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Staats- und Verfassungskrise 1933 () || Kommentar zum Panel „Wirtschafts- und europapolitische...

Date post: 04-Jan-2017
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211 Ernst Bruckmüller Kommentar zum Panel „Wirtschafts- und europa- politische Verortung der Ereignisse“ Die Bearbeitung des Themenblocks „Wirtschafts- und europapolitische Verortung der Ereignisse“, nämlich jener des 4. März 1933, stand vor einigen Schwierigkeiten. Diese resultieren aus der Sicht der Ereignisse von 1933 aus dem Blickwinkel der Gegenwart: Denn 2013 ist jede Wirt- schaftspolitik aufgrund der EU-Verträge im Wesentlichen Europapoli- tik, die Wirtschaftskompetenz der Einzelstaaten erscheint zugunsten der europäischen Institutionen reduziert. 1933 existierte nichts davon. Nun spielte der österreichische Verfassungsbruch von 1933 zwar in Europa und hatte daher notwendigerweise auch eine europapoliti- sche Dimension, es existierten aber keine europapolitischen Instituti- onen, auch wenn man zugestehen muss, dass der Völkerbund damals noch viel stärker europazentrisch ausgerichtet war als die United Na- tions Organisation (UNO) nach 1945: Ich erinnere hier nur an die über den Völkerbund organisierten Lösungen der österreichischen Krisen von 1922 und 1932, die Genfer und Lausanner Anleihen. Aber als Ebene, auf der wirtschaftliche und politische Krisen mit Aussicht auf Erfolg diskutiert werden könnten, war der Völkerbund wohl auch nicht vorgesehen. Immerhin wäre eine genauere Befassung mit den Aktivitäten des Völkerbundes rund um die große Krise von 1929 bis 1933, aber auch im Zusammenhang mit dem Vordringen dikta- torischer Regierungssysteme, vielleicht von Interesse. Dass die Refe- rentinnen/Referenten dieses Themenblocks den Völkerbund kaum ansatzweise thematisiert haben, ist zweifellos als Hinweis auf dessen geringe Relevanz für unsere Thematik zu werten. Immerhin gab es „europäische“ Privatinitiativen, wie die Paneuropa-Union Richard N. Coudenhove-Kalergis oder die Europäische Minderheitenkonfe- Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/6/14 12:08 AM
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Ernst Bruckmüller

Kommentar zum Panel „Wirtschafts- und europa-politische Verortung der Ereignisse“

Die Bearbeitung des Themenblocks „Wirtschafts- und europapolitische Verortung der Ereignisse“, nämlich jener des 4. März 1933, stand vor einigen Schwierigkeiten. Diese resultieren aus der Sicht der Ereignisse von 1933 aus dem Blickwinkel der Gegenwart: Denn 2013 ist jede Wirt-schaftspolitik aufgrund der EU-Verträge im Wesentlichen Europapoli-tik, die Wirtschaftskompetenz der Einzelstaaten erscheint zugunsten der europäischen Institutionen reduziert. 1933 existierte nichts davon.

Nun spielte der österreichische Verfassungsbruch von 1933 zwar in Europa und hatte daher notwendigerweise auch eine europapoliti-sche Dimension, es existierten aber keine europapolitischen Instituti-onen, auch wenn man zugestehen muss, dass der Völkerbund damals noch viel stärker europazentrisch ausgerichtet war als die United Na-tions Organisation (UNO) nach 1945: Ich erinnere hier nur an die über den Völkerbund organisierten Lösungen der österreichischen Krisen von 1922 und 1932, die Genfer und Lausanner Anleihen. Aber als Ebene, auf der wirtschaftliche und politische Krisen mit Aussicht auf Erfolg diskutiert werden könnten, war der Völkerbund wohl auch nicht vorgesehen. Immerhin wäre eine genauere Befassung mit den Aktivitäten des Völkerbundes rund um die große Krise von 1929 bis 1933, aber auch im Zusammenhang mit dem Vordringen dikta-torischer Regierungssysteme, vielleicht von Interesse. Dass die Refe-rentinnen/Referenten dieses Themenblocks den Völkerbund kaum ansatzweise thematisiert haben, ist zweifellos als Hinweis auf dessen geringe Relevanz für unsere Thematik zu werten. Immerhin gab es „europäische“ Privatinitiativen, wie die Paneuropa-Union Richard N. Coudenhove-Kalergis oder die Europäische Minderheitenkonfe-

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renz unter dem Vorsitz des Slowenen Josip Vilfan, aber das waren europapolitisch ebenfalls ziemlich wirkungslose Instrumente.

Ganz im Gegenteil: Das Fehlen irgendeiner zentralen europäi-schen Instanz verschärfte die ökonomische Krise und ließ die ein-zelnen Staaten nach ausschließlich „nationalen“ Lösungen suchen, die sich in der Regel als krisenverschärfend erwiesen. Anders als in den europäischen Institutionen nach 1945 gab es auch keinen Kon-sens im Hinblick auf ein verpflichtendes Modell von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wie er doch, mit allen diesem Modell an-haftenden Schwächen, in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Europäischen Union (EU) zur Regel wurde.

Zwar zeigt insbesondere das österreichische Beispiel mit der zwei-maligen Anrufung des Völkerbundes, 1922 und 1932, dass einzelne Staaten mit der Bewältigung von Krisen großen Ausmaßes überfor-dert waren und doch im Völkerbund eine zumindest vermittelnde Instanz sahen. Aber die Völkerbundgarantien für die Österreich-Kre-dite von 1922 und 1932 resultierten aus der ganz besonderen Prob-lemlage Österreichs: Dessen Hauptstadt war bis 1918 die Hauptstadt eines europäischen Großstaats und dessen Finanzsystem betreute große Teile Ostmittel- und Südosteuropas, war aber nach 1918 nicht gewillt, seine Rolle auf die klein gewordene Republik Österreich zu beschränken. Diese europapolitische Komponente des Problems stand freilich in diesem Panel nicht zur Debatte, denn die Verträ-ge von Genf und Lausanne waren den März-Ereignissen vorgelagert – wobei insbesondere der mühsame parlamentarische Kampf um die Lausanner Anleihe die Neigung der Christlichsozialen als ers-ter Regierungspartei zu nichtparlamentarischen Regierungsformen vermutlich nicht unbeträchtlich gesteigert hat.1 Die durch die Aus-

1 Dass nicht nur die Großdeutschen, sondern auch die Sozialdemokratie den Vertrag vor allem als „nationalen Verrat“ – wegen der neuerlichen Bekräftigung des Anschlussverbots an Deutschland – bekämpften, wird heutzutage nur selten erinnert.

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schaltung des Parlaments und den folgenden Staatsstreich auf Raten (Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes!) etablierte Regierungs-diktatur hatte gerade wegen Lausanne auch einen ziemlich beengten wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraum.

Doch zurück zu Europa. Zwischen 1918 und 1938 scheiterten alle Ansätze für eine weitergehende wirtschaftliche Koordination über die traditionellen bilateralen Handelsverträge hinaus. Für den Bereich der ehemaligen Habsburgermonarchie ist auf einige nicht umgesetz-te Paragraphen der Friedensverträge von 1919 zu verweisen, ferner auf den sogenannten Tardieu-Plan von 1931/32. Zwar tagte 1933 in London eine „London World Economic Conference“, aber auch hier standen sich unterschiedliche Rezepte der Krisenbewältigung gegen-über, eine koordinierte europäische Aktion kam nicht zustande. Da-gegen haben nach 1945 insbesondere Franzosen und Deutsche aus Wirtschaftskrise, Krise, Zweitem Weltkrieg und der Erfahrung mit den faschistischen und nationalsozialistischen Herrschaftssystemen soviel gelernt, dass sie mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) und der EWG übernationale Institutionen entwickelten, die den Kern für ein Vereinigtes Europa abgeben und gleichzeitig durch die übernationale Organisation zentraler Wirtschaftsbereiche Kriege zwi-schen den Vertragspartnern unmöglich machen sollten. Gleichzeitig sollte das neue Europa ein Europa der Demokratien sein.

Wegen dieser grundlegenden Schwierigkeiten eines Vergleichs zwischen den 1930er-Jahren und der Zeit nach 1945 waren auch nur zwei der vier Beiträge dieses Panels zeitlich so übergreifend angelegt, wie das dessen Titel suggerieren könnte. Dagegen beschränkten sich Dieter Stiefel und Sonja Puntscher Riekmann auf jeweils nur eine Zeitspanne, Stiefel auf die Zeit von 1934 bis 1938, unter dem Aspekt der Wirtschaftspolitik des sogenannten „Ständestaats“, Puntscher Riekmann auf die Europäische Union (EU) und deren Parlament. Hingegen haben sowohl Helene Schubert als auch Peter L. Lindseth Vergleiche der Zeit zwischen den Weltkriegen mit der Zeit nach 1945 angestellt.

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Zu: Dieter Stiefel, „Der Ruf nach autoritären Strukturen: Wirt-schaft und Ständestaat“

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis1932/33 wurde, im Hinblick auf Österreich, ausführlich von Dieter Stiefel analysiert, in dessen Bei-trag die Sehnsucht einiger, auch liberaler, Wirtschaftspolitiker – wie Oskar Morgenstern – nach autoritären Durchgriffsmöglichkeiten der Regierung ebenso thematisiert wird wie die Tatsache, dass die Regie-rungsdiktatur genau diesen liberalen Erwartungen nicht gerecht wur-de und wohl auch nicht gerecht werden konnte. Der grundsätzliche Fehler dieser Erwartungen lag wohl darin, dass Morgenstern, aber auch Ludwig von Mises, die Krise nicht als Folge von Marktversagen interpretierten, sondern als Folge der massiven Beeinflussung bzw. Ausschaltung der Märkte durch Gewerkschaftsmacht einerseits, in-tensive Unterstützung bestimmter Sektoren durch hohe Zölle und Subventionen (Landwirtschaft!) bzw. Rettung insolventer Banken durch die öffentliche Hand andererseits. All das habe zu massiven Fehlallokationen von Ressourcen führen müssen. Dagegen hätte eine ausschließlich von den Möglichkeiten und Erwartungen möglichst freier Märkte geprägte Wirtschaftsordnung niemals eine so tiefe und schwere Krise hervorgebracht. Der autoritäre Staat aber, nicht ab-hängig von Wahlen und parlamentarischen Mehrheiten, könne, so Morgenstern, auch Nein sagen gegenüber den verschiedenen An-sprüchen.

Dem war aber nicht so. Dieter Stiefel verweist darauf, dass es, im Gegenteil, zahlreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen zuguns-ten einzelner Wirtschaftssparten, auch einzelner Branchen, gegeben habe. Auch die Rettung maroder Banken und Versicherungsan-stalten durch die öffentliche Hand ging nach 1933 munter weiter.2 Damit nicht genug: Das Modell des Ständestaats, das die Regelung wirtschaftlicher Angelegenheiten in die Selbstverwaltung der Be-

2 Wiener Bankverein – Fusionierung mit der mit öffentlichem Geld wieder-hergestellten Creditanstalt 1935.

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rufsstände legen wollte, in denen Unternehmerschaft und Arbeit-nehmerschaft zusammenarbeiten sollten, scheiterte eigentlich schon 1934, als es nach Auflösung der Freien Gewerkschaften zur Grün-dung eines Einheitsgewerkschaftsbundes kam. Das widersprach den Grundsätzen ständischer Selbstverwaltung ebenso wie das Handels-kammergesetz 1937, mit dem die Handels- und Gewerbekammern nicht nur bestätigt wurden, sondern erstmals auch eine bundesweite Dachorganisation (Bundeskammer) erhielten. Tatsächlich setzte sich in der Praxis daher wieder ein Organisationsprinzip entlang der Klas-senlinie (Unternehmerschaft – Arbeitnehmerschaft) durch. Dass ge-nau dieses Organisationsprinzip 1945 wieder aufgegriffen wurde, um letztlich die Basis für eine korporatistische (aber eben nicht ständi-sche!) Wirtschaftsverfassung abzugeben, in deren Rahmen bis heute zahlreiche wirtschaftpolitische Entscheidungen fallen, ist wohl einer der berüchtigten Treppenwitze der Geschichte.

Was der „Ständestaat“ tatsächlich leistete, war hingegen eine Stärkung der Unternehmerseite und eine Schwächung der Arbeit-nehmerinnen/Arbeitnehmer im Verteilungskampf: Der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen sank vom Höchststand 61,6 Prozent 1931 auf 54,6 Prozent 1937, was nicht nur – erwartbar – von Vertreterinnen/Vertretern der Linken, sondern auch von dem der Regierung nahestehenden Grazer Nationalökonomen Josef Do-bretsberger kritisiert wurde. Dabei wurden nicht selten ungesetzliche Mittel eingesetzt, was die durch die Ausschaltung der Sozialdemokra-tie stark geschwächte Vertretung der Arbeitnehmerschaft (Einheits-gewerkschaftsbund, Arbeiterkammern) nicht verhindern konnte.

Zusammengefasst lautet Stiefels Analyse der wirtschaftspolitischen Ergebnisse von Staatsstreich und Diktatur: • Dominanz der Finanzpolitik als Fortsetzung der liberalen Wirt-

schaftspolitik der 1920er-Jahre mit autoritären Mitteln und un-ter Bedingungen, die in anderen Ländern bereits aufgegeben worden waren;

• Durchsetzung agrarischer Monopolisierungstendenzen auf Kos-ten anderer Wirtschaftsbereiche und des Massenkonsums;

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• Verlagerung in der Einkommensverteilung von den Unselbstän-digen zu den Selbständigen und von den konsumierenden zu den produzierenden Klassen.

Dieter Stiefels zentrale These lautet: Die Wirtschaftspolitik des so-genannten „Ständestaats“ ist nicht aus wirtschaftlichen Entwicklun-gen oder aus der Überzeugung von der Durchsetzung bestimmter volkswirtschaftlicher Theorien zu erklären, sondern nur aus ihren machtpolitischen Notwendigkeiten. Es ging um die Stabilisierung des Status quo, die umso weniger gelingen konnte, je weniger sie die Unterfütterung dieser Stabilisierung mit wirtschaftlichem Wohlerge-hen ins Auge fasste. Die äußerst bescheidenen Mittel zur Belebung der Wirtschaft wirkten kaum. Auch Budgetüberschüsse wurden nicht aktiviert, sondern zur vorzeitigen Tilgung von Verbindlichkei-ten verwendet. Aber die Vorstellung, eine autoritäre, nichtparlamen-tarische Regierung stünde über den verschiedenen Interessen, erwies sich im Augenblick ihrer Verwirklichung als illusionär: Die Realität einer komplexen industrialisierten Gesellschaft war mit dem schlich-ten Modell einer Harmonie autonom organisierter Berufsstände in keiner Weise zu bewältigen. Anstatt keiner Wirtschaftspolitik, wie sich das die liberalen Theoretiker wünschten, gab es eine Menge davon, und zwar eine durchaus widersprüchliche. Die „ständische Sehnsucht“ äußerte sich nicht nur in einer forcierten Förderung der Landwirtschaft, sondern auch im Bemühen, auf dem Sektor der Produktion das Handwerk zu fördern. Insbesondere bei öffentlichen Aufträgen sollten handwerkliche und gewerbliche Kleinbetriebe ge-genüber industriellen Unternehmungen bevorzugt werden.

Ergänzend zu diesem zweifellos zutreffenden systemischen Be-fund wäre wohl auch auf den Einfluss einzelner Persönlichkeiten hinzuweisen, vor allem doch auf den Einfluss von Viktor Kienböck, den auch Kritik, wie sie etwa Gottfried Kunwald, der Finanzbera-ter des bereits verstorbenen früheren Bundeskanzlers Ignaz Seipel, äußerte3, nicht ins Wanken bringen konnte. Eine europapolitische

3 Vgl. Friedrich Weissensteiner, Dr. Gottfried Kunwald: Bundeskanzler

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Komponente des Regimes konnte Dieter Stiefel offensichtlich nicht ausmachen – sieht man von der Finanzdiktatur des Völkerbundes über Österreich unter Meinoud Rost van Tonningen ab, die zweifel-los mittelfristig zur Delegitimierung des „Ständestaats“ beitrug.

Zu: Helene Schuberth, „Aktuelle Krisenbewältigung im Vergleich mit den Strategien der 1930er-Jahre“

Während Dieter Stiefels Analyse ausschließlich den wirtschaftspoliti-schen Folgen von 1933/34 galt, stellt Helene Schuberth in ihrem weit ausgreifenden Beitrag die naheliegende Frage nach der Leistungsfä-higkeit der parlamentarischen Demokratie in Krisensituationen. Sie vergleicht die Lösungsansätze in der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932/33 mit denen der Krise von 2007/09. Als Ursachen der bei-den Krisen sieht sie Deregulierungen des Finanzsystems, steigende Verschuldung, Ungleichgewichte und Ungleichheit. Die Weltwirt-schaftskrise von 1929 bis 1932 („Große Depression“) wurde freilich noch verschärft durch das Problem der gigantischen Verschuldung der europäischen Staaten gegenüber den USA, die nur durch Kapi-talflüsse von den USA nach Europa zu bewältigen war. Als auf Grund der US-amerikanischen Börsenkrise vom Oktober 1929 diese Kredite gekündigt wurden, traf das insbesondere das durch Krieg und Inflati-on bereits stark geschwächte österreichische Bankensystem besonders hart. Schuberth betont dabei vor allem die Rolle des Goldstandards, der nach den diversen Währungsstabilisierungen der Zwischenkriegs-zeit – wieder – zur Leitlinie der Währungspolitiken wurde, und ver-gleicht die dadurch verursachte Inflexibilität der Währungssysteme mit der Fixierung der Wechselkurse in den Euro-Ländern: In beiden Fällen kann nur das Abgehen von der Goldfixierung bzw. das Aus-scheiden aus dem Euro-Raum Abwertungen ermöglichen, die offen-sichtlich einige Strömungen der Wirtschaftswissenschaft als Zauber-

Seipels Finanzberater und Freund, in: Österreich in Geschichte und Lite-ratur, 48 (2004) 3–4, 208–226, die Kritik an Kienböck insbes. 223–224.

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mittel einer autonomen Wirtschaftspolitik ansehen. Das passierte dann auch ab 1931/32 in zahlreichen europäischen Ländern – aber da es ein weit verbreitetes Mittel war, konnte die Konkurrenzfähig-keit damit wohl auch nur in Grenzen gesteigert werden. Schuberth konzediert allerdings, dass vor dem Hintergrund der Hyperinflation (Österreich 1922, Deutschland – noch erheblich schlimmer – 1923) die allermeisten Theoretiker und Wirtschaftspolitiker den Gedanken an eine expansive Geld- und Ausgabenpolitik auf Kreditbasis per-horreszierten. Im Vergleich mit 1929 erscheint die Krise von 2009 ebenfalls als Folge einer Banken- und Kreditkrise, ausgelöst durch die Immobilienspekulation in den USA. Nach dem Krach der Lehman-Bank im September 2008 hörten die Banken auf, einander Kredite zu gewähren, was nun auch auf die Realwirtschaft durchschlug, die 2009 einen enormen Einbruch erlebte. Die Probleme des Banken-sektors sind noch keineswegs behoben, neuerlich verschärft wurde die Situation in Europa durch hohe Staatsverschuldungen, die ohne Intervention der Europäischen Union in Griechenland, Portugal, Irland und vielleicht auch in anderen Ländern zum Staatsbankrott geführt hätten.

Im Vergleich zu 1929/32 erscheinen die Krisenfolgen von 2007/09 freilich erheblich schwächer. Während zu Anfang der 1930er-Jahre das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den USA um 27 Prozent, in Ös-terreich um 20 Prozent einbrach und die Arbeitslosenquote auf 30 Prozent in Deutschland und 26 Prozent in Österreich anstieg, lag der Konjunktureinbruch von 2009 bei 2,9 Prozent in den USA, 5,4 Prozent in Deutschland und 2,4 Prozent in Österreich.

Es wird diese erheblich positivere Krisenbewältigung auf Liquidi-tätssteigerungen durch die US-Notenbank und die Europäische Zen-tralbank zurückgeführt, deren Politik jener der 1930er-Jahre völlig entgegengesetzt war: Damals war das oberste Ziel der Währungshü-ter, mit allen Mitteln den Goldstandard zu halten, was zur Erhöhung der Zinssätze und damit Kreditverteuerungen führte. Ähnliches war auch in Europa der Fall. Kapitalverkehrskontrollen und Devisenbe-schränkungen erschwerten den Wirtschaftsprozess.

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Da Krisenbewältigungsmaßnahmen häufig sehr rasch und mög-lichst ohne Aufsehen getroffen werden sollten, stehen demokratisch legitimierte Regierungen nicht selten vor dem Problem, komplexe Überlegungen und Verhandlungen sozusagen im Eilverfahren um-zusetzen – eine Schwierigkeit, die insbesondere in Österreich bei den seit 1932 (Ausscheiden der Großdeutschen aus der bürgerlichen Re-gierungskoalition) sehr labilen Mehrheitsverhältnissen die Sehnsucht zumindest nach Präsidialregierungen nach dem deutschen Vorbild der Regierung Heinrich Brüning enorm steigerte. Die Anfälligkeit für autoritäre und/oder faschistische Lösungen war aber eine (kon-tinental)europäische Besonderheit, während in den USA die De-mokratie aus der Weltwirtschaftskrise gestärkt hervorging. Freilich darf nicht übersehen werden, dass auch Franklin D. Roosevelts be-rühmter „New Deal“ ein zeitlich begrenzter Versuch von Arbeits-platzbeschaffung durch staatliche Investitionen (bei gleichzeitigen Steuererhöhungen) war, der nach dem Zurückfahren der staatlichen Ausgaben ab 1937 wieder in eine neue Rezession mündete.

Die Autorin wendet ihr Augenmerk immer wieder dem Banken-wesen und dem Finanzmarkt zu. So verweist sie auf den Glass-Steagall Act von 1933 in den USA, durch den Kredit- und Einlagengeschäf-te vom Wertpapierhandel getrennt wurden. Das Gesetz wurde 1999 aufgehoben – ein wichtiges Datum im Prozess der Deregulierung. Der 2010 verabschiedete Dodd-Frank Act bedeutet in gewissem Sinn eine moderate Rückkehr zu den Regelungen von 1933. Der entschei-dende Unterschied zwischen den 1930er-Jahren und den Jahren ab 2007 ist jedoch, dass es heute eine starke internationale Kooperation gibt, sowohl weltweit wie auch auf europäischer Ebene. Damit sind Alleingänge einer einzigen Regierung sehr erschwert. Abschließend vergleicht Schuberth nochmals den Goldstandard von 1930 mit dem Euro: Wer dem Euroraum beitritt, verliert die Souveränität über den Wechselkurs der Währung, ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit im Falle der Bindung an das Gold. Und ähnlich wie der Stabilität des Euro erhebliche Opfer gebracht wurden und werden, war dies beim Goldstandard der Fall: Man glaubte, Währungsstabilität sei die Vo-

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raussetzung für einen neuen Aufschwung nach dem Durchschreiten der krisenbedingten Talsohle. Freilich darf man nicht übersehen, dass Deutschland, insbesondere aber auch Österreich, nach der Banken-krise und den internationalen Hilfskrediten einen außerordentlich engen autonomen Entscheidungsspielraum besaßen.

Natürlich kann in einem knappen Beitrag von so großer Spann-weite nicht jedes Problem diskutiert werden, das vielleicht von Relevanz ist. So hat die Autorin zwar mehrfach das Außenhandels-problem angeschnitten. Dieses könnte aber ausführlicher diskutiert werden, denn der weitgehende Zusammenbruch, etwa der österrei-chischen Industrieexporte als Folge der restriktiven Handelspolitik der Nachbarländer, verschärfte die Krise enorm. Eine andere Frage drängt sich ebenfalls auf: War vielleicht die Krise von 2007/09 auch deshalb nicht so schlimm, weil sie auf einem erheblich höheren ma-teriellen Niveau als 1929/32 stattfand? Ist nicht die Ausstattung der europäischen und US-amerikanischen Volkswirtschaften mit kurz- und langlebigen Gütern aller Art heute um so vieles höher als da-mals, als dass ähnliche Phänomene der Massenverelendung ebenso schnell um sich greifen könnten wie um 1930?

Im Beitrag von Helene Schuberth wird kurz darauf verwiesen, dass auch der Völkerbundbeauftragte Meinoud Rost van Tonningen Bundeskanzler Engelbert Dollfuss gedrängt habe, ohne Parlament zu regieren. Diese autoritäre Versuchung wurde unterstützt • durch den Druck der Heimwehr, die ein unentbehrlicher Koali-

tionspartner Dollfuss’ war (neben dem demokratisch orientier-ten deutschnationalen Landbund),

• durch die Tradition des bis 1918 praktizierten Regierens mithilfe des Notverordnungsrechts nach Artikel 14 der Verfassung, die Regierungen und Beamten ja noch in „bester“ Erinnerung war,

• die Existenz des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917, das gerade während der Creditanstalt-Krise benützt wurde, um rasch Entscheidungen zu treffen (zu Ungunsten der Direktoren!).

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Zu: Peter L. Lindseth, „Der europäische Kontext: Von der Krise der Zwischenkriegszeit zur Verfassungsregelung nach dem Krieg und darüber hinaus“

Freilich sieht Peter L. Lindseth in seinem Beitrag einen gewissen Trend zum Autoritarismus nicht nur in Italien, Deutschland, Öster-reich, Ungarn usw., sondern auch in den „klassischen“ Demokratien, so in Frankreich. Mit einem Zitat von Carl Schmitt, der einen „un-überwindbaren“ Gegensatz zwischen parlamentarischer Demokratie und den Anforderungen effizienter Regierungsgewalt konstatierte, verweist er auf das Problem rascher Entscheidungsfindung, beson-ders in wirtschaftlichen Problemsituationen wie Bankzusammen-brüchen. Die Parlamente Frankreichs und Deutschlands hätten in der Zwischenkriegszeit ihre souveränen Vollmachten dazu benützt, Befugnisse an die Exekutive abzutreten. Er führt das zum Teil auf Er-fordernisse der Kriegswirtschaft zurück, die eben zu Ermächtigungs-gesetzen (in Frankreich: loi d’habitation) geführt hätten. In der Wei-marer Verfassung des Deutschen Reichs wurde dies durch Artikel 48, der dem Reichspräsidenten weitreichende Möglichkeiten einräumte, auch Verfassungsrecht der Republik. Das autoritäre Präsidialkabi-nett Brüning ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Auch in England wurden kritische Stimmen über die Konzentration von Macht bei der Regierung laut. Diese Kritik führte zur Gründung ei-ner Kommission, die den „new despotism“ der Regierungen untersu-chen sollte. Bedeutende Wissenschaftler, wie Harold Laski, gehörten ihr an. Die Kommission stellte schließlich fest, dass das Parlament einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht abtreten müsse – eine moder-ne öffentliche Meinung erfordere dies eben. Auch in den USA gab es Diskussionen, dass das klassische Modell der Gewaltenteilung den Problemen der modernen Gesellschaft nicht mehr genüge. Antonio Salazar, Wirtschaftsprofessor und portugiesischer Diktator, erwartete gar, dass es in zwanzig Jahren keine gesetzgebenden Versammlun-gen in Europa mehr geben werde. Der eigentliche wissenschaftliche „Vater“ des modernen Antiparlamentarismus war Carl Schmitt, der

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allerdings für Adolf Hitlers Deutschland das Wort „Diktatur“ ver-mieden haben wollte – er sprach lieber davon, dass hier, wie Aristote-les und Thomas von Aquin dies gefordert hatten, die Regierung eben der richtige Ort der Gesetzgebung sei. Er argumentierte, die Erfor-dernisse der Zeit gingen in Richtung von Regierungsentscheidungen in konkreten Fällen, nicht in die Richtung der Debatte über generelle Normen. Hingegen sah Schmitt 1944 – wieder – die Notwendigkeit ordnungsgemäßer Verfahrensweisen, ohne die es kein Recht geben könne. Damit reagierte er auf die tatsächliche Rechtlosigkeit im Na-tionalsozialismus, in die die Gesetzgebungsmacht einer allmächtigen Führung schließlich mündete.

Nach 1945 versuchte Europa, aus den Lektionen der Zwischen-kriegszeit und des Kriegs zu lernen. Die große Zeit der Parlamente kehrte aber nicht zurück. Vielmehr wurden die Repräsentativver-sammlungen zunehmend zur stabilen Stütze einer ebensolchen Re-gierung, eventuell auch zum Kontrollorgan. Das deutsche Grund-gesetz legte daher auch fest, eine Kanzlerin/ein Kanzler könne nur durch ein positives Misstrauensvotum (Nachfolgerin/Nachfolger wird gleichzeitig gewählt) gestürzt werden, um die Instabilität der Weimarer Regierungskoalitionen zu verhindern. Noch weiter ging die französische Verfassung der V. Republik (1958), die der Regie-rung eine weitgehende Freiheit im täglichen politischen Geschäft einräumte, während die Legislative die Regierung beobachten und kontrollieren sollte, ohne sich um Details der Politik zu kümmern. Diese Reduktion der Rolle der Parlamente verlief gegenläufig zum Bedeutungsgewinn der Gerichte, die als Kontrollorgane von Regie-rungen und Bürokratie immer wichtiger wurden. Gerade Höchst-gerichte wie das Deutsche Bundesverfassungsgericht verwiesen die Parlamente wiederum auf ihre Rolle als Repräsentanten der Nation, als welche sie insbesondere die Grundwerte der Verfassungen zu be-wahren hatten. Charles S. Maier beschrieb diese Prozesse als Suche nach einer neuen Stabilität, die zumindest für einige Jahrzehnte auch

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erreicht wurde.4 Lindseth schließt den Beitrag mit einem Verweis auf sein Buch „Power and Legitimacy: Reconciling Europe and the Nation-State“ (2010), in dem er auf die legitimierenden Rahmen von Regierungen, Parlamenten und Höchstgerichten hinweist, die ihrerseits seit etwa fünfzig Jahren die Nationalstaaten konstituieren. Bei der Entstehung des europäischen Institutionengefüges seit den 1950er-Jahren sei darauf prinzipiell Rücksicht genommen und die europäischen Institutionen von nationalstaatlichen getrennt worden. Der Autor sieht es nicht als Zufall an, dass die europäischen Ins-titutionen geschaffen wurden, als die Macht der Regierungen sich systemisch stabilisiert hatte. Andererseits entstünden in Europa neue Bedürfnisse nach Legitimität der europäischen Entscheidungen. So entwickle sich eine neue Konfliktsituation zwischen dem Bedarf nach „mehr“ und nach „weniger“ Europa. Diese Situation begleite Europa in die Zukunft.

Zu: Sonja Puntscher Riekmann, „Legitimität und Repräsentation in der Europäischen Union in zeitgeschichtlicher Perspektive“

Es ist höchst interessant, dass Linseth in seinem Beitrag dem euro-päischen Parlament kaum größere Bedeutung beimisst. Dieses steht hingegen im Mittelpunkt der Betrachtungen von Sonja Puntscher Riekmann.

Die Autorin sieht die Europäische Union als Antwort auf den Zi-vilisationsbruch der autoritären und totalitären Regime der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es begann mit einer parlamentarischen Versammlung der EGKS, die freilich fast nur konsultative Funkti-onen hatte. Mit dem EWG-Vertrag begann die Diskussion um ein „wirkliches“ europäisches Parlament. 1976 wurde es beschlossen, 1979 erfolgten die ersten Wahlen. Dieses Parlament konnte inzwischen sei-

4 Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the decade after World War II., Princeton N. J., University Press, 1975.

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ne Kompetenzen erweitern, hat aber noch immer kein Initiativrecht. So ist die Union zweifach demokratisch legitimiert: Im Rat sind auf demokratische Wahlen folgende Regierungen vertreten, also die Mehrheiten der nationalen Parlamente. Das Europäische Parlament wird direkt gewählt. Doch spielte das Parlament in der Wirtschafts-krise seit 2009 praktisch keine Rolle, hingegen gewannen die natio-nalen Parlamente über die Notwendigkeit der Zustimmung zu Sta-bilitätsmechanismus und Fiskalpakt an Bedeutung. Zusätzlich wurde das deutsche Bundesparlament vom deutschen Bundesverfassungsge-richt gegenüber dem Europäischen Parlament aufgewertet, das letzte-rem die Qualität eines umfassend repräsentativen Organs abspricht. Die Kritik an der Repräsentativität des Parlaments entzündet sich an der degressiven Proportionalität, die das „one man, one vote“-Prinzip verletze. Es gebe keinen Demos, die Distanz zum Wähler/zur Wählerin sei zu gering. Europäischer Rat und Rat reklamieren eigene Repräsentationsfunktionen (legitimiert über die demokratisch legiti-mierten Mitgliederregierungen). In der Krise beanspruchen nationale Parlamente neue Funktionen. Das Europäische Parlament wurde zur Zuschauerin degradiert. Nationale Parlamente können aber nur ihre jeweilige Nation repräsentieren, niemals die Europäische Union. Das Europäische Parlament repräsentiert hingegen die europäischen Bür-gerinnen/Bürger. Auch die Fraktionen formieren sich hier nicht nach nationalen Grenzen, sondern bilden staatenübergreifende Parteien. Als Ergebnis ihrer Überlegungen fordert die Autorin die umfassende Parlamentarisierung unionalen Handelns sowie die Fokussierung von Wahlen zum Europäischen Parlament auf Integrationsfragen. Ja, das wird wohl nicht ganz einfach umzusetzen sein …

Resümee

Die autoritäre Versuchung nähert sich in der Krise in Gestalt der Ver-sprechung, ohne mühsame parlamentarische Verhandlungen und Ge-setzgebungsakte rasch auf wirtschaftliche Probleme reagieren zu kön-nen – da eine Verordnung und dort ein Gesetz aus Regierungshand

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Kommentar zum Panel: Wirtschafts- und europapolitische Verortung 225

– und schon sei die Krise gelöst. Nun scheint es in der Tat Fälle zu geben, wie jenen des Deutschen Reichs, in dem die nationalsozialis-tische Regierung durch eine forcierte Rüstungspolitik im Verein mit anderen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Maßnahmen die Kri-se rasch überwinden konnte – freilich um den Preis des kommenden Kriegs. In Österreich kann man hingegen mit einiger Sicherheit fest-stellen, dass die mit dem 4. März 1933 erreichte Handlungsfreiheit der Regierung zur Krisenbewältigung so gut wie nichts beitrug. Ökono-misch hat sich die Ausschaltung des Parlaments also nicht ausgezahlt (Stiefel). Die anderen drei Referate versuchen, über den Vergleich der Zwischenkriegs- mit der Nachkriegszeit gewisse Lerneffekte nachzu-zeichnen (Schubert, Lindseth) bzw. bestimmte Forderungen an die Europapolitik der Gegenwart zu richten (Puntscher Riekmann).

Als spezielle Anmerkung sei hier die Frage gestattet, ob das, was Peter L. Lindseth als neue Entwicklung nach 1918 analysiert, nämlich die Verschiebung der Entscheidungsmacht von den Parlamenten auf die Regierungen, tatsächlich eine so neue Entwicklung war. Im Fal-le des Deutschen Reichs, dessen Verfassung bis 1918 die Regierung ausschließlich auf das Vertrauen des Kaisers als preußischem König (Reichskanzler war der preußische Ministerpräsident) basierte, ist das wohl zu verneinen: Hier hatte der Reichstag nur eine durchaus begrenzte Funktion, eine Überlegenheit über die preußische und die Reichsregierung in Belangen der Gesetzgebung konnte er nie erlan-gen (auch wenn gewisse Parlamentarisierungstendenzen im Laufe der Jahre zu beobachten sind). Ähnlich in Österreich („Zisleithanien“): Die Regierung des Kaisers stand einem Parlament gegenüber, das im Bereich der Gesetzgebung fast ausschließlich den Initiativen der Regierung folgte (oder auch nicht) und das außerdem noch der Zu-stimmung des Kaisers zu seinen Beschlüssen bedurfte.

Dass auch dieses Parlament – dennoch – versuchte, sich in be-stimmten Fragen (Frauen- und Kinderarbeit etwa) durch parlamen-tarische Enqueten spezielle Fachkenntnisse anzueignen, ist festzuhal-ten. Aber dass hier nach 1918 eine Verschiebung vom Parlament zur Exekutive stattgefunden habe, ist eher nicht zu vermuten.

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Parlamente sind mühsam, die Prozeduren langwierig, die Debat-ten nicht selten niveaulos. Ihr Fehlen wird erst bemerkt, wenn sie nicht mehr da sind. Denn dann fehlt der Politik jene Legitimations-basis, die dem politischen System doch erst durch allgemeine Wahlen verliehen wird. Das war ja auch in Österreich nach 1933 der Fall. Und noch etwas: Wenn der politische Gegner, im Parlament stets hinder-lich und unangenehm, einmal ausgeschaltet ist, dann entstehen im „siegreichen“ Lager ausreichend neue Konfliktsituationen, um das Regieren neuerlich unerfreulich zu gestalten. Auch das kann man am Falle Österreichs von 1933 bis 1938 lernen.

Die vier Beiträge dieses Panels behandelten, jeder in seiner Art, wichtige Themen zum Fragenkomplex Wirtschaftskrise und Demo-kratie (bzw. Diktatur). Natürlich konnte vieles nicht ausreichend berücksichtigt werden, war vielfach auch nicht Thema des Panels, wie etwa die Frage nach persönlichen Konstellationen in der österrei-chischen Politik der Jahre 1932/33 oder die Frage nach dem Einfluss bestimmter Persönlichkeiten auf die Wirtschaftspolitik 1933 bis 1938. Wie auch immer: Die Erfahrungen, zum Teil auch die Institutionen, die damals geschaffen wurden, wirkten als Lernmaterial nach, in der Zweiten Republik. Der Lernprozess begann wohl mit dem so ge-nannten Anschluss 1938.

Literatur

Maier, Charles S., Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Ger-many, and Italy in the decade after World War II., Princeton N. J., Uni-versity Press, 1975.

Weissensteiner, Friedrich, Dr. Gottfried Kunwald: Bundeskanzler Seipels Fi-nanzberater und Freund, in: Österreich in Geschichte und Literatur, 48 (2004) 3–4, 208–226.

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