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Staats- und Verfassungskrise 1933 () || Schritte auf dem Weg zur Diktatur Die Entwicklung nach dem...

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51 Helmut Wohnout Schritte auf dem Weg zur Diktatur Die Entwicklung nach dem Ende des demokratischen Parlamentarismus im Spannungsfeld der deutschen und italienischen Österreichpolitik Bereits im Titel des vorliegenden Beitrags wird das Ergebnis jenes Prozesses, der mit dem 4. März 1933 angestoßen wurde, vorwegge- nommen. Er führte in eine autoritäre Regierungsdiktatur, vielleicht noch präziser formuliert, in eine „Kanzlerdiktatur“ aufgrund der enormen Kompetenzfülle, die der Bundeskanzler durch die Ver- fassung 1934 und ihre Übergangsbestimmungen in der politischen Wirklichkeit der Jahre 1934 bis 1938 in seiner Hand vereinigte. 1 In den folgenden Ausführungen geht es darum, skizzenartig jener Ent- wicklung nachzugehen, die in den ersten Monaten nach dem Ende des Parlamentarismus den Weg in die Diktatur ebnete. Es gab dabei keinen „Masterplan“, nach dem die Regierung Zug um Zug vorge- gangen wäre. Vielmehr verhielt es sich wie bei einem Schneeball, der von einer ursprünglich noch relativ begrenzten Verfassungsreform zu einer diktatorischen Lawine anschwoll. Wesentlich erscheint, die Entwicklung nicht innenpolitisch isoliert, sondern im Kontext der internationalen Konstellation zu betrachten, wobei sich die folgen- den Ausführungen – auch aufgrund des begrenzt zur Verfügung ste- henden Rahmens – auf einige Anmerkungen betreffend Deutschland und Italien beschränken müssen. 1 Helmut Wohnout, Anatomie einer Kanzlerdiktatur, in: Hedwig Kopetz/ Joseph Marko/Klaus Poier (Hg.), Soziokultureller Wandel im Verfassungs- staat. Phänomene politischer Transformation. Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Wien/Köln/Graz 2004, 961–974. Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/2/14 4:43 PM
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Helmut Wohnout

Schritte auf dem Weg zur DiktaturDie Entwicklung nach dem Ende des demokratischen

Parlamentarismus im Spannungsfeld der deutschen und

italienischen Österreichpolitik

Bereits im Titel des vorliegenden Beitrags wird das Ergebnis jenes Prozesses, der mit dem 4. März 1933 angestoßen wurde, vorwegge-nommen. Er führte in eine autoritäre Regierungsdiktatur, vielleicht noch präziser formuliert, in eine „Kanzlerdiktatur“ aufgrund der enormen Kompetenzfülle, die der Bundeskanzler durch die Ver-fassung 1934 und ihre Übergangsbestimmungen in der politischen Wirklichkeit der Jahre 1934 bis 1938 in seiner Hand vereinigte.1 In den folgenden Ausführungen geht es darum, skizzenartig jener Ent-wicklung nachzugehen, die in den ersten Monaten nach dem Ende des Parlamentarismus den Weg in die Diktatur ebnete. Es gab dabei keinen „Masterplan“, nach dem die Regierung Zug um Zug vorge-gangen wäre. Vielmehr verhielt es sich wie bei einem Schneeball, der von einer ursprünglich noch relativ begrenzten Verfassungsreform zu einer diktatorischen Lawine anschwoll. Wesentlich erscheint, die Entwicklung nicht innenpolitisch isoliert, sondern im Kontext der internationalen Konstellation zu betrachten, wobei sich die folgen-den Ausführungen – auch aufgrund des begrenzt zur Verfügung ste-henden Rahmens – auf einige Anmerkungen betreffend Deutschland und Italien beschränken müssen.

1 Helmut Wohnout, Anatomie einer Kanzlerdiktatur, in: Hedwig Kopetz/Joseph Marko/Klaus Poier (Hg.), Soziokultureller Wandel im Verfassungs-staat. Phänomene politischer Transformation. Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Wien/Köln/Graz 2004, 961–974.

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Die Lähmung des Parlaments und die deutschen Wahlen vom 5. März 1933

Für die führenden Männer der Regierung, also die christlichsozialen Parteispitzen rund um Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, stand bereits unmittelbar nach den Ereignissen vom 4. März 1933 fest, nun eine Zeit lang ohne Parlament weiter zu regieren. Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 19172 bot dafür die bekannt problematische Handhabe. Dieses war zu Beginn der Ersten Republik relativ häufig, dann aber rückläufig und ab den 1930er-Jahren nur mehr punktu-ell angewendet worden, bis es im Oktober 1932 von der Regierung Dollfuß „wiederentdeckt“ wurde.3 Der Entschluss, unter Preisgabe

2 Gesetz vom 24. Juli 1917, mit welchem die Regierung ermächtigt wird, aus Anlaß der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen, RGBl Nr. 307/1917.

3 Die erstmalige Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsge-setzes (KWEG) durch die Regierung Dollfuß erfolgte raffinierter Weise bei einem Gesetz, gegen dessen Inhalt die sozialdemokratische Oppo-sition schwerlich Einwände erheben konnte, nämlich die Haftung der für den Zusammenbruch der Credit-Anstalt Verantwortlichen. Die So-zialdemokratie verurteilte zwar die Anwendung des KWEG mit den der Opposition zur Verfügung stehenden parlamentarischen Mitteln – im Konkreten einer Dringlichen Anfrage – scharf, zu außerparlamentarischen Mitteln konnte und wollte sie aber aufgrund des Inhalts der Verordnung nicht greifen. Gernot D. Hasiba, Das Kriegswirtschaftliche Ermächti-gungsgesetz von 1917. Seine Entstehung und Anwendung vor 1933, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Ernst C. Helbling zum 80. Geburtstag, hg. von der Rechtswissen-schaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, Berlin 1981, 543–565; Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich, Wien 1975, 138–156; zuletzt, basierend auf den Arbeiten von Huemer und Hasiba: Hannes Leidinger/Verena Moritz, Das Kriegs-wirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG) vor dem Hintergrund der österreichischen Verfassungsentwicklung, in: Florian Wenninger/Lucile Dreidemy (Hg.), Das Dollfuß/Schuschnigg Regime 1933–1938. Vermes-sung eines Forschungsfeldes, Wien/Köln/Weimar 2013, 449–467.

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der demokratischen Institutionen einen kompletten Staatsumbau und eine neue Verfassung anzustreben, war Anfang März 1933 aber noch keineswegs gefasst. Die Regierung wollte vielmehr die Gelegenheit zu einer anfangs noch eingeschränkten Verfassungsnovelle sowie einer Geschäftsordnungsreform des Nationalrates nützen. Zu den Forde-rungen der Christlichsozialen zählten vor allem die Einrichtung eines Länder- und Ständerates sowie die Ausweitung des Notverordnungs-rechts des Bundespräsidenten.4 Am 7. März veranschlagte Dollfuß für die Umsetzung des Verfassungsreformvorhabens einen Zeitrahmen von sechs bis acht Wochen. Die Regierung hatte den Zeitpunkt der Wiedereinberufung des Nationalrates als Druckmittel gegenüber der sozialdemokratischen Opposition in der Hand. Solcherart wollte sie zumindest jenen Forderungen zum Durchbruch verhelfen, mit denen man bei der Verfassungsreform 1929 nicht durchgekommen war.5

4 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass von christlichso-zialer Seite, insbesondere seit dem Beginn der Kanzlerschaft Heinrich Brünings, eine Regierungsform nach dem Vorbild der deutschen Präsi-dialkabinette zunehmend als eine auch für Österreich wünschenswerte Option gesehen wurde. So hatte der einflussreiche Chefredakteur der „Reichspost“, Friedrich Funder, schon im Juni 1931 geschrieben: „Die deutsche Reichsverfassung hat in dieser Hinsicht vorgebaut und, wie gut sie daran getan hat, erfährt das deutsche Volk gerade jetzt in diesen Monaten, in denen das Notverordnungsrecht in der Hand eines so ver-antwortungsbewussten und zielsicheren Mannes wie Brüning geradezu einen Damm gegen die drohende Katastrophenüberflutung bildet. Die österreichische Bundesverfassung entbehrt dieser Einrichtung.“ Funder verlangte daher schon damals, das im Zuge des Verfassungskompromisses 1929 nicht durchsetzbar gewesene Notverordnungsrecht nach dem Vor-bild der Weimarer Verfassung einzuführen. Barbara Haider, „Die Diktatur der Vernunft“. Die Präsidialkabinette Brüning und das christlichsoziale Lager in Österreich, in: Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, 2 (1998), 194–227, 196.

5 Vgl. dazu im Detail: Helmut Wohnout, Regierungsdiktatur oder Stän-deparlament? Gesetzgebung im autoritären Österreich, Wien/Graz/Köln 1993, 57–67.

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Auch wenn also die christlichsozialen Spitzen der Regierung An-fang März 1933 noch keinen kompletten Bruch mit der bestehenden Verfassungsordnung im Auge hatten, so waren sie sich darüber im Klaren, mit ihrer Vorgangsweise die Grenzen der verfassungsmäßi-gen Legalität überschritten zu haben. Wenn für das Vaterland Gefahr bestehe, erlaube die katholische Moral auch Gesetzesbrüche. Mit diesem Argument rechtfertigte Richard Schmitz das Vorgehen der Regierung in der Sitzung des christlichsozialen Klubvorstandes am 7. März.6 Seine Stellungnahme zeigt anschaulich, dass sich die Partei-führung darüber im Klaren war, ab dem 5. März 1933 den rechtsstaat-lichen Boden verlassen zu haben, auch wenn vorerst daran gedacht war, dies nur für einen begrenzten Zeitraum zu tun.

Auf jeden Fall wollte die Regierung Neuwahlen verhindern, die die Sozialdemokratie seit der Übernahme der Kanzlerschaft durch Dollfuß und dem damit verbundenen Eintritt der Heimwehr in das Kabinett vehement forderte. Dieses Kalkül war bei allen Entscheidungen nach dem 4. März 1933 evident. Es wurde durch die zeitgleich stattfindenden Ereignisse in Deutschland, von denen die Entwicklung in Österreich im Frühjahr 1933 nicht losgelöst betrachtet werden kann, noch verstärkt. Bei den am 5. März 1933, also nur einen Tag nach den turbulenten Ereignissen im österreichischen Nationalrat abgehaltenen, deutschen Reichstagswahlen erreichte die NSDAP 43,9 Prozent der Stimmen. Zu-sammen mit jenen Rechtsparteien, die am 30. Jänner 1933 Adolf Hitler gemeinsam mit Reichspräsident Paul von Hindenburg in den Sattel des Reichskanzlers gehoben hatten (und als Kampffront Schwarz-Weiß-Rot auf einer Liste kandidierten), erzielten die Fraktionen von Hitlers Re-gierungsbündnis mit 51,9 Prozent die absolute Mehrheit.

6 Walter Goldinger (Hg.), Protokolle des Klubvorstandes der Christlichso-zialen Partei 1932–1934, Wien 1980, 153. Zur Rolle von Richard Schmitz im Rahmen der Entwicklung nach dem 4. März 1933 vgl: Helmut Wohn-out, Richard Schmitz und die Etablierung des autoritären Staates 1933/34, in: Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Insti-tuts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Ös-terreich, 13/14 (2009/2010), 173–205.

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Adolf Hitler hatte seinen tief sitzenden Hass gegenüber dem habsburgischen Vielvölkerstaat in wenig veränderter Form auf das Österreich nach 1918 übertragen. Er sprach Österreich jede Lebens-fähigkeit ab und glaubte daher schon zu Beginn seiner Kanzlerschaft, die Österreich-Frage durch innenpolitischen Druck und Gewalt binnen Kurzem in seinem Sinn lösen zu können.7 Seit Herbst 1932 setzten die Nationalsozialisten massiv politischen Terror zur Desta-bilisierung des politischen Systems in Österreich ein.8 Die Attentate, Bombenanschläge, Brückensprengungen etc. führten das Land, wie es zuletzt der deutsche Historiker Heinrich August Winkler in seiner Geschichte der Zwischenkriegszeit formulierte, „an den Rand eines Bürgerkrieges“.9 Mit seiner Ernennung zum deutschen Reichskanzler agierte Adolf Hitler Österreich gegenüber in zwei unterschiedlichen Rollen: Zum einen war er der Führer einer, wenn auch am extre-men deutschnationalen Rand der österreichischen Parteienlandschaft agierenden politischen Gruppierung, der NSDAP. Diese war dekla-rierter Weise Teil einer deutschen Partei in Österreich und Hitler somit, innenpolitisch betrachtet, der Kopf einer radikalen Oppo-sitionspartei. Zugleich war er aber seit dem 30. Jänner 1933 deut-scher Regierungschef und damit federführend in der Gestaltung der zwischenstaatlichen deutschen Außenpolitik gegenüber Österreich.

7 Hans Mommsen, Österreich im Kalkül der Hitlerschen Außenpolitik, in: Heinrich Berger/Melanie Dejnega/Regina Fritz/Alexander Prenninger (Hg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitge-schichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien/Köln/Weimar 2011, 167–174, 168–169.

8 Helmut Wohnout, Dreieck der Gewalt. Etappen des nationalsozialisti-schen Terrors in Österreich 1932–1934, in: Günther Schefbeck (Hg.), Ös-terreich 1934. Vorgeschichte – Ereignisse – Wirkungen, Wien/München 2004, 78–90; Georg Kastner, Die Opfer des NS-Terrors in Österreich von 1933–1938. Forschungszwischenbericht, in: Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschich-te der christlichen Demokratie in Österreich, 5 (2001), 161–187.

9 Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkrie-ge 1914–1945, München 2011, 705.

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Diese nahm unter seiner Führung nicht mehr, wie die Jahre zuvor, den Zusammenschluss zweier Staaten als Fernziel in Aussicht, sondern wollte binnen möglichst kurzer Frist den Anschluss an das Deutsche Reich erzwingen, gleichgültig welche Mittel zur Erreichung dieses Ziels angewandt werden mussten.10 Gerade dieses Nebeneinander von Staat und Partei führte in der ersten Zeit nach der Regierungs-übernahme Hitlers auch Österreich gegenüber zu jener Politik, die in den Worten Hans Mommsens insgesamt der „Methode des trial and error“ folgte und sich „mit der Ablehnung jedweder institutionalisier-ter Konfliktlösungsmechanismen verband.“11

Hitler hatte es seit seinem Amtsantritt als Reichskanzler kate-gorisch abgelehnt, mit der österreichischen Regierung bilaterale Gespräche oder Verhandlungen zu führen. Vielmehr formulierte er drei ultimative Forderungen. Erstens, Rücktritt von Bundes-kanzler Dollfuß und Bildung eines Übergangskabinetts, zweitens, Neuwahlen und drittens, die Beteiligung der Nationalsozialisten an der danach zustande kommenden Regierung.12 Der national-sozialistische Terror der Straße, verbunden mit der von Berlin aus formulierten „maßlosen Politik“13 Österreich gegenüber, sollte nach den Erwartungen der NS-Machtelite zu einer raschen Implosion der österreichischen Unabhängigkeit führen, vergleichbar mit der

10 Dieter Anton Binder, „Austrofaschismus“ und Außenpolitik. Die zu kurz geratene Diskussion, in: Wenninger/Dreidemy, Dollfuß/Schuschnigg Re-gime, 579–595, 581.

11 Hans Mommsen, Die nationalsozialistische Machteroberung: Revolution oder Gegenrevolution, in: Hans Mommsen, Zur Geschichte Deutsch-lands im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand, München 2010, 67–84, 75.

12 Dieter Anton Binder, Dollfuß und Hitler. Über die Außenpolitik des auto-ritären Ständestaates in den Jahren 1933/34, Graz 1976, 114–115; Dieter An-ton Binder, Der grundlegende Wandel in der österreichischen Außenpolitik 1933, in: Geschichte und Gegenwart. Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung, 2/3 (1983), 226–242, 231.

13 Dieter Anton Binder, Die Römer Entrevue, in: Österreich in Geschichte und Literatur, 24/5 (1980), 281–299, 282.

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ab dem 5. März 1933 dominoartig erfolgten „Gleichschaltung“ der deutschen Länder. Diese war ein Resultat zweier ineinander grei-fender Maßnahmen: dem von Berlin aus zentral gelenkten Terror der regionalen NS-Organisationen, vor allem der Sturmkolon-nen der SA, sowie den staatlichen Repressionsakten in Form der Einsetzung von nationalsozialistischen Reichskommissaren durch Reichsinnenminister Wilhelm Frick auf der Grundlage der nach dem Brand des Reichstags am 28. Februar 1933 von Hindenburg auf Antrag der Regierung unterzeichneten Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ („Reichstagsbrandverordnung“). Mit ihr waren die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt worden. Auf diese Weise gelang es nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 innerhalb nur weniger Tage, die rein bürgerlichen oder auch von Sozialdemokraten mitgetragenen deutschen Landesregierungen durch nationalsozialistisch geführte Kabinette zu ersetzen. Die Vorgangsweise der Nationalsozialisten, ihr totalitäres Herrschaftssystem in atemberaubender Geschwindig-keit durch die Ausschaltung der politischen Selbstständigkeit der Länder zu festigen, war gekennzeichnet durch ein „Ineinander einer gelenkten ‚Revolution von oben‘ und einer manipulierten ‚Revo-lution von unten‘, das für den Prozess der Machtergreifung und Gleichschaltung so charakteristisch gewesen ist.“14 Die Nationalso-zialisten griffen auf „revolutionär putschistische Mittel zurück, eben auf den ‚Druck von unten’, während man gleichzeitig […] für die pseudolegale Absicherung der Aktionen von oben sorgte.“15 In einer ähnlichen Tonart hoffte das Deutsche Reich auch mit Österreich im Frühjahr 1933 verfahren zu können und das Land binnen kur-zer Zeit zum von Berlin gelenkten Satelliten zu machen. Der Griff

14 Karl Dietrich Bracher, Stufen der Machtergreifung, in: Karl Dietrich Bra-cher/Wolfgang Sauer/Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Macht-ergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln/Opladen 1960, 31–368, 140.

15 Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Fol-gen des Nationalsozialismus, Berlin 1969, 226.

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nach Österreich wurde „als letztes Stadium der innenpolitischen Machtergreifung“ gesehen.16

Im Sinne ihrer Forderungen versuchten die österreichischen Na-tionalsozialisten, aus dem deutschen Wahlergebnis vom 5. März genauso wie in den deutschen Ländern unter Zuhilfenahme pseu-dorevolutionärer Methoden Kapital zu schlagen. Unmittelbar nach dem Einlangen der Resultate inszenierten sie in der Halle des Nord-westbahnhofes in Wien eine Siegesfeier, an der weit über 10.000 Menschen teilnahmen. Bei dieser Gelegenheit wurden neuerlich der Rücktritt der Regierung sowie die Bildung eines nationalen Kabi-netts unter Einbindung der NSDAP und Neuwahlen gefordert.17 Die Taktik Hitlers in Österreich war ähnlich jener in den deutschen Ländern. Obzwar in Wahrheit von Berlin gesteuert, versuchte er den Eindruck zu erzeugen, die Dinge würden sich jeweils „von selbst“ entwickeln. Dies hätte der bereits in Deutschland erfolgreich ange-wandten Legalitätstaktik bestmöglich entsprochen.

Der christlichsoziale Parteiobmann und Heeresminister Carl Vaugoin stand bei der bereits erwähnten Klubvorstandssitzung sei-ner Partei vom 7. März 1933 noch ganz unter dem Eindruck des deutschen Wahlergebnisses und der machtvollen Kundgebung der österreichischen NSDAP.18 Ihm war genauso wie den meisten an-deren aus der Führungsgruppe seiner Partei klar, dass die Signalwir-kung der deutschen Wahlen den bereits 1932 bei mehreren Regional-wahlen in Österreich sichtbar gewordenen Trend zu erdrutschartigen

16 Jens Petersen, Hitler-Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin-Rom 1933-1936, Tübingen 1973, 132–133.

17 Wohnout, Regierungsdiktatur, 60.18 Wörtlich erklärte Vaugoin: „Die Rückwirkung des Sonntags auf uns. Aus

Berichten, die ich bekommen habe, in der Nordwestbahnhalle. Ganz Wien ist närrisch geworden, Tausende haben keinen Eintritt bekommen. Es sind mindestens 20.000 Leute dort gewesen, wenn nicht mehr. […] Als vom Rücktritt der Regierung gesprochen wurde, Raserei.“ Goldinger, Protokolle, 134.

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Gewinnen der NSDAP weiter verstärken würde.19 Die Konsequenz lautete: Neuwahlen auf gar keinen Fall, weshalb nur mehr die Mög-lichkeit eines Zusammengehens mit der Sozialdemokratie oder der von Bundeskanzler Dollfuß vorgeschlagene autoritäre Weg blieb. Bei einem Zusammengehen mit der Linken glaubte Vaugoin zwar den Nationalsozialismus aufhalten zu können, damit aber als Partei politisch unterzugehen. Also blieb aus seiner Perspektive nur mehr das Einschlagen des von der christlichsozialen Parteispitze mehr-heitlich getragenen autoritären Kurses.20 Die Öffentlichkeit ließ Vaugoin allerdings durch bewusst unpräzise Stellungnahmen noch im Unklaren.

Unter Zuhilfenahme der Polizei verhinderte die Regierung den Versuch des Dritten Nationalratspräsidenten Sepp Straffner, den Nationalrat am 15. März wieder einzuberufen. Damit wurde erst-mals auch öffentlich sichtbar, wohin die Reise ging. Das Vorhaben Straffners hatte innerhalb der Regierung größte Nervosität ausge-löst. Danach hatte Dollfuß jedes Interesse, eine parlamentarische Gesprächsbasis zumindest auf unterer Ebene, etwa durch eine Re-aktivierung des Ständigen Unterausschusses des Hauptausschusses,

19 Das Resultat der Innsbrucker Gemeinderatsratswahlen vom 23. April 1933 stellte eine Bestätigung der von Vaugoin getroffenen Einschätzung dar. Die NSDAP stieg von 3,82 auf 41, 21 Prozent und hatte daher, wie Gerald Stourzh festhält, „sechs Wochen nach den deutschen Wahlen vom 5. März, nur knapp weniger als die ominösen 43,9% der Wahlen in Deutschland.“ Eine Woche später erzielte die NSDAP bei den Gemeinderatswahlen in Landeck 37, 6 Prozent und wurde wie in Innsbruck stimmenstärkste Par-tei, in einigen niederösterreichischen Städten fielen die Einbrüche zwar etwas geringer aus, waren aber immer noch beträchtlich. Die regionalen Wahlgänge vom 30. April 1933 waren die letzten demokratischen Wahlen in der Ersten Republik. Gerald Stourzh, Die Außenpolitik der österreichi-schen Bundesregierung gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung, in: Gerald Stourzh, Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausge-wählte Studien 1990–2010, Wien/Köln/Graz 2011, 181–210, 184.

20 Goldinger, Protokolle, 134–135.

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aufrecht zu erhalten, verloren.21 Zugleich begann er erstmals mit einem umfassenden Verfassungsumbau zu liebäugeln. Dieser soll-te weit über die ursprünglich angedachten, noch begrenzten Ver-fassungsänderungen hinausreichen. Das Agieren des ihm taktisch nicht gewachsenen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas bestärkte ihn dabei genauso22 wie die passive und defensive Haltung der sozi-aldemokratischen Opposition, die in einem offenkundigen Gegen-satz zum pseudo-revolutionären Attentismus in den Jahren zuvor stand.23

Italien als Verbündeter gegen Hitler

Kehren wir nochmals zu den deutschen Reichstagswahlen vom 5. März 1933 zurück: Es ist bemerkenswert, dass Otto Bauer retro-spektiv selbstkritisch einräumte, in der Hitze des innenpolitischen

21 Zu den Überlegungen, mittels des Ständigen Unterausschusses des Ver-fassungsausschusses den Parlamentarismus quasi auf kleiner Flamme auf-rechtzuerhalten: Wohnout, Regierungsdiktatur, 64–67.

22 Indem Miklas den ihm am 7. März von Dollfuß angebotenen Rücktritt nicht annahm, wozu er nach der Verfassung (Art. 74 B-VG) eigentlich verpflichtet gewesen wäre, brachte er sich um die Möglichkeit einer späte-ren Entlassung. Das Gesetz des Handelns war vom Bundespräsidenten auf den Bundeskanzler übergegangen, wobei Manfried Welan die Frage offen-lässt, ob – politisch gesprochen – das Rücktrittsangebot nicht vielmehr eine „Rücktrittsdrohung“ gewesen sei; die Konsequenz war jedenfalls eine „Selbstausschaltung“ des politisch isolierten Bundespräsidenten Miklas. In weiterer Folge wäre ihm nur mehr der Rücktritt geblieben, weshalb Welan resümiert: „Durch die Entlassung hätte Miklas einen politischen Akt für die Demokratie gesetzt; durch den Rücktritt die persönliche Ges-te eines Demokraten. Leider unterließ er beides.“ Manfried Welan, Die Verfassungsentwicklung in der Ersten Republik, in: Joseph F. Desput, Hg., Österreich 1934–1984. Erfahrungen, Erkenntnisse, Besinnung, Graz/Wien/Köln 1984, 73–90, 84; Manfried Welan, Der Bundespräsident. Kein Kaiser in der Republik, Wien/Köln/Graz 1992, 70–71.

23 Everhard Holtmann, Zwischen Unterdrückung und Befriedung. Sozialis-tische Arbeiterbewegung und autoritäres Regime in Österreich 1933–1938, Wien 1978, 90.

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Gefechts am 4. März 1933 den Einfluss der deutschen Wahlen einen Tag später zu wenig beachtet zu haben.24 Wer hingegen den Schritt Dollfuß’, vorderhand ohne Parlament weiterzuregieren, sofort als direkte Konsequenz der deutschen Wahlen und der sich daran an-schließenden nationalsozialistischen Massendemonstrationen werte-te, war der italienische Gesandte in Wien, Gabriel Preziosi.25

Dies führt zum aus österreichischer Sicht, neben Hitler, zweiten außenpolitischen Protagonisten der Jahre 1933/34, dem italienischen Diktator Benito Mussolini. Die Versuche einer politischen Einfluss-nahme des „Duce“ auf die österreichische Politik reichen relativ lan-ge zurück und waren von unterschiedlicher Intensität gekennzeich-net.26 Unter Bundeskanzler Johannes Schober hatten sie einen ersten Höhe punkt erreicht. Parallel dazu unterstützte Italien ab 1928 massiv die Heimwehr. Mussolini traute ihr aber seit Beginn der 1930er-Jahre nicht mehr die Kapazität zu, einen Umsturz im Alleingang herbei-zuführen.

Es waren mehrere Beweggründe, die der Politik Mussolinis zu-grunde lagen. Einige davon seien explizit angeführt: • die Erhaltung der österreichischen Selbstständigkeit als Schutz

der italienischen nationalen Interessen, oder kurz gesagt: die Vermeidung einer unmittelbaren Nachbarschaft zur Großmacht Deutschland am Brenner durch die Weiterexistenz des Puffer-staats Österreich,

• die italienische Donauraumpolitik mit Stoßrichtung gegen die

24 Otto Bauer, Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. Seine Ursachen und Wirkungen, Prag 1934, unveränderter Nachdruck mit einem Vorwort von Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky, Wien 1974, 25.

25 Soppressione di fatto da parte di Dollfuss del Parlamento austriaco, R. 1028/561, Preziosi a Mussolini, 9.3.1933, in: Ministerio degli Affari Esteri (Hg.), I Documenti Diplomatici Italiani (DDI), serie VII (1922–1935), volume 13, Nr. 189.

26 Für das Folgende vgl.: Helmut Wohnout, Bundeskanzler Dollfuß und die österreichisch-italienischen Beziehungen 1932–1934, in: Wenninger/Dreidemy, Dollfuß/Schuschnigg Regime, 603–633.

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Helmut Wohnout62

Kleine Entente entsprechend dem durchgehend angewandten Revisionsprinzip der italienischen Außenpolitik,

• Mussolinis absoluter Antimarxismus, seine unversöhnliche Geg-nerschaft gerade zu der ihm bekannten österreichischen Sozial-demokratie,

• das daraus resultierende Bestreben zur Realisierung einer dauer-haften Rechtsregierung in Österreich,

• damit eng verbunden, das Interesse an einem Regierungs- und Verfassungssystem mit einem möglichst weitgehenden autoritä-ren Charakter.

Ab etwa Herbst 1932 begannen sich die Beziehungen zwischen Wien und Rom auf Regierungsebene, teils unter ungarischer Ver-mittlung, wieder zu verdichten. Dollfuß erlegte sich dabei anfangs eine gewisse Zurückhaltung auf. Er wusste um die geringe Popu-larität eines solchen Zusammengehens27 und wollte sich keinesfalls exklusiv an Italien binden. Im Frühjahr 1933 sah der italienische Diktator nun den Zeitpunkt für die Realisierung seiner Pläne als gekommen an. Die von Dollfuß bis Anfang April gesetzten Maßnahmen, etwa die am 31. März erfolgte Auflösung des Republikanischen Schutzbundes, bestärkten ihn in seiner Einschätzung.

Angesichts der Zuspitzung der innen- und außenpolitischen Lage, in deren Verlauf in Wien fast täglich neue Putsch- und Umsturzge-rüchte kursierten, entschied sich Dollfuß in den ersten Apriltagen zu jenem Schritt, von dem er bis diesem Zeitpunkt wohlweislich noch Abstand genommen hatte: dem persönlichen Kontakt mit Mussolini. Dieser war nach dem Zusammentreffen überzeugt, in Dollfuß das Werkzeug zur Umsetzung seiner Absichten im Hinblick auf Öster-

27 Es sei in diesem Zusammenhang nur an die rigide Südtirolpolitik des faschistischen Italien erinnert, die nur wenige Jahre zuvor, 1928, noch zu einer veritablen Verstimmung zwischen dem damaligen Bundeskanzler Seipel und Mussolini geführt hatte. Vgl. dazu: Klaus Weiss, Das Südtirol-Problem in der Ersten Republik. Dargestellt an Österreichs Innen- und Außenpolitik im Jahre 1928, Wien/München 1989.

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reich gefunden zu haben. Auch der österreichische Kanzler konnte Rom erleichtert verlassen: Er hatte sich mit seinem überraschenden Besuch nicht nur der Rückendeckung Mussolinis versichert, sondern auch den gleichzeitig in Rom anwesenden Hermann Göring und Franz von Papen einen Strich durch deren politische Rechnung ge-macht. Ihr Versuch, Mussolini zu einer Änderung seiner Österreich-politik zu bewegen, indem sie die österreichische Frage auf ein rein innenpolitisches Problem reduzieren wollten, scheiterte auf der gan-zen Linie. Nach Berlin zurückgekehrt, resümierte Göring missmutig, dass die „unerwartete Ankunft dieses verfluchten Dollfuß“ die Dinge noch mehr verkompliziert hätte.28

Nachdem das ursprüngliche Kalkül der Nationalsozialisten, noch im Laufe des Frühjahrs 1933 die politische Situation in Österreich zu ihren Gunsten zu wenden, nicht aufgegangen war, versuchte das na-tionalsozialistische Deutschland – zusätzlich zu der Welle politischer Gewalt, mit der es das Nachbarland überzogen hatte – mittels der am 1. Juni 1933 in Kraft getretenen sogenannten „1000-Mark-Sperre“ Österreich wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Als Adolf Hitler in der Kabinettssitzung vom 26. Mai 1933 die Maßnahme ankündigte, prophezeite er, die Auseinandersetzung mit der österreichischen Re-gierung werde noch vor Ende des Sommers entschieden sein.29 Man solle, so Hitler, sich dabei der gleichen Methoden bedienen, die in Bayern zum „sofortigen Erfolg“ geführt hätten. Daher lehnte er neu-erlich Verhandlungen kategorisch ab. Die 1000-Mark-Sperre würde

28 Renzo de Felice, Mussolini il duce. vol. 1. Gli anni del consenso 1929–1936, Torino 1974, 472. Vgl. auch: Gianluca Falanga, Mussolinis Vorpos-ten in Hitlers Reich. Italiens Politik in Berlin 1933–1945, Berlin 2008, 33.

29 Zu den Ausführungen Adolf Hitlers im Rahmen der Regierungssitzung vom 26. Mai 1933: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945. Serie C: 1933–1937. Das Dritte Reich: Die ersten Jahre, Bd. I/2, 16. Mai bis 14. Oktober 1933, Göttingen 1971, Dok. Nr. 262 (Auszüge aus der Niederschrift über die Ministerbesprechung vom 26. Mai 1933, 4 Uhr 15 nachm.); Akten der Reichskanzlei. Die Regierung Hitler. Teil I: 1933/34, Bd. 1: 30. Jänner bis 31. August 1933, Boppard am Rhein 1983, Nr. 142 (Ministerbesprechung vom 26. Mai 1933, 16.15 Uhr).

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zum Sturz von Dollfuß und zu Neuwahlen führen, umso mehr als ihre Bekanntgabe von einer entsprechenden Propagandaoffensive der NSDAP begleitet würde. Das Ergebnis der dem erhofften Sturz von Dollfuß folgenden Wahlen sollte dann die „Gleichschaltung“ mit dem Deutschen Reich ermöglichen. Außenpolitische Rücksichten, insbesondere die Haltung Italiens, würden es allerdings erforderlich machen, so Hitler, mit dem Anschluss selbst im Moment noch zu-zuwarten.

Auch bei dieser Gelegenheit konnte Adolf Hitler gegenüber den in der Regierungssitzung anwesenden Ministern seine tiefsitzenden Ressentiments gegenüber Österreich nicht verbergen. Schon das vor 1914 geschlossene Bündnis mit der Donaumonarchie habe dem Reich nur geschadet, die Habsburger hätten mit ihrer Slawisierungs-politik das Deutschtum betrogen. Es dürfe daher deutscherseits nicht der gleiche Fehler in der Einschätzung Österreichs wie vor dem Ers-ten Weltkrieg gemacht werden. Die gegenwärtige Regierung stünde dem Deutschen Reich feindselig gegenüber. Österreich würde „im wesentlichen durch das Wiener Halbjudentum und die Legitimisten beeinflusst“. Es sei das Ziel der Regierung Dollfuß, „den deutschen Nationalgedanken aus Österreich auszutreiben und an seine Stelle den österreichischen Gedanken zu setzen.“ Durch diesen „Verschwei-zerungsprozess“ drohten aber dem Deutschen Reich sechs Millionen Menschen verloren zu gehen, so die von Hitler gehegte Befürchtung in seinen Ausführungen. In ihrer Authentizität können sie als gera-dezu beispielhaft für das gebrochene und hostile Verhältnis Adolf Hitlers seiner früheren Heimat gegenüber gelten.

Die deutsche Seite ließ auch in weiterer Folge nichts unversucht, um Italien auf der politisch-diplomatischen Ebene von seiner proös-terreichischen Linie abzubringen. So betonte Hermann Göring in ei-nem Gespräch mit dem italienischen Botschafter in Berlin am 17. Juli 1933, weder er noch Hitler würden einen Anschluss ohne die Zustim-mung Italiens wollen, doch wünsche man sich von Rom Neutralität in der Österreichfrage und keine Unterstützung für Dollfuß. Göring rechnete zu diesem Zeitpunkt zwar nicht mehr mit einem Sturz von

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Dollfuß noch vor Ende des Sommers, er erklärte aber seinem italie-nischen Gesprächspartner gegenüber offen, dass der österreichische Bundeskanzler spätestens im Frühjahr 1934 einer nationalsozialisti-schen Revolution würde weichen müssen und fügte – möglicherwei-se in Anspielung auf die Südtirolfrage – kryptisch hinzu, es werde nach dem Sturz von Dollfuß das eintreten, was die Italiener wollten und die Deutschen noch nicht öffentlich aussprechen könnten.30

Der autoritäre Kurs nimmt Gestalt an

Im Laufe des Mai 1933 hatte sich bei Bundeskanzler Engelbert Doll-fuß die Überzeugung verfestigt, nicht mehr zum Parlamentarismus in seiner bisherigen Form zurückzukehren. Neben dem Einfluss Italiens waren der Parteitag der Christlichsozialen in Salzburg und die damals so bezeichnete „Türkenbefreiungsfeier“ der Heimwehr in Schönbrunn Wegmarken auf dem Weg des Kanzlers zum Diktator. Beim Parteikonvent der Christlichsozialen trug man ihm entgegen seiner Erwartung nicht den Parteivorsitz an, was seine Entfremdung gegenüber der eigenen Partei, aber darüber hinaus auch gegenüber dem demokratischen Parteienwesen insgesamt, beschleunigte. Die Kundgebung der Heimwehr in Schönbrunn am 14. Mai 1933 mit zehntausenden aus ganz Österreich versammelten Heimwehrmän-nern bildete dann den Rahmen, in dessen Folge Dollfuß erstmals unmissverständlich klar machte: „Diese Form von Parlament und Parlamentarismus, die gestorben ist, wird nicht wiederkommen.“31 Kurze Zeit später sprach er schon ganz offen von einer völlig neuen Verfassung, ohne dass er allerdings schon über deren Inhalt klare Vor-stellungen gehabt hätte. Nach dem Rücktritt der der Christlichsozi-

30 Lungo colloquio con Göring circa il disarmo, la situazione interna tedesca e la questione austriaca, Zl. 3174/498 R., Cerutti a Mussolini, 17.7.1933, DDI, serie VII, volume 14, Nr. 2.

31 Die Rede Dollfuß’ ist in ihrem vollem Umfang publiziert in: Edmund Weber (Hg.), Dollfuß an Österreich. Eines Mannes Wort und Ziel, Wien/Leipzig 1935, 213–219, 216–217.

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alen Partei nahestehenden Verfassungsrichter erfolgte durch Verord-nung der Bundesregierung vom 23. Mai 1933 die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs. Damit hatte Dollfuß eine weitere Zäsur im Prozess des schleichenden Staatsstreichs von oben gesetzt.32 Nur drei Tage später, am 26. Mai, erfolgte das Verbot der Kommunistischen Partei, dem im Juni das der NSDAP folgte. Die Einführung der dem Bundeskanzler unterstellten Sicherheitsdirektoren griff massiv in die Kompetenzen der Länder ein, noch dazu auf dem heiklen Gebiet der inneren Sicherheit.33 Die Ernennung des in hohem Ansehen stehenden und als Demokrat geltenden Vorarlberger Landeshaupt-mannes Otto Ender zum Verfassungsminister Mitte Juli war bloß ein geschickter Schachzug des Bundeskanzlers, der aber ohne faktische Auswirkungen blieb oder gar eine Kursänderung bewirkt hätte.

Mussolini ermutigte Dollfuß bei dessen ersten beiden Besuchen in Rom, in seinem autoritären Kurs fortzufahren. Er präsentierte sich als konzilianter und verbindlicher Gesprächspartner, der Dollfuß mit viel Sympathie begegnete. Dies hatte seine Wirkung auf den österrei-chischen Kanzler nicht verfehlt.34 Ab dem Sommer 1933 begann sich die Stimmung zu drehen. Mussolini verknüpfte seine Bereitschaft zur weiteren Unterstützung mit dezidierten Forderungen im Hinblick auf die innerstaatliche Umgestaltung Österreichs, vor allem beim dritten Zusammentreffen der beiden Regierungschefs am 19. und 20. August in Riccione. Danach sollte es Schlag auf Schlag gehen. Zwar hatte Dollfuß bereits zahlreiche Schritte gesetzt, die Mussolini entgegen kamen, doch in der für den „Duce“ entscheidenden Frage,

32 Dieter A. Binder/Ernst Bruckmüller, Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918–2000, Wien/München 2005, 25.

33 Martin Polaschek, Der Föderalismus in der Verfassung 1934, in: Geschich-te und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsana-lyse und politische Bildung, 12/3 (1993), 141–178, 144.

34 Von seinem zweiten Rom-Besuch im Juni nach Wien zurückgekehrt, be-richtete der österreichische Bundeskanzler gegenüber seinen Parteifreun-den euphorisch, nunmehr „restlos auf die Freundschaft Italiens“ zählen zu können. Goldinger, Protokolle, 252.

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nämlich jener der Ausschaltung der Sozialdemokratie und damit eng verbunden, der Liquidierung des Roten Wien, blieb Dollfuß zöger-lich. Auch die teilweise erfolgreichen Bemühungen des Kanzlers, den österreichisch-deutschen Konflikt zu internationalisieren, stießen in Rom nicht auf ungeteilte Zustimmung. „Nous avons donné une pe-tite injection à Monsieur Dollfuß.“35 So umschrieb der italienische Unterstaatssekretär Fulvio Suvich den detaillierten Forderungska-talog, mit dem Mussolini beim Zusammentreffen in Riccione die weitere Unterstützung gegenüber Hitler-Deutschland junktimiert hatte: Verfassung, Regierungsumbildung, Einsetzung eines Regie-rungskommissärs in Wien etc. Zumindest partiell musste Dollfuß handeln. In der sogenannten „Trabrennplatzrede“ nahm die Vater-ländische Front als neue Einheitspartei erstmals Konturen an und Dollfuß präsentierte sich als autoritärer Führer. Kurze Zeit später, am 21. September 1933, folgte eine Regierungsumbildung, im Zuge derer der Landbund, der noch am ehesten als demokratische Anti-pode zur Heimwehr in der Regierungskoalition fungiert hatte, aus dem Kabinett ausschied. Damit hätte die Regierung im ohnedies nur mehr fiktiven Fall der Rückkehr zum Parlamentarismus alter Schule eindeutig über keine Mehrheit mehr im Nationalrat verfügt. Nach der verfassungsmäßigen Zäsur im Juni waren nun auch die politisch-parlamentarischen Brücken einer Rückkehr zum demokratischen System abgebrochen. Spätestens mit dem 21. September 1933 regierte Dollfuß nicht nur verfassungsrechtlich gesehen, sondern auch poli-tisch betrachtet, endgültig autoritär.

Ab diesem Zeitpunkt war jener Weg vorgezeichnet, der in die blutigen Februarereignisse 1934 führte, auch wenn er damals noch nicht unumkehrbar gewesen wäre. Doch fand sich mit der sozial-demokratischen Opposition keine substantielle Verhandlungsebene mehr, oder präziser formuliert, wollte Dollfuß im Herbst 1933 keine solche mehr finden. Am Anfang der Regierungszeit von Dollfuß war

35 Lajos Kerekes, Abenddämmerung einer Demokratie. Mussolini, Gömbös und die Heimwehr, Wien/Frankfurt/Zürich 1966, 158.

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es Otto Bauer gewesen, der Verhandlungen abgelehnt, der Regierung das Misstrauen ausgesprochen und die Lausanner Völkerbundanleihe vehement bekämpft hatte. Im Oktober 1932 war es dann, wie Ernst Hanisch dargelegt hat, auch zum vollständigen menschlichen Zer-würfnis zwischen ihm und Dollfuß gekommen.36 Ab dem März 1933 hatte sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Die Sozialdemokratie agierte defensiv und abwartend. Sie sandte Signale an die Regierung aus und deutete Kompromissbereitschaft an, die, nachdem anfangs noch informelle Kommunikationskanäle aufrechterhalten worden waren, im weiteren Verlauf der Ereignisse nicht mehr erwidert wurde.

Außenpolitisch versuchte Dollfuß so lange es ging nicht aus-schließlich auf die italienische Option angewiesen zu sein. Mehrmals begann er im Laufe des Jahres 1933 unter der Hand Möglichkeiten einer direkten deutsch-österreichischen Verständigung zu sondieren. Zugleich war es Dollfuß ab dem Frühsommer 1933 gelungen, den deutsch-österreichischen Konflikt zumindest partiell zu internatio-nalisieren. Gegen Ende 1933 versuchte er neuerlich, den ihm in Ric-cione aufgezwungenen Kurs abzuschwächen, indem er sich vermehrt um die Rückendeckung der Westmächte bemühte.37 Zu einer von Österreich immer wieder überlegten Befassung des Völkerbundes zwecks Multilateralisierung der österreichischen Unabhängigkeit kam es allerdings aus Rücksicht auf Italien nicht mehr.

Eine vergebliche Warnung

Es war einer der entscheidenden Denkfehler Mussolinis im Hinblick auf Österreich, dass er – vor 1914 selbst der Linken zugehörig und nun angetrieben durch den unversöhnlichen Hass des Renegaten – tatsächlich glaubte, er könne durch ein entschlossenes Vorgehen

36 Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien/Köln/Weimar 2011, 279–280.

37 Siegfried Beer, Der „unmoralische“ Anschluß. Britische Österreichpolitik zwischen Containment und Appeasement 1931–1934, Wien/Köln/Graz 1984, 265.

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gegenüber der Sozialdemokratie dem Nationalsozialismus den Wind aus den Segeln nehmen. Diese Sichtweise vertraten bekanntlich auch breite Teile der Heimwehr: Odo Neustädter-Stürmer, Klubobmann der Heimwehr-Fraktion im Nationalrat, später Staatssekretär, danach Sozialminister und sicher eines der problematischsten Mitglieder der Regierung Dollfuß, formulierte im März 1933 ebenso einprägsam wie aus heutiger Sicht beängstigend, man müsse den Nationalsozialismus „überhitlern“ und „den Vernichtungskampf gegen den Marxismus rücksichtslos führen.“38 Dollfuß war anderer Meinung und blieb lange zögerlich. Noch im Jänner 1934 äußerte er die Befürchtung, bei einer Zerschlagung von sozialdemokratischer Partei und Rotem Wien wür-de die NSDAP neuerlich Zulauf erhalten.39 Er sollte Recht behalten.40

38 Goldinger, Protokolle, 204. 39 Beim Besuch von Unterstaatssekretär Fulvio Suvich in Wien vom 18. bis

20. Jänner 1934 entgegnete Dollfuß auf dessen Vorhaltungen, wonach die Regierung bisher nicht entschlossen genug gegen die Linke vorgegangen sei, dass eine Auflösung der sozialdemokratischen Partei und der Wiener Gemeindeadministration zu einem Überlaufen von Teilen ihrer Anhän-gerschaft zur NSDAP führen würde. Fulvio Suvich, Memorie 1932–1936. A cura di Gianfranco Bianchi, Milano 1984, 268.

40 Nach dem 12. Februar 1934 liefen etliche enttäuschte Anhänger der SDAP zu den in der Illegalität operierenden Gruppierungen der NSDAP über, „in denen sie die konsequentesten Gegner des katholisch-autoritären Ständestaats erblickten. Im Anhaltelager Wöllersdorf in Niederösterreich saß man gemeinsam hinter Stacheldraht und verständigte sich über die gemeinsame Abneigung der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur. Und auch die Flucht von Richard Bernaschek, dem Auslöser der Februarkämpfe, nach München […] war für viele Sozialdemokraten Anlass, teils direkt zu den illegalen Wehrverbänden des Nationalsozialismus überzuwechseln. Das war dann umso leichter, wenn es sich um Sozialdemokraten aus nichtur-banen Milieus handelte, deren Hauptmotiv der politischen Orientierung die Ablehnung des Katholizismus war.“ Helmut Konrad, Der 12. Februar 1934 in Österreich, in: Schefbeck, Österreich, 91–98, 96. Evan Burr Bukey schätzt, dass von jenen Teilen der Arbeiterschaft, die sich nach dem Feb-ruar 1934 Widerstandsgruppen im Untergrund anschlossen, ungefähr ein Drittel zur NSDAP überlief. Evan Burr Bukey, Hitlers Österreich. „Eine Bewegung und ein Volk“, Hamburg/Wien 2001, 108.

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Die Fehleinschätzung Mussolinis, wonach die einzige erfolg-versprechende Methode, die Dynamik des Nationalsozialismus in Österreich zu bremsen, der Versuch wäre, dem Konkurrenten die Waffe des Antimarxismus zu entwinden, hatte bekanntermaßen für Österreich fatale Folgen. An innerösterreichischen warnenden Stim-men hatte es nicht gefehlt. Eine davon, nämlich jene des Publizisten Ernst Karl Winter, sei abschließend zitiert. Der Legitimist, Links-katholik und spätere zeitweilige Wiener Vizebürgermeister war mit Dollfuß befreundet, was ihn aber nicht hinderte, scharfe Kritik an der vom österreichischen Kanzler eingeschlagenen Politik zu üben. Im Dezember 1933 veröffentlichte Ernst Karl Winter einen mit Mai datierten Brief an Mussolini. Pointiert führte er dem „Duce“ die Wi-dersprüchlichkeit seiner Österreichpolitik vor Augen:

„Sie müssen sich wohl entscheiden, was Sie lieber von Österreich wollen: den Nicht-Anschluss oder den Faschismus. Beides zugleich kann man nicht wollen. Denn der Nicht-Anschluss setzt die Exis-tenz des Föderalismus, der Demokratie und sogar des Sozialismus in Österreich voraus. Denn gerade die ,Linke‘ ist heute der Damm gegen den Anschluss. […] Sie werden also, Exzellenz, sich entschei-den müssen: Das Hakenkreuz am Brenner oder aber die Demokra-tie in Österreich.“41

Winter publizierte sein Schreiben in dem von ihm herausgegebenen Periodikum „Wiener Politische Blätter“. Die Ausgabe wurde sofort konfisziert.42 Ob sein Brief Mussolini je erreicht hat, darf bezweifelt werden und ist letztlich auch irrelevant. Das Schreiben ist vielmehr ein Dokument dafür, dass es auch im österreichischen Regierungsla-ger, oder zumindest an seinen Rändern, Stimmen gab, die klarsichtig

41 Zit. n. Jens Petersen, Gesellschaftssystem, Ideologie und Interesse in der Außenpolitik des faschistischen Italien, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 54 (1974), 428–470, 451.

42 Stourzh, Außenpolitik, 187.

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die Widersprüche der italienischen Politik in Bezug auf Österreich erkannt hatten.

Resümee

Wie bereits im Zuge des Beitrags dargelegt, kann und soll aus Sicht des Verfassers das Ende des demokratischen Parlamentarismus in Österreich nicht isoliert von den zeitnahen Entwicklungen im Ende Jänner 1933 nationalsozialistisch gewordenen Deutschland betrachtet werden. Um die staatliche Selbstständigkeit gegenüber den unverhoh-lenen Drohungen Hitlers zu erhalten, vor allem aber auch, um den ei-genen politischen Machterhalt zu sichern, waren die Spitzenrepräsen-tanten der Regierung Dollfuß bereit, den Verfassungsbruch in Kauf zu nehmen und relativ leichten Herzens die Demokratie und ihre Institutionen zu opfern. Der Weg in die Diktatur gewann sehr rasch an Dynamik. Dies hatte auch damit zu tun, dass der von Dollfuß eingeschlagene „italienische Kurs“ innen- wie außenpolitisch gegebe-nenfalls denkbare Alternativen verengte und schließlich unmöglich machte. Die von Mussolini gehegte Illusion, wonach eine entschlos-sene Niederwerfung der Sozialdemokratie den Nationalsozialismus seiner Anziehungskraft beraube, sollte sich allerdings als dramatische Fehleinschätzung mit fatalen Folgen erweisen. In ihrer letzten töd-lichen Konsequenz trafen diese auch Bundeskanzler Dollfuß selbst.

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