-der in der Währungsunion ist diese Form einer prozykli-schen Finanzpolitik kein Einzelfall, sondern über weiteTeile seit Anfang der siebziger Jahre durchaus typisch(Ziffer 799).

Das Problem, eine Konsolidierung in konjunkturell gu-ten Zeiten durchzusetzen, besteht in einem fiskalisch engverflochtenen föderalen System, wie es sich in Deutsch-land herausgebildet hat, vermutlich in stärkerem Maßeals in zentralisierten politischen Systemen: Der „koope-rative Föderalismus“ bundesdeutscher Prägung eröffnetbei unterschiedlichen politischen Mehrheiten im Deut-schen Bundestag und im Bundesrat der jeweiligen (gro-ßen) Oppositionspartei im Deutschen Bundestag einezusätzliche Möglichkeit, über den Bundesrat die Gesetz-gebung zu beeinflussen. Zudem erhält gerade über die-sen Einfluss der Länder jede Landtagswahl eine bundes-politische Bedeutung, so dass selbst innerhalb einerLegislaturperiode auf Bundesebene ein „permanenterWahlkampf“ die politische Auseinandersetzung bestim-men kann. In einem solchen Umfeld sind politisch un-populäre Maßnahmen generell nicht einfach umzuset-zen, noch schwieriger wird dies aber in einem

wirtschaftlich günstigen Umfeld, in dem vordergründigein Konsolidierungszwang entfällt.

459. Ungeachtet dieser politökonomischen Argumente,eine Konsolidierung nicht nur in konjunkturell günstigenPhasen zu beginnen, bedarf aber auch der Befund, dasseine Verringerung der Ausgaben oder eine Erhöhung derEinnahmen grundsätzlich negative gesamtwirtschaftli-che Folgen haben muss, einer gewissen Relativierung. Inden vergangenen Jahren machte nämlich eine Reihe vonMitgliedsländern der Europäischen Währungsunion dieErfahrung, dass auch quantitativ bemerkenswerte Kon-solidierungsmaßnahmen durchaus mit einer besseren ge-samtwirtschaftlichen Entwicklung einhergingen. Unddies war sogar der Fall, wenn die Verbesserung der staat-lichen Primärsalden in einem wirtschaftlich noch schwa-chen Umfeld begonnen wurde. Diese so genanntennicht-keynesianischen Effekte der Finanzpolitik – dasheißt positive Wirkungen einer in einer konjunkturellenSchwächephase vom Prinzip her prozyklischen Politik –lassen sich vor dem Hintergrund eines als desolat ange-sehenen Zustands der Staatsfinanzen über die Rolle derErwartungen der Haushalte und Unternehmen erklären.Wird die finanzwirtschaftliche Situation von den Ver-brauchern und Investoren als schlecht und nicht tragfä-hig angesehen, weil beispielsweise die Schuldenständeoder die Staatsausgaben bereits ein sehr hohes Niveauerreicht haben, dann kann es sein, dass eine Verringe-rung der Staatsausgaben in der Gegenwart sogar zu hö-herem Konsum und höheren Investitionen führt. Ratio-nale Verbraucher wissen nämlich, dass, wenn heute nichtkonsolidiert wird, in der Zukunft um so drastischere An-passungen erforderlich sind. Die Einkommenseinbußenbei Konsolidierung in der Gegenwart können dann durchhöhere Einkommenserwartungen durch die vermiedeneKonsolidierung in der Zukunft überkompensiert werden,so dass sie wegen der jetzt vorgenommenen Konsolidie-rung mehr konsumieren und investieren.

Die empirische Analyse der Konsolidierungserfahrun-gen in den Ländern der Europäischen Währungsunionzeigt, dass derartige nicht-keynesianische Effekte nichtnur modelltheoretisch möglich sind, sondern durchausauch von empirischer Relevanz sein können. In den Län-dern, in denen sich in den vergangenen 30 Jahren Phaseneiner merklichen Konsolidierung beobachten ließen,kam es in der Regel während und nach den Konsolidie-rungszeiträumen nicht zu dem mit einer solchen restrik-tiven Ausrichtung der Finanzpolitik zu befürchtendenVerschlechterung wichtiger makroökonomischer Grö-ßen. Diese Resultate lassen sich auch nicht einfach da-mit erklären, dass die Konsolidierungen in einem ohne-hin positiven Umfeld eingeleitet wurden; denn denfiskalischen Anpassungen ging unmittelbar eine ge-dämpfte Entwicklung der Zuwächse im Bruttoinlands-produkt, im privaten Konsum und bei den Ausrüstungs-investitionen voraus.

460. In der öffentlichen Diskussion wird gegen staatli-che Konsolidierungsmaßnahmen, insbesondere gegenden Abbau von Finanzhilfen und Subventionen, regel-mäßig auf die angeblich daraus folgenden negativen

Öffentliche Haushalte sanieren

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Page 313: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Beschäftigungseffekte verwiesen. So wurde gegen dieErhöhung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes fürSchnittblumen mit dem drohenden Verlust von Arbeits-plätzen im Floristengewerbe argumentiert, und im Falleeiner Kürzung der Eigenheimzulage wurde die Zahl vonetwa 100 000 weniger Beschäftigten im Baugewerbe ge-nannt. Ungeachtet der Tatsache, dass solche Zahlen vonden Betroffenen selbst in die Diskussion gebracht wer-den, so dass eine gewisse Skepsis gegenüber den be-haupteten Größenordnungen berechtigt ist, enthalten dieArgumente einen wahren Kern: Dort, wo Begünstigun-gen entfallen, ist auch mit einem Verlust an Arbeitsplät-zen zu rechnen. Dieser Abbau von Arbeitsplätzen wirdnicht 100 000 Beschäftigte im Fall einer Abschaffungder Eigenheimzulage treffen. Denn für die Analyse die-ser Beschäftigungswirkungen kommt es allein auf dieje-nigen Eigenheimerwerber an, die ohne Zulage keinWohneigentum erwerben, mit Zulage aber wohl. Diesdürfte jedoch nur für vergleichsweise wenige Bauherrenoder Käufer zutreffen. Dass es aber trotzdem zu Arbeits-platzverlusten im Baugewerbe kommt, ist anzunehmen.Für die Frage der gesamtwirtschaftlichen Beschäfti-gungseffekte greift eine solche Partialbetrachtung aller-dings zu kurz. Wenn die Rückführung der Eigenheimzu-lage mit einer Senkung der Steuersätze einhergeht, wieim Haushaltsbegleitgesetz 2004 zur teilweisen Finanzie-rung des Vorziehens der dritten Stufe der Steuerreformvorgesehen, ergeben sich über die Steuersatzsenkungenpositive Rückwirkungen auf die übrigen Wirtschaftsbe-reiche. Dort werden in der Folge neue Arbeitsplätze ent-stehen. Das Problem ist, dass den unmittelbar sichtbarenBeschäftigungsverlusten in der Bauwirtschaft über diegesamte Volkswirtschaft verteilte, den Steuersatzsen-kungen nicht unmittelbar zurechenbare Beschäftigungs-gewinne gegenüberstehen. Von vornherein lässt sichauch gar nicht sagen, wo die zusätzlichen Arbeitsplätzeentstehen werden; Marktwirtschaft funktioniert als Ent-deckungsverfahren, nicht aber über Einsatzpläne. Umge-kehrt weiß man sehr wohl, dass speziell die Bauwirt-schaft von Arbeitsplatzverlusten betroffen ist. Diesmacht es so schwer, Konsolidierungen politisch durch-zusetzen beziehungsweise erleichtert es den Besitz-standswahrern, ihre Privilegien zu verteidigen. Eine ana-loge Argumentation gilt im Übrigen auch für den Fall,dass die Rückführung von Steuervergünstigungen,Finanzhilfen oder anderen staatlichen Ausgaben zumZwecke der Haushaltskonsolidierung erfolgt.

In dieser Hinsicht gibt es im Übrigen Gemeinsamkeitenzwischen Deregulierungsmaßnahmen und dem Abbauvon Subventionen: Auch in Bereichen, in denen in denvergangenen Jahren vormals geschützte staatliche Mo-nopolunternehmen in den Wettbewerb entlassen wurden,gab es im Vorfeld Befürchtungen drohender Arbeits-platzverluste. Übersehen wurde aber regelmäßig, dassmit den neu in den Markt tretenden Unternehmen auchneue Beschäftigung geschaffen wurde, die nicht seltendie Arbeitsplatzverluste der ehemaligen „Platzhirsche“mehr als wettmachen konnten. Der Telekommunikati-onsbereich ist hier sicherlich das augenfälligste Beispiel.

Wie soll konsolidiert werden?

461. Aus den vorliegenden Befunden zu den gesamt-wirtschaftlichen Konsolidierungswirkungen lässt sichzwar nicht zwingend ableiten oder belegen, dass ehrgei-zige Konsolidierungsanstrengungen immer auch bereitsin der kurzen Frist zu positiven gesamtwirtschaftlichenErgebnissen führen. Kausalitätsaussagen sind aus des-kriptiven Ländervergleichen ohnehin kaum abzuleiten.Und noch schwieriger ist es, die Frage zu beantworten,ob in einem konkreten Fall ex ante die berechtigte Hoff-nung besteht, dass sich das Spannungsverhältnis zwi-schen langfristigen Konsolidierungserfordernissen undkurzfristigen konjunkturellen Auswirkungen auflöst. Dieempirischen Beobachtungen in der Europäischen Wäh-rungsunion zeigen allerdings, dass in der Mehrzahl derFälle, in denen eine ambitionierte Konsolidierungsstrate-gie in einem konjunkturell schwächeren Umfeld begon-nen wurde, diese finanzpolitische Restriktionsphasenicht nur keine schwerwiegenden negativen gesamtwirt-schaftliche Folgen hatte, sondern positive Impulse be-wirkte. In empirischen Studien zu Konsolidierungsperio-den wird gerade die Beherztheit des eingeleitetenKonsolidierungskurses als entscheidendes Kriterium fürdie positiven konjunkturellen Effekte identifiziert.

Gleichwohl gilt es aber auch zu berücksichtigen, dassstaatliche Sparmaßnahmen – unabhängig vom konjunk-turellen Umfeld – auch darauf Rücksicht nehmen müs-sen, dass Haushalte und Unternehmen ihre Entscheidun-gen im Vertrauen auf die geltenden institutionellenRahmenbedingungen getroffen haben. Eine Konsolidie-rung, deren Erfolg zentral von dem Vertrauen der Haus-halte und Unternehmen in ihre Glaubwürdigkeit undDauer abhängt, sollte nicht in einem kurzfristigen Kraft-akt geltende Rahmenbedingungen mit einem Federstrichbeseitigen, ohne dass sich die Betroffenen darauf einstel-len können.

462. Damit ist noch nicht abschließend die Frage be-antwortet, in welcher Weise denn vom Grundsatz herkonsolidiert werden soll. Klar sollte sein, eher auf derAusgabenseite anzusetzen, gleichzeitig aber auf der Ein-nahmeseite den Weg über einen Abbau nicht begründba-rer oder verzerrender Begünstigungen einzuschlagen.Damit bleibt aber immer noch unbestimmt, wie die ein-zelnen Positionen beider Budgetseiten in einer Konsoli-dierungsstrategie angegangen werden sollten. Hier ste-hen sich zwei Strategien gegenüber: die zielgerichtete,selektive Kürzung und die derzeit propagierte so ge-nannte „Rasenmähermethode“, bei der alle Subventio-nen gleichmäßig, zum Beispiel um einen einheitlichen,mehr oder weniger hohen Prozentsatz, gekürzt werden.(Da ein Rasenmäher die Grashalme aber nicht gleichmä-ßig kürzt, sondern auf eine vorgegebene Länge ab-schneidet, ist die Bezeichnung im Übrigen nicht ganzzutreffend.) Bei der Strategie der selektiven, das heißtzielgerichteten und kriteriengeleiteten Kürzung werdendagegen bestimmte Subventionstatbestände ausgewähltund dann in begründeten Fällen gekürzt beziehungs-weise ganz beseitigt. Aus ökonomischem Blickwinkelist die Frage nach der richtigen Kürzungsstrategie leicht

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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zu beantworten: Subventionen müssen selektiv gekürztwerden und zuerst und am stärksten dort, wo sie diegrößten nachteiligen Wohlfahrtseffekte hervorrufen. DieRasenmähermethode unterscheidet dagegen nicht nachden allokativen Wirkungen einer Maßnahme und mussdeshalb unter Effizienzgesichtspunkten schlechtere Er-gebnisse erzeugen. Denn es werden hierbei Maßnahmen,die größte Verzerrungen verursachen, in gleichem Aus-maß zurückgenommen wie Maßnahmen, die nur geringeoder keine Verzerrungen bewirken. Es kann sogar dazukommen, dass Subventionstatbestände, die allokativeVerbesserungen hervorrufen (zum Beispiel wenn wie imFall der Förderung von Grundlagenforschung positiveexterne Effekte internalisiert werden), effizienzschädi-gend reduziert werden. Für die Rasenmähermethodekönnen allerdings politökonomische Gründe vorge-bracht werden: Nur wenn alle von den Kürzungen imgleichen Ausmaß getroffen werden und es in diesemSinne zu einer „fairen“ Verteilung der Kürzungslastenkommt, sind Subventionskürzungen politisch überhauptdurchsetzbar. Da grundsätzlich alle Vergünstigungen ab-gebaut werden, führt bei einem gegebenen angestrebtenKürzungsvolumen die Rasenmähermethode zudem dazu,dass die prozentuale Kürzung – wie bei den jüngstveröffentlichten Vorschlägen der MinisterpräsidentenHessens und Nordrhein-Westfalens (Koch-Steinbrück-Vorschläge) – eher gering ausfällt, weshalb die Interes-sengruppen einer solchen Kürzung mit Blick auf eineansonsten eventuell drohende vollständige Beseitigungder Vergünstigung leichter zustimmen können.

463. Die Koch-Steinbrück-Vorschläge zeigen aber,dass auch die Rasenmähermethode in reiner Form poli-tisch nicht durchsetzbar ist. Denn auch hier sind die Kür-zungen selektiv, da nur ein Teil der als Subventionenidentifizierten Tatbestände beschnitten werden soll. Beidieser Selektion spielten aber Effizienzgesichtspunkte sogut wie keine Rolle, so dass positive allokative Wirkun-gen eher zufällig sind. Auch verteilen sich die Belastun-gen bei diesem Vorgehen ungleich auf die einzelnenBundesländer beziehungsweise deren Bürger, was eineZustimmung im Bundesrat erschweren dürfte. Politöko-nomische Argumente mögen für die Rasenmäherme-thode sprechen, bei näherer Betrachtung zeigen sich je-doch in der politischen Durchsetzung ähnliche Problemewie bei selektiven Kürzungen. Mit Blick auf die ökono-mische Sinnhaftigkeit sollte deshalb die selektive, ziel-gerichtete Kürzungsstrategie bevorzugt werden.

Die vielfache Mischfinanzierung von einzelnen Finanz-hilfen und die Tatsache, dass Steuervergünstigungenhäufig die Steuereinnahmen aller föderalen Ebenen be-treffen, erhöhen die Intransparenz und führen dazu, dassdie Abschaffung dieser Subventionen schwierig ist. Hierberühren sich die Probleme der finanzpolitischen Kon-solidierung und die Finanzverfassung im föderalenStaatsaufbau der Bundesrepublik. Der Sachverständi-genrat hat sich diesbezüglich wiederholt für eine Reformder geltenden Finanzverfassung ausgesprochen, derenKernelemente neben der Gewährung von mehr Steuer-autonomie für die Bundesländer den Abbau der Mischfi-nanzierungstatbestände, die Rückführung der Gemein-

schaftsaufgaben nach Artikel 91a Grundgesetz sowie dieNeuregelung der konkurrierenden Gesetzgebung umfas-sen sollte (JG 2002 Ziffer 398). Eine Beseitigung derMischfinanzierungstatbestände und eine Gewährungvon Vergünstigungen grundsätzlich nur noch als Finanz-hilfen könnte die staatlichen Maßnahmen transparentergestalten und eine mögliche Abschaffung der Subven-tionstatbestände erleichtern.

Mögliche Ansatzpunkte einer konkreten Konsolidierungsstrategie

464. In den zurückliegenden Monaten hat sich das Dis-kussionsklima in der Öffentlichkeit und auch in der Poli-tik grundlegend geändert. War noch bis vor kurzem jedeDiskussion über Konsolidierung von dem Motto „abs-trakt ja, aber konkret nein“ geprägt, so ist inzwischenfast das Gegenteil der Fall. Es scheint ein Wettbewerbeingesetzt zu haben, bei dem sich die Akteure mit hoherTaktfrequenz in ihren jeweiligen Kürzungsvorschlägenüberbieten. Hieran will sich der Sachverständigenratnicht beteiligen, zumal für den Teilbereich der Finanz-hilfen und Steuervergünstigungen mit den Vorschlägender Ministerpräsidenten Hessens und Nordrhein-Westfa-lens eine sehr ausführliche Dokumentation der potentiellkürzbaren Sachverhalte vorgelegt wurde. Woran es aller-dings in der öffentlichen Debatte regelmäßig mangelt,das ist – jenseits der Einsparpotentiale – eine nachvoll-ziehbare ökonomische Begründung der jeweiligen Vor-schläge.

Man darf – begründet – davon ausgehen, dass derMarktprozess tendenziell zu alloktiv guten und vernünf-tigen Ergebnissen führt. Dennoch sind Subventionen inForm von Finanzhilfen oder in Form von Steuererleich-terungen in Grenzen ein legitimes Instrument der staatli-chen Wirtschafts- und Finanzpolitik zur gezielten Förde-rung bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten (somöglicherweise im Rahmen einer strategischen Handels-politik oder der Grundlagenforschung), zur Abfederungvon Härten bei sektoralen Wandlungsprozessen, zur In-ternalisierung von externen Effekten oder zur Einkom-mensumverteilung. Nicht selten werden Subventionenaber auch zum Zwecke eines politischen Kompromissesoder zur Konfliktminimierung gewährt.

Die Vermutung der allokativen Überlegenheit ungestör-ter Marktprozesse wie auch die zu beobachtende Ten-denz, dass ein einmal implementiertes Subventionspro-gramm unter dem Druck der Begünstigten oder derenpolitischen Vertreter die Tendenz hat, länger als notwen-dig zu bestehen und sich sogar noch auszuweiten, machtes erforderlich, regelmäßig und nicht nur aufgrund vonKonsolidierungszwängen zu prüfen, ob

– das mit der Fördermaßnahme angestrebte Ziel (noch)begründet ist,

– die Art der Förderung geeignet ist, den intendiertenZweck zu erreichen und ob

– nicht ein besser geeignetes, anderes Instrument zurRealisierung dieses Ziels zur Verfügung steht.

Öffentliche Haushalte sanieren

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Sinnvollerweise sollten Finanzhilfen und Steuervergüns-tigungen deshalb von vornherein nur befristet gewährtwerden. Nach Ablauf der Frist wären dann nicht diejeni-gen, die die Subvention abschaffen, in der Begründungs-pflicht, sondern diejenigen, die sie beibehalten wollen.Vor diesem Hintergrund ist die Erklärung des Bundeska-binetts zu begrüßen, dass neue und bestehende Finanz-hilfen gesetzlich befristet und degressiv ausgestaltet seinmüssen. Auch wenn sich verteilungspolitische Begrün-dungen von Subventionstatbeständen regelmäßig einerbewertenden wissenschaftlichen Analyse entziehen, soist dennoch zu fordern, diese Erwägungen explizit zumachen, zumal bestehende Staatseingriffe über Subven-tionen in aller Regel wegen ihrer verzerrenden Wirkungnicht der geeignete Weg sind, wie auch immer begrün-dete Verteilungsnormen durchzusetzen.

465. Zur ökonomischen Beurteilung staatlicher Maß-nahmen – dies gilt gleichermaßen für Finanzhilfen wiefür Steuervergünstigungen – müssen zunächst deren al-lokative Wirkungen betrachtet werden. Eine Maßnahmesollte grundsätzlich die Individualentscheidungen so we-nig wie möglich verzerren oder aber bestehende „Effizi-enzdefizite“ (zum Beispiel externe Effekte) beseitigen.Von einer effizienzmindernden und damit Beschäftigungund Wachstum beeinträchtigenden Verzerrung staatli-cher Eingriffe spricht man üblicherweise dann, wenn dieEntscheidung eines Individuums aufgrund eines staatli-chen Eingriffs, zum Beispiel einer steuerlichen Maß-nahme, über den primären Einkommensentzug hinausverzerrt wird, kurz: wenn Zusatzlasten auftreten. EinProblem besteht freilich darin, dass man nicht immer si-cher sein kann, dass durch die Beseitigung einer Verzer-rung nicht unerwünschte Verzerrungswirkungen andererMaßnahmen wirkmächtiger werden, wie dies im Zusam-menspiel der Förderinstrumente im Wohnungsbau derFall ist (Ziffer 470). In einer Welt, in der regelmäßignicht nur eine, sondern mehrere politisch bedingte Ver-zerrungen vorliegen, lässt es sich aber nicht immersicher sagen, ob die Abschaffung einer verzerrendenMaßnahme wirklich effizienzerhöhend und damit wohl-fahrtssteigernd wirkt oder ob nicht möglicherweise so-gar die Effizienzverluste als Folge der verbleibendenVerzerrungen zunehmen. In den allermeisten Fällen al-lerdings dürfte zumindest die Richtung der allokativenEffekte klar sein. Jenseits dessen wird man fragen müs-sen, ob allokative Verzerrungen und damit verbundeneWohlfahrtsverluste einer Maßnahme unter Bezug aufverteilungspolitische Ziele zu rechtfertigen sind.

466. In den folgenden Abschnitten wird eine Reihe vonAusgaben und Subventionen identifiziert und ökono-misch analysiert, von denen viele seit geraumer Zeit einebedeutende Rolle in der öffentlichen Diskussion um re-levante Konsolidierungstatbestände spielen. Hierzu zähltder Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik als eingewichtiger Ausgabenblock. Darüber hinaus werdenwichtige Finanzhilfen und Steuervergünstigungen be-trachtet. Selbstverständlich sind damit die in eine effek-tive Konsolidierungsstrategie einzubeziehenden Tatbe-stände nicht erschöpfend behandelt. Insbesondere darfder bedeutende Bereich der staatlichen Konsumausga-

ben, zu denen neben den Personalausgaben auch die so-zialen Sachleistungen zählen, aber auch der übrige Be-reich der monetären Sozialleistungen – nicht zuletzt vordem Hintergrund der ermittelten demographischen Ein-flüsse auf die Tragfähigkeitslücke – in diesem Zusam-menhang nicht außer Acht gelassen werden. Die Diskus-sion diesbezüglicher Reformmaßnahmen für die Zweigeder Sozialversicherung, die auch zugleich einen nichtunbedeutenden Konsolidierungsbeitrag für die öffentli-chen Haushalte leisten, findet sich in den entsprechen-den Abschnitten dieses und des letzten Gutachtens(Ziffern 289 ff., JG 2002 Ziffern 483 ff.).

Konsolidierung durch Rückführung von Finanzhilfen

467. Die drei am stärksten subventionierten Wirt-schaftsbereiche sind der Steinkohlebergbau, der Woh-nungsbau und die Landwirtschaft. Zu fragen ist, inwie-weit die derzeitige Subventionierung noch sinnvoll undvertretbar ist oder eingestellt werden sollte.

Steinkohlesubventionen

468. Die Zuschüsse für den Absatz deutscher Stein-kohle an die Kraftwerke und an die Stahlindustrie sowiezum Ausgleich von Belastungen infolge von Kapazitäts-anpassungen stellen mit einem geplanten Volumen von2,10 Mrd Euro im Jahr 2004 den größten Posten unterden Finanzhilfen des Bundes dar; sie werden derzeit auf-grund des Gesetzes zur Neuordnung der Steinkohlesub-ventionen vom 17. Dezember 1997 gezahlt. Hinzu kom-men 120 Mio Euro Anpassungsgeld für Arbeitnehmerdes Steinkohlebergbaus. Mit diesen Geldern soll der An-passungsprozess im Steinkohlebergbau sozial flankiertwerden. Der Gesamtbetrag dieser beiden Finanzhilfen istmit einem Umfang von 2,22 Mrd Euro im Jahr 2004gegenüber 1999 (damals 3,89 Mrd Euro) bereits deutlichzurückgeführt worden, und eine weitere Reduktion die-ser Zuschüsse bis zum Jahr 2005 auf 1,94 Mrd Euro istim Gesetz bereits festgeschrieben.

Ziel dieser Subventionierung ist die Sicherung eines„angemessenen Beitrags deutscher Steinkohle“ in die-sem Verwendungsbereich. Es ist jedoch zu fragen, ob einsolcher Beitrag der deutschen Steinkohle überhaupt nocherforderlich und sinnvoll ist. Die hohen Produktionskos-ten der deutschen Steinkohle, die sich vor allem aus dersehr ungünstigen geologischen Lage der Flöze ergeben,führen angesichts der weltweit großen und wesentlichleichter zugänglichen Kohlevorkommen, die sich aufsehr viele Länder verteilen, zu einer negativen Antwort.Dies verhindert auch eine Gefährdung der heimischenKohleversorgung bei internationalen politischen Krisen.Durch die Einstellung der Steinkohleförderung inDeutschland würde die Sicherheit der Energieversor-gung nicht gefährdet. Denn der Beitrag der Steinkohleist bereits jetzt schon sehr gering; die Energieversorgungberuht in erster Linie auf anderen konkurrierenden Ener-gieträgern (JG 95 Ziffern 351 ff.). Die Zuschüsse zumAbsatz der deutschen Steinkohle sollten daher auch überdas Jahr 2005 hinaus zügig zurückgeführt werden. Falls

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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es für den Export von Fördertechnologien notwendig ist,Versuchs- und Probebergwerke zu betreiben, so ist es inerster Linie Aufgabe der entsprechenden Unternehmen,diese Basis ihrer Exporttätigkeit selbst zu finanzieren.

469. Ferner muss das Anpassungsgeld überprüft wer-den. Durch diese Finanzhilfe erhalten Arbeitnehmer desSteinkohlebergbaus, die nach ihrem 50. Lebensjahr undbis zum 1. Januar 2006 aus Anlass einer Stilllegung oderRationalisierungsmaßnahme im Steinkohlebergbau ihrenArbeitsplatz verlieren, für längstens fünf Jahre Anpas-sungsgeld als Überbrückungshilfe, bis sie Anspruch aufeine knappschaftliche Rente haben. Aus dem Anpas-sungsgeld wird zudem die (freiwillige) Weiterversiche-rung in der Gesetzlichen Krankenversicherung und derSozialen Pflegeversicherung finanziert. Für die Beurtei-lung des Anpassungsgelds ist von Bedeutung, dass dieRenten der Knappschaftlichen Rentenversicherung rechtgenerös ausgestaltet sind und ehemaligen Bergleuten zu-dem bereits vor dem allgemeinen gesetzlichen Renten-eintrittsalter besondere Renten gezahlt werden. Ange-sichts der Kürzung der maximalen Bezugsdauer vonArbeitslosengeld auf 18 Monate und der Zusammenfüh-rung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zumArbeitslosengeld II auf dem Niveau der Sozialhilfe istnicht zu begründen, dass für eine bestimmte Personen-gruppe besondere soziale Ausnahmetatbestände geschaf-fen oder erhalten werden. Das Anpassungsgeld solltedeshalb über das Jahr 2005 hinaus nicht verlängert wer-den.

Subventionierung des Wohnungsbaus

470. Die Wohnungsbauförderung hat eine lange Tradi-tion, die sich ursprünglich aus der schlechten Woh-nungslage in der Nachkriegszeit erklärt. Einen neuenSchub erhielt die Förderung des Wohnungsbaus nach derVereinigung. Heute wird der Wohnungsbau zum einendurch die Eigenheimzulage gefördert, zum anderendurch drei Gruppen von Finanzhilfen des Bundes, näm-lich den Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau,den Prämienzahlungen nach dem Wohnungsbauprämien-gesetz und dem Wohnraummodernisierungsprogrammder Kreditanstalt für Wiederaufbau für die neuen Länder.Das letztgenannte Programm ist zwar im Jahr 1999 aus-gelaufen; für die damit verbundenen Schuldendiensthil-fen sind für das Jahr 2004 aber immer noch481 Mio Euro eingeplant (im Jahr 1999 waren es664 Mio Euro).

471. Mit dem Hinweis auf den weitgehend ausgegli-chenen Wohnungsmarkt und die Notwendigkeit derHaushaltskonsolidierung wurden die Finanzhilfen imBereich Wohnungswesen bereits seit Mitte der neunzigerJahre zurückgefahren; im Jahr 1999 betrugen die Zah-lungen noch 2,1 Mrd Euro, für das Jahr 2004 sind noch1,4 Mrd Euro eingeplant. Es wäre sinnvoll, diese Verrin-gerung zügig weiter zu führen. So sollte man den sozia-len Wohnungsbau – für den im Jahr 2004 noch Ausga-ben in Höhe von 451 Mio Euro angesetzt sind –auslaufen lassen, sofern er in der traditionellen Form alsObjektförderung angelegt ist und damit einen sehr nied-

rigen Zielerreichungsgrad besitzt. Die notwendig blei-bende Subjektförderung kann besser im Rahmen desWohngelds und durch gezielte Maßnahmen für bedürf-tige Personen erfolgen.

472. Für die Prämien nach dem Wohnungsbauprä-miengesetz, die im Subventionsbericht als Sparförde-rung eingeordnet werden, sind im nächsten Jahr 500 MioEuro eingeplant, nach 423 Mio Euro im Jahr 1999.Diese Regelung ist bislang unbefristet. Sie soll jedochnach dem Haushaltsbegleitgesetz 2004 in der Form aus-laufen, dass nur noch bis zum Jahr 2009 geleistete Auf-wendungen aufgrund von vor dem 1. Januar 2004 abge-schlossenen Verträgen prämienbegünstigt sind. DieWohnungsbauprämien in Abhängigkeit von der indivi-duellen Sparleistung sollen das Bausparen fördern unddadurch die finanzielle Grundlage zur Schaffung vonWohneigentum spürbar stärken. Da die Wohnungsbau-prämie, die 10 vH der prämienbegünstigten Aufwendun-gen ausmacht, auf 512 Euro für Alleinstehende und1 024 Euro für Verheiratete je Jahr begrenzt ist und au-ßerdem nur für Personen gilt, die ein maximales zu ver-steuerndes Einkommen von 25 600 Euro beziehungs-weise 51 200 Euro erzielen, bezieht sie sich nur aufPersonen mit niedrigem und mittlerem Einkommen– Kinder gut verdienender Eltern eingeschlossen.

Die mit der Wohnungsbauprämie angestrebten Zielewerden nur begrenzt erreicht, da zum einen nicht sicher-gestellt werden kann, dass die Aufwendungen für dasBausparen zusätzlich zu der sowieso geplanten Erspar-nis erfolgen und nicht nur aus einer Umschichtung re-sultieren, und zum anderen weil die für den Erhalt derWohnungsbauprämien geleisteten Einzahlungen aufBausparverträge nicht für den Wohnungsbau verwendetwerden müssen. Nach Ablauf einer Festlegungsfrist kön-nen die auf den Bausparverträgen angesparten Summenauch steuerunschädlich anderweitig verwendet werden.Außerdem verursacht die Förderung nur einer bestimm-ten Sparform allokative Verzerrungen. Das vorgeseheneAuslaufen der Wohnungsbauprämie ist daher zu begrü-ßen.

473. Die Eigenheimzulage ist derzeit das wohl wich-tigste und fiskalisch aufwändigste Instrument der Eigen-heimförderung. Am 27. Oktober 1995 beschloss der Deut-sche Bundestag das Gesetz zur Neuregelung dersteuerlichen Wohneigentumsförderung. Mit diesem Pro-gramm wurde die bis dahin geltende steuerliche Förde-rung (im Wesentlichen nach § 10e und § 34f Einkommen-steuergesetz), die einen begrenzten Sonderausgabenabzugvon Herstellungs- beziehungsweise Anschaffungskostender zu eigenen Wohnzwecken genutzten Wohnung im ei-genen Haus über acht Jahre vorsah, auf eine progres-sionsunabhängige direkte Subvention im Wege einer Ei-genheimzulage umgestellt. Ausweislich des 19. Subven-tionsberichts der Bundesregierung wird die Eigenheimzu-lage den Steuervergünstigungen zugerechnet, weil sie ausdem Aufkommen der veranlagten Einkommensteuer fi-nanziert wird. Im Jahr 1996 betrug die Eigenheimzulage0,3 Mrd Euro. Im kommenden Jahr, nach einem vollstän-digen Förderzyklus, das heißt, wenn acht Förderjahrgänge

Öffentliche Haushalte sanieren

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die Eigenheimzulage beziehen, wird deren Volumen eineGrößenordnung von rund 11,4 Mrd Euro erreichen. Zum1. Januar 2000 wurden die Einkommensgrenzen, bis zudenen eine Förderfähigkeit besteht, gesenkt. Die Eigen-heimzulage kann nunmehr in Anspruch genommen wer-den, wenn im Zeitraum von zwei Jahren der Gesamtbetragder Einkünfte von 81 807/163 614 Euro für Allein-stehende/Ehepaare (bisher: 122 710/245 420 Euro) zu-züglich 30 678 Euro für jedes Kind nicht überschrittenwird.

Die Eigenheimzulage umfasst einen jährlichen Förder-grundbetrag und eine Kinderzulage. Der Fördergrund-betrag beträgt für die Anschaffung der Wohnung jähr-lich 5 vH der Bemessungsgrundlage, das heißt derAnschaffungs- beziehungsweise Herstellungskosten,höchstens aber 2 556 Euro. Für Ausbauten und Erweite-rungen ist ein Fördergrundbetrag von 2,5 vH der Be-messungsgrundlage, höchstens 1 278 Euro, vorgesehen.Für ökologische Bauweisen kann sich der Fördergrund-betrag noch einmal um maximal 256 Euro für energie-sparende Maßnahmen beziehungsweise 205 Euro fürNiedrigenergiehäuser erhöhen. Hinzu kommt eine Kin-derzulage in Höhe von jährlich 767 Euro je Kind, fürdas die oder der Anspruchsberechtigte oder der Ehe-partner im jeweiligen Kalenderjahr des Förderzeitraumseinen einkommensteuerlichen Freibetrag für Kinder be-ansprucht oder Kindergeld erhält. Für den Erwerb vonGenossenschaftsanteilen vermindern sich der Förder-grundbetrag auf jährlich 1 227 Euro und die Kinderzu-lage auf jährlich 256 Euro. Die Förderungshöchstdauerbeträgt maximal acht Jahre. Bei ökologischer Bauweisekann ein Ehepaar mit zwei Kindern ein Fördervolumenvon maximal 34 768 Euro beanspruchen.

474. Ein ökonomisch überzeugendes Argument der Ei-genheimzulage könnte darin bestehen, über eine solcheFörderung etwaige steuerlich bedingte Renditenachteileder selbstgenutzten Wohnimmobilie gegenüber derMietwohnung zu kompensieren. In Deutschland unter-liegt – anders als in vielen anderen Ländern – der (Miet-oder) Nutzwert der selbstgenutzten Wohnimmobilienicht der Einkommensteuer. Das selbstgenutzte Wohnei-gentum wird steuerlich wie jedes andere Gebrauchsgut– zum Beispiel ein Kraftfahrzeug – behandelt (Konsum-gutlösung). Die selbstgenutzte Wohnimmobilie kannnicht abgeschrieben werden, und Sollzinsen im Zusam-menhang mit dem Erwerb können steuerlich nicht gel-tend gemacht werden. Dennoch sind bei der Kaufent-scheidung steuerliche Effekte sehr wichtig. In dasKalkül eines rational entscheidenden potentiellen Erwer-bers von Wohneigentum gehen nicht nur die Grunder-werbsteuer und die regelmäßig anfallende Grundsteuerein, sondern insbesondere die Erträge der alternativenVerwendung des eingesetzten Eigenkapitals und die dor-tige steuerliche Behandlung. Jeder potentielle Erwerbereiner Wohnimmobilie wird daher ein Opportunitätskos-tenkalkül, das heißt einen Renditevergleich anstellen.Die Opportunitätskosten des in der selbstgenutztenWohnimmobilie eingesetzten Kapitals entsprechen demZinssatz in einer alternativen Anlage abzüglich Steuern

und abzüglich Inflationsrate, also dem Nettorealzins die-ser alternativen Investition.

475. Der Einfluss der Besteuerung auf die entschei-dungsrelevante Rentabilität von Investitionen kanndurch deren jeweilige Kapitalkosten ausgedrückt wer-den. Die Kapitalkosten einer Investition sind definiertals die Vorsteuerrendite, die erforderlich ist, damit dieNettorendite dieser Investition der Nachsteuerrendite ei-ner Alternativinvestition entspricht. Auf diese Weise las-sen sich – über die anlagespezifischen Kapitalkosten –etwaige steuerlich bedingte Diskriminierungen von An-lagemöglichkeiten bestimmen.

Für die Frage „Bauen oder Kaufen“ versus „Mieten undAnlage des Eigenkapitals auf dem Kapitalmarkt“ ist da-her der Vergleich der Kapitalkosten im Mietwohnungs-bau – diese Kapitalkosten bestimmen bei einem funktio-nierenden Mietwohnungsmarkt die Marktmieten – mitden Kapitalkosten einer selbstgenutzten Wohnimmobilieentscheidend. Liegen die Kapitalkosten des Selbstnut-zers einer Wohnimmobilie über den Kapitalkosten imMietwohnungsbau, ist es ökonomisch sinnvoll, zurMiete zu wohnen und das verfügbare Eigenkapital amKapitalmarkt anzulegen.

Der steuerliche Vorteil des selbstgenutzten Wohneigen-tums besteht darin, dass – als Konsequenz derKonsumgutlösung – der Fiskus auf die Besteuerung dersich in der ersparten Miete niederschlagenden implizitenEigenkapitalerträge verzichtet. Da die Kapitalkosten imMietwohnungsbau – zumindest auf einem funktionieren-den Wohnungsmarkt – die Mindestmieten determinieren,führen großzügige Abschreibungsbedingungen zu gerin-geren Kapitalkosten für die Vermieter damit auch in derTendenz zu niedrigeren Mieten und so zu einer steuerbe-dingten Begünstigung auch der Mieter. Liegen die nichtzuletzt steuerlich bedingten Kapitalkosten eines Vermie-ters unter den Kapitalkosten eines Wohneigentümers, sowird der potentielle Erwerber von Wohneigentum weiterzur Miete wohnen und sein Eigenkapital am Kapital-markt anlegen.

476. Vor diesem Hintergrund ist eine staatlicheWohneigentumsförderung allokativ dann begründet,wenn die kapitalkostensenkenden Vorteile der beschleu-nigten Abschreibung im Mietwohnungsbau die Vorteileaus der Nichtbesteuerung der Eigenkapitalerträge, dieanteilig ersparte Miete, des selbstgenutzten Wohneigen-tums überwiegen. Durch die Wohneigentumsförderungwird dann erreicht, dass die Entscheidung zwischen Er-werb von Wohneigentum und Wohnen zu Miete steuer-lich nicht verzerrt wird.

Untersuchungen haben gezeigt, dass in den neunzigerJahren die staatliche Eigenheimförderung im Prinzipausreichte, die Kapitalkosten des selbstgenutztenWohneigentums auf die durch die Möglichkeiten der be-schleunigten Abschreibung heruntersubventioniertenKapitalkosten des Mietwohnungsbaus zu senken. Inso-fern war die Eigenheimzulage als Instrument eines Ver-zerrungsausgleichs ökonomisch begründet oder jeden-falls begründbar. Diese Argumentation trifft allerdings

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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heute nicht mehr zu, da in den letzten Jahren – von Aus-nahmen wie bei denkmalgeschützten Gebäudenabgesehen – die Möglichkeiten einer beschleunigten Ab-schreibung im Mietwohnungsbau faktisch gestrichenwurden. Ein Grund für ein Subventionieren der Kapital-kosten für selbstgenutzte Wohnimmobilien besteht vondaher nicht mehr.

477. Die staatliche Wohneigentumsförderung im All-gemeinen und die Eigenheimzulage im Besonderen wer-den regelmäßig auch mit positiven externen Effekten derselbstgenutzten Wohnimmobilie oder mit meritorischenArgumenten begründet. Nicht selten werden in diesemZusammenhang familienpolitische Argumente ange-führt. Wohneigentumsförderung sei letztlich Familien-förderung und daher mit den positiven externen Nutzenvon Kindern für die Gesellschaft zu rechtfertigen. DieseSichtweise unterstellt eine Komplementarität von Kin-dern und Wohneigentum in der Weise, dass Wohneigen-tum die Bedingungen für das Aufwachsen von Kindernnachhaltig verbessert. Aber warum soll bei zwei von derZusammensetzung und dem Einkommen her identischenFamilien, die nebeneinander in vergleichbaren Reihen-häusern wohnen, die eine Familie gefördert werden, diedas Reihenhaus gekauft hat, während die andere Fami-lie, die zur Miete wohnt, leer ausgeht? Gelegentlich wirdauch argumentiert, dass es für das Aufwachsen einesKindes förderlich ist, wenn der Wohnraum nicht zu be-engt ist. Blendet man einmal aus, dass der mit dem Er-werb von Wohneigentum regelmäßig verbundene Kon-sumverzicht auch zu Lasten der Kinder geht, sind dieVerteilungswirkungen einer solchen Familienpolitik unddamit eine staatliche Eigenheimförderung bedenklich.Denn es werden auf diese Weise nur die Kinder geför-dert, deren Eltern Wohneigentum erwerben. Für Eltern,die aufgrund ihres geringen Einkommens dies nicht kön-nen, für deren Kinder aber ein ausreichender Wohnraumnicht minder wichtig ist, findet bis auf das Wohngeldkeine Förderung statt. Eine Kinderkomponente in der Ei-genheimzulage ist daher ein falsches Instrument, um dieWohnsituation von Kindern zu verbessern. Dieses Zielließe sich durch ein einheitliches Kindergeld eher errei-chen, unabhängig davon, ob die Familie Wohneigentumerwirbt oder eine größere Mietwohnung bezieht.

478. Die Unterstützung durch die Eigenheimzulagemag für den Einzelnen ein willkommener Zuschuss fürden Kauf oder Bau einer Immobilie sein – ökonomischund verteilungspolitisch gerechtfertigt ist die Eigen-heimzulage jedoch nicht beziehungsweise nicht mehr.Wer ein Haus bauen will oder eine Eigentumswohnungerwerben will, wird den Zuschuss nicht zurückweisen –ob er ihn benötigt oder nicht. Wer über zu wenig Eigen-kapital verfügt, um sich eine eigene Wohnimmobilieleisten zu können, für den wird auch die Eigenheimzu-lage nur in wenigen Fällen der entscheidende Impuls da-für sein, sich zum Hauskauf zu entschließen. Das Argu-ment ihrer Befürworter, die Eigenheimzulage sei einbedeutendes sozialpolitisches Mittel für die Eigenheim-förderung, gilt nur in einem sehr engen Bereich für sol-che Personen, die ohne Eigenheimzulage auf den Erwerbvon Wohneigentum verzichtet hätten. Deshalb greift

auch das Argument, die Eigenheimzulage habe eine He-belwirkung, die einen Großteil der Arbeitsplätze imBaubereich sichere, zu kurz. Denn die Eigenheimzulagedürfte nur für sehr wenige Nachfrager der Entschei-dungsgrund für den Kauf oder Bau einer eigenen Immo-bilie sein.

Die Eigenheimzulage hat sich überlebt. Angesichts einesin vielen Regionen gesättigten Wohnungsmarkts, zuneh-mender Leerstände und des zu erwartenden Bevölke-rungsrückgangs in den kommenden Jahrzehnten sollteder Staat den Immobilenmarkt nicht mehr fördern. Miteiner Anpassung der Fördersätze von Neubauten undBestandsbauten dürfte es nicht getan sein. Die Politiksollte sich zu einer kompletten Streichung der Eigen-heimzulage durchringen.

Subventionierung der Landwirtschaft

479. Die deutsche Landwirtschaft, in der die Beschäfti-gung seit langem schrumpft und in der im Jahr 2002noch 955 000 Erwerbstätige beschäftigt waren, wird aufvielfältige Weise gefördert. Die umfangreiche Unterstüt-zung dieses Sektors erfolgt vor allem im Rahmen derGemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union. ImBundeshaushalt 2003 sind für die Marktordnungsausga-ben der Europäischen Union 6,8 Mrd Euro vorgesehen.Dabei findet bislang die Förderung vor allem durch Di-rektzahlungen an die Landwirte und durch Marktordnun-gen statt, in deren Rahmen die Preise der Agrarerzeug-nisse dem Wirken des Marktmechanismus entzogenwerden. Stattdessen werden sie administrativ festgesetztund durch Interventionspreise, Stützungskäufe und dasSystem der Agrarabschöpfung an der EU-Außengrenzeabgesichert. Die daraus resultierenden Anreize zur Aus-weitung der Produktion machten diese Politik im Laufeder Zeit für den EU-Agrarhaushalt immer aufwändiger.Zusätzliche Kosten entstehen dadurch, dass die über-schüssigen Mengen mit Hilfe hoher Exportsubventionenauf den Weltmärkten abgesetzt oder auf Lager genom-men werden mussten. Gleichzeitig wurde in einigen Be-reichen versucht, den Produktionsanreizen durch Maß-nahmen der Produktionsdrosselung entgegenzusteuern(JG 2001 Ziffern 441 ff.). Erst im Juni 2003 hat der Ratder Europäischen Union eine Reform der GemeinsamenAgrarpolitik beschlossen, in der die Direktzahlungen andie Landwirte grundsätzlich von der Produktion entkop-pelt werden (Ziffern 181 ff.).

480. Verglichen mit den Volumina dieser Förderungund der Begünstigung von Land- und Forstwirten imSteuerrecht (zum Beispiel durch die pauschalierte Ge-winnermittlung) sind die unmittelbaren Finanzhilfen desBundes an die Landwirtschaft eher von nachrangigerBedeutung. Sie umfassen 31 unterschiedlich dotiertePositionen. Im Jahr 2003 waren im Bundeshaushalt rund1,2 Mrd Euro als Finanzhilfen in diesem Bereich vorge-sehen. Gegenüber dem Jahr 2001 hat sich das Volumender Finanzhilfen (vermeintlich) um etwa 0,4 Mrd Euroreduziert. Dies war jedoch im Wesentlichen auf eineUmstellung der Subventionierung des landwirtschaftlichgenutzten Gasöls (Dieselkraftstoff) von einer direkten

Öffentliche Haushalte sanieren

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Förderung im Rahmen des Landwirtschafts-Gasölver-wendungsgesetzes als Finanzhilfe hin zu einer steuerli-chen Förderung im Rahmen des Agrardieselgesetzes zu-rückzuführen. Seit Beginn des Jahres 2001 wird Land-,Forst- und Teichwirten ein Teil der Mineralölsteuer ver-gütet, zunächst in Höhe von 15,3 Cent je Liter Diesel-kraftstoff. Im Zuge der ökologischen Steuerreform istdie Vergütung auf 21,5 Cent im Jahr 2003 gestiegen. Da-durch wurde dieser Personenkreis von der Anhebung derMineralölsteuersätze für Dieselkraftstoff verschont, wo-durch das Volumen dieser Subvention sogar noch zu-nahm. Dies verdeutlicht nochmals, wie eng Finanzhilfenund Steuervergünstigungen als Subventionskomponen-ten verflochten sind. Darüber hinaus existieren weitereSubventionstatbestände, die überprüft werden sollten.Neben einer Vielzahl von kleineren Förderprogrammenim Jahr 2004 sind hier unter anderem die folgendenBundeszuschüsse zu nennen: an die Träger der land-wirtschaftlichen Unfallversicherung (250 Mio Euro), zurGewährung einer Rente an Kleinlandwirte bei Land-abgabe (79 Mio Euro), zur Förderung der Einstellungder landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit (80 Mio Euro)und an die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein(99 Mio Euro) zur Verbilligung des Agraralkohols.

Finanzhilfen, die die laufende Produktion subventionie-ren, sollten angesichts der Überproduktion und der feh-lenden Wettbewerbsfähigkeit vieler landwirtschaftli-cher Betriebe abgeschafft werden: Dies gilt für dieDieselkraftstoff-Verbilligung ebenso wie für die Zu-schüsse an die Bundesmonopolverwaltung für Brannt-wein. Letztere sollten nicht nur – wie bisher geplant –bis zum Jahr 2007 um rund 16 vH gekürzt, sonderngänzlich abgeschafft werden. Alle anderen Maßnah-men, wie beispielsweise Zuschüsse an die landwirt-schaftliche Unfallversicherung oder die Renten fürLandabgabe, sollten grundsätzlich mit dem Ziel einerspürbaren Konsolidierung der öffentlichen Haushalteauf den Prüfstand gestellt werden.

Der größte Anteil der Finanzhilfen an die Land- undForstwirtschaft wird allerdings im Rahmen der Gemein-schaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur unddes Küstenschutzes bereitgestellt. Im 19. Subventions-bericht wird der Bundesanteil allein für die Verbesse-rung der Agrarstruktur im Jahr 2004 mit 545 Mio Euroangegeben. Dies entspricht einer Absenkung gegenüberdem Jahr 1999 um rund 15 vH. Die Förderung erfolgt imRahmen dieser Gemeinschaftsaufgabe durch eine Viel-zahl von einzelnen Maßnahmen, die ebenfalls alle über-prüft werden sollten. Beispielhaft sei auf die unbefristeteAusgleichszulage in Berggebieten und bestimmten ande-ren benachteiligten Gebieten verwiesen, für die131 Mio Euro im Jahr 2003 vorgesehen waren. In diesenGebieten sollen durch eine Verbesserung des landwirt-schaftlichen Einkommens die Sicherung einer standort-gerechten Landbewirtschaftung, die Erhaltung des länd-lichen Lebensraums sowie die Erhaltung und Förderungnachhaltiger Bewirtschaftungsformen, die auch den Be-langen des Umweltschutzes Rechnung tragen, unter-stützt werden. Selbst wenn man die Zielsetzung derMaßnahme akzeptiert, so führt doch ihre konkrete Aus-

gestaltung dazu, dass der größte Teil der Mittel fehlge-lenkt wird. Denn damit ein Betrieb die Ausgleichszulageerhält, genügt es, wenn mindestens drei Hektar landwirt-schaftlicher Nutzfläche dieses Betriebs im benachteilig-ten Gebiet liegen und sich der Betriebsleiter verpflichtet,seinen Betrieb noch mindestens fünf weitere Jahre zubewirtschaften. Die Fördergebiete umfassen auf dieseWeise über 50 vH der landwirtschaftlich genutzten Flä-che der Bundesrepublik Deutschland. Offensichtlichwerden auch Betriebe gefördert, die vor allem außerhalbder benachteiligten Gebiete produzieren. Insofern sollteund kann durch eine deutlich engere Begrenzung derFörderkriterien der Subventionsaufwand drastisch redu-ziert werden.

Konsolidierung durch Rückführung der aktiven Arbeitsmarktpolitik

481. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen hatten imHaushalt der Bundesanstalt für Arbeit für das Jahr 2003ein Volumen von 21,5 Mrd Euro. Die Ausgaben der akti-ven Arbeitsmarktpolitik sind somit ein gewichtigerHaushaltsposten, der auch auf einen möglichen Konsoli-dierungsbeitrag zu überprüfen ist. Bei dieser Prüfungmuss berücksichtigt werden, dass die aktive Arbeits-marktpolitik antizyklisch wirkt. Dies gilt auch für dieLohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit, bei denen diePolitik durch die Verkürzung der Bezugsdauer beim Ar-beitslosengeld und die geplante Zusammenlegung vonArbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bereits Maßnahmenumgesetzt oder auf den Weg gebracht hat, die zu erhebli-chen Einsparungen und Anreizverbesserungen führen.Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik habenaber genau wie die im Zusammenhang mit der Reformdes Arbeitslosengelds ergriffenen Maßnahmen tendenzi-ell eine Schwächung der automatischen Stabilisatoren indiesem Bereich zur Folge. Auch findet über die aktiveArbeitsmarktpolitik in beträchtlichem Umfang ein Fi-nanztransfer von Regionen mit niedriger Arbeitslosig-keit zu Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit statt. Bei ei-ner Überprüfung dieser Maßnahmen muss allerdingsberücksichtigt werden, dass es in den letzten Monatenbereits zu beträchtlichen Einsparungen und Kürzungendurch die Bundesanstalt für Arbeit gekommen ist(Ziffer 241). Schließlich ist beim Wegfall von Maßnah-men darauf zu achten, dass es nicht zu entsprechendenMehraufwendungen an anderer Stelle („Verschiebebahn-höfe“) kommt. Ziel sollte vielmehr die Vermeidung un-wirksamer Ausgaben sein.

482. Vorschläge zur Kürzung oder völligen Streichungeinzelner Maßnahmen müssen noch unter einen weiterenVorbehalt gestellt werden. Zwar kommen bisherige, inder Regel mikroökonometrische Evaluationsstudien ver-schiedener Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitikin Deutschland zu einem ziemlich kritischen, teilweisesogar vernichtenden Urteil über deren Erfolg. Aber dieseUntersuchungen basieren wegen des bislang fehlendenZugangs der Wissenschaft zu adäquateren Datensätzenauf einer unzureichenden Datengrundlage, die es nursehr eingeschränkt ermöglicht, die für eine solche

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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Evaluation erforderliche Methodik anzuwenden, alsobeispielsweise adäquate Kontrollgruppen zu konstruie-ren und einer möglichen Selektionsverzerrung Rechnungzu tragen (JG 95 Ziffer 150). Hinzu kommt, dass eineReihe von evaluierten Maßnahmen hauptsächlich in Ost-deutschland nach ihrer Implementierungsphase umge-staltet wurde. Mittlerweile mag die Bereitschaft derBundesanstalt für Arbeit gewachsen sein, der Wissen-schaft – allerdings noch unter ziemlich restriktivenBedingungen – aussagekräftigere Datensätze zugänglichzu machen, ein Anliegen, für das auch der Sachverstän-digenrat eindringlich geworben hatte (JG 98 Ziffer 432).Die Ergebnisse der weiterführenden Untersuchungensollten daher berücksichtigt werden, um eine abschlie-ßende, wissenschaftlich fundiertere Aussage darübertreffen zu können, welche Maßnahmen der aktiven Ar-beitsmarktpolitik erfolgversprechend sind. Sollten sichdie vorläufigen negativen Einschätzungen, die auchdurch Studien aus dem Ausland gestützt werden, indesbestätigen, so müssten die betreffenden Maßnahmen deraktiven Arbeitsmarktpolitik nicht nur wie bereits derzeitreduziert, sondern endgültig eingestellt werden. Hinzukommt, dass die Ergebnisse zukünftiger Analysen schonbeträchtliche positive Einschätzungen zulassen müssten,um negative Effekte der aktiven Arbeitsmarktpolitiküberzukompensieren, wie etwa die Verdrängung privat-wirtschaftlicher Aktivitäten.

483. Unter den genannten Einschränkungen liefern diebisher vorliegenden Ergebnisse bereits einige Hinweiseauf den relativen Erfolg bestimmter Maßnahmetypen.Am erfolgreichsten scheint die Förderung von Beschäf-tigung auf dem ersten Arbeitsmarkt sowie, mit Abstri-chen, die Vermittlung von speziellen Kenntnissen zusein. Bei der Förderung öffentlicher Beschäftigung oderallgemeinbildender Kurse deuten die Untersuchungendarauf hin, dass diese Maßnahmen weniger erfolgreichoder sogar schädlich in dem Sinne sind, dass sie dieWahrscheinlichkeit senken, dass ein Arbeitsloser, derdaran teilgenommen hat, danach eine Stelle auf dem ers-ten Arbeitsmarkt findet. Angesichts der Vielzahl der vonder Arbeitsverwaltung eingesetzten Instrumente kann eshier nicht um eine vollständige Aufzählung der kritischzu durchleuchtenden Maßnahmen gehen. Beispielhaftsoll hier nur auf die „Beschäftigung schaffenden Maß-nahmen“, die Altersteilzeit und die Weiterbildungsmaß-nahmen hingewiesen werden.

Die bereits eingeleitete Rückführung von „Beschäfti-gung schaffenden Maßnahmen“ sollte konsequent fort-gesetzt werden. Eine komplette Abschaffung dieserInstrumente allein in Westdeutschland führt zu Einspa-rungen von insgesamt rund 430 Mio Euro. Auch in Ost-deutschland gibt es Raum für weitere Einsparungen: DerVerzicht der Bundesregierung auf das Kriterium des Ein-gliederungserfolgs ist als ein Eingeständnis zu werten,dass „Beschäftigung schaffende Maßnahmen“ als Ver-mittlungs- und Qualifizierungsinstrument versagt haben.Das hilfsweise vorgetragene sozialpolitische Argument– „Beschäftigung schaffende Maßnahmen“ gäben Ar-beitslosen zumindest zeitweise eine Tätigkeit und ver-

hinderten einen weiteren Anstieg der offenen Arbeitslo-sigkeit sowie der transferierten Einkommen – ist eineschwache Begründung für die Fortführung dieser Maß-nahme und spräche im Übrigen für eine Finanzierungüber Steuermittel. Auch die Altersteilzeit in Form des„Blockmodells“, die zur Zeit mit einem Volumen vonjährlich rund 860 Mio Euro gefördert wird, sollte nichtüber die bisher vorgesehene Laufzeit bis zum Jahr 2009verlängert, sondern möglichst bald gestrichen werden.Denn im Gegensatz zu einem, wie ursprünglich geplant,gleitenden Wechsel in der Beschäftigung von alten zujungen Arbeitnehmern, wird die Altersteilzeit in Formdes Blockmodells ganz überwiegend zur Frühverrentungeingesetzt.

Die von der Bundesanstalt für Arbeit begonnene kriti-sche Überprüfung des Angebots an beruflichen Weiter-bildungsmaßnahmen sollte fortgesetzt werden. Wie hochder Anteil der ineffektiven oder wenig effektiven Maß-nahmen und das damit einhergehende Einsparvolumenist, lässt sich derzeit nicht eindeutig beziffern, doch an-gesichts eines Gesamtvolumens von über 5 Mrd Euro istauch hier ein beträchtliches Einsparvolumen zu erwar-ten.

Konsolidierung durch die Abschaffung von Steuervergünstigungen

484. Geht man davon aus, dass das Konzept der syn-thetischen Einkommensteuer und das Leistungsfähig-keitsprinzip derzeit die bestimmenden Normen des deut-schen Einkommensteuerrechts sind, dann sind Abzügevon der Steuerbemessungsgrundlage zur Ermittlung dersteuerlichen Leistungsfähigkeit wie zum BeispielGrundfreibeträge oder Werbungskosten keine Steuerver-günstigungen. Steuervergünstigungen stellen nur solcheVorschriften dar, die zu einer unterschiedlichen Behand-lung der verschiedenen Einkunftsarten führen oder inDurchbrechung des Leistungsfähigkeitsprinzips einenbestimmten Kreis von Steuerpflichtigen bevorzugen.Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, wie groß derKreis der Begünstigten ist. Der im Angelsächsischenübliche Begriff für Steuervergünstigung – tax expen-diture – macht deutlich, dass es sich bei Steuervergünsti-gungen – das heißt, ein dem Gleichheits- und Leistungs-fähigkeitsprinzip zuwider laufender einkunftsart- undgruppenspezifische Verzicht auf Besteuerung – um überdas Steuersystem getätigte Ausgaben handelt. Die Ei-genheimzulage ist ein typisches Beispiel für eine solcheAusgabe. Nicht zuletzt deshalb ist es falsch, einen Ab-bau von nicht gerechtfertigten Steuervergünstigungenmit Steuererhöhungen gleichzusetzen.

Sowohl theoretische Überlegungen als auch empirischeBefunde lassen es ratsam erscheinen, mit der Einkom-mensteuer – jenseits der Umverteilung über den Progres-sionstarif – keine Lenkungsziele zu verfolgen, sondernauf eine weitestgehende Wirkungsneutralität des Ein-kommensteuerrechts zu achten und wirtschaftspolitischeLenkungsaufgaben zum Beispiel dem Verbrauchsteuer-system zu übertragen.

Öffentliche Haushalte sanieren

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Vor dem Hintergrund des beschriebenen unabweisbarenKonsolidierungsbedarfs der öffentlichen Haushalte wer-den im Folgenden die fiskalisch bedeutsamsten haus-haltsbezogenen – vermeintlichen oder tatsächlichen –Steuervergünstigungen daraufhin überprüft, ob und ge-gebenenfalls wie sie abzubauen sind. Unternehmensbe-zogene Steuervergünstigungen wie zum Beispiel dieHalbjahres-AfA, die nach der Zusammenstellung derMinisterpräsidenten Koch und Steinbrück zu jährlichenMindereinnahmen von fast 2,5 Mrd Euro führt, werdenim Folgenden nicht diskutiert, da solche Vergünstigun-gen sowohl bei einer Umsetzung der Steuerreformop-tion I oder der Steuerreformoption II des Sachverständi-genrates als auch beim Kirchhof-Vorschlag entfallenwürden (Ziffern 566 ff.). Die zahlreichen unternehmens-bezogenen Vergünstigungen bei der Mineralölsteuer undder Stromsteuer, die nicht in das Konzept einer Öko-steuer passen, hat der Sachverständigenrat bereits mehr-fach kritisiert (JG 98 Ziffern 487 ff.).

Ehegattensplitting

485. Nach jüngsten Berechnungen des Deutschen Ins-tituts für Wirtschaftsforschung, Berlin, beliefen sich fürdas Jahr 2003 Steuermindereinnahmen als Folge desSplitting – verglichen mit einem rechnerischen Einkom-mensteueraufkommen, welches sich bei einer ersatzlo-sen Aufhebung des § 26b Einkommensteuergesetz erge-ben würde – auf 22,1 Mrd Euro. Hierbei handelt es sichfreilich um eine fiktive Größe, da im Falle einer Strei-chung eine Ersatzregelung gefunden werden müsste. Zufragen ist, ob es sich beim Ehegattensplitting um eineungerechtfertigte und damit zu streichende Steuerver-günstigung handelt.

486. Bis zum Jahr 1957 wurden die Einkünfte vonEhegatten zusammengerechnet und steuerlich so behan-delt, als seien die Einkünfte dieses Ehepaares die Ein-künfte einer Person, und wurden daher in ihrer Gesamt-höhe dem Progressionstarif unterworfen. In einem Urteilvom 17. Januar 1957 erklärte das Bundesverfassungsge-richt diese Haushaltsbesteuerung für verfassungswidrig.Sie verstoße gegen den Artikel 6 des Grundgesetzes, dain vielen Fällen Ehepaare steuerlich schlechter behandeltwürden als nichteheliche Lebensgemeinschaften. Undauch der Bundesfinanzhof stellte im Jahr 1957 fest, dasses mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht vereinbar sei,„Ehen mit eigenen Einkünften beider Ehegatten ohnebesondere stichhaltige Gründe günstiger zu besteuern alsEhen, in denen der Ehemann die gesamten Einkünfte be-zieht“.

In der Begründung des Urteils des Bundesverfassungs-gerichtes aus dem Jahr 1957 wurde erwähnt, dass dasdamals in den Vereinigten Staaten praktizierte Splittingeine verfassungskonforme Form der Ehegattenbesteue-rung sei. Dies mag ein Grund dafür gewesen sein, dassder Gesetzgeber (seit dem Jahr 1958) Ehegatten einWahlrecht zwischen der getrennten Veranlagung und derZusammenveranlagung nach dem Ehegattensplittingver-fahren einräumt (§§ 26, 26a, 26b EStG). Sofern die Ehe-partner keine anderslautende Erklärung abgeben, wird

unterstellt, dass die Zusammenveranlagung, das Split-ting, gewählt wurde.

Für diese Form der Ehegattenbesteuerung werden imWesentlichen zwei Gründe angeführt:

– Die Ehe steht unter dem Schutz des Grundgesetzes(Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz). Daher dürfen Ver-heiratete steuerlich nicht schlechter gestellt sein alsLedige, die bei gleichen wirtschaftlichen Verhältnis-sen in einer nichtehelichen Partnerschaft zusammen-leben (Grundsatz der Nichtdiskriminierung der Ehe).

– Die Ehe stellt eine „rechtlich anerkannte und ge-schützte Gemeinschaft des Erwerbs dar“. Dies bedeu-tet, dass jeder Partner einen gleichberechtigten Teil-habeanspruch an dem aus den gemeinsamenBemühungen – seien sie erwerbswirtschaftlicher oderfamilienarbeitsmäßiger Natur – resultierenden Ge-samteinkommen hat (Grundsatz der Gesamteinkom-menbesteuerung).

Steuertechnisch bedeutet (Ehegatten-)Splitting, dass dieindividuell ermittelten steuerpflichtigen Einkünfte vonzusammenlebenden Eheleuten erstens zu einer Summezusammengefasst und zweitens durch den Splittingdivi-sor zwei geteilt werden. Auf die so ermittelte Hälfte desgemeinschaftlichen Gesamteinkommens wird der Steuer-tarif angewendet, und zur Errechnung der Steuerschuldwird der so ermittelte Steuerbetrag verdoppelt.

Beim Splitting handelt es sich mithin um eine Mischungvon Haushaltsbesteuerung und Individualbesteuerung.Diese Regelung ist umso vorteilhafter, je mehr sich dieindividuellen Einkommen der Ehepartner unterscheiden.Denn jeder Ehepartner kann für das halbe Gesamtein-kommen den vollen Grundfreibetrag ausnutzen und aneiner geringeren Steuerbelastung infolge des progressi-ven Tarifs partizipieren. Nach Maßgabe des Einkom-mensteuertarifs 2002 beläuft sich die maximale Split-tingwirkung auf 9 872 Euro und wird erreicht, wenn dasvon nur einem Ehepartner erzielte zu versteuernde Ein-kommen 110 016 Euro – dies ist das Doppelte der tarifli-chen Einkommensgrenze, ab welcher der Spitzensteuer-satz gilt – oder mehr beträgt. Die entlastendenSplittingwirkungen hängen zum einen ab vom Spitzen-steuersatz und von der Breite des Progressionsbereichssowie vom Unterschied in der Höhe der Einkünfte derEhepartner. Nach In-Kraft-Treten der dritten Stufe derSteuerreform sinkt der Splittingeffekt – wegen des Rück-gangs des Spitzensteuersatzes von 48,5 vH auf 42 vH beigleichzeitiger leichter Senkung der tariflichen Einkom-mensgrenze, ab der der Spitzensteuersatz gilt, von55 008 Euro auf 52 152 Euro – auf maximal 7 914 Euro.Mit abnehmender Differenz zwischen den steuerpflichti-gen Einkünften der Ehegatten – zum Beispiel als Folgeeiner steigenden Erwerbstätigkeit der Frauen – schwin-den die Splittingwirkungen recht schnell.

Von dem vom Deutschen Institut für Wirtschaftsfor-schung, Berlin, berechneten fiktiven Steuerersparnissenim Jahr 2003 in Höhe von 22,1 Mrd Euro fielen20,6 Mrd Euro in den alten Ländern an; gut 60 vH die-ser Summe oder 13,6 Mrd Euro betreffen Alleinverdie-nerehepaare. Fast die Hälfte der Splittingwirkung würde

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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Ehepaaren zugute kommen, die ein Haushaltseinkom-men von weniger als 50 000 Euro versteuern. Ehepaaremit Kindern würden mit 14,5 Mrd Euro (65 vH) am fis-kalischen Gesamteffekt partizipieren. Bemerkenswert seizudem, dass der durchschnittliche Splittingeffekt beiEhepaaren mit Kindern höher ist als bei kinderlosenPaaren. Ein nicht selten auch aus familienpolitischenMotiven heraus gefordertes Familiensplitting, das heißt,ein nach Maßgabe der Kinderzahl über zwei liegenderSplittingdivisor, würde sich nicht aus den das Ehegatten-splitting begründeten Grundsätzen ableiten lassen undwäre mit höheren Steuerausfällen und einer außeror-dentlich starken Entlastung insbesondere der Haushaltemit höheren steuerpflichtigen Einkommen verbunden.

487. Kritisch wird gegen diese Besteuerungspraxis ein-gewendet, diese Regelung

– begünstige die Institution „Ehe“, verkenne eine geän-derte Lebenswirklichkeit und diskriminiere damitnichteheliche Lebenspartnerschaften,

– führe zu hohen fiskalischen Mindereinnahmen undsei verteilungsmäßig ungerecht,

– setze Anreize, dass verheiratete Frauen häufig in ge-ringerem Umfang am Erwerbsleben teilnehmen,

– überbetone den aus dem Charakter der Ehe als „Er-werbsgemeinschaft“ resultierenden gleichberechtig-ten Teilhabeanspruch beider Partner am Gesamtein-kommen und berücksichtige mit dem Splittingdivisorvon zwei weder die Zahl der Kinder im Haushaltnoch die Haushaltsersparnisse, die aus dem Zusam-menleben erwachsen. Genau wie im Sozialrecht dieHaushaltsersparnis durch einen niedrigeren Regelsatzfür Haushaltsangehörige berücksichtigt würde, müsseder zweite Grundfreibetrag niedriger beziehungs-weise der Splittingdivisor kleiner als zwei sein.

488. Diese Argumente mögen im Einzelnen berechtigtsein, sind aber dennoch nicht geeignet, den § 26 Ein-kommensteuergesetz in Frage zu stellen und das Ehegat-tensplitting als eine unsystematische und damit auch fürKonsolidierungszwecke zur Disposition stehende Steu-ervergünstigung erscheinen zu lassen. Denn wenn manwie das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigenRechtssprechung die intakte Durchschnittsehe in typi-sierender Weise als eine Erwerbs- und Verbrauchs-gemeinschaft ansieht und nicht nur von einem Unter-haltsanspruch, sondern von einem Teilhabeanspruch derEhepartner am Gesamteinkommen der Ehegemeinschaftausgeht und damit das Verhältnis der Einkünfte der Ehe-gatten ausblendet, dann ist das Ehegattensplitting einesystematisch gebotene Regelung. Beide Ehepartner wer-den so gestellt, als ob sie jeweils 50 vH zum Gesamtein-kommen beigetragen hätten. Damit wird gewährleistet,dass gleiche Gesamteinkommen von Ehepaaren – unab-hängig vom Beitrag des einzelnen Ehepartners zu die-sem Gesamteinkommen – steuerlich gleich belastet wer-den. Da das Gesamteinkommen den Lebensstandard undletztlich auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit be-stimmt, entspricht das Ehegattensplitting – wenn mandas Gesamteinkommensprinzip und nicht das Indivi-dualeinkommensprinzip für die Einkommensbesteue-

rung von Ehepaaren als maßgeblich betrachtet – der Be-steuerung nach der Leistungsfähigkeit.

489. Hinzu kommt, dass es sich bei den errechnetenSteuermehreinnahmen im Falle einer Abschaffung desEhegattensplittings im Sinne des § 26 Einkommensteu-ergesetz nur um einen fiktiven Betrag handelt. Denn indiesem Fall müsste eine Alternativregelung wie das amUnterhaltsrecht angelehnte Realsplitting eingeführt wer-den. Bei diesem Realsplitting wird das zu versteuerndegemeinsame Einkommen nach Maßgabe der individuel-len Einkünfte der Ehegatten aufgeteilt. Die Differenzzwischen den zu versteuernden Einkommensbeträgender Ehepartner wird durch eine in der Höhe begrenzte– fiktive – Unterhaltszahlung des besserverdienendenPartners an den nicht oder weniger verdienenden redu-ziert oder ausgeglichen. Die Steuerschuld des Ehepaaresergibt sich dann aus der nach dem fiktiven Realsplittingermittelten individuellen Steuerschuld beider Ehegatten.Nach Berechnungen des Bundesministeriums der Finan-zen würde der Übergang zu dieser Regelung je nach un-terstellter Höhe des fiktiven Unterhalts nur zu einemSteuermehraufkommen in der Größenordnung von biszu 2,7 Mrd Euro führen.

490. Das Ehegattensplitting wird begründet durch dieGrundsätze der Nichtdiskriminierung der Ehe und derGesamteinkommensbesteuerung. Akzeptiert man diesePrinzipien, dann gibt es keine Alternative zum Ehegat-tensplitting – weder rechtlich noch steuersystematisch –,und die Wirkungen dieser Regelung sind kein ungerecht-fertigter Vorteil. Das Ehegattensplitting ist somit keineSteuerbegünstigung, sondern eine unvermeidliche Kon-sequenz dieser Prinzipien und nur durch einen linearenTarif zu beseitigen. Diese Regelung sollte daher nicht fürKonsolidierungszwecke zur Disposition stehen.

Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte

491. Die Möglichkeit, Aufwendungen für Fahrten zumArbeitsplatz steuermindernd geltend zu machen, ist jähr-lich mit Steuermindereinnahmen von etwa 5 Mrd Euroverbunden.

Nach § 9 Absatz 1 Einkommensteuergesetz kann der Ar-beitnehmer Aufwendungen für Fahrten zwischen Woh-nung und Arbeitsstätte – unabhängig vom benutztenVerkehrsmittel – als Werbungskosten absetzen. Aller-dings sind in der Regel nicht die tatsächlichen Aufwen-dungen abzugsfähig, sondern Pauschalbeträge in Ab-hängigkeit der Entfernung zwischen Wohnort undArbeitsstätte. Diese Entfernungspauschale beträgt der-zeit für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischenWohnung und Arbeitsstätte 0,36 Euro für die ersten zehnKilometer und 0,40 Euro für jeden weiteren Kilometer;höchstens dürfen jedoch 5 112 Euro im Kalenderjahr an-gesetzt werden, sofern durch die Benutzung öffentlicherVerkehrsmittel nicht höhere Kosten entstanden sind. Diesteuerliche Behandlung von Fahrtkosten darf nicht unab-hängig von der steuerlichen Behandlung von Umzugs-kosten gesehen werden, da der Umzug die relevante Al-ternative zum Pendeln darstellt. In Deutschland werden

Öffentliche Haushalte sanieren

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Umzugskosten dann als Werbungskosten anerkannt,wenn der Umzug aus Anlass eines Arbeitsplatzwechselsnotwendig ist und wenn durch den Wohnungswechselder erforderliche Zeitaufwand für den Weg zwischenWohnung und Arbeitsstätte wesentlich reduziert wird.

Die deutschen Regelungen sind im internationalen Ver-gleich als generös zu bezeichnen. In den VereinigtenStaaten, in Kanada, im Vereinigten Königreich, in Portu-gal, in Spanien und in Australien werden Fahrtkostenzur Arbeit steuerlich nicht anerkannt. In nahezu allenanderen Ländern sind entweder der Abzugsbetrag oderim Falle von Kilometerpauschalen die anerkannten Ent-fernungen gedeckelt, und in vielen Ländern ist ein Abzugerst dann zulässig, wenn eine Mindestentfernung über-schritten wird (Dänemark, Finnland, Norwegen, Öster-reich, Schweden), oder es wird der Abzug durch die Al-ternativkosten der öffentlichen Verkehrsmittel limitiert(Finnland, Norwegen, Schweden, Schweiz).

492. Seit im Jahr 1891 in Preußen eine moderne Ein-kommensteuer eingeführt wurde, wird sowohl über das„Ob“ als auch über das „Wie“ einer steuerlichen Berück-sichtigung der Fahrten zum Arbeitsplatz gestritten. Nachherrschender juristischer Interpretation gelten die Fahrt-kosten als notwendige Ausgaben, um Einkommen zu er-zielen. Nach dem Nettoprinzip sind sie deshalb von derSteuerbemessungsgrundlage abzuziehen. Einige Juris-ten gehen sogar so weit, in der Pauschalierung der Ab-zugsfähigkeit einen Verstoß gegen das Nettoprinzip zusehen, da die geltende Regelung die mit der Fahrzeug-nutzung verbundenen Gesamtkosten je Kilometer nichtabdecke. Eine Pauschalierung könne dann neben Verein-fachungsgründen damit begründet werden, dass aus um-weltpolitischen Erwägungen die Benutzung des Autosfür Fahrten zur Arbeitsstelle zurückgedrängt oder einerZersiedelung der Landschaft begegnet werden soll.

493. Aus ökonomischer Sicht ist die Frage, ob eineAbzugsfähigkeit der Fahrtkosten gerechtfertigt ist, nichteindeutig zu beantworten. Grundsätzlich sollte eine steu-erpolitische Vorschrift so gestaltet sein, dass sie unterEffizienzgesichtspunkten nicht zu beanstanden ist. Diesist regelmäßig dann der Fall, wenn eine einzelwirtschaft-liche Entscheidung ohne diese Vorschrift die gleichewäre wie mit dieser Vorschrift beziehungsweise wenndie Rangfolge von Handlungen durch die steuerpoliti-sche Maßnahme nicht verändert würde. Die Einkom-mensteuer sollte also entscheidungsneutral sein. Ein Ar-beitnehmer, der in einem weiter entfernten Ort an einerneuen Arbeitsstelle gemäß seiner Produktivität ein höhe-res Bruttoeinkommen erzielen kann, steht vor den Ent-scheidungen, ob er den Arbeitsplatz annimmt und ob ergegebenenfalls pendelt oder umzieht. Er wird sich fürden neuen Arbeitsplatz entscheiden, wenn der Barwertder Pendelkosten oder die Umzugskosten geringer sindals der Barwert der Lohndifferenz. Er wird sich für dasPendeln entscheiden, wenn der Barwert der Fahrtkostenzur Arbeitsstelle unter den Umzugskosten liegt. Da derhöhere Bruttolohn (mit dem individuellen Grenzsteuer-satz des Arbeitnehmers) besteuert wird, müssen dieFahrtkosten und auch die Umzugskosten steuerlich ab-zugsfähig sein. Ansonsten kann es dazu kommen, dassder höhere Bruttolohn zwar die Umzugs- oder Pendel-

kosten übersteigt, dies für die Nettolohndifferenz abernicht mehr gilt; der Arbeitnehmer würde sich in diesemFall gegen den Arbeitsplatzwechsel entscheiden, obwohldieser Wechsel die Faktorallokation verbessern würde.Es läge keine Entscheidungsneutralität hinsichtlich derArbeitsplatzwahl vor.

Die Mobilitätsentscheidung, das heißt, die Entscheidungzwischen Pendeln und Umziehen wird immer dann ver-zerrt, wenn nicht sämtliche mit der jeweiligen Alterna-tive verbundenen Kosten abzugsfähig sind. So wird zumBeispiel argumentiert, dass im Falle eines Umzugs dieMietpreise für die näher am Arbeitsort gelegene Woh-nung höher seien und somit die Entscheidung zu Guns-ten des Pendelns verzerrt werde, weil die Mietpreisdiffe-renz steuerlich nicht geltend gemacht werden könne.Akzeptiert man dies, müsste man, um eine unverzerrteMobilitätsentscheidung zu erreichen, die Mietpreisdiffe-renz abzugsfähig machen oder – günstiger für denFiskus – die Abzugsfähigkeit der Pendelkosten ein-schränken. Die generelle Einschränkung der Abzugsfä-higkeit der Fahrtkosten führt allerdings dazu, dass dieArbeitsplatzentscheidung verzerrt werden kann, weil dieNettolohndifferenz gegebenenfalls die Nettomobilitäts-kosten nicht übersteigt. Es ergibt sich somit ein Konfliktzwischen einer unverzerrten Mobilitätsentscheidung undeiner effizienten Faktorallokation.

Zu bedenken ist allerdings, dass Mietpreisunterschiedeoft nur Standortvorteile eines Wohnorts widerspiegeln;mithin ist mit der Umzugsentscheidung gleichsam einKonsumelement verbunden, das durch eine höhereMiete bezahlt wird. Ein solcher Konsum sollte steuerlichirrelevant sein und daher nicht in das Kalkül hinsichtlichder Arbeitsplatz- und Mobilitätsentscheidung eingehen.Ferner verursacht auch das berufsbedingte Pendeln (Op-portunitäts-)Kosten, die steuerlich nicht geltend gemachtwerden können. Dies trifft zum Beispiel auf die „Zeit-kosten“ zu, die mit dem Pendeln verbunden sind.

494. Die bisher abgeleiteten Ergebnisse gelten prinzi-piell nur für den Fall, dass der neue Arbeitsplatz nichtallzu weit von der bisherigen Wohnung entfernt ist, diePendelkosten also nicht exorbitant hoch sind, und dasPendeln eine relevante Alternative darstellt. Bei einemweiter entfernten neuen Arbeitplatz (zum Beispiel bei ei-ner Entfernung von mehr als 100 km) dürfte die Ent-scheidung in der Regel für einen Umzug fallen. Damitdie Arbeitsplatzentscheidung und damit die Faktorallo-kation nicht verzerrt wird, müssen die Umzugskostenweiterhin abzugsfähig sein. Hat sich im Falle von einemweit entfernten neuen Arbeitsplatz der Arbeitnehmer füreinen Arbeitsplatzwechsel und damit für einen Umzugentschieden, stellt sich als zweite Frage, ob er in dieNähe des neuen Arbeitsplatzes umzieht oder ob er eineWohnung etwas weiter entfernt vom Arbeitsplatz wähltund pendelt. Diese Entscheidung hat nun prinzipiellnichts mehr mit dem Arbeitsplatz zu tun, sie ist also eineprivate Entscheidung. Sind die Fahrtkosten zur Arbeits-stätte abzugsfähig, wird dadurch die Wohnortent-scheidung zugunsten einer weiter entfernten Wohnungverzerrt. Die Abschaffung der Abzugsfähigkeit der Fahrt-kosten wäre dann für eine unverzerrte Wohnortentschei-dung sinnvoll, die Abzugsfähigkeit der Umzugskosten

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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müsste aber erhalten bleiben, damit eine effizienteFaktorallokation verwirklicht werden kann.

495. Abweichend von den obigen Fällen ist auch eineEntscheidungssituation vorstellbar, in der der Arbeitneh-mer den Arbeitsplatz gar nicht wechseln will, er abertrotzdem vor der Entscheidung steht, ob er umziehensoll, vielleicht weil er eine kostengünstigere Wohnung„im Grünen“ haben will. Die Abzugsfähigkeit der Um-zugskosten würde dann die Entscheidung zu Gunsten ei-nes Umzugs verzerren, und die Abzugsfähigkeit derFahrtkosten würde – bei getroffener Umzugsentschei-dung – die Entscheidung zu Gunsten eines weiter ent-fernten Wohnorts verzerren. In dieser Situation ist wederdie Abzugsfähigkeit der Umzugskosten noch der Fahrt-kosten angebracht. Die Fahrtkosten sind aus dieser Per-spektive durch die Wahl der Wohnung privat veranlasst.

496. Insgesamt kann die Frage, ob Fahrtkosten zwi-schen Wohnung und Arbeitsstätte und Umzugskosteneinkommensteuerlich abzugsfähig sein sollen, aus öko-nomischer Sicht nicht eindeutig beantwortet werden. DieBeurteilung hängt von der jeweiligen Entscheidungssitu-ation ab, in der die Einkommensteuer neutral und damitnicht verzerrend wirken soll. Vieles spricht dafür, diebeiden Extremlösungen „volle Abzugsfähigkeit“ und„keine Abzugsfähigkeit“ nicht zu verfolgen, sonderneine mehr oder weniger begrenzte Abzugsfähigkeit zu-zulassen. Die in Deutschland in Form einer Entfernungs-pauschale verwirklichte begrenzte Abzugsfähigkeit derFahrtkosten zur Arbeitsstätte (zumindest was die Benut-zung von Kraftfahrzeugen angeht) kombiniert mit einerAbzugsfähigkeit der Umzugskosten stellt insofern einenplausiblen Kompromiss dar, den es im Kern zu erhaltengilt. Wenn eine Trennung zwischen privat veranlasstenund beruflich veranlassten Pendelentscheidungen nichtmöglich ist und sich auch keine praktikablen Abgren-zungskriterien entwickeln lassen, ist jede konkrete Fest-legung zum Umfang des steuerlichen Abzugs von Fahrt-kosten letztlich immer ein Kompromiss zwischenunterschiedlichen Zielsetzungen und Erwägungen. DieFrage, ob die derzeitige begrenzte und pauschalierte Ab-zugsfähigkeit von Fahrtkosten zur Arbeitsstätte weiterbeschränkt werden soll, lässt sich ökonomisch nicht be-antworten. Da das Bundesverfassungsgericht am 4. De-zember 2002 entschieden hat, dass die derzeit geltendeZweijahresfrist für die steuerliche Berücksichtigung ei-ner doppelten Haushaltsführung im Falle einer Ketten-abordnung und bei beiderseits berufstätigen Ehegatten– verfassungswidrig ist und das Bundesministerium derFinanzen verlautbaren ließ, diese vor sieben Jahren – ausfiskalischen Gründen – eingeführte Zweijahresfrist rück-wirkend zum 1. Januar 2003 aufzuheben, dürfte eingänzliches Streichen der Pendlerpauschale aus Gleichbe-handlungsgründen nicht möglich sein, höchstens eineweitere Rückführung in Frage kommen.

Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit

497. Nach § 3b Einkommensteuergesetz sind Zu-schläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit inner-halb gewisser Grenzen steuerfrei. Gemäß dem 19. Sub-

ventionsbericht sind damit Steuermindereinnahmen inHöhe von knapp 2 Mrd Euro verbunden.

Begründet wird die Steuerbefreiung gemeinhin mit demArbeitsleid, das mit der Arbeit zu diesen Zeiten verbun-den ist, und mit einem Allgemeininteresse an diesen Tä-tigkeiten. Es wird behauptet, dass das mit der Sonntags-,Feiertags- und Nachtarbeit verbundene höhere Arbeits-leid die Steuerbefreiung rechtfertige. Abgesehen davon,dass das Arbeitsleid kaum messbar ist, eine subjektiveEmpfindung darstellt und in der Einkommensteuer sonstgrundsätzlich nicht berücksichtigt wird, ist nicht einzuse-hen, warum es nur bei einer bestimmten Gruppe von Er-werbstätigen steuerlich relevant sein soll, zum Beispielbei einer in der Nacht arbeitenden Krankenschwester,nicht dagegen bei einer selbständigen Hebamme, die zurgleichen Zeit arbeitet. Wenn, dann müsste Arbeitsleid füralle Arbeitnehmer, Selbständige und Freiberufler berück-sichtigt werden. Durch die Zuschläge und durch die Steu-erbefreiung kommt es aber zu einer doppelten Begünsti-gung und einer Ungleichbehandlung gegenüber anderenPersonen, die ebenfalls zu diesen Zeiten arbeiten, abersolche Zuschläge und somit diese steuerlichen Begünsti-gungen nicht erhalten. Sonderlasten einzelner Berufs-gruppen beziehungsweise das Arbeitsleid kann nur sinn-voll über einen höheren Bruttolohn berücksichtigtwerden; die Prämierung muss also über den Markt imRahmen arbeitsvertraglicher Vereinbarungen erfolgen.

Der andere Ansatz, die Steuerfreiheit dieser Zuschlägezu rechtfertigen, besteht in der Betonung eines bestehen-den Allgemeininteresses an solchen Arbeiten. Diese Ar-beiten zu ungewöhnlichen Arbeitszeiten würden nichtnur im Interesse des jeweiligen Arbeitgebers liegen, son-dern auch im Interesse der Allgemeinheit, da von diesenTätigkeiten der Allgemeinheit zugute kommende posi-tive externe Effekte – zum Beispiel Versorgungssicher-heit – ausgingen. Wegen dieser positiven Effekte sei esrichtig, wenn der Staat mit der Steuerfreiheit dieser Zu-schläge Anreize setze, damit solche Tätigkeiten zu unüb-lichen Arbeitszeiten auch in ausreichendem Maße aus-geübt würden. Ob mit diesen Tätigkeiten – vermitteltüber die externen Effekte – tatsächlich öffentliche Gütererstellt werden, sei dahingestellt. Selbst wenn dem sowäre, hieße dies lediglich, dass die Bereitstellung des öf-fentlichen Gutes subventioniert werden sollte, die Be-günstigung eines speziellen Faktoreinsatzes – hier derSonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit – kann damitnicht begründet werden. Auch wenn man bei solchenTätigkeiten zu unüblichen Zeiten – sicher nicht bei Be-rufsfußballspielern, wohl aber bei der regelmäßigbemühten Krankenschwester – ein Allgemeininteresseunterstellt, wäre es zielgenauer, wenn diesen Arbeitneh-mern ein höherer Lohn, nicht aber eine Steuerbefreiungauf einen Lohnzuschlag gezahlt würde. Die Steuerpolitikist kein geeignetes Instrument, die Entlohnungsstruktu-ren an die ökonomischen Notwendigkeiten oder die ge-sellschaftlichen Prioritäten anzupassen.

498. Die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,Feiertags- und Nachtarbeit erlauben es den Tarifver-tragsparteien Verträge zu Lasten Dritter, des Staates be-ziehungsweise der Allgemeinheit der Steuerzahler zuschließen, indem sie im Vergleich zu einer Situation

Öffentliche Haushalte sanieren

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ohne diese Steuerbegünstigung tendenziell niedrigereGrundlöhne und höhere Zuschläge vereinbaren. Sonn-tags-, Feiertags- und Nachtarbeit wird dadurch für dieArbeitnehmer attraktiv; die Unternehmen sparen Lohn-kosten zu Lasten des Staates, da dem Arbeitnehmer dasgleiche Nettoeinkommen mit geringerem Aufwand ge-währt werden kann. Insofern haben nicht nur die Arbeit-nehmer ein Interesse an der Steuerfreiheit der Zuschläge,sondern auch die Unternehmen. Dies ist auch der Grund,warum es regelmäßig zu einer Allianz zwischen Ge-werkschaften und Unternehmensverbänden kommt, umeine Abschaffung dieser Steuervergünstigung zu verhin-dern. Argumentiert wird dabei von Unternehmerseite,dass die Abschaffung der Steuerfreiheit die Lohnkostenerhöhen und Arbeitsplätze gefährden würde, wenn diehöheren Kosten nicht auf die Preise überwälzt werdenkönnten oder wenn die höheren Preise die Konkurrenz-fähigkeit vor allem im Ausland reduzierten. Auch wirddarauf hingewiesen, dass die Steuerfreiheit der Zu-schläge längere Maschinenlaufzeiten sowie die flexib-lere Ausgestaltung der Arbeitszeiten begünstige und sodie (internationale) Wettbewerbsfähigkeit der Unterneh-men steigere. Diese Argumentation macht deutlich, dassdie Steuerfreiheit der Zuschläge nicht nur eine Steuer-vergünstigung für die Arbeitnehmer, sondern auch eineSubvention für die Arbeitgeber darstellt. Es ist nicht ein-zusehen, warum der Staat und damit die Steuerzahler ei-nen Teil der Lohnkosten des Arbeitgebers tragen sollen.

Die Zuschläge führen zu einer Erhöhung des disponiblenEinkommens des Steuerpflichtigen und damit zu dessensteuerlicher Leistungsfähigkeit. Da Arbeitsleid als Folgeunüblicher Arbeitszeiten keine Kategorie des Steuer-rechts ist und die Steuerfreiheit der Zuschläge das Leis-tungsfähigkeitsprinzip verletzt, ist diese Steuerbefreiungzu streichen, allerdings in Stufen, um den Tarifvertrags-parteien die Möglichkeit zu geben, sich lohnpolitischdarauf einzustellen.

Sparerfreibetrag

499. Nach § 20 Absatz 4 Einkommensteuergesetz istbei der Ermittlung der Einkünfte aus Kapitalvermögender Sparerfreibetrag in Höhe von 1 550 Euro für Allein-stehende und 3 100 Euro für Verheiratete abzuziehen. Im19. Subventionsbericht werden die Steuermindereinnah-men aufgrund des Sparerfreibetrags im Jahr 2004 mit3,2 Mrd Euro veranschlagt, wovon 1,4 Mrd Euro auf denBund entfielen.

Der Sparerfreibetrag wurde im Jahr 1975 eingeführtund betrug zunächst 300 DM beziehungsweise 600 DM.Die Einführung wurde mit der Bedeutsamkeit der Spar-tätigkeit in kapitalmarkt-, gesellschafts- und eigentums-politischer Hinsicht begründet. Insbesondere sollte dieeigenverantwortliche Vorsorge der Bürger durch Sparenerhalten und ein Ausgleich für etwaige Inflationsverlustegeschaffen werden. Die Erhöhung des Sparerfreibetragsim Jahr 1989 auf 600 DM beziehungsweise 1 200 DMwurde mit der Zunahme des Geldvermögens bei breitenBevölkerungsschichten begründet. Das Bundesverfas-sungsgericht sah in seinem Urteil vom 27. Juni 1991 ei-

nen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil derFiskus bei der Besteuerung von Kapitaleinkommen weit-gehend keine Kontrollen durchführte und sich nur aufdie Ehrlichkeit des einzelnen Steuerzahlers verließ. DerGesetzgeber wurde zu einer Neuregelung der Zinsbe-steuerung aufgefordert, die dazu führen sollte, dass alleSteuerpflichtigen sowohl rechtlich als auch tatsächlichgleich belastet werden. Daraufhin wurde mit dem Zins-abschlagsgesetz im Jahr 1992 unter anderem der Spa-rerfreibetrag auf 6 000 DM beziehungsweise 12 000 DMerhöht. Dies führte dazu, dass 80 vH der Steuerpflichti-gen mit Kapitalerträgen von der Besteuerung freigestelltwurden und in diesem Sinne eine Gleichbehandlung er-reicht wurde. Außerdem sollte mit der Erhöhung desSparerfreibetrags die Kapitalbildung aus Gründen derAlterssicherung oder einer sonstigen existenzsichern-den Vorsorge angeregt werden. Im Steuerentlastungsge-setz 1999/2000/2001 wurde zur Finanzierung der Sen-kung des Einkommensteuertarifs der Sparerfreibetragauf 3 000 DM beziehungsweise 6 000 DM halbiert mitder Begründung, dass wegen der Gleichmäßigkeit derBesteuerung unterschiedlicher Einkunftsarten eine Ver-minderung des Sparerfreibetrags geboten sei.

500. Das dem derzeitigen Einkommensteuerrecht zu-grunde liegende Konzept der synthetischen Einkommen-steuer bietet für die Gewährung eines Sparerfreibetragskeinen Raum. Kapitaleinkommen erhöhen die wirt-schaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen undsind daher im vollen Umfang der Besteuerung zu unter-werfen. Die Gewährung eines Freibetrags begünstigteine Einkunftsart gegenüber anderen Einkunftsarten undsorgt in diesem Sinne für Verzerrungen. Steuerpflichtigekönnten aufgrund der Gewährung eines Sparerfreibe-trags versucht sein, andere Vermögenseinkünfte in denBereich der begünstigten Einkünfte zu verlagern.

501. Sollte der Sparerfreibetrag als Inflationsausgleichdienen oder gedient haben, muss bedacht werden, dassim deutschen Einkommensteuerrecht das Nominalwert-prinzip gilt. Ein Inflationsausgleich nur für Einkünfteaus Kapitalvermögen ist daher ungerechtfertigt, da diesdem Prinzip der synthetischen Einkommensteuer wider-sprechend zu einer Ungleichbehandlung von einzelnenEinkunftsarten führt. Ferner muss in diesem Zusammen-hang berücksichtigt werden, dass bei den meisten Fi-nanzanlagen im Nominalzins regelmäßig bereits eine In-flationskomponente enthalten ist, so dass für diese Titel,sofern die Inflation über die Dauer der Laufzeit des Pa-piers nicht falsch antizipiert wurde, ein steuerlicher In-flationsausgleich nicht angebracht ist. Zudem wäre füreinen Inflationsausgleich ein fester von der Größe desKapitalvermögens unabhängiger Freibetrag ungeeignet,da der Inflationsverlust in Relation zum eingesetztenKapital berücksichtigt werden müsste. Da der Freibetragvon der Bemessungsgrundlage abgezogen wird, hängtdie Entlastung vom individuellen Grenzsteuersatz desSparers ab mit der Folge, dass bei gleichem Kapitalein-kommen Personen mit hohem Einkommen einen höhe-ren Inflationsausgleich erhalten als Personen mit gerin-gem Gesamteinkommen. Das ist nicht plausibel.

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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502. Generell ist der Abzug eines Freibetrags von derBemessungsgrundlage nur dann gerechtfertigt, wenn derFreibetrag einer verminderten Leistungsfähigkeit Rech-nung trägt. Dies ist beim Sparerfreibetrag nicht der Fall.Vielmehr liegt ein Verstoß gegen den Gleichbehand-lungsgrundsatz vor: Die Begünstigung fällt umso größeraus, je höher der individuelle Grenzsteuersatz des Steu-erpflichtigen ist. Deshalb ist der Sparerfreibetrag auchfür eine verteilungspolitisch motivierte Sparförderungdas falsche Instrument, da Bezieher geringer Einkom-men nur wenig und Personen, die ein einkommensteuer-pflichtiges Einkommen unterhalb des Grundfreibetragshaben, gar nicht oder nur unwesentlich gefördert wer-den. Der Sparerfreibetrag stellt somit für die Beziehermittlerer und höherer Einkommen lediglich eine für dieSparentscheidung nicht relevante Rente dar. Will mandie Kapitalbildung anregen, wäre es deshalb zielgenauer,einen pauschalen Abzug von der Steuerschuld oder eineSparprämie zu gewähren.

Als eine weitere Begründung des Sparerfreibetrags wirdauch die Vermeidung von Kapitalflucht angeführt. DasKapital sei nicht nur der mobilste Produktionsfaktor,sondern auch die mobilste Einkommensquelle. Deshalbkönne es sich kein Land leisten, Kapitaleinkommenohne Berücksichtigung der steuerlichen Verhältnisse inanderen Ländern zu besteuern. Vor diesem Hintergrundstellt die Gewährung eines Sparerfreibetrags eine ArtKapitulation des Gesetzgebers vor der Tatsache dar, dassKapitaleinkünfte kaum zu erfassen sind und deren Steu-erhinterziehung kaum verhindert werden kann. Der Frei-betrag diene daher zur Schadensbegrenzung, damit nichtzu viel Kapital ins Ausland abfließt. Auch dieses Argu-ment kann allenfalls begrenzt überzeugen, da die grenz-überschreitende Mobilität von Kapital in erster Linievon der Höhe dieser Vermögen abhängt und daher kaumvon Sparerfreibeträgen beeinflusst werden dürfte. ImÜbrigen kann einer Kapitalflucht am besten durch eineReduktion der Steuersätze – die gegebenenfalls nach ei-nem Abbau von Steuersubventionen möglich ist – odereinem Übergang zum Konzept der „Dualen Einkommen-steuer“ begegnet werden. Der Sparerfreibetrag sollte er-satzlos gestrichen werden.

Übungsleiterpauschale

503. Ehrenamtliche Tätigkeiten gelten als ein wesentli-cher Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts,weil sie in Form eines persönlichen und nicht selten zeit-aufwändigen Einsatzes soziale und gesellschaftspoliti-sche Ziele unterstützen. Die bisherige Praxis der steuer-lichen Begünstigung (einer relativ eng abgegrenztenForm) des Ehrenamtes über die so genannte „Übungslei-terpauschale“ (§ 3 Nr. 26 EStG) in Höhe von 1 848 Europro Jahr soll mit den damit verbundenen finanziellenAnreizen dieses Verhalten unterstützen. Es handelt sichin der juristischen Terminologie daher nicht um eineVereinfachungsbefreiung, sondern um eine Steuerver-günstigung für gemeinnützige Institutionen. Die Rege-lung umfasst Übungsleiter, Ausbilder, Erzieher, und neu-erdings gilt die Vorschrift auch für Betreuer.

Darüber hinaus wurde mit der Überarbeitung der Lohn-steuer-Richtlinie 2002 eine weitere steuerliche Rahmen-bedingung für ehrenamtliche Tätigkeiten verändert.Danach sind aus öffentlichen Kassen gewährte Auf-wandsentschädigungen für bestimmte ehrenamtliche Tä-tigkeiten ohne weiteren Nachweis bis zu einem Betragvon monatlich 154 Euro steuerlich als Aufwandsent-schädigung anerkannt und bleiben damit steuerfrei (§ 3Nr. 12 EStG).

Ferner wird den ehrenamtlich Tätigen ein – allerdingsnicht gesetzlich geregelter – nicht nachweispflichtigerund damit die Steuerfreiheit erhöhender Aufwandsersatzin Höhe von 256 Euro pro Jahr eingeräumt. Wird ein hö-herer Aufwand geltend gemacht, muss der gesamte Be-trag deklariert werden, und die steuerfreie Aufwandsent-schädigung beträgt maximal 1 848 Euro.

Nach Angaben der Zusammenstellung der Ministerpräsi-denten Koch und Steinbrück belaufen sich die fiskali-schen Mindereinnahmen aufgrund der Steuervergünsti-gungen für ehrenamtliche Tätigkeiten auf jährlich2 Mrd Euro.

504. Jede Form von Nachteilsausgleich im Rahmendes Einkommensteuerrechts leidet unter dem Mangel,dass lediglich diejenigen davon begünstigt werden, dieEinkommensteuer zahlen und eine Aufwandsentschädi-gung ausgezahlt bekommen. Personen, die ohne Auf-wandsentschädigung ehrenamtlich arbeiten oder nichteinkommensteuerpflichtig sind, haben keinen Vorteil.Hinzu tritt noch ein weiterer Nachteil: Jede Form einerPauschale begünstigt immer diejenigen stärker, die ei-nem höheren Grenzsteuersatz unterliegen. Das eigentli-che Ziel der Bundesregierung, das Ehrenamt zu fördern,ist auf diese Weise nur begrenzt zu erreichen. Tatsäch-lich findet eine Förderung lediglich des aufwandsent-schädigten Ehrenamtes statt. Insofern könnten Zweifelan der Geeignetheit des Instruments bei der Förderungehrenamtlicher Tätigkeiten bestehen, da nicht-aufwands-entschädigte Ehrenämter gegenüber aufwandsentschä-digten diskriminiert werden.

Eine Förderung des Ehrenamtes besteht darin, dass ge-meinnützigen Institutionen großzügig bemessene Frei-beträge bei der Gewerbe- und Körperschaftsteuer einge-räumt werden und sie zusätzlich noch einen günstigerenMehrwertsteuersatz für ihre Leistungen ansetzen dürfen.Will man gemeinnützige Institutionen stärker fördern, sosollte der Staat direkte Transfers an diese Institutionenzahlen. Die so geförderten Einrichtungen können dannentscheiden, in welcher Höhe ehrenamtlich Tätige ver-gütet werden sollen. Eine solche Regelung hätte nichtnur den Vorteil, dass die Förderung von gemeinnützigenInstitutionen transparent gemacht würde, statt wie bisherdie Höhe der Förderung tendenziell zu verschleiern. Zu-dem wäre eine Förderung über direkte Transfers wenigermissbrauchsanfällig als eine „allgemeine steuerfreieAufwandspauschale zum Nachteilsausgleich“, bei derEinkünfte leicht umzudeklarieren sind, damit sie unterdie steuerfreie Aufwandsentschädigung fallen.

Öffentliche Haushalte sanieren

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Steuerfreiheit von Zinserträgen aus Lebensversicherungen

505. In Kapitallebensversicherungen ebenso wie inRentenversicherungen mit ausgeübtem Kapitalwahlrechtentstandene Überschussanteile sind grundsätzlich steu-erpflichtig (§ 20 Absatz 1 Nr. 6 EStG). Aufgehoben istdie grundsätzliche Steuerpflicht dieser Zinserträge,wenn die Versicherung im Todesfall ausgezahlt wird und– bei einem Mindesttodesfallschutz von 60 vH derBeitragssumme – eine Laufzeit von mehr als zwölf Jah-ren hat. Voraussetzung für die Steuerfreiheit ist ferner,dass die Versicherung während des Erlebensfalls nichtzur Sicherung oder Finanzierung von Darlehen dient,dessen Schuldendienst als Werbungskosten oder Be-triebsausgaben geltend gemacht wird. Die Prämien zueiner solchen Lebensversicherung können zudem alsSonderausgaben abgezogen werden (§ 10 Absatz 1Nr. 2 EStG). Nach Angaben eines Berichts des Gesamt-verbands der deutschen Versicherungswirtschaft betrugdas Nettoergebnis dieser Kapitalanlagen im Jahr 2001etwa 34 Mrd Euro.

Die (in der Praxis mit Ausnahme für Selbständige undBeamte nicht relevante) Möglichkeit des Sonderausga-benabzugs und die Steuerfreiheit der Erträge werden wiefolgt begründet: Der langjährige, planmäßige Konsum-verzicht in der Ansparphase, die Möglichkeit, nebendem Todesfall auch das Invaliditätsrisiko abzusichern,und der Umstand, dass die Auszahlungszeitpunkte vielerLebensversicherungen in einem ruhestandsnahen Alterliegen, unterschieden die Lebensversicherung von steu-erpflichtigen Kapitalanlageprodukten und machten siedaher zu einem steuerlich förderungswürdigen Produktder Altersvorsorge.

Diese Begründung für die Steuerfreiheit der Zinserträgeist nicht überzeugend. Die gängige Praxis – zum Bei-spiel über Policendarlehen – Kapitallebensversicherun-gen unter Betonung des Steuervorteils als attraktives Fi-nanzierungsinstrument zu benutzen, dokumentiert denCharakter dieser Versicherungen als Kapitalanlagepro-dukt. Über eine kapitalbildende Lebensversicherungkönnen zwar die biometrischen Risiken des Tods oderder Invalidität abgesichert werden; ein Altersvorsorge-produkt stellt sie aber nicht dar. Altersvorsorgeproduktesind dadurch gekennzeichnet, dass sie das biometrischeRisiko der Langlebigkeit über eine lebenslange Renteabsichern und dass die in der Einzahlungs- und Anspar-phase erworbenen Anwartschaften oder Ansprüche nichtbeleihbar, nicht kapitalisierbar, nicht veräußerbar undauch nicht vererbbar sind (Ziffer 286).

Der fundamentale Unterschied zwischen Altersvorsorgeund Vermögensbildung besteht darin, dass Altersvorsor-gevermögen – wie die Anwartschaften in der Gesetzli-chen Rentenversicherung – während der Lebenszeitnicht als Konsumpotential zur Verfügung steht, mithinnicht die subjektive Leistungsfähigkeit erhöht und auchnicht zur Bildung von vererbbarem Vermögen führt. Dadie Kapitallebensversicherungen oder Rentenversiche-rungen mit ausgeübtem Kapitalwahlrecht – selbst wenndie Mindestlaufzeit erhöht würde – diese Kriterien einesAltersvorsorgeprodukts nicht erfüllen und eben nicht

ausschließlich der Altersvorsorge dienen, sondernschwergewichtig den Charakter eines Kapitalanlagepro-dukts haben, sollten die Steuerfreiheit der Überschussan-teile und die Möglichkeit des Sonderausgabenabzugs ge-strichen werden. Diese Lebensversicherungen sindsteuerlich den anderen Kapitalanlageprodukten gleich-zustellen. Die Streichung dieser Steuervergünstigungsollte selbstverständlich nur für Neuabschlüsse und nichtfür laufende Verträge gelten. Dies bedeutet, dass erst imZeitverlauf ein Steueraufkommen anfällt, wenn die Zins-erträge aus den Neuabschlüssen bei den Versicherten– entweder periodengerecht oder bei Auszahlung – steu-erpflichtig werden. Von daher ist es zu begrüßen, dassim Entwurf des Alterseinkünftegesetzes vorgesehen ist,dieses Lebensversicherungsprivileg für nach dem1. Januar 2005 abgeschlossene Verträge zu streichen.

Sonderausgaben

506. Sonderausgaben stellen nach der Systematik desEinkommensteuergesetzes private Aufwendungen dar,die aufgrund einer besonderen gesetzlichen Regelungvom Gesamtbetrag der Einkünfte steuerminderndabgezogen werden dürfen. Sinn und Zweck der Son-derausgaben ist es, Beträge, die die individuelle Leis-tungsfähigkeit vermindern, im Rahmen der Einkommen-steuerermittlung zu berücksichtigen. Hierunter fallen vorallem Vorsorgeausgaben, denen sich der einzelne Steuer-pflichtige nicht entziehen kann oder soll. Über die so be-gründeten Sonderausgabentatbestände hinaus könnenaber auch die gezahlte Kirchensteuer (§ 10 Absatz 1Nr. 4 EStG), Steuerberatungskosten (§ 10 Absatz 1 Nr. 6EStG), sofern sie nicht Betriebsausgaben oder Wer-bungskosten sind, Aufwendungen für Berufsausbildungoder Weiterbildung in einem nicht ausgeübten Beruf(§ 10 Absatz 1 Nr. 7 EStG), Schulgeld für die Unterbrin-gung eines Kindes in einer staatlich genehmigten Ersatz-schule (§ 10 Absatz 1 Nr. 9 EStG), Ausgaben zur Förde-rung gemeinnütziger Zwecke sowie Mitgliedsbeiträgeund Spenden an politische Parteien als Sonderausgabengeltend gemacht werden. Während Vorsorgeaufwendun-gen oder Unterhaltszahlungen die subjektive Leistungs-fähigkeit eines Steuerpflichtigen mindern und damit einsystematischer Grund für eine steuerliche Freistellungvorliegt, ist dies bei den zuletzt genannten Sonderausga-ben nicht der Fall.

507. Ausgaben zur Förderung mildtätiger, kirchlicher,religiöser, wissenschaftlicher und der als besonders för-derungswürdig anerkannten gemeinnützigen Zwecke so-wie Spenden für politische Parteien können nach§ 10b Einkommensteuergesetz bis zu bestimmtenHöchstgrenzen als Sonderausgaben von der Bemes-sungsgrundlage abgezogen werden. Bei Zuwendungen– Mitgliedsbeiträgen und Spenden – an politische Par-teien ist zu beachten, dass im Rahmen der so genanntenKleinspendenregelung nach § 34g Einkommensteuerge-setz eine Ermäßigung der Einkommensteuerschuld um50 vH dieser Ausgaben bis zu 825 Euro beziehungs-weise 1 650 Euro für Ehepaare pro Jahr möglich ist.Übersteigen diese Ausgaben diesen Betrag, können nach§ 10b Absatz 2 Einkommensteuergesetz bis zu ins-gesamt 1 650 Euro beziehungsweise 3 300 Euro für

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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Page 328: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ehepaare pro Jahr von der Bemessungsgrundlage abge-zogen werden. Der Zweck der steuerlichen Berücksichti-gung von Spenden besteht darin, den privaten Altruis-mus zu fördern. Die Steuermindereinnahmen aufgrundder Abzugsmöglichkeit kann man insoweit als Beitragder Allgemeinheit zu Gunsten der begünstigten Instituti-onen sehen. Da es sich aber bei Spenden um Ausgabenhandelt, die nicht zwangsläufig entstehen, sondern frei-willige Einkommensverwendungen sind, stellen dieSpendenaufwendungen keine Minderung der wirtschaft-lichen Leistungsfähigkeit dar; ein Abzug von der Steuer-bemessungsgrundlage ist daher nicht angebracht.Gleichwohl ist davon auszugehen, dass ein Interesse derAllgemeinheit besteht, dass bestimmte Institutionen undOrganisationen gefördert werden. Deshalb ist ein be-grenzter Abzug nur noch von der Steuerschuld adäquat.Die Entlastungswirkung würde dann anders als beimderzeitigen Abzug von der Bemessungsgrundlage nichtvom Grenzsteuersatz und damit vom Einkommen abhän-gen, sondern wäre bei einem gleichen Spendenbetragunabhängig vom Einkommen gleich hoch. Im Übrigensollte der Gemeinnützigkeitsbegriff grundsätzlich beider Gewährung einer solchen Abzugsfähigkeit nicht zuweit gefasst werden.

508. Nach § 10 Absatz 1 Nr. 4 Einkommensteuerge-setz kann die im jeweiligen Veranlagungsjahr gezahlteKirchensteuer (unbegrenzt) als Sonderausgabe abgezo-gen werden. Im 19. Subventionsbericht ist der Umfangder einkommensteuerlichen Begünstigung der gezahltenKirchensteuer mit 3,8 Mrd Euro für das Jahr 2004 ange-geben, davon entfallen 1,6 Mrd Euro auf den Bund. Mankann argumentieren, dass die Kirchensteuer wie dieSpenden an gemeinnützige Institutionen behandelt wer-den sollte, da die Kirchen mit diesen Einnahmen sozialeLeistungen, Kinderbetreuung und dergleichen finanzie-ren. Konsequent wäre es dann, die Kirchensteuer nichtals unbegrenzte Sonderausgabe zu berücksichtigen, son-dern als von der Steuerschuld in begrenzter Höhe abzu-setzende Spende. In diesem Fall wäre der damit korres-pondierende Steuerentlastungsbetrag bei gleicherSpendenhöhe für alle Steuerpflichtigen identisch undwürde nicht vom Grenzsteuersatz abhängen.

Da neben Kapital Wissen und damit Humankapital ge-rade in einer alternden Gesellschaft die wohl wichtigstenProduktionsfaktoren sind, sollten die Aufwendungen fürdie Berufsausbildung und die Weiterbildung weiterhin– begrenzt – abzugsfähig bleiben. Steuerberatungskos-ten sind der Sache nach zu den steuerlich nicht zu be-rücksichtigenden Aufwendungen für die private Lebens-führung zu zählen. Da aber Steuerberatungskosten imFalle des Vorliegens von Vermögenseinkommen oderEinkommen aus selbständiger Tätigkeit als Betriebsaus-gaben beziehungsweise Werbungskosten anzuerkennensind und es in vielen Fällen ein Leichtes ist, neben Ein-künften aus unselbständiger Tätigkeit zum Beispiel Ein-künfte aus selbständiger Tätigkeit zu generieren, bei de-nen dann die Steuerberatungskosten abzugsfähig wären,sprechen Praktikabilitätserwägungen dafür, es bei derderzeitigen Regelung zu belassen.

Anders sieht es dagegen bei den „Schulkosten für Kin-der auf Privatschulen“ aus. Der 19. Subventionsberichtweist für den begrenzt gewährten Sonderausgabenabzugfür Schulbeiträge eine Mindereinnahme in Höhe von23 Mio Euro aus. Ungeachtet der vergleichsweise gerin-gen fiskalischen Bedeutung ist dieser Sonderausgaben-abzug wegen seiner eindeutigen Zuordnung zur privatenLebensführung zu streichen. Im Steuerrecht eines Staa-tes, der nicht nur eine flächendeckende Versorgung mitöffentlichen Schulen garantiert, sondern zudem nochprivate Schulen in relevantem Umfang subventioniert,gibt es keinen Raum für Vergünstigungen für diejenigen,welche die vom Staat angebotenen Leistungen nicht inAnspruch nehmen wollen.

Fazit: Konsolidierung jetzt – notwendig und machbar

509. Die bestehende Tragfähigkeitslücke und die damitverbundene Belastung zukünftiger Generationen sowiedie Beschränkung des haushaltswirtschaftlichen Hand-lungsspielraums einerseits und die mit der Unterzeich-nung des Vertrags von Maastricht und des Stabilitäts-und Wachstumspakts eingegangenen Verpflichtungenandererseits erfordern es, unverzüglich nachhaltige Kon-solidierungsschritte einzuleiten. Empirische Untersu-chungen zeigen, dass eine Rückführung der Primärsal-den über die Ausgabenseite in der Tendenz erfolgreicherwar als Versuche einer Haushaltssanierung über Einnah-meverbesserungen (Ziffern 807 ff.). Allerdings, bei ei-ner einnahmeseitigen Konsolidierung gilt es zu unter-scheiden zwischen Einnahmeverbesserungen aufgrundder Erhöhung der Steuersätze und des Abbaus von Steu-ervergünstigungen. Bei gleichem Volumen ist ein Strei-chen von Steuervergünstigungen wohlfahrtsmäßig ein-deutig einer Tariferhöhung vorzuziehen; der Abbau vonSteuervergünstigungen ist hinsichtlich seiner Wirkungenvergleichbar mit Ausgabenkürzungen. Dies und die Tat-sache, dass das zu Konsolidierungszwecken zu mobili-sierende Finanzvolumen bei einem Abbau von Steuer-vergünstigungen erheblich größer ist als das bei einerRückführung von Finanzhilfen, verdeutlicht, dass auchan solchen einnahmeverbessernden Konsolidierungs-maßnahmen kein Weg vorbeiführt.

Ein undifferenzierter Abbau von Finanzhilfen und Steu-ervergünstigungen nach der Rasenmähermethode magden Vorteil einer leichteren politischen Umsetzung ha-ben, ist aber dafür mit dem großen Mangel der fehlendenZielgenauigkeit und der Nichtberücksichtigung von Wir-kungsketten behaftet. Das Streichen von Mitteln zur For-schungsförderung ist eben anders zu beurteilen als dasvon Ausgaben zur Förderung des Steinkohlebergbaus.Und ebenso unterschiedlich in der ökonomischen Sinn-haftigkeit ist eine Streichung der Pendlerpauschale imVergleich mit einer Abschaffung der Eigenheimzulage.Auch eine kriteriengeleitete Überprüfung der wichtigs-ten Finanzhilfen und haushaltsbezogenen Steuerver-günstigungen lässt ein ökonomisch und steuersystema-tisch begründbares Einsparpotential – nach Auslaufender zu streichenden Maßnahmen – von über25 Mrd Euro pro Jahr – identifizieren (Tabelle 57). DerBall liegt somit im Feld der Politik.

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Ta b e l l e 57

Finanzhilfen

SteinkohleZuschüsse für den Absatz deutscher Steinkohle ................................................................... 2 102 abschaffenAnpassungsgeld .................................................................................................................... 120 abschaffen

WohnungsbauWohnungsbauprämie ............................................................................................................ 500 abschaffenSozialer Wohnungsbau ......................................................................................................... 451 abschaffenEigenheimzulage .................................................................................................................. 11 442 abschaffen

LandwirtschaftFinanzhilfen des Bundes an die Landwirtschaft ................................................................... 1 089 überprüfendarunter:- Zuschüsse an die landwirtschaftliche Unfallversicherung .................................................. 250 überprüfen- Rente an Kleinlandwirte bei Landabgabe ........................................................................... 79 überprüfen- Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit ................................ 80 überprüfen- Förderung Bundesmonopolverwaltung für Branntwein ...................................................... 99 abschaffen- Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur .................................................... 545 überprüfen

darunter:

- Ausgleichszulage in Berggebieten .................................................................................. 1313) reduzierenAgrardieselverbilligung (§ 25 b MinöStG) ........................................................................... 420 abschaffen

Aktive Arbeitsmarktpolitik ......................................................................................................... 21 5304) reduzieren

Steuervergünstigungen

Steuerbefreiung der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit (§ 3b EStG) .......... 1 985 abschaffen

Sparerfreibetrag (§ 20 Absatz 4 EStG) .................................................................................... 3 200 abschaffen

Übungsleiterpauschale (§ 3 Nr. 26 EStG) ................................................................................ 2 0005) abschaffen

Sonderausgabenabzug von Beiträgen zu Lebensversicherungen(§ 10 Absatz 1 Nr. 2 EStG) .................................................................................................. 2 200 abschaffen

Steuerfreiheit der Zinsen aus Lebensversicherungen im Sinne des

§ 10 Absatz 1 Nr. 2 EStG (§ 20 Absatz 1 Nr. 6 EStG) ......................................................... abschaffen

Sonderausgabenabzug der Kirchensteuer (§ 10 Absatz 1 Nr. 4 EStG) ..................................... 3 750 abschaffen - begrenzten Abzug von der Steuer- schuld zulassen

Sonderausgabenabzug der Steuerberatungskosten (§ 10 Absatz 1 Nr. 6 EStG) ....................... 5007) beibehalten

Steuerbegünstigung von Ausgaben zur Förderung mildtätiger, kirchlicher und gemein-nütziger Zwecke sowie von Zuwendungen an politische Parteien (§ 10b EStG) ................. 1 095 abschaffen - begrenzten

Abzug von der Steuer- schuld zulassen

Steuerermäßigung bei Zuwendungen an politische Parteien (§ 34g EStG) .............................. 90 beibehalten

Sonderausgabenabzug für Schulgeldzahlungen an private Schulen (§ 10 Absatz 1 Nr. 9 EStG) .................................................................................................. 23 abschaffen

Entfernungspauschale (§ 9 Absatz 1 EStG) ............................................................................. 5 0005) gegebenenfallsreduzieren

Insgesamt ...................................................................................................................................... 57 497Summe der abzuschaffenden Vergünstigungen ........................................................................ 24 542

Nachrichtlich:

Ehegattensplitting ....................................................................................................................... 2 7008) beibehalten

1) Steuervergünstigungen auf der Unternehmensseite werden nicht berücksichtigt. - 2) Gemäß 19. Subventionsbericht für das Jahr 2004, wennnichts anderes angegeben ist. - 3) Im Jahr 2003. - 4) Haushaltsansatz der Bundesanstalt für Arbeit für das Jahr 2003. - 5) Gemäß der Koch-Stein-brück-Vorschläge. - 6) Die Mindereinnahmen aufgrund der Steuerfreiheit der Zinsen aus Lebensversicherungen können derzeit auf etwa 9 MrdEuro veranschlagt werden. - 7) Eigene Schätzung. - 8) Maximale Differenz der Steuermindereinnahmen aufgrund des Ehegattensplittings zu denSteuermindereinnahmen, die bei Einführung eines Realsplittings anfallen würden (Quelle: BMF); nachrichtlich: Die Steuermindereinnahmen aufgrund des Ehegattensplittings betragen derzeit rund 22 Mrd Euro.

X6)

Mögliche Ansatzpunkte für eine Haushaltskonsolidierung1)

Vorschlag

Haushalts-

belastung2)

Mio Euro

Haushaltskonsolidierung: Strategien und Optionen

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V. Föderalismus mutig reformieren

510. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr Refor-men auf den Arbeitsmärkten und in den Systemen derSozialen Sicherung auf den Weg gebracht, wie sie be-reits seit langer Zeit mit Nachdruck gefordert wurden.Dies hat allerdings nicht zu einer Aufbruchstimmunggeführt. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: DieBürger sind verunsichert und wissen nicht genau, wasauf sie zukommt. Die Verunsicherung dürfte damit zu-sammenhängen, dass mit bestimmten Reformmaßnah-men für viele von ihnen erhebliche Einschnitte verbun-den sein werden. Dass dies bei den Betroffenen zuZukunftsangst führt, ist nachvollziehbar. Die Verwir-rung ist auch darauf zurückzuführen, dass aufgrund deskomplizierten Gesetzgebungsprozesses niemand genauweiß, welche der vorgesehenen Maßnahmen wann undin welcher Ausgestaltung in Kraft treten werden. So hatdas Bundeskabinett am 29. Juni dieses Jahres das Vor-ziehen der für das Jahr 2005 geplanten dritten Stufe derSteuerreform auf den 1. Januar 2004 bekannt gegeben.Noch bis Mitte November war unklar, ob diese Maß-nahme in Kraft treten wird oder nicht. Letzteres giltauch für die im Haushaltsbegleitgesetz 2004 vorgese-hene Streichung der Eigenheimzulage und die Kürzungder Entfernungspauschale; es gilt für die Gemeindewirt-schaftssteuer, für die Handwerksordnung, und es giltfür die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und So-zialhilfe. Alle diese Gesetze sind im Bundesrat zustim-mungspflichtig. Und die Oppositionsparteien, die imBundesrat über die Mehrheit der Stimmen verfügen, ha-ben seit längerem angekündigt, dass sie diesen Maß-nahmen in der vorliegenden Form nicht zustimmenwerden. Was letztlich von den durch die Bundesregie-rung eingeleiteten Reformpaketen in Kraft treten wird,liegt zur Zeit im Dunkeln.

Die politischen Entscheidungsprozesse in Deutschlandsind seit geraumer Zeit langsam, undurchsichtig und un-berechenbar. Über eine ausbleibende Aufbruchstim-mung muss man sich somit nicht wundern. Eine wich-tige Ursache für dieses Politikversagen sind dieföderalen Entscheidungsstrukturen. Die praktische Aus-gestaltung des Föderalismus in Deutschland bildet einhohes, vielleicht sogar das höchste Hindernis für dieUmsetzung grundlegender Reformen, unbeschadet, dassin einigen Fällen der Bundesrat ein sinnvolles Korrektiveinzelner Gesetzesvorhaben darstellen kann. Aber esgeht hier nicht um die Inhalte einzelner Entscheidungen,sondern um den Entscheidungsmechanismus. Deshalbmuss der Föderalismus reformiert werden. Der Sachver-ständigenrat und viele andere haben dies immer wiedergefordert.

511. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Födera-lismusreform ist in der Politik vorhanden. Am16. Oktober 2003 hat der Deutsche Bundestag eine ge-meinsame Kommission von Bundestag und Bundesratzur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung ein-gesetzt. Innerhalb eines Jahres soll dieses Gremium,dem jeweils sechzehn (stimmberechtigte) Mitglieder desDeutschen Bundestages und des Bundesrates weitereMitglieder ohne Stimmrechte sowie ständige Gäste an-gehören, Ergebnisse präsentieren, wie die Handlungsfä-higkeit und die Entscheidungsfähigkeit von Bund undLändern verbessert werden können, wie sich die politi-schen Verantwortlichkeiten deutlicher zuordnen lassenund wie die Effizienz der Aufgabenerfüllung gesteigertwerden kann. Grundsätzlich ist die Einsetzung dieserKommission zu begrüßen. Zu hoffen ist, dass sie sich zumutigen Reformempfehlungen durchringen kann, diedann auch von der Politik zügig umgesetzt werden. Zubefürchten ist jedoch, dass diese Hoffnung enttäuschtwird. Zum einen hat sich bereits Mitte der neunzigerJahre eine Bund-Länder-Kommission mit der Moderni-sierung der bundesstaatlichen Ordnung befasst, freilichweitgehend ergebnislos. Zum anderen sind zentrale Fra-gestellungen nicht in den Untersuchungsauftrag der neugebildeten Kommission eingegangen. Dazu gehören ins-besondere eine Überarbeitung der Finanzverfassung miteiner Steuerentflechtung zwischen Bund und Ländernsowie eine damit verbundene (begrenzte) Steuerautono-mie für die Bundesländer. Gegenwärtig ist jegliche Mo-difikation von Steuersätzen und Bemessungsgrundlagender Gemeinschaftssteuern – sie machen rund zwei Drit-tel des gesamten Steueraufkommens in Deutschlandaus – nur mittels Zustimmung des Deutschen Bundesta-ges und des Bundesrates möglich. Die dadurch mögli-chen Entscheidungsblockaden müssen aufgelöst werden,sonst bleibt jede Föderalismusreform unvollständig.

512. Föderalismus ist vom Prinzip her eine gute Sache.Dezentrale politische Entscheidungen können grundsätz-lich den Präferenzen der Bürger besser Rechnung tragenals zentralisierte; dies ermöglicht ein effizientes regiona-les Angebot an öffentlichen Leistungen. Ein föderalerWettbewerb bietet wie jeder Wettbewerb die Chance,

Das Wichtigste in Kürze

(1) Die politischen Entscheidungsprozesse inDeutschland sind langsam, undurchsichtig und un-berechenbar. Wichtigste Ursache für dieses Poli-tikversagen sind die föderalen Entscheidungs-strukturen.

(2) Der kooperative Föderalismus muss durch einenwettbewerblichen Föderalismus ersetzt werden;Föderalismus ohne Wettbewerb ist eigentlich keinFöderalismus.

(3) Zu einem funktionierenden Föderalismus gehörtauch eine begrenzte Steuerautonomie der Bundes-länder.

(4) Die Mischfinanzierungen zwischen Bund undLändern sind zurückzuführen.

(5) Die Rahmengesetzgebung des Bundes und diekonkurrierende Gesetzgebung sind einzuschrän-ken.

Öffentliche Haushalte sanieren

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dass die besten Lösungen entdeckt und übernommenwerden. Schließlich stärkt ein funktionierender Födera-lismus die demokratischen Entscheidungsstrukturen undbegrenzt die Machtfülle einer Zentralregierung (JG 2002Ziffer 396).

Ein föderatives System kann diese positiven Effekte al-lerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen entfal-ten. Die einzelnen Ebenen benötigen eine weitgehendeAutonomie bei den Ausgaben- und Einnahmeentschei-dungen; die Zuständigkeiten für die jeweiligen Aufga-ben müssen klar getrennt sein; die staatliche Ebene, dieüber einzelne Aufgaben entscheidet, muss auch die Aus-gabenverantwortung übernehmen. All dies ist gegenwär-tig in Deutschland nicht gewährleistet. Die Bundeslän-der haben praktisch keine Autonomie bei denSteuereinnahmen; durch Mischfinanzierungen und Ge-meinschaftsaufgaben kommt es zu Fehlanreizen und zueiner Vermengung von Verantwortlichkeiten; die eineEbene kann über Aufgaben und Ausgaben entscheiden,die eine andere Ebene zu übernehmen hat. In all diesenBereichen besteht dringender Handlungsbedarf. Daraufhat der Sachverständigenrat wiederholt hingewiesen(JG 2000 Ziffern 169 ff.).

Begrenzte Steuerautonomie für die Bundesländer

513. Die deutschen Bundesländer können zwar überdie konkurrierende Gesetzgebung (Artikel 72 Grundge-setz) im Bundesrat an der Steuergesetzgebung mitwir-ken, haben aber ansonsten keine eigene Gesetzgebungs-kompetenz für die Einnahmen, die ihnen aus denLandessteuern oder den Gemeinschaftssteuern zuflie-ßen. Hingegen verfügen die Gemeinden insofern übereine begrenzte Steuerautonomie, als sie die Hebesätzeder Realsteuern festsetzen können. Auch der Bund kannautonom über eine Ergänzungsabgabe auf die Einkom-men- und Körperschaftsteuerschuld (wie den Solidari-tätszuschlag) sowie über die Steuersätze der Bundessteu-ern entscheiden, ansonsten ist er auf die Zustimmung derLänder angewiesen.

Überzeugende Gründe dafür, dass ausgerechnet die Län-der keinerlei Autonomie bei der Festsetzung von Steuer-sätzen haben, auch nicht bei den ausschließlich ihnenzufließenden Landessteuern, sind schwer zu finden. Sielassen sich auch nicht aus der grundgesetzlichen Bestim-mung der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhält-nisse im Bundesgebiet“ (Artikel 72 Absatz 2 Grundge-setz) ableiten. Ganz im Gegenteil spricht vieles dafür,auch den Ländern eine gewisse Besteuerungsautonomiezuzubilligen und zu diesem Zweck eine stärkere Steuer-entflechtung zwischen Bund und Ländern anzustreben.Hier bieten sich zwei alternative Vorgehensweisen an.

– Einmal könnte man konsequent zu einem Trennsys-tem übergehen, indem dem Bund die Gesetzgebungs-kompetenz und die Ertragshoheit für die Umsatz-steuer und die Verbrauchsteuern zugewiesen werden,und den Ländern Entsprechendes für die Einkom-men- und Körperschaftsteuer. Diese Lösung wurde

schon im Grundgesetz des Jahres 1949 gewählt. Einstriktes Trennsystem wird aber auch bei diesem Vor-schlag nicht durchzuhalten sein. Im Hinblick auf dieBemessungsgrundlagen von Einkommensteuer undKörperschaftsteuer sind bundeseinheitliche Regelun-gen letztlich unabweisbar. Konsequenterweise müss-ten darüber die Länder gemeinsam entscheiden, wasjedoch mit Koordinations- und Transaktionskostenverbunden wäre.

– Alternativ könnte man an den Gemeinschaftssteuernfesthalten und – ausgehend von einer bundeseinheit-lich festgelegten Bemessungsgrundlage – den einzel-nen föderalen Ebenen Zuschläge und Abschläge aufeinen gegenüber dem geltenden Tarif abgesenktenGrundtarif erlauben. In Frage kämen auch Zuschlägeauf das Aufkommen, das den jeweiligen Ebenen imRahmen des bestehenden Steuerverbunds zusteht.Dabei ist eine Begrenzung der regionalen Zuschlags-sätze nach oben und unten erwägenswert. Bei mobi-len Bemessungsgrundlagen würde der Steuerwettbe-werb sonst tendenziell zu ineffizient niedrigenSteuersätzen führen; andererseits können auch ineffi-zient hohe Steuersätze nicht ausgeschlossen werden,wenn mehrere vertikale Gebietskörperschaften aufein und dieselbe Bemessungsgrundlage zugreifenkönnen. Dann besteht nämlich die Gefahr, dass eineEbene bei Festlegung der Steuer- oder Zuschlags-sätze die Rückwirkungen auf die Steuereinnahmender anderen Ebenen unberücksichtigt lässt. DiesenÜberlegungen lässt sich durch eine Begrenzung derZuschlagssätze nach oben und unten Rechnung tra-gen.

514. Die Übertragung einer Steuerautonomie auf dieBundesländer hätte Rückwirkungen auf den Länderfi-nanzausgleich, indem etwa die gegenwärtig völlig über-zogene Umverteilungsintensität reduziert werdenkönnte.

Gegen eine Steuerautonomie wird häufig vorgebracht,dass finanzschwache Bundesländer aus dem sich erge-benden Steuerwettbewerb als Verlierer hervorgingen:Während finanzstarke Bundesländer die Steuersätze sen-ken könnten, müssten die finanzschwachen Länder sieerhöhen. Das ist aber keine zwangsläufige Folge desSteuerwettbewerbs. Bei mobilen Bemessungsgrundlagenkönnen durch Steuersatzsenkungen Unternehmen oderHaushalte attrahiert werden. Die steuerinduzierte Mobi-lität von Produktionsfaktoren und Personen führt danndazu, dass Aufholprozesse in Gang gesetzt werden, diedas gegenwärtige nivellierende Finanzausgleichssystemeher unterdrückt (JG 2001 Ziffer 368). Dies lässt sichauch auf europäischer Ebene beobachten. So dürften dieniedrigen Steuersätze in Irland – neben den Transfersaus dem EU-Haushalt – einen erheblichen Anteil an derpositiven Wirtschaftsentwicklung dieses Landes (ge-habt) haben.

Aus guten Gründen besteht weitgehend Einigkeit, dasseine vollständige Harmonisierung der Steuerpolitik inEuropa negativ und ein auf die Steuersätze bezogener,

Föderalismus mutig reformieren

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begrenzter Steuerwettbewerb zwischen den Mitglied-staaten der Europäischen Union positiv zu bewerten ist.Was für die Länder in Europa richtig ist, trifft auch fürdie Bundesländer in Deutschland zu.

Abbau von Mischfinanzierungen

515. Nach Artikel 104a Absatz 1 Grundgesetz tragenBund und Länder gesondert die Ausgaben, die sich ausder Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben. Dies ist eineprinzipiell sinnvolle Vorschrift, die aber durch eineReihe von im Grundgesetz verankerten Mischfinanzie-rungstatbeständen durchlöchert wird, nämlich

– die Gemeinschaftsaufgaben nach Artikel 91a und 91bGrundgesetz,

– die Finanzhilfen nach Artikel 104a Absatz 4 Grund-gesetz,

– die Geldleistungsgesetze nach Artikel 104a Absatz 3Grundgesetz,

– die Beteiligung des Bundes an den Ausgaben derLänder für den öffentlichen Personennahverkehrnach Artikel 106a Grundgesetz.

Als Gemeinschaftsaufgaben nennt Artikel 91a Grundge-setz den Ausbau und Neubau von Hochschulen ein-schließlich der Hochschulkliniken, die Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur sowie die Verbesserung derAgrarstruktur und des Küstenschutzes. Im Jahr 2003 leis-tete der Bund für diese drei Gemeinschaftsaufgaben Zah-lungen an die Länder in Höhe von insgesamt2,8 Mrd Euro. Begründet werden die Gemeinschaftsauf-gaben mit dem Vorliegen überregionaler Spill-over-Ef-fekte. Sofern diese Effekte bei der Aufgabe Hochschulbaudarin gesehen werden, dass landesexterne Studierende anden Hochschulen eines Bundeslandes studieren, entfielediese Begründung für eine Mitwirkung des Bundes bei ei-nem Übergang zu Studiengebühren. Im Hinblick auf dieFinanzierung von Grundlagenforschung kann die Ge-meinschaftsaufgabe hingegen beibehalten werden. DieAufgabe einer Verbesserung der Agrarstruktur kann in diealleinige Verantwortung der Länder übertragen werden.Schließlich gehört auch die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, zumindestwas die Zahlungen des Bundes an die alten Bundesländerangeht, auf den Prüfstand. Aber auch zur Finanzierungvereinigungsbedingter Aufgaben ist dieses Instrumentfragwürdig, da die Sonder-Bundesergänzungen schon die-selbe Funktion erfüllen.

516. Nach Artikel 104a Absatz 4 Grundgesetz kannder Bund den Ländern Finanzhilfen für besonders be-deutsame Investitionen der Länder und Gemeinden ge-währen, die zur Abwehr der Störung des gesamtwirt-schaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleichunterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oderzur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforder-lich sind. Zu den so begründeten Finanzhilfen gehörtendie Mittel aus dem Investitionsförderungsgesetz Aufbau

Ost, die ab dem Jahr 2002 in die Sonder-Bundesergän-zungszuweisungen eingegangen sind (JG 2002 Zif-fer 390). Außerdem gehören dazu Hilfen für den Woh-nungsbau und die Wohnungsmodernisierung, für dieStadtsanierung und Stadtentwicklung und für die Ge-meindeverkehrsfinanzierung. Im Jahr 2003 beliefen sichdiese Finanzhilfen noch auf 2,6 Mrd Euro. Überregio-nale externe Effekte lassen sich bei den drei letztgenann-ten Maßnahmen nicht identifizieren. Ihre ökonomischeBegründung steht deshalb auf schwachen Füßen. Es han-delt sich um reine Subventionstatbestände durch denBund, die das Ausgabenverhalten der Länder verzerren.Die Finanzhilfen sollten gestrichen und die Aufgaben inden alleinigen Verantwortungsbereich der Länder über-tragen werden.

Analoges gilt für die Geldleistungsgesetze gemäßArtikel 104a Absatz 3 Grundgesetz, die im Jahr 2003Zahlungen vom Bund an die Länder in Höhe von7,1 Mrd Euro nach sich zogen. Darunter fielen Ausga-ben für das Bundeserziehungsgeld, für die Bundesaus-bildungsförderung, für das Wohngeld und Leistungenzur Sicherung des Unterhalts von Kindern alleinstehen-der Mütter und Väter im Rahmen des Unterhaltsvor-schussgesetzes. Während der Bund die Kosten für dasBundeserziehungsgeld allein trägt, übernimmt er bei denanderen Ausgaben Finanzierungsanteile zwischen33,3 vH und 65 vH. Hier spricht vieles für bundesein-heitliche Regelungen, so dass die Gesetzgebungskompe-tenz beim Bund bleiben sollte. Die Durchführung derAufgaben dagegen sollte – wie bisher – wegen der grö-ßeren Flexibilität und Bürgernähe der Verwaltung beiden Ländern und Gemeinden liegen. Im Sinne einerAusführungskonnexität ist die Ausgabenverantwortungdann aber auch vollständig der ausführenden Ebene zuübertragen, also den Ländern oder den Gemeinden; vonMischfinanzierungen gehen in aller Regel Anreize zu ei-ner ineffizienten Aufgabenerfüllung aus. Dies erforderteine Aufstockung der den Ländern zur Verfügung ste-henden finanziellen Mittel, etwa über eine Anpassungder vertikalen Umsatzsteuerverteilung oder über Bun-desergänzungszuweisungen.

Im Jahr 2003 erhielten die Länder als Ausgleich für dieÜbernahme der Aufgabenverantwortung beim öffentli-chen Personennahverkehr nach Artikel 106a Grundge-setz vom Bund einen Betrag in Höhe von 6,8 Mrd Euro.Bei diesen Geldleistungen handelt es sich um zweckge-bundene Zahlungen des Bundes, über die die Länderweitgehend autonom entscheiden können. Allein ausTransparenzgründen wäre es sinnvoll, diese Transfers indie Umsatzsteuerverteilung nach Artikel 106 Absatz 3Grundgesetz zu integrieren. Dies bietet sich auch des-halb an, weil die Hilfen für den öffentlichen Personen-nahverkehr ohnehin mit der Veränderungsrate des Um-satzsteueraufkommens fortgeschrieben werden.

Die Mischfinanzierungstatbestände wurden im Rahmender Finanzreform 1969 neu geregelt; aus heutiger Sichtbetrachtet muss dies eher als Fehlkonstruktion bezeich-net werden. Die ursprünglich beabsichtigte effizientereMittelverwendung zur Korrektur von Spill-over-Effek-

Öffentliche Haushalte sanieren

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ten wurde nicht erreicht. Stattdessen ist es zu einem Sub-ventionswettlauf der Länder gekommen, zu Mitnahme-effekten, zu einem Verteilungskampf der Länderuntereinander um die knappen finanziellen Zuschüssedes Bundes und zu einer überbordenden Bürokratie miteiner Vielzahl von Bund-Länder-Gremien. Die Mischfi-nanzierungen sollten deshalb deutlich zurückgeführtwerden.

Fazit: Den großen Wurf wagen

517. Der Bund hat in den letzten Jahren die ihm durchdas Grundgesetz eingeräumten Möglichkeiten zur kon-kurrierenden Gesetzgebung immer extensiver wahrge-nommen. Die Rahmengesetzgebung des Bundes und diekonkurrierende Gesetzgebung müssen eingeschränktwerden. Warum sollen die Bundesländer nicht autonometwa über die Besoldung ihrer Beamten oder zum Bei-spiel über die Einführung von Studiengebühren beschlie-ßen können? Mit diesem Problemkreis wird sich die neu

eingesetzte Kommission zur Modernisierung der bun-desstaatlichen Ordnung auseinandersetzen. Auch dieFinanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, ins-besondere die Gemeinschaftsaufgaben und Misch-finanzierungen, stehen auf der Tagesordnung. Bedauer-licherweise wurde die Frage nach einer begrenztenSteuerautonomie für die Bundesländer ausgeklammert.All dies müsste schließlich mit einer Neujustierung dervertikalen Einnahmeverteilung und mit Anpassungendes horizontalen Länderfinanzausgleichs verbundensein, da die geltenden Finanzausgleichsregelungen unbe-friedigend sind (JG 2001 Ziffern 362 ff.). Auch sindGrundgesetzänderungen unvermeidlich. Eine solcheHerkules-Aufgabe erfordert viel Kraft und einen langenAtem. Aber es gibt keine Alternative, wenn man denvielfach beklagten Reformstau aufbrechen und der Poli-tikverflechtungsfalle entkommen will. Die letzte Reformder Finanzverfassung aus dem Jahr 1969 wurde fastzehn Jahre lang vorbereitet. So lange darf es dieses Malnicht dauern.

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FÜNFTES KAPITEL

Die Politikbereiche im Einzelnen

I. Steuerpolitik: Vom Chaos zum System Unternehmensbesteuerung und persönlicher Einkom-

518. In seinem Jahresgutachten 2001 hatte der Sach-verständigenrat die Steuerpolitik der Bundesregierung,insbesondere das Steuersenkungsgesetz 2001, insge-samt positiv beurteilt. Berechnungen von Kapitalkostenund effektiven Steuerbelastungen führten zu derSchlussfolgerung, dass die Investitionsbereitschaft sti-muliert und die Attraktivität des Standorts Deutschlanderhöht wurde. Mit dem Übergang vom Anrechnungsver-fahren zum Halbeinkünfteverfahren wurde überdies dieEuropatauglichkeit des deutschen Körperschaftsteuer-systems hergestellt. „Den eingeschlagenen Weg fortset-zen“ lautete das Fazit zur Steuerpolitik. Handlungsbe-darf wurde dabei vor allem im Hinblick auf eine(weitere) Senkung der Tarifbelastung von Unterneh-mensgewinnen, eine Reduzierung der Tarifspreizungzwischen der Einkommensteuer und der Körperschaft-steuer und allgemeiner: einer besseren Abstimmung von

mensteuer gesehen (JG 2001 Ziffer 553). In diese Über-legungen sollte die Reform der Gewerbesteuer einbezo-gen werden. Die Aufforderung zur Fortführung derSteuerreform findet sich erneut im letzten Jahresgutach-ten (JG 2002 Ziffern 374 ff.).

Seitdem kann der Steuerpolitik kein gutes Zeugnis aus-gestellt werden. Durch eine Reihe von Einzelmaßnah-men haben die steuerlichen Verzerrungen bei den Finan-zierungsentscheidungen und der Rechtsformwahl weiterzugenommen. Tatsache ist, dass der Standort Deutsch-land steuerlich im Jahr 2003 unattraktiver ist als 2001.Dies liegt zum einen daran, dass für dieses Jahr der Kör-perschaftsteuersatz einmalig um 1,5 Prozentpunkte er-höht wurde und zum anderen daran, dass in einigen Län-dern permanente Steuersenkungen für Unternehmenvorgenommen wurden. Die deutsche Steuerpolitik hatnicht nur jeglichen perspektivischen Elan verloren, dieursprüngliche Systematik des Einkommensteuerrechtsschwindet zunehmend. Die Einkommensteuer entwi-ckelt sich immer mehr zu einer unsystematischen Sche-dulensteuer, ohne dass ein neues steuerliches Leitbild er-kennbar wäre. Hinzu kommt, dass die deutscheSteuerpolitik aufgrund ihrer Sprunghaftigkeit auch anGlaubwürdigkeit eingebüßt hat. Dazu haben nicht nurdie zahlreichen Steuerrechtsänderungen in den vergan-genen zwei Jahren beigetragen. Auch das Hin und Herum das Steuervergünstigungsabbaugesetz, die Diskus-sion über Steueramnestie und Abgeltungssteuer, lau-fende Nachbesserungen und Modifikationen von Refe-renten- und Gesetzentwürfen sowie ein rückwirkendesIn-Kraft-Treten von Steuerrechtsänderungen haben dieVerlässlichkeit und Stetigkeit der Steuerpolitik in Fragegestellt. Die Steuerpolitik ist zum Spielball widerstrei-tender Interessen innerhalb der Bundesregierung, zwi-schen Bund, Ländern und Gemeinden sowie zwischenRegierung und Opposition geworden. Für die Planungs-sicherheit von Konsumenten und Investoren und für denStandort Deutschland allgemein stellt dies eine fataleEntwicklung dar.

Die deutsche Steuerpolitik muss Verlässlichkeit undGlaubwürdigkeit zurückgewinnen. Die Steuerpolitikmuss einem klaren steuerpolitischen Leitbild folgen, dasmit europarechtlichen Regelungen vereinbar ist, das diesteuerliche Attraktivität des Standorts Deutschland stei-gert und die Verzerrungen der Entscheidungen über In-vestitionen, Finanzierung und Rechtsformwahl abbautoder beseitigt. Der Sachverständigenrat stellt dazu zweiunterschiedliche Reformoptionen für die Einkommens-und Unternehmensbesteuerung vor, die als Leitbild fürdie zukünftige Steuerpolitik dienen können: eine Inte-

Das Wichtigste in Kürze

(1) Deutschland ist – bezogen auf die effektiven Steu-erbelastungen von Unternehmen – immer noch einHochsteuerland.

(2) Die deutsche Steuerpolitik hat aufgrund ihrerSprunghaftigkeit erheblich an Glaubwürdigkeiteingebüßt; die Systematik des Steuerrechts hatweiter abgenommen.

(3) Zur Stärkung der Standortattraktivität und zumAbbau der Verzerrungen bei den Investitions- undFinanzierungsentscheidungen sowie bei derRechtsformwahl bieten sich entweder eine Inte-gration der Körperschaftsteuer in die Einkommen-steuer (Steuerreformoption I) oder eine duale Ein-kommensteuer (Steuerreformoption II) an.

(4) Die Gewerbesteuer/Gemeindewirtschaftssteuer istin ein kommunales Zuschlagsmodell zur Einkom-mensteuer und Körperschaftsteuer (Option I) oderzur Steuer auf Arbeitseinkommen und Kapitalein-kommen (Option II) zu überführen.

(5) Der Sachverständigenrat hält die duale Einkom-mensteuer für die vorteilhaftere Steuerreformop-tion; der proportionale Steuersatz auf Kapitalein-kommen sollte bei etwa 30 vH liegen, derEingangssteuersatz der Besteuerung von Arbeits-einkommen bei 15 vH und der Spitzensteuersatzbei etwa 35 vH.

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

gration von Körperschaftsteuer und Einkommensteuerund die duale Einkommensteuer. Unter Abwägung allerGesichtspunkte sieht der Sachverständigenrat einenÜbergang zu einer dualen Einkommensteuer als die at-traktivere Reformoption dar.

Grundlegende Steuerreformen und Reformen in denSystemen der Sozialen Sicherung sind nicht unabhängigvoneinander. Wenn etwa im Zusammenhang mit demÜbergang zu Kopf-Pauschalen beziehungsweise Ge-sundheitsprämien vorgeschlagen wird, die Umverteilungaus der Gesetzlichen Krankenversicherung herauszuneh-men und in das Steuersystem zu verlagern, verträgt sichdas nicht mit einer gleichzeitigen drastischen Senkungund Abflachung des Einkommensteuertarifs. Auf einenNenner gebracht: Man kann sich für die Vorschläge der„Herzog-Kommission“ im Bereich der sozialen Siche-rung aussprechen oder für die „Kirchhof-Vorschläge“ inder Steuerpolitik eintreten; wer aber beides gleichzeitigfordert, handelt entweder inkonsistent oder verabschie-det das Umverteilungsziel gleichsam durch die Hinter-tür.

Verschlechterung der steuerlichen Rahmenbedingungen

519. Die Wirkungen von Steuern auf Investitions-,Standort-, Finanzierungs- und Rechtsformentscheidun-gen lassen sich anhand von Kapitalkosten und effektivenSteuerbelastungen ermitteln (JG 2001 Ziffern 527 ff.).Der Vergleich der steuerlichen Belastung für denRechtsstand zum 1. Januar 2003 mit derjenigen, die fürdas Jahr 2001 ermittelt wurde, gibt Auskunft über denveränderten Einfluss der Besteuerung auf die relevantenunternehmerischen Entscheidungen.

Im Folgenden werden die Ergebnisse für die effektiveSteuerbelastung von Investitionserträgen exemplarischbeschrieben und interpretiert. Die ausführlichen Tabel-

len mit sämtlichen Neuberechnungen für Kapitalkostenund effektive Steuerbelastungen finden sich im Anhangzu diesem Abschnitt.

Deutschland: immer noch ein Hochsteuerland!

520. In einer Pressemitteilung vom 20. Januar 2003kommentierte das Bundesministerium der Finanzen dieVeröffentlichung der jüngsten OECD Revenue Statisticsmit der Überschrift „Deutschland ist kein Hochsteuer-land!“. In der Tat besagen die OECD-Zahlen, dassDeutschland im Jahr 2001 mit 21,7 vH die niedrigsteSteuerquote in Europa aufwies und bei der gesamtenSteuer- und Abgabenlast mit 36,4 vH im internationalenMittelfeld lag. Diese Zahlen treffen zu, sie sind aber we-nig aussagekräftig und sogar irreführend, wenn man anzwischenstaatlichen Standortvergleichen oder an denEntscheidungswirkungen der Besteuerung interessiertist. So ist erstens zu berücksichtigen – auch wenn dieserAspekt weniger wichtig ist –, dass die „bereinigte“, kas-senmäßige Steuerquote in Deutschland um rund zweiProzentpunkte höher liegt, wenn die Saldierung der Steu-ereinnahmen mit Kindergeld, Eigenheimzulage und In-vestitionszulagen rückgängig gemacht wird (Tabelle 58).Zweitens fassen gesamtwirtschaftliche Belastungskenn-ziffern Steuern zusammen, die auf ganz unterschiedlicheökonomische Sachverhalte wirken. Indirekte Steuern be-einflussen primär die Konsumentscheidungen, Lohnsteu-ern und Sozialversicherungsbeiträge vor allem dasArbeitsangebot und die Arbeitsnachfrage, Körperschaft-steuer und Gewerbesteuer die Investitions- und Standort-entscheidungen. Wirkungsanalytisch macht es keinenSinn, diese Steuern zusammenzufassen. Auch sollten dieentsprechenden Steuern auf die zugehörigen Bemes-sungsgrundlagen bezogen werden, also auf die Konsum-ausgaben, auf die Lohnsumme oder auf die unternehme-rischen Gewinne, nicht aber auf aggregierte Maßgrößenwie das Bruttoinlandsprodukt. Drittens schließlich ist der

Ta b e l l e 58

vH

2003 2001/2002 2003 2001/2002 2003 2001/2002

Deutschland ........................... 40,7 39,4 37,2 36,0 31,1 29,8

Frankreich ............................. 35,4 36,6 34,9 35,8 34,1 34,7

Irland ..................................... 12,5 10,0 13,0 10,8 14,1 12,7

Italien .................................... 38,3 40,2 32,4 28,8 21,4 - 6,3

Niederlande ........................... 34,5 35,0 32,4 32,9 28,5 29,0

Schweden .............................. 28,0 28,0 23,3 23,6 17,0 17,2

1) Rechtsstand jeweils 1. Januar. Zu den Berechnungen siehe JG 2001/02 Kasten 7.

EffektiveDurchschnittssteuer-belastung (EATR)

Effektive Grenzsteuer-belastung (EMTR)

Tarifbelastung

Steuerbelastung von Kapitalgesellschaften auf Unternehmensebene im europäischen Vergleich1)

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Die Politikbereiche im Einzelnen

Ausweis kassenmäßiger Steuereinnahmen vergangen-heitsbezogen. Unternehmen und Haushalte legen ihrenEntscheidungen hingegen die gegenwärtigen und für dieZukunft erwarteten Steuerbelastungen zugrunde. Aussa-gekräftige internationale Steuerbelastungsvergleiche imHinblick auf die hier im Vordergrund stehende Unterneh-mensbesteuerung müssen also auf die zu erwartendeSteuerbelastung geplanter Investitionen abstellen. Rele-vant sind dabei die effektiven marginalen und effektivendurchschnittlichen Steuerbelastungen von Investitionser-trägen. In die Ermittlung dieser steuerlichen Kennzifferngehen nicht nur die tariflichen Steuersätze, sondern auchdie Regelungen zur Bestimmung der Bemessungsgrund-lage ein.

521. Zunächst werden – analog zur Tabelle 78 imJahresgutachten 2001/02 und für die dort getroffenenAnnahmen bezüglich Finanzierungswegen und Investiti-onsalternativen – die Steuerbelastungen von Kapitalge-sellschaften bei nationaler Geschäftstätigkeit in ver-schiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Unionverglichen (Tabelle 64 und Tabelle 65, Seiten 354 f.).Betrachtet wird wieder jeweils nur die Unternehmens-ebene, ohne Einbeziehung der Kapitalgeber. Dabei sindhier lediglich die Länder in den Vergleich einbezogen, indenen sich im Berichtszeitraum entweder die tariflichenSteuersätze oder die Vorschriften zur Ermittlung der Be-messungsgrundlagen geändert haben. In Deutschland istdies die durch das Flutopfersolidaritätsgesetz zum1. Januar 2003 für die Dauer eines Jahres erfolgte Anhe-bung des Körperschaftsteuersatzes um 1,5 Prozent-punkte auf 26,5 vH. Zwar ist die Erhöhung des Körper-schaftsteuersatzes auf ein Jahr begrenzt und bewirktdaher eine Verschlechterung der steuerlichen Rahmenbe-dingungen nur in diesem Jahr; nicht auszuschließen istaber, dass der Körperschaftsteuersatz zukünftig untervergleichbaren Umständen wieder angehoben wird. DerSachverständigenrat hat diese Maßnahme schon im letz-ten Jahr als falsch bezeichnet (JG 2002 Ziffer 546).Demgegenüber kam es in anderen Ländern zu einer per-manenten – wenn auch geringfügigen – Reduktion derentsprechenden Steuersätze, so in Frankreich, Italienund den Niederlanden, während in Schweden etwasgünstigere Gewinnermittlungsvorschriften zugelassenwurden. Lediglich Irland hat seinen Körperschaftsteuer-satz auf 12,5 vH erhöht, da der frühere, auf Unterneh-men des Verarbeitenden Gewerbes beschränkte Satz von10 vH („Manufacturing Relief“) gegen die europarecht-lichen Beihilfebestimmungen verstieß.

Neben den Tarifbelastungen sind auch die effektivenDurchschnittsbelastungen sowie die effektiven Grenzbe-lastungen angegeben. Den effektiven durchschnittlichenSteuerbelastungen, die sehr stark von den tariflichenSteuersätzen abhängen, kommt dabei eine – theoretischnachgewiesene und empirisch abgesicherte – besondereBedeutung bei den unternehmerischen Standortentschei-dungen zu. Die effektiven Grenzbelastungen hingegenbeeinflussen die Entscheidungen über zusätzliche Inves-titionen, nachdem die Standortentscheidung gefallen ist.

522. Bei der Tarifbelastung und der für die Standort-wahl entscheidenden effektiven Durchschnittsbelastungnimmt Deutschland nach wie vor nicht nur den letztenRang ein, der Abstand zu anderen Ländern hat sich sogarnoch vergrößert. Im Hinblick auf die effektiven Grenz-steuerbelastungen und, damit eng zusammenhängend,die Kapitalkosten, hat sich die Position Deutschlands imeuropäischen Vergleich ebenfalls verschlechtert, auchwenn Deutschland hier vor Frankreich „nur“ auf demvorletzten Platz liegt. Auffällig ist der steile Anstieg dereffektiven Grenzbelastung in Italien. Dies liegt an derAbschaffung eines nicht einmal vier Jahre zuvor einge-führten Systems eines gespaltenen Körperschaftsteuer-satzes, das einen niedrigen Satz auf Gewinne in Höheeiner aus dem Kapitalmarktzins abgeleiteten Eigenkapi-talrendite vorsah und die volle Tarifbelastung für da-rüber hinausgehende Gewinne.

523. Die Betrachtung grenzüberschreitender Investiti-onstätigkeit vermittelt detailliertere Einsichten in dieStandortattraktivität Deutschlands. Zu unterscheiden istdabei zwischen Outbound-Investitionen und Inbound-In-vestitionen. Im erstgenannten Fall hat die Mutterkapital-gesellschaft ihren Sitz im Inland, mit rechtlich selbstän-digen Tochterkapitalgesellschaften in unterschiedlicheneuropäischen Ländern. Bei Inbound-Investitionen sitztdie Muttergesellschaft im europäischen Ausland, dieTochter in Deutschland.

Im Hinblick auf Outbound-Investitionen steigen auf-grund der Steuererhöhung in Deutschland und der (na-hezu) gleichzeitig erfolgten Steuersenkungen im Aus-land für deutsche Investoren tendenziell die Anreize,Investitionen in Tochtergesellschaften im Ausland stattim Inland durchzuführen. Dies gilt insbesondere für dis-krete, rentable Investitionen, die von den effektivenDurchschnittsbelastungen abhängen. Diese sind imJahr 2003 für sämtliche Auslandsinvestitionen geringerals bei Inlandsinvestitionen. Geht man für Mutter- undTochtergesellschaften jeweils von einem Durchschnittder drei Finanzierungswege (Selbstfinanzierung, Beteili-gungsfinanzierung, Fremdfinanzierung) aus, beträgt diedurchschnittliche effektive Steuerbelastung einer in derinländischen Muttergesellschaft durchgeführten Investi-tion 37,2 vH im Jahr 2003. Werden die Investitionenhingegen in den im Ausland gelegenen Tochtergesell-schaften durchgeführt, reduzieren sich die Durch-schnittssteuerbelastungen auf, zum Beispiel 15,2 vH inIrland, 31,1 vH im Vereinigten Königreich, 34,2 vH inItalien und 36,7 vH in Frankreich. Ein ähnliches Bildzeigt sich auch bei den Grenzsteuerbelastungen von In-vestitionserträgen in Mutter- und Tochtergesellschaften(Tabelle 65, Seite 355). Dasselbe gilt, wenn die Steuer-belastungen bei Outbound-Investitionen unter Einbezugder Kapitalgeberseite betrachtet werden Tabelle 66,Seite 356. Verglichen mit dem Jahr 2001, haben die Be-lastungsunterschiede bei Outbound-Investitionen ten-denziell zugenommen.

Korrespondierend zur Vorteilhaftigkeit eines Auslands-engagements über die Tochtergesellschaft einer deut-schen Kapitalgesellschaft ist die Attraktivität des Stand-

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

orts Deutschland für ausländische Investoren gering.Dies zeigt ein Vergleich der effektiven Steuerbelastun-gen bei Inbound-Investitionen mit den entsprechendenKennziffern für Investitionen an den jeweiligen auslän-dischen Standorten (Tabelle 68, Seite 357). Währendetwa eine niederländische Kapitalgesellschaft im Hei-matland Grenz- und Durchschnittssteuerbelastungen von28,5 vH und 32,4 vH unterliegt, belaufen sich die ent-sprechenden Belastungen einer Tochtergesellschaft mitSitz in Deutschland auf 38,7 vH und 39,9 vH. Für Kapi-talgesellschaften in allen betrachteten Ländern lohnt sichein Engagement in Form einer Tochtergesellschaft inDeutschland unter steuerlichen Gesichtspunkten nicht.

Insgesamt ist der Standort Deutschland gleichermaßenfür inländische wie ausländische Investoren unattraktiv,wenn ausschließlich die steuerliche Belastung von Erträ-gen betrachtet wird.

524. Betrachtet man die unterschiedlichen Finanzie-rungswege der Tochtergesellschaft durch die Mutterge-sellschaft genauer, schneidet die Selbstfinanzierung beiOutbound-Investitionen nach wie vor am günstigsten ab(Tabelle 65, Seite 355). Auslandsgewinne, die in Formvon Dividenden repatriiert werden, unterliegen wegendes hier praktizierten Freistellungsverfahrens der niedri-geren ausländischen Steuerbelastung. Hingegen werdenZinseinkünfte im Fall der Fremdfinanzierung wegen An-wendung des Wohnsitzprinzips der höheren Besteuerungin Deutschland unterworfen. Umgekehrt bestehen imHinblick auf Inbound-Investitionen für ausländische In-vestoren Anreize, ihre deutschen Tochtergesellschaftenmit Fremdkapital statt mit Eigenkapital auszustatten, daZinseinkünfte auf die niedrigere ausländische Steuerbe-lastung heruntergeschleust werden können (Tabelle 68,Seite 357). Allerdings gelingt das nicht vollständig, so-lange die Hälfte der Schuldzinsen der deutschen Gewer-besteuer unterliegt (Ziffer 284). Das Steuergefälle zwi-schen Deutschland und den übrigen Mitgliedstaaten derEuropäischen Union führt also dazu, dass Outbound-In-vestitionen tendenziell mit Eigenkapital, Inbound-Inves-titionen hingegen eher mit Fremdkapital finanziert wer-den. Während multinationale Investoren „nur“ imUmfang der Differenz der Steuerbelastungen der beidenFinanzierungswege profitieren, sind die Konsequenzenfür den deutschen Fiskus weitaus gravierender. Hierkommen sowohl die ausländischen Gewinnsteuern imFall der Selbst- oder Beteiligungsfinanzierung bei Out-bound-Investitionen als auch die Steuern auf ins Aus-land abfließende Zinsen bei Fremdfinanzierung von In-bound-Investitionen dem ausländischen Fiskus zugute;der deutsche Staat geht hingegen weitgehend leer aus.Diese empirisch abgesicherten Finanzierungsbeziehun-gen bei Outbound- und Inbound-Investitionen führen zuAufkommensverlusten in Deutschland, die in der Litera-tur auf Basis einer groben Überschlagsrechnung auf über2 Mrd Euro jährlich veranschlagt werden. Bei Berück-sichtigung von Gewinnverschiebungen ins niedriger be-steuernde Ausland über Funktionsverlagerungen oderVerrechnungspreise fallen diese Aufkommensverlustenoch höher aus.

525. Einer Gewinnverschiebung ins Ausland durchFremdfinanzierung bei Inbound-Investitionen war derGesetzgeber zum Teil durch die Begrenzung der Gesell-schafter-Fremdfinanzierung bei Kapitalgesellschaftendurch § 8a KStG entgegengetreten. Danach werden Ver-gütungen für Fremdkapital, das ein zu mindestens 25 vHbeteiligter Gesellschafter (oder eine diesem naheste-hende Person) mit Sitz im Ausland einer im Inland ge-legenen Kapitalgesellschaft überlässt, in verdeckteGewinnausschüttungen umqualifiziert, sofern ein Ver-hältnis von Fremdkapital zu Eigenkapital von 1,5:1überschritten wird. Als Ergebnis treten erhebliche steu-erliche Mehrbelastungen auf. Zum einen wird fürFremdkapitalvergütungen infolge ihrer Umqualifizie-rung in verdeckte Gewinnausschüttungen auf Ebene derTochtergesellschaft der Betriebsausgabenabzug unter-sagt. Dadurch kommt es zu einer Belastung mit inländi-schen Steuern auf Unternehmensebene. Zum anderen er-folgt nach Maßgabe der Doppelbesteuerungsabkommenim Ausland regelmäßig keine Umqualifizierung der ent-sprechenden Vergütungen in Dividenden, so dass siedort weiterhin als Zinseinkünfte zusätzlich der ausländi-schen Besteuerung unterliegen. Nach dem Lankhorst-Hohorst-Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom12. Dezember 2002 ist § 8a KStG europarechtswidrig,da er eine unzulässige Beschränkung der Niederlas-sungsfreiheit nach Artikel 43 EG-Vertrag enthält. SeineAnwendung ist zwischenzeitlich ausgesetzt.

Als Reaktion auf das Urteil des Europäischen Gerichts-hofes ist im „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung derProtokollerklärung der Bundesregierung zur Vermitt-lungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbauge-setz“ (im Folgenden „Korb II“) eine Ausweitung desräumlichen Anwendungsbereichs der Regelungen des§ 8a KStG auch auf vergleichbare Inlandssachverhaltevorgesehen. Auf Ebene der Tochtergesellschaft stimmenin diesen Fällen Kapitalkosten und effektive Steuerbe-lastungen bei Fremdfinanzierung und Eigenfinanzierungüberein. Da hier der Kapitalgeber nationalem Recht un-terliegt, werden die verdeckten Gewinnausschüttungenbeim (inländischen) Gesellschafter als Dividende be-steuert. Allerdings ist belastungsverschärfend im Korb IIzusätzlich auch eine Anwendung auf Sachdarlehen, etwadie Überlassung von Grundstücken oder Rechten, vorge-sehen. Im Ergebnis führt dies bei deutschen Kapitalge-sellschaften mit im Sinne der Vorschrift qualifiziert be-teiligten Anteilseignern zu einem umfassenderenBetriebsausgabenabzugsverbot. Dies könnte auch zu ei-ner weiteren Beeinträchtigung der Bereitschaft multina-tionaler Unternehmen führen, in Deutschland zu inves-tieren, da es zu einer zusätzlichen steuerlichen Belastungkommt.

526. Schließlich sollen – analog zum Jahresgutach-ten 2001/02, Tabelle 82 – für den Rechtsstand zum1. Januar 2003 die effektiven Durchschnittssteuerbelas-tungen für Inbound-Investitionen aus der Sicht einer US-amerikanischen Kapitalgesellschaft betrachtet werden,die Tochtergesellschaften an unterschiedlichen europäi-schen Standorten unterhält. Unabhängig vom Finanzie-rungsweg werden Inbound-Investitionen in Deutschland

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Die Politikbereiche im Einzelnen

höher besteuert als in den anderen europäischen Ländern(Tabelle 67, Seite 356). Im Vergleich zu 2001 hat sichdie Position Deutschlands gegenüber den meisten ande-ren Ländern noch verschlechtert. Unter steuerlichen Ge-sichtspunkten hatten US-amerikanische Investoren alsoim Jahr 2003 verstärkt Anlass, den Standort Deutschlandzu meiden.

Zunehmende Verzerrungen auch bei nationaler Investitionstätigkeit

527. Die Erhöhung des Körperschaftsteuersatzes zum1. Januar 2003 um 1,5 Prozentpunkte hat nicht nur dieBedingungen für die nationale Investitionstätigkeit vonKapitalgesellschaften verschlechtert, zugenommen ha-ben auch die Verzerrungen bei den Finanzierungsent-scheidungen ebenso wie die rechtsformabhängigen Be-lastungsdifferenzen (Tabelle 59 und Tabellen 69 bis 72,Seiten 358 ff.).

Im ersten Teil der Tabelle 59 sind die effektiven Steuer-belastungen von Kapitalgesellschaften auf Unterneh-mensebene dargestellt; im zweiten Teil wird ein demSpitzensteuersatz unterliegender Kapitalgeber einbezo-gen, wobei zwischen wesentlicher und nicht wesentli-cher Beteiligung im Sinne von § 17 EStG unterschiedenwird; der dritte Teil schließlich enthält die effektivenSteuerbelastungen von Personenunternehmen unter derAnnahme, dass ebenfalls der Spitzensteuersatz zur An-wendung kommt. Betrachtet werden jeweils Durch-schnitte aus fünf Investitionsalternativen.

Zwischen den Jahren 2001 und 2003 sind sowohl die ef-fektiven Grenzsteuerbelastungen als auch die Durch-schnittssteuerbelastungen von Kapitalgesellschaften an-gestiegen; dies gilt bei isolierter Betrachtung derUnternehmensebene ebenso wie bei Einbeziehung derKapitalgeberseite. Für sich genommen, hat dies zu einerBeeinträchtigung der Investitionstätigkeit geführt. MitBlick auf die unterschiedlichen Finanzierungswege hatdie höhere Tarifbelastung auf Unternehmensebene einegleichgerichtete Mehrbelastung für die beiden Formender Eigenfinanzierung (Selbst- und Beteiligungsfinan-zierung) bewirkt, während die Fremdfinanzierung in-folge des gestiegenen Steuervorteils aus dem Abzug vonZinsaufwendungen entlastet wird. Dies zeigt sich vor al-lem bei den effektiven Grenzbelastungen; bei der Durch-schnittsbelastung überwiegt die Tariferhöhung den Ent-lastungseffekt bei Fremdfinanzierung. Die stärkereDiskriminierung der Eigenfinanzierung gegenüber derFremdfinanzierung gilt auch bei Einbeziehung der Kapi-talgeberseite. Bedenklich ist dies gerade im Hinblick aufkleine und mittlere Unternehmen, da diese gleichzeitigauch von einer restriktiveren Kreditvergabepolitik derBanken negativ betroffen werden (Kasten 3). Zudemsind für das Wirtschaftswachstum innovative, risikobe-haftete Investitionen von besonderer Bedeutung, dieaber eine angemessene Eigenkapitalausstattung erfor-dern.

Die auf ein Jahr begrenzte Erhöhung des Körperschaft-steuersatzes trifft Kapitalgesellschaften; für Personenun-

ternehmen ist die Verschiebung der im Steuersenkungs-gesetz für das Jahr 2003 festgeschriebene Tarifsenkungum ein Jahr von Relevanz. Schon vor diesen Verände-rungen wurden Personenunternehmen – anders als viel-fach behauptet – im Vergleich zu Kapitalgesellschaftengeringer besteuert; darauf hat der Sachverständigenrat inder Vergangenheit bereits hingewiesen (JG 2001Ziffern 536 ff.). Dieses Ergebnis ist zwischenzeitlichauch durch andere Studien bestätigt worden. Durch diehöhere Tarifbelastung von Kapitalgesellschaften und dieunveränderte Rechtslage bei Personenunternehmensteigen folglich die rechtsformabhängigen Belastungs-differenzen. Die über Finanzierungswege und Investiti-onsalternativen gemittelte effektive Durchschnittssteuer-belastung liegt im Jahr 2003 bei Kapitalgesellschaften– betrachtet wird ein Kapitalgeber mit nicht wesentlicherBeteiligung (JG 2001 Ziffer 537) – um 4,4 Prozent-punkte höher als bei Personenunternehmen, während dieBelastungsdifferenz in den Jahren 2001 und 2002 um ei-nen Prozentpunkt geringer war. Durch ein In-Kraft-Tre-ten der zweiten und dritten Stufe der Einkommensteuer-reform zum 1. Januar 2004 würde die steuerlicheDiskriminierung von Kapitalgesellschaften gegenüberPersonenunternehmen noch weiter auf 6,5 Prozent-punkte ansteigen.

528. Die Schlussfolgerungen aus diesen Berechnungensind klar: Zwar trifft es zu, dass Deutschland im Hin-blick auf die gesamtwirtschaftliche Steuerquote keinHochsteuerland ist. Für internationale Standortverglei-che und die Entscheidungswirkungen der Besteuerungist diese Belastungskennziffer jedoch nicht geeignet.Dazu kommt es auf die effektiven Grenz- und Durch-schnittssteuerbelastungen an. Bezogen auf diese Kenn-ziffern ist Deutschland allerdings nach wie vor einHochsteuerland. Der Standort Deutschland ist untersteuerlichen Gesichtspunkten sogar noch unattraktivergeworden. Die Steuerpolitik setzt derzeit keine Zeichen,damit Investitionen multinationaler Unternehmen inDeutschland verbleiben oder hierher umgelenkt werden.Auch im Hinblick auf die nationale Investitionstätigkeitsind die steuerlichen Rahmenbedingungen schlechtergeworden. Die effektiven Steuerbelastungen für Kapital-gesellschaften sind angestiegen, die Verzerrungen beiden Finanzierungsentscheidungen und der Rechtsform-wahl haben zugenommen. Die Erhöhung des Körper-schaftsteuersatzes für das Jahr 2003 war eindeutig einefalsche Entscheidung. Insbesondere sollte die Steuerpo-litik nicht noch einmal populistischen und vordergründi-gen Hinweisen auf eine angebliche „soziale Schieflage“nachgeben, die im Jahr 2002 letztlich zu dieser Maß-nahme geführt haben (JG 2002 Ziffer 546).

Da und sofern die Erhöhung des Körperschaftsteuersat-zes auf das Jahr 2003 beschränkt bleibt, werden einigeder aufgezeigten Effekte ab dem Jahr 2004 rückgängiggemacht. Das ändert aber nichts daran, dass Deutschlandim Standortwettbewerb weiter an Boden verloren hat,weil es im Ausland zu dauerhaften Steuersenkungen ge-kommen ist.

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

Ta b e l l e 59

Effektive Steuerbelastungen von Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen in DeutschlandvH1)

Selbst- Beteiligungs- Fremd- Durchschnitt2)

finanzierung (ungewichtet)

I. Kapitalgesellschaften (Unternehmensebene und Kapitalgeber)Ia. Nullsteuersatz

Grenzsteuerbelastung (EMTR)2001/02 .................................................. 40,4 40,4 - 8,5 29,8 2003 ....................................................... 41,8 41,8 - 9,2 31,1 Veränderung (Prozentpunkte) ............... + 1,4 + 1,4 - 0,7 + 1,3

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)2001/02 .................................................. 39,8 39,8 28,3 36,0 2003 ....................................................... 41,1 41,1 29,2 37,2 Veränderung (Prozentpunkte) ............... + 1,3 + 1,3 + 0,9 + 1,2

Ib. Spitzensteuersatz mit wesentlicher BeteiligungGrenzsteuerbelastung (EMTR)

2001/02 .................................................. 64,8 69,4 70,5 68,4 2003 ....................................................... 65,8 70,2 70,4 69,0 Veränderung (Prozentpunkte) ............... + 1,0 + 0,8 - 0,1 + 0,6

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)2001/02 .................................................. 38,1 39,5 39,9 39,2 2003 ....................................................... 39,2 40,6 40,7 40,1 Veränderung (Prozentpunkte) ............... + 1,1 + 1,1 + 0,8 + 0,9

Ic. Spitzensteuersatz ohne wesentliche BeteiligungGrenzsteuerbelastung (EMTR)

2001/02 .................................................. 49,8 70,0 71,0 65,8 2003 ....................................................... 51,5 70,9 71,0 66,4 Veränderung (Prozentpunkte) ............... + 1,7 + 0,9 0,0 + 0,6

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)2001/02 .................................................. 35,0 39,5 39,9 38,1 2003 ....................................................... 36,1 40,6 40,6 39,1 Veränderung (Prozentpunkte) ............... + 1,1 + 1,1 + 0,7 + 1,0

II. PersonenunternehmenSpitzensteuersatz

Grenzsteuerbelastung (EMTR)2001/02 und 2003 .................................. 62,1 62,1 61,5 61,9

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)2001/02 und 2003 .................................. 34,7 34,7 34,6 34,7

III. Belastungsunterschiede: Personenunternehmen zu Kapitalgesellschaften3)

Grenzsteuerbelastung (EMTR)Veränderung (Prozentpunkte)

2001/02 ................................................. -12,3 + 7,9 + 9,5 + 3,9

2003 ....................................................... -10,6 + 8,8 + 9,5 + 4,5

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)Veränderung (Prozentpunkte)

2001/02 ................................................. + 0,3 + 4,8 + 5,3 + 3,4

2003 ....................................................... + 1,4 + 5,9 + 6,0 + 4,4

1) Zu den Berechnungen siehe JG 2001/02 Kasten 7. Kursiv: Differenzen in Prozentpunkten. - 2) Die effektiven Grenzsteuerbelastungen bei denungewichteten Durchschnitten werden über die durchschnittlichen Kapitalkosten und nicht als Durchschnitt der einzelnen effektiven Grenzsteuer-belastungen berechnet (JG 2001/02 Ziffer 529). - 3) Personenunternehmen: Spitzensteuersatz, Kapitalgesellschaften: Spitzensteuersatz ohne we-sentliche Beteiligung.

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Die Politikbereiche im Einzelnen

Eine unendliche Geschichte: Reform der Gewerbesteuer

529. Das Hin und Her um die Reform der Gewerbe-steuer und ihre Umbenennung in „Gemeindewirtschafts-steuer“ zeigt nicht nur, wie quälend eine Steuerreform-diskussion sein kann; es verdeutlicht auch, wie durchmassive Interventionen von Verbänden oder Interessen-vertretern – in diesem Fall vor allem des DeutschenStädtetags, des Deutschen Gewerkschaftsbunds und derVertreter kommunaler Interessen in der SPD-Bundestagsfraktion – ein ursprünglich noch akzeptablesReformmodell zu einer selbst gegenüber dem Status quonoch schlechteren Lösung mutieren kann.

Nach einer knapp einjährigen Beratungszeit musste dieKommission zur Reform der Gemeindefinanzen AnfangMai feststellen, dass sie sich nicht auf ein gemeinsamesErgebnis einigen konnte. Sie unterbreitete zwei alterna-tive Reformvorschläge: ein am Vorschlag des Bundes-verbands der Deutschen Industrie (BDI) und des Ver-bands der Chemischen Industrie (VCI) orientiertesModell eines kommunalen Zuschlags zur Einkommen-und Körperschaftsteuer – ein Reformansatz, der auchvom Sachverständigenrat unterstützt wurde (JG 2001Ziffern 374 ff.) – sowie eine insbesondere vom Deut-schen Städtetag favorisierte Lösung, bei der sowohl dieBemessungsgrundlage der Gewerbesteuer durch dievollständige Einbeziehung von Zinsen, Mieten, Pachtenund Leasingraten erweitert werden sollte als auch derKreis der Steuerpflichtigen durch Einbeziehung der frei-beruflich Tätigen im Sinne des § 18 EStG. Die Bundes-regierung hat dann mit dem Entwurf eines Gesetzes zurReform der Gewerbesteuer vom 8. September 2003 ei-nen Reformvorschlag vorgelegt, der Elemente aus bei-den Kommissionsvorschlägen enthielt. Neben Änderun-gen im Hinblick auf die Abzugsfähigkeit derGewerbesteuer, die Steuermesszahl und die pauscha-lierte Anrechung des § 35 EStG (Ziffer 284) sollen dieFreien Berufe in den Kreis der Steuerpflichtigen einbe-zogen werden. Dies war Anlass der Umbenennung derGewerbesteuer in Gemeindewirtschaftssteuer. Danebensollte laut ursprünglichem Gesetzentwurf die bisherigeHinzurechnung der gewinnunabhängigen Elemente– wie Zinsen, Mieten und Pachten – zur Bemessungs-grundlage gestrichen werden. Schuldzinsen allerdings,die an Gesellschafter oder ihnen nahe stehende Personengezahlt werden, sollten entweder vollständig in die Be-messungsgrundlage der Gemeindewirtschaftssteuer ein-gehen oder teilweise, wenn die Zinsen beim Empfängerdieser Steuer unterliegen.

530. Durch den Verzicht auf die Hinzurechnungertragsunabhängiger Elemente hätte sich die Bemes-sungsgrundlage der Gewerbesteuer/Gemeindewirtschafts-steuer derjenigen der Einkommen- und Körperschaft-steuer angenähert. Gemeinsam mit der Erweiterung desKreises der Steuerpflichtigen um die Freien Berufe hätteman darin – bei wohlwollender Interpretation – eine An-näherung an das BDI/VCI-Modell sehen können, wennim nächsten Schritt alle Einkommensteuerpflichtigenebenfalls in die Gemeindewirtschaftssteuer einbezogenworden wären. Leider ist es anders gekommen. Nach

massiven Protesten der Städte und Kommunen, die er-hebliche Ausfälle beim Steueraufkommen befürchteten,und Interventionen aus der SPD-Bundestagsfraktionwurde dieser Gesetzentwurf geändert. Das vom Deut-schen Bundestag am 17. Oktober dieses Jahres verab-schiedete Gesetz sieht neben einer Anhebung der Steuer-messzahl von ursprünglich vorgesehenen 3 vH auf3,2 vH auch unverändert die hälftige Zurechnung vonSchuldzinsen und von anderen ertragsunabhängigen Ele-menten vor.

Ob das Gesetz tatsächlich in Kraft treten wird, ist offen,da es im Bundesrat zustimmungspflichtig ist und die Op-position Gesetzesänderungen im Vermittlungsverfahrenerreichen will. Zu bezweifeln ist, dass dies zu einer Ver-besserung führen wird. An den vor allem kritischen Hin-zurechnungsbestimmungen will auch die Oppositionnichts ändern.

531. Im Vergleich zum Status quo bewirken die bislangvom Deutschen Bundestag beschlossenen Regelungenzur Gemeindewirtschaftssteuer eine weitere Verschlech-terung der steuerlichen Rahmenbedingungen. ZwecksVergleichbarkeit mit früheren Berechnungen des Sach-verständigenrates zur Gewerbesteuer (JG 2001 Zif-fern 384 f.) liegt den folgenden Angaben wieder derbundesdurchschnittliche Hebesatz von 428 vH imJahr 2001 in Gemeinden mit 50 000 und mehr Einwoh-nern zugrunde. Dauerschuldzinsen gehen wie bisher zurHälfte in die Bemessungsgrundlage der Gemeindewirt-schaftssteuer ein. Berücksichtigt sind die Neuregelungenzur Nichtabzugsfähigkeit der Gemeindewirtschaftssteuerals Betriebsausgabe, die Senkung der Steuermesszahlund bei Personenunternehmen die erhöhte pauschalierteAnrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommen-steuer.

Bei nationaler Geschäftstätigkeit erhöhen sich bei Kapi-talgesellschaften die effektiven Grenzsteuerbelastungenund Durchschnittssteuerbelastungen um bis zu einenProzentpunkt. Die genaue Erhöhung hängt von der Fi-nanzierungsform ab, aber auch davon, ob nur die Unter-nehmensebene betrachtet oder auch die Kapitalgeber-seite einbezogen wird (Tabelle 60). Verglichen werdendabei die effektiven Steuerbelastungen bei geltendemRechtsstand und bei unterstellter Einführung der Ge-meindewirtschaftssteuer schon im Jahr 2003. Personen-gesellschaften, die bei der Einkommensteuer einemNullsteuersatz unterliegen, aber aufgrund der hälftigenZurechnung der Dauerschuldzinsen eine positive Gewer-besteuer- oder Gemeindewirtschaftssteuerschuld haben,werden durch die neuen Regelungen der pauschaliertenAnrechnung merklich entlastet. Bei Zugrundelegung desSpitzensteuersatzes tritt bei Personengesellschaften einenur geringfügig höhere Steuerbelastung auf. Bei gerin-gerem kommunalen Hebesatz würde auch diese geringeMehrbelastung verschwinden. In jedem Fall nehmen dierechtsformabhängigen Belastungsdifferenzen zu Lastender Kapitalgesellschaften durch die Gemeindewirt-schaftssteuer weiter zu.

Betrachtet man nun noch Inbound-Investitionen zumBeispiel einer US-amerikanischen Muttergesellschaft in

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

Deutschland, dann sind, wenn die Muttergesellschaft In-vestitionen ihrer in Deutschland gelegenen Tochter überFremdkapital finanziert, Dauerschuldzinsen bei der Ge-

meindewirtschaftssteuer in voller Höhe dem Gewerbeer-trag der Tochtergesellschaft zuzurechnen. Hinzu kommt,dass die Zinsen dann noch der höheren US-amerikani-

Ta b e l l e 60

Wirkungen der Gemeindewirtschaftssteuer auf die effektiven Steuerbelastungen für das Jahr 2003auf der Grundlage des Entwurfs zur Reform der Gewerbesteuer

vH

Selbst- Beteiligungs- Fremd-

finanzierung

A. Nationale Geschäftstätigkeit (Investitionen) in Deutschland

Ia. Kapitalgesellschaften (Unternehmensebene)

Grenzsteuerbelastung (EMTR)vor Reform 41,8 41,8 - 9,2 31,1 nach Reform 42,7 42,7 - 9,5 31,8 Differenz 0,9 0,9 - 0,3 0,7

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)vor Reform 41,1 41,1 29,2 37,2 nach Reform 42,1 42,1 30,0 38,1 Differenz 1,0 1,0 0,8 0,9

Ib. Kapitalgesellschaften (Unternehmensebene und Kapitalgeber; ohne wesentliche Beteiligung; Spitzensteuersatz)

Grenzsteuerbelastung (EMTR)vor Reform 51,5 70,9 71,0 66,4 nach Reform 52,2 71,3 71,0 66,8 Differenz 0,7 0,4 0,0 0,4

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)vor Reform 36,1 40,6 40,6 39,1 nach Reform 36,8 41,3 41,2 39,8 Differenz 0,7 0,7 0,6 0,7

IIa. Personenunternehmen (Nullsteuersatz)

Grenzsteuerbelastung (EMTR)vor Reform 18,8 18,8 7,6 15,3 nach Reform 15,0 15,0 6,1 12,2 Differenz - 3,8 - 3,8 - 1,5 - 3,1

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)vor Reform 18,0 18,0 14,9 16,9 nach Reform 14,1 14,1 11,7 13,3 Differenz - 3,9 - 3,9 - 3,2 - 3,6

IIb. Personenunternehmen (Spitzensteuersatz)

Grenzsteuerbelastung (EMTR)vor Reform 62,1 62,1 61,5 61,9 nach Reform 62,2 62,2 61,6 62,0 Differenz 0,1 0,1 0,1 0,1

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)vor Reform 34,7 34,7 34,6 34,7 nach Reform 34,8 34,8 34,6 34,7 Differenz 0,1 0,1 0,0 0,0

B. Investitionen einer US-amerikanischen Kapitalgesellschaft in Deutschland

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)vor Reform 38,8 40,5 39,7 39,7 nach Reform 39,7 41,4 42,6 41,2 Differenz 0,9 0,9 2,9 1,5

1) Die effektiven Grenzsteuerbelastungen bei den ungewichteten Durchschnitten werden über die durchschnittlichen Kapitalkosten und nicht als Durchschnitt der einzelnen effektiven Grenzsteuerbelastungen berechnet (JG 2001/02 Ziffer 529).

Durchschnitt1)

(ungewichtet)

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Die Politikbereiche im Einzelnen

schen Körperschaftsteuer unterliegen. Insgesamt wirddurch die Gemeindewirtschaftssteuer der StandortDeutschland für US-amerikanische Investoren noch un-attraktiver.

532. Man könnte nun argumentieren, dass der durchdie Gemeindewirtschaftssteuer bedingte Anstieg der ef-fektiven Steuerbelastungen von bis zu 1 vH bei nationa-ler Geschäftstätigkeit eher gering sei. Das mag zutreffen,ist aber eine gefährliche Sichtweise. In dem einen Jahrist es eine temporäre Anhebung des Körperschaftsteuer-satzes um 1,5 Prozentpunkte, der vernachlässigbareEffekte zugeschrieben werden, im nächsten Jahr danndie Gemeindewirtschaftssteuer – und danach wird demGesetzgeber möglicherweise eine andere, ebenfallsvermeintlich vernachlässigbare Verschlechterung dersteuerlichen Rahmenbedingungen einfallen. Jede Maß-nahme, die die effektiven Steuerbelastungen der Unter-nehmen weiter erhöht, ist eine falsche Maßnahme.

Richtiger wäre es gewesen, wie im ursprünglichen Ge-setzentwurf vorgesehen, auf die hälftige Hinzurech-nung der Dauerschuldzinsen ganz zu verzichten, weildadurch der Standort Deutschland in steuerlicher Hin-sicht an Attraktivität gewonnen hätte. Bei Kapitalge-sellschaften wären die effektiven Grenzbelastungen beiEinbeziehung der Kapitalgeberseite und durchschnittli-chen Finanzierungswegen um rund 2 Prozentpunkte ge-ringer ausgefallen als bei den jetzt beschlossenen Rege-lungen (Tabelle 73, Seite 360). Demgegenüber wäre sieum mehr als 2 Prozentpunkte höher ausgefallen, wennsich der Deutsche Städtetag mit seiner Forderung nacheiner vollständigen Hinzurechnung von ertragsunab-hängigen Elementen durchgesetzt hätte (Tabelle 73,Seite 360).

Weiter schwindende Systematik und zunehmende Schedularisierung der Einkommensteuer

533. Das geltende Einkommensteuerrecht ist von derIdee der klassischen, synthetischen Einkommensteuergeprägt. In der Idealform erlaubt eine synthetische Ein-kommensbesteuerung weder bei der Bemessungsgrund-lage noch beim Tarif eine Unterscheidung zwischen denverschiedenen Formen der Einkommenserzielung. Einesynthetische Einkommensteuer legt einen einheitlichenEinkommensbegriff zugrunde. Alle Einkünfte, gleichwo und durch welche Tätigkeiten sie erzielt werden,sind gleich zu belasten. Zwischen positiven und negati-ven Einkünften aus unterschiedlichen Quellen ist einVerlustausgleich erforderlich. Als Maßstab der steuerli-chen Leistungsfähigkeit gilt das zu versteuernde Welt-einkommen, das einem einheitlichen Tarif zu unterwer-fen ist. Der steuerliche Einkommensbegriff kann dabeiaus der Reinvermögenszugangstheorie oder der Quellen-theorie abgeleitet werden. Erstere zielt auf einenumfassenden Einkommensbegriff als Zuwachs an öko-nomischer Dispositionskraft, der sämtliche Vermö-genszuwächse sowie die fiktiven Mieteinnahmen ausselbstgenutztem Wohneigentum umfasst. Demgegenüberwerden nach der Quellentheorie nur regelmäßig zuflie-ßende Einkommen besteuert, Wertveränderungen der

Einkommensquellen sind hingegen steuerlich unbeacht-lich. Dabei besteht Einigkeit, dass der Einkommensbe-griff der Reinvermögenszugangstheorie die Leistungsfä-higkeit der Steuerpflichtigen besser erfasst als der derQuellentheorie.

Im Gegensatz zur synthetischen Einkommensteuer wer-den unterschiedliche Einkunftsarten bei einer Schedu-lensteuer (oder, gleichbedeutend damit: einer analy-tischen Einkommensteuer) unterschiedlich besteuert.Diese Unterschiede können sich sowohl auf die Art derEinkünfteermittlung als auch auf die Tarifbelastungender einzelnen Einkunftsarten beziehen.

534. Von vornherein ist eine synthetische Einkommen-steuer einer analytischen nicht grundsätzlich überlegen.Grob typisierend kann man sagen, dass eine synthetischeEinkommensbesteuerung eher auf die Gewährleistungeiner horizontalen Gerechtigkeit zielt – gleiche Einkom-men werden unabhängig von ihrer Herkunft gleichbesteuert –, während eine systematische Schedulen-steuer aufgrund ihrer größeren Flexibilität dem Effizi-enzziel besser Rechnung tragen kann.

Unabhängig davon, für welche Form der Einkommens-besteuerung – eine synthetische oder eine analytischeSteuer – sich der Gesetzgeber entscheidet, sollte diesedann möglichst konsequent umgesetzt werden. Dem ent-spricht die Forderung nach Steuersystematik. Die Forde-rung nach einer klaren und nachvollziehbaren Systema-tik des Steuerrechts ist kein Selbstzweck. Hinter derForderung nach einem systematischen Steuersystemsteht vielmehr die konsequente Ausrichtung der Besteu-erung auf das zugrunde liegende Zielsystem: die Ge-währleistung von horizontaler und vertikaler Gerechtig-keit, von Effizienz und Entscheidungsneutralität sowievon Transparenz und Praktikabilität der Steuergesetze(Ziffern 558 ff.).

Durchbrechung der Systematik einer synthetischen Einkommensbesteuerung im geltenden Steuerrecht

535. Die geltende Einkommensteuer wird dem zu-grunde liegenden steuerpolitischen Leitbild einer syn-thetischen Einkommensteuer nicht gerecht. Tatsächlichentfernt sich die Steuerpolitik immer weiter von diesemIdeal. Die formale Zusammenfassung der Einkünfte zueinem „zu versteuernden Einkommen“ nach § 2 EStGkann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Deutschlandmittlerweile ein ausgeuferter Einkünftepluralismus undeine fortschreitende Schedularisierung der Einkunftsar-ten existieren. Von einer einheitlichen Besteuerung derEinkunftsarten kann im gegenwärtigen Steuerrecht keineRede sein. Das hängt mit der Ermittlung der Einkünfte,mit der Gewährung einkunftsartbezogener Frei- undPauschbeträge und mit vielfältigen steuerlichen Sonder-regelungen zusammen. Problematisch ist dabei vor al-lem, dass das Leitbild der synthetischen Einkommen-steuer zunehmend durchlöchert wird, ohne dass einanderes Besteuerungsideal an seine Stelle tritt. Die Kon-sequenzen sind offenkundig: Das Einkommensteuersys-tem wird ständig komplizierter und intransparenter; es

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

wird als zunehmend ungerecht empfunden; seine Neu-tralitätseigenschaften schwinden zusehends.

536. Eine systematische Durchbrechung der syntheti-schen Einkommensbesteuerung ergibt sich durch denEinkünftedualismus; hierunter versteht man die unter-schiedlichen Methoden der Einkunftsermittlung bei Ge-winneinkünften einerseits (Einkünfte aus Land- undForstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständige Ar-beit), Überschusseinkunftsarten andererseits (Einkünfteaus nicht selbständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Ver-mietung und Verpachtung sowie sonstige Einkünfte).Während bei den Gewinneinkunftsarten die Einkünfteer-mittlung auf einem Betriebsvermögensvergleich basiert(nur bei kleineren Unternehmen ist eine Einnahmen-Überschussrechnung nach § 4 Absatz 3 EStG zulässig)und Veräußerungsgewinne einschließt, gilt bei den Über-schusseinkunftsarten das Zufluss-Abfluss-Prinzip, undVeräußerungsgewinne sind von gewissen Sonderrege-lungen abgesehen steuerfrei. Bei konsequenter Verwirk-lichung einer an der Reinvermögenszugangstheorieorientierten synthetischen Einkommensteuer müsstenWertzuwächse und laufende Einkünfte steuerlich gleichbehandelt werden. Anzumerken ist, dass der Einkünfte-dualismus kein Spezifikum des deutschen Steuerrechtsdarstellt, sondern in fast allen Steuerrechtsordnungen an-zutreffen ist.

537. Ein Abweichen vom Prinzip der synthetischenEinkommensbesteuerung ergibt sich durch die zahlrei-chen einkunftsartenbezogenen Frei- und Pauschbeträge,die vor allem bei den Kapitaleinkünften zu einer unter-schiedlichen Besteuerung führen. So sind seit Einfüh-rung des Halbeinkünfteverfahrens Dividenden zur Hälftevon der Einkommensteuer befreit. Da die darauf las-tende Körperschaftsteuer zu einer Definitivbelastung ge-worden ist, kann die tarifliche Gesamtbelastung von inKapitalgesellschaften erzielten und ausgeschütteten Ge-winnen über oder unter der Belastung von gleich hohen,dem allgemeinen Einkommensteuertarif unterworfenenEinkommen liegen. Einkünfte aus Kapitalvermögen sinddurch einen Sparerfreibetrag von 1 550 Euro und von3 100 Euro bei Zusammenveranlagung privilegiert. Er-träge aus bestimmten Formen von Kapitallebensversi-cherungen sind steuerlich vollständig freigestellt; Er-träge aus Zerobonds werden steuerlich anders behandeltals solche aus Anleihen. Beiträge zu und Erträge aus denunterschiedlichen Formen und Durchführungswegen derbetrieblichen, der privaten oder der gesetzlichen Alters-vorsorge unterliegen unterschiedlichen Besteuerungsre-geln. Schließlich werden im Ausland erzielte Einkünfteaus Direktinvestitionen, etwa Gewinne von ausländi-schen Betriebsstätten oder Dividenden, die an inländi-sche Kapitalgesellschaften fließen, aufgrund der in Dop-pelbesteuerungsabkommen regelmäßig vereinbartenFreistellung im Inland überhaupt nicht erfasst, unterlie-gen dafür aber der Besteuerung im Ausland. Die Liste anschedulenhaft ausgestalteten Regelungen bei den Kapi-taleinkünften soll hier nicht weiter fortgesetzt werden.

Weitere Abweichungen werden auch durch zahlloseSonder- und Ausnahmeregelungen verursacht, die nur

bestimmte Gruppen von Steuerpflichtigen betreffen(etwa die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forst-wirtschaft nach Durchschnittssätzen gemäß § 13a EStG),die nur für bestimmte Sachverhalte gelten (wie die steu-erliche Behandlung von Kapitallebensversicherungennach § 20 Absatz 1 Nr. 6 EStG) oder einzelne Betriebebegünstigen (wie die Gewinnermittlungsvorschriften des§ 5a EStG – die so genannte „Tonnagebesteuerung“ – inVerbindung mit der dazugehörigen Lohnsteuervor-schrift des § 41a Absatz 4 EStG, wonach deutsche Ree-der 40 vH der Lohnsteuer der beschäftigten Besatzungs-mitglieder einbehalten können).

538. Die deutsche Einkommensteuer ist meilenweitvom Ideal einer synthetischen Einkommensteuer ent-fernt; sie ist – womöglich ungewollt und unbemerkt – zueiner gänzlich unsystematischen Schedulensteuer mu-tiert. Statt steuerlicher Systematik herrscht speziell imBereich der Kapitaleinkünfte eher steuerliches Chaos.Dies führt nicht nur zu beträchtlichen Ungleichbehand-lungen, sondern auch zu gesamtwirtschaftlichen Kapital-fehllenkungen und damit einhergehenden volkswirt-schaftlichen Kosten.

Zunehmende Unsystematik der Einkommensbesteuerung durch Steuerreformvorhaben

539. Die bislang in der laufenden Legislaturperiodediskutierten Steuerreformvorhaben tragen keinesfalls zueiner größeren Systematik des Einkommensteuerrechtsbei. Manche der beabsichtigten Rechtsänderungen trü-gen zu einer verbesserten Systematik der Einkommen-steuer bei, zentrale andere steuerpolitische Reformvor-haben wiederum würden die Schedularisierung derEinkommensteuer ausbauen und zementieren. Das Pro-blem ist, dass die aktuelle Steuerpolitik keine klare Linieaufweist. Es wird nicht deutlich, wohin die steuerpoliti-sche Reise gehen soll und wie sich Einzelmaßnahmen zueinem geordneten Ganzen zusammen fügen. Ohne steu-erpolitisches Leitbild fehlt aber die Messlatte zur Beur-teilung und Einordnung von Einzelmaßnahmen. Dieklassische, synthetische Einkommensteuer dient offen-sichtlich immer weniger als Richtschnur der Steuerpoli-tik; bedauerlicherweise lässt die Steuerpolitik gegenwär-tig kein neues Leitbild erkennen. Zur Zeit ist offen,welche der beabsichtigten Steuerreformmaßnahmen mitwelchen Modifikationen Gesetzeskraft erlangen. Zu be-fürchten ist, dass mögliche Kompromisse zwischen Re-gierung und Opposition im Vermittlungsausschuss dieSystematik der Einkommensteuer nicht verbessern, son-dern eher noch weiter verschlechtern werden.

Verstöße gegen das Nettoprinzip …

540. Das Nettoprinzip zählt zu den Fundamentalprin-zipien der Einkommensbesteuerung. Es besagt, dasssich das der Besteuerung unterliegende Einkommen alsNettogröße bestimmt aus der Differenz von Einnahmenund Ausgaben oder (realisierten) Vermögensmehrun-gen und Vermögensminderungen. Das Nettoprinzip ge-währleistet insbesondere die Abzugsfähigkeit der be-trieblich oder beruflich veranlassten Ausgaben, der so

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Die Politikbereiche im Einzelnen

genannten Erwerbsausgaben. Im Gegenzug schließt§ 3c Absatz 1 EStG einen Erwerbsausgabenabzug aus,sofern Ausgaben in unmittelbarem wirtschaftlichen Zu-sammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen.

Probleme bei der Abgrenzung von privat und erwerbs-mäßig veranlassten Ausgaben sind jedem Steuersystemimmanent und gehören auch zu den ewigen Problemendes deutschen Einkommensteuerrechts. Speziell mitUmstellung auf das Halbeinkünfteverfahren sind aller-dings Verstöße gegen das Nettoprinzip in das Einkom-mensteuergesetz und das Körperschaftsteuergesetz ein-geflossen, die auch durch die im Korb II vorgesehenenRegelungen zu § 8b KStG nicht beseitigt werden. Derzugrunde liegende Sachverhalt ist allerdings insofernkompliziert, als systematische Regelungen mit erhebli-chen Aufkommensverlusten für den heimischen Fiskusverbunden sein können.

… im Bereich der Einkommensbesteuerung

541. Als Durchbrechung des Nettoprinzips muss imBereich der Einkommensteuer § 3c Absatz 2 EStG ange-sehen werden. Danach werden Aufwendungen von na-türlichen Personen, die im Zusammenhang mit dem Er-werb von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften stehen,nur zur Hälfte zum Abzug zugelassen. Dies mag auf denersten Blick konsequent erscheinen, da die korrespon-dierenden Ausschüttungen aus Kapitalgesellschaftennach § 3 Nr. 40 EStG im Halbeinkünfteverfahren auchnur zur Hälfte zur Besteuerung herangezogen werden.Tatsächlich ist aus Sicht des Anteilseigners ökonomischjedoch die steuerliche Gesamtbelastung relevant, dieauch die auf Dividenden liegende Vorbelastung mit Kör-perschaftsteuer einschließt. Das Halbeinkünfteverfahrenist gerade deshalb eingeführt worden, um insgesamt, dasheißt unter Einschluss der definitiven Körperschaft-steuer, eine Steuerbelastung herzustellen, die typisierendder Steuerbelastung gleich hoher anderer Einkünfte ent-spricht. Dann ist aber steuersystematisch auch ein voll-ständiger Abzug von Beteiligungsaufwendungen gebo-ten.

… im Bereich der Körperschaftsteuer (§ 8b KStG)

542. Spiegelbildlich findet sich die einkommensteuer-liche Problematik des § 3c EStG für Kapitalgesellschaf-ten in § 8b KStG. Zusätzliche Komplikationen treten imBereich der Körperschaftsteuer allerdings noch durchunterschiedliche Regelungen für Beteiligungsaufwen-dungen im Zusammenhang mit dem Bezug von Inlands-dividenden einerseits, Auslandsdividenden andererseitsauf.

Nach § 8b Absatz 1 KStG sind Dividendenzahlungenzwischen inländischen Körperschaften von der Körper-schaftsteuer befreit. Durch diese Befreiung soll eine Ku-mulation mit Körperschaftsteuer in einer Kapitalgesell-schaftskette vermieden werden, so dass es neben einereinmaligen Belastung mit Körperschaftsteuer nur nochzu einer weiteren steuerlichen Belastung kommt, wennGewinne den körperschaftsteuerpflichtigen Sektor ver-

lassen und an eine natürliche Person ausgeschüttet wer-den. Innerhalb des neuen Körperschaftsteuersystems istdies eine steuersystematisch richtige Regelung. Formalbetrachtet, stellen Dividenden bei der empfangendenKapitalgesellschaft also steuerfreie Einnahmen dar. DerGesetzgeber hat deshalb die allgemeine Vorschrift des§ 3c Absatz 1 EStG auf Beteiligungsaufwendungen beiKapitalgesellschaften übertragen, mit der Folge, dass derentsprechende Aufwand steuerlich unbeachtlich ist,sofern im gleichen Veranlagungszeitraum steuerfreieDividenden bezogen werden. Abzugsfähigkeit bestehtnur insofern, als die Beteiligungsaufwendungen die steu-erfreien Dividenden übersteigen. Diese Regelung istschon allein deshalb wenig sinnvoll, weil sie auf einfa-che Weise umgangen werden kann: Bei hohen Beteili-gungsaufwendungen der Muttergesellschaft wird dieTochtergesellschaft die Gewinne zunächst thesaurierenund erst zu einem Zeitpunkt ausschütten, zu dem die Be-teiligungsaufwendungen gesunken sind. Durch dieses sogenannte „Ballooning“ kann der zwischenzeitliche, voll-ständige Abzug von Beteiligungsaufwendungen herbei-geführt werden. Schwerwiegender ist allerdings dergrundsätzliche Einwand, dass bei ökonomischer Be-trachtung gar keine steuerfreien Einnahmen vorliegen.Schließlich sind die zugrunde liegenden Gewinne derTochtergesellschaft mit Körperschaftsteuer vorbelastet.Insofern müssten die damit in wirtschaftlichem Zusam-menhang stehenden Ausgaben eigentlich in voller Höheabzugsfähig sein. Die Einschränkung oder der Aus-schluss des Abzugs von Beteiligungsaufwendungen istunsystematisch und führt zu massiven Belastungen desfremdfinanzierten Beteiligungserwerbs.

543. Bezieht eine inländische Kapitalgesellschaft Divi-denden von ihrer ausländischen Tochtergesellschaft, sosind diese ebenfalls von der (inländischen) Körper-schaftsteuer befreit. Obwohl sich die Befreiung auch indiesem Fall auf das körperschaftsteuerliche Beteili-gungsprivileg des § 8b Absatz 1 KStG berufen kann,verbirgt sich dahinter ein anderes Konzept. Auslandsdi-videnden sind in Deutschland grundsätzlich bereits nachMaßgabe des in den Doppelbesteuerungsabkommen ver-ankerten Schachtelprivilegs von der Körperschaftsteuerbefreit. Das mit dem Halbeinkünfteverfahren einge-führte körperschaftsteuerliche Beteiligungsprivileg bie-tet grundsätzlich nur insoweit Vorteile, als es im Gegen-satz zum abkommensrechtlichen Schachtelprivileg keineMindestbeteiligungsquote vorsieht.

Der Abzug von Beteiligungsaufwendungen ist beiAuslandsdividenden anders geregelt als bei Inlands-dividenden und auch schwieriger zu beurteilen. Steuer-systematisch konsequent wäre es, wenn die im Inlandanfallenden Beteiligungsaufwendungen bei der Gewinn-ermittlung der ausländischen Tochtergesellschaft abge-zogen würden. Einer solchen Regelung dürfte aber keinLand zustimmen, nicht zuletzt aufgrund kaum lösbareradministrativer Schwierigkeiten bei der Aufteilung vonAufwendungen auf mehrere Staaten. Als zweite Mög-lichkeit käme eine völlige Versagung des Abzugs vonBeteiligungsaufwendungen in Frage; dies würde aberklar gegen das Nettoprinzip verstoßen und auf eine Dop-

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

pelbesteuerung hinauslaufen. Dann verbleibt als dritteMöglichkeit die unbeschränkte Abzugsfähigkeit der Be-teiligungsaufwendungen bei der inländischen Gewinner-mittlung. Dies wird in der Tat auch im Schrifttum gefor-dert. Dem deutschen Fiskus können dann abererhebliche fiskalische Kosten in Form von Aufkom-mensverlusten entstehen; er kann gewissermaßen zumObjekt internationaler fiskalischer Ausbeutung werden.Für sich genommen stellen diese Aufkommenseinbußenkeine Effizienzverluste dar; diese treten allerdings da-durch auf, dass die Steuerausfälle bei gegebenen staatli-chen Ausgaben durch die Erhöhung verzerrender Steu-ern kompensiert werden müssen. Deshalb ist von einerunbeschränkten Abzugsfähigkeit von Beteiligungsauf-wendungen im Inland ebenfalls abzuraten.

544. Zur Verdeutlichung der Auswirkungen auf das na-tionale Steueraufkommen bei „steuerfreiem“ Zufluss vonAuslandsdividenden und Abzug von Beteiligungsaufwen-dungen im Inland sei ein einfaches Beispiel betrachtet(Schaubild 69). Die Mutterkapitalgesellschaft mit Sitzim Inland nimmt bei einem ausländischen KreditgeberFremdkapital auf, mit dem Investitionen einer Tochter-gesellschaft mit Sitz im Ausland über eine Aufstockungdes Beteiligungskapitals finanziert werden. Die Investiti-onserträge bei der ausländischen Tochter belaufen sich

ebenso wie der Beteiligungsaufwand in Form von Zins-ausgaben auf 100 Einheiten. Die inländische Mutter sollaus Produktionstätigkeit Erträge von ebenfalls 100 Ein-heiten erwirtschaften, wobei die damit zusammenhän-genden Betriebsausgaben schon gegengerechnet sind.Einkommen- und Körperschaftsteuersatz betragen im In-land 50 vH und im Ausland 30 vH.

Die Tochtergesellschaft führt Steuern in Höhe von30 Einheiten an den ausländischen Fiskus ab und schüt-tet 70 Einheiten an die Muttergesellschaft aus. Die Divi-denden sind im Inland steuerfrei; sie werden bei derMutter thesauriert. Der Beteiligungsaufwand der Muttervon 100 Einheiten kann mit den Gewinnen von ebenfalls100 Einheiten aus der inländischen Produktionstätig-keit verrechnet werden, so dass die inländische Kapital-gesellschaft keine Steuern abführt. Der ausländischeKreditgeber bezieht von der Muttergesellschaft Zinsein-nahmen in Höhe von 100 Einheiten. Davon werden30 Einheiten an den ausländischen Fiskus abgeführt. ImErgebnis fließen dem ausländischen Fiskus sämtlicheSteuereinnahmen zu, der inländische geht dagegen gänz-lich leer aus, obwohl eine Wertschöpfung von 100 Ein-heiten entstanden ist. Das ihm daraus zustehende Steu-eraufkommen wird durch die Möglichkeit des Abzugsvon Beteiligungsaufwendungen ins Ausland umgeleitet.

S c h a u b i l d 69

Fiskus

Ausland Inland

Kreditgeber

Tochtergesellschaft

Muttergesellschaft

Steuereinnahmen + 60davon:Gewinnsteuern + 30Steuern auf Zinsen + 30

Zinserträge + 100Steuern - 30

Gewinn vor Steuern + 100Gewinnsteuern - 30Ausschüttung - 70

Steuereinnahmen : 0

Steuerfreie Dividenden + 70Beteiligungsaufwand - 100Steuerpflichtige Investi-tionserträge + 100

Gewinnsteuern 0

Aufkommenseffekte bei Auslandsdividenden und Abzug von Beteiligungsaufwendungen

Fiskus

SR 2003 - 12 - 0637

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Die Politikbereiche im Einzelnen

Der deutsche Fiskus beseitigt die internationale Doppel-besteuerung auf Kosten seines eigenen Steueraufkom-mens. Es leuchtet ein, dass dies aus nationaler Sicht einehöchst unbefriedigende Situation ist.

545. Als Ausweg aus dem Dilemma, dass ein vollstän-diger Abzug von Beteiligungsaufwendungen im Auslandnicht möglich und im Inland problematisch ist, ein Ab-zugsverbot aber ebenfalls nicht in Frage kommt, hat derdeutsche Gesetzgeber mit § 8b Absatz 5 KStG eine Zwi-schenlösung gewählt. Danach gelten 5 vH der aus demAusland bezogenen Dividenden im Inland als nicht ab-zugsfähiger Beteiligungsaufwand. Im Ergebnis bedeutetdies, dass die tatsächlichen Beteiligungsaufwendungenin voller Höhe im Inland abzugsfähig sind, im Gegenzugallerdings 5 vH der Auslandsdividenden im Inland steu-erpflichtig sind. Auf diese Weise wird zumindest ein Teilder dem deutschen Fiskus durch die Abzugsfähigkeit derBeteiligungsaufwendungen entstehenden fiskalischenKosten aufgewogen. Gleichwohl bleibt dies eine letzt-lich unsystematische Regelung, die allerdings im gelten-den Körperschaftsteuersystem eine gewisse Berechti-gung hat.

546. Die unterschiedliche Behandlung von Beteili-gungsaufwendungen je nach Ansässigkeit der Toch-tergesellschaft im In- oder Ausland ist nicht nurökonomisch, sondern vor allem auch EG-rechtlich pro-blematisch. Immer dann, wenn die tatsächlichen Beteili-gungsaufwendungen unter 5 vH der entsprechenden Di-videndenzuflüsse liegen, werden Auslandsbeteiligungenwegen der pauschalierenden Sonderregelung des § 8bAbsatz 5 KStG gegenüber Inlandsbeteiligungen diskri-miniert. Darin ist ein Verstoß gegen die Niederlassungs-freiheit nach Artikel 43 EG-Vertrag und die Kapitalver-kehrsfreiheit nach Artikel 56 EG-Vertrag zu sehen. Liegtumgekehrt der tatsächliche Beteiligungsaufwand über5 vH der ausgeschütteten Dividenden, werden Auslands-beteiligungen günstiger behandelt als Inlandsbeteiligun-gen. Eine solche Diskriminierung des Inlandssachver-halts ist zwar EG-rechtlich möglich, könnte aber gegenden aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz abgeleitetenGrundsatz der Besteuerungsgleichheit verstoßen.

Aufgrund dieser EG-rechtlichen Problematik plant derGesetzgeber im Korb II, die Behandlungen von Beteili-gungsaufwendungen für den Inlandsfall dem Auslands-fall anzugleichen. Dazu soll das Betriebsausgabenab-zugsverbot von pauschal 5 vH der ausgeschüttetenDividenden auf Inlandsbeteiligungen ausgeweitet wer-den und im Gegenzug das allgemeine Abzugsverbot des§ 3c Absatz 1 EStG entfallen. In mehrstufigen Konzer-nen wären dann auf jeder Stufe 5 vH der Dividendensteuerpflichtig. Die damit verbundene Mehrbelastungbeeinträchtigt nicht nur die Investitionsbedingungen inDeutschland, sie vermindert auch die Attraktivität desStandorts Deutschland. Auf der anderen Seite wäre esaufgrund der negativen Aufkommenseffekte bedenklichgewesen, die bei Inlandsbeteiligungen eigentlich ge-botene vollständige Abzugsfähigkeit von Beteiligungs-aufwand auf Auslandssachverhalte zu übertragen. Einepauschalierende Behandlung von Beteiligungsaufwen-

dungen auch bei Inlandsbeteiligungen könnte allenfallsdamit gerechtfertigt werden, dass es sich bei Aus-schüttungen zwischen Kapitalgesellschaften auch umGewinne aus steuerfreien Quellen handeln kann, wieetwa Gewinne aus ausländischen Direktinvestitionen(Betriebsstätten, Personengesellschaften, Kapitalgesell-schaften). Generell wäre allerdings in Betracht zu zie-hen, den steuerpflichtigen Prozentsatz der Dividenden inkonkreten Fällen dann zu reduzieren, wenn nachgewie-sen wird, dass die tatsächlichen Beteiligungsaufwendun-gen unter 5 vH liegen.

547. Die Steuerbefreiung von Ausschüttungen zwi-schen Kapitalgesellschaften wird ergänzt durch die Steu-erbefreiung von Veräußerungsgewinnen nach § 8bAbsatz 2 KStG. Dabei entspricht es der Logik des Halb-einkünfteverfahrens, dass Veräußerungsgewinne von derBesteuerung verschont bleiben, solange sie im körper-schaftsteuerlichen Sektor verbleiben. Dies gilt uneinge-schränkt, sofern Wertsteigerungen auf bereits versteuer-ten Rücklagen beruhen; aus Praktikabilitätsgründenakzeptabel ist die Steuerfreiheit von Gewinnen aus derVeräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaftendurch Kapitalgesellschaften aber auch dann, wenn dieWertsteigerungen auf stillen Reserven beruhen (Zif-fer 573). Korrespondierend zur Befreiung von Veräuße-rungsgewinnen enthält § 8b Absatz 3 KStG dann ein Ab-zugsverbot von Veräußerungsverlusten und Teilwertab-schreibungen.

Durch die im Korb II vorgesehenen Regelungen soll nunin § 8b Absatz 3 KStG ebenfalls ein pauschales Be-triebsausgabenabzugsverbot in Höhe von 5 vH der Ver-äußerungsgewinne festgeschrieben werden. Laut Geset-zesbegründung soll dadurch verhindert werden, dass dasBetriebsausgabenabzugsverbot bei Dividenden durchThesaurierung der Gewinne der Kapitalgesellschaft undanschließende steuerfreie Veräußerung der Beteiligungumgangen werden kann. Nicht berücksichtigt wird je-doch, dass Wertsteigerungen von Beteiligungen, die ih-ren Niederschlag in Veräußerungsgewinnen finden, nichtnur auf thesaurierte Gewinne (offene Rücklagen) zu-rückzuführen sind, sondern in hohem Maße auf künftigeErtragsaussichten (stille Reserven). Darauf ist aber derin der Gesetzesbegründung vermutete Umgehungstatbe-stand nicht anwendbar. Auch ist zu berücksichtigen, dassbei Besteuerung von Veräußerungsgewinnen in Höhevon 5 vH systematisch ein entsprechender Abzug vonVeräußerungsverlusten und Teilwertabschreibungen zu-gelassen werden müsste, der im Gesetzentwurf aller-dings nicht vorgesehen ist. Insofern sollte die vorgese-hene Neuregelung des § 8b KStG im Hinblick auf dieEinbeziehung von Veräußerungsgewinnen überdachtund fallen gelassen werden.

Beschränkungen der Verlustverrechnung

548. Gewinne und Verluste sind im Rahmen einer syn-thetischen Einkommensteuer gleich zu behandeln.Grundsätzlich sollten Verluste bei einer Einkunftsart mitGewinnen anderer Einkunftsarten desselben oder einesanderen Jahres verrechnet werden können. Steuersyste-

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

matisch geht es um die Wahrung des Nettoprinzips; wir-kungsanalytisch führen Verlustverrechnungsbeschrän-kungen zu negativen Zins- und Liquiditätseffekten, diedie Investitionstätigkeit beeinträchtigen und die Stand-ortattraktivität reduzieren. Betroffen sind vor allem neugegründete Unternehmen, Unternehmen mit starkschwankenden Ergebnissen oder solche, die nach einerKrise wieder erste Gewinne erwirtschaften. Gerade be-sonders innovative und damit auch riskante Unterneh-men werden durch Beschränkungen des Verlustaus-gleichs stark beeinträchtigt. Das deutsche Steuerrechtenthält eine ganze Reihe von Beschränkungen des inter-nen (innerhalb einer Einkunftsart) und externen (zwi-schen unterschiedlichen Einkunftsarten) Verlustaus-gleichs.

Begründet werden Maßnahmen zur Beschränkung desVerlustausgleichs mit dem Bestreben nach einer Verste-tigung der Steuereinnahmen und der Vermutung, dassVerluste rein steuerlich motiviert sind, tatsächlich abernicht auftreten. So war zum Beispiel die Summe der Ein-künfte aus Vermietung und Verpachtung in den letztenJahren stets negativ, wobei die steuerlichen Verluste zwi-schen 8,3 Mrd Euro im Jahr 1992 und 16,5 Mrd Euro imJahr 1998 lagen (Ziffer 831). Tatsächlich dürften demaber keine ökonomischen Verluste entsprechen; andern-falls wäre der Neubau von Mietwohnungen schlecht zuerklären. Durch eine Verlustverrechnungsbeschränkungsoll eine bestimmte Mindestbesteuerung sichergestelltwerden. Die steuersystematisch richtige Antwort auf sol-che Fälle besteht allerdings nicht in der Beschränkungdes Verlustausgleichs, sondern in der Beseitigung derden steuerlichen Verlust verursachenden Regelungenoder Gestaltungsmissbräuche.

549. Die aktuell im Korb II vorgesehenen Regelungenzur Verlustverrechnung sind widersprüchlich. Zum Teilstärken sie die Systematik der synthetischen Einkommen-steuer, zum Teil schwächen sie diese weiter. Steuersyste-matisch geboten ist die vorgesehene Streichung derSätze 2 bis 8 des § 2 Absatz 3 EStG, die durch das „Steu-erentlastungsgesetz 1999/2000/2002“ eingeführt wurdenund durch Beschränkung des externen Verlustausgleichseine einkunftsartbezogene Mindestbesteuerung gewähr-leisten sollen. Diese Vorschriften sind nicht nur wir-kungsanalytisch fragwürdig, sie sind wegen ihrer weit-gehend unverständlichen und nicht nachvollziehbarenFormulierungen auch verfassungsrechtlich zweifelhaft,weil sie gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen könn-ten.

Glanzstücke der Formulierungskunst im deutschen Steu-errecht (§ 2 Absatz 3 Sätze 6 und 7 EStG): „Bei Ehegat-ten, die nach den §§ 26, 26b zusammen veranlagt wer-den, sind nicht nach Satz 2 bis 5 ausgeglichene negativeEinkünfte des einen Ehegatten dem anderen Ehegattenzuzurechnen, soweit sie bei diesem nach den Sätzen 2bis 5 ausgeglichen werden können; können negative Ein-künfte des einen Ehegatten bei dem anderen Ehegattenzu weniger als 51 500 Euro ausgeglichen werden, sinddie positiven Einkünfte des einen Ehegatten über dieSätze 2 bis 5 hinaus um den Unterschiedsbetrag bis zu

einem Höchstbetrag von 51 500 Euro durch die nochnicht ausgeglichenen negativen Einkünfte dieses Ehe-gatten zu mindern, soweit der Betrag der Minderungenbei beiden Ehegatten nach den Sätzen 2 bis 6 den Betragvon 103 000 Euro zuzüglich der Hälfte des den Betragvon 103 000 Euro übersteigenden Teils der zusammen-gefassten Summe der positiven Einkünfte beider Ehegat-ten nicht übersteigt. Können negative Einkünfte des ei-nen Ehegatten bei ihm nach Satz 3 zu weniger als51 500 Euro ausgeglichen werden, sind die positivenEinkünfte des anderen Ehegatten über die Sätze 2 bis 6hinaus um den Unterschiedsbetrag bis zu einem Höchst-betrag von 51 500 Euro durch die noch nicht ausgegli-chenen negativen Einkünfte des einen Ehegatten zu min-dern, soweit der Betrag der Minderungen bei beidenEhegatten nach den Sätzen 3 bis 6 den Betrag von103 000 Euro zuzüglich der Hälfte des den Betrag von103 000 Euro übersteigenden Teils beider Ehegattennicht übersteigt.“

Die Abschaffung der externen Verlustverrechnungsbe-schränkung des § 2 Absatz 3 EStG wird nun allerdingsdurch die ebenfalls im Korb II geplanten und vorherschon im Entwurf des Steuervergünstigungsabbaugeset-zes vorgesehenen verschärften interperiodischen Ver-rechnungsbeschränkungen des § 10d EStG konterkariert,nach der Verlustvorträge die einkommen- und körper-schaftsteuerpflichtigen Einkünfte sowie den Gewerbeer-trag grundsätzlich nur zur Hälfte reduzieren können. ZurVermeidung von Härten ist eine Mittelstandskompo-nente von 100 000 Euro vorgesehen; in dieser Höhe dür-fen Verluste weiterhin unbeschränkt in jeder Periodeverrechnet werden.

Die vorgesehene Mittelstandskomponente mag in Ein-zelfällen entlastend wirken, sie nützt allerdings nichts imHinblick auf größere Investitionsvorhaben multinationa-ler Unternehmen. Zu befürchten ist deshalb, dass die– im internationalen Vergleich im Übrigen einzigartigeForm der – Mindestbesteuerung ausländische Investorendavon abhält, in Deutschland erstmals aktiv zu werden.Denn Neuansiedlungen sind im Allgemeinen weniger di-versifiziert als bestehende Unternehmen, so dass dasVerlustverrechnungspotenzial von vornherein geringerausfällt.

Zick-Zack-Kurs bei der Besteuerung von Zinseinkünften (Abgeltungssteuer)

550. Eine weitgehende Abkehr von der synthetischenEinkommensteuer wäre mit dem für den 1. Januar 2004geplanten In-Kraft-Treten des Zinsabgeltungssteuerge-setzes vollzogen worden. Allerdings wurde dieses Vor-haben unter Hinweis auf die EU-Richtlinie zur Zinsbe-steuerung bis auf weiteres zurückgestellt.

Zinseinkünfte sollten danach bei einkommensteuer-pflichtigen Gläubigern – nicht aber im Bereich desKörperschaftsteuergesetzes – optional einer Abgel-tungssteuer von 25 vH unterliegen, sofern der Schuld-ner ein Kreditinstitut ist oder die Zinsen aus Anleihenund Forderungen resultieren, die in ein öffentliches

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Die Politikbereiche im Einzelnen

Schuldbuch (etwa Bundesanleihen) oder ausländischesRegister eingetragen sind. Dabei ist es unerheblich, obdie Zinsen innerhalb der Gewinn- oder der Überschuss-einkünfte anfallen. Die von der Abgeltungssteuer er-fassten Kapitalerträge hätten dann nicht mehr zu denEinkünften und dem Einkommen im Sinne des § 2Absatz 2 ff. EStG gezählt. Die zumindest formal nochgeltende Gleichheit der Einkunftsarten wäre durchbro-chen worden; die Abgeltungssteuer wäre ein Fremdkör-per im geltenden Einkommensteuersystem. Sie hätteauch nicht wirklich zu einer Vereinfachung des Steuer-rechts beigetragen. Durch die Einführung eines Wahl-rechts zwischen der Anwendung des Abgeltungssteuer-satzes von 25 vH auf Bruttobasis und der Einbeziehungin die allgemeine Einkommensteuerveranlagung hättenSteuerpflichtige im relevanten Einkommensbereich vorAusübung der Option für die Abgeltungssteuer eine„Schattenveranlagung“ durchführen müssen, um derenVorteilhaftigkeit festzustellen. Da die Abgeltungssteuernicht für Kapitalerträge etwa aus privaten Darlehenoder Gesellschafterdarlehen an Kapitalgesellschaftenangewendet werden sollte, wären zahlreiche Abwehr-maßnahmen erforderlich geworden, um Umgehungs-möglichkeiten etwa durch Zwischenschaltung einerBank zu verhindern.

551. Der wichtigste Einwand gegen die vorgeseheneAbgeltungssteuer besteht aber darin, dass ihre isolierteEinführung ohne entsprechende Anpassungen bei derUnternehmensbesteuerung zu unerwünschten Wirkun-gen führen kann. Der Zusammenhang von Abgeltungs-steuer und Unternehmensbesteuerung wird durch diefolgenden Überlegungen deutlich: Die Vorteilhaftigkeitvon Investitionsvorhaben hängt vom Vergleich der In-vestitionserträge mit den Erträgen alternativer Kapital-anlagen ab, unter jeweiliger Berücksichtigung der Er-tragsbesteuerung. Eine unterschiedliche Besteuerungalternativer Kapitalanlagen beeinflusst deshalb dieInvestitionsentscheidungen. Würden Zinsen aus Festan-sprüchen nun einer Abgeltungsbesteuerung unter-worfen, Eigenkapitalerträge aus risikobehafteten Real-investitionen hingegen nicht, wäre dies ein klaresInvestitions- und Beschäftigungshemmnis. Angenom-men, der Zinssatz aus Bankeinlagen betrage 10 % undder Satz der Abgeltungssteuer 25 vH, so dass sich eineNach-Steuer-Verzinsung von 7,5 % ergibt. Bei einer biszum Anteilseigner durchgerechneten Belastung der Un-ternehmensgewinne von 50 vH müssten Realinvestitio-nen eine Mindestrendite von 15 % abwerfen, um für In-vestoren überhaupt attraktiv zu sein. WürdenZinseinkünfte hingegen ebenfalls mit 50 vH besteuert,wären eigenfinanzierte Realinvestitionen schon bei ei-ner Vor-Steuer-Rendite von über 10 % vorteilhaft. Aus-gehend von einer synthetischen Besteuerung würdenbei Einführung einer Abgeltungssteuer also Investiti-onsvorhaben mit Bruttorenditen zwischen 10 % und15 % unterbleiben. Auch die Wahl der Finanzierungs-wege einer Realinvestition würde beeinflusst: die Fi-nanzierungsstruktur würde sich noch weiter zu Lastendes Eigenkapitals verschieben.

Diese negativen Investitionswirkungen werden in deraktuellen Diskussion über die Vorteilhaftigkeit einer Ab-geltungssteuer häufig vernachlässigt. Sie sprechen aller-dings nicht grundsätzlich gegen eine Abgeltungssteuer.Sie machen lediglich deutlich, dass die Integration einerAbgeltungssteuer in die klassische Einkommensbesteue-rung mit Problemen und unerwünschten Wirkungen ver-bunden ist. Der Sachverständigenrat tritt nach wie vorfür die Einführung einer Abgeltungssteuer ein (zuletztJG 2000 Ziffer 375); sie sollte allerdings in eine grund-legende Reform der Kapitaleinkommensbesteuerungund des Einkommensteuersystems eingeordnet sein.

Keine klare Linie bei der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen

552. Nach der Reinvermögenszugangstheorie sindWertsteigerungen des Vermögens in die Besteuerungeinzubeziehen, wobei dem Zuflussprinzip entsprechendund aus Praktikabilitätsgründen nur realisierte Veräuße-rungserfolge berücksichtigt werden. Das geltende Ein-kommensteuerrecht folgt diesem Besteuerungsidealallerdings nur zum Teil. Während betriebliche Veräuße-rungsgewinne prinzipiell steuerlich erfasst werden, giltdies für private Veräußerungserfolge nur in begrenztemRahmen.

Nach den §§ 3 Nr. 40 und 3c Absatz 2 EStG gilt fürSteuerpflichtige mit Anteilen an Kapitalgesellschaftenim Privatvermögen eine hälftige Steuerfreistellung fürVeräußerungsgewinne, soweit die verkauften AnteileBeteiligungen im Sinne des § 17 EStG darstellen (Betei-ligungsgrenze 1 vH) oder aus Spekulationsgeschäftennach § 23 EStG (Haltedauer nicht mehr als zwölf Mo-nate) resultieren. Anteilsveräußerungen aus dem Privat-vermögen sind außerhalb der §§ 17 und 23 EStG gänz-lich steuerbefreit. Eine nur hälftige Besteuerung giltnach den §§ 3 Nr. 40 und 3c Absatz 2 EStG auch für Ge-winnerhöhungen aus der Veräußerung (oder Entnahme)von Anteilen an Kapitalgesellschaften, die sich im Be-triebsvermögen befinden. Aufgrund des durch das Un-ternehmensteuerfortentwicklungsgesetz neu gefassten§ 6b Absatz 10 EStG können Einzelunternehmen undPersonengesellschaften (soweit an ihnen keine körper-schaftsteuerpflichtigen Gesellschafter beteiligt sind)Veräußerungsgewinne von Anteilen an Kapitalgesell-schaften bis zu einem Betrag von 500 000 Euro unterBeachtung gewisser Einschränkungen steuerfrei auf be-stimmte Wirtschaftsgüter übertragen. Gewinne aus derVeräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaftendurch Kapitalgesellschaften sind nach § 8b Absatz 2KStG vollständig steuerbefreit. Entsprechende Veräuße-rungsgewinne werden somit steuerlich ebenso behandeltwie Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften an Kapi-talgesellschaften nach § 8b Absatz 1 KStG. Nach der In-tention des Gesetzgebers sollen dadurch Kaskadenef-fekte verhindert werden. Veräußerungserfolge von imPrivatbesitz befindlichen (vermieteten) Grundstückenunterliegen nach § 23 EStG nur dann der Besteuerung,wenn der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräuße-rung nicht mehr als zehn Jahre beträgt.

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

553. Im ursprünglichen Entwurf des Steuervergünsti-gungsabbaugesetzes hatte die Bundesregierung eine Er-weiterung der Steuerpflicht für Veräußerungsgewinnebei Wertpapieren und nicht selbstgenutzten Grundstü-cken vorgesehen. Einmal mehr wurden diese Maßnah-men im Bundesrat gestoppt. Sie sollen gleichwohl kurzgewürdigt werden. Zum einen wären sie als Schritt inRichtung einer synthetischen Einkommensteuer einzu-stufen gewesen. Andererseits hätten die vorgesehenenRegelungen bei In-Kraft-Treten aber zu einer Vielzahlunterschiedlicher Steuersätze auf Veräußerungsgewinnegeführt, was nicht nur zusätzliche Komplikationen, son-dern auch neue Schedularisierungstatbestände geschaf-fen hätte. Veräußerungsgewinne bei gewerblichen Ein-künften unterliegen in der Spitze einem Satz von48,5 vH (oder von 42 vH bei In-Kraft-Treten des imHaushaltsbegleitgesetz 2004 vorgesehenen Vorziehensder Steuerreformstufe 2005 auf 2004). Private Veräuße-rungsgewinne, die nach § 17 EStG steuerpflichtig sind,werden hingegen mit bis zu 24,25 vH (21 vH ab 2004)besteuert. Die neuen Regelungen hätten außerdem einenSondersteuersatz von 15 vH gebracht für Veräußerungs-gewinne aus Immobiliengeschäften und von 7,5 vH imFall von Aktienverkäufen. Schließlich war eine 10-pro-zentige Gewinnpauschalierungsregelung für Altfällevorgesehen, das heißt für Anschaffung vor, aber Veräu-ßerung nach In-Kraft-Treten der Neuregelung. Die stei-gende Anzahl unterschiedlich besteuerter Einkünftehätte zusätzliche Abgrenzungsprobleme bei Einnahmenund Ausgaben geschaffen. So sind etwa Refinanzie-rungszinsen auf die verschiedenen Einkünfte zu vertei-len. Differenzierte Tarife lösen aber immer Anreize aus,Einnahmen niedrigen Steuersätzen zu unterwerfen undAusgaben bei hohen Steuersätzen geltend zu machen.Werden gesetzgeberische Maßnahmen gegen derartigeArbitragehandlungen ergriffen, steigt die Komplexitätdes Steuerrechts als unmittelbare Konsequenz der ver-minderten Systematik.

554. Eine wirklich systematische Regelung der Veräu-ßerungsgewinnbesteuerung ist im geltenden Steuersys-tem aufgrund des einkommensteuerlichen Einkünftedua-lismus, wegen der unterschiedlichen steuerlichenBehandlung von Kapitalgesellschaften und Personenun-ternehmen und nach dem Übergang vom Anrechnungs-verfahren zum Halbeinkünfteverfahren nicht zu errei-chen. Durch Einzelmaßnahmen ließen sich punktuelleVerbesserungen erzielen. So sollten Gewinne aus derVeräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaftendurch einkommensteuerpflichtige Anteilseigner gene-rell der Einkommensteuer unterworfen und entspre-chende Verluste zum Abzug zugelassen werden. Analo-ges gilt für Veräußerungserfolge bei im Privatvermögengehaltenen (vermieteten) Grundstücken. Demgegenüberist die Steuerbefreiung von Gewinnen aus der Veräuße-rung von Anteilen an Kapitalgesellschaften bei körper-schaftsteuerpflichtigen Anteilseignern gemäß § 8bAbsatz 2 KStG im Rahmen des Halbeinkünfteverfahrensvertretbar. Ungleichbehandlungen und allokative Ver-werfungen lassen sich auch dann allerdings nicht ver-meiden. Am sinnvollsten ist es deshalb, Neuregelungen

zur Veräußerungsgewinnbesteuerung in eine umfassendeReform der Kapitaleinkommensbesteuerung einzubet-ten (Ziffern 584 ff.).

Hin und Her bei der pauschalierten Gewinnermittlung

555. Regelungen zur pauschalen Gewinnermittlungstellen ein weiteres Beispiel dafür dar, dass der Gesetz-geber einerseits versucht hat, durch Einzelmaßnahmendie Systematik der Einkommensteuer zu verbessern, an-dererseits nur wenig später in anderen Gesetzesvorhabengenau gegenteilige Maßnahmen einführen wollte. Esfällt schwer, eine tiefere Logik in dem Nebeneinandervon Steuerreformmaßnahmen zu sehen, die einmal aufdie Abschaffung pauschaler Gewinnermittlungsmetho-den bei Handelsschiffen nach § 5a EStG („Tonnagebe-steuerung“) zielten, das andere Mal auf deren Einfüh-rung für Kleinunternehmer durch einen neuen § 5b EStGim Rahmen des „Kleinunternehmerförderungsgesetzes“.Das ganze Elend der deutschen Steuerpolitik zeigt sichzusätzlich darin, dass keines dieser Vorhaben realisiertwerden konnte, weil entweder Lobbyisten interveniertenoder der Bundesrat im Vermittlungsverfahren die Ge-winnermittlung durch Betriebsausgabenpauschalierungfür Kleinunternehmer stoppte.

Bemerkungen zur Neuregelung der Besteuerung von Altersbezügen

556. Der Sachverständigenrat hat sich wiederholt füreine nachgelagerte Besteuerung der Renten aus der Ge-setzlichen Rentenversicherung ausgesprochen (zuletztJG 2002 Ziffern 548 ff.). Im März dieses Jahres hatdazu die von der Bundesregierung eingesetzte „Sach-verständigenkommission zur Neuordnung der steuer-rechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendun-gen und Altersbezügen“ entsprechende Vorschlägeunterbreitet.

Die Kommission schlägt ein „Drei-Schichten-Modell“vor, wobei die den einzelnen Schichten zuzuordnendenProdukte unterschiedlich besteuert werden sollen. Zurersten Schicht gehören Leibrenten, bei denen die erwor-benen Anwartschaften „nicht beleihbar, nicht vererblich,nicht veräußerbar, nicht übertragbar und nicht kapitali-sierbar“ sind. Darunter fallen Leibrenten aus der Gesetz-lichen Rentenversicherung, aus den bezugsständischenVersorgungseinrichtungen und aus privaten kapitalge-deckten Lebensversicherungen. Für diese Schicht isteine nachgelagerte Besteuerung ohne Höchstgrenze fürdie abziehbaren Aufwendungen vorgesehen. Zur zweitenSchicht zählen Produkte der privaten kapitalgedecktenAltersvorsorge nach § 10a und §§ 79 ff. EStG sowie derbetrieblichen Altersvorsorge. Allerdings soll der An-wendungsbereich der geförderten Privatvorsorge auf alleunbeschränkt Steuerpflichtigen ausgedehnt werden. Vor-geschlagen wird für die Zusatzversorgung der zweitenSchicht eine nachgelagerte Besteuerung mit einer be-tragsmäßigen Begrenzung der Beiträge. Die dritteSchicht enthält alle sonstigen Kapitalanlageprodukte, dievorgelagert besteuert werden sollen.

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Die Politikbereiche im Einzelnen

Unstrittig ist die nachgelagerte Besteuerung für Alters-einkünfte aus der Gesetzlichen Rentenversicherung ein-schließlich des von der Kommission empfohlenen Über-gangsszenarios. Geteilter Meinung kann man über dienachgelagerte Besteuerung der mit einem (begrenzten)Kapitalwahlrecht ausgestatteten Vorsorgeprodukte derzweiten Schicht sein. Allerdings spricht sehr viel dafür,alle Altersvorsorgeprodukte, die durch ähnliche Eigen-schaften charakterisiert sind wie die Renten aus derGesetzlichen Rentenversicherung sowie aus den berufs-ständischen Versorgungswerken oder aus privatenLeibrentenverträgen, auch in Analogie zu den Alters-einkünften aus der Gesetzlichen Rentenversicherungnachgelagert zu besteuern. Gleichwohl sollte eine Be-schränkung der Abzugsfähigkeit von Aufwendungen fürprivate Leibrentenverträge erwogen werden.

Fazit

557. Auf Grundlage der bisherigen Ausführungen las-sen sich die Mängel des deutschen Einkommen- undKörperschaftsteuersystems wie folgt zusammenfassen:

– Die tariflichen und effektiven Steuerbelastungen derunternehmerischen Gewinne sind in Deutschland iminternationalen Vergleich zu hoch. Unter steuerlichenGesichtspunkten ist der Standort Deutschland für In-bound- und Outbound-Investitionen multinationalerUnternehmen unattraktiv.

– Die Unternehmensbesteuerung beeinträchtigt die In-vestitionstätigkeit; sie verzerrt die Finanzierungsent-scheidungen und die Rechtsformwahl.

– Eine synthetische Einkommensbesteuerung, das heißteine Gleichbehandlung der Einkunftsarten, ist im gel-tenden Recht nicht gewährleistet; die Einkommen-steuer mutiert zunehmend zu einer unsystematischenSchedulensteuer.

– Die Gestaltungsfreiheit der nationalen Steuergesetz-gebung wird durch die EG-rechtlichen Grundfreihei-ten, insbesondere die Niederlassungsfreiheit und dieKapitalverkehrsfreiheit, sowie das Beihilfeverbot be-grenzt. Eine Reihe wichtiger steuergesetzlicher Rege-lungen ist im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit demEG-Recht anzupassen.

– Die aktuelle Steuerpolitik lässt Glaubwürdigkeit undZuverlässigkeit vermissen; sie ist hektisch undsprunghaft, sie folgt keinem erkennbaren steuerpoliti-schen Leitbild; das Steuerrecht ist zunehmend kom-plizierter und missbrauchsanfälliger geworden.

Was ist zu tun? Wie soll das deutsche Steuersystem re-formiert werden? Zur Beantwortung dieser Fragen wirdein Kriterienkatalog benötigt, der die Messlatte für dieBeurteilung alternativer Steuerreformkonzepte definiert.

Kriterien für und Ausblick auf eine Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung

558. Der erste Programmpunkt der im letzten Jahres-gutachten dargelegten „Zwanzig Punkte für Beschäfti-

gung und Wachstum“ enthielt die Forderung nach einerIntegration von Einkommens- und Unternehmensbesteu-erung. Dazu wurden zwei mögliche Reformoptionenskizziert, die im Folgenden näher ausgearbeitet werden.Zunächst werden Kriterien angegeben, die das Beurtei-lungsraster für Steuerreformen abgeben. Während diemeisten Zielcharakter haben, stellt die Forderung nachVereinbarkeit mit dem Europarecht eine wichtige Ne-benbedingung dar. Bei den Zielkategorien besteht eineRangordnung: Da es hier in erster Linie um eine Reformder Unternehmensbesteuerung geht und dabei um eineAbstimmung der Körperschaftsbesteuerung von Kapital-gesellschaften mit der Einkommensbesteuerung von Per-sonenunternehmen, stehen die Forderungen nach ökono-mischer Effizienz oder Neutralität sowie nach einerVerbesserung der Standortattraktivität im Vordergrund.Verteilungsgesichtspunkte spielen für die Unterneh-mensbesteuerung im engeren Sinne keine Rolle. Siekommen erst bei der Zuordnung der unternehmerischenGewinne auf die Eigentümer oder Kapitalgeber insSpiel. Deshalb sind hier die Forderungen nach Vertei-lungsgerechtigkeit, aber auch nach Steuervereinfachungnachrangig.

Ökonomische Effizienz und Neutralität

559. Der volkswirtschaftliche Effizienzbegriff istgrundsätzlich weiter gefasst als das betriebswirtschaftli-che Neutralitätskonzept. Im Hinblick auf die Unterneh-mensbesteuerung stimmen beide Konzepte allerdingsüberein. Neutralität oder Effizienz bedeuten dann, dasssteuerliche Regelungen die unternehmerischen Entschei-dungen nicht verzerren und bei gegebenem Ressourcen-einsatz der größtmögliche Output erzielt wird. Dabeikann zwischen einer nationalen und einer internationa-len Dimension des Neutralitätsbegriffs unterschiedenwerden.

Bezüglich nationaler Sachverhalte soll die Besteuerungmöglichst weitgehend die Neutralität der Investitions-und Finanzierungsentscheidungen sowie der Rechts-formwahl gewährleisten. Finanzierung und Rechtsformkönnen als abstrakte Produktionsfaktoren interpretiertwerden, deren Einsatz nicht durch Steuern verzerrt wer-den sollte. Im Hinblick auf grenzüberschreitende Ge-schäftstätigkeit ist zwischen Kapitalexportneutralitätund Kapitalimportneutralität zu wählen. Bei Vorliegenvon Kapitalexportneutralität, die bei Anwendung desWohnsitzprinzips gewährleistet ist, bleiben Entschei-dungen über den Investitionsort steuerlich unbeein-flusst. Eine Besteuerung nach dem Wohnsitzprinzip un-terwirft das gesamte Welteinkommen einer natürlichenPerson dem Steuertarif des Wohnsitzstaates. Im Aus-land erzielte Gewinne von Betriebsstätten oder Tochter-gesellschaften sind den inländischen Eignern oder Teil-habern zuzurechnen. Da der Wettbewerb unter demWohnsitzprinzip eine Angleichung der Bruttorenditenin- und ausländischer Investitionen bewirkt, sind (regio-nale) Produktionseffizienz und damit eine über alle Re-gionen aggregierte maximale Produktion gewährleistet.Kapitalimportneutralität, die mit dem Quellenprinzip

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

einhergeht, führt demgegenüber tendenziell zu einerAngleichung der Nettorenditen und sichert Konsum-effizienz, so dass die Konsum-Spar-Entscheidungen in-ternational unverzerrt bleiben. In der einschlägigenLiteratur hat sich die – gut begründete – Meinungdurchgesetzt, dass das Wohnsitzprinzip oder Kapital-exportneutralität gegenüber dem Quellenprinzip oderKapitalimportneutralität unter Effizienzgesichtspunktenvorzuziehen ist.

Verbesserung der Standortattraktivität im Steuerwettbewerb

560. Insbesondere bei allgemeiner Realisierung desQuellenprinzips kommt es zu einem intensiven internati-onalen Steuerwettbewerb um mobile Produktionsfakto-ren wie Kapital und Unternehmen. Steuerwettbewerb istvorteilhaft, sofern er den aufkommensmaximierendenLeviathan zähmt; er hat aber auch negative Seiten, weiler die nationale Steuerbasis schmälert. Jeder Staat hatnämlich Anreize, durch niedrige Steuersätze mobilesKapital oder mobile Unternehmen anzulocken. Dadurchkommt es zu einem Steuerwettlauf nach unten mit demErgebnis, dass aus der Besteuerung international mobilerFaktoren nur ein geringes Aufkommen resultiert. Willman dies verhindern, müsste eine Besteuerung nach demQuellenprinzip mit einer internationalen Vereinbarungüber Mindeststeuersätze einhergehen. Bei konsequenterAnwendung des Wohnsitzprinzips hingegen ist derDruck des Steuerwettbewerbs auf die Höhe der Steuer-sätze geringer, da ein Ausweichen der nationalen Be-steuerung nur durch Wegzug in ein Niedrigsteuerlandmöglich ist. Unabhängig davon, welches internationaleBesteuerungsprinzip letztlich gewählt wird, sollte dieTarifbelastung der dem Steuerwettbewerb in besondererWeise ausgesetzten Produktionsfaktoren mittelfristig re-duziert werden. In Verbindung mit dem Quellenprinzipund vor dem Hintergrund der im Ausland geltendenSteuersätze sollte ein Wert von 30 vH bis 35 vH nichtüberschritten werden.

Gleichmäßigkeit der Besteuerung

561. Gleichmäßigkeit der Besteuerung wird durch dasverfassungsrechtlich gebotene Leistungsfähigkeitsprin-zip operationalisiert. Horizontale Gleichmäßigkeit erfor-dert dann eine steuerliche Gleichbehandlung von Steuer-pflichtigen mit gleicher Leistungsfähigkeit. In vertikalerHinsicht sollen Personen mit größerer Leistungsfähig-keit einen größeren Teil der Steuerlast tragen. Im theore-tischen Idealfall sollte die steuerliche Leistungsfähigkeitnach dem Lebenseinkommen bemessen werden. Perso-nen oder Haushalte mit identischem Lebenseinkommenmüssten die gleiche Steuerbelastung tragen. Tatsächlichwird die Besteuerung aber regelmäßig am Jahreseinkom-men anknüpfen. Konsens besteht darüber, dass aus dervertikalen Komponente des Leistungsfähigkeitsprinzipskeine allgemeinen Schlussfolgerungen bezüglich des Ta-rifverlaufs abgeleitet werden können.

Einfachheit des Steuersystems

562. Die Komplexität des geltenden Einkommensteu-ersystems bringt eine große Belastung sowohl der Steu-erpflichtigen als auch der Finanzverwaltung mit sich.Eine grundlegende Vereinfachung des Steuerrechtskönnte den erheblichen finanziellen Aufwand reduzie-ren, der aus Sicht der Steuerzahler mit den Buchfüh-rungs-, Nachweis- und Erklärungspflichten verbundenist und auf Seiten der Finanzverwaltung mit der Kon-trolle und der Bearbeitung der Steuererklärungen. Dieallgemein erhobene Forderung nach einem einfacherenund verständlicheren Steuersystem ist nachvollziehbarund gerechtfertigt. Allerdings sind der verbreiteten For-derung nach Steuervereinfachung gewisse Grenzen ge-setzt. Als geradezu naiv muss der Wunsch gelten, dieEinkommensteuererklärung bei unveränderter Rechtssi-cherheit auf einer Postkarte oder nur einer Seite unter-bringen zu können. Tatsächlich besteht ein Konfliktzwischen Rechtssicherheit und Einfachheit und Kürzeder Steuergesetze. Rechtsicherheit erfordert nun einmalpräzise Regelungen und Abgrenzungen für alle mögli-chen Fälle, damit Investoren und Konsumenten verläss-lich planen können. Umgekehrt bringt ein kurzes undauf wenige Grundnormen reduziertes Steuergesetz ent-weder aus Ex-ante-Sicht eine Rechtsunsicherheit mitsich, weil Auslegungsprobleme erst im Zeitablauf durchdie Rechtsprechung gelöst werden. Oder aber die Ge-setze müssen durch Verwaltungsvorschriften undDurchführungsverordnungen ergänzt und präzisiertwerden, was jedoch lediglich eine Verlagerung der Re-gelungsdichte bedeutet. Eine Steuervereinfachung ist si-cherlich wünschenswert; eine immer komplizierter wer-dende Welt lässt sich aber nun einmal insbesondere imsteuerlichen Bereich nicht mit immer einfacher werden-den Gesetzen regeln.

Vereinbarkeit mit dem Europarecht

563. Die Ausgestaltung der nationalen Steuerordnungunterliegt dem Vorbehalt, dass dieses mit dem EG-Rechtvereinbar ist. Dies betrifft neben der Anwendung vonVerordnungen und der Umsetzung von Richtlinien vorallem die Verpflichtungen, die sich für die Mitgliedstaa-ten aus den im EG-Vertrag garantierten Grundfreiheitenergeben. Deren Einhaltung wird durch den EuropäischenGerichtshof mit zunehmender Intensität geprüft.

Im Bereich der hier zur Diskussion stehenden direktenSteuern sind in erster Linie die Niederlassungsfreiheitnach Artikel 43 EG-Vertrag und die Kapitalverkehrsfrei-heit nach Artikel 56 EG-Vertrag zu beachten. Die Nie-derlassungsfreiheit untersagt Behinderungen bei derAufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit sowiebei der Gründung und Leitung von Unternehmen in an-deren Mitgliedstaaten. Die Kapitalverkehrsfreiheitschützt den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaa-ten sowie zwischen diesen und Drittländern vor Be-schränkungen. Verstöße gegen die Grundfreiheitenwerden regelmäßig dann angenommen, wenn eine natio-nale Vorschrift in ungerechtfertigter Weise Ausländer

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Die Politikbereiche im Einzelnen

gegenüber Inländern diskriminiert oder grenzüberschrei-tende Tätigkeiten im europäischen Ausland gegenüberrein nationalen Tätigkeiten behindert. Der Schutz desnationalen Steueraufkommens oder allgemeine, nichtauf den Einzelfall bezogene Missbrauchstatbestände tau-gen regelmäßig nicht als Rechtfertigungsgrund für mög-liche Beschränkungen der Grundfreiheiten.

Synthetische Einkommensteuer in reiner Form nicht realisierbar

564. Eine synthetische Einkommensteuer mit mög-lichst lückenloser Besteuerung des Welteinkommens aufGrundlage des Wohnsitzprinzips käme den genanntenZielsetzungen insgesamt wohl am nächsten. Allerdingsstößt die Realisierung eines solchen Besteuerungssys-tems auf so große praktische Probleme, dass diese Alter-native vor allem wegen der nachfolgenden Schwierig-keiten hier nicht weiter verfolgt wird.

Deutschland hat gegenwärtig etwa 80 Doppelbesteue-rungsabkommen (DBA) abgeschlossen, die regelmäßigeine Freistellung der Gewinne von der Einkommen- undKörperschaftsteuer vorsehen, die in ausländischen Be-triebsstätten beziehungsweise den Betriebsstätten insteuerlicher Hinsicht gleich gestellten Personengesell-schaften erzielt werden. Die Freistellung umfasst auchGewinne aus der Veräußerung von Betriebsstättenver-mögen sowie von Anteilen an Personengesellschaften,die ausschließlich im ausländischen Betriebsstättenstaatbesteuert werden können. Gewinne ausländischer Kapi-talgesellschaften werden aufgrund des weltweit akzep-tierten Trennungsprinzips nicht in die inländische Be-messungsgrundlage einbezogen, so lange sie thesauriertwerden. Kommt es zur Ausschüttung und ist Empfän-ger der Dividende eine inländische Kapitalgesellschaft,gilt nach nationalem Recht (§ 8b Absatz 1 KStG) sowieim DBA-Fall ebenfalls die Freistellungsmethode. Beiinländischen natürlichen Personen beziehungsweise Per-sonenunternehmen sind die Dividenden nach Maßgabedes Halbeinkünfteverfahrens zur Hälfte von der Ein-kommensteuer befreit (§ 3 Nr. 40 EStG). Diese Rege-lungen im Bereich der Einkommen- und Körperschaft-steuer gelten auch für Gewinne aus der Veräußerungvon Anteilen an ausländischen Kapitalgesellschaften(§§ 17, 23 EStG, § 8b Absatz 2 KStG). Auch nicht un-ternehmerische Einkünfte, wie beispielsweise Ein-künfte aus nichtselbständiger Arbeit oder Einkünfte ausVermietung und Verpachtung, sind im DBA-Fall steuer-frei, sofern der Grundbesitz im Ausland gelegen oderein ausländischer Arbeitsort vorhanden ist. Faktisch istsomit das der synthetischen Einkommensteuer innewoh-nende Welteinkommensprinzip gegenwärtig nicht ver-wirklicht, da Deutschland auf seinen im nationalenRecht (§ 1 EStG, § 1 KStG) verankerten Anspruch zurBesteuerung zahlreicher ausländischer Einkünfte in denDoppelbesteuerungsabkommen regelmäßig verzichtet.Eine umfassende Realisierung des Wohnsitzprinzips er-fordert dann einen Übergang vom Freistellungs- zumAnrechnungsverfahren, mit vollständiger Erstattung von

Anrechnungsüberhängen. Dazu müssten entweder sämt-liche Doppelbesteuerungsabkommen neu verhandeltoder ein Vorschaltgesetz erlassen werden, das die fragli-chen Bestimmungen der Doppelbesteuerungsabkom-men außer Kraft setzt – beides keine sonderlich realisti-sche Option.

Auch müsste letztlich zum körperschaftsteuerlichen An-rechnungsverfahren zurückgekehrt werden, aus EG-rechtlichen Gründen verbunden mit einer Verpflichtungzur Vollanrechnung ausländischer Körperschaftsteuern.Dies wird nicht einmal von den hartnäckigsten Gegnernder Unternehmensteuerreform gefordert. Tatsächlichdürften die Tage des Anrechnungsverfahrens gezähltsein. Auch in Frankreich und Italien werden die Ab-schaffung dieses Systems und der Übergang zu Share-holder-Relief-Systemen erwogen. Außerdem müsste einverschärfter Durchgriff auf im Ausland thesaurierte Ge-winne von Kapitalgesellschaften im Rahmen der Hinzu-rechnungsbesteuerung im Rahmen der jetzigen §§ 7 ff.Außensteuergesetz erfolgen. Abgesehen von den prakti-schen Schwierigkeiten könnte dies auch mit dem EU-Recht kollidieren, da es an vergleichbaren Regelungenim Inland fehlt.

Nimmt man diese und weitere, hier nicht erläuterteSchwierigkeiten zusammen, scheidet die Idee einerkonsequent synthetischen Einkommensteuer auf Basisdes Wohnsitzprinzips aufgrund schwer überwindbarerpraktischer Probleme als anzustrebende Reformoptionaus.

Erwägenswerte Reformoptionen

565. Gegenwärtig besteht kein Mangel an Vorschlägenfür eine Reform der Einkommens- und Unternehmens-besteuerung. Einige dieser Vorschläge beschränken sichim Wesentlichen auf eine Korrektur des Tarifverlaufs.Statt des linear-progressiven Tarifverlaufs wird etwa einStufentarif mit den Sätzen 15 vH, 25 vH und 35 vHempfohlen. Die Steuertheorie erlaubt nur sehr einge-schränkte Aussagen über den „richtigen“ Tarifverlauf.Dies zeigt sich auch darin, dass sich der Wissenschaftli-che Beirat beim Bundesministerium der Finanzen für dieBeibehaltung eines linear-progressiven Tarifs ausgespro-chen hat, während der Wissenschaftliche Beirat beimfrüheren Bundesministerium für Wirtschaft und Techno-logie den Übergang zu einem Stufentarif empfohlen hat.Tatsächlich ist die Diskussion über den Tarifverlauf derEinkommensteuer eher kontraproduktiv, weil sie vonden eigentlichen Problemen der Einkommens- und Un-ternehmensbesteuerung ablenkt. Diese liegen nicht imTarifverlauf, sondern in der Tarifhöhe und vor allem derBestimmung der Bemessungsgrundlage. Klar ist aller-dings, dass proportionale oder lineare Tarife unter Effizi-enzgesichtspunkten große Vorteile gegenüber direkt pro-gressiven Tarifen aufweisen. Sie würden zugleich aucheinen durchgreifenden Beitrag zur Steuervereinfachungleisten. Das Umverteilungsziel bliebe dann aber weitge-hend auf der Strecke.

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

Aus der Palette möglicher Steuerreformpakete werdenim Folgenden zwei Optionen als besonders aussichtsrei-che Kandidaten für die Weiterentwicklung der direktenBesteuerung behandelt:

Steuerreformoption I: Integration von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer

566. Die Steuerpolitik kann versuchen, möglichst naham Ideal einer synthetischen Einkommensteuer zu blei-ben und durch eine Fortentwicklung des geltenden Steu-ersystems die gröbsten Verwerfungen an der Schnitt-stelle von Einkommen- und Körperschaftsteuer zubeseitigen oder zumindest abzumildern. Dazu könntender Körperschaftsteuersatz an den Spitzensteuersatz derEinkommensteuer gekoppelt und Dividenden sowie Ge-winne aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalge-sellschaften steuerlich freigestellt werden. Solange aneinem progressiven Einkommensteuertarif festgehaltenwird, lassen sich Finanzierungs- und Rechtsformneutra-lität allerdings nicht erreichen. Ein weiterer Gesichts-punkt kommt hinzu: Um den Körperschaftsteuersatz unddamit den Spitzensatz der Einkommensteuer auf ein in-ternational wettbewerbsfähiges Niveau zu senken– möglichst nicht über 30 vH, aber maximal 35 vH –,müsste die einkommensteuerliche Bemessungsgrund-lage konsequent verbreitert werden. Wenn dies gelingensollte, wäre die Realisierung dieses Vorschlags eine ver-nünftige Reformoption. In jedem Fall würde gegenüberdem geltenden Steuersystem eine erhebliche Verbesse-rung erreicht.

Steuerreformoption II: Duale Einkommensteuer

567. Alternativ kann sich die Steuerpolitik vom Idealeiner synthetischen Einkommensbesteuerung verab-schieden und Arbeitseinkommen und Kapitaleinkom-men getrennt besteuern. Dies ist insbesondere dann zuempfehlen, wenn die Politik nicht die Kraft zu einer sodrastischen Erweiterung der einkommensteuerlichenBemessungsgrundlage aufbringt, wie es die Steuerreform-option I erfordert. Bei der dualen Einkommensteuerwerden sämtliche Kapitaleinkommen (Unternehmens-gewinne, Dividenden, Zinsen, Einkünfte aus Vermie-tung und Verpachtung sowie private Veräußerungsge-winne) zu einer Einkunftsart, den Kapitaleinkünften,zusammengefasst und einem proportionalen Tarif unter-worfen. Arbeitseinkünfte können demgegenüber einemdirekt progressiven Tarif unterliegen. Dieses Konzepteiner dualen Einkommensteuer löst zentrale Problemeder Unternehmensbesteuerung, wirft allerdings auch be-achtliche Abgrenzungsprobleme auf.

568. Kurz zusammengefasst besteht ein Vorteil derersten Steuerreformoption darin, dass sie näher am gel-tenden Steuersystem bleibt und mit einem am Jahres-einkommen orientierten Leistungsfähigkeitsprinzip kor-respondiert. Essentiell ist die Koppelung vonKörperschaftsteuersatz und Spitzensatz der Einkom-mensteuer. Die Attraktivität dieser Option steht undfällt deshalb mit der Frage, ob es gelingt, diesen Satzerheblich, auf ein international wettbewerbsfähiges

Niveau abzusenken. Ein niedriger Spitzensteuersatz derEinkommensteuer schränkt dann natürlich die Umver-teilungsintensität des Steuersystems ein. Auch im Un-ternehmensbereich werden durch die Beibehaltung desprogressiven Steuertarifs bestimmte Probleme verur-sacht.

Die duale Einkommensteuer eröffnet durch die Abkop-pelung der Kapitaleinkommen von den Arbeitseinkom-men eine größere tarifliche Flexibilität. Die (proportio-nale) Besteuerung des international besonders mobilenFaktors Kapital kann verstärkt am Effizienzziel ausge-richtet werden, während die progressive Besteuerung derArbeitseinkommen auf das Umverteilungsziel gerichtetist. Die proportionale Besteuerung der Kapitaleinkom-men sichert darüber hinaus weit gehende Finanzierungs-und Rechtsformneutralität. Probleme bestehen in derAbgrenzung von Arbeits- und Kapitaleinkommen beiPersonenunternehmen und Selbständigen; auch könntendie unterschiedlichen Tarife für die beiden Einkunftsar-ten mit einem eng interpretierten Leistungsfähigkeits-prinzip kollidieren. Verfassungsrechtliche Bestimmun-gen stehen einer dualen Einkommensteuer aber nicht imWege.

Natürlich gibt es weitere Optionen für die Steuerpolitik,etwa den Übergang zu einer Konsumbesteuerung in denVarianten einer Cash-flow-Besteuerung oder einer Zins-bereinigung der Einkommens- und Gewinnbesteuerung.Trotz gewisser attraktiver Eigenschaften hält der Sach-verständigenrat diese Variante in absehbarer Zeit fürnicht realisierbar. Deshalb wird dieser Vorschlag nichtnäher behandelt. Eine zinsbereinigte Einkommen- undGewinnsteuer könnte sich allerdings aus einer dualenEinkommensteuer heraus entwickeln.

569. Die Gewerbesteuer steht in ihrer jetzigen Formund auch in der Variante einer Gemeindewirtschafts-steuer nicht nur einer Integration von Körperschaftsteuerund Einkommensteuer im Wege, sie führt auch zu einerDiskriminierung inländischer Investitionen gegenüberalternativen Anlagen am Kapitalmarkt, sie belastetKapitalgesellschaften und Personenunternehmen in un-terschiedlichem Maße, sie verzerrt die Finanzierungsent-scheidung, kurz: sie vereint alle schlechten Eigenschaf-ten, die Steuern überhaupt aufweisen können. In einemökonomisch vernünftigen Steuersystem ist für eine Ge-werbesteuer kein Platz (Ziffer 529 und JG 2001 Zif-fern 374 ff.).

Demgegenüber würde eine kommunale Einkommen-und Gewinnsteuer, wie sie vom BDI/VCI vorgeschlagenund auch vom Sachverständigenrat zur Diskussion ge-stellt wurde mit beiden Reformoptionen vereinbar sein.Beim Übergang zu einer dualen Einkommensbesteue-rung könnten auf Arbeitseinkommen und Kapitalein-kommen problemlos unterschiedliche kommunale Zu-schlagssätze angewendet werden. Im Folgenden wird dieGewerbesteuer vernachlässigt; sofern konkrete Körper-schaftsteuersätze angesprochen werden, ist ein durch-schnittlicher Kommunalzuschlag enthalten.

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Die Politikbereiche im Einzelnen

Steuerreformoption I: Integration von Körperschaft-steuer und Einkommensteuer

570. Die im Folgenden behandelte erste Steuerreform-option integriert die Körperschaftsteuer in die Einkom-mensteuer und versucht, so nah wie möglich am Leitbildeiner synthetischen Einkommensbesteuerung zu bleiben.Personengesellschaften sollen wie bisher der progressi-ven Einkommensbesteuerung unterliegen, das Mitunter-nehmerkonzept im Sinne des § 15 Absatz 1 Nr. 2 EStGwird beibehalten.

Gegenwärtig resultieren Unterschiede in den Steuerbe-lastungen von Kapitalgesellschaften und Personenunter-nehmen daraus, dass Gewinne von Personenunterneh-men der Einkommensteuer nach den persönlichenVerhältnissen der Gesellschafter unterliegen, währendein identischer, in einer Kapitalgesellschaft erzielter undden Kapitalgebern zufließender Gewinn im Ergebnisdoppelt belastet wird. Einbehaltene Gewinne unterliegenauf Kapitalgesellschaftsebene zunächst der Körper-schaftsteuer (und der gegenwärtigen Gewerbesteuer).Sofern die steuerliche Belastung auf Unternehmense-bene niedriger als der entsprechende Einkommensteuer-satz ist, wird die Selbstfinanzierung in Kapitalgesell-schaften im Vergleich zu Personenunternehmenbegünstigt. Dies gilt in jedem Fall bei Zugrundelegungdes aktuellen Spitzensatzes der Einkommensteuer. ImHalbeinkünfteverfahren sind Ausschüttungen durch Ka-pitalgesellschaften dann zusätzlich noch in die einkom-mensteuerliche Bemessungsgrundlage einzubeziehen. InAbhängigkeit vom persönlichen Steuersatz des Kapital-gebers kann es bei Kapitalgesellschaften dann entwederzu einer Begünstigung oder Benachteiligung der Beteili-gungsfinanzierung gegenüber der Fremdfinanzierungkommen. Neben den Finanzierungswirkungen sind auchdie rechtsformabhängigen Belastungsdifferenzen unbe-stimmt. Als Regelfall ist hierbei allerdings davon auszu-

gehen, dass in Kapitalgesellschaften durchgeführte In-vestitionen steuerlich höher belastet sind als solche inPersonenunternehmen.

Die Integration von Einkommens- und Unternehmensbe-steuerung zielt auf eine weitgehende Finanzierungs- undRechtsformneutralität. Standortattraktivität wird überdie Wahl einer hinreichend niedrigen Unternehmens-steuerbelastung erreicht. Die erste Steuerreformoptionerfordert Maßnahmen in den folgenden vier Bereichen:

– der Wahl von Steuersätzen und der Besteuerung vonDividenden,

– der steuerlichen Behandlung von Veräußerungsge-winnen,

– der steuerlichen Gewinnermittlung,

– der Besteuerung grenzüberschreitender Investitionen.

Steuersätze und Dividendenbesteuerung

571. Ausgehend vom gegenwärtigen System der Un-ternehmensbesteuerung kommen die folgenden Maßnah-men für eine Verbesserung der Finanzierungs- undRechtsformneutralität in Betracht.

Vorteile von Kapitalgesellschaften gegenüber Personen-gesellschaften im Hinblick auf die Selbstfinanzierunglassen sich nur durch eine Angleichung des Spitzensteu-ersatzes der Einkommensteuer an den Körperschaftsteu-ersatz vermeiden (unter der Annahme, dass die derzei-tige Gewerbesteuer durch einen kommunalen Zuschlagauf die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer er-setzt wird). Wird die Besteuerung der hälftigen Aus-schüttungen im Rahmen des Halbeinkünfteverfahrensbeibehalten, käme es dann aber zu einer Benachteiligungvon Kapitalgesellschaften. Auch bliebe es bei der Ver-zerrung zwischen Beteiligungsfinanzierung und Selbst-finanzierung. Beide Diskriminierungen lassen sich durchden Übergang zum Dividendenfreistellungsverfahrenbeseitigen. Dabei werden Gewinne von Kapitalgesell-schaften abschließend auf Unternehmensebene besteu-ert, also bei Ausschüttung nicht weiter belastet. Der Kör-perschaftsteuersatz bestimmt neben der Belastungthesaurierter Gewinne auch diejenige der Ausschüttun-gen.

Ein Dividendenfreistellungsverfahren wird in Griechen-land seit 1992 praktiziert; in den Vereinigten Staatenwurde die Steuerbefreiung für Ausschüttungen in Erwä-gung gezogen, aber dann doch nicht vollständig umge-setzt (Ziffer 79). Die amerikanischen Erfahrungenzeigen, dass das Dividendenfreistellungsverfahren derÖffentlichkeit schwer zu vermitteln sein dürfte. Der öko-nomische Laie könnte es als ungerecht empfinden, dassArbeitseinkünfte besteuert werden, Dividenden abernicht. Eine solche Argumentation vernachlässigt, dassAusschüttungen mit Körperschaftsteuer vorbelastet sindund die steuerliche Belastung von Arbeitseinkünften beidieser Steuerreformoption keinesfalls höher als die vonDividenden ist. Im Übrigen könnte die Integration derKörperschaftsteuer in die persönliche Einkommensteuer

Übersicht 1

Elemente der Steuerreformoption I

– Angleichung des Spitzensatzes der Einkommen-steuer an die Tarifbelastung auf Körperschaftse-bene

– Steuerfreistellung von Inlandsdividenden und Ge-winnen aus der Veräußerung von Anteilen an inlän-dischen Kapitalgesellschaften; Besteuerung pri-vater Veräußerungsgewinne im Rahmen derEinkommensteuer

– Steuerbefreiung für an inländische natürliche Per-sonen und Personenunternehmen fließende Ge-winne ausländischer Kapitalgesellschaften

– Senkung der Tarifbelastung auf Körperschaftse-bene und des Spitzensatzes der Einkommensteuerauf ein international wettbewerbsfähiges Niveau(30 vH bis maximal 35 vH)

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

auch über ein Vollanrechnungsverfahren statt über dasDividendenfreistellungsverfahren erfolgen. Für einendem Spitzensteuersatz unterliegenden Anteilseignerwürde sich exakt das gleiche Ergebnis einstellen. Die ef-fektive steuerliche Freistellung von Dividenden würdeso überdeckt und von der uninformierten Öffentlichkeitvermutlich gar nicht wahrgenommen. Gegen das Vollan-rechnungsverfahren sprechen aber all die Gründe, die zuseiner Abschaffung in Deutschland geführt haben(JG 2001 Ziffern 550 ff.).

572. Auch bei der Angleichung der (Spitzen-) Steuer-sätze und beim Übergang zum Dividendenfreistellungs-verfahren lassen sich die Nachteile von Kapitalge-sellschaften gegenüber Personenunternehmen sowieVerzerrungen bei den Finanzierungsentscheidungennicht ganz beseitigen. Bei einem direkt progressivenSteuertarif werden unter dem Spitzensatz liegendeGrenz- und Durchschnittssteuersätze der Einkommen-steuer den Körperschaftsteuersatz nämlich unterschrei-ten. In diesen Fällen sind dann Kapitalgesellschaften imHinblick auf die Selbstfinanzierungsmöglichkeiten ge-genüber Personengesellschaften diskriminiert. Auchwürde die Beteiligungsfinanzierung gegenüber derFremdfinanzierung benachteiligt, wenn der Kapitalgebereinem niedrigeren als dem Spitzensteuersatz unterliegt.Schließlich erwachsen Kapitalgesellschaften im Verlust-fall weitere Nachteile, da Verluste wegen des Tren-nungsprinzips zwischen Unternehmensebene und An-teilseignern im Unternehmen verbleiben und erst mitGewinnen zukünftiger Perioden verrechnet werden kön-nen. Bei Personengesellschaften werden Verluste dage-gen den Mitunternehmern unmittelbar zugerechnet undkönnen sofort mit positiven Einkünften aus anderen Ein-kunftsarten saldiert werden. Um eine vollständige Finan-zierungs- und Rechtsformneutralität zu erreichen,müsste die steuerliche Freistellung von Dividenden nochmit einer Zurechnung von Gewinnen und Verlusten einerKapitalgesellschaft auf die Anteilseigner zur Besteue-rung nach deren persönlichen Verhältnissen verbundenwerden. Konzeptionell entspricht dies einer Teilhaber-steuer. Allerdings besteht weitgehende Einigkeit, dassdie persönliche Zurechnung von Gewinnen und Verlus-ten der Kapitalgesellschaften auf ihre Anteilseigner ins-besondere bei Publikumsgesellschaften nicht praktikabelist und in jedem Fall die Kompliziertheit des Steuersys-tems erhöhen würde. Bleibt es aber beim Nebeneinandervon Mitunternehmerkonzept bei der Besteuerung vonPersonengesellschaften und Trennungsprinzip bei Kapi-talgesellschaften, lassen sich Verzerrungen bei derRechtsformwahl und der Finanzierungsentscheidung beidieser Steuerreformoption nicht vollständig vermeiden.

Besteuerung von Veräußerungsgewinnen

573. Die Einführung des Dividendenfreistellungsver-fahrens muss konsequenterweise mit einer vollständigenSteuerbefreiung von Gewinnen aus der Veräußerung vonAnteilen an Kapitalgesellschaften verbunden sein, undzwar unabhängig davon, ob es sich bei dem Veräußererum eine natürliche Person oder eine Kapitalgesellschaft

handelt. Eine Besteuerung der Veräußerungsgewinne ausdem Verkauf von Kapitalgesellschaftsanteilen würde oh-nehin ins Leere laufen. Die dadurch drohende Doppelbe-steuerung der mit im Kaufpreis vergüteten offenenRücklagen (Gewinnrücklagen), die bereits mit Körper-schaftsteuer belastet sind, ließe sich nämlich durch(steuerfreie) Ausschüttung dieser Rücklagen vor demVerkauf vermeiden. Analoges gilt, sofern im Kaufpreisauch anteilige stille Reserven abgegolten werden. Dieseunterliegen zwar erst zum späteren Zeitpunkt ihrer Auf-lösung der Körperschaftsteuer; insofern kommt es aufUnternehmensebene zu einem Steuervorteil durch Zins-ersparnisse; eine zusätzliche Veräußerungsgewinn-besteuerung würde die stillen Reserven jedoch doppeltbelasten und könnte ebenfalls durch rechtzeitige Auflö-sung vermieden werden.

Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an Per-sonenunternehmen oder von im Privatvermögen gehal-tenen (vermieteten) Grundstücken sind voll in dieEinkommensbesteuerung einzubeziehen. Wegen der un-terschiedlichen Behandlung der Gewinne aus der Veräu-ßerung von Anteilen an Personenunternehmen einer-seits, Kapitalgesellschaften andererseits kommt es dannallerdings zu Verzerrungen bei der Rechtsformwahl.Diese existieren schon im geltenden Steuerrecht, sie las-sen sich vollständig auch nicht bei der hier beschriebe-nen Steuerreformoption einer Integration von Körper-schaftsteuer und Einkommensteuer vermeiden.

574. Die Veräußerung eines Anteils an einem Perso-nenunternehmen (Einzelunternehmen) vollzieht sich aussteuerlicher Sicht als Verkauf einzelner Wirtschaftsgüter.Der Veräußerer erzielt einen steuerpflichtigen Veräuße-rungsgewinn in Höhe der Differenz zwischen dem Ver-äußerungspreis und den fortgeführten Anschaffungskos-ten der Wirtschaftsgüter beziehungsweise dem Buchwertder Beteiligung. Da der Buchwert die anteiligen offenenRücklagen einschließt, besteht der Veräußerungsgewinnausschließlich aus den im Veräußerungspreis mit vergü-teten stillen Reserven. Ein Veräußerungsverlust ist mitanderen positiven Einkünften des Veräußerers aus-gleichsfähig. Die Besteuerung des Erwerbers erfolgtkorrespondierend, indem dieser die in den anteiligenWirtschaftsgütern mit erworbenen stillen Reserven akti-viert und in Form zusätzlicher Abschreibungen steuer-mindernd geltend machen kann. Unterliegen Veräußererund Erwerber identischen Steuersätzen, dann stimmendie Steuerzahlungen auf den Veräußerungsgewinn mitden Steuerersparnissen in Folge der zusätzlichen Ab-schreibungen überein. Da die Abschreibungen jedocherst im Anschluss an die Veräußerung über mehrereJahre geltend gemacht werden können, entstehen steuer-bedingte Zins- und Liquiditätseffekte, welche die Neu-tralität des Veräußerungsvorgangs beeinträchtigen. Fal-len die für Veräußerer und Erwerber relevantenSteuersätze wegen des progressiven Steuersystems aus-einander, unterscheiden sich die Preisvorstellungen vonVeräußerer und Erwerber, und es kann zu über die Zins-und Liquiditätseffekte hinausgehenden steuerlichen Be-einträchtigungen von Anteilsveräußerungen an einemPersonenunternehmen kommen.

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Die Politikbereiche im Einzelnen

Angenommen die beiden Gesellschafter X und Y sind jezur Hälfte an einer OHG beteiligt. Der Buchwert derbilanzierten Wirtschaftsgüter betrage 100 Euro, ihrMarktwert 200 Euro. Gesellschafter X verkauft seinenGeschäftsanteil zum Preis von 100 Euro an Z. X mussden Veräußerungsgewinn von 50 Euro mit seinem per-sönlichen Einkommensteuersatz versteuern. Der Erwer-ber Z aktiviert die im Veräußerungspreis enthaltenen an-teiligen stillen Reserven in Höhe von 50 Euro in einerErgänzungsbilanz. Veräußert Z seinen Anteil gleich da-nach zum unveränderten Marktwert von 100 Euro wei-ter, kann er die aktivierten anteiligen stillen Reservensteuermindernd verrechnen. Eine weitere Veräußerungs-gewinnbesteuerung wird so vermieden. Andernfallsmüsste Z bei Weiterverkauf seines Anteils zu un-verändertem Marktwert einen Veräußerungsgewinn von50 Euro versteuern, obwohl dieser tatsächlich bei ihmnicht angefallen ist.

575. Im Vergleich zur Veräußerung von Anteilen anPersonenunternehmen hat die als Konsequenz des Divi-dendenfreistellungsverfahrens vorzunehmende Steuer-befreiung von Veräußerungsgewinnen bei Kapitalgesell-schaftsanteilen Vor- und Nachteile. Vorteilhaft ist, dassmitveräußerte stille Reserven erst zu einem späterenZeitpunkt bei Auflösung auf Ebene der Kapitalgesell-schaft zu versteuern sind. Nachteilig ist, dass in Folgeder systematisch gebotenen Steuerbefreiung von Ver-äußerungsgewinnen Verluste aus Anteilsveräußerungennicht steuermindernd geltend gemacht werden können.Diese Konsequenzen ließen sich zwar weitgehend durcheine generelle Ausweitung der Bilanzierungspflicht aufsämtliche Kapitalgeber vermeiden; derartige Regelun-gen sind aber sehr kompliziert und stoßen auf erheblichepraktische Probleme.

Auch im Hinblick auf die Besteuerung von Gewinnenaus der Veräußerung von Unternehmensanteilen werdensich also Verletzungen der Rechtsformneutralität einstel-len. Diese Verzerrungen sind allerdings unabhängig vomgewählten Körperschaftsteuersystem; sie treten auch beider Steuerreformoption II auf.

576. Eine weitgehende Gleichstellung der steuerlichenBehandlung von Veräußerungserfolgen bei Personenun-ternehmen und Kapitalgesellschaften ließe sich durcheine Einbeziehung der Kapitalgesellschaftsanteile in ei-nen Vermögensvergleich vermeiden. Nach den allgemei-nen Bilanzierungsregeln wirkt sich beim Veräußerer einüber dem Buchwert liegender Veräußerungserlös steuer-erhöhend aus, ein unter dem Buchwert liegender Veräu-ßerungserlös führt zu einem steuerlich relevanten Ver-lust, der mit anderen positiven Einkünften verrechenbarist. Die steuerliche Gleichstellung der Veräußerung vonKapitalgesellschaftsanteilen mit der eines Anteils an ei-ner Personengesellschaft erfordert, die mitvergütetenGewinnrücklagen steuerfrei zu stellen und den Veräuße-rungsgewinn auf die anteiligen stillen Reserven zu be-schränken. Dazu ist eine Fortschreibung des Buchwertsder Anteile auf Ebene des Kapitalgebers erforderlich,die vorsieht, dass die ursprünglichen Anschaffungskos-ten um die während der Besitzzeit gebildeten, auf Ebeneder Kapitalgesellschaft versteuerten Gewinnrücklagen

erhöht werden. Zwischenzeitliche Ausschüttungenvermindern den Buchwert. Ein solches Modell ist bei-spielsweise in Norwegen umgesetzt. Aus der Sicht desErwerbers bildet der Kaufpreis die (neuen) Anschaf-fungskosten der Beteiligung, welche durch die anteiligmit erworbenen stillen Reserven erhöht sind. Werden diestillen Reserven auf Ebene der Kapitalgesellschaft reali-siert, kommt es zu einer erneuten Besteuerung. EineDoppelbesteuerung unterbleibt jedoch, da die stillen Re-serven nach ihrer Auflösung und Versteuerung den Ge-winnrücklagen zugeführt werden und somit den Beteili-gungsbuchwert ein zweites Mal erhöhen. Im Fall derWeiterveräußerung der Anteile führt dies zu einem po-tentiellen Veräußerungsverlust, der insoweit die Einmal-belastung der stillen Reserven sicherstellt. Werden dieErtragserwartungen nicht erfüllt und verflüchtigen sichdie stillen Reserven, berechtigt dies zur Vornahme einer(Teilwert-) Abschreibung auf den Beteiligungsbuchwert.Für steuerliche Zwecke ist der Beteiligungsbuchwertferner um Einlagen zu modifizieren: Einlagen in eineKapitalgesellschaft erhöhen den Beteiligungswert, zu-rückgewährte Einlagen mindern ihn entsprechend. ZurBuchwertfortschreibung werden also Aufzeichnungenund Informationen über die Wertentwicklung der Beteili-gung benötigt, die allenfalls Kapitalgebern personenbe-zogener Kapitalgesellschaften zur Verfügung stehen.Eine Ausweitung einer entsprechenden Bilanzierungs-pflicht auf sämtliche Kapitalgeber, die letztlich wie-derum Züge einer Teilhabersteuer aufweist, erscheintnicht praktikabel. Unüberbrückbare Informationspro-bleme dürften sich schließlich bei Beteiligungen an aus-ländischen Kapitalgesellschaften ergeben, weshalb auchdas erwähnte norwegische Modell auf inländische Sach-verhalte begrenzt ist.

Steuerliche Gewinnermittlung

577. Von der steuerlichen Gewinnermittlung gehenvordergründig keine im Hinblick auf die Unternehmens-rechtsform relevanten Unterschiede aus. Die Gewinnevon Kapitalgesellschaften und Personenunternehmenwerden durch einen Betriebsvermögensvergleich ermit-telt, der insoweit gleichen Regeln folgt. Unterschiedebestehen jedoch bei der Behandlung von Leistungsver-gütungen an die Gesellschafter und im Hinblick auf dasin die Gewinnermittlung einbezogene Vermögen. Beideshat seine Ursache im Einkünftedualismus.

Bei den Leistungsvergütungen führt die Behandlung vonPensionszusagen für die Gesellschafter zu bedeutsamenrechtsformabhängigen Unterschieden. Bei Kapitalgesell-schaften werden Zusagen in der derzeit dominierendenForm der Pensionsrückstellungen gewinnmindernd be-rücksichtigt; hingegen kommt es beim begünstigten Ge-sellschafter erst beim späteren Zufluss der Versorgungs-bezüge zu steuerpflichtigen Einkünften. Ursache für dendadurch erzielten Steuervorteil ist der Dualismus vonGewinneinkünften und Überschusseinkünften. Demge-genüber ist bei Personengesellschaften korrespondierendmit dem Ansatz eines Passivpostens in der Steuerbilanzbeim begünstigten Gesellschafter (in dessen Sonderbi-lanz) ein entsprechender Aktivposten anzusetzen, der dieRückstellung im Ergebnis neutralisiert; Gewinnminde-

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

rung und Gewinnerhöhung fallen in derselben Periodean, ein Vorteil durch Steueraufschub tritt nicht ein.

Das in die Gewinnermittlung einbezogene Vermögen un-terscheidet sich, falls dem Unternehmen von den Gesell-schaftern Wirtschaftsgüter gegen Entgelt überlassenwerden. Bei Gesellschaftern einer Kapitalgesellschaftwerden die Entgelte für diese Wirtschaftsgüter der je-weils zugrunde liegenden Einkunftsart zugeordnet, bei-spielsweise bei der Überlassung von Grundstücken denEinkünften aus Vermietung und Verpachtung, die zu denÜberschusseinkünften gehören. Bei Gesellschaftern ei-ner Personengesellschaft werden der Gesellschaft über-lassene Wirtschaftsgüter dagegen grundsätzlich dem(Sonder-) Betriebsvermögen und somit einer Gewinn-einkunftsart zugeordnet. Die unterschiedliche Zuord-nung des Vermögens entweder zu den Überschuss- oderden Gewinneinkünften hat unter anderem Konsequenzenfür die Veräußerungsgewinnbesteuerung.

578. Die beschriebenen Unterschiede hinsichtlich derzeitlichen Erfassung der Einnahmen und Ausgaben, derBewertung des überlassenen Vermögens sowie des Um-fangs der steuerbaren Einkünfte sind allesamt Folgendes Dualismus der Einkünfteermittlung bei Gewinnein-künften einerseits, Überschusseinkünften andererseits.Eine Beseitigung daraus resultierender Verzerrungen istökonomisch geboten. Am sinnvollsten wäre es, wenneine einheitliche Methode der Einkünfteermittlung zu-grunde gelegt würde, entweder ein Vermögensvergleichoder eine Einnahmeüberschussrechnung. Aus Gründender Praktikabilität scheidet ein Vermögensvergleich füralle Einkunftsarten und alle Steuerpflichtigen aus. Dem-gegenüber wäre der generelle Übergang zu einer Einnah-meüberschussrechnung grundsätzlich möglich, die demVorbild des § 4 Absatz 3 EStG folgen könnte. Wenn manso weit bei der Unternehmensbesteuerung nicht gehenwill, könnte ein tragfähiger Kompromiss darin liegen,bei der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensver-gleich die Periodisierungen einzuschränken und stattdes-sen eine stärkere Ausrichtung an Zahlungen vorzusehen,um somit eine Annäherung an die Einnahmeüberschuss-rechnung zu erreichen. Die stärkere Zahlungsorientie-rung trägt neben der Einfachheit und Praktikabilitätgleichzeitig auch der Objektivierung und Willkürfreiheitbei der Einkommensermittlung Rechnung. Gleichzeitigist die grundsätzliche Steuerfreiheit privater Veräuße-rungsgewinne im Rahmen der Überschusseinkunftsartenaufzugeben.

Eine Annäherung der Gewinnermittlung durch Betriebs-vermögensvergleich an die Einnahmeüberschussrech-nung könnte auf folgenden Leitgedanken basieren. Ob-jektivierung und Willkürfreiheit erfordern zunächst denErsatz von Wahlrechten und Ermessensspielräumendurch verbindliche Vorgaben für den Bilanzansatz unddie Bewertung. Als zentraler Periodisierungsgrundsatz,der den Zeitpunkt des Gewinnausweises bestimmt sowieRegeln für den Ansatz und die Bewertung von Wirt-schaftsgütern vorgibt, kann am Realisationsprinzipfestgehalten werden. Aus Gründen der bezwecktenGleichbehandlung der Einkunftsarten ist der Realisati-

onszeitpunkt jedoch stärker am Zahlungszeitpunkt aus-zurichten. Für den Ansatz von Wirtschaftsgütern bedingteine stärkere Orientierung an Zahlungen, dass in dieVermögensrechnung nur entgeltlich erworbene Wirt-schaftsgüter und Verbindlichkeiten aufgenommen wer-den. Auf den gewinnwirksamen Ansatz von Forderungenund die Passivierung von Rückstellungen müsste dage-gen genau so verzichtet werden wie auf die Bildung vonRechnungsabgrenzungsposten. Auch für die Bewertungergeben sich in einer stärker zahlungsorientierten Rech-nung Konsequenzen. Zentrale Bewertungsmaßstäbe sinddie Anschaffungskosten und die Herstellungskosten. Ak-tivierte Wirtschaftsgüter sind nach normierten Verfahrenüber vorzugebende Nutzungsdauern abzuschreiben, wo-bei Objektivierungsgesichtspunkte für die lineare Ab-schreibung sprechen. Im Vorratsvermögen sind Bewer-tungsvereinfachungen anzustreben und möglich. DasImparitätsprinzip, das seinen Ausdruck in der antizipati-ven Berücksichtigung von Verlusten durch Teilwertab-schreibungen und Drohverlustrückstellungen findet undeine unterschiedliche Behandlung von unrealisiertenGewinnen und Verlusten beinhaltet, ist aufzugeben, daes eine gleichmäßige Besteuerung der Einkunftsartenverhindert. Um zu gewährleisten, dass sich der Fiskus ingleichem Maße an Verlusten und Gewinnen beteiligt,müsste im Gegenzug zu dem Verzicht auf das Imparitäts-prinzip ein zeitlich uneingeschränkter verzinslicher Ver-lustausgleich eingeführt werden. Der Verbesserung dersteuerlichen Verlustausgleichsmodalitäten kommt des-halb eine Schlüsselfunktion zu, wenn Periodisierungeneingeschränkt werden sollen.

579. Eine Angleichung der steuerlichen Einkünfteer-mittlung für sämtliche Einkunftsarten muss pragmati-schen Gesichtspunkten folgen, wenn man nicht zu einerkonsequenten Einnahmeüberschussrechnung übergehenwill. Im Hinblick auf Investitionen, Finanzierungen oderdie Rechtsformwahl werden deshalb lediglich Verzer-rungen abgebaut, eine vollständige Steuerneutralitätstellt sich hingegen nicht ein. Zudem sind zur Gleich-stellung von Kapitalgesellschaften und Personenunter-nehmen weitergehende Regelungen erforderlich, wel-che die Unterschiede in der steuerlichen Behandlungvon Verträgen zwischen den Gesellschaften und den Ge-sellschaftern neutralisieren, insbesondere im Bereich derbetrieblichen Altersversorgung.

So lange aus verteilungspolitischen Gründen ein pro-gressiver Einkommensteuertarif beibehalten wird, eröff-nen sich auch bei angeglichener Einkünfteermittlungweiterhin Möglichkeiten zur Steuerarbitrage. Für dieSteuerpflichtigen sind dann nach wie vor Ausweich-handlungen lohnend, durch die Einkünfte beziehungs-weise das sie generierende Vermögen auf Steuersubjekteübertragen werden, die einer geringeren Progression un-terliegen. Die Progression des Einkommensteuertarifserweist sich als unvermeidbares, aber hinzunehmendesHindernis für eine verzerrungsfreie Integration der Kör-perschaftsteuer in die Einkommensteuer. An dieserSchlussfolgerung würde auch die Einführung eines line-aren Tarifs wegen der indirekten Progression oder einesStufentarifs nichts ändern.

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Die Politikbereiche im Einzelnen

Besteuerung grenzüberschreitender Investitionen

580. Geht Deutschland zu einer generellen Freistellungder Ausschüttungen und der Gewinne aus der Veräuße-rung von Anteilen an inländischen Kapitalgesellschaftenüber, zieht dies unmittelbare Konsequenzen für die Be-steuerung grenzüberschreitender Investitionen nach sich.Diese ergeben sich zum einen aus den EU-rechtlichenGrundfreiheiten der Niederlassungsfreiheit und der Ka-pitalverkehrsfreiheit, zum anderen aber auch aus den inDoppelbesteuerungsabkommen regelmäßig vereinbar-ten Diskriminierungsverboten. Zum einen darf bei einerFreistellung von Ausschüttungen im Inland auch auf insAusland abfließende Dividenden keine Quellensteuereinbehalten werden. Dasselbe gilt für Veräußerungsge-winne, die von im Ausland ansässigen Steuerpflichtigenin Deutschland erzielt werden. Zusammen mit dem Divi-dendenfreistellungsverfahren ist also auch die Kapital-ertragsteuer abzuschaffen, die bislang für beschränktSteuerpflichtige unter den Voraussetzungen des § 50Absatz 5 EStG im Inland eine Definitivbelastung be-wirkt. Anzupassen ist zum anderen aber auch die Be-steuerung von Erträgen aus Outbound-Investitionen.

Gegenwärtig unterliegen Ausschüttungen ausländischerKapitalgesellschaften an inländische natürliche Perso-nen beziehungsweise Personenunternehmen der Besteu-erung nach Maßgabe des Halbeinkünfteverfahrens. Diesgilt auch für die Gewinne aus der Veräußerung von An-teilen an ausländischen Kapitalgesellschaften. DerartigeAuslandseinkünfte wären künftig ebenso wie die ent-sprechenden Inlandseinkünfte steuerlich freizustellen.Für Ausschüttungen durch Kapitalgesellschaften undGewinne aus der Veräußerung von Gesellschaftsanteilenan Kapitalgesellschaften in anderen EU-Staaten folgtdies zwangsläufig aus dem EU-Recht. Eine Übertragungauf Drittstaaten ergibt sich, soweit die mit diesen Staatenabgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen einDiskriminierungsverbot enthalten; die Übertragungkönnte auch mit der auf Drittstaaten ausstrahlenden Ka-pitalverkehrsfreiheit des EU-Rechts begründet werden.

Die Steuerbefreiung von Auslandsdividenden und ent-sprechenden Veräußerungsgewinnen auch für im Inlandansässige natürliche Personen und Personenunterneh-men wäre ein wesentlicher Schritt in Richtung einergrenzüberschreitenden Rechtsformneutralität. Im Aus-land erzielte Gewinne würden unabhängig von derRechtsform beziehungsweise der Organisationsform imAusland (Kapitalgesellschaft sowie bisher schon Be-triebsstätte und Personengesellschaft) und unabhängigvom Status des inländischen Investors (natürliche Per-son beziehungsweise Einzelunternehmer und Personen-gesellschaft sowie bisher schon Kapitalgesellschaft) ab-schließend am Ort der Investition besteuert. Allerdingswürde dies einer sehr weitgehenden Realisierung desQuellenprinzips, also einer kapitalimportneutralen Un-ternehmensbesteuerung entsprechen. Vom Ideal einersynthetischen Einkommensteuer und einer kapitalex-portneutralen Besteuerung würde man sich damit weiterentfernen.

Bei einer erweiterten Freistellung von Auslandsgewin-nen im Inland stellt sich wie schon jetzt die Frage nach

der steuerlichen Behandlung von Refinanzierungskosten(Ziffer 543). Die Zulassung des Abzugs von der Bemes-sungsgrundlage im Inland ist unter Aufkommensaspek-ten problematisch, während die Versagung des Abzugszu einer überhöhten steuerlichen Belastung führenwürde. Deshalb wären pauschalierende Vorschriften inAnlehnung an die derzeit praktizierte Regelung für Aus-landsgewinne zu entwickeln, nach der 5 vH der Dividen-den fiktiv als nicht abzugsfähige Betriebsausgabe quali-fiziert werden. Dies müsste auf natürliche Personen undPersonenunternehmen und aus europarechtlichen Grün-den auf Inlandssachverhalte ausgedehnt werden, um de-ren Begünstigung gegenüber Auslandssachverhaltenauszuschließen.

581. Eine Ausweitung des Quellenprinzips bei derUnternehmensbesteuerung verschärft den Steuerwettbe-werb und erhöht den Druck auf eine Senkung der Steuer-belastung. Bei einer abschließenden Besteuerung vonUnternehmensgewinnen im Quellenstaat erfolgt dieWahl des Investitionsorts aus steuerlicher Sicht durchVergleich der inländischen mit der ausländischen effekti-ven Unternehmenssteuerbelastung. Gegenwärtig gehörtDeutschland international bei der Unternehmensbesteue-rung zu den Hochsteuerländern. Da im internationalenBereich Investitionen vor allem in Kapitalgesellschaftenerfolgen, muss der deutsche Körperschaftsteuersatz (un-ter Berücksichtigung eines kommunalen Zuschlags) aufein international wettbewerbsfähiges Niveau reduziertwerden, wenn die Standortattraktivität Deutschlands ge-stärkt werden soll. Verglichen mit der durchschnittlichenBelastung von Unternehmensgewinnen im Ausland istein Körperschaftsteuersatz von etwa 30 vH anzustreben,wobei eine Belastung von 35 vH keinesfalls überschrit-ten werden sollte. Der Druck auf die Steuersätze ließesich, falls notwendig, durch internationale Absprachenüber Mindeststeuersätze mildern, die einen Steuerwett-lauf nach unten begrenzen würden. Schon innerhalb derEuropäischen Union dürfte dies allenfalls im Rahmeneiner längerfristigen Strategie zur Koordination derUnternehmensbesteuerung denkbar sein. Eine Einbezie-hung von Drittstaaten in internationale Vereinbarungenzur Unternehmensbesteuerung wäre im Rahmen einer„World Tax Organization“ vorstellbar; eine solche zeich-net sich allerdings nicht einmal in Umrissen ab.

582. Zu berücksichtigen ist bei dieser Option, dass jedeSenkung des Körperschaftsteuersatzes wegen der Kop-pelung des Spitzensatzes der Einkommensteuer an denKörperschaftsteuersatz das Aufkommen aus der Ein-kommensteuer reduziert. Steuerausfälle aufgrund vonSteuersatzsenkungen könnten durch eine Verbreiterungder Bemessungsgrundlage kompensiert werden, indemdie existierenden Steuervergünstigungen über alle Ein-kunftsarten hinweg gestrichen werden. Je konsequenterbei der Streichung von Steuervergünstigungen vorgegan-gen wird, desto stärker können Körperschaftsteuersatzund Spitzensatz der Einkommensteuer abgesenkt wer-den. Umgekehrt würde eine nur zaghafte Verbreiterungder Bemessungsgrundlage die zur Stärkung der Stand-ortattraktivität erforderliche Senkung der Tarifbelastun-gen verhindern. Überschlägige Berechnungen zeigen,

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

dass bei radikaler Verbreiterung der Bemessungsgrund-lage durchaus ein Einkommensteuerspitzensatz zwi-schen 30 vH und 35 vH bei etwa gleichem Aufkommenerreichbar sein sollte. Allerdings ist Skepsis angebracht,ob ein konsequenter Abbau von Steuervergünstigungenauch politisch durchsetzbar ist. Einerseits lassen die bis-herigen Erfahrungen – etwa mit den PetersbergerBeschlüssen aus dem Jahr 1997 oder mit den ursprüngli-chen Vorschlägen des Steuervergünstigungsabbaugeset-zes – Zweifel an der politischen Durchsetzbarkeit vondurchgreifenden Maßnahmen zur Verbreiterung der ein-kommensteuerlichen Bemessungsgrundlage aufkom-men. Andererseits scheint mittlerweile aber ein parteiü-bergreifender Konsens dahingehend zu bestehen, dassein konsequenter Abbau von Steuervergünstigungen ak-zeptabel ist, sofern er mit einer Senkung von Steuersät-zen einhergeht.

Ob die Politik tatsächlich den Mut zu einem tabulosenAbbau von Steuervergünstigungen aufbringt, muss sichnoch zeigen. Gerade die populistische Beschränkung derSteuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags-und Nachtarbeit nach § 3b EStG nur im Hinblick auf Be-zieher höherer Einkommen lässt eine erneute Debatteüber Verteilungsgerechtigkeit erwarten, wenn die Besei-tigung dieses Steuerprivilegs dann auch für Kranken-schwestern und Busfahrer zur Finanzierung einer Sen-kung des Spitzensteuersatzes herangezogen wird. Statteines „tax-cut-cum-base-broadening“ könnte eine dras-tische Senkung des Spitzensatzes der Einkommensteuerauch durch eine Erhöhung von indirekten Steuern odereine Reduzierung von staatlichen Ausgaben finanziertwerden. Den Vorwurf regressiver Verteilungseffektewürde man sich vermutlich auch in diesen Fällen ein-handeln. Im Übrigen können Ausgabenkürzungen nureinmal verwendet werden: entweder für die Reduzierungvon Primärsalden zwecks Konsolidierung der öffentli-chen Haushalte (Ziffern 455 ff.) oder zur Finanzierungvon weitgehend saldenneutralen Steuersatzsenkungen.

Zusammenfassende Bewertung

583. Als erste mittelfristige Steuerreformoption wur-den die folgenden Maßnahmen zur Integration von Kör-perschaftsteuer und Einkommensteuer betrachtet: DerSpitzensatz der Einkommensteuer wird an den Körper-schaftsteuersatz angeglichen. Die zweifache Belastungder Gewinne von Kapitalgesellschaften im gegenwärti-gen Halbeinkünfteverfahren wird beseitigt, indem Aus-schüttungen und Gewinne aus der Veräußerung vonGesellschaftsanteilen aus der Besteuerung herausge-nommen werden. Diese Steuerbefreiungen erstreckensich auf Beteiligungen an inländischen und ausländi-schen Kapitalgesellschaften. Die damit einhergehendeStärkung des Quellenprinzips verschärft den Steuerwett-bewerb und führt tendenziell zu einem Steuerwettlaufnach unten, der gegebenenfalls durch eine internationaleVereinbarung über Mindeststeuersätze begrenzt werdenmüsste. Ohne eine verbindliche internationale Abspra-che über entsprechend hohe Mindeststeuersätze – dieganz und gar nicht absehbar ist – müssten die Tarifbelas-

tung von Kapitalgesellschaften und der an den Körper-schaftsteuersatz gekoppelte Einkommensteuerspitzen-satz erheblich reduziert werden, um im internationalenSteuerwettbewerb bestehen zu können.

Der Vorteil eines solchen Steuersystems, das vergleichs-weise nahe am geltenden Steuerrecht bleibt, besteht ineiner nicht unerheblichen Stärkung der Rechtsform- undFinanzierungsneutralität. Solange an einem progressivenEinkommensteuertarif festgehalten wird, lässt sich einevollständige Neutralität allerdings nicht erreichen, sodass Anreize zur Steuerarbitrage bestehen bleiben. DieAttraktivität und die Erfolgschancen dieses Reformvor-schlags hängen wesentlich davon ab, ob ein konsequen-ter Abbau von Steuervergünstigungen gelingt. Was inder Theorie einfach erscheint, erweist sich in der steuer-politischen Praxis als ungewöhnlich schwierig. Ohneeine nennenswerte Reduktion des Körperschaftsteuersat-zes und des daran gekoppelten Spitzensatzes der Ein-kommensteuer lässt sich die dringend erforderliche Ver-besserung der steuerlichen Standortattraktivität abernicht erreichen.

Steuerreformoption II: Duale Einkommensteuer

Übersicht 2

Elemente der Steuerreformoption II

– Aufteilung des Gesamteinkommens von natürli-chen Personen in Kapitaleinkommen und in Ar-beitseinkommen: Das Kapitaleinkommen schließtUnternehmensgewinne von Einzelunternehmernund Personenunternehmen, Dividenden, Zinsen,Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowieprivate Veräußerungsgewinne ein. Das Arbeitsein-kommen umfasst im Wesentlichen Löhne ein-schließlich kalkulatorischer Unternehmerlöhne,Pensionen, gesetzliche Altersrenten und staatlicheTransferzahlungen.

– Proportionale Besteuerung von Kapitaleinkommen.

– Progressive Besteuerung von Arbeitseinkommen.

– Vermeidung von Ausweichmöglichkeiten: DerSpitzensatz der progressiven Steuer auf Arbeits-einkommen sollte nicht wesentlich über dem Pro-portionalsatz auf Kapitaleinkommen liegen.

– Integration der Körperschaftsteuer in die Kapi-taleinkommensteuer: Übereinstimmung von Kör-perschaftsteuersatz und proportionalem Satz derKapitaleinkommensteuer und vollständige Vermei-dung der Doppelbesteuerung von Ausschüttungensowie von Gewinnen aus der Veräußerung von An-teilen an Kapitalgesellschaften.

– Steuerbefreiung von an inländische Kapitalgeber(natürliche Personen, Personenunternehmen undKapitalgesellschaften) fließende Gewinne von aus-ländischen Kapitalgesellschaften.

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Die Politikbereiche im Einzelnen

584. Die zweite Steuerreformoption weicht vom Leit-bild einer synthetischen Einkommensteuer ab. An ihreStelle tritt mit der „dualen Einkommensteuer“ eine sys-tematisch ausgestaltete Steuer, die zwischen zwei Ein-kunftsarten unterscheidet – umfassend definierten Kapi-taleinkommen und Arbeitseinkommen – und dieseunterschiedlich besteuert. Kapitaleinkommen, bestehendaus den Gewinnen von Einzelunternehmern und Perso-nenunternehmen, Dividenden, Zinsen, Einkünften ausVermietung und Verpachtung sowie privaten Veräuße-rungsgewinnen, werden mit einem niedrigen proportio-nalen Satz besteuert. Wie bei der ersten Steuerreformop-tion sollte eine Gesamtbelastung von 30 vH nichtüberschritten werden. Arbeitseinkommen werden dem-gegenüber progressiv besteuert und umfassen vor allemLöhne einschließlich kalkulatorischer Unternehmer-löhne, Pensionen, gesetzliche Altersrenten und staatlicheTransferleistungen. Zur Begrenzung von Steuerarbitragesollte der Spitzensteuersatz nicht wesentlich über demKapitaleinkommensteuersatz liegen. Die separate Be-steuerung von Kapitalgesellschaften mit der Körper-schaftsteuer wird beibehalten. Allerdings sind Körper-schaftsteuer und Kapitaleinkommensteuer vollständigaufeinander abgestimmt. Dies wird über zweierlei Maß-nahmen sichergestellt: Zum einen stimmt der Körper-schaftsteuersatz mit dem proportionalen Satz der Kapi-taleinkommensteuer überein. Zum anderen werden dieDoppelbesteuerung von Ausschüttungen sowie von Ge-winnen aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalge-sellschaften vollständig vermieden. Somit kann in derTat von einer dualen Einkommensteuer gesprochen wer-den: Der Besteuerung von Arbeitseinkommen steht dieBesteuerung von Kapitaleinkommen gegenüber, mitvollständig integrierter Körperschaftsteuer.

Die Abweichung vom Leitbild der synthetischen Ein-kommensteuer sollte nicht allzu schwer fallen. Denn tat-sächlich existiert in Deutschland keine konsequent ver-wirklichte synthetische Einkommensbesteuerung, einesolche lässt sich, wie oben dargelegt, auch realistischer-weise nicht (mehr) erreichen. Mit der dualen Einkom-mensteuer kommt eine Systematik in die gegenwärtigvöllig unsystematische direkte Besteuerung. Ein solchesSteuersystem wurde Anfang der neunziger Jahre in dennordischen Ländern eingeführt, am konsequentesten undsystematischsten in Finnland, Norwegen und Schweden.Deshalb lohnt ein Blick auf die Steuersysteme dieserLänder. Im Hinblick auf Entscheidungsneutralität,Standortattraktivität und Systematik weist die duale Ein-kommensteuer gegenüber dem geltenden System derEinkommensbesteuerung eindeutige Vorteile auf. Aller-dings gibt es auch eine Reihe offener Fragen und Pro-bleme.

Gründe für die Einführung einer dualen Einkommensteuer

585. Für den Übergang zu einer dualen Einkommen-steuer sprechen vor allem Effizienzüberlegungen. Eineduale Einkommensbesteuerung stärkt die Neutralität derBesteuerung im Hinblick auf Investitions-, Finanzie-

rungs- und Rechtsformentscheidungen, und sie erhöhtdie Standortattraktivität vor dem Hintergrund der zuneh-menden internationalen Kapitalmobilität. Dies führt zueiner Verbesserung der Wachstumsbedingungen und derChancen der Arbeitnehmer auf höhere Einkommen. Ge-genüber den geltenden Regelungen wird zudem die Sys-tematik des Steuerrechts durch eine konsistente undeinheitliche Besteuerung von Kapitaleinkommen verbes-sert.

586. Neutralität der Unternehmensbesteuerung: DieAngleichung der Steuersätze für Unternehmensgewinnebeziehungsweise private Kapitaleinkommen an den Kör-perschaftsteuersatz, die vollständige Integration derKörperschaftsteuer in die Kapitaleinkommensteuer so-wie durchgängig proportionale Steuersätze für sämtlicheKapitaleinkommen stellen grundsätzlich die Finanzie-rungsneutralität der Besteuerung sicher. SämtlicheFinanzierungswege werden unabhängig von den persön-lichen Verhältnissen der Kapitalgeber in gleicher Höhebelastet. Damit differenziert die Besteuerung auch nichtim Hinblick auf die Unternehmensrechtsform. Schließ-lich führen niedrige proportionale Steuersätze, die aufeine verbreiterte Bemessungsgrundlage angewendetwerden, zu einer Verminderung der von unterschiedli-chen Methoden der steuerlichen Gewinnermittlung– Betriebsvermögensvergleich versus Einnahmeüber-schussrechnung – ausgehenden Verzerrungen, womit eszu einer effizienteren intersektoralen Kapitalallokationkommt.

587. Standortattraktivität: Für eine Tarifdifferenzie-rung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen lassensich vor allem Effizienzgesichtspunkte anführen. Kapi-taleinkommen sind international wesentlich mobiler alsArbeitseinkommen. Zwar sind auch hoch qualifizierteArbeitnehmer häufig international mobil, für die Masseder Arbeitnehmer gilt dies jedoch nicht. Informations-probleme im Hinblick auf die Erfassung im Ausland er-zielter Einkünfte hindern einzelne Staaten regelmäßig aneiner vollständigen Besteuerung von mobilem Kapitalauf der Grundlage des Wohnsitzprinzips. Effizienzüber-legungen sprechen dann aber dafür, international mobi-les Kapital schonender zu besteuern als immobile Fakto-ren. Andernfalls wäre ein weiterer Kapitalabfluss zuLasten des nationalen Steueraufkommens, der heimi-schen Investitionen und der Arbeitsplätze zu befürchten,der ein Land zu einer noch höheren Besteuerung des Ar-beitseinkommens zwingen kann, soweit dies zur De-ckung seines Finanzbedarfs erforderlich ist (JG 2001Ziffer 386). Mit der Abkoppelung des Steuersatzes fürKapitaleinkommen von der Besteuerung der Arbeitsein-kommen wird somit ein flexibles Instrument geschaffen,um im internationalen Steuerwettbewerb bestehen zukönnen, ohne dass gleich das gesamte Steueraufkommenin Mitleidenschaft gezogen wird.

588. Verbesserte Systematik des Steuerrechts imBereich der Kapitaleinkommen: Eine umfassendeBesteuerung der Kapitaleinkommen mit einem propor-tionalen Satz begrenzt die Möglichkeiten zur Steuerarbi-trage zwischen den betroffenen Einkünften und vermin-

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

dert in erheblichem Maße Abgrenzungsprobleme bei derZuordnung von Einnahmen und Ausgaben. Aufgrunddes proportionalen Steuersatzes steht den Steuerentlas-tungen, die etwa aus dem Abzug von Betriebsausgabenresultieren, im Grundsatz ein korrespondierendes Steu-eraufkommen aus den entsprechenden Einnahmen ge-genüber. Diese Korrespondenz gilt sowohl bei einer in-dividuellen als auch bei einer gesamtwirtschaftlichenBetrachtung, wenn die Ausgaben und Einnahmen beiunterschiedlichen Steuersubjekten anfallen. Eine umfas-sende, proportionale Besteuerung der Kapitaleinkom-men dient somit der Steuervereinfachung, sie verbessertdie Systematik des Steuerrechts und sie führt im Bereichder Kapitaleinkommen zu einer gleichmäßigeren Be-steuerung.

Ausgestaltung und Probleme der dualen Einkommensteuer

589. Eine duale Einkommensteuer weist Vorteile ge-genüber der Steuerreformoption I und erst recht gegenü-ber dem geltenden Steuersystem auf. Allerdings gibt esauch eine Reihe offener Fragen und Probleme. Die zuklärenden Punkte betreffen die Bereiche:

– Besteuerung nationaler und grenzüberschreitenderInvestitionen;

– Abgrenzung zwischen Kapitaleinkommen und Ar-beitseinkommen bei personenbezogenen Unterneh-men;

– Verlustverrechnung, Berücksichtigung persönlicherEntlastungen und Verfahrensfragen;

– Vereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip;

– Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen.

Auch beim Übergang zu einer dualen Einkommensteuersind Maßnahmen zur Verbreiterung der Bemessungs-grundlage erforderlich, wenn Steuerausfälle aufgrundder Absenkung des Steuersatzes für Kapitaleinkommenvermieden werden sollen. Da, anders als bei derSteuerreformoption I, der Spitzensatz der Steuer auf Ar-beitseinkommen aber nicht an den Kapitaleinkommen-steuersatz gekoppelt ist, wird der Finanzierungsbedarfgeringer ausfallen.

Besteuerung nationaler und grenzüberschreitender Investitionen

590. Im Rahmen einer dualen Einkommensteuer unter-liegen Kapitaleinkommen, gleichgültig, ob es sich umGewinne, Zinsen, Mieten oder Pachten handelt, entwe-der dem Körperschaftsteuersatz oder einem gleich hohen(Einkommen-) Steuersatz für Unternehmensgewinneund private Kapitaleinkommen. Die Steuerbelastungfällt folglich unabhängig davon, ob die Unternehmens-besteuerung wie bei Kapitalgesellschaften auf dem Tren-nungsprinzip basiert oder ob im Hinblick auf Personen-unternehmen das Mitunternehmerkonzept gilt, stetsgleich hoch aus.

Bezüglich der Integration der Körperschaftsteuer in die(Kapital-) Einkommensteuer ergeben sich im Vergleichzur Steuerreformoption I keine Besonderheiten. Für Ge-winnausschüttungen kommen entweder ein Vollanrech-nungsverfahren oder das Dividendenfreistellungsverfah-ren in Frage, wobei, wie erwähnt, eine Vollanrechnungauf Probleme stößt und daher die Dividendenfreistellungvorzuziehen ist. Aus Praktikabilitätsgründen sind dem-entsprechend auch Gewinne aus der Veräußerung vonAnteilen an Kapitalgesellschaften von der Steuer zu be-freien, was gleichzeitig eine Nichtberücksichtigung vonVeräußerungsverlusten impliziert. Für grenzüberschrei-tende Investitionen erzwingen die EU-rechtlichen Dis-kriminierungsverbote die Anwendung der gleichenBesteuerungsregeln, so dass im Inland auch Ausschüt-tungen von Gewinnen sowie Gewinne aus der Veräuße-rung von Anteilen an ausländischen Kapitalgesellschaf-ten freizustellen sind.

Damit wird auch die duale Einkommensteuer bei grenz-überschreitenden Investitionen weitgehend dem Quel-lenprinzip folgen. Die internationale Unternehmensbe-steuerung wäre dann weiterhin durch ein Mischsystemaus kapitalexportneutraler und kapitalimportneutralerBesteuerung gekennzeichnet, mit allen daraus folgendenKonsequenzen für den Steuerwettbewerb und hinsicht-lich der Verzerrung von Finanzierungsentscheidungenim Zusammenhang mit ausländischen Direktinvestitio-nen. Dem könnte letztlich nur durch eine europaweiteAnnäherung oder Harmonisierung der Kapitaleinkom-mensbesteuerung entgegnet werden. Allerdings weistdie duale Einkommensteuer dabei gegenüber derSteuerreformoption I Vorteile auf. Eine Annäherungoder Angleichung der Steuersätze wäre nämlich nur imBereich der Körperschaftsteuer und der Kapitaleinkom-mensteuer erforderlich. Eine von den Kapitaleinkommenabgekoppelte Besteuerung der Arbeitseinkommen würdeden Mitgliedstaaten bei der aufkommensstärksten direk-ten Steuer eine Steuerautonomie belassen und Spiel-räume für die nationale Umverteilungspolitik eröffnen.

Eine abschließende Besteuerung der Unternehmenkönnte auch über eine umfassende Betriebssteuer wiedie „Comprehensive Businesss Income Tax“ (CBIT) er-reicht werden. Die CBIT wurde in den Vereinigten Staa-ten als Reformkonzept diskutiert. Ihre Bemessungs-grundlage umfasst den Gewinn zuzüglich sämtlicherFaktorentgelte außer Arbeitseinkommen, also beispiels-weise Zinsen, Mieten und Leasingraten. Ein Be-triebsausgabenabzug von Fremdkapitalzinsen ist imRahmen einer CBIT also nicht vorgesehen; dafür werdenZinseinkünfte beim Kapitalgeber nicht mehr besteuert.Analoges gilt für die anderen Faktorzahlungen (außerArbeitseinkommen). Auf die (umfassende) Bemessungs-grundlage der CBIT wird dann ein proportionaler Steu-ersatz angewandt. Bezogen auf nationale Sachverhalteliegt der primäre Unterschied zwischen der CBIT und ei-ner dualen Einkommensteuer somit in der Erhebungs-technik. Gleichwohl weist die CBIT einige Nachteile auf.So schirmt sie wie jede andere Betriebssteuer Verlustevon anderen positiven Einkünften der Kapitalgeber abund verhindert deshalb auch bei Personenunternehmen

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Die Politikbereiche im Einzelnen

einen Verlustausgleich. Ferner scheidet eine Entlastungder unternehmerischen Einkünfte um personenbezogeneAbzugsbeträge regelmäßig aus. Auch aus internationa-ler Sicht ist die CBIT problematisch, da alle ins Auslandfließenden Zahlungen – auch Faktorentgelte – stets mitinländischen Unternehmenssteuern belastet sind. Dieskollidiert mit den Quellensteuerregelungen der Doppel-besteuerungsabkommen, sofern diese den Quellensteu-erabzug auf ein niedrigeres Niveau beschränken. EinVorteil ergäbe sich allerdings dann, wenn alle Industrie-nationen gemeinsam eine CBIT einführen würden; Steu-eroasen, die bislang mit einer geringen Besteuerung vonZinseinkünften locken, würden dann nämlich weitgehendaustrocknen. Ein unilateraler Übergang zu einer CBITist jedoch wenig empfehlenswert. Im Ergebnis sprichtdeshalb vieles dafür, dass es im Rahmen einer dualenEinkommensteuer beim Nebeneinander von Trennungs-prinzip bei Kapitalgesellschaften und Mitunterneh-merkonzept bei Personengesellschaften sowie bei dersteuerlichen Anerkennung von schuldrechtlichen Ver-tragsbeziehungen bleibt.

Abgrenzung zwischen Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen bei personenbezogenen Unternehmen

591. Die ungleiche steuerliche Behandlung von Kapi-taleinkommen und Arbeitseinkommen im Rahmen einerdualen Einkommensteuer ist unter Effizienzgesichts-punkten vorteilhaft, dürfte aber nicht nur mit einem Ak-zeptanzproblem in der Öffentlichkeit verbunden sein, siestellt zugleich eine ihrer Hauptschwierigkeiten dar. DaAnreize zur Umwandlung von progressiv besteuertemArbeitseinkommen in proportional und niedriger besteu-ertes Kapitaleinkommen bestehen, sind die beiden Ein-kommensarten möglichst exakt voneinander abzugren-zen. Anreize zur Steuerarbitrage bestehen insbesonderebei mittelständischen, personenbezogenen Unterneh-men, also Einzelunternehmen, Personengesellschaftenund kleineren Kapitalgesellschaften mit nur wenigenAnteilseignern.

Der Gesamtgewinn besteht regelmäßig aus zwei Kom-ponenten: der Rendite des investierten Kapitals und demWert der eingesetzten Arbeitskraft des Unternehmers,das heißt dem Unternehmerlohn. Innerhalb einer dualenEinkommensteuer muss die Rendite des investiertenKapitals dem Steuersatz für Kapitaleinkommen unter-liegen, während der auf die Arbeitsleistung des Unter-nehmers entfallende Teil des Gesamtgewinns als Ar-beitseinkommen progressiv zu besteuern ist. DerGewinn von personenbezogenen Unternehmen ist des-halb in seine beiden Bestandteile Kapitaleinkommenund Arbeitseinkommen aufzuteilen und entsprechend zubesteuern. Die damit verbundenen Fragestellungen sindäußerst komplex und gelten als die „Achillesferse“ derdualen Einkommensteuer.

Für die Aufteilung des Gesamtgewinns bieten sich imGrundsatz zwei Möglichkeiten an. Entweder wird dasArbeitseinkommen zuerst bestimmt, so dass sich das Ka-pitaleinkommen als Restgröße ergibt, oder es wird derumgekehrte Weg eingeschlagen. Beide Ansätze bringen

Probleme mit sich. Die Wahl des Arbeitseinkommens alsAusgangsgröße ist problematisch, weil es regelmäßig anobjektivierbaren Größen für die Bestimmung der Ar-beitseinkommen fehlt. Diese hängen von den Verhältnis-sen im Einzelfall ab, wie den Fähigkeiten und dem Aus-bildungsstand des Unternehmers, sind aber für Drittenicht direkt beobachtbar. Alternativ kann man das Kapi-taleinkommen als Ausgangsgröße festlegen. Die Ermitt-lung des Kapitaleinkommens basiert auf dem im Unter-nehmen vorhandenen Eigenkapital, auf das einbestimmter, im Gesetz festzulegender Renditefaktor an-gewendet wird. Der verbleibende Teil des Gewinns stelltdann das Arbeitseinkommen dar. Obgleich auch dieWertermittlung des eingesetzten Kapitals sowie die Be-stimmung des Renditefaktors mit Problemen verknüpftsind, erscheint es insgesamt vorteilhafter, Kapitalein-kommen als Ausgangsgröße und Arbeitseinkommen re-sidual zu bestimmen.

592. Für die Wertermittlung des eingesetzten Kapitalskann auf die Wertansätze zurückgegriffen werden, diesich im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung er-geben. Dabei ist zwischen der Bruttomethode und derNettomethode zu unterscheiden. Bei der Bruttomethodewird vom bilanziellen Bruttovermögen (A) ausgegangen,finanzielle Mittel und Verbindlichkeiten bleiben unbe-rücksichtigt. Durch Multiplikation mit einem Renditefak-tor (k) erhält man das Bruttokapitaleinkommen. Darausermittelt man das zu versteuernde Kapitaleinkommendurch Abzug der Nettozinszahlungen (iB). Das Arbeits-einkommen ergibt sich als Differenz zwischen dem Ge-winn (G) vor Abzug von Zinsaufwendungen und demBruttokapitaleinkommen. Die jeweilige Steuerschuld re-sultiert aus dem Produkt der Bemessungsgrundlagen mitden Steuersätzen t auf Kapitaleinkommen und m auf Ar-beitseinkommen. Die Gesamtsteuerzahlung (T) ist dann

T = t · (k · A – i · B) + m · (G – k · A)mit A = Bilanzielles Bruttovermögen,B = Saldo aus Verbindlichkeiten und finanziellen Mitteln,G = Gewinn vor Zinsen,i = Kapitalmarktzins,k = Renditefaktor,m = Steuersatz für Arbeitseinkommen,T = Gesamtsteuerzahlung,t = Steuersatz für Kapitaleinkommen.

Bei der Nettomethode werden vom bilanziellen Brutto-vermögen zunächst die Verbindlichkeiten, saldiert mitden finanziellen Aktiva, abgezogen. Das Nettounterneh-mensvermögen multipliziert mit dem Renditefaktor stelltdann das zu versteuernde Kapitaleinkommen dar. Ent-sprechend berechnet sich das Arbeitseinkommen, indemvom Gewinn die Nettozinszahlungen und das Kapitalein-kommen abgezogen werden. Die Gesamtsteuerzahlungist dann

T = t · k · (A – B) + m · [G – i · B – k · (A – B)].

Brutto- und Nettomethode führen nur dann zum gleichenErgebnis, wenn Renditefaktor und Kapitalmarktzinsübereinstimmen. Andernfalls ergeben sich unterschiedli-che Aufteilungsergebnisse. Bei der Bruttomethode wirddie Aufteilungsquote in Kapital- und Arbeitseinkommen

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

von der Größenrelation zwischen Renditefaktor und Ka-pitalmarktzins bestimmt, wohingegen die Nettomethodeden Gewinn unabhängig davon stets im gleichen Ver-hältnis aufteilt. Unter Neutralitätsgesichtspunkten ist dieNettomethode somit vorzuziehen, da das Kapitaleinkom-men nicht durch die Art der Finanzierung einer Investi-tion beeinflusst werden kann. Sie ist allerdings aus demfolgenden Grund schwieriger zu administrieren als dieBruttomethode: Im Rahmen des privaten Kapitaleinkom-mens abzugsfähige Schuldzinsen – zum Beispiel Refi-nanzierungszinsen für den Erwerb von Immobilien –führen stets zu einer Steuerentlastung in Höhe des Satzesder Kapitaleinkommensteuer. Werden die Schulden da-gegen in den betrieblichen Bereich verlagert und über-steigt der darauf entfallende Zinssatz den Renditefaktor,kommt es zu einer anteiligen Minderung des progressivbesteuerten Arbeitseinkommens, womit die Gesamtsteu-erbelastung sinkt. Im Rahmen der Nettomethode – die inFinnland und Schweden angewendet wird – sind deshalbkomplizierte Maßnahmen gegen derartige Arbitrage-handlungen erforderlich.

Unabhängig davon, ob nach der Brutto- oder der Net-tomethode bewertet wird, ergeben sich bei der Abgren-zung des Betriebsvermögens weitere Probleme. So wer-den für (gemischt-genutzte) Wirtschaftsgüter, die sowohlbetrieblich als auch privat genutzt werden, spezielle Zu-ordnungsvorschriften benötigt. Zudem sind Regelungenerforderlich, die eine Verlagerung von privaten Vermö-gensgegenständen mit niedriger Rendite wie zum Bei-spiel Grundstücke in den betrieblichen Bereich verhin-dern. Derartige Vermögensverschiebungen haben zwarkeine Auswirkungen auf das Gesamteinkommen desSteuerpflichtigen. Allerdings erhöhen sie den Anteil desKapitaleinkommens am Unternehmensgewinn zu Lastendes Arbeitseinkommens, wodurch es insgesamt zu einerReduzierung der Gesamtsteuerbelastung kommt.

Die Bestimmung des Renditefaktors kann ebenfalls nurpragmatisch erfolgen. Theoretisch müsste aufgrund derAnknüpfung an das bilanzielle Vermögen, dessen Bewer-tung auf dem Nominalwertprinzip basiert, der nominaleKapitalmarktzins zugrunde gelegt werden. Da in derPraxis kein einheitlicher Kapitalmarktzins existiert, wirdman auf die durchschnittliche Rendite für mehrjährigeStaatsanleihen zurückgreifen. Diese Rendite wird dannnoch um einen pauschalen Risikozuschlag erhöht, derdem besonderen Risiko von Sachinvestitionen Rechnungträgt.

593. Neben den beiden grundsätzlichen Fragen hin-sichtlich der Technik der Gewinnaufteilung sowie desKreises der betroffenen Unternehmen sind im Hinblickauf die konkreten Besteuerungsfolgen weitere Aspektezu beachten. Zur Wahrung der Gleichmäßigkeit derBesteuerung sollte die Steuerbelastung des Arbeitsein-kommens nicht davon abhängen, ob es im Rahmen einerunternehmerischen oder einer abhängigen Tätigkeit er-wirtschaftet wird. Unter dem Gesichtspunkt der Rechts-formneutralität sollte des Weiteren die Steuerbelastungdes dem Unternehmer zuzurechnenden Arbeitseinkom-mens in Kapitalgesellschaften und in Personenunterneh-men gleich hoch ausfallen. Die EU-rechtlich relevantenDiskriminierungstatbestände erfordern es schließlich,

dass die Gewinnaufteilung unabhängig von einer Ansäs-sigkeit des Unternehmens im Inland oder im Ausland er-folgt. Diese Anforderungen sind grundsätzlich gleichzei-tig erfüllt, sofern die Gewinnaufteilung für alleeinzubeziehenden in- und ausländischen Unternehmenunabhängig von ihrer Rechtsform nach dem oben skiz-zierten Muster erfolgt und das Arbeitseinkommen denKapitalgebern unmittelbar zur Besteuerung zugerechnetwird.

Die Erfassung von Arbeitseinkommen bei Kapitalgeberneiner Kapitalgesellschaft erst im Zeitpunkt der Aus-schüttung führt zu Liquiditätsvorteilen gegenüber ab-hängig Beschäftigten, die das Arbeitseinkommen im Zu-flusszeitpunkt versteuern müssen. Vergleichbare Vorteilegenießen auch Kapitalgeber von Personengesellschaften,falls nicht entnommene Gewinne einer niedrig besteuer-ten Rücklage zugeführt werden können. Das sichertzwar Rechtsformneutralität im Hinblick auf die steuerli-che Behandlung kalkulatorischer Unternehmerlöhne,führt aber zu Benachteiligungen von abhängig Beschäf-tigten. Letztlich wird mit derartigen Regelungen derPraktikabilität der Besteuerung Rechnung getragen.

594. Festzuhalten ist, dass die Aufteilung des Gesamt-einkommens bei personenbezogenen Unternehmen inseine beiden Komponenten Arbeits- und Kapitaleinkom-men zu Abgrenzungsproblemen führt, die nur pragma-tisch zu lösen sind. Eng begrenzte Verletzungen derNeutralität und Gleichmäßigkeit der Besteuerung sinddabei hinzunehmen. Diese Probleme sollten jedoch nichtüberbewertet werden. Eine umfassend gerechte und neu-trale Besteuerung ist auch innerhalb der synthetischenEinkommensteuer nicht gewährleistet. Sie scheitert re-gelmäßig an der Unmöglichkeit, den Kapitalgebernsämtliche Einkünfte, die in gesellschaftsrechtlich gebun-denen Einheiten erzielt werden, in materieller und zeitli-cher Hinsicht exakt zuzurechnen. Man ist auch hier aufKonventionen angewiesen. Die Schwierigkeiten der ob-jektiven Abgrenzung der Einkünfte und ihrer subjekti-ven Zurechnung treten bei der dualen Einkommensteuernur an einer Stelle auf, nämlich bei der Aufteilung derGewinne von Personenunternehmen in Kapitaleinkom-men und Arbeitseinkommen. Infolge der kongruenten,proportionalen Besteuerung des Kapitaleinkommenswerden andererseits zahlreiche Abgrenzungs- und Zu-rechnungsprobleme vermieden, die bei einer syntheti-schen Einkommensteuer regelmäßig auftreten. Dies wirdbeispielsweise durch die umfassende Rechtsprechung zuverdeckten Gewinnausschüttungen und verdeckten Ein-lagen in Deutschland oder die Regelungen für die Zu-ordnung gemischt-genutzter Wirtschaftsgüter zum Be-triebs- oder zum Privatvermögen hinreichend belegt. DieSchwierigkeiten der Aufteilung unternehmerischer Ein-künfte in personenbezogenen Unternehmen sind nichtneu. Sie stellen sich in Deutschland in vergleichbarerWeise bei Familiengesellschaften. Dort wurden prag-matische, wenngleich nur zum Teil konsensfähige Lö-sungen gefunden. Schließlich fließen in die Gewinnauf-teilung bei der dualen Einkommensteuer mit denGehältern sowie Pensionsleistungen an Gesellschafter-Geschäftsführer Sachverhalte ein, die auch innerhalb der

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synthetischen Einkommensteuer nicht wirklich sachge-recht und vor allem rechtsformneutral abgegrenzt wer-den können.

Eine Patentlösung zur Vermeidung von Abgrenzungs-und Zuordnungsproblemen existiert nicht. Die Steuerpo-litik in Deutschland kann aber auf umfassende prakti-sche Erfahrungen in den nordischen Staaten zurückgrei-fen, sofern sie sich für eine duale Einkommensteuerentscheidet. Dabei gilt es, allerdings anders als in dennordischen Staaten, die Tarifspreizungen zwischen demArbeitseinkommen und dem Kapitaleinkommen so ge-ring wie möglich zu halten, um das Aufteilungsproblemzu entschärfen. Dies dürfte gewährleistet sein, wenn dieDifferenz zwischen dem Spitzensatz der Steuer auf Ar-beitseinkommen und dem Kapitaleinkommensteuersatznicht viel mehr als 5 Prozentpunkte beträgt. Ein Kapi-taleinkommensteuersatz von 30 vH und ein Spitzensatzder Steuer auf Arbeitseinkommen von 35 vH würden einleistungsfreundliches und international wettbewerbs-fähiges Steuersystem gewährleisten; bei entsprechendprogressivem Tarif der Steuer auf Arbeitseinkommenwürde überdies auch das steuerliche Umverteilungszielerfüllt.

Verlustverrechnung und Berücksichtigung persönlicher Entlastungen

595. Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen kön-nen getrennt oder zusammengefasst besteuert werden.Eine getrennte Veranlagung ist administrativ am ein-fachsten, kann aber zu Problemen bei der Zuordnungvon persönlichen Abzugsbeträgen auf die Einkunftsartenführen. Im Fall einer getrennten Besteuerung unterliegtdas Kapitaleinkommen im Grundsatz ohne jede Ermäßi-gung dem proportionalen Steuersatz. Ein Grundfreibe-trag und sonstige persönliche Entlastungsbeträge werdenausschließlich dem Arbeitseinkommen zugerechnet.Eine konsequent getrennte Besteuerung beider Einkom-mensarten sichert zum einen die Neutralitätseigenschaf-ten einer dualen Einkommensteuer im Hinblick aufInvestitionen, Finanzierungsformen und Unternehmens-rechtsformen, da Verzerrungen der Kapitaleinkommens-besteuerung durch einen indirekt progressiven Tarifvermieden werden. Zum anderen werden die Steuererhe-bung vereinfacht und die Finanzverwaltung entlastet.Denkbar ist es in diesem Fall, die Steuer auf bestimmteKapitalerträge in Form einer Abgeltungssteuer in Höhedes Satzes der Kapitaleinkommensteuer zu erheben.Eine Abgeltungssteuer auf Zinseinkünfte fügt sich alsoideal in eine duale Einkommensteuer ein. Auch auf eineseparate Besteuerung von Dividenden und Gewinnenaus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesell-schaften kann verzichtet werden, wenn die Sätze derKörperschaftsteuer und der Kapitaleinkommensteueridentisch sind. Eine Veranlagung bei Vermietungs- undVerpachtungseinkünften wird hingegen erforderlichsein, da die steuerpflichtigen Erträge um Aufwendungenwie Abschreibungen zu mindern sind. Der Verzicht aufeine Veranlagung bestimmter Kapitaleinkommen wie

Zinsen und Dividenden schließt eine Steuerentlastungvon Abzugsbeträgen wie beispielsweise Refinanzie-rungszinsen oder auch Depotgebühren keineswegs aus.Da die Steuerersparnis infolge des proportionalen Steu-ersatzes für Kapitaleinkommen objektiv feststeht, kannder Entlastungsbetrag auch als (erstattungsfähige) Steu-ergutschrift durch Multiplikation mit dem entsprechen-den Steuersatz bestimmt werden.

596. Grundsätzlich sind aber auch bei getrennter Be-steuerung im Rahmen der dualen Einkommensteuer einVerlustausgleich über die Einkunftsarten hinweg sowiedie Berücksichtigung persönlicher Entlastungsbeträgeauch bei den Kapitaleinkommen möglich. Ein Ver-lustausgleich zwischen beiden Einkommensarten könnteerfolgen, indem für negatives Kapitaleinkommen eineSteuergutschrift in Höhe des Produkts aus Steuersatz fürKapitaleinkommen und des Verlusts gewährt wird, diemit der Steuerschuld auf das Arbeitseinkommen verre-chenbar ist. Nicht genutzte Steuergutschriften könnenanalog zu Verlusten in künftige Jahre vorgetragen wer-den. Auch könnte etwa ein Grundfreibetrag bei Kapi-taleinkommen berücksichtigt werden, indem dieser mitdem Steuersatz für Kapitaleinkommen multipliziert undin Höhe des sich daraus ergebenden Betrags als Steuer-gutschrift gewährt wird.

597. Die beschriebenen Zuordnungsprobleme von per-sönlichen Abzugsbeträgen auf die Einkunftsarten lassensich durch eine Zusammenfassung von Kapitaleinkom-men und Arbeitseinkommen zu einem Gesamteinkommenweitgehend vermeiden. Allerdings erfordert dies, dassder Eingangssteuersatz für Arbeitseinkommen dem Steu-ersatz für Kapitaleinkommen entspricht. Der Spitzen-steuersatz der progressiven Steuer auf Arbeitsein-kommen würde dann entsprechend weit über demKapitaleinkommensteuersatz liegen. In diesem Fall kanndas zusammengefasste Einkommen zunächst mit demSteuersatz für Kapitaleinkommen beziehungsweise demidentischen Eingangssteuersatz der Steuer auf Arbeits-einkommen belastet werden. Nur das die Eingangsstufedes Einkommensteuertarifs übersteigende Arbeitsein-kommen wird anschließend progressiv besteuert. Aufdiese Weise ist sowohl ein Ausgleich von Verlusten ausKapitaleinkommen mit positivem Arbeitseinkommen alsauch eine Entlastung beider Einkunftsarten durch per-sönliche Abzugsbeträge problemlos zu administrieren.

598. Festzuhalten ist, dass die duale Einkommen-steuer nicht notwendigerweise eine reine Schedulen-steuer ist, die zu einer abschließenden Besteuerung vonKapitaleinkommen und Gewinnen in Kapitalgesell-schaften führt. Auch bei getrennter Besteuerung vonArbeits- und Kapitaleinkommen können beide Ein-kunftsarten im Hinblick auf den Ausgleich von Verlus-ten sowie die Zuordnung von Abzugsbeträgen wie demGrundfreibetrag miteinander verknüpft werden. Die Be-rücksichtigung weiterer persönlicher Abzüge wie etwaKinderfreibeträge ist bei Zusammenfassung zu einemGesamteinkommen ohne weiteres möglich, wenn derEingangssteuersatz der progressiven Steuer auf Arbeits-einkommen und der Steuersatz auf Kapitaleinkommen

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übereinstimmen. Je nach Ausgestaltung der Verlustver-rechnungsmöglichkeiten und der Berücksichtigung per-sönlicher Abzugsbeträge können die strikten Neutrali-tätseigenschaften sowie das Ausmaß der Vereinfachungbei der Steuererhebung und Steuerverwaltung aller-dings aufgeweicht werden.

Die duale Einkommensteuer ist also hinreichend flexi-bel, um die Einhaltung des Nettoprinzips und die Be-rücksichtigung persönlicher Verhältnisse auch im Rah-men der Unternehmensbesteuerung zu gewährleisten.Auf einem anderen Blatt steht, dass dabei zwischenSteuervereinfachung und Herstellung von Steuergerech-tigkeit durch Abzug persönlicher Entlastungen abzuwä-gen ist. Einfache Steuern sind nicht unbedingt gerechteSteuern.

Vereinbarkeit mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip

599. Die niedrigere Besteuerung des Kapitaleinkom-mens im Vergleich zum Arbeitseinkommen wirft dieFrage auf, ob eine duale Einkommensteuer mit dem Pos-tulat der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (horizontaleGerechtigkeit) in Einklang steht. Die Antwort fällt nega-tiv aus, wenn auf das in einer Periode erzielte Einkom-men als Maßgröße steuerlicher Leistungsfähigkeit abge-stellt wird. Bei einer dualen Einkommensteuerunterliegen Steuerpflichtige offensichtlich einer unter-schiedlichen periodischen Steuerbelastung, je nachdem,ob sie Arbeits- oder Kapitaleinkommen beziehen. ZurRechtfertigung dieser Unterscheidung lassen sich aller-dings durchaus einige Argumente anführen, die jedochnicht ganz einfach zu vermitteln sein dürften.

600. Unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeitstützt sich die Begründung für einen niedrigeren Steuer-satz auf Kapitaleinkommen auf eine mehrperiodischeSichtweise. Danach diskriminiert die Besteuerung vonKapitaleinkommen – insbesondere von Zinsen – Steuer-pflichtige, die bei gleichem Lebenseinkommen eine hö-here Präferenz für Zukunftskonsum haben. Wer vielspart, wird steuerlich bestraft, indem er trotz identischenLebenseinkommens höhere Steuern zu zahlen hat. Nied-rigere Steuersätze auf Kapitaleinkommen reduzierendiese unterschiedlichen Steuerbelastungen.

Der Zusammenhang zwischen dem Leistungsfähigkeits-prinzip und den verschiedenen Formen der Einkom-mensbesteuerung soll anhand eines einfachen Beispielsverdeutlicht werden (Tabelle 61, Seite 340). Betrachtetwerden zwei Personen, X und Y, deren Lebenszyklus inzwei gleich lange Perioden unterteilt ist. Von diesen Per-sonen bezieht in jeder Periode ein Lohneinkommen von2 000 Euro, das generell einem Steuersatz von 50 vH un-terliegt. Die beiden Personen unterscheiden sich aus-schließlich im Hinblick auf ihre intertemporalen Kon-sumpräferenzen: Während Person X überhaupt nichtspart, spart Y in der ersten Periode sein gesamtes Netto-lohneinkommen, das in der zweiten Periode aufgelöstwird. Diese extreme Annahme wird nur zur Illustrationgetroffen. Bei einem Bruttozinssatz von 10 vH bezieht

Person Y in Periode 2 ein Zinseinkommen von 100 Euro.Dies ist die Ausgangssituation für die im unteren Teil derTabelle betrachteten Steuerszenarien. Man beachte, dassdie jährlichen Einkommen der beiden Personen unter-schiedlich sind. Die Lebenseinkommen vor Steuern sindhingegen identisch und betragen als Barwert bei beidenPersonen 3 818,18 Euro.

Bei einer synthetischen Einkommensbesteuerung unter-liegen auch die Zinseinkünfte einem Steuersatz von50 vH; die Nettozinseinkünfte von Y belaufen sich dannauf 50 Euro und sein Konsum in der zweiten Periode auf2 050 Euro. Der Barwert der gesamten Steuerzahlungen– berechnet zum Nettozinssatz von 5 vH – beträgt fürPerson X dann 1 952,40 Euro, für Y hingegen2 000 Euro. Die unterschiedliche Steuerbelastung ent-spricht einer am Jahreseinkommen orientierten Leis-tungsfähigkeit. Personen mit einer Zukunftspräferenzwerden dann allerdings steuerlich bestraft. Würde dasLeistungsfähigkeitsprinzip hingegen am Lebenseinkom-men festmachen, wäre die synthetische Einkommen-steuer insofern ungerecht, als gleiche Sachverhalte(hier: gleiche Lebenseinkommen) unterschiedlich be-steuert werden.

Bei einer zinsbereinigten Einkommensteuer werdenZinseinkünfte nicht besteuert. In diesem Fall ist der Bar-wert der Steuerbelastung gleich groß – wobei ein demals unverändert angenommenen Marktzins entsprechen-der Diskontsatz unterstellt wurde. Die Steuerbelastungist jetzt unabhängig von den subjektiven intertemporalenPräferenzen. Bei einem am Lebenseinkommen festma-chenden Leistungsfähigkeitsprinzip wäre die zinsberei-nigte Einkommensteuer als gerecht einzustufen.

A priori ist offen, ob das jährliche Einkommen oder dasLebenseinkommen den besseren Indikator für die steuer-liche Leistungsfähigkeit eines Individuums darstellt. Inder steuerpolitischen Realität wird man allerdings wegender fehlenden Möglichkeit der Besteuerung desLebenseinkommens, aber auch aus Gründen der konti-nuierlichen fiskalischen Ergiebigkeit am Prinzip der Pe-riodenbesteuerung festhalten müssen. Die duale Ein-kommensteuer kann dann als Kompromiss zwischen denbeiden Interpretationen des Leistungsfähigkeitsprinzipsangesehen werden.

601. Die Tarifspreizung zwischen Arbeits- und Kapi-taleinkommen könnte auch gerechtfertigt werden, wennman sie als Korrektiv zum Ausgleich von Besteuerungs-unterschieden interpretiert, die aus den unterschiedli-chen Ermittlungsmethoden für beide Einkommensartenresultieren. Während für Arbeitseinkommen das Zu-flussprinzip beziehungsweise eine Cashflow-Rechnunggilt, werden Kapitaleinkommen auf Basis eines Vermö-gensvergleichs ermittelt. Durch die Möglichkeit einessofortigen Abzugs von Ausgaben werden Investitionenin Humankapital – zum Beispiel Fortbildungsmaßnah-men – somit gegenüber Finanz- und Sachinvestitionensubventioniert, bei denen die damit verbundenen Ausga-ben regelmäßig aktivierungspflichtig sind. Im Vergleichzu Investitionen in Humankapital steht deshalb nur ein

339

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Die Politikbereiche im Einzelnen

um Steuern verminderter Investitionsbetrag zur Verfü-gung. Allerdings kann eine Belastungsgleichheit zwi-schen Sachinvestitionen und Investitionen in Humanka-pital durch Tarifdifferenzierung immer nur grobtypisierend gewährleistet werden. Zudem erfordert eineVerwirklichung von Belastungsgleichheit zwischen Fi-nanzinvestitionen und Investitionen in Humankapital,dass Ausgaben für Finanzinvestitionen ebenso wie Aus-gaben für Investitionen in Humankapital steuerlich voll-umfänglich abzugsfähig sind, was im Ergebnis auf einezins- oder sparbereinigte Einkommensteuer hinausläuft,die Zinserträge steuerfrei stellt. Aus diesen Gründenexistiert kein einheitlicher Steuersatz für Kapitaleinkom-men, der alle Besteuerungsunterschiede zwischen Inves-titionen in Finanz-, Sach- und Humankapital ausgleichenkann. Gleichwohl trägt das Argument, dass eine niedri-gere Besteuerung von Kapitaleinkommen tendenziell als

Ausgleich für die durch die unterschiedlichen Methodender Einkünfteermittlung verursachten Belastungsunter-schiede interpretiert werden kann. Zusammenfassendgilt, dass auch unter dem Gesichtspunkt der horizontalenGleichbelastung der Einkunftsarten durchaus Argumentefür eine Tarifspreizung angeführt werden können. Aller-dings werden diese Argumente der Öffentlichkeit nichtganz einfach zu vermitteln sein.

Zusammenfassende Bewertung

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine duale Ein-kommensteuer die Möglichkeit eröffnet, die Steuerbe-lastung der Unternehmen rechtsformübergreifend durcheine Reduzierung der tariflichen Steuersätze auf ein in-ternational wettbewerbsfähiges Niveau abzusenken. DieGleichbehandlung und proportionale Besteuerung unter-

Ta b e l l e 61

Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit:Jahreseinkommen gegenüber Lebenseinkommen

Euro

Person X Person Y

Periode 1 Periode 2 Periode 1 Periode 2

Ausgangssituation

Lohneinkommen ............................... 2 000 2 000 2 000 2 000 Lohnsteuer (50 vH) ........................... 1 000 1 000 1 000 1 000 Ersparnisse ........................................ 0 0 1 000 -1 000 Zinseinkünfte vor Steuern

(Zinssatz 10 vH) ............................. 0 0 0 100 Lebenseinkommen (Barwert) ............ 3 818,18 3 818,18

Synthetische Einkommensteuer

Steuern auf Zinseinkünfte ................. 0 0 0 50 Konsum ............................................. 1 000 1 000 0 2 050 Barwert der

gesamten Steuerzahlung ................. 1 952,40 2 000,00

Zinsbereinigte Einkommensteuer

Steuern auf Zinseinkünfte ................. 0 0 0 0 Konsum ............................................. 1 000 1 000 1 000 2 100 Barwert der

gesamten Steuerzahlung ................. 1 909,10 1 909,10

Duale Einkommensteuer (Steuersatz auf Zinseinkommen: 25 vH)

Steuern auf Zinseinkünfte ................. 0 0 0 25 Konsum ............................................. 1 000 1 000 0 2 075 Barwert der

gesamten Steuerzahlung ................. 1 930,23 1 953,49

340

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

schiedlicher Bestandteile des Kapitaleinkommens ver-bessert im Vergleich zu einer am Leitbild der syntheti-schen Einkommensteuer ausgerichteten Besteuerunggleichzeitig die Neutralität des Steuersystems im Hin-blick auf Investitionen, Finanzierungsentscheidungenund die Wahl der Unternehmensrechtsform. Darüber hi-naus werden aufgrund der durchgängig proportionalenBesteuerung des Kapitaleinkommens zahlreiche Ab-grenzungsprobleme bei der zeitlichen, sachlichen undpersönlichen Zuordnung von Einnahmen und Ausgabenvermieden. Darin liegt ein wesentlicher Beitrag zurSteuervereinfachung, der auch die Steuererhebung unddie Steuerverwaltung erleichtert und somit steuerlicheBefolgungskosten (Compliance Costs) abbaut. Durchdie Abkoppelung und niedrige Besteuerung des Kapi-taleinkommens vom Arbeitseinkommen erhöht sichschließlich die Effizienz des Steuersystems im internati-onalen Steuerwettbewerb um mobile Faktoren. Auf-grund der unterschiedlichen Besteuerung des Kapitalein-kommens und des Arbeitseinkommens sind allerdingsadministrative Schwierigkeiten bei der Gewinnauftei-lung von personenbezogenen Unternehmen nicht vonder Hand zu weisen. Man sollte diese Sachverhalte ausdeutscher Sicht allerdings nicht überbewerten, insbeson-dere dann nicht, wenn man den gegenwärtigen Stand desEinkommen- und Körperschaftsteuerrechts als Ver-gleichsmaßstab zugrunde legt. Der Anreiz zur Umquali-fikation von Arbeitseinkommen in Gewinne lässt sichbegrenzen, wenn die Tarifspreizung zwischen dem Spit-zensatz der Steuer auf Arbeitseinkommen und dem Ka-pitaleinkommensteuersatz nicht zu groß ausfällt. Da-rüber muss letztlich der Gesetzgeber, auch unterBerücksichtigung von Reformen in den Systemen derSozialen Sicherung entscheiden. Man kann aber davonausgehen, dass Ausweichhandlungen bei einer Steuer-satzdifferenz von etwa 5 Prozentpunkten nur in engenGrenzen auftreten.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Übergang zueiner dualen Einkommensteuer dürften nach Würdigungaller Umstände nicht bestehen (Ziffern 614 ff.).

Vergleich der Steuerreformoptionen des Sachverständigenrates mit dem „Karlsruher Entwurf“

602. Mit den Steuerreformoptionen I und II stellt derSachverständigenrat zwei Alternativen zur zukünftigenGestaltung der deutschen Einkommens- und Unterneh-mensbesteuerung zur Diskussion. Beide Reformmodellekonkurrieren wiederum mit einer Vielzahl von anderen,mehr oder weniger weit reichenden Entwürfen zur Re-form des deutschen Steuersystems. Die Politik könntealso, wenn sie denn wollte, aus einer breiten Palette un-terschiedlicher Reformentwürfe auswählen. Dazu müs-sen die Unterschiede der Alternativkonzepte herausgear-beitet und ihre Vor- und Nachteile sorgfältig abgewogenwerden. Der (fortentwickelte) „Karlsruher Entwurf“ istder wohl prominenteste und auch wichtigste Vorschlagin der aktuellen Debatte zur Reform der Einkommens-und Unternehmensbesteuerung in Deutschland. Ein Ver-gleich mit den Vorschlägen des Sachverständigenrateszeigt, dass es viele Gemeinsamkeiten, aber auch einigeUnterschiede gibt.

Der „Karlsruher Entwurf“ zur Reform der Einkommensteuer

603. Der „Karlsruher Entwurf“ (KE) wurde von einerGruppe von Steuerwissenschaftlern und Steuerprakti-kern um den ehemaligen Bundesverfassungsrichter PaulKirchhof erarbeitet und im Jahr 2001 der Öffentlichkeitvorgestellt. Er wurde zwischenzeitlich von der „For-schungsgruppe Bundessteuergesetzbuch“ im Hinblickauf eine Integration der Körperschaftsteuer fortentwi-ckelt (Kasten 14). Der Vorschlag enthält eine grundle-gend vereinfachte, von Ausnahmetatbeständen sehrweitgehend bereinigte Einkommensteuer, die eine mate-riell gleiche Belastung aller Einkommensteuerpflichti-gen gewährleisten soll und sich durch eine maßvolle Be-steuerung mittels eines linear-progressiven Tarifsauszeichnet.

K a s t e n 14

Elemente des Karlsruher Entwurfs

Eine Einkunftsart (§ 2 KE):

Die bisherigen sieben Einkunftsarten werden auf einen einzigen Grundtatbestand, die Einkünfte aus Erwerbshan-deln, reduziert. Gegenstand der Besteuerung ist dabei jedes nachhaltige Verhalten, das geeignet ist, Überschüsseoder Gewinne zu erzielen. Der Verzicht auf eine Differenzierung zwischen den Gewinn- und den Überschussein-kunftsarten und damit die formale Aufhebung des Einkünftedualismus haben zur Folge, dass der Besteuerung ne-ben den laufenden Einkünften auch Einkünfte aus der Veräußerung von Vermögen unterliegen. Von der generellenBesteuerung privater Veräußerungsgewinne sind nur die Veräußerung des Eigenheims sowie einmalige Veräuße-rungen ausgenommen, die kein erwerbswirtschaftliches Handeln begründen.

341

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Bemessungsgrundlage (§§ 3 bis 5 KE):

Der Besteuerung unterliegen gemäß dem Nettoprinzip die Erwerbseinnahmen abzüglich der Erwerbsausgaben(§ 3 KE). Steuerbefreit sind nur staatliche Sozialleistungen sowie Leistungen aus bestimmten Kranken- und Pfle-geversicherungen (§ 4 KE); besondere Freibeträge wie zum Beispiel der Sparerfreibetrag entfallen. Die Abzieh-barkeit der Erwerbsausgaben folgt dem Veranlassungsprinzip. Nur jene Ausgaben, die durch erwerbswirtschaftli-ches Handeln veranlasst sind, mindern die Bemessungsgrundlage. Spezielle Pauschbeträge wie eineBerücksichtigung der Kilometerpauschale für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sind nicht vorgesehen.Die notwendige Abgrenzung zwischen Erwerbs- und Privatsphäre bleibt einer Rechtsverordnung überlassen, nor-miert ist wie bisher die Nichtabzugsfähigkeit bestimmter Ausgaben, wie Aufwendungen für die Lebensführungund für private Geschenke, sowie von Steuern vom Einkommen und vom Umsatz und darüber hinaus Spenden anpolitische Parteien (§ 5 KE). Generell gilt jedoch ein allgemeines Abzugsverbot für Ausgaben und Aufwendun-gen, die neben Erwerbszwecken auch private Zwecke verfolgen. Aus Vereinfachungsgründen soll pro Jahr einPauschbetrag von 2 000 Euro für Erwerbsausgaben gewährt werden.

Einkünfteermittlung und Gewinnermittlung (§§ 3, 7, 10 bis 13 KE):

Die Reduzierung der steuerbaren Tatbestände auf eine Einkunftsart mit dem Ziel einer materiell gleichen Belas-tung aller Steuerpflichtigen erfordert eine objektivierte Ermittlung der Einkünfte. Besteht eine gesetzliche Ver-pflichtung zum Führen von Büchern, bleibt es bei der Gewinnermittlung durch Vermögensvergleich als Technikder Einkünfteermittlung (§ 3 Abs. 3 KE). Die steuerliche Gewinnermittlung basiert wie bisher auf dem handels-rechtlichen Abschluss (§ 10 KE), wobei in Abhängigkeit der internationalen Entwicklungen auch eine Anknüp-fung an die International Accounting Standards denkbar ist. Zur formalen Gleichstellung mit Steuerpflichtigen,die keinen Vermögensvergleich durchführen, wird die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz allerdings durch zahlrei-che objektivierende steuerliche Sondervorschriften durchbrochen. Zentrale Wertmaßstäbe bilden die Anschaf-fungs- und Herstellungskosten, die um planmäßige Abschreibungen oder um Abschreibungen zur Berücksichti-gung außergewöhnlicher technischer Abnutzungen zu vermindern sind (§ 12 KE). Die planmäßige Abschreibung(§ 7 KE) orientiert sich an der tatsächlichen Nutzungsdauer sowie an der linearen Methode. Bei Gebäuden ist dieNutzungsdauer auf 50 Jahre festgeschrieben. Rückstellungen dürfen nur für ungewisse Verbindlichkeiten gebildetwerden (§ 11 Abs. 3 KE), unverzinsliche oder niedrig verzinsliche Forderungen, Verbindlichkeiten und Rückstel-lungen sind mit 6 % abzuzinsen (§ 12 Abs. 3 KE). Rechnungsabgrenzungsposten sind steuerlich generell nicht zuberücksichtigen (§ 11 Abs. 2 KE). Auch Teilwertabschreibungen sowie Drohverlustrückstellungen sind nicht zu-lässig, so dass das Imparitätsprinzip steuerlich nicht anerkannt wird. Schließlich sind auch für die steuerpflichti-gen Veräußerungsgewinne keine Entlastungen vorgesehen. Der Veräußerungsgewinn ergibt sich stets als Differenzzwischen dem Veräußerungspreis und den fortgeführten Anschaffungs- oder Herstellungskosten (§ 13 KE).

Leistungen zur Zukunftssicherung und Altersbezüge (§ 9 KE):

Für die steuerliche Behandlung von Leistungen zur Zukunftssicherung und davon abhängiger Altersbezüge siehtder Karlsruher Entwurf Sonderregelungen vor, sofern es sich um persönliche, nicht vererbbare Ansprüche handelt.Es gilt durchgängig das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung, das heißt, Beiträge zum Erwerb von Versor-gungsansprüchen gelten in voller Höhe als Erwerbsausgaben, die später daraus fließenden Altersbezüge sind vollzu versteuern.

Verlustabzug (§ 8 KE):

Der Vortrag von Verlusten ist auf unbegrenzte Zeit möglich, der Verlustvortrag soll allerdings auf die Erwerbs-grundlage beschränkt werden, in der der Verlust entstanden ist. Offen bleibt, wie diese Erwerbsgrundlage festzu-stellen ist. Ein Verlustrücktrag ist generell ausgeschlossen.

Abzug persönlicher Aufwendungen: Grundfreibetrag, Sozialausgleichsbeträge, Vereinfachungsfreibetrag (§ 14 KE):

Ein Abzug von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen ist nicht vorgesehen. Stattdessen werdenAufwendungen zur Sicherung des gesamten persönlichen Lebensbedarfs, die Vorsorgeaufwendungen wie Beiträgezur Krankenversicherung einschließen, durch einen Grundfreibetrag in Höhe von 8 000 Euro berücksichtigt.Hinzu kommen Sozialausgleichsbeträge und ein Vereinfachungsfreibetrag, deren Höhe noch nicht feststeht.

Die Politikbereiche im Einzelnen

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Page 369: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Steuertarif (§ 16 KE):

Der Einkommensteuertarif ist progressiv. Der Eingangssteuersatz für das bei natürlichen Personen um den Grund-freibetrag geminderte Einkommen liegt bei 15 vH und umfasst die ersten 5 000 Euro. Der Steuersatz für dienächsten 5 000 Euro beträgt 20 vH. Für ein steuerpflichtiges Einkommen ab 10 001 Euro liegt der Steuersatz bei25 vH.

Besteuerung von Unternehmen (§ 15 EStG):

Der Karlsruher Entwurf handelt zwar ausschließlich vom Einkommensteuergesetz, er ist aber darauf angelegt, dieKörperschaftsteuer in die Einkommensteuer zu integrieren. Deshalb muss der Körperschaftsteuersatz dem Spit-zensatz der Einkommensteuer entsprechen. Die Gewerbesteuer soll entfallen. Stattdessen sollen die Gemeindenermächtigt werden, Hebesätze für den Gemeindeanteil am Aufkommen der Einkommensteuer festzusetzen. Diesentspricht im Wesentlichen dem Vorschlag des BDI/VCI für eine kommunale Einkommen- und Gewinnsteuer. An-gestrebt wird eine rechtsformneutrale Besteuerung, die prinzipiell dadurch erreicht werden soll, dass Unternehmenungeachtet ihrer Rechtsform wie Erwerbsgemeinschaften als Zurechnungssubjekt, aber auch als Steuersubjekt be-handelt werden.

Weiterführende Überlegungen zur Reform gen, die eine Berücksichtigung persönlicher Aufwen-

der Unternehmensbesteuerung

604. Ertragsteuersubjekte sind neben natürlichen Per-sonen „steuerjuristische Personen“. Im Hinblick auf dieUnternehmensbesteuerung wird damit die derzeitigeGrenzziehung zwischen den Rechtsformen aufgegeben;alle Unternehmen werden als „steuerjuristische Perso-nen“ behandelt, gleichgültig, ob es sich um Kapitalge-sellschaften, Personengesellschaften oder Einzelunter-nehmen handelt. Die erzielten Einkünfte sollen aufEbene der „steuerjuristischen Person“ unter Berücksich-tigung der persönlichen Verhältnisse der Beteiligten(Kapitalgeber) einer abschließenden und definitiven Be-steuerung unterliegen. Eine besondere Besteuerung derAusschüttungen oder der Entnahmen kann deshalb ent-fallen.

Die Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihrenKapitalgebern folgt damit konzeptionell dem Dividen-denfreistellungsverfahren; Personengesellschaften undEinzelunternehmer bilden bereits heute selbständige Ge-winnermittlungseinheiten. Da einheitliche Grundsätzefür die Ermittlung und Besteuerung der Einkünfte gel-ten, ist es für die Höhe der Steuerbelastung prinzipiellunerheblich, ob der von der „steuerjuristischen Person“erwirtschaftete Ertrag den Beteiligten über Ausschüttun-gen oder über schuldrechtliche Verträge, beispielsweiseeinen Geschäftsführervertrag, vermittelt und somit un-mittelbar bei den Beteiligten erfasst wird. In beiden Fäl-len ergibt sich eine identische Gesamtsteuerbelastung, sodass insbesondere auch bei Einzelunternehmen keineNotwendigkeit besteht, der Besteuerung fiktive Ver-tragsbeziehungen zugrunde zu legen. Dies setzt aller-dings Gesetzesänderungen voraus, welche die steuer-liche Neutralität von Gesellschaft-Gesellschafter-Verträgen beispielsweise im Zusammenhang mit Pensi-onszusagen sicherstellen.

605. Aufgrund der abschließenden Besteuerung „steu-erjuristischer Personen“ bedarf es besonderer Regelun-

dungen der Beteiligten ermöglichen. Zur Abgeltungpersönlicher Aufwendungen sieht der Karlsruher Ent-wurf mit dem Grundfreibetrag, den Sozialausgleichsbe-trägen und dem Vereinfachungsfreibetrag verschiedeneAbzugsbeträge vor (§ 14 KE). Diese Beträge sollengrundsätzlich ohne personenbezogene Veranlagung ge-währt werden, so dass der Steuerpflichtige selbst ent-scheiden kann, bei welchem Steuersubjekt welche Be-träge abgezogen werden sollen. Ein mehrfacher Abzugsoll durch ein besonderes Kontrollverfahren der Finanz-verwaltung (Meldedatei) unterbunden werden. Im Fallder Zuordnung zu „steuerjuristischen Personen“ sollendie Beträge bei der Besteuerung des Gewinns berück-sichtigt werden, soweit er für die Bestreitung des per-sönlichen Bedarfs verwendet wird, also bei Ausschüt-tungen beziehungsweise Entnahmen.

606. Im Hinblick auf das Ziel, eine rechtsformneutraleBesteuerung zu erreichen, sind die Vorschläge des Karls-ruher Entwurfs grundsätzlich zieladäquat. Der vorgese-hene Mechanismus einer individuellen Zuordnungpersonenbezogener Abzugsbeträge auf verschiedeneSteuersubjekte gewährleistet prinzipiell eine rechtsform-unabhängige Berücksichtigung persönlicher Merkmaleder Beteiligten bei der Unternehmensbesteuerung. DieSteuerbefreiung von Ausschüttungen beziehungsweiseGewinnentnahmen zur Integration der Unternehmens-steuern in die Einkommensteuer ist folgerichtig.

Eine individuelle Zuordnung personenbezogener Ab-zugsbeträge auch zu Kapitalgesellschaften vermindertNachteile gegenüber Personenunternehmen, die entste-hen, sofern der Einkommensteuersatz infolge der Pro-gression unter dem Satz der Körperschaftsteuer liegt. Ei-ner generellen Beseitigung dieser Nachteile und darausresultierender Verzerrungen steht jedoch zum einen derprogressive Einkommensteuertarif entgegen. Zum ande-ren tritt eine Entlastung nur in Bezug auf Ausschüttun-gen ein, so dass Nachteile von Kapitalgesellschaften imThesaurierungsfall bestehen bleiben. Technisch gesehen

Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

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Page 370: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

wird man Dividenden trotz Freistellung weiterhin imRahmen einer Veranlagung berücksichtigen müssen, umdie Entlastung herbeizuführen. Diese entspräche danndem Produkt aus dem anteilig zugeordneten persönli-chen Abzugsbetrag und dem Satz der Körperschaft-steuer. Wiederum erweist sich ein progressiver Einkom-mensteuersatz als störend, da die Steuerentlastung davonabhängig ist, ob der persönliche Abzugsbetrag einkom-mensteuerpflichtigen Einkünften oder mit Körperschaft-steuer vorbelasteten Dividenden zugeordnet wird.

607. Die vorgesehene abschließende Besteuerung derGewinne „steuerjuristischer Personen“ wird im Hinblickauf Erfolge aus der Veräußerung von Unternehmensan-teilen nicht konsequent umgesetzt. Da im Veräußerungs-preis neben den offenen und stillen Reserven auch eine„spekulative Hoffnung auf zukünftige Gewinne“ abge-golten werden soll, bleiben Veräußerungsgewinne nichtvollständig steuerfrei. Für die (spekulative) Ausnutzungkurzfristiger Wertschwankungen ist typisierend ein Ge-winn in Höhe von 10 vH des Veräußerungspreises steu-erpflichtig, woraus bei einem Steuersatz von 25 vH eineNominalbelastung in Höhe von 2,5 vH des Veräuße-rungspreises resultiert.

608. Im Hinblick auf grenzüberschreitende Investitio-nen werden ausdrücklich die EU-rechtlichen Rahmenbe-dingungen respektiert, so dass die Regelungen für dieBesteuerung nationaler Investitionen auch für grenzü-berschreitende Investitionen anzuwenden sind. Auslän-dische Unternehmensgewinne werden demnach im In-land freigestellt, es sei denn, die ausländische Steuerbeträgt weniger als die Hälfte der deutschen Steuer. Voneiner Hinzurechnungsbesteuerung wird allerdings abge-sehen, soweit Beteiligungserlöse aus einem Mitglied-staat der Europäischen Union oder des EuropäischenWirtschaftsraums bezogen werden. Insoweit wird zwardie EU-rechtliche Niederlassungsfreiheit respektiert; in-wieweit die Beschränkung der Freistellung auf die Euro-päische Union und den Europäischen Wirtschaftsraumauch der Kapitalverkehrsfreiheit genügt, ist jedoch frag-lich.

Der Karlsruher Entwurf im Vergleich mit den Reformoptionen des Sachverständigenrates

609. Im Hinblick auf die Gestaltung der steuerlichenBemessungsgrundlagen besteht zwischen dem Karlsru-her Entwurf und den beiden Steuerreformoptionen desSachverständigenrates eine nahezu vollständige Über-einstimmung. Der Besteuerung sollen neben den laufen-den Einkünften auch private Veräußerungsgewinne un-terliegen, was in dieser Hinsicht den Einkünftedualismusbeseitigt (Tabelle 62). Systemtragende Prinzipien derEinkommensermittlung bilden das Nettoprinzip sowiedas Veranlassungsprinzip hinsichtlich der Abzugsfähig-keit von Ausgaben. Dem Nettoprinzip wird auch imRahmen der Verlustverrechnung Genüge getan. Aller-dings soll der Verlustvortrag nach den Vorstellungen desKarlsruher Entwurfs nur innerhalb derjenigen Erwerbs-grundlage möglich sein, in der der Verlust entstanden ist.Trotz Schaffung einer einzigen Einkunftsart ist diese für

die Zwecke des Verlustvortrags in verschiedene Er-werbsgrundlagen aufzuteilen, womit die gegenwärtigenAbgrenzungsprobleme zwischen den Einkunftsartenweitgehend bestehen bleiben. Bei allen drei Reform-vorschlägen wird die Einkommensermittlung nichtvollständig vereinheitlicht, da bilanzierungspflichtigeUnternehmen ihren Gewinn weiterhin durch einen Ver-mögensvergleich ermitteln. Eine stärkere Normierungund Objektivierung der steuerlichen Gewinnermittlungträgt jedoch zu einer Annäherung des Ergebnisses desVermögensvergleichs an das Ergebnis der Überschuss-rechnung bei. Wichtige Bausteine zur Finanzierungniedriger Steuersätze sind im Bereich der Kapitalein-kommen somit übereinstimmend die Verbreiterung dersteuerlichen Bemessungsgrundlagen im privaten und imbetrieblichen Bereich.

610. Zur Einbettung der Unternehmensbesteuerung indie persönliche Einkommensteuer sind ebenfalls unab-hängig vom zugrunde liegenden Konzept mehrere,gleichlaufende Schritte erforderlich:

– Erstens ist es unabdingbar, die derzeitige Gewerbe-steuer abzuschaffen und vollständig in die Einkom-men- und Körperschaftsteuer zu integrieren.

– Zweitens sind die Steuersätze anzugleichen. ImKarlsruher Entwurf sind einheitliche Sätze für natür-liche und steuerjuristische Personen vorgesehen. Beider Steuerreformoption I des Sachverständigenrateswerden Körperschaftsteuersatz und Spitzensatz derprogressiven Einkommensteuer vereinheitlicht, beider dualen Einkommensteuer erfolgt eine Anglei-chung des Körperschaftsteuersatzes an den proportio-nalen Steuersatz für Kapitaleinkommen, der auch für(kapital-)einkommensteuerpflichtige Unternehmens-gewinne gilt.

– Durch die Angleichung der Steuersätze kann drittensauf eine einkommen- beziehungsweise körperschaft-steuerliche Erfassung der Ausschüttungen von Ka-pitalgesellschaften beim Kapitalgeber verzichtetwerden. Es gilt insoweit übereinstimmend ein Divi-dendenfreistellungsverfahren.

– Dementsprechend sind viertens auch Gewinne ausder Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaf-ten steuerfrei zu stellen. Der Karlsruher Entwurf folgtdieser Logik im Hinblick auf Veräußerungsgewinnenicht vollständig, da 10 vH des Veräußerungspreiseszur Abgeltung spekulativer Wertsteigerungen steuer-pflichtig sein sollen. Damit wird vom Prinzip derEinmalbesteuerung abgewichen. Dies verursachtnicht nur Verzerrungen, zu klären ist auch, wie Kas-kadeneffekte bei hintereinander geschalteten Veräu-ßerungen durch Kapitalgesellschaften vermiedenwerden sollen und wie Wertminderungen zu behan-deln sind.

– Die für nationale Investitionen geltenden Grundsätzesind fünftens zur Vermeidung EU-rechtlich unter-sagter Diskriminierungen auch für grenzüber-schreitende Investitionen anzuwenden, das heißt,

Die Politikbereiche im Einzelnen

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Ta b e l l e 62

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Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

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Ausschüttungen von ausländischen Kapitalgesell-schaften sowie Gewinne aus der Veräußerung vonentsprechenden Anteilen sind im Inland ebenfallsfreizustellen. Der Karlsruher Entwurf folgt diesemGedanken im Hinblick auf Beteiligungen in Mitglied-staaten der Europäischen Union und des Europäi-schen Wirtschaftsraums uneingeschränkt, sieht aberbei Beteiligungen in Drittstaaten eine Hinzurech-nungsbesteuerung vor, soweit das ausländische Steu-erniveau um mehr als die Hälfte unter dem deutschenliegt. Fraglich ist, ob die beabsichtigte Hinzurech-nungsbesteuerung im Verhältnis zu Drittstaaten einerEU-rechtlichen Überprüfung standhält, da der Schutz-bereich der Kapitalverkehrsfreiheit auch Transaktio-nen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten ein-schließt. Dem Prinzip der Einmalbesteuerung vonUnternehmensgewinnen widerspricht es nicht, Kos-ten für den Erwerb der Beteiligung (Beteiligungsauf-wendungen) beim Anteilseigner zum Abzug zuzulas-sen. Aus Praktikabilitätsgründen bietet sich imZusammenhang mit steuerfreien Auslandsgewinneneine pauschale Abzugsbeschränkung an. Der Karlsru-her Entwurf folgt diesen Überlegungen nicht undschließt Beteiligungsaufwendungen vom Abzug aus.

611. Eine vollständig rechtsformneutrale Besteuerungkann bei den beiden Steuerreformoptionen des Sachver-ständigenrates nicht erreicht werden. Bleibt es bei demin Deutschland akzeptierten Nebeneinander von Tren-nungsprinzip für Kapitalgesellschaften und Mitunter-nehmerkonzept für Personenunternehmen, sind vorallem die folgenden beiden Sachverhalte ausschlagge-bend: Zum einen können Verluste von Kapitalgesell-schaften jenseits gegebenenfalls modifizierter Organ-schaftsregelungen nicht auf die Kapitalgeber übertragenwerden. Zum anderen verbleiben Unterschiede zwischenden Rechtsformen im Hinblick auf die Besteuerung vonGewinnen und Verlusten aus der Veräußerung von Un-ternehmensanteilen. Gegenüber Gesellschaftern von Ka-

pitalgesellschaften erleiden Gesellschafter einer Perso-nengesellschaft im Fall von VeräußerungsgewinnenZins- und Liquiditätsnachteile, beim Vorliegen von Ver-äußerungsverlusten profitieren sie dagegen von der steu-erlichen Berücksichtigung des Verlusts.

Es ist fraglich, ob es dem Karlsruher Entwurf gelingt,diese Unterschiede durch entsprechende Vorschriften zubeseitigen. Letztlich liefe dies auf eine Teilhabersteuerhinaus, die auch die Verfasser des Karlsruher Entwurfsfür nicht praktikabel halten. Besteuerungsunterschiedeim Zusammenhang mit der Veräußerung von Unterneh-mensanteilen sollen durch eine generelle Steuerbefrei-ung von Gewinnen und Verlusten aus der Veräußerungvon Anteilen an steuerjuristische Personen vermiedenwerden. Folgerichtig wird deshalb bei Einzelunterneh-men und Anteilen an Personengesellschaften auf eineAufstockung der Buchwerte verzichtet, indem alle Ver-mögenswerte, die von einer steuerjuristischen Person ge-nutzt werden, ihrem Unternehmen zuzurechnen sind.Die vorgesehene pauschale Besteuerung in Höhe von10 vH des Veräußerungspreises zur Abgeltung spekulati-ver Wertsteigerungen ist insoweit rechtsformneutral, dasie für alle Anteile an steuerjuristischen Personen gilt.Explizit ausgeschlossen wird jedoch eine Verrechnungvon Verlusten mit thesaurierten Gewinnen von Kapital-gesellschaften.

Sofern es beim Nebeneinander von Trennungsprinzipund Transparenzprinzip bleibt, ist eine duale Einkom-mensteuer den anderen Steuerreformoptionen im Hin-blick auf die Verwirklichung von Steuerneutralität über-legen. Ausschlaggebend hierfür sind die durchgängigproportionalen Steuersätze für Kapitaleinkommen, diesteuerliche Nachteile von Kapitalgesellschaften im The-saurierungsfall gegenüber Personenunternehmen aus-schließen und darüber hinaus Finanzierungsneutralitätder Besteuerung gewährleisten. Ferner ergeben sich imFall eines progressiven Einkommensteuertarifs zusätzli-

n o c h Tabelle 62

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Die Politikbereiche im Einzelnen

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che Verzerrungen bei der Veräußerung von Anteilen anPersonengesellschaften, da zu den unvermeidbaren Zins-und Liquiditätswirkungen ein Progressionseffekt hinzu-kommt, wenn der Veräußerer und der Erwerber unter-schiedlichen Steuersätzen unterliegen.

612. Ein wichtiges Anliegen der Verfasser des Karlsru-her Entwurfs ist es, persönliche Entlastungen wie denGrundfreibetrag nicht nur bei der Besteuerung natürli-cher Personen, sondern auch bei der Besteuerung der„steuerjuristischen Personen“ rechtsformneutral durcheine individuelle Zuordnung dafür gewährter Abzugsbe-träge zu berücksichtigen. Inwieweit dies bereits bei derBesteuerung des Gewinns von Kapitalgesellschaften ge-lingen kann, ist fraglich. Vielmehr wird es wohl nur inBezug auf Ausschüttungen zu einer Entlastung kommenkönnen. Vergleichbare Möglichkeiten bietet aber aucheine duale Einkommensteuer, da das Kapitaleinkommenund das Arbeitseinkommen im Rahmen einer Veranla-gung zusammengefasst werden können. Eine administ-rierbare Entlastung des Kapitaleinkommens um persön-liche Abzugsbeträge setzt allerdings voraus, dass derEingangssteuersatz für Arbeitseinkommen mit dem pro-portionalen Kapitaleinkommensteuersatz übereinstimmt.In diesem Fall ist auch ein Ausgleich von Verlusten ausKapitaleinkommen mit positivem Arbeitseinkommenleichter praktizierbar, obschon dies auch bei abweichen-den Steuersätzen möglich ist. Die auf den ersten Blickrein schedulare Besteuerung ist somit bei einer dualenEinkommensteuer keinesfalls zwingend.

Schlussfolgerungen: Zehn Thesen zur Steuerreform

613. Die Ergebnisse dieses Abschnitts lassen sich inzehn Thesen zusammenfassen:

(1) Im Hinblick auf die Unternehmensbesteuerung füh-ren zahlreiche der mit dem Steuervergünstigungsab-baugesetz in Kraft getretenen Maßnahmen sowie dienoch laufenden Reformüberlegungen zu einerSchwächung der Investitionsbereitschaft, zu einerVerschlechterung der steuerlichen Standortbedin-gungen, zu einer weiteren Zersplitterung der Sys-tematik des Steuerrechts sowie zu zunehmenden Be-steuerungsunterschieden im Hinblick auf dieFinanzierung und die Rechtsform von Unternehmen.Wichtigen Bestimmungen des EU-Rechts wird nachwie vor zu wenig Beachtung geschenkt. Zudem hatdie deutsche Steuerpolitik aufgrund ihrer Sprung-haftigkeit innerhalb kurzer Zeit erheblich an Glaub-würdigkeit eingebüßt und Investoren die steuerlichePlanungssicherheit genommen. Dies hat zu einerweiteren Schwächung der Investitionsbereitschaftbeigetragen und der internationalen Standortattrakti-vität Deutschlands Schaden zugefügt.

(2) Abhilfe kann die Steuerpolitik nur durch eine kon-zeptionelle Neuordnung der Unternehmensbesteue-rung schaffen, die systematischen Kriterien genügenmuss. Zur Verbesserung der Standortattraktivität so-wie zur Stärkung der Neutralität des Steuersystemsim Hinblick auf Investitionen, Unternehmensrechts-

formen und Finanzierungsformen sind eine deutli-che Senkung der Tarifbelastung auf Unternehmens-gewinne, eine Reduzierung der Tarifspreizungzwischen der Einkommensteuer und der Körper-schaftsteuer sowie eine grundsätzliche Entscheidunghinsichtlich der Integration der Unternehmenssteu-ern in die persönliche Einkommensteuer erforder-lich. Dabei dürfen weder das Gerechtigkeitszielnoch die grenzüberschreitenden Implikationen so-wie die relevanten Vorgaben des EU-Rechts aus denAugen verloren werden. Schließlich müssen dieMaßnahmen aus Sicht der Steuerpflichtigen, der Fi-nanzverwaltung und der Rechtsprechung praktika-bel, administrierbar und kontrollierbar sein.

(3) Zur Stärkung der Rechtsform- und Finanzierungs-neutralität der Besteuerung ist die Gewerbesteuer inihrer jetzigen Ausgestaltung abzuschaffen. Ein kom-munales Zuschlagsrecht zur Einkommen- und Kör-perschaftsteuer lässt sich demgegenüber problemlosin eine reformierte Einkommen- und Körperschaft-steuer integrieren. Spitzensatz der Einkommensteuerund Körperschaftsteuersatz sollten übereinstimmenoder möglichst nahe beieinander liegen, um Steuer-arbitrage zu begrenzen. Schließlich ist die zweifacheBelastung der Gewinne von Kapitalgesellschaftenzu beseitigen, wozu eine Steuerbefreiung von Aus-schüttungen und Gewinnen aus der Veräußerungvon Gesellschaftsanteilen vorzusehen ist. Im Hin-blick auf die Berücksichtigung von Unternehmens-verlusten und die Behandlung von Gewinnen ausder Veräußerung von Unternehmensanteilen kanndas Ziel einer rechtsformneutralen Besteuerung al-lerdings nicht vollständig erreicht werden.

(4) Bei wesentlich niedrigeren Steuersätzen bereitet dieAufrechterhaltung einer synthetischen Einkommen-steuer in der derzeitigen Form Schwierigkeiten, dasich durch die Koppelung des Spitzensatzes der Ein-kommensteuer an einen Körperschaftsteuersatz aufniedrigem Niveau Rückwirkungen auf die gesamteEinkommensteuer ergeben. Eine Kompensation dar-aus resultierender Aufkommensverluste durch einekonsequente Verbreiterung der einkommensteuerli-chen Bemessungsgrundlage ist notwendig, nach al-len Erfahrungen politisch aber schwierig durchzu-setzen.

(5) Eine duale Einkommensteuer, die durch eine nied-rige, proportionale Besteuerung der Unternehmens-gewinne einschließlich sämtlicher privater Kapi-taleinkommen und eine weiterhin progressiveBesteuerung des Arbeitseinkommens gekennzeich-net ist, eröffnet die Möglichkeit, die Steuerbelastungder Unternehmen rechtsformübergreifend durch eineReduzierung der tariflichen Steuersätze auf ein in-ternational wettbewerbsfähiges Niveau abzusenken.Gleichzeitig verbessert sich die Neutralität des Steu-ersystems im Hinblick auf Investitionen, Finanzie-rungsentscheidungen und die Wahl der Unterneh-mensrechtsform. Darüber hinaus werden zahlreicheAbgrenzungsprobleme bei der zeitlichen, sachlichen

Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

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und persönlichen Zuordnung von Einnahmen undAusgaben vermieden, womit ein wesentlicher Bei-trag zur Steuervereinfachung geleistet wird. Durchdie Abkoppelung vom Arbeitseinkommen und nied-rige Besteuerung des Kapitaleinkommens erhöhtsich schließlich die Effizienz des Steuersystems iminternationalen Steuerwettbewerb um mobile Fakto-ren. Allerdings sind Konflikte mit dem Leistungsfä-higkeitsprinzip und administrative Schwierigkeitenbei der Gewinnaufteilung von personenbezogenenUnternehmen nicht von der Hand zu weisen.

(6) Für die Weiterentwicklung der Einkommens- undUnternehmensbesteuerung in Deutschland liegt mitdem Karlsruher Entwurf ein in weiten Bereichenausformulierter Vorschlag vor. Sieht man von seinergrundlegenden Wertentscheidung ab, eine Gleichbe-handlung der Einkunftsarten zu gewährleisten, sokann ein in vielen Bereichen vergleichbares Ergeb-nis auch auf der Basis einer dualen Einkommen-steuer erreicht werden. Die duale Einkommensteuerist allerdings durch die Abkoppelung des Kapi-taleinkommensteuersatzes vom Spitzensatz der Ein-kommensteuer flexibler. Ein Verstoß gegen dasLeistungsfähigkeitsprinzip ist darin nicht unbedingtzu sehen; auch dürften keine verfassungsrechtlichenBedenken bestehen.

(7) Sofern es auf EU-Ebene zu einer stärkeren Koordi-nation der Unternehmensbesteuerung kommt, weisteine duale Einkommensteuer im Vergleich zur Inte-gration der Körperschaftsteuer in die Einkommen-steuer bei der Steuerreformoption I und auch imVergleich zum Karlsruher Entwurf weitere Vorteileauf. Eine von den Kapitaleinkommen abgekoppelteBesteuerung der Arbeitseinkommen würde den Mit-gliedstaaten wesentliche Bereiche ihrer Steuerauto-nomie und damit größere Spielräume für die natio-nale steuerliche Umverteilungspolitik belassen.

(8) Unabhängig von der gewählten Steuerreformoptionist die Gewerbesteuer abzuschaffen und durch einenkommunalen Zuschlag zur Einkommen- und Kör-perschaftsteuer zu ersetzen. Die duale Einkommen-steuer weist dabei gewisse Vorteile auf. Wegen dergetrennten Besteuerung von Kapitaleinkommen undArbeitseinkommen können ohne weiteres nach die-sen Einkunftsarten differenzierte kommunale Zu-schläge gewählt werden. Dadurch können die Kom-munen flexibler auf unterschiedliche Finanzbedarfereagieren, die durch die Bereitstellung kommunalerLeistungen für ortsansässige Betriebe einerseits, fürihre Einwohner andererseits bewirkt werden.

(9) Jede Reform der Einkommen- und Körperschaft-steuer muss im Zusammenhang mit Reformen desSystems der Sozialen Sicherung gesehen werden.Wenn etwa durch den Übergang zu Gesundheitsprä-mien beziehungsweise Kopfpauschalen die Umver-teilung aus der Gesetzlichen Krankenversicherungherausgenommen und in das Steuer- und Transfer-system verlagert werden soll, kann man nichtgleichzeitig die Einkommensteuersätze drastisch

senken und die Umverteilungsintensität der Ein-kommensbesteuerung durch Übergang zu einem„flachen“ Stufentarif reduzieren wollen. Insbeson-dere dürfte der Karlsruher Entwurf mit einem Spit-zensteuersatz von 25 vH mit einem Übergang zuGesundheitsprämien kaum zu vereinbaren sein. Dieduale Einkommensteuer weist auch hier die größteFlexibilität auf. Durch die Abkoppelung der (pro-portionalen) Besteuerung von Kapitaleinkommenvon einer progressiven Besteuerung der Arbeitsein-kommen kann gleichzeitig den nationalen Umvertei-lungserfordernissen und den Effizienzgesichtspunk-ten Rechnung getragen werden.

(10)Das Hauptproblem der dualen Einkommensteuer istin der Abgrenzung von Kapitaleinkommen und (kal-kulatorischen) Unternehmerlöhnen zu sehen, da An-reize zur Umwandlung von progressiv besteuertemArbeitseinkommen in niedriger und proportional be-steuertes Kapitaleinkommen bestehen. Diese An-reize lassen sich vermindern, wenn die Tarifsprei-zung zwischen dem Spitzensatz der Steuer aufArbeitseinkommen und dem Kapitaleinkommen-steuersatz gering gehalten wird. Allerdings wirddann auch die Umverteilungsintensität der dualenEinkommensteuer begrenzt.

Unter Abwägung aller Gesichtspunkte hält der Sachver-ständigenrat die duale Einkommensteuer für die vorteil-haftere Steuerreformoption.

Exkurs I: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen einer dualen Einkommensteuer in Deutschland

614. Eine Reform des deutschen Einkommen- und Kör-perschaftsteuerrechts, die auf die Einführung einer dua-len Einkommensteuer zielt, muss den Rahmenbedingun-gen genügen, die das Finanzverfassungsrecht desGrundgesetzes aufstellt. Diese finden sich sowohl in denverfassungsrechtlichen Kompetenzregeln über die Fi-nanzhoheit (Artikel 104a ff. Grundgesetz) als auch indem Grundrechtsteil des Grundgesetzes (Artikel 1bis 19).

615. Die Regeln über die Gesetzgebungs-, Aufkom-mens- und Verwaltungshoheit setzen in den Artikeln 105,106 Grundgesetz voraus, dass eine Neugestaltung derEinkommensteuer und der Körperschaftsteuer dieGrundstrukturen dieser Steuern nicht verlässt. Dies be-deutet, dass insbesondere der Typus der Einkommen-steuer als allgemeine, auf die persönliche Leistungsfä-higkeit einer Person gerichtete Steuer auf denEigentumserwerb gewahrt werden muss. Dabei stehtdem Gesetzgeber allerdings ein erheblicher Gestal-tungsspielraum zur Verfügung. Weder die grundlegendeVeränderung der Umsatzsteuer von einer Brutto-Allpha-sensteuer zu einer Nettosteuer mit Vorsteuerabzug nochder mehrfache Systemwechsel der Körperschaftsteuervom klassischen System über das Anrechnungsverfahrenzum Halbeinkünfteverfahren haben den Rahmen ge-sprengt, welche die Typenbildung des Finanzverfas-sungsrechts für die Umsatzsteuer und die Körperschaft-

Die Politikbereiche im Einzelnen

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steuer formuliert haben. Vor diesem Hintergrund lässtsich die Umstellung des Einkommen- und Körperschaft-steuerrechts hin zu einer Spaltung zwischen Arbeitsein-kommen und Kapitaleinkommen als zulässige Modifika-tion des synthetischen Einkommensbegriffs einordnen.Es bleibt bei einer grundsätzlich umfassenden Besteue-rung der Vermögensmehrungen einer natürlichen oder(im Körperschaftsteuerrecht) juristischen Person. Esbleibt auch bei einer Ermittlung des Einkommens als ei-ner Nettogröße der durch die Einkunftsquelle veranlass-ten Einnahmen und Aufwendungen. Die wesentlicheNeuerung liegt lediglich in der begrenzten Absenkungund Pauschalierung der Steuerbelastung aus bestimmtenkapitalgeprägten Einkunftsquellen. Weder der grund-sätzlich progressive Charakter des Steuertarifs noch dieMöglichkeiten der Verlustverrechnung gehen verloren.Die Reform bleibt damit deutlich hinter den im verfas-sungsrechtlichen Schrifttum streitigen Modellen zurück,welche – etwa bei einer vollständigen Konsumorientie-rung des Steuersystems oder einer gänzlichen Abschaf-fung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Erwerbsauf-wendungen – die Frage nach einer Störung derfinanzverfassungsrechtlichen Identität der Einkommen-steuer aufwerfen.

616. Auch eine Steuer, die in ihren Grundzügen den Ty-pen des Finanzverfassungsrechts entspricht, muss in ih-rer näheren Ausgestaltung zusätzlich den Erfordernissender Grundrechte entsprechen. Maßgebliche Leitlinie istArtikel 3 Absatz 1 Grundgesetz, der im Hinblick auf dasSteuerrecht den allgemeinen Grundsatz der Belastungs-gleichheit der Steuerbürger formuliert. Auf diese Weisesoll gesichert werden, dass der Bürger, der im Falle derSteuerzahlung nicht auf eine unmittelbare Gegenleistungrechnen kann, sondern die Verwendung der von ihm auf-gebrachten Geldmittel der Verfügung des demokrati-schen Haushaltsgesetzgebers anheim geben muss, keinerwillkürlichen oder übermäßigen Beanspruchung durchden Fiskus unterworfen werden kann. Der Grundsatz dersteuerlichen Belastungsgleichheit findet seine wesentli-che Verwirklichung einerseits im Gebot der „Besteue-rung nach der Leistungsfähigkeit“, andererseits im Ge-bot der „Folgerichtigkeit“ der Steuergesetzgebung.

Dabei setzt Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz voraus, dassder Steuergesetzgeber primär dazu berufen ist, den Be-lastungsgrund des steuerlichen Zugriffs zu wählen. DerGesetzgeber hat „bei der Auswahl des Steuergegenstan-des und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weit-reichenden Gestaltungsspielraum und ist in der Gestal-tung hinsichtlich der Erschließung von Steuerquellenweitgehend frei. Will er eine bestimmte Steuerquelle er-schließen, andere hingegen nicht, dann ist der allge-meine Gleichheitssatz solange nicht verletzt, wie die Dif-ferenzierung auf sachgerechten Erwägungen,insbesondere finanzpolitischer, volkswirtschaftlicher, so-zialpolitischer oder steuertechnischer Natur, beruht“(BVerfGE 105, S. 17 ff., 46). Diese steuerpolitischeGrundentscheidung ist jedoch am Gedanken der Besteu-erung nach der Leistungsfähigkeit auszurichten und„folgerichtig“ durchzuführen. Abweichungen vom ge-wählten Belastungssystem bedürfen einer besonderensachlichen Rechtfertigung.

617. Die Spaltung der Einkunftsquellen in Arbeitsein-kommen und Kapitaleinkommen und die resultierendeAbsenkung der Steuerlast für Kapitaleinkommen mussvor diesem Hintergrund auf zwei Stufen überprüft wer-den. Man kann auf einer ersten Stufe den Standpunkteinnehmen, dass die Wahl der dualen Einkommensteuerals Grundmodell einer künftigen Besteuerung des Ein-kommens natürlicher und juristischer Personen auf derEbene der weitgehend freien steuerpolitischen Grund-entscheidung des Gesetzgebers angesiedelt ist. Esspricht einiges dafür, in einer weit reichenden Reform,wie sie die Umstellung des deutschen Einkommensteuer-rechts auf eine duale Einkommensteuer bedeuten würde,eine solche „Grundentscheidung“ zu sehen. Allerdingshat das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigenRechtsprechung nicht präzisiert, wo es die Grenze zwi-schen der politisch weitgehend „freien“ Belastungsent-scheidung des Gesetzgebers und der auf „Folgerichtig-keit“ verpflichteten Ausgestaltung des Belastungsgrundszieht. Allerdings hat es jüngst entschieden, dass „ins-besondere für das Einkommensteuerrecht, das auf dieLeistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen hinangelegt ist“, der Grundsatz der folgerichtigen Ausge-staltung des Steuergesetzes besonderer Beachtung be-darf und damit die verfassungsrechtliche Kontrolldichteverstärkt. Im verfassungsrechtlichen Schrifttum wirdschließlich als frei zu wählender „Belastungsgrund“ ei-ner Steuer vielfach der jeweilige Indikator subjektiverLeistungsfähigkeit angesehen: Einkommen, Vermögen,Verbrauch. Alle weiteren Differenzierungen sollen dahereine besondere Legitimation vor dem Gleichheitssatz be-nötigen.

618. Man kann daher mit guten Gründen den Stand-punkt einnehmen, dass bereits mit der Entscheidung füreine „Einkommensteuer“ im Grundsatz der synthetischeCharakter dieser Steuer betont und damit deutlich ge-macht wird, dass Differenzierungen zwischen einzelnenEinkunftsquellen im Hinblick auf Bemessungsgrundlageoder Steuertarif einer sachlichen Legitimation bedürfen.Dahinter steht der Gedanke, dass die subjektive „Leis-tungsfähigkeit“, die in einer Vermögensmehrung zumAusdruck kommt, im Grundsatz nicht von der Art derEinkunftsquelle abhängt.

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsge-richt zu mehreren Steuerarten betont, dass bei der Ent-scheidung des Gesetzgebers für einen weiten Einkom-mens- oder Vermögensbegriff das Gebot derBelastungsgleichheit eine „Gleichbehandlung“ der Ein-kunftsarten verlangt. Dies ist sowohl für das Vermögen-steuerrecht als auch für das Erbschaftsteuerrecht undschließlich mehrfach für das Einkommensteuerrecht ent-schieden worden. Auf der Grundlage von zwei Vorlagendes Bundesfinanzhofs zum ermäßigten Steuersatz für ge-werbliche Einkünfte und zur Sonderbehandlung von Im-mobilien und Betriebsvermögen im Erbschaftsteuerrechtwird das Bundesverfassungsgericht bald Gelegenheithaben, seine Maßstäbe zu präzisieren.

619. Der Gleichheitssatz verlangt im Rahmen der steu-erlichen Tatbestandsbildung, dass der Gesetzgeber ei-nen „besonderen sachlichen Grund“ angeben kann, umeine Differenzierung zu rechtfertigen. Dies bedeutet in

Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

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erster Linie, dass „jedenfalls die systematische Unter-scheidung der Einkunftsarten durch den Gesetzgeber al-lein eine Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen kann“(BVerfGE 105, S. 73 ff., 126). Andererseits hat das Bun-desverfassungsgericht bereits in der Vergangenheitsachbezogene Differenzierungen gestattet. So lebt dasEinkommensteuerrecht bereits seit dem EStG 1925 miteinem Dualismus der Einkunftsarten, der zwischenÜberschusseinkünften einerseits und Gewinneinkünftenandererseits unterscheidet und damit eine weitgehendeFreistellung privater Veräußerungsgewinne hervorruft,die das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheitnicht beanstandet hat. Speziell für Einkünfte aus Kapi-talvermögen hält das Bundesverfassungsgericht den Ge-setzgeber für befugt, „die Besteuerung der Kapitalein-künfte auf die gesamtwirtschaftlichen Anforderungen andas Kapitalvermögen und die Kapitalerträge auszurich-ten und entsprechend zu differenzieren“ (BVerfGE 84,S. 239 ff., 282). Das Bundesverfassungsgericht hat dabeiauf die Inflationsanfälligkeit der Einkünfte sowie auf dieihrer Natur nach nicht einer bestimmten Person zuge-ordnete und geographisch nicht gebundene Erwerbs-grundlage „Finanzkapital“ hingewiesen und daraus diegesetzgeberische Option einer Abgeltungssteuer auf Zin-sen hergeleitet. Schließlich hat das Bundesverfassungs-gericht allgemein für eine „steuerliche Verschonung, dieeiner gleichmäßigen Belastung der jeweiligen Steuerge-genstände innerhalb einer Steuerart widerspricht“, er-klärt, dass „eine solche Steuerentlastung dennoch vordem Gleichheitssatz gerechtfertigt sein (kann), wenn derGesetzgeber dadurch das wirtschaftliche oder sonstigeVerhalten des Steuerpflichtigen aus Gründen des Ge-meinwohls fördern oder lenken will“ (BVerfGE 93,S. 121 ff., 147).

620. Für die im Konzept einer dualen Einkommen-steuer angelegte Differenzierung zwischen Arbeits- undKapitaleinkommen lassen sich ebenfalls besondere sach-liche Gründe wirtschaftspolitischer und finanzpoliti-scher Art anführen, die den Anforderungen des Artikel 3Absatz 1 Grundgesetz standhalten. Ausgangspunkt istder Umstand, dass Steuergesetze nicht nur darauf ange-legt sind, in einem statischen Wirtschaftssystem Leis-tungsfähigkeit abzuschöpfen. Sie haben darüber hinauseinen wesentlichen Einfluss auf das Wirtschaftsverhaltender Steuersubjekte, insbesondere das Investitions- undKonsumverhalten. Eine Besteuerung von Kapitaleinkom-men verringert die Nettoerträge des Kapitals und wirddaher die Inhaber von Kapital zu Ausweichmaßnahmenveranlassen. Es kann zu dem Verzicht auf Investitionenim Inland (insbesondere durch ausländische Steuersub-jekte) kommen oder zur Überwälzung der Steuerlastdurch die Eigentümer des international mobilen Kapi-tals auf weniger mobile Einkommensquellen, wie zumBeispiel Arbeitseinkünfte. Diese Ausweichreaktionenkönnen den Gesetzgeber veranlassen, durch eine Absen-kung der Steuerlast auf Kapitaleinkommen die Investiti-onstätigkeit im Inland anzuregen und zugleich die Wei-tergabe von Belastungen an Arbeitnehmer undKonsumenten zu verringern. Dabei darf der Gesetzgeberauch beachten, dass die Belastungsgleichheit der Steu-erpflichtigen bereits dadurch gefährdet ist, dass beiknappem Kapitalangebot für Investoren die Möglichkeit

zur Weitergabe von Steuerbelastungen auf Arbeitnehmeroder Konsumenten besteht. Eine Entlastung von Kapi-taleinkommen, welche mittelbar auch zu einer Entlas-tung der übrigen Wirtschaftsteilnehmer vor dem Hinter-grund der tatsächlichen Steuerüberwälzung führt, darfnicht an verfassungsrechtlichen Schranken scheitern.

621. Diese Wirkungen gerade der internationalen öko-nomischen Effekte der Steuerordnung darf der nationaleGesetzgeber bei der Ausdifferenzierung des Einkommen-und Körperschaftsteuerrechts beachten. Bereits imJahr 1978 hat das Bundesverfassungsgericht dem deut-schen Steuergesetzgeber gestattet, mit Hilfe besonderersteuerlicher Entlastungen für Auslandsengagements dieInvestitionstätigkeit deutscher Unternehmen im Auslandzu fördern. Das Gericht hat dabei die „zunehmende in-ternationale Verflechtung der Wirtschaft, die unter-schiedlichen Verhältnisse zwischen Industrie- und Ent-wicklungsländern und die Notwendigkeit, einen Beitragzur Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufden ausländischen Märkten“ zu schaffen (BVerfGE 48,S. 206 ff., 226), als rechtsstaatliche Grundlage deut-scher Steuerpolitik anerkannt.

622. Zur Durchsetzung dieser finanz- und wirtschafts-politischen Zielsetzungen reicht es schließlich nicht aus,die Begünstigung von Kapitaleinkommen auf die vonKapitalgesellschaften einbehaltenen Gewinne – wie ge-genwärtig im Halbeinkünfteverfahren – zu beschränken.Denn die Attraktivität von Investitionen hängt nicht nurvon einer ermäßigten Belastung investierter Gewinnteileab, sondern letztlich immer von der Steuerbelastung beiRückfluss von Einkünften an den Kapitalgeber. Dahermuss es dem Gesetzgeber gestattet sein, nicht nur fürreinvestierte Kapitaleinkünfte, sondern auch für konsu-mierte Kapitaleinkünfte einen steuerlichen Sonderstatusanzuordnen.

623. Es muss jedoch Klarheit bestehen, dass aus derhier vorgeschlagenen verfassungsrechtlichen Zulassungeiner wettbewerblich orientierten Neuausrichtung unse-res Steuersystems nicht auf eine beliebige Gestaltungs-macht des Gesetzgebers geschlossen werden kann.Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz verlangt nämlich vomParlament – wie bereits erwähnt – eine in sich „folge-richtige“ Ausgestaltung der Steuerordnung. Das Geboteiner folgerichtigen Entlastung von Kapitaleinkünftenwürde es daher nicht ermöglichen, nur bestimmte Anla-geformen – etwa Gewerbebetriebe oder Kapitalgesell-schaftsbeteiligungen – zu begünstigen und andere For-men der Investitionen in Immobilien, Land- undForstwirtschaft oder Fremdkapitaltiteln zu diskriminie-ren. Es bedürfte auch unter einem neuen, kapitalge-stützte Einkünfte entlastenden Steuerregime einer Be-gründung für jede Differenzierung nach der Rechtsformzwischen Personen- und Kapitalgesellschaft. Der Ge-setzgeber muss sich auch in Zukunft darüber klar sein,dass die Entlastungswirkungen einer dualen Einkom-mensteuer nicht nur Investitionen unterhalb oder ober-halb eines bestimmten Umfangs oder Steuerpflichtigeunterhalb oder oberhalb eines bestimmten Grenzsteuer-satzes treffen dürfen.

Kurz – die Auseinandersetzung des Verfassungsrechtsmit einer ökonomisch angeleiteten Steuerwirkungslehre

Die Politikbereiche im Einzelnen

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eröffnet dem Gesetzgeber nicht den Einstieg in beliebigeFormen der Wirtschaftsgestaltung, sondern begründetfür ihn eine gesteigerte steuerrechtliche „Produkt-beobachtungspflicht“, die sich nicht auf die Wahrungformaler Steuergleichheit zurückziehen kann, sondernzugleich die wettbewerblichen Effekte der Besteuerungin den Blick nehmen muss. Beachtet der Gesetzgeberdieses Gebot der „Folgerichtigkeit“, so dürften gegeneine Umgestaltung der gegenwärtigen Einkommensteuerund Körperschaftsteuer in eine duale Einkommensteuerkeine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenkenbestehen.

Exkurs II: Duale Einkommensbesteuerung in Finnland, Norwegen und Schweden

Steuersätze und Aufkommenseffekte

624. Die duale Einkommensteuer wurde zu Beginn derneunziger Jahre in den nordischen Staaten Dänemark,Finnland, Norwegen und Schweden eingeführt. Däne-mark nahm und nimmt dabei eine Sonderstellung inso-fern ein, als eine duale Einkommensbesteuerung nur inAnsätzen verwirklicht wurde; die in Dänemark gelten-den steuerlichen Regelungen werden deshalb im Folgen-den ausgeklammert. Für die übrigen drei Länder zeigtTabelle 63 die tariflichen Steuersätze für Arbeits- undKapitaleinkommen sowie die Körperschaftsteuersätzeunmittelbar vor und nach den Reformen sowie für dasJahr 2003.

Mit der Abkoppelung vom progressiven Steuersystem,das nur noch für Arbeitseinkommen gilt, konnten dieSteuersätze für Gewinne von Personenunternehmen undfür private Kapitaleinkommen dem Körperschaftsteuer-satz angeglichen und auf ein einheitliches Niveau zwi-schen 25 vH und 30 vH gesenkt werden. Im Hinblick aufUnternehmensgewinne und private Kapitaleinkommenbedeutete dies in etwa eine Halbierung der ursprüngli-chen Steuersätze. Auch unter Berücksichtigung der zwi-

schenzeitlich erfolgten Anpassungen zählen die Steuer-sätze nach wie vor zu den niedrigsten innerhalb derEuropäischen Union und der OECD. Dabei ist zu be-rücksichtigen, dass in den nordischen Staaten weder dieGewinne noch das Vermögen von Unternehmen– abgesehen von einer Grundsteuer – einer zusätzlichenBelastung unterliegen.

625. Die tariflichen Entlastungen wurden durch eineVerbreiterung der Bemessungsgrundlagen finanziert. ImHinblick auf private Kapitaleinkommen wurde eine ge-nerelle Steuerpflicht von Veräußerungsgewinnen einge-führt. Im Bereich der Unternehmensbesteuerung wurdenim Grundsatz sämtliche Ausnahmetatbestände wie dievormals großzügig bemessenen Möglichkeiten zur Bil-dung steuerfreier Rücklagen und zur Vornahme von Son-derabschreibungen gestrichen; außerdem wurden dieAnsatz- und Bewertungsvorschriften in starkem Maßenormiert und aus Vereinfachungsgründen pauschaliert.So erfolgt die Verrechnung der Abschreibungen entwe-der nur noch nach der linearen Methode oder nach derPool-Methode, die verschiedene Wirtschaftsgüter inKlassen zusammenfasst und die gesamten Anschaffungs-kosten jeweils um einen einheitlichen, konstanten Pro-zentsatz mindert. Ferner wurden die Voraussetzungenfür die Bildung von Rückstellungen für ungewisse Ver-bindlichkeiten deutlich verschärft; bestimmte künftigeLasten können überhaupt nicht mehr durch Rückstellun-gen antizipiert werden. Tatsächlich ist das Aufkommenaus den Unternehmenssteuern durch die Politik der Ver-breiterung der Bemessungsgrundlage bei gleichzeitigerTarifreduzierung in den nordischen Staaten deutlich an-gestiegen – wobei nicht auszuschließen ist, dass dafürauch andere Ursachen in Frage kommen. Jedenfalls hatder Anteil der Körperschaftsteuer am Gesamtsteuerauf-kommen beziehungsweise in Relation zum nominalenBruttoinlandsprodukt zwischen 1990 und 2000 in Finn-land von 4,7 vH auf 11,8 vH (von 2,1 vH auf 5,5 vH) zu-genommen, in Norwegen von 9,0 vH auf 15,2 vH (von

Ta b e l l e 63

Duale Einkommensteuer in nordischen Staaten: Tarifliche Steuersätze

Arbeitseinkommen Kapitaleinkommen

vH

Finnland Vor der Reform 1993 25 - 56 25 - 56 37 Nach der Reform 1993 25 - 56 25 25 Ab 2003 29 - 52 29 29

Norwegen Vor der Reform 1992 26,5 - 50 26,5 - 50 50,8Nach der Reform 1992 28 - 41,7 28 28 Ab 2003 28 - 55,3 28 28

Schweden Vor der Reform 1991 36 - 72 36 - 72 52 Nach der Reform 1991 31 - 51 30 30 Ab 2003 31 - 56 30 28

von ... bis ... vH

Steuersätze auf Körperschaft-steuersätze

Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

351

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3,8 vH auf 6,1 vH) und in Schweden von 3,1 vH auf7,5 vH (von 1,7 vH auf 4,1 vH). Im Vergleich dazu habensich die entsprechenden Relationen in Deutschland imselben Zeitraum auf niedrigerem Niveau nahezu nichtverändert. Der Anteil der Körperschaftsteuer am Ge-samtsteueraufkommen blieb unverändert bei 4,8 vH; inRelation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt ist derWert zwischen 1990 und 2000 nur leicht von 1,7 vH auf1,8 vH gestiegen.

Die steuerliche Belastung des Arbeitseinkommens hatsich durch die Einführung der dualen Einkommensteuernicht erhöht. Das mit der umfassenderen Besteuerungder Unternehmensgewinne und der privaten Kapitalein-kommen verbundene Mehraufkommen führte in Nor-wegen und Schweden sogar zu einer Entlastung desArbeitseinkommens, indem vor allem die Spitzensteuer-sätze spürbar reduziert wurden. Allerdings entstandenzwischen den Spitzensteuersätzen für Arbeitseinkommenund den Steuersätzen für Kapitaleinkommen beträchtli-che Spreizungen, die gerade bei personenbezogenen,mittelständischen Unternehmen zu erheblichen Abgren-zungsproblemen zwischen beiden Einkunftsarten führen.Derartig ausgeprägte Tarifspreizungen stellen die Achil-lesferse der dualen Einkommensteuer dar.

Besteuerung nationaler und grenzüberschreitender Investitionen

626. Das theoretische Leitbild der dualen Einkommen-steuer ist in den nordischen Staaten nicht vollständigverwirklicht. In allen drei Staaten erfolgt die Besteue-rung von Personenunternehmen nach dem Mitunterneh-merkonzept. Im Hinblick auf Investitionen in nationalenKapitalgesellschaften ist eine weitgehend rechtsform-und finanzierungsneutrale Besteuerung nur in Norwegengewährleistet. Dort wird die Doppelbesteuerung von Di-videnden durch ein Vollanrechnungsverfahren vermie-den; zur Vermeidung der Doppelbesteuerung offenerRücklagen und stiller Reserven im Fall einer Anteilsver-äußerung werden auf Ebene der Kapitalgeber die An-teilswerte nach Maßgabe der Entwicklung der offenenRücklagen der Kapitalgesellschaft fortgeschrieben. InFinnland kommt zwar ebenfalls ein Vollanrechnungs-verfahren zur Anwendung, im Gegensatz zu laufendenAusschüttungen sind aber Gewinne aus Anteilsveräuße-rungen sowohl bei einkommen- als auch bei körper-schaftsteuerpflichtigen Kapitalgebern in voller Höhesteuerpflichtig. Eine Ermäßigung besteht lediglich inso-fern, als der steuerpflichtige Veräußerungsgewinn aufdie Hälfte des Veräußerungspreises vermindert wird, so-fern die Anteile mindestens zehn Jahre gehalten wurden.Bei dem derzeitigen Steuersatz von 29 vH entspricht diesimmer noch einer nominalen Belastung des Veräuße-rungspreises von 14,5 vH. Schweden hat auch nach Ein-führung der dualen Einkommensteuer ein klassischesKörperschaftsteuersystem beibehalten, womit es zu einerungemilderten Doppelbesteuerung von Ausschüttungenkommt. Zur Vermeidung von Kaskadeneffekten sind Di-videnden lediglich im körperschaftsteuerlichen Sektorab einer Beteiligungsquote von 25 vH freigestellt. Veräu-ßerungsgewinne sind unabhängig vom steuerlichen Sta-

tus des Kapitalgebers – also auch bei Kapitalgesell-schaften – ohne jede Ermäßigung steuerpflichtig.Hinsichtlich der Unternehmensbesteuerung ist Schwe-den somit am weitesten vom Ideal der dualen Einkom-mensteuer entfernt. Weitere Abweichungen von diesemLeitbild zeigen sich auch bei der Höhe der jeweiligenSteuersätze (Tabelle 63). Anders als in Finnland undNorwegen stimmen weder der Steuersatz für Kapitalein-kommen mit dem Eingangssteuersatz für Arbeitseinkom-men noch einer dieser beiden Steuersätze mit dem Satzder Körperschaftsteuer überein.

627. Zwischen der Besteuerung nationaler und grenzü-berschreitender Investitionen bestehen gravierende Ab-weichungen. Lediglich in Schweden besteht insoweit Re-gelgleichheit, als neben Ausschüttungen infolge desklassischen Systems auch Veräußerungsgewinne unge-mildert und somit doppelt besteuert werden. Dagegensind in Finnland und in Norwegen die körperschaftsteu-erlichen Anrechnungsverfahren auf nationale Sachver-halte begrenzt, so dass sich in Bezug auf Auslandsdivi-denden eine Doppelbesteuerung ergibt. Norwegen siehtzudem bei Auslandsbeteiligungen von einer Fortschrei-bung der Anteilswerte auf Ebene der Kapitalgeber ab,weshalb Gewinne aus der Veräußerung von Auslandsbe-teiligungen im Gegensatz zu jenen aus Inlandsbeteili-gungen ungemildert steuerpflichtig sind.

Die Nichtgewährung einer Anrechnung über die Grenzeist unter Aufkommensgesichtspunkten verständlich, undeine grenzüberschreitende Fortschreibung von Anteils-werten scheitert im Regelfall an unüberwindbaren Infor-mationsproblemen. Allerdings verstößt die damit ver-bundene Benachteiligung von Auslandsinvestitionenoffensichtlich gegen die EU-rechtlichen Diskriminie-rungsverbote der Niederlassungsfreiheit und der Kapi-talverkehrsfreiheit. Im Zeitpunkt der Einführung der du-alen Einkommensteuer in den nordischen Staaten kamdem EU-Recht noch keine große Bedeutung zu. Mit demEU-Beitritt von Finnland und Schweden im Jahr 1995hat sich diese Situation grundlegend geändert. Entspre-chendes gilt für Norwegen, das als Mitglied des Europä-ischen Wirtschaftsraums die EU-rechtlichen Grundfrei-heiten ebenfalls zu beachten hat. Im Hinblick auf dieRegelungen in Finnland ist seit September 2002 ein Vor-abentscheidungsverfahren über die EU-Rechtskonformi-tät des Anrechnungsverfahrens vor dem EuGH (Rs. C-319/02, Manninen) anhängig; auch in Norwegen werdeneuroparechtliche Bedenken ernst genommen. In beidenLändern soll das Anrechnungsverfahren abgeschafftwerden. In Norwegen steht darüber hinaus die auf dasInland begrenzte Buchwertfortschreibung bei Anteilsver-äußerungen in der Kritik. Derzeit ist noch offen, welchesKörperschaftsteuersystem an die Stelle des Anrech-nungsverfahrens rückt. Eine finnische Expertengruppehat sich für das klassische System ausgesprochen, da dieDe-facto-Freistellung insbesondere hoher Dividendenvon der Einkommensteuer als Begünstigung angesehenwird. Sollte sich jedoch nicht das dem Anrechnungsver-fahren äquivalente Dividendenfreistellungsverfahrendurchsetzen, ergeben sich vergleichbar zur Situation inDeutschland im Jahr 2001 gravierende Rückwirkungen

Die Politikbereiche im Einzelnen

352

Page 379: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

auf die nationale Unternehmensbesteuerung, welche zu-dem die Neutralitätseigenschaften und die Systematikder dualen Einkommensteuer in erheblichem Maße be-einträchtigen.

Abgrenzung zwischen Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen bei personenbezogenen Unternehmen

628. Die nordischen Staaten sehen bei personenbezo-genen Unternehmen mit engen persönlichen und wirt-schaftlichen Beziehungen zu den Kapitalgebern eineZerlegung des Gewinns in Kapital- und in Arbeitsein-kommen vor. Eine Gewinnaufteilung erfolgt generell beiEinzelunternehmen und Personengesellschaften. Bei Ka-pitalgesellschaften bereitet eine generelle Gewinnauftei-lung indes Schwierigkeiten, wenn auch Kapitalgeber mitreinen Anlageninteressen beteiligt sind. Es bedarf daherKriterien zur Abgrenzung der betreffenden Kapitalge-sellschaften. In Norwegen und Schweden werden nurKapitalgesellschaften mit beherrschenden, aktiv tätigenKapitalgebern in die Gewinnzerlegung einbezogen. BeiLetzteren handelt es sich um Kapitalgeber, die eine Min-destbeteiligung halten – in Norwegen beispielsweisezwei Drittel der Anteile – und aufgrund ihres persönli-chen Einsatzes wesentlich zum Gesamterfolg beitragen.Auch wenn diese Kriterien konsequent erscheinen, erge-ben sich doch zahlreiche Abgrenzungsfragen. Zudemkann das Kriterium der Mindestbeteiligung durch dieAufnahme weiterer Gesellschafter leicht umgangen undsomit eine Gewinnaufteilung vermieden werden. Finn-land hat deshalb eine pragmatischere und leichter ad-ministrierbare Vorgehensweise gewählt, indem eineGewinnaufteilung generell bei nicht börsennotierten Ka-pitalgesellschaften vorgenommen wird. Hiervon sindallerdings dann auch Gesellschafter mit reinen Kapital-beteiligungen betroffen.

629. Unter den nordischen Staaten sieht derzeit nurNorwegen eine unmittelbare Zurechnung des anteiligenArbeitseinkommens auf die Gesellschafter von Perso-nenunternehmen und Kapitalgesellschaften vor. Dieseeng mit der Idee der Teilhabersteuer verknüpfte Vorge-hensweise ist allerdings bei Beteiligungen an Kapitalge-sellschaften problematisch, da im Thesaurierungsfallbeim Kapitalgeber der Zeitpunkt der Steuerbelastungvor dem Einkommens- beziehungsweise Gewinnzuflussliegt. Die damit verbundenen Liquiditätsprobleme be-rechtigen den Kapitalgeber, einen entsprechenden Aus-gleichsanspruch gegen die Gesellschaft geltend zu ma-chen. In Finnland und Schweden erfolgt aus diesenGründen eine Besteuerung des den Kapitalgebern zuge-rechneten Arbeitseinkommens erst im Zeitpunkt derAusschüttung, indem die Dividende nur in Höhe derkalkulatorischen Verzinsung des Anteils des Kapitalge-bers am Nettovermögen der Kapitalgesellschaft alsKapitaleinkommen besteuert wird. Der darüber hinaus-gehende Teil der Dividende unterliegt als Arbeitsein-kommen der progressiven Besteuerung. Diese Vorge-hensweise diskriminiert jedoch Kapitalgeber vonPersonenunternehmen, bei denen die Steuerbelastung

auf Arbeitseinkommen stets im Zeitpunkt der Gewinn-realisierung entsteht, gegenüber Kapitalgebern von Ka-pitalgesellschaften, wenn Gewinne thesauriert werden.Zur Wahrung von Rechtsformneutralität der Besteue-rung ist es deshalb in Schweden Kapitalgebern von Per-sonenunternehmen möglich, nicht entnommene Gewinnedem Körperschaftsteuersatz zu unterwerfen. In diesemFall kann die progressive Besteuerung des anteiligenArbeitseinkommens bis auf den Zeitpunkt der Entnahmeverschoben werden.

630. Eine Gewinnaufteilung, die an das Unterneh-mensvermögen anknüpft, bereitet bei Kapitalgesell-schaften in administrativer Hinsicht regelmäßig Pro-bleme. Dies gilt vor allem bei im Ausland ansässigenKapitalgesellschaften, da die erforderlichen Informatio-nen über das Vermögen nicht immer beschafft werdenkönnen. Im Rahmen aktueller Reformüberlegungen istin Norwegen vorgesehen, den anteiligen Wert des Netto-vermögens an der Kapitalgesellschaft nicht mehr unmit-telbar, sondern mittelbar über eine Fortschreibung derAnteilswerte des Kapitalgebers zu bestimmen. Durch dieAnknüpfung an Anteilswerte soll es auch zu einer ver-besserten Annäherung an den tatsächlichen Unterneh-menswert kommen, da sich in den Marktpreisen der An-teilswerte auch immaterielle Werte widerspiegeln, dieaufgrund von Bilanzierungsverboten – insbesondere fürimmaterielle Wirtschaftsgüter und einen originärenGeschäftswert – keinen Einfluss auf das bilanzielle Net-tovermögen haben. Der Besteuerung als Arbeitseinkom-men sollen Dividenden unterliegen, die einen aus derFortschreibung des Anteilswerts ermittelten Aufsto-ckungsbetrag übersteigen. Als Arbeitseinkommen wer-den darüber hinaus Gewinne aus Anteilsveräußerungenerfasst, sofern der Veräußerungspreis die Anschaffungs-kosten zuzüglich des Aufstockungsbetrags übersteigt.Der Aufstockungsbetrag entspricht dem Produkt ausden Anschaffungskosten der Anteile und einer aus derRendite von Staatsanleihen abgeleiteten Nettoverzin-sung. Zwischenzeitlich vereinnahmte Dividenden sindhiervon abzuziehen. Liegen die Dividenden einer Peri-ode unter der Verzinsung des Anteilswerts, wird der ver-bleibende Teil den Anschaffungskosten der Anteile zuge-schlagen und erhöht die Fortschreibungsbasis derFolgeperiode. Eine weitere Besonderheit besteht darin,dass das steuerpflichtige Arbeitseinkommen nicht unterAnrechnung der körperschaftsteuerlichen Vorbelastungder progressiven Besteuerung unterliegen, sondern ohneAnrechnung der Körperschaftsteuer dem Steuersatz fürKapitaleinkommen unterworfen werden soll. Im Hin-blick auf die Besteuerung des Arbeitseinkommens giltsomit das klassische System, woraus bei den derzeiti-gen Steuersätzen eine Gesamtsteuerbelastung von48,16 vH resultiert (28 vH Körperschaftsteuer zu-züglich (Kapital-)Einkommensteuer von 20,16 vH, diesich bei Anwendung von 28 vH Kapitaleinkommensteuerauf einen Gewinn nach Körperschaftsteuer von72 = 100 – 28 ergibt). Auf dieses Niveau soll der Spit-zensteuersatz für Arbeitseinkommen von derzeit 55,3 vHgesenkt werden, um Belastungsgleichheit herzustellen.Schließlich ist aus Gründen der Rechtsformneutralitätanalog zur Vorgehensweise in Schweden geplant,

Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

353

Page 380: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Kapitalgebern von Personenunternehmen ein Wahl-recht einzuräumen, nicht entnommene Gewinne demKörperschaftsteuersatz zu unterwerfen.

Verlustverrechnung und Berücksichtigung persönlicher Entlastungen

631. In Finnland und in Schweden werden Kapital-und Arbeitseinkommen getrennt besteuert. Ein Ver-lustausgleich zwischen beiden Einkommensarten ist den-noch möglich, indem für negatives Kapitaleinkommeneine Steuergutschrift in Höhe des Produkts des Steuer-satzes für Kapitaleinkommen und des Verlusts gewährtwird, die mit der Steuerschuld auf das Arbeitseinkom-men verrechenbar ist. Nicht genutzte Steuergutschriftenkönnen analog zu Verlusten in künftige Jahre vorgetra-gen werden. Infolge der getrennten Veranlagung kannder Grundfreibetrag aber nur vom Arbeitseinkommenabgezogen werden. Hintergrund dieser Regelung in dennordischen Staaten sind die unterschiedlichen Erhe-

bungsformen der Kapitaleinkommensteuer. So erhebtFinnland auf Zinseinnahmen privater Haushalte in Höhedes Satzes der Kapitaleinkommensteuer eine Abgel-tungssteuer. Der damit verbundene Vereinfachungsef-fekt würde entfallen, sofern die Einnahmen anschließendnoch um einen Grundfreibetrag gemindert werden könn-ten.

632. Die Vorgehensweise in den nordischen Staaten,die zu Beginn der neunziger Jahre eine duale Einkom-mensteuer eingeführt haben, zeigt, dass deren Leitbildnur bedingt verwirklicht ist. Die Umsetzung steuerpoliti-scher Ideale ist nun einmal nicht ganz einfach. Norwe-gen kommt diesem Ideal derzeit am nächsten. Allerdingsist das Leitbild der dualen Einkommensteuer nur imHinblick auf nationale Sachverhalte umgesetzt. EineAusweitung auf grenzüberschreitende Sachverhalte, dieaufgrund der EU-rechtlichen Diskriminierungsverboteerforderlich ist, stellt die Gesetzgeber der nordischenStaaten im Rahmen laufender Steuerreformvorhaben vorvergleichbare Herausforderungen wie den deutschenGesetzgeber.

Anhang: Tabellenteil zu Kapitalkosten und effektiven Steuerbelastungen 2003

Dieser Anhang enthält die Tabellen mit den ausführlichen Angaben zu Kapitalkosten und effektiven Steuerbelastun-gen zum Rechtsstand 1. Januar 2003, auf die in den Ziffern 518 ff. Bezug genommen wurde. Der Aufbau dieser Ta-bellen folgt dem im Jahresgutachten 2001 (Ziffern 527 ff.). Die veränderten Steuerbelastungen im Jahr 2003 gegen-über dem Jahr 2001 zeigen sich beim Vergleich der hier angegebenen mit den im Jahresgutachten 2001 präsentiertenTabellen, auf die jeweils in den Fußnoten verwiesen wird.

Ta b e l l e 64

Steuerbelastungen auf Unternehmensebene in ausgewählten europäischen Ländern für das Jahr 2003 1)

vH

Deutschland .......................... 40,7 37,2 31,1 7,3 Frankreich ............................ 35,4 34,9 34,1 7,6 Vereinigtes Königreich ......... 30,0 29,1 27,5 6,9 Irland .................................... 12,5 13,0 14,1 5,8 Italien ................................... 38,3 32,4 21,4 6,4 Niederlande .......................... 34,5 32,4 28,5 7,0 Schweden ............................. 28,0 23,3 17,0 6,0 Spanien ................................. 35,0 32,0 26,1 6,8

Durchschnitt ohne Deutschland (ungewichtet) ... 30,5 28,1 24,1 6,6

1) Rechtsstand Ausland: Januar 2003. Zu den Berechnungen und den Ergebnissen für das Jahr 2001 siehe JG 2001/02 Kasten 7 und Tabelle 78.

TarifbelastungEffektive Durch-

schnittssteuer-belastung (EATR)

Effektive Grenzsteuer-

belastung (EMTR)Kapitalkosten

Die Politikbereiche im Einzelnen

354

Page 381: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ta b e l l e 65

Effektive Steuerbelastungen bei Investitionen deutscher Kapitalgesellschaften im Ausland (Outbound-Investitionen) für das Jahr 20031)

- Unternehmensebene -

vH

Selbst- Beteiligungs- Fremd-

finanzierung

Frankreich

Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 34,2 36,1 39,5 36,7

Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 35,8 36,5 37,9 36,7

Vereinigtes Königreich

Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 25,7 27,9 36,5 30,4

Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 29,5 30,2 33,4 31,1

Irland

Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 4,3 7,3 33,7 17,4

Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 11,7 12,4 21,6 15,2

Italien

Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 22,6 25,2 27,6 25,2

Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 33,5 34,2 34,9 34,2

Niederlande

Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 28,4 30,6 35,3 31,5

Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 33,2 33,9 35,6 34,3

Schweden

Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 12,9 15,8 30,6 20,6

Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 23,3 24,0 28,6 25,3

Spanien

Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 26,2 28,5 33,1 29,4

Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 32,9 33,6 35,1 33,9

Durchschnitt (ungewichtet)

Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 22,1 24,5 33,8 27,3

Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 28,6 29,3 32,4 30,1

Nachrichtlich: Durchschnitt bei nationaler Geschäftstätigkeit

Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 41,8 41,8 - 9,2 31,1

Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 41,1 41,1 29,2 37,2

1) Bei ausländischer Tochtergesellschaft. Zu den Berechnungen und den Ergebnissen für die Jahre 2000/2001 siehe JG 2001/02 Kasten 7 und Ta-

belle 79. - 2) Die effektiven Grenzsteuerbelastungen bei den ungewichteten Durchschnitten werden über die durchschnittlichen Kapitalkosten und nicht als Durchschnitt der einzelnen effektiven Grenzsteuerbelastungen berechnet (JG 2001/02 Ziffer 529).

Durchschnitt2)

(ungewichtet)

Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

355

Page 382: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ta b e l l e 66

Ta b e l l e 67

Kapitalkosten und effektive Durchschnittssteuerbelastung bei deutschen Investitionenim Ausland (Outbound-Investitionen) für das Jahr 20031)2)

- Unternehmensebene und Kapitalgeber, zusammen -

vH

Selbst- Beteiligungs- Fremd-

Nullsteuersatz - Kapitalkosten .............................................. 6,5 6,7 7,6 6,9 7,3 - Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ....... 28,6 29,3 32,4 30,1 37,2

Spitzensteuersatz ohne wesentliche Beteiligung - Kapitalkosten .............................................. 4,0 4,0 4,9 4,3 4,3 - Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ....... 32,5 32,8 35,2 33,5 39,1

Spitzensteuersatz mit wesentlicher Beteiligung - Kapitalkosten .............................................. 4,2 4,4 5,2 4,6 4,6 - Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ....... 33,6 33,9 36,4 34,6 40,1

1) Durchschnitt über die Tochtergesellschaften in den betrachteten Ländern. - 2) Zu den Berechnungen und den Ergebnissen für die Jahre 2000/2001/2002/2005 siehe JG 2001/02 Kasten 7 und Tabelle 80.

finanzierung

Nachrichtlich: Durchschnittbei nationaler

Geschäfts-tätigkeit

Durchschnitt (ungewichtet)

Effektive Durchschnittssteuerbelastungen bei Investitionen einer US-amerikanischenKapitalgesellschaft in ausgewählten europäischen Ländern für das Jahr 2003 1)2)

- Unternehmensebene -

vH

Selbst- Beteiligungs- Fremd-

finanzierung

Deutschland ............................................... 38,8 40,5 39,7 39,7 Frankreich .................................................. 36,8 38,5 37,2 37,5 Vereinigtes Königreich .............................. 31,6 34,1 34,1 33,2 Irland ......................................................... 25,9 34,9 34,9 31,9 Italien ......................................................... 34,6 36,3 34,4 35,1 Niederlande ............................................... 34,3 36,0 35,1 35,1 Schweden ................................................... 28,2 32,4 32,4 31,0 Spanien ...................................................... 35,9 39,4 37,1 37,5

Durchschnitt ohneDeutschland (ungewichtet) ........................ 32,5 35,9 35,0 34,5

1) Finanzierung von Investitionen in einer Tochtergesellschaft. - 2) Zu den Berechnungen und den Ergebnissen für die Jahre 2000/2001 siehe JG 2001/02 Kasten 7 und Tabelle 82.

Durchschnitt (ungewichtet)

Die Politikbereiche im Einzelnen

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Page 383: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ta b e l l e 68

Kapitalkosten und effektive Steuerbelastungen bei Investitionen ausländischer Kapitalgesellschaften in Deutschland (Inbound-Investitionen) für das Jahr 2003 1)

- Unternehmensebene -

vH

Selbst- Beteiligungs- Fremd-

finanzierung

Frankreich Kapitalkosten .............................................. 6,5 12,8 8,9 9,4 Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 22,5 60,9 43,5 46,6 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 48,9 61,1 53,5 54,5

Vereinigtes Königreich Kapitalkosten .............................................. 7,4 7,4 6,9 7,3 Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 32,6 32,6 27,8 31,1 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 37,7 37,7 36,2 37,2

Irland Kapitalkosten .............................................. 8,1 8,1 5,6 7,3 Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 38,3 38,3 10,0 31,1 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 39,7 39,7 32,1 37,2

Italien Kapitalkosten .............................................. 7,1 7,3 7,7 7,4 Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 29,6 31,8 34,8 32,1 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 37,5 38,1 39,1 38,2

Niederlande Kapitalkosten .............................................. 8,6 8,6 7,3 8,2 Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 41,8 41,8 31,3 38,7 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 41,2 41,2 37,3 39,9

Schweden Kapitalkosten .............................................. 7,6 7,6 6,6 7,3 Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 34,0 34,0 24,4 31,1 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 38,1 38,1 35,3 37,2

Spanien Kapitalkosten .............................................. 7,2 7,2 7,3 7,3 Grenzsteuerbelastung (EMTR) ................... 30,8 30,8 31,7 31,1 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 37,1 37,1 37,4 37,2

1) Tochtergesellschaften in Deutschland. Zu den Berechnungen und den Ergebnissen für die Jahre 2000/2001 siehe JG 2001/02 Kasten 7 und Ta-

belle 81. - 2) Die effektiven Grenzsteuerbelastungen bei den ungewichteten Durchschnitten werden über die durchschnittlichen Kapitalkosten und nicht als Durchschnitt der einzelnen effektiven Grenzsteuerbelastungen berechnet (JG 2001/02 Ziffer 529).

Durchschnitt2)

(ungewichtet)

Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

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Page 384: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ta b e l l e 69

Ta b e l l e 70

Kapitalkosten und effektive Steuerbelastungen von Kapitalgesellschaftenin Deutschland für das Jahr 2003 auf Unternehmensebene1)

vH

Selbst- Beteiligungs- Fremd-

finanzierung

Immaterielle WirtschaftsgüterKapitalkosten .............................................. 7,5 7,5 3,5 6,2 Grenzsteuerbelastung (EMTR) .................... 33,7 33,7 - 41,6 19,4 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 38,0 38,0 26,1 34,1

GebäudeKapitalkosten .............................................. 8,9 8,9 4,8 7,5 Grenzsteuerbelastung (EMTR) .................... 43,6 43,6 - 3,1 33,6 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 42,0 42,0 30,0 38,0

MaschinenKapitalkosten .............................................. 8,4 8,4 4,3 7,0 Grenzsteuerbelastung (EMTR) .................... 40,1 40,1 - 15,1 28,7 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 40,4 40,4 28,5 36,5

FinanzanlagenKapitalkosten .............................................. 9,8 9,8 5,8 8,4 Grenzsteuerbelastung (EMTR) .................... 48,8 48,8 13,2 40,7 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 44,6 44,6 32,7 40,7

VorräteKapitalkosten .............................................. 8,4 8,4 4,4 7,1 Grenzsteuerbelastung (EMTR) .................... 40,7 40,7 - 13,2 29,5 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 40,7 40,7 28,8 36,7

Durchschnitt (ungewichtet)Kapitalkosten .............................................. 8,6 8,6 4,6 7,3 Grenzsteuerbelastung (EMTR) .................... 41,8 41,8 - 9,2 31,1 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ........ 41,1 41,1 29,2 37,2

1) Zu den Berechnungen und den Ergebnissen für die Jahre 2000/2001 siehe JG 2001/02 Kasten 7 und Tabelle 72. - 2) Die effektiven Grenz-steuerbelastungen bei den ungewichteten Durchschnitten werden über die durchschnittlichen Kapitalkosten und nicht als Durchschnitt der ein-zelnen effektiven Grenzsteuerbelastungen berechnet (JG 2001/02 Ziffer 529).

Durchschnitt2)

(ungewichtet)

Kapitalkosten und effektive Steuerbelastungen von Personenunternehmen in Deutschland für das Jahr 20031)

vH

KapitalkostenEffektive Grenzsteuer-

belastung (EMTR)Effektive Durchschnitts-steuerbelastung (EATR)

NullsteuersatzSelbstfinanzierung ........................... 6,2 18,8 18,0Beteiligungsfinanzierung ................ 6,2 18,8 18,0Fremdfinanzierung .......................... 5,4 7,6 14,9Durchschnitt2) (ungewichtet) ............ 5,9 15,3 16,9

SpitzensteuersatzSelbstfinanzierung ........................... 3,8 62,1 34,7Beteiligungsfinanzierung ................ 3,8 62,1 34,7Fremdfinanzierung .......................... 3,7 61,5 34,6Durchschnitt2) (ungewichtet) ............ 3,8 61,9 34,7

1) Zu den Berechnungen und den Ergebnissen für die Jahre 2000/2001/2005 siehe JG 2001/02 Kasten 7 und Tabelle 76. - 2) Die effektiven Grenz-steuerbelastungen bei den ungewichteten Durchschnitten werden über die durchschnittlichen Kapitalkosten und nicht als Durchschnitt der einzel-nen effektiven Grenzsteuerbelastungen berechnet (JG 2001/02 Ziffer 529).

Die Politikbereiche im Einzelnen

358

Page 385: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ta b e l l e 71

Ta b e l l e 72

Kapitalkosten und effektive Steuerbelastungen von Kapitalgesellschaften in Deutschland für das Jahr 2003 1)

- Unternehmensebene und Kapitalgeber -

vH

Selbst- Beteiligungs- Fremd-

Nullsteuersatz

Kapitalkosten ............................................. 8,6 8,6 4,6 7,3 Grenzsteuerbelastung (EMTR) .................. 41,8 41,8 - 9,2 31,1 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ...... 41,1 41,1 29,2 37,2

Spitzensteuersatz (ohne wesentliche Beteiligung)

Kapitalkosten ............................................. 3,0 4,9 5,0 4,3 Grenzsteuerbelastung (EMTR) .................. 51,5 70,9 71,0 66,4 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ...... 36,1 40,6 40,6 39,1

Spitzensteuersatz (mit wesentlicher Beteiligung)

Kapitalkosten ............................................. 4,2 4,8 4,9 4,6 Grenzsteuerbelastung (EMTR) .................. 65,8 70,2 70,4 69,0 Durchschnittssteuerbelastung (EATR) ...... 39,2 40,6 40,7 40,1

1) Zu den Berechnungen und den Ergebnissen für die Jahre 2000/2001/2005 siehe JG 2001/02 Kasten 7 und Tabelle 73. - 2) Die effektiven Grenzsteuerbelastungen bei den ungewichteten Durchschnitten werden über die durchschnittlichen Kapitalkosten und nicht als Durchschnitt der einzelnen effektiven Grenzsteuerbelastungen berechnet (JG 2001/02 Ziffer 529).

finanzierung Durchschnitt (ungewichtet)

Durchschnitt2)

(ungewichtet)

Belastungsunterschiede von Kapitalgesellschaften im Vergleich zu Personenunternehmen in Deutschland für das Jahr 20031)

Prozentpunkte

KapitalkostenEffektive Grenzsteuer-

belastung (EMTR)Effektive Durchschnitts-steuerbelastung (EATR)

Nullsteuersatz

Selbstfinanzierung ......................... + 2,4 + 23,0 + 23,2 Beteiligungsfinanzierung ............... + 2,4 + 23,0 + 23,2 Fremdfinanzierung ........................ - 0,8 - 16,8 + 14,4 Durchschnitt3) (ungewichtet) .......... + 1,3 + 15,7 + 20,2

Spitzensteuersatz2)

Selbstfinanzierung ......................... + 0,8 - 10,6 + 1,4 Beteiligungsfinanzierung ............... + 1,1 + 8,8 + 5,9 Fremdfinanzierung ........................ + 1,8 + 9,5 + 6,0 Durchschnitt3) (ungewichtet) .......... + 0,5 + 4,5 + 4,4

1) Zu den Berechnungen und den Ergebnissen für die Jahre 2000, 2001/2002 und 2005 siehe JG 2001/02 Kasten 7 und Tabelle 77. - 2) Perso-nenunternehmen ohne Anteilsveräußerung; Kapitalgeber bei Kapitalgesellschaften ohne wesentliche Beteiligung. - 3) Die effektiven Grenz-steuerbelastungen bei den ungewichteten Durchschnitten werden über die durchschnittlichen Kapitalkosten und nicht als Durchschnitt der ein-zelnen effektiven Grenzsteuerbelastungen berechnet (JG 2001/02 Ziffer 529).

Steuerpolitik: Vom Chaos zum System

359

Page 386: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Ta b e l l e 73

Wirkungen der Gemeindewirtschaftssteuer auf die effektiven Steuerbelastungen für das Jahr 2003bei voller Abzugsfähigkeit (voller Hinzurechnung) von Dauerschuldzinsen

vH

finanzierung

Ia. Kapitalgesellschaften (Unternehmensebene)

Grenzsteuerbelastung (EMTR)vor Reform ........................................nach Reform ...................................... 42,5 (42,7) 42,7 (42,7) -33,2 (7,1) 29,2 (34,3)Differenz ........................................... 0,7 (0,9) 0,9 (0,9) -24,0 (16,3) -1,9 (3,2)

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)vor Reform ........................................nach Reform ...................................... 42,0 (42,1) 42,1 (42,1) 27,6 (32,4) 37,3 (38,8)Differenz ........................................... 0,9 (1,0) 1,0 (1,0) -1,6 (3,2) 0,1 (1,6)

Ib. Kapitalgesellschaften (Unternehmensebene und Kapitalgeber; ohne wesentliche Beteiligung; Spitzensteuersatz)

Grenzsteuerbelastung (EMTR)vor Reform ........................................nach Reform ...................................... 52,1 (52,2) 71,3 (71,3) 65,3 (75,1) 64,5 (68,7)Differenz ........................................... 0,6 (0,7) 0,4 (0,4) -5,7 (4,1) -1,9 (2,3)

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)vor Reform ........................................nach Reform ...................................... 36,8 (36,8) 41,3 (41,3) 39,4 (43,0) 39,2 (40,4)Differenz ........................................... 0,7 (0,7) 0,7 (0,7) -1,2 (2,4) 0,1 (1,3)

IIa. Personenunternehmen (Nullsteuersatz)

Grenzsteuerbelastung (EMTR)vor Reform ........................................nach Reform ...................................... 15,0 (15,0) 15,0 (15,0) -4,7 (15,0) 9,3 (15,0)Differenz ........................................... -3,8 (-3,8) -3,8 (-3,8) -12,3 (7,4) -6,0 (-0,3)

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)vor Reform ........................................nach Reform ...................................... 14,1 (14,1) 14,1 (14,1) 9,3 (14,1) 12,5 (14,1)Differenz ........................................... -3,9 (-3,9) -3,9 (-3,9) -5,6 (-0,8) -4,4 (-2,8)

IIb. Personenunternehmen (Spitzensteuersatz)

Grenzsteuerbelastung (EMTR)vor Reform ........................................nach Reform ...................................... 62,2 (62,2) 62,2 (62,2) 60,9 (62,2) 61,8 (62,2)Differenz ........................................... 0,1 (0,1) 0,1 (0,1) -0,6 (0,7) -0,1 (0,3)

Durchschnittssteuerbelastung (EATR)vor Reform ........................................nach Reform ...................................... 34,8 (34,8) 34,8 (34,8) 34,5 (34,8) 34,7 (34,8)Differenz ........................................... 0,1 (0,1) 0,1 (0,1) -0,1 (0,2) 0,0 (0,1)

1) Die effektiven Grenzsteuerbelastungen bei den ungewichteten Durchschnitten werden über die durchschnittlichen Kapitalkosten und nicht als Durchschnitt der einzelnen effektiven Grenzsteuerbelastungen berechnet (JG 2001/02 Ziffer 529).

34,7 34,7 34,6 34,7

61,9

18,0 18,0 14,9 16,9

62,1 62,1 61,5

18,8 18,8 7,6 15,3

36,1 40,6 40,6 39,1

51,5 70,9 71,0 66,4

41,1 41,1 29,2 37,2

41,8 41,8 -9,2 31,1

Selbst- Beteiligungs- Fremd- Durchschnitt1)

(ungewichtet)

Die Politikbereiche im Einzelnen

360

Page 387: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

II. Arbeitsmarkt: Chancen für neue Arbeitsplätze

verantwortungsvoll wahrnehmen

633. In Deutschland zeigen sich erste Auflösungser-scheinungen des Reformstaus auf dem Arbeitsmarkt,wenn auch nicht gerade in Form des vielfach eingefor-derten Rucks, der durch Deutschland gehen solle, undbei weitem nicht ohne teilweise erbitterte Widerstände.Die Erkenntnis, dass sich gerade auf dem Arbeitsmarktviel ändern muss, beginnt, sich angesichts der erschre-ckend hohen und persistenten Arbeitslosigkeit in Tatenumzusetzen.

Adressaten der Vorschläge, die der Sachverständigenratzur Diskussion stellt, sind vor allem die Akteure derWirtschaftspolitik, im vorliegenden Kontext die Tarif-vertragsparteien und der Gesetzgeber. Wenn es um dieSchaffung der dringend benötigten neuen, wettbewerbs-fähigen Arbeitsplätze geht, nehmen die Tarifvertragspar-teien die Führungsrolle ein. Richtig ist: Selbst eine mo-derate Lohnpolitik vermag die Arbeitslosigkeit nichtallein zu beseitigen, und nicht für jede Fehlentwicklung

auf dem Arbeitsmarkt können die Tarifvertragsparteienverantwortlich gemacht werden. Ebenso richtig ist je-doch: Der Beitrag der Lohnpolitik zur Behebung der Mi-sere auf dem Arbeitsmarkt ist unverzichtbar, mit Hilfeeines beschäftigungsfreundlichen Kurses muss dieLohnpolitik den Außenseitern auf dem Arbeitsmarkt,den Arbeitslosen, Beschäftigungschancen eröffnen.Schon gar nicht dürfen die Tarifvertragsparteien der Ver-suchung erliegen, die Folgen lohnpolitischen Fehlver-haltens auf den Staat abwälzen zu wollen, der gefälligstfür eine befriedigende Ausgestaltung der aktiven undpassiven Arbeitsmarktpolitik Sorge zu tragen habe. Diestaatliche Wirtschaftspolitik sollte sich diesen Schuh erstgar nicht anziehen, sondern die Verantwortung der Tarif-vertragsparteien klar herausstellen und sich der Verwirk-lichung beschäftigungsfreundlicher Rahmenbedingun-gen widmen, damit hat sie alle Hände voll zu tun. In derTat hat die Bundesregierung zielführende Reformen aufden Weg gebracht, wie beispielsweise die Änderungendes Leistungsrechts beim Arbeitslosengeld und die ge-plante Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und So-zialhilfe in etwa auf dem Niveau der Sozialhilfe, Schrittemithin, welche angesichts geharnischter Widerstände ei-nigen Mut erfordern. Weitere notwendige Reformmaß-nahmen, die vom Sachverständigenrat in früheren Gut-achten vorgeschlagen wurden und in diesem Gutachtenergänzt werden, harren allerdings nach wie vor darauf,in Angriff genommen zu werden.

1. Die Verantwortung der Tarifvertragsparteien: Auf einen beschäftigungsfreundlichen Kurs

einschwenken634. Die Lohnpolitik steht auch in den kommendenJahren vor großen Herausforderungen. Angesichts derbedrückenden Arbeitslosigkeit muss sie einen beschäfti-gungsfreundlichen Kurs einschlagen und ihren Beitragzur Schaffung neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätzeleisten. Gewiss: Die Lohnpolitik ist nicht allein verant-wortlich für die Misere auf dem Arbeitsmarkt, und mitLohnzurückhaltung allein lässt sich die Arbeitslosigkeitnicht beseitigen. Aber: Wenn es um wirkungsvolle Maß-nahmen für mehr Beschäftigung geht, dann nehmen dieTarifvertragsparteien die Führungsrolle ein; diese Her-ausforderung anzunehmen, daran führt kein Weg vorbei.Es nur der staatlichen Wirtschaftspolitik zu überlassen,beschäftigungsfreundliche Rahmenbedingungen zu set-zen, verkennt die Verantwortung der Lohnpolitik. Erstrecht ist der Staat kein Reparaturbetrieb lohnpolitischenFehlverhaltens.

Es geht allerdings nicht allein um ein beschäftigungs-freundliches Lohnniveau, sondern zudem um eine fle-xiblere Lohnstruktur vor allem im Hinblick auf unter-schiedliche Entwicklungen der Arbeitsproduktivitäten,beispielsweise in Bezug auf Qualifikationen und Regio-nen. Die Wirksamkeit sowohl der im Gesetzgebungsver-fahren befindlichen Maßnahmen der Bundesregierung,wie etwa die Reform der Arbeitslosenhilfe und Sozial-hilfe (Ziffern 231 ff.), als auch darüber hinaus gehenderVorschläge zur Gewährleistung genügend starker An-reize zur Arbeitsaufnahme im Bereich gering qualifizier-ter Arbeit – bei hinreichendem Basiseinkommen für

Das Wichtigste in Kürze

(1) Die Tarifvertragsparteien sollten auf einen be-schäftigungsfreundlichen Kurs einschwenken undbei der Tariflohnentwicklung den Verteilungs-spielraum nicht voll ausschöpfen.

(2) Die qualifikatorische Lohnstruktur sollte insbe-sondere im Bereich gering qualifizierter Arbeitweiter gespreizt werden.

(3) Das Tarifvertragsrecht ist zu flexibilisieren.(4) Das Kündigungsschutzrecht sollte modifiziert und

erweitert werden. Dazu gehören die Einschrän-kungen der Beweistatbestände bei arbeitgebersei-tigen Kündigungen und eine weitere Flexibilisie-rung durch Optionen bei Abdingung desgesetzlichen Kündigungsschutzes.

(5) Beim Arbeitslosengeld I sollten die Anreize zu ei-ner zügigeren Arbeitsaufnahme verstärkt werden,indem diese Leistung zwar für die erste Phase derArbeitslosigkeit angehoben wird, dann aber mitzunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit sinkt.

(6) Die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversiche-rung sollten teilweise unternehmensspezifischausgestaltet werden und zwar in Anlehnung an dieNettokosten, die betriebsbedingt entlassene Ar-beitnehmer des betreffenden Unternehmens beider Arbeitslosenversicherung verursachen.

(7) Der Sachverständigenrat erneuert seinen Vor-schlag einer grundlegenden Reform der Sozial-hilfe/Arbeitslosengeld II, damit mehr Beschäfti-gung im Niedriglohnbereich geschaffen wird. Vonder Einführung einer staatlich festgelegten Lohn-untergrenze im Rahmen der Zumutbarkeitsrege-lung sollte abgesehen werden.

Arbeitsmarkt: Chancen für neue Arbeitsplätze verantwortungsvoll wahrnehmen

361

Page 388: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

Arbeitswillige – setzt eine qualifikatorische Lohnstruk-tur voraus, welche die Schaffung von Arbeitsplätzen imNiedriglohnbereich fördert, und zwar außerhalb des Be-reichs der Schattenwirtschaft.

Bei Arbeitslosigkeit den Verteilungsspielraum nicht ausschöpfen

635. Zur Beantwortung der Frage, ob die auf sektoraleroder einzelwirtschaftlicher Ebene vorgenommenenLohnabschlüsse in einer gesamtwirtschaftlichen Per-spektive das erforderliche Prädikat „beschäftigungs-freundlich“ verdienen, hat der Sachverständigenrat einBeurteilungskriterium entwickelt. Als Prüfstein dient derlohnpolitische Verteilungsspielraum, verbunden mit derForderung, diesen angesichts der hohen Arbeitslosigkeitnicht voll auszuschöpfen. Dabei sind einige Aspekte zuklären oder zu präzisieren.

Zunächst wird diskutiert, nach welchen Kriterien sichder Verteilungsspielraum in realer Betrachtungsweisebemisst. In diesem Zusammenhang steht insbesonderedie Rolle der Grenzproduktivität der Arbeit im Verhält-nis zu den realen Lohnkosten im Mittelpunkt, wobei zu-sätzlich die Bereinigung des Produktivitätsfortschrittsum Beschäftigungsschwankungen zu erörtern ist. An-schließend wird dargelegt, warum dieser reale Vertei-lungsspielraum nicht ausgeschöpft, sondern ein Ab-schlag vorgenommen werden sollte, um seitens derLohnpolitik einen Beitrag zur Schaffung neuer Arbeits-plätze zu leisten. Danach erfolgt die Betrachtung in no-minalen Größen, weil die Tarifvertragsparteien unmittel-bar über nominale und nicht über reale Tariflöhneverhandeln. Sodann widmen sich die Ausführungen eini-gen kritischen Einwänden gegen diese lohnpolitischeKonzeption, wobei auch die in der Öffentlichkeit häufigverwendete Lohnstückkostenentwicklung als Kriteriumeiner beschäftigungsfreundlichen Lohnpolitik auf denPrüfstand gestellt wird. Schließlich ist zu erläutern,wieso sich trotz sektoral differenzierter Tariflohnab-schlüsse die für die gesamtwirtschaftliche Ebene ange-legte Konzeption des Sachverständigenrates gleichwohlals Orientierungshilfe zur Beurteilung des Kurses derLohnpolitik eignet.

636. Ausgangspunkt der Überlegungen zur Bemessungdes Verteilungsspielraums bildet zunächst das aus derArbeitsmarktökonomik geläufige Ergebnis, dass untereiner Reihe von vereinfachenden Annahmen die Arbeits-nachfrage der Unternehmen gleich bleibt, solange sichdie realen Arbeitskosten im Ausmaß der Fortschrittsrateder Arbeitsproduktivität verändern.

Die genannte Produktivitätsregel gilt in jedem Fall füreine Wettbewerbssituation, die durch vollständige Kon-kurrenz auf den Absatzmärkten und Beschaffungsmärk-ten der Unternehmen gekennzeichnet ist, aber ebenso fürmonopolistisch geprägte Marktverhältnisse, sofern sichdiese in dem Betrachtungszeitraum, welcher der Beurtei-lung der Lohnpolitik zugrunde liegt, nicht oder nur unwe-sentlich ändern (Kasten 15, Seiten 364 ff.). Unternehmenfragen zusätzliche Arbeit nur nach, solange die realen Ar-beitskosten noch unterhalb des zusätzlich erzielten Pro-duktionsergebnisses, der Grenzproduktivität der Arbeit,

liegen, wobei in der Regel diese Zunahme der Produktionmit steigendem Arbeitseinsatz sinkt, weil zusätzlich ein-gesetzte Arbeitskräfte und Arbeitsstunden eine immergeringere Produktivität aufweisen (abnehmendes Grenz-produkt). Entsprechen sich mit zunehmender Beschäfti-gung dann schließlich reale Lohnkosten und Grenzpro-duktivität, bleibt die Arbeitsnachfrage konstant. Wennaber die realen Lohnkosten die Grenzproduktivität derArbeit überschreiten, der zusätzliche Arbeitseinsatz alsoVerluste einfährt, erfolgt ein Abbau der Beschäftigung.Daher ist die Kenntnis der Grenzproduktivität so wichtig.

Die Arbeitsnachfrage der Unternehmen verringert sichauch, wenn auf den Gütermärkten zunehmende Monopo-lisierungstendenzen zu beobachten sind oder auf dem Ar-beitsmarkt die Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte nurbei steigenden Stundenlohnsätzen bewerkstelligt werdenkann. Solche Entwicklungen mögen mittelfristig auf eini-gen Märkten durchaus der Realität entsprechen, aber esist unwahrscheinlich, dass sie auf gesamtwirtschaftlicherEbene, für die das Konzept als Prüfmaßstab dienen soll,binnen kurzem in beachtlichem Ausmaß auftreten. Blei-ben demnach innerhalb eines Zeitraums einiger wenigerJahre die Wettbewerbsverhältnisse in etwa gleich, dannliefert die in Veränderungsraten formulierte Produktivi-tätsregel brauchbare Näherungswerte.

637. Etwas aufwändiger stellen sich die genaue Defini-tion des Begriffs „Arbeitsproduktivität“ und ihre Mes-sung dar, also des Produktionsergebnisses je eingesetzterArbeitseinheit. Zwei Aspekte bedürfen einer Präzisie-rung:

– Wie bereits dargelegt, handelt es sich bei dem hier re-levanten Produktivitätsbegriff um die zusätzlicheProduktionsmenge, wenn genau eine Einheit Arbeit,also ein Beschäftigter oder eine Arbeitsstunde, mehrim Produktionsprozess eingesetzt wird („Grenzpro-duktivität der Arbeit“). Auf gesamtwirtschaftlicherEbene ist sie allerdings kaum beobachtbar und wirdin keiner Statistik ausgewiesen. Häufig behilft mansich deshalb mit der Durchschnittsproduktivität derArbeit, mithin dem durchschnittlich erzielten Produk-tionsergebnis je eingesetzter Arbeitseinheit. Dasmuss im Einzelfall auch gar nicht so falsch sein: Zwarliegt das Niveau der Grenzproduktivität unterhalb desNiveaus der Durchschnittsproduktivität, aber die Ver-änderungsraten beider Produktivitäten entsprechensich, solange die Produktionstechnik unverändertbleibt. Da Veränderungsraten die Grundlage der Pro-duktivitätsregel bilden, stellt in erster Annäherungund für die kurze Frist die zeitliche Entwicklung derDurchschnittsproduktivität eine Daumenregel dar, je-doch ist für längerfristige oder differenziertere Analy-sen eine Schätzung der Grenzproduktivität auf derGrundlage der Durchschnittsproduktivität und pro-duktionstechnischer Parameter geboten.

– Welche Definition der Arbeitsproduktivität auch ge-wählt wird, stets muss zur Bestimmung des Vertei-lungsspielraums der Anteil herausgerechnet werden,der lediglich aufgrund einer Freisetzung von Arbeit(„Entlassungsproduktivität“) zustande kommt. Dassohne eine solche Korrektur die Lohnpolitik Irrwege

Die Politikbereiche im Einzelnen

362

Page 389: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

beschreitet, liegt auf der Hand, weil sich dann jedenoch so überzogene Lohnpolitik quasi im Nachhineinrechtfertigt: Denn sie führt zu einem geringeren Ar-beitseinsatz und damit schon allein deshalb zu einemAnstieg der Arbeitsproduktivität, das heißt, der ver-meintlich produktivitätsorientierte Kurs der Lohn-politik bewahrheitet sich letztlich von selbst.

Für die deshalb vorzunehmende Korrektur bieten sichmehrere Möglichkeiten an. Die beschäftigungsneutraleFortschrittsrate der Arbeitsproduktivität kann mit Hilfeproduktionstheoretischer Überlegungen geschätzt wer-

den, oder sie wird durch die trendmäßige Entwicklungdes Produktivitätsfortschritts approximiert, wobei derStützzeitraum der Trendberechnung geeigneterweisemindestens einen Konjunkturzyklus umfassen sollte.Auf der Basis der ersten Methode errechnet sich für dasJahr 2003 auf gesamtwirtschaftlicher Ebene immerhineine um 0,47 Prozentpunkte niedrigere bereinigte Fort-schrittsrate der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität(Tabelle 74, Spalten (1) und (3)). Dies stellt keine ver-nachlässigbare Größe dar und verdeutlicht nochmals dieNotwendigkeit dieser Korrektur.

Ta b e l l e 7 4

Entwicklung der Arbeitsproduktivitäten und der Löhne

Veränderung gegenüber dem Vorjahr in vH

Ergebnisse

(1)

1992 + 2,72 1993 + 1,58 1994 + 2,59 1995 + 2,54 1996 + 2,28 1997 + 2,01 1998 + 1,31 + 0,27 1999 + 1,49 - 1,26 2000 + 2,16 - 0,35 2001 + 1,37 + 0,23 2002 + 1,29 - 0,42

20034) + 1,36 - 0,82

Grunddaten

Niveau vH(6) (7) (8) (9) (13)

1992 - 0,47 69,62 +1,68 . + 5,13 1993 - 2,63 69,93 +0,44 . + 4,41 1994 - 0,24 68,72 -1,73 . + 2,67 1995 - 0,79 68,41 -0,46 . + 1,73 1996 - 1,48 67,87 -0,79 . + 1,49 1997 - 0,60 67,06 -1,18 . + 1,89 1998 + 0,64 66,49 -0,85 - 0,42 + 0,93 1999 + 0,54 66,82 +0,49 - 0,59 + 0,61 2000 + 0,68 67,65 +1,25 - 0,47 + 1,42 2001 - 0,51 67,53 -0,18 - 0,25 + 2,00 2002 - 1,10 66,97 -0,84 - 0,30 + 1,37

20034) - 1,38 65,41 -2,32 - 0,52 + 1,10

1) Arbeitseinkommen in Relation zur Bruttowertschöpfung zu Faktorkosten. - 2) Quelle: DIW. - 3) Verbraucherpreisindex für Deutschland (2000 = 100). - 4) Eigene Schätzung.

- 0,25 + 1,29 + 1,59

+ 1,07

+ 1,94 + 2,26 + 1,79

+ 1,03 + 2,25

+ 1,95 + 2,85 + 2,01 + 2,01 + 2,63

+ 2,66 + 1,45

+ 5,04 + 3,67

.+ 7,52 + 6,43 + 3,39 + 4,88

+ 2,49

+ 2,51 + 2,03 + 1,02 + 0,66 + 1,11 + 0,49

+ 2,02 + 3,75 + 2,92

+ 0,79 + 0,84 + 2,35

+ 1,90 + 1,41

+10,48

.

+ 0,88 + 2,85 + 1,64

+ 3,86

+ 0,62 + 0,72 + 1,04

+ 1,18 + 0,36

+ 0,95

+ 1,09 + 1,11

.

.

.

.

+ 1,91

.

.

.

.

.

.

+ 2,26

.

.

+ 2,38 + 1,20

+ 1,81 + 1,81 + 1,52 + 1,67

+ 0,92

+ 0,89

+ 0,95

+ 0,94

+ 2,58 + 0,79 + 2,52 + 2,29

Jahr

Jahr

+ 2,58 + 0,78 + 2,52 + 2,30 + 1,83 + 1,82 + 1,51 + 1,66

Prozentpunkte(3) (4) (5)

(12)

Ver-braucher-

preis-

index3)

Trendmäs-sige Verän-derung der

Lohnquote über die letzten

7 Jahre

(10)

Nominale Effektiv-

löhne

je Stunde2)

Deflator des Brutto-

inlands-produkts

Nominale Tariflöhne

je Stunde2)

Arbeits-volumen

(11)

Durchschnitts-produktivität

der Arbeit (unbereinigt)

Grenzprodukti-vität der Arbeit,beschäftigungs-

bereinigt bei konstanter Lohnquote

Lohnquote1)

(2)

+ 2,37 + 1,21

Grenzprodukti-vität der Arbeit, beschäftigungs-

bereinigt (7Jahre)

Reale Tariflöhne je Stunde

„Verteilungs-spielraum“

(+) nicht aus-geschöpft

(-) überzogen

(4) - (5)

Durchschnitts-produktivität

der Arbeit, be-schäftigungs-

bereinigt

(1) + (6) *

(1-(7)/100) (3) + (9) (10) - (12)

Arbeitsmarkt: Chancen für neue Arbeitsplätze verantwortungsvoll wahrnehmen

363

Page 390: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

K a s t e n 1 5

Beschäftigung, Reallohn und Produktivitäten

Die folgenden Ausführungen erläutern die lohnpolitische Konzeption des Sachverständigenrates auf der Basisproduktionstheoretischer Überlegungen.

Betrachtet wird ein repräsentatives Unternehmen, das sein Güterangebot Y bei exogenem Stand des technischenWissens A mit Hilfe der Faktoren Arbeit L und Kapital K erzeugt, wobei in der empirischen Anwendung der Ar-beitseinsatz in Stunden gemessen wird und somit dem Arbeitsvolumen entspricht. Auf dem Gütermarkt herrscheebenso wie auf dem Arbeitsmarkt nicht notwendigerweise vollständiger Wettbewerb. Insbesondere sei derNominallohn W eine steigende Funktion in L mit ηt als der zugehörigen Elastizität, beispielsweise wegen Über-stundenzuschlägen oder eines lokal geräumten Arbeitsmarkts. Die Produktionsfunktion und die Güternachfragelauten demnachu

wobei b einen Niveauparameter, δt den Absolutbetrag der Elastizität der Güternachfrage und Pt das Preisniveaubezeichnen. Für den Gewinn Πt eines Unternehmens gilt, mit R als den vereinfachend konstant gesetzten Kapital-nutzungskosten,

Aus diesen Gleichungen folgt eine Bedingung erster Ordnung für den gewinnmaximalen Arbeitseinsatz, die sichzu dem Ausdruck

umformen lässt. Mithin gilt die bekannte Optimalbedingung, dass der Reallohn, bereinigt um die Abweichungenvon der Marktform der vollständigen Konkurrenz auf den Gütermärkten und dem Arbeitsmarkt, der Grenzproduk-tivität entsprechen muss. Bei vollständiger Konkurrenz auf dem Gütermarkt ( ) und demArbeitsmarkt (ηt = 0) erhält man eine Gleichheit zwischen Reallohn und Grenzproduktivität. Im Folgenden be-

zeichne κt den Quotienten . Er steigt mit stärkeren Monopolisierungsgraden auf dem Güter-

markt und dem Arbeitsmarkt. Wegen κt > 1 ist für einen gegebenen Reallohn die Grenzproduktivität höherund die Beschäftigung entsprechend niedriger als bei vollständigem Wettbewerb auf Gütermärkten und Faktor-märkten.

Unterstellt man eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion , ergeben sich einige Vereinfa-chungen. Die Durchschnittsproduktivität und die Grenzproduktivität stellen sich wie folgt dar:

Gleichung (4) lautet nun:

tttt AKLFY ;,= (1)

tt

dt bPY δ−= , (2)

ttttttt RKLLWYYP −−=Π )()( . (3)

t

t

t

t

t

t

P

W

L

Y

δ

η1

1

1

+=∂∂

(4)

∞=tδ

( ) 11

11 >

−+

tt δ

η

tt PW

F Lt Kt,( ) AtLtαtKt

1 αt–=

11 −−= ttttt

t

t LKAL

Y αα(5)

t

tttttt

t

t

L

YLKA

L

Ytt αα αα ==

∂∂ −− 11

. (6)

tt

ttttt P

WLKA tt κα αα =−− 11

. (7)

Die Politikbereiche im Einzelnen

364

Page 391: STAATSFINANZEN KONSOLIDIEREN – STEUERSYSTEM REFORMIEREN

tt κα

Sofern bei konstantem κt und αt der Reallohn mit der gleichen Rate wächst wie , bleibt die Be-schäftigung konstant. Die Zuwachsrate des letztgenannten Ausdrucks ist insoweit der beschäftigungsneutrale Teildes Produktivitätsfortschritts. Aus Gleichung (7) erhält man außerdem für die Lohnquote, die im vorliegenden ein-fachen Modell mit den realen Lohnstückkosten identisch ist, den Ausdruck . Sie hängt demnach nur von derProduktionstechnologie und dem Wettbewerbsgrad auf Gütermärkten und Faktormärkten ab.

Für die Lohnformel des Sachverständigenrates wird die empirisch nicht beobachtbare Zuwachsrate der Grenzpro-duktivität aus derjenigen der Durchschnittsproduktivität abgeleitet. Die beiden Zuwachsraten lauten:

wobei Zuwachsraten mit einem Dach „^“ und Ableitungen nach der Zeit mittels eines hochgestellten Punktes ge-kennzeichnet sind. In Gleichung (8) gibt der Ausdruck den Effekt an, den Änderungen der Beschäfti-gung auf die Durchschnittsproduktivität ausüben. Wegen αt < 1 führt ein Rückgang der Beschäftigung zu einemAnstieg der Durchschnittsproduktivität und damit der Grenzproduktivität, der für beschäftigungsneutrale Lohner-höhungen nicht zur Verfügung stehen sollte. Die um Beschäftigungsänderungen bereinigte Durchschnittsprodukti-vität lautet daher:

Unter Verwendung von Gleichung (9) definiert man entsprechend die um Beschäftigungsänderungen bereinigteGrenzproduktivitätsentwicklung als

Die Änderungsraten der Durchschnittsproduktivität und der Beschäftigung lassen sich aus Daten der Volkswirt-schaftlichen Gesamtrechnungen ermitteln. Für die Messung der Produktionselastizität αt und ihrer Änderungsrateverwendet der Sachverständigenrat eine Lohnquote. Dazu wird im Gegensatz zur sonst üblichen Definition das Ar-beitnehmerentgelt nicht zum Volkseinkommen, sondern zur Bruttowertschöpfung in Beziehung gesetzt, da bei einerCobb-Douglas-Produktionsfunktion die Produktionselastizität dem Anteil der Faktorentlohnung am Gesamtoutputentspricht und dieser besser über die Bruttowertschöpfung als über das Volkseinkommen approximiert wird. Umkurzfristig wirkende Einflüsse zu separieren, die unabhängig von den durch die Parameter αt und κt repräsentiertenFaktoren sind, wird anstelle der aktuellen die über mehrere Jahre gemittelte Änderungsrate von herangezogen.Die inhaltliche Gleichsetzung von Lohnquote und Produktionselastizität αt gilt exakt nur bei vollständigemWettbewerb auf Gütermärkten und Faktormärkten, das heißt im Fall κt = 1. Zu fragen ist, wie relevant im Fall κt > 1der durch die Gleichsetzung von Lohnquote und Produktionselastizität erzeugte Fehler ist. Wenn sich die Wettbe-werbsbedingungen nicht oder langsamer als die Produktionstechnologie ändern, wird die Zuwachsrate der Lohn-quote durch Änderungen in αt dominiert, so dass die Änderungsrate der Lohnquote weiterhin einen gutenNäherungswert für darstellt. Der letzte Summand, in den αt als Niveau eingeht und der die Höhe der Entlas-sungsproduktivität bestimmt, wird für κt > 1 durch die Gleichsetzung von αt mit der Lohnquote überschätzt. Die ge-messenen Werte von etwa zwei Dritteln stimmen aber in ihrer Größenordnung mit der in anderen Untersuchungengeschätzten Produktionselastizität des Faktors Arbeit – auch bei Einbeziehung von Humankapital – überein, so dassdie durch die Nichtberücksichtigung des Parameters κt bedingte Verzerrung vertretbar erscheint. Zudem wirkt derverbleibende Fehler symmetrisch und insofern nicht systematisch verzerrend: Zwar würde bei einem Beschäfti-gungsabbau die Entlassungsproduktivität zu hoch und damit der für Lohnerhöhungen verbleibende Spielraum zuniedrig eingeschätzt, doch zugleich käme es bei durch die Lohnzurückhaltung angestoßenen Neueinstellungen zueiner spiegelbildlichen Überschätzung des dadurch hervorgerufenen Produktivitätsrückgangs und damit zu einemgrößeren Spielraum für Lohnerhöhungen. Verändern sich die über den Faktor κt erfassten Marktstrukturen realisti-scherweise nur sehr allmählich, dann verliert der Einwand, die Gleichheit von Reallöhnen und Grenzproduktivitätsetze die unrealistische Annahme vollständigen Wettbewerbs auf allen Märkten voraus, an Relevanz. Denn selbstim Fall κt > 1 muss, wie Gleichung (7) zeigt, die Änderungsrate der Löhne in etwa der der Grenzproduktivität ent-sprechen, solange κt relativ konstant ist.

tt PW αtAtKt1 αt–

tt κα

( ) ( ) tttttttttt

t AKKLLL

Y ˆˆ1lnˆ1ln

^

+−+−−+=

αααα.

(8).

^^

ˆ

+=

∂∂

t

tt

t

t

L

Y

L

Y α , (9)

αt 1–( )L̂t

( ) ( ) tttttttttt

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Arbeitsmarkt: Chancen für neue Arbeitsplätze verantwortungsvoll wahrnehmen

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Tabelle 74 auf Seite 363 gibt in Spalte (4) die nach der Methode des Sachverständigenrates berechnete Verände-rungsrate der bereinigten Grenzproduktivität wieder. Ein Vergleich der Spalten (1) und (4) zeigt, dass die Verände-rungsrate der bereinigten Grenzproduktivität häufig nicht unerheblich unter der der Durchschnittsproduktivitätlag. In der Tabelle sind zum Vergleich auch die Tariflohnerhöhungen der vergangenen Jahre sowie die Zuwachsra-ten des Deflators des Bruttoinlandsprodukts angegeben.

Im Fünfjahreszeitraum 1999 bis 2003 stieg die bereinigte Grenzproduktivität insgesamt um 3,89 vH. Die auf derGrundlage der Veränderungsrate des Deflators des Bruttoinlandsprodukts berechneten Zuwachsraten der realenTariflöhne beziehungsweise realen Effektivlöhne beliefen sich – wiederum für den gesamten Zeitraum – auf5,26 vH und 3,33 vH. So gesehen lagen die Tariflohnsteigerungen deutlich über dem Verteilungsspielraum, wäh-rend die Effektivlohnerhöhungen aufgrund einer deutlich negativen Lohndrift – soweit das den einzelnen Unter-nehmen überhaupt möglich war – den Verteilungsspielraum nicht voll ausgeschöpft haben.

Allerdings ist zu beachten, dass es sich um eine ex post-Betrachtung handelt, welche unberücksichtigt lässt, dassdie Tarifvertragsparteien aufgrund der ihnen vorliegenden Prognosen zum Zeitpunkt der Verhandlungen mögli-cherweise von einem höheren Produktivitätswachstum oder einem stärkeren Preisanstieg ausgehen konnten. EineEx post-Betrachtung ist gleichwohl zur Beurteilung der Beschäftigungswirkung gerechtfertigt, denn nur auf diesekommt es im Hinblick auf die tatsächliche Beschäftigungsentwicklung an; Prognoseirrtümer hätten in den nächs-ten Tariflohnrunden zu Revisionen Anlass geben müssen.

Unterstellte man hingegen, wenig realistisch, dass die Veränderung der Lohnquote im Extremfall ausschließlichauf eine Änderung der Marktstrukturen zurückzuführen gewesen wäre, wegen des Rückgangs der Lohnquote mit-hin die Wettbewerbsintensität auf Gütermärkten und Arbeitsmärkten abgenommen hätte, so gilt , und dieVeränderung der Grenzproduktivität entspricht der der Durchschnittsproduktivität. Als Schätzwert für die kon-stante Produktionselastizität wird die durchschnittliche Lohnquote der Jahre 1991 bis 1993 verwendet. Die aufdiesem Weg berechnete Veränderungsrate der beschäftigungsbereinigten Grenzproduktivität ist in Spalte (2) wie-dergegeben, unterscheidet sich aber nur unwesentlich von der in Spalte (3) ausgewiesenen Änderung der beschäf-tigungsbereinigten Durchschnittsproduktivität bei variabler Lohnquote. Gemessen an diesem hypothetischen Sze-nario haben die Tariflohnabschlüsse den Verteilungsspielraum nicht ganz ausgeschöpft, wobei die konkreteBeurteilung noch vom gewählten Zeitraum abhängt.

Wie man es auch dreht und wendet: Gemessen an den Tariflohnsteigerungen hat die Tariflohnpolitik den Vertei-lungsspielraum markant überzogen. Nur mit Hilfe der Verringerung der Lohndrift und der Überstundenzahlungenwar es vielen, wenngleich nicht allen Unternehmen möglich, die überzogenen Tarifabschlüsse in den Rahmen desVerteilungsspielraums zurückzuführen. Hinzu kommt, dass die Preissteigerungen nicht zur Gänze hätten in Nomi-nallohnerhöhungen umgesetzt werden dürfen. Und besonders wichtig: Der dringend erforderliche Abschlag zurSchaffung neuer Arbeitsplätze wurde nicht vorgenommen. Dies alles stellt der Lohnpolitik kein gutes Zeugnis aus.

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638. Der durch die beschäftigungsneutrale Fortschritts- triebs. Arbeitslosigkeit ist der Preis für dieses Fehlver-

rate der Arbeitsproduktivität bestimmte reale Vertei-lungsspielraum darf angesichts der hohen Arbeitslosig-keit nicht voll ausgeschöpft werden. Vielmehr müssendie Tarifvertragsparteien ihren Beitrag zur Schaffungneuer Arbeitsplätze dadurch erbringen, dass der Anstiegder realen Arbeitskosten hinter dem beschäftigungsneu-tralen Produktivitätswachstum zurückbleibt, um so den– teilweise weniger produktiven – Arbeitslosen als denAußenseitern auf dem Arbeitsmarkt Beschäfti-gungschancen einzuräumen. Nur allzu oft haben sich dieTarifvertragsparteien dieser Verpflichtung in der Vergan-genheit entzogen. Nicht nur haben sie es unterlassen,den erforderlichen Abschlag für mehr Beschäftigungvorzunehmen, also den Verteilungsspielraum nicht vollauszuschöpfen, sondern sie haben diesen überschritten.Damit haben sie nicht nur den Arbeitslosen keineChance geboten, neue Arbeitsplätze einzunehmen, son-dern auch eine Vernichtung von Arbeitsplätzen bewirkt,beispielsweise durch eine höhere Kapitalintensität derProduktion, in Form von Standortverlagerungen ins kos-tengünstigere Ausland oder durch Stilllegung des Be-

halten, es zu korrigieren, oberstes Gebot.

639. Allerdings verhandeln die Tarifvertragsparteienüber die Nominallohnentwicklung, so dass sich dieFrage nach einem Ausgleich für erwartete Preissteige-rungen stellt. Dieser kann vor allem deshalb nur partiellerfolgen, weil der Staat und das Ausland den Vertei-lungsspielraum mit Hilfe von Preissteigerungen einen-gen können. Mit der Anhebung indirekter Steuern undden daraus resultierenden höheren Preisen, etwa beimAutobenzin, erhebt der Staat einen zusätzlichen An-spruch auf das Sozialprodukt und setzt diesen in allerRegel auch zum größten Teil durch. Ähnliches gilt zumBeispiel für höhere Preise für importierte Rohstoffe wieetwa Erdöl. Alle diese Preissteigerungen – soweit sienicht, wie die Importpreise beim Deflator des Bruttoin-landsprodukts, bereits herausgerechnet sind – dürfen dieTarifvertragsparteien in den Lohnverhandlungen nichtberücksichtigen, wollen sie nicht riskieren, eine Inflati-onsspirale in Gang zu setzen. Davon abgesehen stellenohnehin nur die erwarteten Absatzpreise der Unterneh-

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men, also die Produzentenpreise, die adäquate Orientie-runggröße dar, denn sie – und nicht etwa die Konsu-mentenpreise – entscheiden über die Absatzchancen derProdukte und damit auch über die Höhe der Beschäfti-gung.

Des Weiteren kann die Konkurrenzsituation auf denWeltmärkten dafür sprechen, in den Lohnverhandlungennur einen partiellen Ausgleich für Preissteigerungen zuvereinbaren. Bestehen im Bereich handelbarer Güter aufden Weltmärkten keine oder nur beschränkte Spiel-räume, höhere Preise durchzusetzen, dann muss in dembetreffenden Sektor im Inland ein Ausgleich für Preis-steigerungen ganz oder teilweise entfallen, will man dieinternationale Wettbewerbsfähigkeit und damit die Be-schäftigung nicht gefährden.

640. Die Tarifvertragsparteien können einem modera-ten lohnpolitischen Kurs nicht mit den Argumenten aus-weichen, Lohnzurückhaltung habe in der Vergangenheitkeine Arbeitsplätze gebracht und im Vergleich zu ande-ren Ländern sei die Entwicklung der hiesigen Lohn-stückkosten eher unterdurchschnittlich.

Zur Begründung der ersten Einlassung wird häufig aufdie geringen Veränderungsraten der realen Nettover-dienste aus Sicht der Arbeitnehmer „Konsumentenlohn“,verwiesen. In der Tat: Im Zeitraum der Jahre 1991bis 2003 erhöhten sich diese insgesamt um 5,0 vH, alsojahresdurchschnittlich nur um rund 0,4 vH. Aber: Indemselben Zeitraum stiegen die realen Bruttoarbeitskos-ten („Produzentenlohn“), also das für die Unternehmenrelevante Entscheidungskriterium, wenn es um Arbeits-plätze geht, um insgesamt 20,6 vH, also um jahresdurch-schnittlich 1,6 vH. Verantwortlich dafür sind die zuneh-mende Abgabenbelastung von Arbeitnehmern undUnternehmen und die Differenz der Steigerungsraten desVerbraucherpreisindex und des Deflators des Bruttoin-landsprodukts. Sie haben den Keil zwischen Produzen-tenlöhnen und Konsumentenlöhnen im gleichen Zeit-raum um 15,6 Prozentpunkte erhöht (Schaubild 70).Zwar ist der Unmut der Arbeitnehmer über Arbeitsplatz-verluste trotz geringer Anhebung dessen, was sie real zurVerfügung haben, nachvollziehbar – „Wo bleiben denndie für moderate Lohnsteigerungen in Aussicht gestell-ten Arbeitsplätze?“ –, jedoch muss mit Nachdruckdarauf aufmerksam gemacht werden, dass die für dieSchaffung von Arbeitsplätzen maßgeblichen realenLohnkosten kräftig gestiegen sind, mit Beschäftigungs-einbußen als Folge. Dieser durch empirische Studien gutbelegte negative Einfluss der Lohnhöhe auf die Beschäf-tigung wird kaum bestritten, von den Gewerkschaften ei-gentlich ebenso wenig, denn sonst wäre ihr Plädoyer zurSenkung der staatlich veranlassten Lohnnebenkostenzwecks Erhöhung des Beschäftigungsstands nicht ver-ständlich. Arbeitskosten bleiben indes Arbeitskosten, obdiese nun von den Unternehmen auf die Konten der Ar-beitnehmer, des Staates oder der Sozialversicherungenüberwiesen werden.

641. Das zweite Argument gegen einen moderatenKurs der Lohnpolitik bezieht sich auf die zeitliche Ent-wicklung der (nominalen) Lohnstückkosten. Mitunter

wird behauptet, die Frage, ob die Lohnpolitik einen be-schäftigungsfreundlichen Kurs eingeschlagen habe,lasse sich anhand der Entwicklung der Lohnstückkostenablesen.

Der Sachverständigenrat erachtet in seiner Mehrheit dieLohnstückkostenentwicklung als konzeptionell nicht ge-eignet, die Lohnpolitik zu beurteilen. Dies ergibt sichschon daraus, dass die Entwicklung der Arbeitsprodukti-vität nicht unabhängig von der Lohnpolitik ist, weil auf-grund überzogener Lohnanhebungen vorgenommeneEntlassungen die Arbeitsproduktivität erhöhen und da-mit unmittelbar die Lohnstückkosten dämpfen.

642. Dass die Lohnstückkostenentwicklung sich kaumals Beurteilungsmaßstab eines lohnpolitischen Kurseseignet, wird zudem deutlich, wenn man den Zusammen-hang der Lohnstückkosten mit der Lohnquote beachtet,die mitunter ebenfalls als Prüfstein der Lohnpolitik her-angezogen wird. Die realen Lohnstückkosten sind kon-zeptionell eng mit der Lohnquote verwandt und unter-scheiden sich von dieser im Wesentlichen durch einenKorrekturfaktor, der die divergierende Höhe und Ent-wicklung der verwendeten Preisindizes und Bezugsgrö-ßen – Bruttowertschöpfung oder Volkseinkommen – be-rücksichtigt. In ihrer langfristigen Entwicklung hängendie Lohnstückkosten daher ebenso wie die Lohnquote

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Log. Maßstab1991 = 100

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und Konsumentenlohn und seiner Komponenten3)

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SR 2003 - 12 - 0717

1) Quotient aus Produzentenlohn (Fußnote 2) und Konsumentenlohn(Fußnote 3).– 2) Arbeitsentgelt plus kalkulatorischer Unternehmerlohnje geleistete Erwerbstätigenstunde preisbereinigt mit dem Deflatordes Bruttoinlandsprodukts; für den Unternehmerlohn wird unterstellt,dass jeder Selbständige/mithelfende Familienangehörige das durch-schnittliche Arbeitsentgelt eines Arbeitnehmers erhält.– 3) Nettoar-beitsentgelt plus kalkulatorischer Unternehmerlohn (Berechnung sieheFußnote 2) je geleistete Erwerbstätigenstunde preisbereinigt mit demVerbraucherpreisindex (2000 = 100).

Arbeitsmarkt: Chancen für neue Arbeitsplätze verantwortungsvoll wahrnehmen

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von Parametern wie der verwendeten Produktionstech-nologie oder dem Wettbewerbsgrad auf Gütermärktenund Faktormärkten ab (Kasten 15). Die Tarifpolitikwirkt hier höchstens mittelbar über die relativen Faktor-preise und damit die verwendete Technologie auf dieLohnstückkosten; in der kurzen bis mittleren Frist übtdie Tarifpolitik dagegen durchaus auch einen unmittel-baren Einfluss auf die Entwicklung der Lohnstückkostenund auch auf die Lohnquote aus. Dieser Effekt ist denmittelbaren Wirkungen entgegengesetzt: So führt eineexpansive Lohnpolitik anfangs zu einem Anstieg derLohnstückkosten und der Lohnquote, da die Lohn-summe sofort, die Beschäftigung und erst recht dieTechnologie hingegen nur verzögert reagieren. Nebender Tarifpolitik wirkt in der kurzen und mittleren Fristjedoch eine ganze Reihe weiterer Faktoren auf die Lohn-stückkosten, so dass außer in Fällen eines besonders aus-geprägten Auseinanderklaffens von Lohnniveau undProduktivität, wie es etwa in den neuen Bundesländernnach der Vereinigung zu beobachten war, verlässlicheSchlüsse über den Grad der Lohnzurückhaltung aus demzeitlichen Verlauf der Lohnstückkosten nur schwer zugewinnen sind. Misst man die Tarifpolitik dennoch andiesem Indikator, so spricht die Tatsache, dass der durchdie Vereinigung bedingte sprunghafte Anstieg der realenLohnstückkosten immer noch nicht wieder wettgemachtwurde, gerade gegen die Behauptung, in den neunzigerJahren sei eine ausgeprägte Lohnzurückhaltung zu ver-zeichnen gewesen. Zu einem ähnlichen Ergebnis hin-sichtlich der Arbeitskostenentwicklung in Deutschlandund des Einflusses der Vereinigung kommt eine Studiedes Internationalen Währungsfonds, die statt der realenLohnstückkosten einen konzeptionell ähnlichen produk-tivitätsbereinigten Reallohnsatz verwendet.

643. Wenn man gleichwohl an den Lohnstückkostenals Kriterium festhält, so ist eine Reihe von Vorbehaltenund Korrekturen zu beachten. Die Entwicklung der Fort-schrittsrate der Arbeitsproduktivität als einer wesentli-chen Determinante der Veränderung der Lohnstückkos-ten ist – wenn es um die Beurteilung eineslohnpolitischen Kurses geht – um die Komponente zukorrigieren, die sich aus der Veränderung des Arbeitsvo-lumens, zumindest aber der Anzahl der Beschäftigten,ergibt. Des Weiteren müssen bei internationalen Verglei-chen der (nominalen) Lohnstückkosten außerhalb desEuro-Raums Veränderungen des Wechselkurses berück-sichtigt werden, jedenfalls insoweit bei der Berechnungder Arbeitsproduktivität das Produktionsergebnis han-delbare Güter einschließt. Maßgeblich ist hierbei der„effektive“ Wechselkurs, also die mit Handelsanteilengewichtete Summe der Wechselkurse der Länder außer-halb des Euro-Raums, mit denen Deutschland im inter-nationalen Wettbewerb steht. Des Weiteren muss be-dacht werden, dass sich nicht in jeder Zeitperiode dieEntwicklung der Lohnstückkosten umgekehrt in entspre-chenden Beschäftigungsveränderungen widerspiegelt.Nicht nur spielen andere Einflussfaktoren ebenfalls eineRolle für die Höhe der Beschäftigung – Konjunktur-schwankungen, Unternehmenssteuern, Bildungsstandsind einige wenige Beispiele –, sondern Beschäftigungs-

änderungen vollziehen sich allmählich. Eine beschäfti-gungsfreundliche Lohnpolitik muss glaubwürdig füreine Reihe von Jahren eingeübt werden, bevor sie dieFrüchte ihrer Anstrengungen in Form neuer Arbeits-plätze ernten kann. Dies zeigen auch die Erfahrungenanderer Länder.

644. Der Sachverständigenrat überprüft jeweils nach-träglich und für die Gesamtwirtschaft, inwieweit dieLohnpolitik einen beschäftigungsfreundlichen Kurs ein-geschlagen hat, unbeschadet der Tatsache, dass die Ein-schätzung einzelner Tarifverträge in der Regel von demGesamturteil abweichen würde. Das aus dieser Überprü-fung folgende Urteil über die Lohnpolitik insgesamtlässt sich daher nicht notwendigerweise auf jeden einzel-nen Tariflohnabschluss übertragen; ein solcher kanndurchaus als beschäftigungsfreundlich eingestuft wer-den, obwohl sich die Lohnpolitik insgesamt nicht diesesPrädikat erworben hat und vice versa. Das auf gesamt-wirtschaftlichen Kennziffern beruhende Prüfkonzept be-inhaltet keineswegs eine Lohnformel etwa in dem Sinn,dass sich die dezentral auf Branchenebene oder Be-triebsebene zu führenden Lohnverhandlungen nach ge-samtwirtschaftlichen Kennziffern auszurichten hätten.Im Gegenteil: Maßgeblich sind jeweils die Werte für dieEntwicklung der bereinigten Produktivität, der Absatz-preise und der internationalen Wettbewerbssituation,welche für eben die Unternehmen und ihre Beschäftig-ten relevant sind, für die die Tariflohnverhandlungen imEinzelnen geführt werden. In allen diesen Bereichenmuss die Lohnpolitik ihren Beitrag zum Beschäftigungs-aufbau leisten.

Anders formuliert, im Unterschied zur Finanzpolitikoder Geldpolitik, bei denen die Adressaten der Einschät-zungen des Sachverständigenrates klar benannt werden– die Gebietskörperschaften beziehungsweise die Euro-päische Zentralbank –, bleibt bei einer Einschätzung derLohnpolitik auf gesamtwirtschaftlicher Ebene die Ver-teilung von Lob und Tadel auf die jeweils einzelnenEbenen des Lohnbildungsprozesses – Verbände undUnternehmen – aus den genannten Gründen offen; esbleibt lediglich festzustellen, dass die aus dem Handelndieser Akteure resultierende Lohnpolitik ihrer Verant-wortung für einen Abbau der Arbeitslosigkeit nicht ge-recht geworden ist.

Noch einmal: Der Sachverständigenrat wirbt für eine be-schäftigungsfreundliche Differenzierung der Arbeitsent-gelte nach Sektoren, Regionen und Qualifikationen undhält es daher in seiner Mehrheit für unangebracht, dasssich die Tariflohnabschlüsse an einem gesamtwirtschaft-lichen Produktivitätsfortschritt orientieren sollten. DieGegenposition wird mitunter mit dem Argument vertre-ten, eine Lohndifferenzierung könne zwar kurzfristighelfen, die Beschäftigung in produktivitätsschwachenBereichen aufrecht zu erhalten, sie belaste aber produk-tivitätsstarke Arbeit, bei der aufgrund differenzierterProduktivitätsorientierung die Löhne entsprechendschneller steigen (Minderheitsvotum JG 2002Ziffer 482). Die erheblichen Risiken einer solchen lohn-politischen Strategie dürfen jedoch nicht unterschätzt

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werden. Sie bestehen vor allem darin, dass diese „Pro-duktivitätspeitsche“ diejenigen Arbeitskräfte freisetzt,deren Produktivitätsentwicklung mit dem gesamtwirt-schaftlichen Durchschnitt nicht Schritt hält. Ob die Pro-file dieser Arbeitslosen den Anforderungen der neuenArbeitsplätze in beruflicher, qualifikatorischer und regi-onaler Hinsicht entsprechen, ist höchst zweifelhaft, zu-mindest ergeben sich lange währende Anpassungspro-zesse. „Mismatch-Arbeitslosigkeit“ stellt bereits jetztein erhebliches Problem auf dem Arbeitsmarkt dar,hinzu kommen institutionelle Mobilitätshemmnisse.

Die Bedeutung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage

645. An der lohnpolitischen Konzeption des Sachver-ständigenrates wird verschiedentlich eine angeblich feh-lende Untermauerung seitens der gesamtwirtschaftlichenNachfrage bemängelt. Insbesondere wird vorgetragen,

– die Lohnpolitik müsse ungeachtet der Produktivitäts-entwicklung stets für eine ausreichende gesamtwirt-schaftliche Nachfrage Sorge tragen und

– der Abschlag vom Verteilungsspielraum bedeute einegesamtwirtschaftliche Nachfragelücke mit der Gefahrrezessiver Tendenzen für die Konjunkturentwicklung.

Diese Einwände halten indes einer sorgfältigen Überprü-fung nicht stand, und zwar nicht deshalb, weil der Sach-verständigenrat die hohe Bedeutung der gesamtwirt-schaftlichen Nachfrage verkennen würde. Vielmehrbestreitet er, dass mit Hilfe einer weniger moderatenLohnpolitik die für den Beschäftigungsaufbau notwendi-gen Nachfrageimpulse wirksam in Gang gesetzt werdenkönnen. Der erwünschte Beschäftigungsaufbau vollziehtsich stattdessen vor allem über eine Verbesserung derAngebotsbedingungen, die dann auch zu einer erhöhtenNachfrage führen kann. Eine zurückhaltende Lohnpoli-tik verbilligt den Faktor Arbeit und erhöht die internatio-nale Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Unternehmen.Dadurch werden neue Arbeitsplätze geschaffen, die Ar-beitslosen wechseln in Beschäftigungsverhältnisse, dieArbeitseinkommen und damit die gesamtwirtschaftlicheNachfrage steigen. Mit einer aktiven „Nachfragepolitik“hat dieser Mechanismus wenig zu tun.

646. Das Kaufkraftargument in seiner allgemeinenForm, wie es allerdings nur von wenigen vertreten wird,weist der Lohnpolitik ohne Umschweife und generell dieAufgabe zu, mit Hilfe eines expansiven Kurses für eineStimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zusorgen, zumindest so lange, bis sich eine befriedigendeKonjunkturlage und Arbeitsmarktsituation eingestellthabe. Die Produktivitätsentwicklung spielt bei dieser Ar-gumentation bestenfalls eine untergeordnete Rolle, siedient höchstens zur Begründung von Verteilungsansprü-chen.

Bereits die naheliegende Überlegung, dass eine solcheStrategie längst und praktisch von allen Ländern zurVermeidung von Arbeitslosigkeit erfolgreich angewandtworden wäre, wenn sie denn so einfach wäre, müsste ei-gentlich genügen, um gehörige Zweifel an ihrer Stich-

haltigkeit zu begründen. Unternehmen, die mit einer sol-chen expansiven lohnpolitischen Strategie konfrontiertwären, müssten darauf vertrauen können, dass bei ihneneine Nachfragesteigerung in exakt demselben Ausmaßund Zeitpunkt wie die Nominallohnerhöhung zu ver-zeichnen wäre. Dieser Nachfrageschub findet, wennüberhaupt, nur mit zeitlichen Verzögerungen statt, denndie Lohnempfänger sparen, importieren und entrichtenSteuern und Abgaben. Ganz davon abgesehen, dass esfür die Unternehmen aufgrund der Lohnerhöhungen loh-nender ist, zu kapitalintensiveren Produktionsverfahrenzu wechseln und damit Arbeitskräfte freizusetzen, wer-den viele von ihnen aufgrund von Verschiebungen in derNachfragestruktur vergeblich oder lange auf den erhoff-ten Nachfrageimpuls warten, zwischenzeitlich indes auf-grund des Kostendrucks möglicherweise sogar insolventgeworden sein. Eher werden die Unternehmen versu-chen, die zusätzliche Lohnkostenbelastung mit Hilfe vonPreiserhöhungen auch auf die Konsumenten zu überwäl-zen. Bestenfalls befinden sich die Arbeitnehmer dann imHinblick auf ihren realen Kaufkraftgewinn in der glei-chen Lage wie vor der Lohnerhöhung, möglicherweiseaber in einer schlechteren, wenn sich nämlich beispiels-weise die internationale Wettbewerbsfähigkeit der hei-mischen Unternehmen aufgrund der Preiserhöhungenverschlechtert.

647. Im Gegensatz zum allgemeinen Kaufkraftargu-ment, verbunden mit der Forderung nach einer „expansi-ven“ Lohnpolitik, beziehen sich andere Einwände gegendie lohnpolitische Konzeption des Sachverständigenra-tes nur auf die Forderung nach einem Abschlag vomVerteilungsspielraum, verbunden mit der Empfehlungder Kritiker, die Reallöhne im Ausmaß des Produktivi-tätsfortschritts zu erhöhen und nicht unterhalb, aber auchnicht oberhalb. Dieser Einwand stellt damit der Lohnpo-litik keinen Freibrief für über den Produktivitätsfort-schritt hinausgehende Reallohnsteigerungen aus; zurDiskussion steht lediglich eine im Vergleich zur Produk-tivitätsentwicklung vorzunehmende Lohnmindersteige-rung.

Begründet wird der befürchtete Ausfall an gesamtwirt-schaftlicher Nachfrage bei realen Lohnsteigerungsratenunterhalb des bereinigten Produktivitätsfortschritts miteinem Attentismus der Unternehmen, hervorgerufendurch eben diesen Abschlag vom Verteilungsspielraum.Diese Lohnzurückhaltung bedeute für sie geringere Ab-satzchancen, also würden sie ihre Produktion bereits beiKenntnis der Tariflohnabschlüsse zurückfahren, zumin-dest aber nicht erhöhen, womit dann der erhoffte posi-tive Beschäftigungseffekt hinfällig würde.

648. Eine sorgfältige Prüfung der Befürchtung einesNachfrageausfalls muss die Wirkungen auf der Nachfra-geseite und auf der Angebotsseite ins Blickfeld nehmen.

Was die Nachfrageseite anbelangt, so muss erneut daraufhingewiesen werden, dass es um Lohnmindersteigerun-gen unterhalb des Produktivitätsfortschritts geht, nichtetwa um Lohnkürzungen, jedenfalls solange der Produk-tivitätsfortschritt in einem preisstabilen Umfeld nicht

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völlig zum Erliegen kommt, wofür es derzeit keinenBeleg gibt. Daher stellt sich auch nur die Frage, ob dieDifferenz zwischen Produktivitätsfortschritt und Lohn-steigerung, also der geforderte Abschlag tatsächlich ei-nen Nachfrageausfall in dem Sinn bewirkt, dass die Stei-gerung der Nachfrage nicht Schritt hält mit der Zunahmeder Produktion und somit der erwünschte Beschäfti-gungsaufbau unterbleibt. Verringerte, aber gleichwohlpositive Veränderungsraten dürfen nicht mit Rückgän-gen der Niveaus verwechselt werden.

Zu Mindersteigerungen der gesamtwirtschaftlichenNachfrage könnte es kommen, wenn die Unternehmenaufgrund eines moderaten Kurses der Lohnpolitik, densie selbst landauf, landab mit großem Nachdruck einfor-dern, plötzlich ihre geplanten Produktionszuwächsenach unten korrigieren. Eine solche Reaktion ist bei sek-toral, regional und qualifikatorisch differenzierten Tarif-lohnabschlüssen und einer Lohndrift auf der betriebli-chen Ebene in hohem Maße unwahrscheinlich: DieUnternehmen werden vielmehr darauf setzen, dass zu-sätzliche Nachfrageimpulse von den nunmehr beschäf-tigten früheren Arbeitslosen und aufgrund der gestiege-nen internationalen Wettbewerbsfähigkeit vom Auslandausgehen, ganz abgesehen davon, dass sich im Zuge desaufgrund der moderaten Lohnpolitik bedingten Rück-gangs der Arbeitslosigkeit das Vorsorgesparen verrin-gern mag.

Es besteht mithin wenig Grund zu der Sorge, mit demAbschlag sei ein Nachfrageausfall in gleicher Höhe ver-bunden, vielmehr entstehen entsprechende Einkommenbei den Unternehmen in Form zusätzlicher Gewinne.Werden sie bei den Unternehmen einbehalten und fürAusgaben verwendet, stellen sie ebenso zusätzlicheNachfrage dar wie bei ausgeschütteten Gewinnen dieAusgaben der Gewinnempfänger. Eine Nachfragemin-dersteigerung könnte daher am ehesten aufgrund einerErsparnis bei den Unternehmen und den Gewinnempfän-gern vermutet werden. Ersparnisse werden jedoch vonden Kapitalmärkten regelmäßig in private und staatlicheNachfrage transformiert. Dieser funktionstüchtige Me-chanismus kennzeichnet seit jeher die Wirtschaftsaktivi-tät entwickelter Volkswirtschaften, vielleicht von Aus-nahmen etwa im Zuge schwerer Rezessionen einmalabgesehen. Allenfalls könnte auf zeitliche Verzögerun-gen aufmerksam gemacht werden, bis die beschriebenenAnpassungsprozesse der Transformation der Ersparnissein kaufkräftige Nachfrage weitgehend abgelaufen sind,denen jedoch positive Erwartungen aufgrund des be-schäftigungsfreundlichen Kurses der Lohnpolitik gegen-überstehen.

649. Einer wegen verzögerter Anpassungsprozesseeher theoretisch denkbaren Nachfragemindersteigerungsind ferner positive Beschäftigungseffekte von der An-gebotsseite gegen zu rechnen, insbesondere, wenn mansich von einer Betrachtung der kurzen Frist löst undauch mittelfristig und langfristig wirkende Effekte be-rücksichtigt.

Erstens, eine moderate Lohnpolitik trägt zu einer ver-besserten internationalen Wettbewerbsfähigkeit heimi-scher Produkte und damit zu einer stärkeren Export-tätigkeit bei. Dabei handelt es sich nicht – wie mitunterbehauptet – um ein internationales Nullsummenspieldergestalt, dass ein Teil des Welthandels lediglich zwi-schen einzelnen Volkswirtschaften umverteilt werde.Denn das Welthandelsvolumen steigt, wenn von eini-gen oder vielen Ländern kostengünstiger produziert undder Produktionsfaktor Arbeit vermehrt eingesetzt wird,statt in Form von Arbeitslosigkeit ungenutzt brachzulie-gen.

Zweitens, höhere Gewinne – diesmal als Folge einermoderaten Lohnpolitik – bewirken nach aller Erfahrungeine verstärkte Investitionstätigkeit, nicht in jedem Ein-zelfall und zu jedem Zeitpunkt, aber gleichwohl in ei-nem verlässlichen Umfang. Damit werden die Voraus-setzungen für das Entstehen dringend benötigter neuerArbeitsplätze geschaffen, sei es, dass inländische Inves-toren im Inland investieren, sei es, dass die Investitions-bedingungen im Inland für ausländische Investoren at-traktiver werden.

650. Obwohl eine Nachfragemindersteigerung in Aus-nahmesituationen denkbar ist, gibt es demnach eineganze Reihe von Argumenten gegen diese Hypothese,und auch die empirische Evidenz, die sich aus Simulati-onsstudien oder über den Vergleich bisheriger Episodenvon Lohnzurückhaltung gewinnen lässt, spricht gegendie Befürchtung, eine zurückhaltende Lohnpolitik habekontraktive Effekte (Kasten 16).

651. Noch einmal: Der Sachverständigenrat verkenntnicht die wichtige Rolle der gesamtwirtschaftlichenNachfrage, es wäre verfehlt, sie in Abrede zu stellen. Erteilt indessen nicht die Auffassung, mit Hilfe von realenLohnanhebungen in Höhe oder gar oberhalb des (berei-nigten) Produktivitätsfortschritts unmittelbar für kauf-kräftige Nachfrage sorgen zu müssen, um auf diesemWeg die Arbeitslosigkeit zu verringern. Umgekehrt wirdein Schuh daraus: Vermittelst moderater Lohnzuwächseunterhalb des bereinigten Produktivitätsfortschritts ent-stehen neue Arbeitsplätze, und die Arbeitseinkommensteigen. Wenn eine zufriedenstellende Beschäftigungs-lage erreicht ist, dann mögen sich die realen Lohnkos-tensteigerungen am Produktivitätsfortschritt orientieren,allerdings immer unter Berücksichtigung des internatio-nalen Umfelds.

Herausforderungen für die Lohnpolitik der kommenden Jahre

652. Die Tarifvertragsparteien haben insgesamt be-trachtet in der Vergangenheit nicht selten einen beschäf-tigungsfreundlichen Kurs der Tariflohnpolitik verfehlt,zuletzt im Jahr 2003.

Zur Berechnung des zu erwartenden gesamtwirtschaftli-chen Verteilungsspielraums sind prognostizierte Wertefür die Laufzeit der Tarifverträge anzusetzen, so wie sie

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K a s t e n 1 6

Empirische Evidenz zur Lohnzurückhaltung

Eine Simulationsstudie zu den Effekten einer moderaten Lohnpolitik wurde für Deutschland vor einigen Jahrenvom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg, durchgeführt (Zika, 1998). Ausgehend voneinem Referenzszenario bei gegebener Lohnpolitik standen sowohl die Wirkungen einer isolierten Politik derLohnzurückhaltung als auch Rückwirkungen auf den Staatshaushalt und die Wirkungen von Lohnzurückhaltungunter der Nebenbedingung, dass sich der Finanzierungssaldo des Staates gegenüber dem Status quo nicht ver-schlechtern darf, im Mittelpunkt der Betrachtung.

Die Simulationen ohne Berücksichtigung des Finanzierungssaldos des Staates zeigen, dass Lohnzurückhaltung,verstanden als mehrjährige Lohnsteigerungen nur in Höhe der Inflationsrate, zu beträchtlichen positiven Beschäf-tigungseffekten führen kann. Bereits bei nur einjähriger Lohnzurückhaltung liegt die Beschäftigung im drittenJahr um rund 100 000 Arbeitnehmern höher, und bei einer fünf Jahre anhaltenden Politik konstanter Reallöhne er-höht sich diese Zahl nach sechs Jahren sogar auf etwa 1,2 Millionen Arbeitnehmer. Die Simulationen zeigen zwarauch, dass anfänglich ein negativer Kaufkrafteffekt aufgrund der vergleichsweise niedrigeren Arbeitnehmerein-kommen auftritt, der in der Folge jedoch von den positiven Wirkungen der Kostenentlastung überkompensiertwird; Indizien für eine deflationäre Spirale liefern die Simulationen demnach nicht.

Es kommt jedoch zu Einnahmeausfällen bei den Sozialversicherungen und beim Staat, die durch die höhere Be-schäftigung nicht ganz ausgeglichen werden. Erhöht der Staat zur Finanzierung Steuern oder kürzt er die Ausga-ben, so verbleibt immer noch ein positiver, gleichwohl niedrigerer Beschäftigungseffekt.

Häufig werden die Niederlande und dort das Abkommen von Wassenaar aus dem Jahr 1982 als Vorbild für erfolg-reiche Lohnzurückhaltung angeführt. Infolge dieses Abkommens stiegen die Löhne deutlich langsamer und blie-ben real hinter dem Anstieg der Arbeitsproduktivität zurück. In Verbindung mit einer Ausweitung des Arbeitsan-gebots durch eine deutliche Zunahme der Erwerbsbeteiligung von Frauen (von 39 vH im Jahr 1982 auf 67,3 vH imJahr 2002) kam es zu einem nachhaltigen Anstieg der Zahl der Beschäftigten, an der allerdings qualifizierte Ar-beitnehmer wesentlich stärker teilhatten als geringqualifizierte und die zu einem erheblichen Teil auf Teilzeitarbeitentfiel; Kritiker verweisen mit Recht darauf, dass großzügige Regeln zur Frühverrentung entlastend auf das Ar-beitsangebot wirkten, doch wurde dieser Effekt insbesondere durch die höhere Erwerbsneigung von Frauen mehrals ausgeglichen, wie der Anstieg der Erwerbsquoten verdeutlicht. Ferner kam es zu einer Verlangsamung derSubstitution von Arbeit durch Kapital und einem Übergang zu vergleichsweise arbeitsintensiveren Produktions-verfahren (Bakker, 2001). Eine wichtige Voraussetzung für diesen eher mittelfristig wirkenden Prozess scheint ge-wesen zu sein, dass das Abkommen von Wassenaar den Unternehmen Planungssicherheit über einen länger anhal-tenden Kurs der Lohnzurückhaltung gegeben hat. Diese wurde zudem von der Fiskalpolitik begünstigt, die überAusgabenkürzungen Senkungen von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen ermöglichte, so dass zwischen denJahren 1982 und 2000 die realen Nettolöhne wesentlich stärker zunahmen als die realen Bruttolöhne. Zu einer ArtNeuauflage des Abkommens von Wassenaar kam es im Oktober 2003, als sich Gewerkschaften, Arbeitgeber undRegierung darauf verständigten, angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise und der steigenden Arbeitslosigkeitdie Nominallöhne für zwei Jahre einzufrieren, während im Gegenzug die Regierung auf geplante Einschnitte inder Sozialpolitik teilweise verzichtete.

Eine Studie des Internationalen Währungsfonds (2001) kommt zu dem Ergebnis, dass in Frankreich, Italien undSpanien, mithin Ländern, die hinsichtlich ihrer Arbeitsmarktstruktur besser mit Deutschland vergleichbar sind alsdie häufig als Vorbild genannten Beispiele des Vereinigten Königreichs oder der Vereinigten Staaten, Lohnzurück-haltung die insbesondere in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu beobachtende Verbesserung der Beschäfti-gungslage maßgeblich mit verursacht habe. Die Studie lässt indes auch vermuten, dass die Entwicklung inDeutschland maßgeblich durch die Vereinigung und den damit verbundenen Anstieg in den Lohnstückkosten in-folge überhöhter Löhne in den neuen Bundesländern beeinflusst wurde.

Literatur

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den Tarifvertragsparteien – jeweils für ihren Bereichund für die hier vorzunehmende Beurteilung dannaggregiert – im Frühjahr 2003 zur Verfügung gestandenhaben. Nach Schätzungen der Wirtschaftsforschungsins-titute in ihrem Frühjahrsgutachten vom 11. April 2003war für das Jahr 2003 mit einem Produktivitätsfort-schritt von 1,7 vH und einem Rückgang des Arbeitsvolu-mens von 1,2 vH zu rechnen; dies ergibt, wenn man dietrendmäßige Entwicklung der Lohnquote fortschreibt,eine bereinigte Fortschrittsrate der durchschnittlichenArbeitsproduktivität von etwa 1,3 vH. Die erwartete Ver-änderungsrate des Deflators des Bruttoinlandsproduktsbelief sich seinerzeit auf 1,1 vH; davon wäre gegebenen-falls noch ein Betrag abzuziehen, um den Preiseffekt derErhöhung indirekter Steuern in Rechnung zu stellen,doch lässt sich die genaue Höhe dieses Effekts nurschwer ermitteln. Damit belief sich der zu erwartendeVerteilungsspielraum für das Jahr 2003 auf höchstens2,4 vH und zwar nach den Prognosen für das Jahr 2003,die im Frühjahr 2003 zur Verfügung gestanden haben.Die tatsächliche Entwicklung – die den tarifschließen-den Verbänden natürlich noch nicht bekannt seinkonnte – stellte sich bezüglich des realen Verteilungs-spielraums wesentlich ungünstiger dar: Die Fort-schrittsrate der Arbeitsproduktivität belief sich imJahr 2003 auf lediglich 1,4 vH, der Rückgang des Ar-beitsvolumens auf 1,4 vH, so dass sich ein bereinigterdurchschnittlicher Produktivitätsfortschritt von nur0,9 vH statt wie prognostiziert in Höhe von 1,3 vH er-gab. Die Veränderungsrate des Deflators des Bruttoin-landsprodukts für das Jahr 2003 betrug wie erwartet1,1 vH, so dass aufgrund der tatsächlichen Entwicklungein nominaler Verteilungsspielraum von 2,0 vH zu ver-zeichnen war. Legte man statt der bereinigten Fort-schrittsrate der durchschnittlichen Arbeitsproduktivitätdie der Grenzproduktivität der Arbeit zugrunde, die sichex ante auf 1,0 vH und ex post auf lediglich 0,4 vH be-lief, so wäre der Verteilungsspielraum noch wesentlichniedriger gewesen.

Von diesem Verteilungsspielraum hätten die Tarifver-tragsparteien einen Abschlag zur Förderung eines Be-schäftigungsaufbaus vornehmen müssen. Stattdessenstiegen die Tariflöhne im Jahr 2003 um 2,3 vH(Ziffer 255), so dass der Verteilungsspielraum ex anteausgeschöpft und ex post leicht überzogen wurde. Aller-dings haben zahlreiche Unternehmen auf diese Tarif-lohnerhöhung mit einer Kürzung übertariflicher Leis-tungen reagiert, so dass sich eine negative Lohndrift inHöhe von - 1,2 Prozentpunkten und damit eine Steige-rung der Effektivverdienste um gerundete 1,0 vH ergab.Somit haben die Unternehmen, bei denen dies möglichwar, die überzogene Tariflohnerhöhung korrigiert, derVerteilungsspielraum wurde mithin unter Berücksichti-gung dieser Korrektur nicht ausgeschöpft. Es ist eine an-dere Frage, welchen Sinn Tariflohnerhöhungen machen,welche anschließend von den Unternehmen, die dazuüberhaupt in der Lage sind, wieder teilweise zurückge-nommen werden. Wie auch immer, der dringend erfor-derliche Abschlag von den Tariflohnerhöhungen fürneue Arbeitsplätze wurde von den Tarifvertragsparteieneben nicht vorgenommen.

Dieses Fehlverhalten der Tariflohnpolitik hat zumindestin den Unternehmen, welche keine Verringerung überta-riflicher Leistungen vornehmen konnten, Arbeitsplätzegekostet, in den anderen Unternehmen den Arbeitslosenkeine neuen Chancen für Arbeitsplätze eröffnet. Die Ta-rifvertragsparteien tragen so gesehen ein gerüttelt Maßan Schuld an der Misere auf dem Arbeitsmarkt. Es reichtnicht, dass sie die beschäftigungsfeindliche Höhe derSozialversicherungsbeiträge beklagen und die staatlicheWirtschaftspolitik zum Handeln auffordern. Damit aner-kennen zwar die Gewerkschaften – häufig unausgespro-chen – den Einfluss der Lohnhöhe auf die Beschäfti-gung, aber diese Erkenntnis muss dann auch in einen be-schäftigungsfreundlichen Kurs der Tariflohnpolitik ein-münden. Daran führt kein Weg vorbei, und daran wirdihr wirtschaftspolitisches Verantwortungsbewusstseingemessen.

Ein beschäftigungsfreundlicher Kurs der Tariflohnpoli-tik besteht darin, für eine Reihe von Jahren – die Anzahlvon fünf Jahren könnte als ungefähre Orientierungshilfedienen – glaubwürdig zu vereinbaren, die Tariflohn-steigerungen unterhalb des Verteilungsspielraums anzu-setzen, je nach den Gegebenheiten des betreffendenGültigkeitsbereichs des Tarifvertrags. Damit würdelohnpolitisches Fehlverhalten der Vergangenheit teil-weise korrigiert und die Grundlage für einen Beschäfti-gungsaufbau gelegt.

653. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die ver-stärkte Berücksichtigung von wirksamen Öffnungsklau-seln in Tarifverträgen (JG 2002 Ziffer 462). Die Tarif-vertragsparteien sollten in jedem Tarifvertrag einewirksame Öffnungsklausel vereinbaren, die unmissver-ständlich klarstellt, unter welchen Bedingungen und fürwelchen Zeitraum auf der betrieblichen Ebene von denRegelungen des Tarifvertrags abgewichen werden kann.Falls die Tarifvertragsparteien diesem Erfordernis nichtnachkommen, sollte die Bundesregierung ihre in derRede des Bundeskanzlers vom 14. März 2003 gemachteAnkündigung realisieren, gegebenenfalls gesetzgebe-risch tätig zu werden.

654. Die Tarifvertragsparteien tun in diesem Zusam-menhang gut daran, in weit stärkerem Umfang als bishereine Erfolgsbeteiligung der Beschäftigten ins Blickfeldzu nehmen. Sie bringt zumindest zwei Vorteile mit sich.Zum einen kann sie die Bereitschaft zu niedrigeren Ta-riflohnabschlüssen erhöhen. Verständlicherweise orien-tieren sich Gewerkschaften bei ihren Forderungen meis-tens an der günstigsten Variante einer prognostiziertenwirtschaftlichen Entwicklung, um nicht Gefahr zu lau-fen, bei einer wesentlich besseren Konjunkturlage alserwartet von ihren Mitgliedern eines zu moderatenLohnabschlusses geziehen zu werden. Wenn die Arbeit-nehmer aber automatisch am Unternehmenserfolg parti-zipieren, werden sie vielleicht eher bereit sein, niedri-gere Tariflohnanhebungen zu akzeptieren. Zum anderenerlauben es Erfolgsbeteiligungen, betrieblichen Un-terschieden im Hinblick auf den Unternehmenserfolg

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adäquater und ohne weitere AuseinandersetzungenRechnung zu tragen. Für eine höhere Gewichtung vonErfolgsbeteiligungsmodellen hat der Sachverständigen-rat seit längerem geworben (JG 89 Ziffern 352 ff., JG 95Ziffer 388), in einigen Tarifverträgen wird diese Mög-lichkeit bereits ins Blickfeld genommen, wenn auch ins-gesamt gesehen allzu zögerlich.

Den Tarifvertragsparteien stellt sich mithin die Aufgabe,der unternehmerischen Ebene Erfolgsbeteiligungskon-zepte anzubieten, die dort gegebenenfalls modifiziertwerden können. Bei der konkreten Ausgestaltung der je-weiligen Erfolgsbeteilungsmodelle muss eine Reihe vonteilweise nicht einfach zu behandelnden Aspekten ge-klärt werden.

– Das Verfahren zur Ermittlung des Unternehmenser-folgs muss vorher festgelegt und transparent ausge-staltet sein, um nachträgliche Auseinandersetzungenzu vermeiden. Grundlage der Berechnungen könntebeispielsweise der Buchgewinn sein, bei dem dieBruttoerlöse des Unternehmens um die Kosten fürextern bezogene Vorleistungen, die gewinnunabhän-gigen Arbeitskosten, bestimmte Kapitalkosten – wieetwa Fremdkapitalzinsen – sowie gegebenenfallsSubstanzsteuerzahlungen (im Wesentlichen ertrags-unabhängige Steuern) vermindert werden. Die Ein-zelheiten zu regeln, bleibt den Tarifvertragsparteienund der betrieblichen Ebene vorbehalten.

– Zu entscheiden ist des Weiteren, ob der zu vertei-lende Unternehmenserfolg lohnabhängig oder inForm von für jeden Beschäftigten gleichen Beträgenausgestaltet sein soll und wie Teilzeitbeschäftigte zubehandeln sind.

Die Einzelheiten sollten von den Tarifvertragsparteien ineinem Rahmenvertrag vereinbart werden, der auf der be-trieblichen Ebene modifiziert werden kann. Die Tarif-vertragsparteien können sich dabei auf umfangreicheVorarbeiten in der Literatur stützen, sie brauchen dasRad nicht neu zu erfinden.

655. Neben einem Abschlag vom Verteilungsspielraumstellen sich den Tarifvertragsparteien weitere lohnpoliti-sche Herausforderungen, deren wichtigste in einer hin-reichend flexiblen qualifikatorischen Lohnstruktur be-steht. Mehr als ein Drittel aller Arbeitslosen ist geringqualifiziert, also ohne abgeschlossene Schul- und Be-rufsausbildung, und ihre Arbeitslosenquote ist rund dreiMal so hoch wie die der Personen mit abgeschlossenerAusbildung.

Für diesen Tatbestand gibt es mehrere Erklärungsan-sätze. Die zunehmende internationale Integration allerMärkte führt dazu, dass die weltweite Arbeitsteilungverstärkt zum Tragen kommt, weil sich Entwicklungs-länder und Schwellenländer zunehmend auf die Produk-tion der Güter konzentrieren, zu deren Herstellung vor-nehmlich einfache Arbeit benötigt wird, die dortreichlich und zu vergleichsweise geringen Kosten vor-

handen ist. Vermutlich noch bedeutsamer ist indes dieZunahme eines technischen Fortschritts, der vor allemgering qualifizierte Arbeit freisetzt.

Schließlich und nicht weniger bedeutsam ist die Verant-wortung der Lohnpolitik, die in der Vergangenheit hier-zulande gering qualifizierte Arbeit überproportional– etwa im Vergleich zu mittleren Qualifikationen – ver-teuert hat, sei es durch eine starke Anhebung der unterenLohngruppen, sei es durch deren Wegfall.

Diese Erklärungsansätze werden in der Literatur weitge-hend akzeptiert, strittig ist allenfalls die Rangfolge ihrerquantitativen Bedeutung zur Erklärung der Arbeitslosig-keit. Wie immer diese eingeschätzt werden mag, dass ei-ner flexiblen qualifikatorischen Lohnstruktur eine wich-tige Bedeutung zukommt, ist für Deutschland durchempirische Studien gut belegt und zudem durch die Er-fahrungen anderer Länder untermauert. Gewiss: Selbsteine wesentlich stärker gespreizte qualifikatorischeLohnstruktur wird die Konsequenzen des arbeitssparen-den technischen Fortschritts und der internationalen Ar-beitsteilung für die hiesige Beschäftigung gering qualifi-zierter Arbeitnehmer nicht gänzlich abfedern können,dazu ist es zum Teil ohnehin zu spät. Aber: Mit ihrerHilfe kann zusätzliche Zeit für die notwendigen Anpas-sungsprozesse erkauft werden, und, was vor allem zuBuche schlägt, mit ihr werden Voraussetzungen für dasEntstehen neuer rentabler Arbeitsplätze geschaffen, inerster Linie, jedoch nicht ausschließlich im Bereich derProduktion nicht handelbarer Güter, also etwa in Teilendes Dienstleistungssektors. Selbst als verloren angese-hene Arbeitsplätze, weil durch Maschinen wegrationali-siert, mögen teilweise zurückgewonnen werden, wenndie Maschinen technisch abgeschrieben sind und sichdas Faktorpreisverhältnis zwischenzeitlich zu Gunstender Arbeit verändert hat; Faktoreinsatzverhältnisse sindnicht irreversibel.

656. Einen besonderen Stellenwert genießt eine stär-kere Spreizung der qualifikatorischen Lohnstruktur beiden vielfältigen Bemühungen um eine Reform der Sozi-alhilfe für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger. Dazu hatder Sachverständigenrat ein ausgearbeitetes Konzeptvorgelegt (JG 2002 Ziffern 444 ff.). Einer der Kern-punkte dieses Vorschlags, der in modifizierter Formauch von anderen Institutionen vertreten wird, ist eineAbsenkung des Regelsatzes der Sozialhilfe für arbeitsfä-hige Empfänger von Sozialhilfe, um deren Anreiz zu er-höhen, aus der Sozialhilfe auf den ersten Arbeitsmarktzu wechseln. Im Gegenzug werden diesen Personen we-sentlich höhere Hinzuverdienstmöglichkeiten zu ihrerSozialhilfe zugestanden als bisher, wenn sie eine– gegebenenfalls gering entlohnte – Arbeit aufnehmen.Diejenigen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Stellefinden können, müssen ihre Arbeitskraft kommunalenBeschäftigungsagenturen zur Verfügung stellen, um dasbisherige Leistungsniveau zu erreichen.

Ohne den Beitrag der Lohnpolitik sind diese Reformvor-schläge zum Scheitern verurteilt, wenn es um mehr Be-

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schäftigung im Bereich gering qualifizierter Arbeit geht.Daher müssen einerseits die genannten Reformvor-schläge zügig umgesetzt und ergänzt werden, und ande-rerseits ist der Beitrag der Lohnpolitik unverzichtbar,durch eine stärkere Spreizung des unteren Bereichs derqualifikatorischen Lohnstruktur die Grundlage für ren-table neue Arbeitsplätze zu schaffen.

657. In der Öffentlichkeit wird seit einigen Monatenverstärkt über eine Verlängerung der Arbeitszeit als In-strument für mehr Beschäftigung und ein höheresWachstum diskutiert. In der Regel beinhalten diesbezüg-liche Vorschläge eine Erhöhung der wöchentlichen tarif-lich vereinbarten Arbeitszeit, meistens um eine Stunde,bei unveränderten tariflichen Monatsentgelten. Mit an-deren Worten, der Stundenlohnsatz sinkt annähernd improzentualen Ausmaß der Arbeitszeitverlängerung. Da-von erwarten die Befürworter erhebliche Beschäfti-gungsgewinne, bis zu einer Größenordnung von rund100 000 neuen Arbeitsplätzen. Zusätzliche Aktualitätgewinnt die Diskussion über die Arbeitszeitverlänge-rung durch die höhere Anzahl von Arbeitstagen imJahr 2004, als deren Folgen in der öffentlichen Diskus-sion eine um 0,5 Prozentpunkte höhere Veränderungs-rate des Bruttoinlandsprodukts im nächsten Jahr vermu-tet wird.

Diese Vorschläge stehen in krassem Gegensatz zur Posi-tion der Gewerkschaften, die sich selbst heute noch mitNachdruck für eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit,möglichst bei vollem Lohnausgleich, als wirksames Mit-tel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aussprechen,obwohl die beschäftigungspolitischen Effekte einer Ar-beitszeitverkürzung, selbst wenn kein Lohnausgleich ge-währt wird, mehr als zweifelhaft sind (JG 97 Ziffer 381).Aber auch die Unternehmen haben zumindest in der Ver-gangenheit in Form der Inanspruchnahme von Frühver-rentungsprogrammen auf die Verringerung der Arbeits-zeit gesetzt, in diesem Fall der Lebensarbeitszeit,wenngleich sich in jüngerer Zeit hier ein entschiedenesUmdenken abzeichnet.

In welchem Umfang der erhoffte Beschäftigungsaufbauaufgrund einer verlängerten tariflichen Arbeitszeit tat-sächlich eintreten wird, hängt von einer Reihe von Ein-flussfaktoren und Unwägbarkeiten ab, die teilweiseschwer zu quantifizieren sind. Insbesondere muss zwi-schen einer kurzfristigen und einer mittelfristigen Be-trachtungsweise sowie zwischen Effekten auf der Nach-frageseite und der Angebotsseite des Arbeitsmarktsunterschieden werden.

– In kurzfristiger Sichtweise sind die Produktion undder Absatz von Gütern und Dienstleistungen für dasUnternehmen weitgehend unveränderbare Größen.Eine Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit führtdann dazu, dass gegebenenfalls Überstunden abge-baut werden – womit aufgrund des Wegfalls vonÜberstundenzuschlägen eine weitere Kostenersparniseinhergeht – und je nach Betriebsgröße von geplan-ten Neueinstellungen erst einmal abgesehen wird, inAusnahmefällen mag es sogar vereinzelt zu Entlas-sungen kommen.

Eine ähnliche Einschätzung gilt für einen lediglichtemporären Anstieg der Arbeitszeit, wie beispiels-weise eine einmalige Erhöhung der Arbeitstage, weil– wie im Jahr 2004 – mehr Feiertage als sonst üblichauf ohnehin arbeitsfreie Tage fallen. Dieser Einmal-effekt wird in erster Linie einen Abbau von Überstun-den nach sich ziehen, weniger indessen einen be-trächtlichen konjunkturellen Impuls auslösen, schongar nicht einen dauerhaften Wachstumsschub(Ziffer 383). Substantiellere Effekte wären zu erwar-ten, wenn dauerhaft ein zusätzlicher Arbeitstag durchWegfall eines wochentäglich festen Feiertags ge-schaffen würde (SG 95).

– In mittelfristiger Betrachtungsweise ändert sich dasBild. Unterstellt man zunächst konstante Güterpreise,so fragen die Unternehmen aufgrund des gesunkenenStundenlohnsatzes im Vergleich zur Situation vor derArbeitszeitverlängerung mehr Arbeit nach, wobei al-lerdings ein Teil dieser zusätzlichen Arbeitsnachfragebereits durch die Verlängerung der tariflichen Ar-beitszeit realisiert worden ist, so dass sich die Fragestellt, ob neue Arbeitsplätze geschaffen werden. DieBeantwortung hängt entscheidend von der Höhe derLohnelastizität der Arbeitsnachfrage ab, also davon,wie viele Beschäftigte die Unternehmung prozentualmehr einsetzt, wenn der Stundenlohn um ein Prozentsinkt. Eine aufgrund von empirischen Analysen plau-sible Größenordnung dieser Elastizität für die Ge-samtwirtschaft dürfte in einer Bandbreite von - 0,6bis - 1,0 liegen. Bei einer Erhöhung der tariflichenArbeitzeit um 2,5 vH – das entspräche einer StundeMehrarbeit bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von40 Stunden – und einem angenommenen gleich ho-hen Rückgang des Stundenlohns steigt zwar die ins-gesamt nachgefragte Arbeitsmenge um 1,5 vH, so-fern der Wert von - 0,6 der genannten Elastizitätunterstellt wird, jedoch wird diese Zunahme weitüberkompensiert durch die bereits vorgenommeneErhöhung des Arbeitsvolumens um 2,5 vH. Per saldowürde bei dieser Parameterkonstellation die Unter-nehmung ihr Arbeitsvolumen mithin um 1 vH redu-zieren, also Entlassungen vornehmen. Die genannteElastizität müsste schon (in absoluter Betrachtungs-weise) einen Wert von über Eins annehmen – was insehr arbeitsintensiv produzierenden Branchen etwades Dienstleistungsbereichs nicht unrealistisch ist –um positive Beschäftigungseffekte einer Arbeitszeit-verlängerung zu induzieren.

– Hebt man nun die Annahme konstanter Güterpreiseauf, so werden positive Beschäftigungseffekte wahr-scheinlicher. Aufgrund des gesunkenen Stundenlohn-satzes verringern sich die Produktionskosten. Inso-weit die Unternehmen daraufhin Preissenkungenvornehmen – das hängt unter anderem von der Wett-bewerbssituation auf den Gütermärkten ab – steigendie Kaufkraft der inländischen Konsumenten und dieinternationale Wettbewerbsfähigkeit heimischer Un-ternehmen. Dies geht zwar mit Beschäftigungsgewin-nen einher, allerdings kommt es auf den Nettoeffektan, denn bei geringeren Preisen steigt der reale Pro-

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duzentenlohn, wovon für sich genommen ein dämp-fender Effekt auf die Arbeitsnachfrage ausgeht.

– Schließlich muss die Angebotsseite des Arbeits-markts beachtet werden. Die Arbeitszeitverlängerungkann einen Rückgang des Arbeitsangebots zur Folgehaben, weil die gestiegene Arbeitszeit bei konstantenMonatsentgelten nicht mehr den Präferenzen der Ar-beitnehmer entspricht, vorausgesetzt, die bisherigeArbeitszeit stimmte mit diesen Präferenzen überein.Da der Stundenlohnsatz sinkt, bei konstanten Kon-sumgüterpreisen auch der in realer Betrachtung, sin-ken die Opportunitätskosten der Freizeit oder, andersgewendet, das entgangene Einkommen bei einem hö-heren Freizeitkonsum ist niedriger, worauf, wennsonst alles gleich bleibt, mehr Freizeit in Anspruchgenommen wird, das Arbeitsangebot mithin sinkt.Dies könnte dazu führen, dass sich einige Erwerbs-personen aus dem Erwerbsleben zurückziehen, weilsich nach ihrer Einschätzung Arbeit nicht mehr„lohnt“. Allerdings sollte der Effekt angesichts derzur Rede stehenden Größenordnung einer Arbeits-zeitverlängerung nicht überbewertet werden, der ge-nannte Substitutionseffekt ist aus empirischer Sichteher für das Arbeitsangebot verheirateter Frauen alsZweitverdienerinnen im Haushalt relevant. Immer-hin: Einige Arbeitsplätze mögen frei werden und mitArbeitslosen besetzt werden können, sofern die nach-gefragten und angebotenen Qualifikationsprofileübereinstimmen, was bei rund 4,4 Millionen Arbeits-losen nicht von vornherein unrealistisch ist.

Insgesamt betrachtet sind positive Beschäftigungseffekteaufgrund der tariflichen Arbeitszeitverlängerung zwarnicht auszuschließen, ihre Größenordnung ist indes zu-rückhaltend zu beurteilen. Der Grund für diese vorsich-tige Einschätzung liegt nicht etwa darin, dass von einerReduktion des Stundenlohnsatzes keine nennenswertenBeschäftigungsgewinne ausgingen, sondern vielmehrdarin, dass die betroffenen Arbeitnehmer zunächst ein-mal „gezwungen“ werden, länger zu arbeiten, womitdann bereits ein Teil der zusätzlichen Arbeitsnachfrageabgedeckt ist. Selbst unter Berücksichtigung der Mög-lichkeit, dass geringere implizite Lohnerhöhungen übereine Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit in den Ta-rifverhandlungen eher durchzusetzen sein mögen als ex-plizite Lohnmindersteigerungen, sollten die Tarifver-tragsparteien anstelle oder zusätzlich zu einerVerlängerung der tariflichen Arbeitszeit diese noch mehrals bisher flexibilisieren, etwa mit Hilfe von großzügigbemessenen Arbeitszeitkorridoren und von (Lebens-)Ar-beitszeitkonten.

658. Die Lohnpolitik der kommenden Jahre steht vorgroßen Herausforderungen. Die Folgen früheren Fehl-verhaltens sind zu reparieren, neuen Entwicklungenmuss Rechnung getragen werden. Der Sachverständi-genrat verkennt nicht die damit einhergehenden mögli-chen Härten, selbst wenn diese nur in der Verweigerungneuer Ansprüche der Arbeitsplatzbesitzer bestehen. An-gesichts einer Anzahl von rund 6 Millionen offener und

verdeckter Arbeitsloser darf die Lohnpolitik ihren Bei-trag nicht verweigern.

659. Ein Mitglied des Rates, Jürgen Kromphardt, kannsich weder der Forderung der Mehrheit nach einem Zu-rückbleiben der Entwicklung des Lohnniveaus hinterdem Anstieg des Verteilungsspielraums noch seiner Be-rechnungsmethode dieses Spielraums anschließen.

Ein Zurückbleiben des Lohnniveaus hinter der Zunahmedes Verteilungsspielraums ist nicht beschäftigungsför-dernd. Vielmehr ist es geboten, dass die Reallöhne imgesamtwirtschaftlichen Durchschnitt im Ausmaß der Ar-beitsproduktivität beziehungsweise die Nominallöhneim Ausmaß der Summe von Produktivitätszuwachs undInflationsrate (gemessen am Deflator des Bruttoinlands-produkts) ansteigen. Diese Position wird zwar inZiffer 647 angesprochen und eine Begründung genannt,aber es wird ab Ziffer 648 versucht, diese Begründungmit drei theoretischen Argumenten und mit empirischenBeispielen zu widerlegen. Das erste in Ziffer 648 ge-nannte Argument ist nicht überzeugend, weil die Gefahreines Nachfrageausfalls seitens der Konsumenten nichtaus der Überlegung resultiert, die Unternehmer könntenwegen eines moderaten Kurses der Lohnpolitik plötzlichihre geplanten Produktionszuwächse nach unten korri-gieren. Vielmehr müssten die Unternehmen, um zusätzli-che Arbeitsplätze wegen der Lohnzurückhaltung zuschaffen, ein Signal erhalten, ihre Produktion wegen zu-sätzlicher Nachfrage mehr als geplant auszudehnen. DasSignal an die Unternehmen der Konsumgüterindustriewird jedoch eher gegenteilig sein. Daher werden dieseUnternehmen keinen Anlass haben, zusätzliche Perso-nen zu beschäftigen, selbst wenn die Arbeit relativ zurSituation einer Erhöhung der Reallöhne gemäß der Pro-duktivitätsentwicklung etwas billiger geworden ist. In-folgedessen dürften diese Unternehmen keine Einstel-lungen vornehmen, so dass auch kein bisher Arbeitslosernun einen Arbeitsplatz findet und deshalb aufgrund sei-nes höheren Einkommens eine höhere Konsumgüter-nachfrage entfaltet.

Das zweite Argument bezieht sich darauf, dass bei ei-nem Zurückbleiben der Reallöhne hinter der Arbeitspro-duktivität die Unternehmen bei unveränderter Beschäfti-gung zusätzliche Gewinne realisieren, sofern sie dieniedrige Lohnstückkostensteigerung nicht in den Preisenweitergeben. In diesem Fall verfügen die Unternehmenüber zusätzliche Finanzmittel, die sie für höhere Investi-tionen verwenden könnten. Es ist allerdings fraglich, obsie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Denn ers-tens liefern langsamer steigende Löhne weniger Anlasszu Rationalisierungsinvestitionen, auch wenn sie derenFinanzierung aus einbehaltenen Gewinnen erleichternwürden. Aber auch für Erweiterungsinvestitionen bietetdie Lohnzurückhaltung keinen zusätzlichen Anreiz. Dadie marginale Konsumquote der Unternehmerhaushaltekleiner ist als die der Arbeitnehmerhaushalte, kann einmöglicher Mehrkonsum der Unternehmerhaushalte denAusfall an Konsum bei den Arbeitnehmerhaushaltennicht kompensieren. Insofern haben die Unternehmen,bei denen die zusätzlichen Gewinne anfallen, keinen An-

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reiz, mehr Investitionen durchzuführen, so dass auch dieInvestitionsgüterindustrie keine zusätzlichen Aufträgeerhält. Wenn die Unternehmen die zusätzlichen Gewinnedaraufhin am Kapitalmarkt anlegen, so könnten sich dieFinanzierungsbedingungen anderer Unternehmen durchsteigende Kurse und sinkende Zinssätze eventuell weiterverbessern, aber die entscheidende Voraussetzung fürErweiterungsinvestitionen, nämlich die Erwartung zu-sätzlich steigender Absatzmengen, wird dadurch nichterfüllt. Diese Voraussetzung kann nicht durch das Argu-ment ersetzt werden, Ersparnisse würden von den Kapi-talmärkten regelmäßig in private und staatliche Nach-frage transformiert. Denn dieses Argument, das dembekannten Say’schen-Theorem entspricht, welches nurfür Tauschwirtschaften zwingend zutrifft, wird durchden zutreffenden Hinweis auf zeitliche Verzögerungenweitgehend wieder aufgehoben. Gehen nämlich Produk-tion, Beschäftigung und Einkommen zunächst zurück, soentstehen keine zusätzlichen Ersparnisse, die in Nach-frage transformiert werden könnten.

Als drittes Argument wird darauf verwiesen, Lohnzu-rückhaltung führe zu einer gestiegenen internationalenWettbewerbsfähigkeit. Dies gilt allerdings nur, wenn dasgeringere Ansteigen der Lohnstückkosten auch in denPreisen weitergegeben wird und somit keine höherenGewinne erzielt werden. Ist dies der Fall, so steigt in derTat zunächst die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Es istjedoch fraglich, ob dadurch mehr als nur ganz kurzfristigeine höhere Nachfrage des Auslands resultiert, denn dieUnternehmen im Ausland werden sich – wenn ein gro-ßes Land zu dieser Strategie greift, zumal das Land, indem im Euro-Raum und darüber hinaus die Lohnstück-kosten und die Preise am langsamsten steigen – auf-grund der schärferen Konkurrenz gezwungen sehen,ebenfalls auf eine moderate Lohnpolitik zu drängen, sodass der Wettbewerbsvorteil wieder verschwindet. Diesgilt für Länder, mit denen Deutschland durch eine ge-meinsame Währung verbunden ist. Gegenüber anderen,über flexible Wechselkurse verbundene Staaten kann derVorteil bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit auchdurch eine Aufwertung wieder verloren gehen, zu dereine Tendenz dann besteht, wenn durch die höhere Wett-bewerbsfähigkeit das Ausland mehr inländische Güterkauft und dafür mehr Einheiten inländischer Währungbenötigt und dadurch deren Wert in die Höhe treibt.

660. Zur empirischen Untermauerung wird imKasten 16 zum einen auf die zurückhaltende Lohnpolitikin den Niederlanden verwiesen. Auch dieser Hinweiskann die Befürchtung negativer Rückwirkungen auf derNachfrageseite nicht beheben. Das niederländische Ab-kommen von Wassenaar ist nämlich durch einen Drei-klang von Vereinbarungen gekennzeichnet. Erstens ak-zeptierten die Gewerkschaften eine zurückhaltendeLohnpolitik für mehrere Jahre, zweitens erklärten dieArbeitgeber ihre Bereitschaft, sehr viel mehr Teilzeitar-beitsplätze als bisher zur Verfügung zu stellen, und drit-tens erleichterte die Fiskalpolitik diese Vereinbarung, in-dem sie Steuern und Sozialversicherungsbeiträge senkte,so dass der verringerte Anstieg der Bruttolöhne nicht

voll auf die Nettolöhne durchschlug. Diese Trias vonMaßnahmen hatte großen Beschäftigungserfolg, zum ei-nen deswegen, weil in einem kleinen Land eine Erhö-hung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit durch Lohn-zurückhaltung nur in deutlich geringerem Maße als ineiner großen Volkswirtschaft mit dem Risiko behaftetist, dass die konkurrierenden Unternehmen im Auslandebenfalls Lohnzurückhaltung durchsetzen, und weilzweitens das höhere Angebot an Teilzeitarbeitsplätzendie Aussichten der Arbeitslosen und der nachrückendenjüngeren Jahrgänge, eine Beschäftigung zu finden, deut-lich erhöhte, so dass sie unter anderem ihre Vorsorgeer-sparnisse verringern konnten. Wie wichtig das höhereAngebot an Teilzeitarbeitsplätzen für den Beschäfti-gungserfolg des Abkommens von Wassenaar war, istauch daran zu ersehen, dass in den Niederlanden die Er-werbstätigenzahlen deutlich kräftiger zunahmen als inDeutschland, dass aber die Entwicklung des Arbeitsvo-lumens bis zum Jahr 1990 geringfügig ungünstiger underst danach günstiger verlief als in Deutschland. Die inStunden gemessene Arbeitsnachfrage wurde dank dersteigenden Teilzeitquote auf wesentlich mehr Beschäf-tigte verteilt.

Des Weiteren wird auf eine Simulationsstudie des Insti-tuts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB),Nürnberg, verwiesen. Der dort errechnete positive Be-schäftigungseffekt mehrjähriger Lohnzurückhaltungwird auf der Basis eines großen makroökonometrischenModells ermittelt und hängt entscheidend von einer derunsichersten makroökonometrischen Beziehungen ab,nämlich der Investitionsfunktion. Insbesondere der Ein-fluss der Gewinne auf die Investitionen ist wegen derWechselwirkung zwischen diesen beiden Größen auf ge-samtwirtschaftlicher Ebene nur sehr schwer zu bestim-men. Angesichts dieser Unsicherheit reichen die Ergeb-nisse einer Simulationsstudie nicht aus, die theoretischabgeleitete Erwartung negativer Beschäftigungswirkun-gen zurückhaltender Lohnpolitik zu entkräften.

661. Die Tarifpolitik muss auch deswegen weiterhin inder Lage sein, Reallohnsteigerungen in Anlehnung andie Produktivitätszunahme durchzusetzen, weil andern-falls eine wichtige Barriere gegen ein Abgleiten in dieDeflation weggeräumt wird. Dass solche Barrieren not-wendig sind, geht aus der Erklärung des EZB-Rates zuseiner Sitzung vom 8. Mai 2003 hervor; diese besagt,dass der EZB-Rat „beim Streben nach Preisstabilität dar-auf abzielen wird, mittelfristig eine Preissteigerungsratevon nahe 2 % beizubehalten. Diese Klarstellung unter-streicht die Verpflichtung der EZB, zum Schutz gegenDeflationsrisiken für eine ausreichende Sicherheits-marge zu sorgen“. In Deutschland liegt die Preissteige-rungsrate deutlich unterhalb dieses Inflationsziels.

Die Europäische Zentralbank kann sich allerdings in ih-rer Geldpolitik nicht an der Situation in einem einzelnenLand orientieren, sondern sie muss die durchschnittlicheEntwicklung im gesamten Euro-Raum beachten. Siekann also nicht verhindern, dass die Inflationsrate inDeutschland am niedrigsten und der Realzins am höchs-

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